Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung 9783110509007, 9783828205680


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German Pages 298 [308] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil I: Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption
Soziale Marktwirtschaft für Europa? Ordnungspolitik in der Krise
Unsicherheit, Ideenwettbewerb und internationale Kooperation
Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen Marktwirtschaft?
Synergetik – Die Theorie der Selbstorganisation und ihre Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft
Teil II: Bildung zur Sozialen Marktwirtschaft
Ökonomische Aufklärung – Der mühsame Weg zur Überwindung des moralischen Makels des Gewinns
Richtsinn, Richtkraft, Orientierungssinn: Einsichtsfahigkeit durch Bildung und Erfahrung
Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen
Notizen zur Geschichte und Gegenwart der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung
Welche und wie viel ökonomische Bildung braucht man für die Soziale Marktwirtschaft?
Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson an allgemeinbildenden Schulen – Eine wissenschaftsinterdisziplinäre Annäherung
Teil III: Ökonomische Bildung und Empirie
Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie
Menschenbild und Moralität: Der Selektions- und Indoktrinationseffekt ökonomischer Bildung
Wie kann Wirtschaftsunterricht so gestaltet werden, dass Lernende möglichst umfassend ihre politisch-ökonomischen Einstellungen herausbilden können?
Teil IV: Soziale Marktwirtschaft unterrichten
Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise – Ursachen und Lösungsansätze
Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer Reflexionsgegenstand der ökonomischen Bildung
Planspiele: Übungsfeld der Freiheit
Die unsichtbare Hand (be-)greifbar machen? Potenziale und Grenzen experimenteller und praxisorientierter Zugänge zum Themenfeld Marktwirtschaft
Terra incognita: Das Fach „Volkswirtschaftslehre“ am Weiterbildungskolleg in Nordrhein-Westfalen
Zwischen Adaption und mündiger Partizipation: Die Ziele finanzieller Bildung in einer Marktwirtschaft
Ordnungspolitische Bildung als Bestandteil der außerschulischen Erwachsenenbildung
Vorüberlegungen zu einer ordnungsökonomisch inspirierten kategorialen Wirtschaftsdidaktik
Die Autorinnen und Autoren
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Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung
 9783110509007, 9783828205680

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Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.)

Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

Herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Apolte, Münster Prof. Dr. Martin Leschke, Bayreuth Prof. Dr. Albrecht F. Michler, Düsseldorf Prof. Dr. Christian Müller, Münster Prof. Dr. Stefan Voigt, Hamburg Prof. Dr. Dirk Wentzel, Pforzheim

Redaktion:

Dr. Hannelore Hamel

Band 96:

Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung

Lucius & Lucius • Stuttgart -2012

Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung

Herausgegeben von

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller

Mit Beiträgen von Ilona Ebbers, Bodo Gemper, Nils Goldschmidt, Jonathan Grunwald, Carsten Hefeker, Michael Hofmann, Karen Horn, Hans Kaminski, Dietmar Krafft, Astrid Lange, Andreas Liening, Dirk Loerwald, Klaas Macha, Christian Müller, Athanassios Pitsoulis, Marco Rehm, Bernd Renimele, Thomas Retzmann, René Ruske, Susanne Schürkmann, Michael Schuhen, Günther Seeber, Johannes Suttner, Michael Weyland, Michael Wohlgemuth und Helmut Woll

Lucius & Lucius • Stuttgart - 2 0 1 2

Anschriften der Herausgeber: Dr. Michael Schuhen Universität Siegen Zentrum für Ökonomische Bildung in Siegen (ZÖBiS) Hölderlinstr. 3 57076 Siegen schuhen@zoebis .de

Prof. Dr. Christian Müller Westfäl. Wilhelms-Universität Münster Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung (CIW) Scharnhorststr. 100 48151 Münster [email protected]

Prof. Dr. Michael Wohlgemuth Universität Bayreuth VWL V insbes. Institutionenökonomik Universitätsstr. 30 95440 Bayreuth Wohlgemuth (äiwalter-eucken-institut.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 96) ISBN 978-3-8282-0568-0

© Lucius & Lucius Verlags-GmbH • Stuttgart »2012 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Isabelle Devaux, Stuttgart Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany

ISBN 978-3-8282-0568-0 ISSN 1432-9220

Hans Jürgen Schlösser gewidmet

Vorwort Die Funktionsfahigkeit der Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft setzt ein hohes Maß an ökonomischer Mündigkeit der Wirtschaftsbürgerinnen und -bürger voraus, überlässt sie doch den Bürgern so viel Eigenverantwortung wie möglich. Die Deutsche Gesellschaft für Ökonomische Bildung (DeGöB), die Berufsvereinigung der deutschen Wirtschaftsdidaktiker, rechnet daher die Fähigkeiten, ökonomische Systemzusammenhänge erklären und Rahmenbedingungen der Wirtschaft verstehen und mitgestalten zu können, zu den Kernkompetenzen ökonomischer Bildung. Wirtschaftliche Kompetenzen sind dabei nicht ein bloßes Addendum anderer Bildungsdomänen, sondern ein originärer Bestandteil der Allgemeinbildung. Die Soziale Marktwirtschaft gilt als sehr erfolgreiches wirtschaftliches und gesellschaftliches Ordnungsmodell, dem Deutschland nicht nur das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch viele Jahrzehnte der Stabilität und der Prosperität verdankt. Zugleich geraten die grundlegenden Ordnungsprinzipien, welche die Soziale Marktwirtschaft im ursprünglichen Konzept ihrer ordoliberalen Vorreiter (Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack etc.) ausmachen, in Bildung, Politik und Öffentlichkeit immer mehr in Vergessenheit. Der vorliegende Band versucht, die Rolle der ökonomischen Bildung in der Sozialen Marktwirtschaft näher zu beleuchten. In einem ersten Teil werden Grundfragen der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft aufgeworfen. Die Rolle, die ökonomische Aufklärung und Einsichtsfahigkeit durch Bildung und Erfahrung in dieser wirtschaftspolitischen Konzeption spielen, versucht der zweite Teil zu beleuchten. Der dritte Teil präsentiert die Ergebnisse empirischer Untersuchungen über die wirtschaftlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern und die Veränderung von Fairnesseinstellungen durch ökonomische Bildung. Der vierte Teil fragt ganz konkret danach, wie ein Unterricht über die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft aus didaktischer Sicht gestaltet werden kann. Dabei werden so unterschiedliche Fragen aufgeworfen wie jene nach der Art, den Methoden, dem Ausmaß und der institutionellen Umsetzung ökonomischer Bildung. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes widmen ihre Beiträge Hans Jürgen Schlösser zu seinem 60. Geburtstag, für den ökonomische Bildung immer viel mehr als ein bloßer Beruf war; er lebte diese Domäne als persönliche Berufung. Nicht wenige von uns als seine akademischen Schülerinnen und Schüler verdanken wesentlich ihm ihren eigenen Zugang zu den in diesem Buch aufgeworfenen Fragen und Problemen. Die beteiligten Kolleginnen und Kollegen sind zudem dankbar für die zahlreichen fruchtbaren Impulse, die Hans Jürgen Schlösser ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit gegeben hat. Die Herausgeber danken Monika Wagner, die die Beiträge neben den vielfaltigen Arbeiten am Lehrstuhl in aller Heimlichkeit gesetzt hat. Soll die Erstellung eines Buches darüber hinaus tatsächlich im Verborgenen bleiben, so ist Teamarbeit erforderlich. Deshalb danken wir Helene Schlösser und allen Mitarbeiter/innen am Zentrum für Ökonomische Bildung in Siegen, namentlich Benjamin Geldsetzer, Karen von Kibedi Varga, Fritjof Kollmann, Klaas Macha, Marco Rehm, Susanne Schürkmann, Tobias Steinrode, Stephanie Vedder, Michael Weyland und Helmut Woll. Dankbar sind wir auch den studentischen Mitarbeiter/innen des Instituts für Ökonomische Bildung der Universität Münster - Sonja Rinne, Lisa Schlesewsky, Fabian Schleithoff und

VIII

Vorwort

Carsten Schwabe - für ihre unermüdlichen redaktionellen Arbeiten an den Texten. Die Endredaktion besorgte Frau Dr. Hannelore Hamel, der wir hierfür herzlich danken, in gewohnt professioneller Weise. Nicht zuletzt danken wir allen Beteiligten für ihre tiefe Verschwiegenheit bis zur letzten Minute, ohne die das Projekt nur der halbe Spaß gewesen wäre.

Siegen, Bayreuth und Münster, im August 2012

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller

Inhalt

Teil I: Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption Michael Wohlgemuth Soziale Marktwirtschaft für Europa? Ordnungspolitik in der Krise

3

Carsten Hefeker Unsicherheit, Ideenwettbewerb und internationale Kooperation

13

Helmut Woll Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen Marktwirtschaft?

27

Andreas Liening Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation und ihre Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft

35

Teil II: Bildung zur Sozialen Marktwirtschaft Karen Horn Ökonomische Aufklärung - Der mühsame Weg zur Überwindung des moralischen Makels des Gewinns

49

Bodo Gemper Richtsinn, Richtkraft, Orientierungssinn: Einsichtsfähigkeit durch Bildung und Erfahrung

59

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen

69

Dietmar Krafft Notizen zur Geschichte und Gegenwart der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung

87

Bernd Remmele Welche und wie viel ökonomische Bildung braucht die Soziale Marktwirtschaft?

101

Ilona Ebbers Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson an allgemeinbildenden Schulen - Eine wissenschaftsinterdisziplinäre Annäherung..

113

X

Teil III: Ökonomische Bildung und Empirie Klaas Macha und Michael Schuhen Wirtschaftspolitische Kompetenz von Schülerinnen und Schülern Ergebnisse aus ECOS

125

Christian Müller, René Ruske und Johannes Suttner Menschenbild und Moralität: Der Selektions- und Indoktrinationseffekt ökonomischer Bildung

139

Astrid Lange und Athanassios Pitsoulis Wie kann Wirtschaftsunterricht so gestaltet werden, dass Lernende möglichst umfassend ihre politisch-ökonomischen Einstellungen herausbilden können?

157

Teil IV: Soziale Marktwirtschaft unterrichten Michael Weyland Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise - Ursachen und Lösungsansätze

167

Hans Kaminski Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer Reflexionsgegenstand der ökonomischen Bildung

185

Marco Rehm Soziale Marktwirtschaft und Planspiele

207

Dirk Loerwald Die unsichtbare Hand (be-) greifbar machen? Potenziale und Grenzen experimenteller und praxisorientierter Zugänge zum Themenfeld Marktwirtschaft

223

Thomas Retzmann Terra incognita: Das Fach „Volkswirtschaftslehre" am Weiterbildungskolleg in Nordrhein-Westfalen

237

Günther Seeber Zwischen Adaption und mündiger Partizipation: Die Ziele finanzieller Bildung in einer Marktwirtschaft

253

Jonathan Grunwald Ordnungspolitische Bildung als Bestandteil der außerschulischen Erwachsenenbildung?

265

Nils Goldschmidt Vorüberlegungen zu einer ordnungsökonomisch inspirierten kategorialen Wirtschaftsdidaktik

279

Die Autorinnen und Autoren

297

Teil I: Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Soziale Marktwirtschaft für Europa? Ordnungspolitik in der Krise

Michael

Wohlgemuth

Inhalt 1.

Ordnungspolitik als Fremdwort

4

2.

Wilhelm Röpke als früher Warner vor einer falschen Integration Europas

4

3.

Europäische Ordnungspolitik vor der Krise

6

4.

Zur politischen Ökonomie Europäischer Integration

7

5.

Europäische Ordnungspolitik in der Krise

8

6.

Wege aus der Krise

9

7.

Fazit

Literatur

11 12

4

1.

Michael

Wohlgemuth

Ordnungspolitik als Fremdwort

„Weltschmerz", „Heimat", „Schadenfreude", „Leitmotiv" oder „Angst" gehören zu den deutschen Lehnworten, die man in vielen europäischen Sprachen findet, da ihre Bedeutung aufgrund spezifisch deutsch-kultureller Prägung kaum adäquat zu übersetzen ist. Dasselbe gilt für „Ordnungspolitik". Von „Europäischer Ordnungspolitik" zu reden verrät daher bereits eine spezifisch deutsche Sicht auf die Europäische Union. Dies macht die Suche nach einer Europäischen Ordnungspolitik freilich nicht sinn- oder ergebnislos. Tatsächlich wurden aus gutem Grund der Europäischen Union zentrale ordnungspolitische Kompetenzen anvertraut. Anfangs waren dies vor allem die Öffnung der Märkte und der Schutz des Wettbewerbs einschließlich einer Kontrolle staatlicher Subventionen und der Privatisierung in einigen Sektoren wie der Telekommunikation. Später wurde mit der Einführung des Euro auch die ordnungspolitische Kernaufgabe der Geldwert- und Haushaltsstabilität vieler Mitgliedsstaaten „europäisiert". Während der gemeinsame Markt politisch und ökonomisch beinahe uneingeschränkt als Erfolg gewertet werden kann, hat sich die gemeinsame Währung inzwischen als tragischer Irrtum herausgestellt. Beides lässt sich ökonomisch und ordnungspolitisch zeigen. Der gegenwärtige Zustand und die möglichen Entwicklungen der europäischen Integration lassen sich recht gut anhand von „Leitmotiven" illustrieren, die zwei „typisch deutsche" Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft komponiert haben: Walter Eucken und Wilhelm Röpke. Deren ordnungspolitische Kerngedanken werden danach mit der Realität europäischer Integration vor und während der aktuellen Schuldenkrise konfrontiert. Im Abschluss skizziere ich Wege aus der Krise und ziehe ein Fazit.

2.

Wilhelm Röpke als früher Warner vor einer falschen Integration Europas1

Ordnungspolitik kann man knapp definieren als eine von klassisch-liberalen Rechtsprinzipien geleitete Politik zur Herstellung und Garantie einer „menschenwürdigen und funktionsfähigen" (Eucken 1951, S. 2) Ordnung der Wirtschaft - also einer Marktwirtschaft. Ordnungspolitik dient der Etablierung und Durchsetzung allgemeiner und gleicher Spielregeln für die wirtschaftlichen Akteure und nicht der Erzielung konkreter Ergebnisse für spezielle Gruppen. Ordnungspolitik verlangt eine Selbstbindung der Politik an Prinzipien der Nicht- (bzw. marktkonformen) Intervention, Nichtprivilegierung, Subsidiarität und Rechtsstaatlichkeit. Vor allem soll das Problem wirtschaftlicher und politischer Macht durch Wettbewerb als Entmachtungsinstrument gelöst werden. Konkret nennt Eucken (1952/90, S. 254 ff.) folgende „konstatierende Prinzipien" für eine freiheitliche und menschenwürdige Wettbewerbsordnung: Die Rechtsprinzipien Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung sowie die politischen Maßgaben der Verlässlichkeit der Politik, der Geldwertstabilität und der Offenhaltung aller Märkte.

1

Vgl. hierzu, mitsamt detaillierter Quellenhinweise auch der hier genutzten Zitate, ausführlich Petersen und Wohlgemuth (2009).

Soziale Marktwirtschaft für Europa?

5

Trotz gewisser Unterschiede in Betonung und Stil vertrat auch Wilhelm Röpke dieses Verständnis von Ordnungspolitik und hat es immer wieder auch auf Fragen Europäischer Integration übertragen. Diese Integration muss, so Röpke (1957) unter starker Betonung von Subsidiarität und des Eigenwerts europäischer Vielfalt, „von unten" wachsen und darf nicht „von oben" geplant werden. Konsequent warnt er vor einem „kontinentalen Supranationalismus", der politische Macht nur von der Nation auf die europäische Ebene verlagere und hierbei Freiheit und Vielfalt vernichte. Als Alternative zu diesem „falschen Internationalismus", der die Probleme des Interventionismus auf die europäische Ebene transformiere und dabei nur zur Desintegration führe, fordert Röpke eine liberale nationale Ordnungspolitik als Voraussetzung der Integration. Die jeweilige marktwirtschaftliche Ordnung bringe die Länder durch Entpolitisierung des Wirtschaftslebens und Öffnung der Märkte quasi automatisch zusammen. Als sich mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Mitte der 1950er Jahre die Auffassung durchsetzte, dass Europa nur auf dem Wege einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu einigen sei, ist Röpke äußerst skeptisch - aus für einen Ökonomen durchaus unkonventionellen Gründen. Der „für unsere Zeit charakteristische Ökonomismus" (Röpke 1957) fördere den Irrglauben, „der wirtschaftlichen Integration Europas vor der politischen und geistigen einen Vorrang zu geben und in ihr einen Schrittmacher zu sehen, ohne zu bedenken, dass beide Formen der Integration sich wechselseitig bedingen und dass es höchst gefährlich ist, die wirtschaftliche Integration über den Grad hinaus zu forcieren, bis zu dem die politischgeistige Integration ohne Gewaltsamkeit reifen kann". Dies erinnert zunächst an die heute sehr populäre Argumentation, die Währungsunion hätte zunächst eine weitgehende politische Integration („Wirtschaftsregierung") erfordert. Da dies aber versäumt worden sei, müsse die politische Integration nun eben als Folge der Währungskrise geradezu erzwungen werden. Das wäre aber sicher nicht Röpkes Position. Ausdrücklich warnt er schon vor und nach Verabschiedung der Römischen Verträge, „daß Europa im Namen eines betonten Europäismus aufs höchste gefährdet werden könnte" (Röpke 1958, S. 32), und verweist auf die (damals noch virulente) Gefahr einer europäischen Planwirtschaft sowie einer sozialpolitischen „Integration von oben nach unten" sowie der Abschließung von innen nach außen. Die Folge wäre, dass sich wirtschaftspolitische Zentralisierung „als ein Sprengmittel, ein Instrument der Desintegration (...) erweisen würde" (Röpke 1955, s. 96). Ein Jahr später sind beide ordnungspolitischen Kernforderungen von Röpke nach konvertiblen Währungen und Freihandel in Europa weitgehend erfüllt, und er fragt sich, „ob damit nicht der ganze schwerfallige Apparat der EWG überflüssig geworden ist" (Röpke 1959, S. 77). Röpke hofft tatsächlich auf das Ende der EWG, da er in ihr eine Institution mit interventionistischen, Subsidiaritäts-feindlichen Neigungen sieht. Das (insbesondere französische) Anliegen, Europa durch „Planification" organisieren und durch „Harmonisierung" befrieden zu wollen, kommentiert er so: „Was Mörtel sein sollte und uns als solcher angepriesen worden ist, hat sich in der Tat als Dynamit erwiesen" (Röpke 1959, S. 88) - ein Satz, der gerade auch heute in der Euro-Zone öfters zu hören ist. Mehr dazu gleich; zunächst ein Blick in die (Vor-)Geschichte.

6

3.

Michael

Wohlgemuth

Europäische Ordnungspolitik vor der Krise

Es kann hier nicht die spannungsreiche Geschichte Europäischer Integration nach ordnungspolitischen Kriterien kritisch nachvollzogen werden (vgl. Mussler 1998). Grob kann man die bisherige Entwicklung daran messen, wo sich Röpkes Befürchtungen erfüllt haben und wo sie widerlegt worden sind. Zunächst das von Röpke nicht Erwartete: Er konnte sich in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht vorstellen, dass Prinzipien wie unverfälschter Wettbewerb, verbotene staatliche Beihilfen und vor allem die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten (freier Verkehr von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital) nicht nur Absichtserklärungen der Römischen Verträge bleiben, sondern Realität werden würden. Aus den römischen Absichtserklärungen sind etwa seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1985) europäische Rechtsgrundsätze geworden, die von Kommission und Gerichtshof in vielen Fällen ordnungspolitisch konsequenter durchgesetzt wurden, als sie es wohl selbst in Deutschland je hätten werden können. Vor allem können die Grundfreiheiten inzwischen von den Bürgern der Union gegen ihre Regierungen vor nationalen Gerichten oder vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) durchgesetzt werden - ein entscheidender Schritt hin zu einer (ordo-)liberalen Wirtschaftsverfassung auf europäischer Ebene. Zudem konnten oft erst über den europäischen Umweg die Mitgliedsländer bewogen oder gezwungen werden, (Staats-)Monopole in der Telekommunikation, Energieversorgung, bei Banken, oder im Verkehr aufzubrechen. Auch Röpkes Angst vor einer „Festung Europa" als Bollwerk gegen den freien Welthandel hat sich in den meisten Sektoren (außer vor allem in der Landwirtschaft) als überzogen herausgestellt. Gleichzeitig finden sich aber auch einige von Röpkes Befürchtungen inzwischen recht gut bestätigt. „Interventionismus", „Bürokratismus" und „Ökonomismus" haben die letzten Jahrzehnte europäischer Integration auch geprägt; und ein europäischer „Kolossalstaat" lässt sich zumindest darin erkennen, dass die EU einen auf mittlerweile 100.000 Seiten Regelwerk geschätzten „Besitzstand" (acquis) überwiegend wirtschaftsregulierender, EU-weit geltender Normen angehäuft hat. Auch das EU-Budget widmet mit Agrarpolitik, Regional- und Strukturfonds den überwiegenden Teil distributiven Zwecken. Röpkes Vorstellung von „charity begins at home" entspricht dies nicht. Sein Ideal des „Dezentrismus" hat die EU sicher nicht erfüllt, allen Bekenntnissen zur „Subsidiarität" zum Trotz. Je mehr Gemeinschaftskompetenzen zu Zentralisierung und Harmonisierang fuhren, desto wichtiger wird es, das fundamentalere Übel zu beachten, das Röpke (1961/64, S. 301) benannte, nämlich: dass ,„Europa' als Name eines gemeinsamen Kultur-, Wert-, und Gefühlssystems einen sehr differenzierten (...) und mannigfach abgestuften Inhalt umschließt. Jedes Monolithische, starr Schablonenhafte ist ihm fremd", womit „es das Wesen Europas ausmacht, eine Einheit in der Vielfalt zu sein, weshalb denn alles Zentralistische Verrat und Vergewaltigung Europas ist, auch im wirtschaftlichen Bereiche".

Soziale Marktwirtschaft für Europa?

4.

7

Zur politischen Ökonomie Europäischer Integration

Europäische Integration war und ist also aus ordnungspolitischer Sicht ein sehr gemischtes Ereignis. So beklagte etwa Ludwig Erhard (1962/88, S. 773 f.): „Man kann nicht auf der einen Seite Wettbewerb und auf der anderen Seite Planung, Planifikation oder Programmierung haben wollen." Was für den einzelnen Menschen als „kognitive Dissonanz" psychische Kosten und Entscheidungshemmungen erzeugen würde, gerät bei politischen Entscheidungen, zumal auf internationaler Ebene, dagegen zur Bedingung für die Schaffung politischen Nutzens durch gemeinsame Entscheidungen. Die Bündelung nationaler Sonderinteressen in gemeinschaftlichen Politikpaketen ist es denn auch, die dazu fuhrt, dass auch solche Maßnahmen beschlossen werden, die weit jenseits der Schnittmenge gemeinsamer Interessen liegen und jeweils fiir sich betrachtet sogar allein einer Minderheit nutzen. Hinzu kommt, dass entscheidende Akteure und Agenturen ins Spiel kommen, die wie Kommission, Europäisches Parlament und Europäischer Gerichtshof ein klares Eigeninteresse an einer Zentralisierung haben. Nationale Parlamente haben dagegen auf Entscheidungen im Ministerrat so gut wie keinen Einfluss. Sie werden nicht für die Verhandlung, sondern bestenfalls nur noch fiir die Ratifizierung gebraucht, wo es aber für ein „Aufschnüren" des Pakets regelmäßig zu spät ist - wie sich in den letzten Jahren sehr zum Verdruss des Bundesverfassungsgerichts gezeigt hat. Die polit-ökonomische Logik europäischer Gipfel und Verträge besteht somit zu einem guten Teil genau darin, dass jedes Land seine Sonderinteressen weitest möglich wahrt und in einem Paket geschnürt findet, in dem Privilegien solange kombiniert und durch Vetodrohungen verteidigt werden, bis am Ende alle Minister und Regierungschefs der nationalen Wählerschaft von einem „Durchbruch" berichten können. Ein Durchbruch für die Ordnungspolitik scheint hierbei bestenfalls zufällig. Aber auch er ist, wie oben skizziert, anfangs gelungen. Weshalb? A m Anfang der Europäischen Integration stand das Ziel der Friedenssicherung. Vielleicht hat der „konstitutionelle Moment", noch dazu emotional gesteigert durch die allen Akteuren noch gewärtige Kriegserfahrung, gar eine Art /Jaw/.?'sehen Schleier über Rom gelegt, sodass hinreichend Unsicherheit über die zukünftige Interessenlage geherrscht hat. Ordnungspolitik (Marktöffnung, grenzüberschreitende Privatautonomie, Einschränkung staatlicher Interventionen) war jedenfalls eine bleibende Folge (Wohlgemuth 2008). Der „Schleier der Unwissenheit" dürfte freilich inzwischen weitgehend verflogen sein. Heute sollten die Mitgliedstaaten das Spiel weitgehend durchschaut haben; und damit auch, welche Ergebnisse für sie durch eine Änderung der Spielregeln zu erwarten wären. Dementsprechend kann man die folgenden Europäischen Verträge auch als „recontracting" betrachten, als Versuch der Mitgliedstaaten, verloren gegangene Regulierungskompetenzen nunmehr wenigstens auf Gemeinschaftsebene anzusiedeln. Die Entwicklung interventionspolitischer Zentralisierung und Harmonisierung von der Einheitlichen Europäischen Akte (Technologiepolitik, Kohäsionspolitik, Verbraucherpolitik) über den Vertrag von Maastricht (Industriepolitik, Sozialpolitik) und den Vertrag von Amsterdam (Geldpolitik, Beschäftigungspolitik) scheint diesem Motiv durchaus zu entsprechen. Der jetzt geltende Lissabonner „Reformvertrag" war auch kein ordnungspoli-

8

Michael

Wohlgemuth

tischer Meilenstein. Er schafft neue Interventions- und Zentralisierungsanlässe und macht eine „Integration von oben" zudem dadurch wahrscheinlicher, dass qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in über 50 Bereichen das Paketschnüren auf Kosten einer Minderheit zusätzlich erleichtern dürften. Der Umstand, dass erstmals die „soziale Marktwirtschaft" als Leitbild europäischer Wirtschaftspolitik vertraglich genannt wird, ist demgegenüber ordnungspolitisch wohl bedeutungslos (Wohlgemuth 2011).

5.

Europäische Ordnungspolitik in der Krise

Die Einfuhrung der gemeinsamen Währung war ein Experiment ohne Vorbild. Warnungen vor allem seitens deutscher Ordnungsökonomen gab es genug. Je mehr unterschiedliche Länder mit dem Euro auf zwei zentrale Preise bzw. Ventile verzichten müssen - den Zins und den Wechselkurs desto stärker wird der Druck im Währungssystem, Anpassungen über sehr flexible Löhne oder Abwanderung vornehmen zu müssen. Die meisten Länder waren dazu nicht in der Lage. So musste auch und gerade hier in den Worten Röpkes (s.o.), was als Mörtel gedacht war, zu Dynamit werden. Die aktuelle Staatsschuldenkrise der Euro-Zone lässt sich auch als Folge einer Verletzung zentraler „konstituierender Prinzipien" der Ordnungspolitik von Walter Eucken (s.o.) beschreiben. Konkret geht es vor allem um die Prinzipien Geldwertstabilität, Verlässlichkeit und Haftung. Dass auch die Europäische Zentralbank (EZB) mit zu billigem Geld die (privat und staatlich) anwachsende Verschuldung mit zu verantworten hat, ließe sich zeigen. Die Währungsunion hat die EZB aber auch vor die Unmöglichkeit gestellt, einen passenden Leitzins für sich äußerst unterschiedlich entwickelnde Mitgliedsstaaten zu finden. An Konstanz und Verlässlichkeit der Wirtschaftspolitik im Sinne einer glaubwürdigen, gegenseitigen Selbstbindung vor allem der Haushaltspolitik der EuroMitgliedsstaaten hat es von Anfang an gefehlt. Die Richtwerte des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurden beinahe permanent von einigen Staaten überschritten, ohne dass dies je wirksam sanktioniert worden wäre. Inzwischen ist informell der Ausnahmezustand erklärt, und zentrale Elemente der Europäischen Verträge wurden faktisch außer Kraft gesetzt (vor allem das Verbot der Fremdhaftung und der Monetarisierung von Schulden). Hinzu tritt, dass politische Rhetorik zunehmend unglaubwürdig wird. Beinahe alles, was etwa die deutsche Regierung in den letzten zwei Jahren zur Euro-Krise und den „Rettungsmaßnahmen" äußerte (bail-out, Rettungsschirm, EZB-Anleihekauf etc.) verlief nach folgender Dramaturgie: „ausgeschlossen" (es gelten die Europäischen Verträge) => „ultima ratio" (extrem unwahrscheinlich, wir bauen nur für den Fall der Fälle einmal vor) => „alternativlos" („scheitert unsere Rettung, dann scheitert Europa"). Die ordnungspolitisch und sozialethisch brisante Frage betrifft die konstituierenden Rechtsgrundsätze Euckens. Was momentan zu beobachten ist, ist die Auflösung der zentralen Verknüpfung von Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung. Wer an Kapitalmärkten (oder sonst wo) investiert, trägt das Risiko des Wertverlusts. Das ist die Grundlage einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung. Jetzt bemühen sich wenige Euro-Mitgliedsländer, eine gewisse „Beteiligung" privater Gläubiger an der von ihnen finanzierten Überschuldung mancher Staaten zu ermöglichen. Hierum wird heftig

Soziale Marktwirtschaft flir Europa?

9

gestritten. Nicht aber um die Frage, weshalb unbeteiligte Dritte (Steuerzahler) selbstverständlich für Fehlverhalten anderer (Regierungen anderer Staaten) und Fehlinvestitionen anderer (Investoren) bürgen, garantieren und am Ende zahlen sollen. Das Prinzip der Haftung ist ordnungspolitisch und sozialethisch zentral. „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen", so Eucken (1952/90, S. 279); und weiter: „Investitionen werden um so sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet. Die Haftung wirkt insofern prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital und zwingt dazu, die Märkte sorgfältig abzutasten." Auch Ordnungspolitik - die Bindung an feste Grundsätze - wirkt prophylaktisch. Ohne die Verletzung der genannten Prinzipien wäre die Staatsschuldenkrise wohl nicht entstanden und zur institutionellen Vertrauenskrise geraten. Jetzt muss die akute Krise überwunden werden - aber möglichst nicht in Form eines permanenten Ausnahmezustands (Wohlgemuth 2009), sondern durch glaubhafte Selbstbindung der Politik an ordnungspolitische Prinzipien.

6.

Wege aus der Krise

Die akute Staatsschuldenkrise zwingt die Währungsunion, einen Weg zwischen Scylla und Charybdis zu finden - zwischen der Auflösung der Währungsunion oder einer unbeschränkten Haftungsunion. Bürgschaften, Rettungspakete, Austeritätsprogramme, Eurobonds, Austritt, Umschuldung und vieles mehr: Kein Mittel gegen die akute Krise ist ohne Schmerzen und gewaltige Nebenwirkungen. Es ist wie Drogenentzug, wobei aber im Fall der Euro-Rettung die Junkies selbst über die geeigneten Maßnahmen entscheiden, bei manchen ein kalter Entzug zum Kollaps fuhren könnte und die Krankheit überaus ansteckend ist. Versteht man Ökonomen als „Ärzte", so haben zumindest deutsche (Ordnungs-) Ökonomen schon früh vor den Risiken gewarnt, sie sind sich in der Diagnose der akuten Krankheit weitgehend einig, und selbst über die Grundrichtung einer dauerhaft einzuschlagenden Therapie besteht ein seltenes Einvernehmen. Die Befürchtung deutscher Ökonomen 2 kreist um den Begriff des „moral hazard", der moralischen Versuchung der Politik wie der Banken, Verantwortlichkeiten zu verschleiern und zu verlagern und dabei Anreize zu schaffen, die den Schadensfall (Verschuldung auf Kosten anderer) in einer Europäischen Transfer- und Haftungsgemeinschaft zum zu erwartenden Normalfall werden lässt. Das kann nicht „alternativlos" sein. Die Ökonomen zeigen deshalb auf, wie Alternativen aussehen könnten, die zwar auch nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen wären, aber dem Patienten „Europa" bessere Heilung und Rehabilitation versprechen und noch dazu prophylaktisch die künftige Rückfallwahrscheinlichkeit reduzieren. Anders als Politikern darf es Ökonomen nicht darum gehen, den Patienten bis zu den nächsten Wahlen im Transfiisions-gesättigten Koma zu halten. Im Sinne des Patienten „Griechenland" ebenso wie „Deutschland" oder „Europa" muss es darum gehen, eine aussichtsreiche Notfalloperation mitsamt wirksamer Therapie jetzt einzuleiten. 2

Vgl. „Plenum der Ökonomen": www.wiso.uni-hamburg.de/lucke/?p=581.

10

Michael Wohlgemuth

Staaten sind „going concems" mit quasi unendlicher Lebenserwartung; demokratisch auf Zeit gewählte Regierungspolitiker sind dies nicht. Nur unter Bedingungen des „going concern" ist die von den deutschen Ökonomen vorgeschlagene Therapie für die (auch: künftigen) Bürger Europas, sei es in Griechenland, Irland oder Deutschland, empfehlenswert: Es muss auch für Staaten eine geregelte Insolvenz (statt teurer Konkursverschleppung) möglich sein, die zu einer Umschuldung fuhrt, die zunächst die (von höheren Risikoprämien profitiert habenden) Anleger mit in die Haftung nimmt, ehe der unbeteiligte Steuerzahler für das systemrelevante Restrisiko einstehen soll. Ordnungspolitik und Krisenmanagement sind letztlich Vertrauenssache. Gleichzeitig ist „Vertrauen" die wohl am schwierigsten regenerierbare Ressource der Politik. Vertrauen zu genießen, wäre für Politiker, die nervöse Finanzmärkte beruhigen und besorgte Wähler gewinnen wollen, ein nahezu unübertrefflicher Vorteil gegenüber Rivalen, denen man misstraut. Politische Glaubwürdigkeit ist zudem ein entscheidender Standortfaktor. Rechtsstaaten, die sich einem „government under the law" verpflichtet fühlen, und Demokratien, die zu einer ordnungspolitischen Selbstbindung fähig sind, sind auch erfolgreichere Marktwirtschaften. Das Problem hierbei ist jedoch die Versuchung von Politikern, kurzfristige Vorteile höher einzuschätzen als das dauerhafte Gemeinwohl. Es geht also auch hier um eine „Willensschwäche", deren sich freilich kluge Politiker auch ausgeliefert fühlen und entledigen möchten. Im besten Falle geht es ihnen wie Odysseus, der vom betörenden Gesang der Sirenen erfahren hat, gleichzeitig aber auch weiß, dass es ihn und seine Mitreisenden ins Verderben fuhrt, wenn er den Verlockungen des Augenblicks erliegt. Selbstbindung im politischen Prozess heißt nichts anderes, als dass sich Politiker an legale (Verfassungs-) Masten binden (lassen), die es ihnen ermöglichen, Vertrauen zu schaffen, indem sie ein Nachgeben gegenüber kurzfristigen Versuchungen (Inflation, Verschuldung, Subvention) konsequent ex ante verteuern. Es hilft Politikern wie dem Gemeinwohl, Anspruchsspiralen durch Ausschließen von Handlungsoptionen zu durchbrechen. Nur wer unter Verweis auf übergeordnete Regeln, Prinzipien oder Organisationen „Nein" sagen muss, kann auch „Nein" sagen.3 Ordnungspolitik kann über den Weg der Selbstbindung gerade dadurch politisch nachhaltig gemacht werden, dass sie nicht nur als guter Vorsatz der momentanen Regierung, sondern gleichzeitig als Fremdbindung der folgenden Regierungen wirkt. Eine glaubhaft verbindliche Schuldenbremse etwa reduziert die Befürchtung einer Regierung, durch eigene Sanierungsanstrengungen nur die Kassen einer danach erfolgreichen Opposition zu füllen. Regierung wie Opposition, Mitgliedstaat 1 bis Mitgliedstaat n, können der gegenseitig glaubhaft verpflichtenden Regel aus eigenem Interesse eher zustimmen als diskretionären Handlungsspielräumen, die auch trittbrettfahrende Rivalen nutzen können. 3

Vgl. Hayek (1979/2003, S. 318 und 323): „Wenn der Staat stark genug sein soll, um Ordnung und Gerechtigkeit zu wahren, müssen wir den Politikern jenes Füllhorn entwinden, dessen Besitz sie glauben lässt, sie könnten und sollten ,alle Ursachen der Unzufriedenheit' beseitigen ... Das einzige, was ein Politiker gegen solchen Druck tun kann, ist, auf einen anerkannten Grundsatz zu verweisen, der ihn daran hindert, diesem nachzugeben, und den er nicht ändern kann."

Soziale Marktwirtschaftfiir

Europa?

11

Deshalb wäre es jetzt auch der völlig falsche Weg, bei Kommission oder in Ministerräten eine Europäische „Wirtschaftsregierung" zu etablieren, die von Fall zu Fall die parlamentarischen Haushaltsrechte der Mitgliedstaaten überstimmt und im Sinne einer „Globalsteuerung" gesamtwirtschaftliche Gleichgewichte herbeizaubern soll. Es braucht im Prinzip „nur" eine konsequente und glaubwürdige Selbstbindung an eine Schuldenbremse, die automatisch und ohne Verhandlung unter (potentiellen) Haushaltssündern Sanktionen erteilt. Der europäische Fiskalpakt scheint dem zu genügen. Er ist das einzige und beste, was auf europäischer Ebene derzeit vereinbart wurde. Er wird aber - dies ist zumindest meine Befürchtung - nicht wirken (Wohlgemuth 2012). Es mag Nicht-Ökonomen paradox erscheinen, dass gerade die Interessen der Allgemeinheit etwa an Geldstabilität, geringer Staatsverschuldung, Schutz des Wettbewerbs und freiem Handel laufenden einfachen Mehrheitsentscheidungen entzogen werden müssen, um sie vor Vertretern des Volkes, aber auch gelegentlich systematisch verzerrten Wählermeinungen zu schützen. Selbstbindung ist aber demokratisch legitimierbar. Sie ist auch nicht schlicht gleichzusetzen mit einer Aufgabe, sondern vielmehr mit einer Ausübung nationalstaatlicher Souveränität. Selbstbindung setzt „souveräne" Selbsterkenntnis geradezu voraus. Sie ist dann auch im wohlverstandenen Eigeninteresse sowohl von Politikern als auch von Wählern, die von ihren Schwächen wissen.

7.

Fazit

Auch wenn „Ordnungspolitik" vielen Europäern ein Fremdwort bleibt - wenn sie dem „Leitmotiv" dennoch gefolgt wären, so meine These, stünde Europa heute besser da. Röpkes Ideal einer „Integration von unten", eines Liberalismus und einer Wohltätigkeit, die „zu Hause" beginnen, ist die Geschichte europäischer Integration nicht gefolgt. Dennoch war die europäische Einigung in Teilen auch ordnungspolitisch erfolgreich. Dies verdankt sie vor allem einer Übertragung von Aufgaben wie Marktöffnung oder Wettbewerbssicherung an weitgehend unabhängige Instanzen (wie Europäische Kommission und EuGH), die keiner Wiederwahlrestriktion unterliegen. Im Bereich der Fiskal- und Geldpolitik hat sich Selbstbindung durch Verträge (Stabilitätspakt) und Delegation (EZB) aber als unzureichend und schließlich auch unglaubwürdig herausgestellt. Die entstandene Vertrauenskrise kann nicht durch weitere Vergemeinschaftung von Politiken aufgelöst werden, sondern nur durch verschärfte glaubhafte Selbstbindung an ordnungspolitische Prinzipien. Heute besteht die Gefahr, Integration mit Vereinheitlichung gleichzusetzen, und dies im europapolitischen Elitendiskurs als allein „europäisch korrekt" gelten lassen zu wollen. Man sollte sich an Röpkes Warnung erinnern, dass sich interventionistische Zentralisierung geradezu „als ein Sprengmittel, ein Instrument der Desintegration erweisen" könnte (Röpke 1955, S. 96).

12

Michael Wohlgemuth

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Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Unsicherheit, Ideenwettbewerb und internationale Kooperation

Carsten Hefeker

Inhalt 1.

Einleitung

14

2.

Wann funktioniert Kooperation?

16

3.

Ist Kooperation wünschenswert?

21

4.

Schlussfolgerung

23

Literatur

25

14

1.

Carsten Hefeker

Einleitung

Die seit 2008 andauernde internationale Finanzkrise, aber auch andere Politikfelder wie die Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) oder die internationalen Klimaverhandlungen zeigen, wie schwer sich die internationale Gemeinschaft tut, gemeinsame Regeln zu finden. Zugleich wird der Bedarf an einer internationalen Politikabstimmung formuliert. Es wird betont, dass ohne eine Einigung über den globalen CO2Ausstoss die Erderwärmung weiter zunehmen wird, dass ohne eine Einigung über den Abbau von Subventionen und Handelsbarrieren die Wachstumschancen vieler Länder massiv beeinträchtigt sind und dass ohne eine Einigung über Wechselkurspolitiken und den Abbau der globalen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen ein Rückfall in den ökonomischen Nationalismus drohe. Im letzten Fall wird häufig ein Vergleich zu den katastrophalen Erfahrungen in den 1920er und 1930er Jahren gezogen, die in Handelsund Währungskonflikten endeten. Doch obwohl Einigkeit darüber herrscht, dass viel auf dem Spiel steht und eine Wiederholung dieser Erfahrungen auf jeden Fall vermieden werden soll, scheint es äußerst schwer zu sein, sich auf eine gemeinsame Problemdiagnose zu einigen, ganz abgesehen von einer gemeinsamen Strategie für die Lösung dieser globalen Probleme. Nicht nur auf der internationalen Ebene, selbst auf der Ebene der Europäischen Union (EU), wo man eigentlich die Kooperation schon lange institutionalisiert hat, wo man offene Märkte und eine gemeinsame Währung erreicht hat und wo sogar von einer vollen politischen Union die Rede ist, offenbaren die globale Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise tiefliegende Konflikte. Trotz kultureller Nähe und sehr ähnlicher politischer Grundeinstellungen machen gegenseitige Schuldzuweisungen und Drohungen die Zusammenarbeit schwierig. Obwohl unumstritten ist, dass Europa auf eine enge Kooperation angewiesen ist, gibt es Streit über die Ursachen der Schuldenkrise und die Aufteilung von Lasten und Beiträgen zu ihrer Behebung. Unterschiedliche Vorstellungen über die Ausweitung von Rettungsschirmen und die Beteiligung von Banken und Finanzmärkten an den Lasten des Schuldenabbaus stellen die oft betonte Solidarität in Frage. Beides geschieht vor dem Hintergrund einer Rhetorik, die große Einigkeit simulieren und Optimismus verbreiten sollte über die Fähigkeit der wichtigsten Staatsführer, die Krise zu lösen und eine Wiederholung zu verhindern. Mit großem Bombast wurden die sogenannten G-20 als Nachfolger und Ergänzung der G-8 Staaten geschaffen, die neben den großen Industriestaaten auch die wichtigsten Schwellenländer umfassen. 1 Bei verschiedenen Gipfeltreffen von Washington über London bis Seoul und Cannes sollte der Eindruck geschaffen werden, die alten Gegensätze zwischen Erster und Dritter Welt seien überwunden, und man würde es endlich schaffen, globale Herausforderungen international koordiniert anzugehen. Zumindest anfänglich entstand tatsächlich der Eindruck, als würde hier gelingen, was zuvor bei Klimaverhandlungen oder Handelsliberalisierung nicht gelungen war. Scheinbar hatten die Staaten gelernt aus den Erfahrungen 1

Zu den G-20 gehören neben den großen Industrieländern unter anderem die Schwellenländer Brasilien, China, Indien, Südkorea und die Türkei (siehe www.g20.org).

Unsicherheit, Ideenwettbewerb und Internationale Kooperation

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mit der Weltwirtschaftskrise und würden diesmal alles tun, um ein Abgleiten in Protektionismus und Währungskonflikte nicht zuzulassen. Die Treffen der G-20 führten stattdessen bereits nach kurzer Zeit zur Ernüchterung. Als sich herausstellte, dass die Schwellenländer, und vor allem China, relativ wenig von der Finanzkrise betroffen sein würden, ihre Banken stabil waren, ihnen ihre Währungsreserven einen komfortablen Puffer verschafft hatten und sie von der Rezession verschont bleiben würden, ließ das Gefühl von Dringlichkeit nach. Während in Europa und den USA die Arbeitslosigkeit anstieg und die Defizite zunahmen, wurde klar, dass die Interessen von Schellen- und Entwicklungsländern auseinanderfielen. Es zeigte sich, dass die Schwellenländer kaum bereit sein würden, dem Internationalen Währungsfonds deutlich mehr Mittel zu geben zur Unterstützung der Eurozone, während ihnen weiterhin eine Ausweitung ihrer Stimmrechte verweigert wurde. Alte Konflikte in der Handelspolitik, vor allem mit China, und die Regulierung der Finanzmärkte und die Wechselkurspolitik traten wieder in den Vordergrund. Die Schwellenländer fürchten, dass eine zu strikte Regulierung der Finanzmärkte die Entwicklung ihrer Wirtschaften beeinträchtigen könnte, während die Industrieländer uneins sind, weil einige sie einschränken wollen, andere aber um ihr Geschäftsmodell als Finanzplatz furchten. Auch die Konflikte in der Währungspolitik laufen quer durch die Reihen. Ebenso wie die USA warfen Brasilien und Indien im Herbst 2010 vor dem G-20 Gipfel in Seoul China die Manipulation seiner Wechselkurse vor. Der brasilianische Finanzminister Mantega spricht seitdem von „Währungskriegen", richtet jetzt aber die Vorwürfe gegen die Industriestaaten, die mit ihrer expansiven Geldpolitik die Währungen künstlich niedrig halten und damit die Exportchancen der Schwellenländer und deren industrielle Basis ruinieren würden. Brasilien hat bereits Maßnahmen zur Beschränkung von Kapitalimporten eingeführt und weitere Vergeltungsmaßnahmen angekündigt (Financial Times, 13. März 2012). Tatsächlich hat man das Gefühl, dass Einigkeit zwischen den Staaten eher geringer denn größer geworden ist. Beobachter kritisieren zunehmend ein Führungsvakuum auf globaler Ebene und reden von einer G-Null statt einer G-20 (Bremmer und Roubini 2011). Während die USA als allgemein überfordert gelten mit ihren Kriegen und den harten innenpolitischen Auseinandersetzungen, die kaum ein Budget zustande bringen, geschweige denn eine abgestimmte und kohärente außenpolitische Strategie erkennen lassen, ist keine Alternative erkennbar. China und andere Schwellenländer treten zwar zunehmend selbstbewusst auf, sind aber bislang nicht bereit, stärkere Verantwortung zu übernehmen in politischer und ökonomischer Hinsicht (Beattie 2012). Selbst im relativ kleinen Kreis der EU sieht es nicht viel besser aus. Das ehemalige Führungsduo Deutschland und Frankreich hat wenig erreichen können. Es herrscht Streit über weitere Kreditvergabe an Staaten mit hoher Verschuldung, über die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und darüber, ob und wer sich wie anpassen soll, um die Ungleichgewichte zu beheben. Während einige Staaten eine Ausweitung des Konsums vor allem in Deutschland fordern, fordert Deutschland den Rest der EU auf, „deutscher" zu werden und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

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Carsten Hefeker

Unbestritten ist, dass globale Probleme existieren und Politikmaßnahmen einzelner Länder Auswirkungen auf andere Staaten haben, was nach allgemeiner Ansicht abgestimmtes Vorgehen erfordert. Trotz dieser Erkenntnis ist die Umsetzung alles andere als einfach. Dieser Aufsatz stellt daher die Frage, wann Kooperation möglich ist und ob globale Kooperation überhaupt immer so wünschenswert ist, wie dies allgemein unterstellt wird. Am Beispiel der G-20 soll demonstriert werden, wo die Probleme einer internationalen Abstimmung liegen, warum ein weitreichender Erfolg letztlich nicht zu erreichen ist und was stattdessen ein vielversprechenderer Ansatz sein könnte. Ich greife bei der Argumentation auf eine Literatur zurück, deren Einsichten Hans Jürgen Schlösser sehr am Herzen liegen und die er teilt. Ordnungstheoretiker wie Eucken (1990) und Röpke (1942) argumentieren, dass eine internationale freiheitliche Handels- und Währungsordnung wichtig ist, eine engere Kooperation, die über allgemeine Regeln hinausgeht, auf globaler Ebene aber kaum erreichbar ist und stattdessen eher die regionale Abstimmung im Vordergrund stehen sollte. Eine weitere wichtige Einsicht ist, dass der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren tendenziell zu besseren Ergebnissen führen sollte, wie Hayek (1968) betont. Dies gilt auch bei der Suche nach den richtigen Politikantworten auf gemeinsame Probleme. Die reflexartige Aufforderung zu einer verstärkten Kooperation übersieht häufig, dass koordiniertes Vorgehen den Wettbewerb zwischen verschiedenen Ansätzen unterminiert und damit auch die Möglichkeit nimmt, aus den Erfahrungen anderer zu lernen.

2.

Wann funktioniert Kooperation?

Kooperation zwischen Staaten kann in ganz unterschiedlichen Formen stattfinden, die vom reinen Informationsaustausch und informellen Konsultationen über formale Abkommen und gemeinsame internationale Organisationen bis zur vollständigen Vereinheitlichung und Delegation an übergeordnete Entscheidungsträger führt. 2 Entsprechend ist sie mehr oder weniger formalisiert im Rahmen von gemeinsamen „think tanks", die vor allem dem Meinungsaustausch dienen, wie der OECD, über finanzielle Hilfe im Rahmen von Währungsfonds und Weltbank bis hin zu einer gemeinsamen Geldpolitik im Rahmen der europäischen Währungsunion. Je weiter die Abstimmung geht, desto mehr weicht am Ende die koordinierte Politik von der unkoordinierten nationalen Politik ab und umso mehr werden Kompromisse nötig, die sich erheblich von den bevorzugten nationalen Politiken unterscheiden können. Engere Abstimmung und zunehmende Kooperation stellen damit höhere Anforderungen an die Bereitschaft, von eigenen kurzfristigen Zielen abzuweichen und im Zweifelsfall innenpolitische Konflikte zu akzeptieren. Je größer das Eingehen auf andere Länder und je größer die Aufgabe der nationalen Souveränität sind, umso mehr werden Oppositionen und Interessengruppen dagegen protestieren und die Regierung unter Druck setzen. Das wiederum impliziert, dass die Vorteile aus der Kooperation zunehmend größer und vor allem sichtbarer werden müssen, um enge Zusammenarbeit politisch möglich zu machen. 2

Ich verwende dafür ganz allgemein die Begriffe Kooperation und Koordination.

Unsicherheit, Ideenwettbewerb und Internationale Kooperation

17

Der Bedarf an Kooperation ergibt sich immer dann, so die Theorie, wenn die Handlungen eines Akteurs sich auf die Wohlfahrt eines anderen auswirken. Die Existenz von negativen Externalitäten erfordert auf der nationalen Ebene Regulierung, um diese zu unterbinden, oder mindestens die Zuweisung klarer Eigentumsrechte, die dann im Sinne des Coaje-Theorems eine marktwirtschaftliche Lösung mit Kompensationszahlungen möglich machen sollen, die überdies vom Staat durchgesetzt werden. Auf der internationalen Ebene funktioniert dies hingegen nicht, weil es keine übergeordnete Instanz gibt, die Eigentumsrechte zuweisen oder die Akteure zu bestimmten Verhandlungsweisen zwingen könnte. Dabei ist schon die Zuweisung von Eigentumsrechten keineswegs trivial. Streit darüber, wer die Nutzung an einer bestimmten Region oder bestimmten Vorkommen hat, gibt es vor allem dort, wo es historisch wenig territoriales Interesse gab, wie der Arktis, die aber plötzlich als Rohstofflieferant wichtig werden. Aber Eigentumsrechte definieren auch Verantwortungen, wer Anteil an einem Problem hat und somit zu seiner Lösung beitragen muss. Zwar übernehmen internationale Gerichte bisweilen diese Funktion, sind aber nur erfolgreich, wenn entsprechende Urteile auch anerkannt werden. In jedem Fall gilt, dass man gegen souveräne Staaten rechtlich wenig durchsetzen kann und Zwangsmaßnahmen häufig scheitern. 3 Da die Durchsetzung kooperativen Verhaltens schwierig ist, wenn Anreize zum Abweichen bestehen, ist es nach Meinung vieler Beobachter nötig, dass einzelne Staaten eine Führungsrolle übernehmen. Die Vorstellung, dass ein „Hegemon" eine internationale Ordnung durchsetzen kann, hat immer großen Anklang gefunden, und gerade in letzter Zeit werden wieder vielfach die Vorteile eines Imperiums herausgestellt. 4 Das klassische Argument ist von Kindleberger (1973), der den Zusammenbruch der offenen Handels- und Währungsordnung in den Zwischenkriegsjahren in erster Linie auf die Abwesenheit eines Hegemons zurückführte; Großbritannien war bereits zu schwach, diese Rolle zu spielen, während die USA noch nicht bereit dazu waren. 5 Dabei hat der Hegemon vor allem zwei Mittel, wie er andere Staaten zur Kooperation anhalten kann: Er kann sie einerseits durch seine Größe und Macht zwingen und ihr Fehlverhalten sanktionieren. In der benevolenten Variante kann er andererseits durch Seitenzahlungen oder die alleinige Übernahme der Kosten der Bereitstellung öffentlicher Güter die Kooperation sicherstellen. Die asymmetrische Kostenverteilung dieser Variante setzt dabei ein erhebliches Maß an Altruismus und auch Wohlstand voraus, was erklärt, warum dieser Fall nur selten zu beobachten ist. Tatsächlich scheitert die Hegemoniallösung nicht nur an der zumeist gering ausgeprägten Opferbereitschaft einzelner Staaten als vielmehr an den vorausgesetzten deutlichen Größenunterschieden, denn Zwang funktioniert nur bei einer deutlich überragen3

4

5

Beispiel hierfür sind die relativ erfolglosen Versuche internationaler Sanktionen (Hefeker und Menck 2002). Diese Position wird vor allem von Ferguson (2003) vertreten, findet sich aber auch bei Ökonomen (Lal 2004). Das Argument hört man heute in ähnlicher Form für die USA und China (Bremmer und Roubini 2011).

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Carsten Hefeker

den Machtstellung des Hegemons. Realistisch muss man deshalb feststellen, dass die Welt meist Jenseits der Hegemonie" war und ist und deshalb die Kooperation mehr oder weniger gleichberechtigter Partner notwendig ist, die sich nicht durch die dominierende Macht eines Staates ersetzen lässt. 6 Allenfalls kann eine einzelne Nation beispielgebend wirken und somit eine implizite Abstimmung des Verhaltens einer größeren Gruppe von Ländern herstellen. So argumentiert Eichengreen (1989), dass, anders als von Kindleberger (1973) behauptet, Großbritannien auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht ein Hegemon im klassischen Sinn war, sondern mit seiner Politik eher als „focal point" fungierte, der anderen Staaten die Richtung ihrer Politik vorgab. In jedem Fall bedeutet die beobachtbare Verschiebung der globalen ökonomischen Macht von Industrieländern hin zu Schwellenländern, wie sie im Wechsel von den G-8 zu den G-20 manifest wird, dass das Modell der internationalen Regelgebung und Regeldurchsetzung durch einen dominanten Staat nicht länger zur Debatte steht. Auch die hegemoniale Kooperation, wie sie konzeptionell vielleicht am besten durch die G-20 symbolisiert wird, erweist sich als wenig erfolgversprechend, wie oben beschrieben wurde. Denn Kooperation wird umso schwieriger, je größer die Gruppe der Länder ist, die man für eine erfolgreiche Kooperation braucht. Je mehr Staaten eingebunden werden müssen, desto schwerer gestaltet sich dies, wie die Konflikte in der Klimapolitik, Debatten im Sicherheitsrat der UNO und Verhandlungen im Rahmen der WTO und eben der G-20 deutlich machen. Ein häufig übersehener Punkt ist, dass Kooperation nicht nur an unterschiedlichen Zielen und Verteilungskonflikten scheitert, was naheliegend ist. Grundlage für ein gemeinsames Vorgehen ist neben einer gemeinsamen Zielsetzung auch eine ähnliche Sicht auf die Natur der zu lösenden Probleme, was ihre Ursachen sind und welche Möglichkeiten der Lösung technisch und politisch bestehen (Angeloni und Pisani-Ferry 2012). Auch dies wird offenbar im Fall der G-20, die sich nicht nur darüber streiten, ob die globalen Ungleichgewichte eher durch zu viel Sparen oder zu hohen Konsum ausgelöst sind. Die Staaten sind auch unterschiedlicher Meinung darüber, ob gespart oder der Konsum angekurbelt werden muss, ob eine Transaktionssteuer auf Kapitalbewegungen stabilisierend oder destabilisierend wirkt und bei welchen Ländern die Verantwortung für die Probleme liegt.7 Darüber hinaus ist Kooperation erstens in der Regel einfacher, wenn es sich um technische Fragen handelt. So gelang es den G-20 recht rasch, sich auf die Schaffung eines Financial Stability Board zu einigen. Auch die generelle Einigung über Aspekte der Bankenpolitik, der Finanzmarktaufsicht und die Abstimmung der Geldpolitik im Rahmen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich gelingt in der Regel recht geräuschlos und reibungsfrei. Je schwieriger und technischer eine Materie ist, desto mehr ist sie der allgemeinen politischen Diskussion entzogen und umso leichter fallt eine Ei-

6 7

Keohane (1984) bezeichnet dies als „hegemoniale Kooperation". Auch in diesem Fall sind Parallelen deutlich zu den 1930er Jahren, wo ähnliche Differenzen über die Natur und Lösungsmöglichkeiten von Problemen herrschten. Auch im BrettonWoods-System und später scheiterte internationale Kooperation häufig an unterschiedlichen Weltsichten wie Cooper (1975) und Eichengreen (2012) zeigen.

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und Internationale

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Kooperation

nigung. Deshalb wird bisweilen die Z u k u n f t der internationalen Kooperation ganz allgemein vor allem in Netzwerken v o n Spezialisten gesehen (Slaughter 2004). Damit einhergehend, so Eichengreen

(2012), ist Kooperation zweitens einfacher,

w e n n sie institutionalisiert ist. W e n n Organisationen existieren mit festen Regeln u n d Vorgehensweisen u n d regelmäßiger Austausch stattfindet, ist Kooperation leichter zu erreichen als w e n n j e d e s Mal neue Gruppen geschaffen und Verfahrensregeln festgelegt werden müssen. Diese Einsicht steht natürlich hinter der S c h a f f u n g internationaler Organisationen wie W T O u n d I W F u n d der Institutionalisierung v o n Gipfeltreffen wie den G-20 8 . Die G - 2 0 w i e d e r u m leiden daran, dass keine formalen Strukturen existieren, die eine konsistente A g e n d a formulieren und deren Durchsetzung überwachen würden. Die S c h a f f u n g eines dauerhaften Sekretariats könnte die Erfolgschancen der G - 2 0 deutlich steigern (Angeloni u n d Pisani-Ferry

2012).

Drittens wird Kooperation einfacher sein, w e n n sie eher am B e w a h r e n als am radikalen Umgestalten ausgerichtet ist. Festhalten an Etabliertem und leichte Modifikationen des Bestehenden sind einfacher als der Anspruch eines kompletten Neuentwurfs. Nicht zuletzt deshalb wird häufig versucht, neue A u f g a b e n im R a h m e n vorhandener und bewährter Institutionen u n d Organisationen anzusiedeln. Ein weiterer Punkt ist eine im Falle der G - 2 0 zu beobachtende Entwicklung, die ihren Erfolg dauerhaft in Frage stellt. Die Gruppe w u r d e im Z u g e der Lehman-Krise im N o v e m b e r 2008 z u s a m m e n g e r u f e n , u m über R e f o r m e n im Finanzsektor zu sprechen. Beim Gipfel in London im April des folgenden Jahres, bei der die Gruppe offiziell etabliert wurde, k a m e n Fragen der R e f o r m der internationalen Finanzinstitutionen und der globalen Stimulierung der Weltwirtschaft hinzu. Bei den nächsten Gipfeltreffen in Pittsburgh, Toronto u n d Seoul rückten z u n e h m e n d die globalen Ungleichgewichte in den Vordergrund. M a n besprach eine engere A b s t i m m u n g der m a k r o ö k o n o m i s c h e n Politiken insgesamt, eine Konsolidierung der Budgets und beauftragte den IWF, regelm ä ß i g e Fortschrittsberichte zu erstellen. D a s T r e f f e n in Cannes im N o v e m b e r 2011 auf Betreiben v o n Präsident Sarkozy

befasste sich dann auch noch mit der Eurokrise, der

Entwicklung der Rohstoffpreise, einer Neuorganisation des internationalen Währungssystems und der Reduktion der dominanten Rolle des Dollars {Angeloni

und

Pisani-

Ferry 2012). 9 Die G - 2 0 m a c h e n damit einen Fehler, der auch schon in der Vergangenheit dauerhafte Kooperation zwischen heterogenen Staaten erschwert hat: die zu aggressive Ausweitung auf zu viele T h e m e n . Dies ist unweigerlich mit zu vielen A n k ü n d i g u n g e n u n d Versprechen verbunden, die nicht eingehalten werden können (Subacchi undJenkins 2011). 8

Allerdings ist zu beachten, dass zu viele Foren verleiten können, sich fallweise je nach Erfolgschance andere herauszusuchen, in denen man seine Ziele verfolgt. Ein Beispiel für dieses „forum Shopping" sind überlappende Handelsabkommen in Afrika, die eher kontraproduktiv für den regionalen Freihandel sind.

9

Bereits Präsident de Gaulle hatte in den 1960er Jahren die Rolle des Dollars und sein „exorbitantes Privileg", das den USA die externe Finanzierung erleichtere, kritisiert. Trotz verschiedener Reformbemühungen hat sich daran bis heute wenig geändert. Dies mag sich jetzt erstmals durch die zunehmende Bedeutung des Renminbi ändern, die aggressiv von China vorangetrieben wird.

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Carsten Hefeker

Eine Agenda, die zu breit ist, kann nicht erschöpfend besprochen werden und schon gar nicht abgearbeitet werden. Zudem macht sie es einzelnen Staaten zu leicht, sich nur die gewünschten Teile eines Abkommens herauszupicken und andere zu ignorieren. Die Ursache für die Ausweitung der Themenliste liegt im Fall der G-20 in der rotierenden Präsidentschaft begründet, verbunden mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus der Sicht der Länder und dem Anreiz, sich als besonders innovative und kreative Präsidentschaft profilieren zu wollen. Eine kurze Liste mit wenigen klaren Punkten wäre erfolgversprechender. So zeigen Angeloni und Pisani-Ferry (2012) anhand eines G-20 Monitors, der die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen dokumentiert, dass die Implementation der vielfachen Vereinbarungen durchaus mangelhaft ist, wobei die Industrieländer bei der Umsetzung etwas vor den Schwellenländern liegen. Darüber hinaus gilt, dass Kooperation nur erfolgreich sein kann, wenn sich möglichst alle Länder daran beteiligen, was wiederum nur der Fall sein wird, wenn Maßnahmen auf einer breiten Basis legitimiert sind. Da hegemonistischer Druck nicht funktioniert und stattdessen eine breite Kooperation gleichberechtigter Staaten erforderlich ist, ist eine hinreichend große Gruppe von teilnehmenden Staaten erforderlich, was, wie beschrieben, zur ursprünglichen Schaffung der G-20 führte. Die damit auftretenden Probleme haben aber bereits eine Diskussion über eine G-2 zwischen China und den USA oder G-3 (unter Einschluss von Europa oder Japan) entfacht. Das aber wäre der falsche Weg, um eine breite Legitimation herzustellen. Die Erfahrungen mit den G-20 unterstreichen diesen Punkt. Die Gruppe wurde ad hoc durch die USA im Zuge der Asien-Krise von 1997 zu deren Bewältigung ins Leben gerufen, war informell und umfasste zunächst nur die Finanzminister. Wiederbelebt wurde sie durch die USA im Herbst 2008 und dann rasch auf die Regierungschefs ausgeweitet. Zwar herrscht Einigkeit, dass diese größere Gruppe eine ausgewogenere Repräsentation von Staaten sicherstellt als die G-8, da zumindest wichtige Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China dabei sind. Dennoch fällt auf, dass außer Südafrika keine afrikanischen Staaten dabei sind und Asien und Lateinamerika insgesamt unterrepräsentiert sind. Es ist kein nachvollziehbares Prinzip der Repräsentation nach Regionen oder Wohlstandsniveau erkennbar, was zu Kritik insbesondere aus Entwicklungs- und nicht berücksichtigten Schwellenländern führt. Verstärkt wird dieser negative Eindruck noch dadurch, dass sich Spanien und die Niederlande selbst in die Gruppe hineingedrängt haben, was ihr nach Ansicht von Kritikern jegliche Glaubwürdigkeit raubt (Aslund 2011). Internationale Kooperation und Abkommen werden schließlich nur dann auf Dauer durchsetzbar sein, wenn sie in den jeweiligen Ländern innenpolitisch abgesichert werden können. Nicht nur in Demokratien sind bei internationalen Verhandlungen nicht nur die Regierungsvertreter am Tisch, sondern dahinter stehen immer auch innenpolitische Interessen und Mehrheiten. Deshalb sind Krisenzeiten einerseits gut für Kooperation, weil sie Problembewusstsein schaffen und den Bedarf an Kooperation aufzeigen, andererseits aber schlecht für die Fortfuhrung etablierter Abkommen, weil sie auch einen Anreiz für das Aufbrechen bestehender Kooperation sein können. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Krisenzeiten häufig mit einem Wiederaufflammen von Protektionismus oder den oben erwähnten Währungskriegen verbunden. Daraus folgt auch, dass Politik-

Unsicherheit, Ideenwettbewerb und Internationale Kooperation

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bereiche leichter zu koordinieren sind, wenn sie mit relativ wenigen oder zumindest weniger sichtbaren Umverteilungsaspekten verbunden sind.

3.

Ist Kooperation wünschenswert?

Der vorhergehende Abschnitt hat gezeigt, wovon internationale Kooperation abhängt und warum sie so schwierig ist. Dennoch wird sie kaum hinterfragt, stattdessen scheint großer Konsens zu bestehen, dass sie auf jeden Fall nötig und anzustreben ist (Barrett 2007). Dabei wird in der Regel wenig differenziert, um welchen Politikbereich und welche Form der Kooperation es geht. Es wird übersehen, dass gerade im Bereich der makroökonomischen Politikkoordination eine Reihe von Argumenten gegen eine zu enge Abstimmung spricht. Dabei wurden schon relativ schnell nach Einführung der Gipfeltreffen kritische Argumente laut. Im Zuge des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse und der Ölpreisschocks der 1970er Jahre entwickelten sich die makroökonomischen Politiken der wichtigsten Industrieländer zunehmend auseinander. Ähnlich wie heute bauten sich große internationale Ungleichgewichte auf, aber erste Versuche ihrer gemeinsamen Behebung scheiterten (Eichengreen 2012). Das sog. Plaza-Abkommen der fuhrenden Industrieländer von 1985 war dann der erfolgreiche Versuch, den im Zuge der expansiven amerikanischen Fiskalpolitik unter Präsident Reagan stark aufwertenden Wechselkurs des Dollars zu beeinflussen. 10 Abgestimmt wurde interveniert, um die weitere Aufwertung des Dollars zu verhindern, was so gut gelang, dass man 1987 im Louvre-Accord den Kurs korrigierte und gegen eine weitere Abwertung des Dollars intervenierte. Aus diesem Anlass entstanden Forschungsarbeiten, die versuchten unter Verwendung großer internationaler Simulationsmodelle die Vorteile einer abgestimmten makroökonomischen Politik zu messen. Sie kamen zu einem überraschenden Ergebnis. So zeigten Oudiz und Sachs (1984), dass die positiven Effekte recht klein waren, was sie vor allem auf einen geringen Offenheitsgrad der beteiligten Volkswirtschaften zurückführten. Da bei relativ geschlossenen Volkswirtschaften grenzüberschreitende Effekte nationaler Politiken naturgemäß gering sind, schlössen sie, dass Kooperation zwar gut ist, die Wohlfahrtseffekte daraus aber eher gering sind. Wenn aber die Vorteile von Kooperation vor allem eine Frage der Offenheit und wirtschaftlichen Integration sind, dann sollten Globalisierung und zunehmende Verflechtung von Handel und Finanzmärkten die Anreize für Kooperation verstärken. Dem halten Obstfeld und Rogoff (2002) auf der Basis neuerer Modelle entgegen, dass starke Integration stattdessen die Vorteile der Kooperation gegenüber der Alternative vielmehr reduziert. Sie zeigen, dass zunehmender Handel und Finanzströme auch zusätzliche Möglichkeiten der privaten und marktlichen Absicherung gegen Schocks möglich machen. Internationale Produktions- und Anlagemöglichkeiten erlauben Diversifikation und machen Länder weniger anfällig für Störungen. National orientierte Politiken haben 10

Die G-5 umfassten die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Japan. Später wurden daraus mit Italien und Canada die G-7; 1997 kam Russland dazu.

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deswegen nicht mehr im selben Maße negative Auswirkungen auf andere Staaten, sind weniger schädlich und erfordern somit auch keine enge Abstimmung mehr. Wenn auch die Argumentation von Obstfeld und Rogoff auf recht speziellen Modellannahmen basiert (dazu Angeloni und Pisani-Ferry 2012), ist die Frage nach der messbaren Größe von Kooperationsvorteilnahmen durchaus relevant. Eine fundamental kritische Position gegen Abstimmung makroökonomischer Politiken ist die Ansicht, dass Politikabstimmung vielleicht nicht nur kleine positive Effekte hat, sondern vielmehr oft sogar ausgeprägt negative Effekte hat. Sieht man Politik analog zum Angebot von Gütern, so Vaubel (1983), dann ist Abstimmung und Kooperation von Politik durchaus mit einem Kartell zu vergleichen. Die Vereinheitlichung des Angebots fuhrt dann zu einer schlechteren Qualität, weil der Wettbewerb zwischen Anbietern eingeschränkt wird und kein Anreiz zur Bereitstellung einer höheren Qualität gegeben ist. Gerade Kooperation in der Wechselkurs- und Geldpolitik würde dann eher eine höhere Inflation erwarten lassen, zumal die Marktteilnehmer nicht mehr auf andere Währungen ausweichen könnten und somit kein Politikwettbewerb mehr bestünde. Darüber hinaus fuhrt die Einschränkung von Wettbewerb dazu, dass die Innovationsfähigkeit von Politik im Sinne Hayeks (1968) eingeschränkt wird. Ein wichtiger Aspekt, der sich daraus ableitet, ist das Argument von Klodt und Lorz (2008), das die statische Betrachtungsweise der meisten Analysen angreift. Sie betonen vor allem, dass die Kosten der Nichtentdeckung besserer Politik bei einer engen Politikkoordination häufig unzureichend berücksichtigt werden. Dabei sind diese Kosten grundsätzlich höher zu gewichten, da sie auch in der Zukunft anfallen, wenn man langfristig auf das Potential für Entdeckungen effektiver und effizienterer Politiken zur Lösung von gegebenen Problemen verzichtet. Aufbauend auf Hayeks Argument vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren betonen Klodt und Lorz, dass Wettbewerb insbesondere in den Bereichen, in denen Externalitäten eher gering sind, den Vorrang haben sollte vor einer Vereinheitlichung der Politik. Während sie für Klimawandel und internationalen Handel Koordination befürworten, ist das Argument für Kooperation im makroökonomischen Bereich deshalb weniger stark. Die Betonung einer dynamischen Perspektive bei Vor- und Nachteilen der Kooperation und Koordination macht bewusst, dass eine enge Abstimmung nicht unmittelbar und vollständig implementiert werden kann. Vielmehr stellt sich die Frage der richtigen Abfolge entsprechender Schritte und nach dem Bedarf des Aufbaus entsprechender Strukturen, was ebenfalls nicht zeitlos möglich ist. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Ratifikation und Umsetzung in nationale Politik Zeit braucht, aber vor allem auch damit, dass die Wirkung und Sichtbarkeit von Maßnahmen nicht sofort zu erwarten sind. Das birgt das Risiko der Ungeduld und des Abbruchs, wenn Erfolge nicht schnell sichtbar sind, vor allem dann, wenn die unmittelbaren Anlässe einer Politikänderung nicht mehr gegeben sind. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass durch die verschiedenen Umsetzungs- und Wirkungsverzögerungen eingeleitete Maßnahmen nicht mehr wirken oder sogar prozyklisch und kontraproduktiv sind. Die bereits erwähnten Studien über die zu erwartenden Erfolge von Kooperationen betonen noch einen weiteren Punkt, der potentiell negative Nebenwirkungen aufzeigt. Wenn Beteiligte, so Frankel und Rockett (1988), unsicher über die tatsächliche Funkti-

Unsicherheit, Ideenwettbewerb

und Internationale

Kooperation

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onsweise der Ökonomie und eingesetzter Instrumente sind (also Unsicherheit über das „richtige" Modell herrscht), dann kann dieser Irrtum dazu fuhren, dass nicht nur die falsche Politik gemacht wird, sondern auch Kooperation per se ein Fehler sein mag. Zum einen verstärkt eine abgestimmte Politik die negativen Auswirkungen nationaler Politiken auf andere Länder statt sie zu korrigieren oder zu vermeiden. Statt negative Extemalitäten zu vermeiden, werden diese sogar noch verstärkt. Modellunsicherheit kann aber auch dazu fuhren, dass ein Land seine wahren Interessen nicht kennt oder falsch wahrnimmt. Dann wiederum mag eine gemeinsame und koordinierte Bewegung in Richtung einer anderen Politik die Verluste aus dem Nichterreichen des wahren Ziels verstärken, weil man sich noch weiter vom Idealpunkt entfernt. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht das: Wenn man davon überzeugt ist, dass eine expansive Fiskalpolitik die Beschäftigung steigert, während das in der Tat andersherum ist, dann wird eine gemeinsame Einigung auf expansive Fiskalpolitik die Probleme eher verstärken als sie zu lösen.

4.

Schlussfolgerung

Dauerhafte und kontinuierliche internationale Kooperation ist schwer zu erreichen. Regierungen müssen sich über nationale und internationale Verteilungskonflikte hinwegsetzen, und sie müssen bereit sein, auch langfristig Kompromisse einzugehen. Sie müssen sich auf eine gemeinsame Problemdiagnose verständigen und auf einen gemeinsamen Lösungsansatz. Und sie müssen akzeptieren, dass sie Souveränität abgeben oder ihnen sogar Entscheidungen von anderen vorgegeben werden, die dazu nicht einmal ein Mandat haben. Dies alles sollen sie tun, obwohl die Vorteile aus einer Kooperation oft unsicher sind und so gering sein mögen, dass sie die momentanen politischen und ökonomischen Kosten nicht oder kaum aufwiegen. Deshalb scheint Kooperation nur fallweise und in eng abgegrenzten Politikbereichen auf Dauer möglich zu sein. Gleichwohl gibt es immer wieder den Versuch, öffentlichkeitswirksam auf großen Gipfeln alle Probleme gleichzeitig anzugehen. Das mag vor allem politisch begründet sein, da nur die große Bühne große Aufmerksamkeit und politisches Kapital generiert, aber es gefährdet den grundsätzlichen Erfolg, da zu große Ansprüche und Versprechungen Konflikte und Misserfolge vorprogrammieren. Die G-20 Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sind exemplarisch für die Schwierigkeiten der internationalen Kooperation. Das beginnt bereits mit ihrem Entstehen als einer mehr oder weniger willkürlich vom amerikanischen Präsidenten berufenen Gruppe aus der Erkenntnis heraus, dass ein oder zwei Länder allein nicht mehr in der Lage sind, die Geschicke der Welt zu lenken. Die intransparente und undemokratische Entstehung der G-20 stellt aber ihre Legitimation in Frage und untergräbt ihre Glaubwürdigkeit bei den nicht beteiligten Ländern. Die G-20 kann nicht andere Länder zwingen, sondern allenfalls mit gutem Beispiel vorangehen; das wäre leichter, wenn sie als weniger selbstinteressiert wahrgenommen würde. Dazu wäre mindestens eine deutliche Steigerung der Transparenz bei ihren Zielen und den Entscheidungsprozessen nötig (Subacchi und Jenkins 2011).

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Auch innerhalb der Gruppe zeigen sich Spannungen. Die Abschätzung der Vorteile von Kooperation wird naturgemäß immer schwierig sein, da die Alternativen nicht direkt beobachtbar sind. Umstritten ist aber häufig bereits die Problemdiagnose, was vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Ausgangssituationen nicht überraschend ist. In dieser Situation sollten eigentlich die internationalen Organisationen als glaubwürdige und unabhängige Technokraten ohne eigene Agenda eine wichtige Rolle spielen. Das aber ist nicht der Fall, was vor allem auf die längst überholte und undemokratische Besetzungspraxis der Leitungspositionen bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds zurückzufuhren ist. Eine Änderung dieser Praxis wäre leicht zu bewerkstelligen und würde letztlich auch die internationale Kooperation leichter machen. Stattdessen wird in der Gruppe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die mittlerweile ihre eigenen Gipfeltreffen abhalten, die Schaffung einer eigenen Entwicklungsbank diskutiert, was die Wirkung und Rolle der etablierten internationalen Organisationen weiter reduzieren würde. Neben der Legitimität eines Entscheidungsfindungsprozesses ist es offensichtlich leichter, eine Einigung zu finden, wenn die Interessen der Beteiligten näher beisammen sind. Während es theoretisch denkbar ist, dass man Politikpakete schnürt, in denen für jeden etwas dabei ist und er deshalb mitmacht, erscheint jedoch die Erfahrung nahe zu legen, von allzu großen Vereinbarungen soweit wie möglich Abstand zu nehmen. Entweder führt dies dazu, dass man sich auf den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Zu umfassende und diffuse Vereinbarungen hingegen bergen das Risiko, dass Staaten sich die „Rosinen herauspicken", wenn gleichzeitig Mechanismen zu ihrer Durchsetzung fehlen. Daher führen mangelnde Legitimität, eine zu breite Agenda und zu unterschiedliche Zielvorstellungen in vielen Bereichen dazu, dass die G-20 kaum auf Dauer erfolgreich sein werden. Sicher wird es weitere Gipfeltreffen geben, um den Eindruck zu erwecken, dass die Weltwirtschaft in guten Händen sei. Es wird aber offensichtlich werden, dass mit einer Ausweitung der Themenliste die Interessengegensätze zunehmen und Spannungen in den Vordergrund treten, die substantielle Einigungen und Kompromisse erschweren. Dies wird durch die rotierende Präsidentschaft noch verstärkt, die in Abhängigkeit des jeweiligen Vorsitzes andere Themen in den Vordergrund rückt. Kooperation wird stattdessen am ehesten erfolgreich sein, wenn sie sich auf wenige Themenfelder beschränkt und möglichst konkrete Abmachungen beinhaltet, selbst wenn dies politisch weniger attraktiv ist. Während die G-20 vermutlich in die lange Reihe von fehlgeschlagenen Versuchen, Ansätze einer globalen Ordnung zu schaffen, eingeordnet werden wird, zeichnet sich ab, dass zwei alternative Wege vielversprechender sind. Sehr wahrscheinlich liegt die Zukunft der internationalen Zusammenarbeit zum einen in thematischer Zusammenarbeit in jeweils unterschiedlichen Gruppen von Ländern. Das Konzept der „variablen Geometrie" würde bedingen, dass Fragen der Sicherheitskooperation, der makroökonomischen Koordination, der Finanzmarktaufsicht oder der Flüchtlingspolitik in jeweils den Gruppen stattfindet, die von einem Thema betroffen sind und an einer Kooperation interessiert sind. Dies wäre vermutlich deutlich erfolgreicher als der Versuch, alle relevanten Fragen unter einem Dach zu bündeln.

Unsicherheit, Ideenwettbewerb und Internationale

Kooperation

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Der andere Weg ist die regionale Zusammenarbeit. Dies erscheint mindestens aus europäischer Perspektive wenig spektakulär und wurde auch bereits während des Zweiten Weltkriegs von Wilhelm Röpke (1942) gefordert. Integration ist weltweit auf regionaler Ebene relativ erfolgreich und wird zunehmend aktiv dort vorangetrieben, sei es in Asien, Eurasien oder Lateinamerika und Afrika. Selbst wenn die Regionalisierung von einigen Staaten vor allem vorangetrieben wird, weil sie eine dominante regionale Rolle anstreben, machen regionale Abkommen eine Einigung leichter. Die Länder sind meist deutlich homogener und haben eher gemeinsame Interessen als Gruppierungen wie die G-20. Selbst die Repräsentierung von Regionen durch einzelne Staaten hat, wenn sie auf einer regionalen Abstimmung basiert, eine größere Legitimität, als dies bei den G20 der Fall ist. Die europäische Integration ist nicht zuletzt deshalb erfolgreich und dient vielfach als Beispiel in anderen Teilen der Welt. Aber die Geschichte der europäischen Integration mit ihren Rückschlägen und Spannungen ist auch eine Warnung davor, zu viele Bereiche vereinheitlichen zu wollen und auf den Wettbewerb von Ideen und die Experimentation mit Politik zu verzichten.

Literatur Angeloni, Ignazio und Jean Pisani-Ferry (2012), The G20: Characters in Search of an Author, Bruegel Working Paper 2012/04. Aslund, Anders (2011), The Group of 20 Must be Stopped, in: Financial Times, 27. November 2011. Barrett, Scott (2007), Why Cooperate: The Incentive to Supply Global Public Goods, Oxford. Beattie, Alan (2012), Who's in Charge Here? How Governments are Failing the World Economy, New York. Bremmer, Ian und Nouriel Roubini (2011), A G-Zero World, in: Foreign Affairs, Vol. 90, S. 27. Cooper, Richard (1975), Prolegomena to the Choice of an International Monetary System, in: International Organization, Vol. 29, S. 63-97. Eichengreen, Barry (1989), Hegemonic Stability Theories of the International Monetary System, in RichardN. Cooper et al. (eds.), Can Nations Agree? Washington, S. 255-298. Eichengreen, Barry (2012), International Policy Coordination: The Long View, in: Robert C. Feenstra und Alan M. Taylor (eds.), Globalization in an Age of Crisis: Multilateral Economic Cooperation in the Twenty-First Century, Chicago (im Erscheinen). Eucken, Walter (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen. Ferguson, Niall (2003), Empire: How Britain Made the Modem World, London. Frankel, Jeffrey und Katharine Rockett (1988), International Macroeconomic Policy Coordination When Policymakers do not Agree on the True Model, in: American Economic Review, Vol. 78, S. 318-340. Hayek, Friedrich A. (1968), Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kieler Vorträge 56, Institut für Weltwirtschaft, Kiel. Hefeker, Carsten und Karl-Wolfgang Menck (2002), Wie wirkungsvoll sind Sanktionen? Das Beispiel Südafrika, HWWA-Report 220.

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Keohane, Robert (1984), After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton. Kindleberger, Charles (1973), The World in Depression 1929-1939, Berkeley. Klodt, Henning und Oliver Lorz (2008), The Coordinate Plane of Global Governance, in: Review of International Organizations, Vol. 3, S. 29-40. Lai, Deepak (2004), In Praise of Empires, London. Obstfeld, Maurice und Kenneth Rogoff (2002), Global Implications of Self-Oriented Monetary Rules, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 117, S. 503-535. Oudiz, Gilles und Jeffrey Sachs (1984), Macroeconomic Policy Coordination among the Industrial Countries, in: Brookings Papers on Economic Activity, Vol. 1, S. 1-64. Röpke, Wilhelm (1942), Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Zürich. Slaughter, Anne-Marie (2004), A New World Order, Princeton. Subacchi, Paola und Paul Jenkins (2011), Preventing Crises and Promoting Economic Growth: A Framework for International Policy Coordination, Joint Chatham House and CIGI Report, London. Vaubel, Roland (1983), Coordination or Competition among National Macroeconomic Policies? in: Fritz Machlup et al. (Hg.), Reflections on a Troubled World Economy, London, S. 328.

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen Marktwirtschaft?

Helmut Woll

Inhalt 1.

Das bedingungslose Grundeinkommen

28

2.

Die gebende Hand

31

3.

Fazit

33

Literatur

33

28

1.

Helmut Woll

Das bedingungslose Grundeinkommen

In den folgenden Ausführungen werden die gewohnten Pfade der ökonomischen Theorie verlassen. Es kommen Autoren zu Wort, die nicht im Kanon zu finden sind. Man hat der etablierten Theorie oft vorgeworfen, sie sei wenig kreativ und sei für neue Ideen wenig zugänglich. Wirkliche Neuerungen seien meist von Außenseitern gekommen. Diese Vorgehensweise ist beim Thema Soziale Marktwirtschaft/Ordoliberalismus besonders angebracht. Ohne Zweifel waren die 1950er Jahre für diese Frage wissenschaftlich am ergiebigsten. Danach sind nur wenige gelungene Weiterentwicklungen des Konzeptes publiziert oder praktiziert worden. Zunächst geht es um die populäre Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, danach um den Vorschlag, die Steuern nur noch freiwillig zu bezahlen. Götz Werner (dw-Gründer) und Benediktus Hardorp (Wirtschaftsprüfer) plädieren in einem Interview am 30.11.05 (Kröger 2005; siehe auch Michler 2005) für ein Grundeinkommen, für die Abschaffung aller Steuern und Abgaben an den Staat und für die Finanzierung des Staates allein durch eine Konsumsteuer (Mehrwertsteuer). „Nach unserem Modell hätte jeder einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betrag in Höhe von durchschnittlich 1.200 Euro pro Monat. Der Unterschied zur heute geübten Praxis würde darin bestehen, dass der Betreffende nicht erst Bedingungen erfüllen muss, um Geld vom Staat zu erhalten" (Werner, zitiert nach Kröger 2005). Finanziert werden soll das Grundeinkommen allein durch eine Konsumsteuer. Dies sei die gerechteste Lösung, weil alle davon betroffen wären. „Lohnsteuer, Einkommenssteuer, Kapitalertragssteuer, Vermögenssteuer - alles fallt weg" (Werner, zitiert nach Kröger 2005). Leistung würde sich wieder lohnen. „Die Vorteile sind so groß, dass sich der Umsatz lohnt. Zum einen fällt die Steuer nicht mehr innerhalb des Wertschöpfungsprozesses an, also an der Stelle, wo die Menschen Leistung erbringen. Stattdessen bezahlt sie derjenige, der das Produkt am Ende der Wertschöpfungskette haben will. Leistung würde sich also wieder lohnen. Weil Arbeit billiger wird, könnte eine ganze Reihe neuer Jobs entstehen. Und natürlich hätten diejenigen, die bisher schwarz gearbeitet haben, plötzlich reguläre Jobs. Die Exportwirtschaft würde im Ausland noch wettbewerbsfähiger werden. Kapitalflucht ins Ausland wäre kein Thema mehr, weil sich damit keine Steuerzahlungen mehr vermeiden ließen. Das Geld bliebe im Lande und stünde für Investitionen zur Verfügung. Wir würden um ein gewaltiges Ausmaß reicher werden als heute" (Werner, zitiert nach Kröger 2005). In diesem Zukunftsmodell wären alle Bürger finanziell abgesichert und könnten ihre Talente zum Wohle der Gesellschaft einbringen. „Aber nicht nur für die Bedürftigen würde sich viel ändern. Niemand würde mehr arbeiten, um seine Existenz zu sichern, sondern weil er in der Arbeit seine Erfüllung findet. Er hätte die Freiheit, sich den Platz in der Gemeinschaft zu suchen, wo er den sinnvollsten Beitrag leisten kann" (Hardorp, zitiert nach Kröger 2005). Da der Reichtum allgemein steigen würde, hätten alle einen Vorteil. Ein ökonomisches perpetuum mobilel Diese Vision klingt schlitzohrig, unbezahlbar, weltfremd und utopisch. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2007, S. 243 ff.) hat sich in seinem Gutachten 2007/2008 ausfuhrlich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen beschäftigt. Es wird vermerkt, dass diese Vorschlä-

Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen

Marktwirtschaft?

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ge in der Bevölkerung und der Öffentlichkeit auf positive Resonanz stoßen. Der Sachverständigenrat hat mehrere Modellrechnungen durchgeführt und hat sich vor allem mit dem Vorschlag von Dieter Althaus (2007) rechnerisch auseinandergesetzt. „Die von Althaus vorgeschlagene Originalversion ist mit einer Finanzierungslücke von über 227 Mrd. Euro schlicht und einfach nicht finanzierbar. Auch sozialpolitische Revolutionen können ökonomische Grundzusammenhänge, insbesondere die Einhaltung der staatlichen Budgetbeschränkung, nicht außer Kraft setzen." (Sachverständigenrat 2007/2008, S. 243)

Allerdings schränken die Sachverständigen ein, dass damit nicht alle Fragen als gelöst angesehen werden können. „Die Beurteilung der unterschiedlichen Varianten eines bedingungslosen Grundeinkommens erfolgte anhand modellbasierter ökonomischer Wirkungen. Diese Modelle blenden zugegebenermaßen viele der Zusammenhänge aus, die von den Protagonisten der unterschiedlichen Vorschläge behauptet werden: die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit eines christlichen Menschenbilds, verminderte Bürokratie, verstärkte Investitionen in den Menschen, eine Stärkung der Risikobereitschaft und anderes mehr. Es liegt jedoch bei den Befürwortern der einzelnen Modelle zu beweisen, dass dies schwerer wiegt als die hier berechneten Effekte. Auf bloße Vermutungen darf man sich dabei aber nicht verlassen" (Sachverständigenrat 2007/2008, S. 243 f.).

Auch neoliberale Experten fordern ein Grundeinkommen zur Existenzsicherung gegen Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung. Es sollte aber im Gegensatz zu den Vorschlägen von Werner und Hardorp möglichst gering sein, da ansonsten die Bereitschaft nach regulärer Arbeit sinken würde und die Wirtschaft insgesamt Nachteile hätte. Bezahlt werden soll das Grundeinkommen durch die üblichen Steuern und Abgaben an den Staat. In dieser Vision sollen möglichst viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dem ökonomischen Prinzip und dem Nützlichkeitsdenken unterworfen werden. Radikale Marktwirtschaft (Friedman 1971), ständige technische Neuerungen und mehr wirtschaftliche Effizienz heißt hier die Devise. Dieses Modell wird heute in den meisten westlichen Staaten als Reformmodell gepriesen: Weniger Steuern für die Unternehmen, neue wissensbasierte Produkte, Vermarktung von Gesundheit und Bildung, effiziente Energienutzung usw. Da in diesem Konsum- und Konkurrenzmodell auch Verlierer und Bedürftige zu beklagen sind, soll ein Minimum an staatlicher Sozialpolitik die allergröbste Not lindern. Staatliche Grundsicherung und ein radikales, imperiales Nützlichkeitsdenken sind somit zwei Seiten einer Medaille. Die Konsequenzen dieser Sichtweise sind jedoch unübersehbar: hohe Arbeitslosigkeit und hohe Umweltbelastung. Die Konsumwelten der westlichen Volkswirtschaften erzeugen zwar ein großes wirtschaftliches Warenangebot, doch das Wachstum gerät an seine Grenzen und kehrt sich um (Entropiegesetz). Das neoliberale Modell erweist sich somit nicht als zukunftstauglich. Dies können Götz Werner und Benediktus Hardorp wohl nicht gemeint haben. Liegt die Lösung des Problems vielleicht in ihrem Hinweis auf eine alleinige Konsumsteuer? In Europa sind die Konsumsteuern sehr unterschiedlich. Für das Jahr 2006 ergeben sich folgende ermäßigte und normale Mehrwertsteuersätze in %:

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Tabelle 1:

Konsulnsteuersätze in Europa

Staat Belgien

Ermäßigter Satz in %

Normalsatz in %

6

21

-

25

Deutschland

7

16

Frankreich

5,5

19,6

Griechenland

9

19

Irland

10

20

Luxemburg

6

15

Niederlande

6

19

Österreich

10

20

Polen

7

22

Schweden

6/12

25

Dänemark

Spanien

7

16

Vereinigtes Königreich

5

17,5

Quelle: eigene Zusammenstellung Man kann die Konsumsteuer als eine Bestrafung des Konsumenten interpretieren. Wer viel konsumiert, soll auch viele Steuern zahlen! Das hat zur Folge, dass der Schwarzmarkt sich ausdehnt und dadurch dem Staat noch weniger Geld zur Verfugung steht. Sind allerdings die Bürger vernünftig und entwickeln sie ihren Gemeinsinn, dann würden sie die hohe Konsumsteuer entrichten, aber wahrscheinlich wesentlich weniger konsumieren. Die Bürger müssten sich weniger über ihren Konsum definieren! Würden sie zudem ein Grundeinkommen erhalten, wäre auch das Nützlichkeitsdenken im Wirtschaftsleben in einer schweren Krise und fiele als Motor für eine wirtschaftliche Dynamik aus. Die Folge wäre ebenfalls ein wirtschaftlicher Niedergang. Es sei denn, die beiden Maßnahmen wären mit einem Bewusstseinssprung verbunden. Aus den Wirtschafitsmenschen würden sich kulturbewusste Bürger entwickeln, die aus inneren Antrieben und Talenten kulturelle und wirtschaftliche Höchstleistungen erbringen wollten, die die technische Welt mit ihrer nuklearen und genetischen Bedrohung als eine Herausforderung ansähen und an deren christlicher Überwindung arbeiten würden. Noch positiver ausgedrückt: Aus dem Wirtschaftsmenschen müsste sich ein selbstloser Erkenntnismensch metamorphosieren, der sich als ein Vollender und nicht als ein Zerstörer der Schöpfung ansehen würde. In diesem Sinne sind Grundeinkommen und Konsumsteuer lediglich Beispiele für verschiedene Instrumente, die eine gelungene Metamorphose unterstützen würden, wohldosierte Gifte für einen individuellen und gesellschaftlichen Heilungsprozess.

Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen

2.

Marktwirtschaft?

31

Die gebende Hand

Der Philosoph Peter Sloterdijk (2009) hat in seinem Essay ,Die Revolution der gebenden Hand' in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung prinzipiell über die ökonomische Theorie nachgedacht. Diese gründet sich nach Sloterdijk auf der Idee des Raubes. Dar a u f b a u e n Rousseau, Marx und der moderne Wohlfahrtsstaat auf. Das Wirtschaftsleben beginnt mit der Fähigkeit, ein Stück Land einzuzäunen und es als Eigentum juristisch zu kodifizieren und es dann erfolgreich zu bewirtschaften. „Der erste Nehmer ist der erste Unternehmer - der Bürger und der erste Dieb. Er wird unvermeidlich begleitet vom ersten Notar. Damit so etwas wie überschussträchtige Bodenbewirtschaftung in Gang kommt, ist eine vorökonomische ,Tathandlung' vorauszusetzen, die in nichts anderem besteht als der rohen Geste der Inbesitznahme." (Sloterdijk 2009) Auf dieser Raubidee beruhe der Rousseausche Mythos der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Karl Marx habe diese Idee perfektioniert. Die Unternehmer würden die Arbeiter um ihren Lohn betrügen, sie würden die Arbeiter berauben. Nur diese seien produktiv, der Raub beruhe auf dem Eigentumsverhältnis und hätte mit Leistung nichts zu tun. „Wenn Marx seine Theorie der kapitalgetriebenen Wirtschaftsweise fortan in der Form einer ,Kritik der politischen Ökonomie' entwickelte, so auf Grund des von Rousseau inspirierten Verdachts, dass alle Ökonomie auf vorökonomischen Willkürvoraussetzungen beruhe - auf ebenjenen gewalttätigen Einzäunungsinitiativen, aus denen über viele Zwischenschritte die aktuelle Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangen sei." (Sloterdijk 2009) Marx habe mit seiner klug konfusen Wertlehre die Klasse der Unternehmer als aneignende Klasse gebrandmarkt und damit Weltgeschichte geschrieben. Nach Sloterdijk beruhe die Gesellschaft aber nicht auf dem Gegensatz von Arbeit und Kapital, sondern auf der widersprüchlichen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Hier beruft sich der Autor ohne Verweis auf die Arbeiten von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger (2009). Damit wird der Kredit die Seele jeden Betriebes, das Profitstreben wird zum Epiphänomen des Schuldendienstes. Nun springt Sloterdijk von der marxistischen Ausbeutungslehre zum modernen Wohlfahrtsstaat. Dieser habe die Raubidee aus der Historie übernommen und sauge nun über die Steuern die Bürger aus. „Dies gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung der Besteuerungszone, nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven Einkommenssteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, dass sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen lässt - zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. Um das Phänomen der heutigen Steuerduldsamkeit bei den Wohlhabenden zu würdigen, sollte man vielleicht daran erinnern, dass Queen Victoria bei der erstmaligen Erhebung einer Einkommensteuer in England in Höhe von fünf Prozent sich darüber Gedanken machte, ob man hiermit nicht die Grenze des zumutbaren überschritten habe." (Sloterdijk 2009) Nach Sloterdijk leben wir gegenwärtig nicht in einer Sozialen Marktwirtschaft oder im Kapitalismus, sondern in einem Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage. Der Staat habe ein Monopol und würde Zwangssteuern eintreiben, ohne den

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Helmut Woll

Bürger vorher zu fragen. Der Semi-Sozialismus stranguliere die Einzelinitiative, vernachlässige die Leistungseliten und bevorzuge die Leistungsverweigerer. „Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederer Einkünfte, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt" (Sloterdijk 2009). Die größte Gefahr sieht der Autor für die Zukunft in einer fejwsianischen Schuldenpolitik, die zu einer Enteignung der Gläubiger durch die Schuldner führen würde. Sloterdijk plädiert deswegen vehement für eine Abschaffung der Zwangssteuer. Jeder Bürger solle befragt werden, wie viele Steuern er freiwillig für das Gemeinwesen zu zahlen bereit ist. „Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der .Gesellschaft' zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne dass der öffentliche Bereich deswegen verarmen müsste." (Sloterdijk 2009) Nur so könnte der Stolz der Bürger gegen die Gier die Oberhand gewinnen. Die Kritik an diesen provokanten Thesen und Steuervorschlägen folgte unmittelbar durch den Philosophen und Vertreter der Kritischen Theorie, Axel Honneth (2009). Er attackiert vor allem die verteilungspolitischen Konsequenzen der Thesen von Peter Sloterdijk und verteidigt vehement die Errungenschaften des Sozialstaates. „Man muss auch das damit angedeutete Argument erst mehrmals in Augenschein nehmen, bevor einem dämmert, welche verschrobene Theorie da mit Nonchalance in die Welt gesetzt wird: der Sozialstaat, in Deutschland das Produkt der von oben durchgeführten Reformen Bismarcks, in England oder Frankreich das Resultat erbitterter Kämpfe der Arbeiterbewegung, soll nichts anderes hervorbringen als eine institutionalisierte ,Kleptokratie', eine politische Einrichtung also, die die schlechter Gestellten erfolgreich hätten etablieren können, um sich von den Vermögenden das anzueignen, was sie in blindem Ressentiment für unrechtmäßig erworben hielten. Eine kleine Rückerinnerung reicht aus, um die damit entwickelte Behauptung als baren Unsinn zu erkennen, der sich einer Mischung aus historischer Ignoranz und theoretischer Chuzpe verdankt." (Honneth 2009) Jürgen Kaube (2009) hat in seiner Replik auf die Sloterdijk-Honneth-Kontroverse gezeigt, dass beide aneinander vorbeireden und Honneth sich nicht auf die Ideen von Sloterdijk einlassen will. „Wenn Sloterdijk über die Gesellschaft phantasiert, ist das die Sache eines Autors. Wenn Honneth die Gesellschaft umgeht, um sich nur bei Moralfragen und allen erdenklichen Normen aufzuhalten, ist dies ein Konkursantrag." (Kaube 2009) Es ist klar, dass sich Sloterdijk mit seiner Raubidee und deren Verfestigung in der Ideengeschichte der ökonomischen Theorie auf sehr dünnem Eis bewegt und eine einseitige Idee durch die Jahrhunderte verfolgt. Dies hat durchaus einen erkenntnistheoretischen Wert, auch wenn die Argumentation mit vielen Sprüngen behaftet ist. So bleibt unklar wie die Kleptokratie von Marx in den modernen Sozialstaat eindringt. Man darf den Vorschlag nach einer Abschaffung der Zwangssteuer nicht realpolitisch betrachten, sondern als eine Idee, die die Frage nach der Freiheit und der Freiwilligkeit des Steuerzahlers neu stellt. Eine freiheitliche Ordnung sollte auf dem individuellen Engagement aller Gruppen und Schichten beruhen.

Das Grundeinkommen und die nehmende Hand in einer neuen Marktwirtschaft?

3.

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Fazit

Götz Werner und Peter Sloterdijk haben die Diskussion über die Soziale Marktwirtschaft als Quereinsteiger neu belebt. Die Forderung nach einem Grundeinkommen wurde in der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit rege diskutiert. Sogar der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage hat sich ausführlich im Gutachten 2007/2008 mit dieser Frage beschäftigt. Allerdings mit negativer Bewertung: nicht finanzierbar. Die Vorschläge von Peter Sloterdijk haben demgegenüber eine geringere Resonanz erfahren. Bewertung: nicht durchführbar (Paul Kirchhof). Götz Werner hat sich der Probleme der schlechter Verdienenden angenommen, Peter Sloterdijk sieht die Leistungsträger durch den Sozialstaat stranguliert. Beide vertrauen auf einen Bewusstseinssprung, ohne den die Vorschläge sinnlos sind. Götz Werner geht davon aus, dass bei einem bedingungslosen Grundeinkommen die Bezieher ihre Würde zurückgewinnen, dass eine mentale Befreiung zu einer Leistungssteigerung der Betroffenen führen würde. Peter Sloterdijk sorgt sich um den Stolz der Leistungsträger, der durch eine Zwangssteuer verschüttet wurde. Eine freiwillige Steuer würde die Moral und die Initiative der Steuerzahler beleben. Götz Werner setzt auf die Stärkung der Individualität durch eine radikale TalentfÖrderung, das ist löblich. Allerdings soll der Staat jegliches ökonomisches Risiko ftir seine Bürger übernehmen, das ist eine beiderseitige Überforderung, die die volkswirtschaftliche Leistungserstellung vernachlässigt. Peter Sloterdijk müsste sich ebenfalls fragen, woher die Steuern kommen sollen. Beide Querdenker haben ein positives Menschenbild, das zu Recht dem radikalen H o m o Oeconomicus widerspricht. Man sollte bei aller Nörgelei nicht vergessen, dass das Konzept Soziale Marktwirtschaft/Ordoliberalismus kein rein ökonomistischer Entwurf war, sondern durchaus eine anthropologische/philosophische Komponente beinhaltete. Es zielte sowohl auf eine freiheitliche Ökonomie, aber auch auf einen offenen Menschen. Eine Vermassung des Menschen sollte verhindert werden. Technokratische Reformen wurden abgelehnt. Entfaltung der Individualität und Freiwilligkeit sind unbedingt erwünscht. Bereits in den 1950er Jahren war das Konzept ein Fragment, das wenig geeignet war für eine sich entwickelnde anonyme Großindustrie. Persönliche Haftung und Vertragsfreiheit in offenen Märkten bildeten den Kern. Die Haftung versandete in der sich ausbreitenden Bürokratie. Der Währungsstabilisator von Walter Eucken konnte sich nie richtig entfalten, eine konstante Wirtschaftspolitik wurde abgelöst von ständig sich widersprechenden Neuerungen. Der technische Wandel war in Quantität und Qualität leider kein thematischer Schwerpunkt.

Literatur Althaus, Dieter (2007), Das Solidarische Bürgergeld, in: Michael Borchard (Hg.), Das Solidarische Bürgergeld - Analyse einer Reform, Stuttgart, S. 1-12. Friedman, Milton (1971), Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart - Degerloch. Heinsohn, Gunnar und Otto Steiger (2009), Eigentum, Zins und Geld: Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Marburg.

34

Helmut Woll

Honneth, Axel (2009), Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe: Zum neuesten Schrifttum des Peter Sloterdijk, in: Die Zeit vom 25. September 2009, http://www.zeit.de/2009/40/SloterdijkBlasen/seite-1 (Abruf am 6. Juli 2012). Kaube, Jürgen (2009), Der Vermögensverwalter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. September 2009, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/honnethcontra-sloterdijk-der-vermoegensverwalter-1856871.html (Abruf am 6. Juli 2012). Kröger, Michael (2005), „Wir würden gewaltig reicher werden". Interview mit Götz Werner und Benediktas Hardorp, http://www.spiegel.de/wirtschafVdm-chef-werner-zumgrundeinkommen-wir-wuerden-gewaltig-reicher-werden-a-386396.html (Abruf am 6. Juli 2012). Michler, Inga (2005), Der Menschenveredler: Götz Werner, Chef der Drogeriemarktkette dm, will allen Deutschen ein Bürgergeld sichern und die Unternehmen von Steuern befreien, in: Die Welt vom 8. Dezember 2005, http://www.welt.de/print-welt/articlel82887/DerMenschenveredler.html (Abruf am 6. Juli 2012). Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Erreichte nicht verspielen, Gutachten 2007/2008, Wiesbaden.

Entwicklung (2007), Das

Sloterdijk, Peter (2009), Die Revolution der gebenden Hand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 2009, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/diezukunfit-des-kapitalismus-8-die-revolution-der-gebenden-hand-1812362.html (Abruf am 6. Juli 2012). Straubhaar, Thomas (2006), Grundeinkommen: Nachhaltigkeit für den Sozialstaat Deutschland, in: Update. Wissens-Service des HWWI, Hamburg, Ausgabe 05/2006, S. 1-3. Werner, Götz (2007), Einkommen für alle, Köln.

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation und ihre Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft

Andreas Liening

Inhalt 1.

Vorbemerkung

36

2.

Einleitung

36

3.

Die Grundidee der Synergetik

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3.1. Selbstorganisationsphänomene erklären

38

4.

5.

3.2. Über den Laser

39

3.3. Schwarmintelligenz - Der Zug von Vögeln

41

Der Staat und die Volkswirtschaft synergetisch gedeutet

42

4.1. Teil- und Gesamtsysteme in der Synergetik

42

4.2. Der mathematische Trick: Das ,slaving principle'

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Schlussbemerkung

45

Literatur

45

36

Andreas Liening

1. Vorbemerkung Anfang der 1990er Jahre betrat ein hochgewachsener, charismatischer Mann mein Büro und legte mir mit einem freundlichen Lächeln ein umfangreiches Buch mit dem Hinweis, das könnte mich interessieren, auf den Schreibtisch. Dies ist über zwanzig Jahre her. Gleichwohl hat mich der Inhalt des Buches und die damit verbundenen Fragestellungen, wie können wir komplexe Systeme verstehen, was können wir über sie wissen und wie mit ihnen konstruktiv umgehen, bis heute nicht losgelassen. Die damit einhergehende Suche nach Möglichkeiten, ökonomische und bildende Prozesse komplexitätswissenschaftlich zu analysieren, empirisch zu untersuchen und zu gestalten, ist weiterhin mein zentrales Forschungsgebiet. Das Buch, das mir damals überreicht wurde, war das grundlegende Buch zur „Synergetik", jener Teildisziplin der Komplexitätswissenschaften, die - aus der Physik stammend - gerade auch für ökonomische Fragestellungen interessante Beiträge liefert. Der Mann, der mir das Buch zu lesen gab und damit meinen weiteren Werdegang maßgeblich geprägt hat, war niemand geringerer als Hans Jürgen Schlösser, dem diese Festschrift zum 60. Geburtstag gilt und dem ich diesen einfuhrenden Aufsatz zur Synergetik widmen möchte.

2. Einleitung Folgt man z. B. dem Wirtschaftsnobelpreisträger von Hayek, dann wird deutlich, dass man Ordnung nicht als Ergebnis einer Planung ansehen muss. Er postuliert in diesem Zusammenhang sogar einen konstruktivistischen Irrtum (Hayek 1996, S. 17 f.) und schrieb in diesem Kontext bereits 1963: „Es ist daher paradox und beruht auf einem völligen Verkennen dieser Zusammenhänge, wenn heute oft gesagt wird, dass wir die moderne Gesellschaft bewusst planen, weil sie so komplex geworden ist. In Wirklichkeit können wir eine Ordnung von solcher Komplexität nur dann erhalten, wenn wir sie nicht nach der Methode des Planes, d.h. nicht durch Befehle, handhaben, sondern auf die Bildung einer auf allgemeinen Regeln beruhenden spontanen Ordnung abzielen." (Hayek 2003, S. 16) In Anlehnung an von Hayek kann dann eine solche Ordnung aber nicht durch die vielfach noch verwendeten mechanistischen, auf linealen 1 Ursache-Wirkungs-Ketten beruhenden und damit vorhersagbaren Modelle 2 adäquat untersucht werden.

1

2

Bei linealen Systemen handelt es sich um Konzeptionen, in denen die Elemente des Systems als Kette hintereinander angeordnet sind. Da in einer derartigen Struktur im Gegensatz zu nicht-linealen Systemen Rückkopplungsschleifen fehlen, wird ein vordefiniertes Verhalten abgearbeitet, ohne dabei auf endogene oder exogene Ereignisse zu reagieren. Lineale Systeme sind oftmals mathematisch linear, nicht-lineale Systeme hingegen vielfach nicht-linear. Linear bedeutet, dass die Variablen in den mathematischen Gleichungen keine Potenzen größer als 1 aufweisen. Lineare Funktionen sind daher anschaulich gesprochen Geraden. Nicht-Linear bedeutet, dass die Gleichungen Variablen enthalten, deren Potenzen größer als 1 sind. Anschaulich gedeutet, sind die Funktionen also Kurven und keine Geraden. Aufgrund der unterschiedlichen Definition sind lineare von linealen Systemen daher zu unterscheiden. Modelle lassen sich als materielle oder immaterielle Systeme interpretieren, die andere Systeme darstellen, so dass experimentelle Manipulationen der abgebildeten Strukturen und Zustände möglich werden (Niemeyer 1977, S. 57).

Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation

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U m die in der Realität anzutreffenden komplexen Entwicklungen zu modellieren, greift man nämlich traditionell auf exogene Störungen oder Zufallsgrößen zurück. Letztendlich werden unregelmäßige und sprunghafte Entwicklungen mit Methoden untersucht, die nur für lineare, respektive lineale Bedingungen oder nur für stetige Vorgänge geeignet erscheinen. Lange Zeit stand die Wirtschaftswissenschaft unter dem Regulativ des mechanistischen Weltbildes, das beispielsweise auf Modelle zurückgriff, deren zum Gleichgewicht tendierenden Trajektorien 3 vorhersagbar und mit Partialanalysen greifbar erschienen. Die ökonomische Realität ist jedoch oft viel diffiziler und komplexer, als dies z. B. lineare Modelle suggerieren. So lassen sich z. B. selbstorganisierende Prozesse fernab vom Gleichgewicht mittels linearer Sichtweisen nicht erklären. Zu Recht stellen Nijkamp und Pool (1993, S. 25) daher fest: „Our economic world is highly dynamic and exhibits a wide variety of fluctuating patterns. This forms a sharp contrast with our current economic toolbox, which is largely filled with linear and comparative static instruments." Die Beschäftigung mit nicht-linearen, komplexen Systemen kann bei der Suche nach einer Erweiterung der ,economic toolbox' eine zentrale Rolle spielen. Mit ihnen lässt sich ein sehr breites Spektrum an ökonomischen Verhaltensweisen und Erklärungsmustern abbilden. So lässt sich Komplexität beschreiben, analysieren und verstehen, wo z. B. traditionelle statistische Methoden gänzlich versagen (müssen), wollte man mit jenen klassischen Ansätzen Komplexität untersuchen. 4 Neben der Katastrophentheorie oder etwa der Thermodynamik sowie der fraktalen Geometrie und der Chaostheorie ist in diesem Kontext vor allem die Theorie der Selbstorganisation, die Synergetik, zu nennen, auf die wir uns hier fokussieren wollen. So sehr sich diese Ansätze auch unterscheiden mögen: Sie alle beschäftigen sich primär mit Fragen der Entstehung und mit der Analyse von komplexen Ordnungsmustern, weshalb sie sich zu Recht als Teildisziplinen eines gedanklichen Überbaus subsumieren lassen, den wir hier als .Komplexitätswissenschaften' 5 bezeichnen wollen und deren Anwen-

3

4

5

Unter einer Trajektorie versteht man die Entwicklungslinie eines dynamischen Systems. Es beschreibt die Bahn, die ein System von einem bestimmten Ausgangspunkt, beginnend im Laufe seiner dynamischen Entwicklung, im Phasenraum vollzieht. Der Phasenraum ist dabei der Raum, der von den zeitlich veränderlichen Variablen eines dynamischen Systems aufgespannt wird. Bewegt sich die Trajektorie in einem .attraktiven' dynamischen Zustand, spricht man auch von einem Attraktor als Teilmenge eines Phasenraumes. Man unterscheidet vier Arten von Attraktoren, die als Fixpunkt-, Grenzzyklus-, Torus- und Chaotischer bzw. Seltsamer Attraktor bezeichnet werden. So bieten die traditionellen statistischen Methoden kaum die Möglichkeit, z. B. den Unterschied zwischen zufälligen oder komplexen Strukturen in Datensätzen herausfinden, geschweige denn sind sie in der Lage, eine komplexe Dynamik in Systemen zu erfassen. Vgl. hierzu z. B. die Ausführungen zur Grammar Complexity in Strunk und Schiepek (2006), S. 203 ff. Der Autor hat früher von einer Theorie statt von Wissenschaften gesprochen. Weil eine Theorie aber wesentlich konkreter und allgemeiner zugleich, in sich widerspruchslos bzw. kohärenter ist als dies der Begriff 'Wissenschaften' suggeriert, wird hier nunmehr von den Komplexitätswissenschaften gesprochen. Wir schließen uns damit Henning Bandte (2007, S. 79) an, der betont: „Trotz zahlreicher Autoren, die bereits von einer Komplexitätstheorie sprechen (mea

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Andreas Liening

dung auf die Wirtschaftswissenschaft wir kurzerhand mit dem Begriff „Complexonomics" 6 versehen. In diesem Aufsatz soll zunächst die Grundidee der Synergetik erläutert werden. Dabei geht es um die Fragestellung, wie man Selbstorganisation in komplexen Systemen erklären kann. Hierzu soll die, aus der Physik bekannte, Synergetik am Ursprungsbeispiel des Laserlichtes erläutert werden. Ein erstes anschauliches Beispiel aus einem anderen Kontext soll die sogenannte Schwarmintelligenz von Vögeln bilden. Neben der Grundidee der Synergetik soll als zweites das Modell einer einfachen Volkswirtschaft beispielhaft für ökonomische Anwendungen synergetisch gedeutet und eine Besonderheit der Synergetik, das „slaving principle", herausgestellt werden, bevor im Schlusswort eine kritische Würdigung dieses Ansatzes im Lichte einer ökonomischen Perspektive erfolgt.

3. Die Grundidee der Synergetik 3.1. Selbstorganisationsphänomene erklären Die Synergetik ist ein interdisziplinärer Ansatz, der es ermöglicht, die Selbstorganisation von komplexen Systemen zu untersuchen. 7 In diesem Zusammenhang kann auch von Emergenz, von dem Hervorgehen einer neuen Eigenschaft durch Wechselwirkungen 8 der einzelnen Bestandteile des Systems, gesprochen werden, wobei die neu entstandene Qualität der emergenten Struktur nicht auf seine ursprünglichen Bestandteile reduziert werden kann. 9 Diese Theorie wurde 1969 von dem Physiker Hermann Haken begründet. Er zeigte damit als erster, dass Laserlicht nur durch Selbstorganisationsphänomene erklärbar ist. Definition: Die Synergetik beschreibt selbstorganisierte Ordnungsbildung in Systemen durch das Verhalten der Systemkomponenten. Sie bezieht sich auf Systeme, die durch Offenheit, Dynamik und Komplexität geprägt sind (Schiepek, Manteufel, Strunk und Reicherts 1995, S. 122). Haken selber schreibt dazu: „Die Grundidee, die die Synergetik dabei der Natur abgeschaut hat, ist einfach darzulegen. Um einem Objekt eine Struktur aufzuprägen oder es mit bestimmten Funktionen auszustatten, benutzen wir üblicherweise das Denkmodell des Bildhauers, der aus dem

6 7 8 9

culpa, der Verf.), sollte besonders vor dem Hintergrund der uneinheitlichen begrifflichen Verwendung (...) überprüft werden, ob es nicht verfrüht ist, von einer ausgewachsenen etablierten (...) Theorie zu sprechen." Der Begriff wurde vom Autor erstmals im gleichnamigen Aufsatz 2009 verwandt, vgl. Liening (2009). Erstmals hat der Verfasser sich damit in seiner Habilitationsschrift umfassend auseinandergesetzt {Liening 1999). Der Begriff Synergetik ist dem griechischen Wort ,crvr)epyei?j' entlehnt, was so viel wie 'zusammenwirken' bedeutet. Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass allerdings nicht jeder emergente Vorgang auch bereits schon ein Vorgang der Selbstorganisation sein muss.

Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation

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Marmorblock die einzelnen Teile aufs Feinste herausmeißelt, um damit zum Beispiel einen Kopf zu gestalten. In ähnlicher Weise legen wir bei einem Chip die Leiterbahnen und die Anordnung seiner einzelnen Elemente planmäßig fest, damit dieser vorbestimmte Rechenoperationen oder logische Verknüpfungen ausfuhren kann. In einer Firma wird dem einzelnen Mitarbeiter genau vorgegeben, was er zu tun hat. Alle diese Schritte erfordern einen hohen Planungs- und Steuerungsaufwand. Dieser geplanten Organisation und detaillierten Steuerung eines Systems stellt die Synergetik der Natur folgend ein anderes Prinzip gegenüber, nämlich das der Selbstorganisation, bei dem System, das im Allgemeinen aus vielen Teilen besteht, nur bestimmte Rahmenbedingungen vorgegeben werden und dann das System seine Struktur und insbesondere Funktion von alleine findet." (Haken 2005, S. 17)

3.2. Über den Laser Die Synergetik geht bei der Betrachtung von Systemen zunächst von einer Ausgangsstruktur aus. Man unterscheidet in der Synergetik dabei eine Makro- und eine Mikroebene (Haken 2005). Das eigentliche System wird dabei auf der Mikroebene angesiedelt. Es ist von einer hohen Zahl von Elementen gekennzeichnet und besitzt in der Regel eine Vielzahl an Freiheitsgraden. Auf dieser Mikroebene werden im Falle des Lasers (Beispiel einer Gasentladungslampe) unzählige Atome bzw. Moleküle kontinuierlich energetisch mit Strom angeregt. Dieser Strom dient als externer Parameter, bzw. Kontrollparameter (Haken 2005a, S. 21). Unterhalb eines kritischen Wertes funktioniert die entsprechende Versuchsanordnung dabei wie eine normale Lampe: Die Atome bzw. Moleküle emittieren zufällige, inkohärente, chaotische Lichtwellen. Dieses System lässt sich durch nicht-lineare Evolutionsgleichungen beschreiben, die interne Variablen, so genannte Moden, beinhalten (Haken 2005a, S. 21). Oberhalb der kritischen Stromstärke jedoch, dieser spezifische Wert wird übrigens speziell als ,laser threshold' bzw. allgemeiner als Phasenübergang bezeichnet, verändert sich die Eigenschaft des Lichtes auf selbstorganiserende Weise dramatisch. Unter Selbstorganisation versteht man auf dieser Ebene nun die Reduktion der Freiheitsgrade. Das System wird durch die Veränderung des Kontrollparameters instabil, wobei nun eine große Zahl stabil bleibender Variablen durch eine geringe Auswahl, gegebenenfalls sogar durch nur eine instabil werdende interne Variable ausgedrückt werden kann: Diese Variable, diese emergente Laserlichtwelle, wird dabei als Ordnungsparameter bezeichnet. Er bestimmt die Emmissionshandlungen aller anderen Atome bzw. Moleküle, so dass das gebündelte Laserlicht entsteht, indem schließlich alle Atome nahezu im Gleichklang schwingen bzw. Licht von nahezu nur einer Wellenlänge aussenden. Haken (2005, S. 22) spricht in diesem Zusammenhang von .Versklavung'. Die instabilen Moden versklaven also die stabilen Moden. Im Prozess der Selbstorganisation kristallisieren sich also aus der Fülle der Elemente einige wenige heraus, die die Versklavung des Systems beeinflussen. Durch dieses Versklavungsprinzip entsteht somit eine neue Struktur. Diese wenigen Parameter, die Ord-

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Andreas Liening

nungsparameter, können auf einer Makroebene beobachtet werden. Auf dieser Makroebene werden somit die Muster bzw. Ordnungsstrukturen des Systems erkennbar. Während das Ausgangssystem eine homogene Struktur aufweist, ist im emergierten Endsystem die Symmetrie gebrochen. 10 Nun ist diese Theorie des Laserlichtes keineswegs nur eine Theorie der Physik. Sie ist eine allgemeine Theorie, die dazu dienen kann, z. B. Selbstorganisationsprozesse in der Biologie, der Medizin, der Soziologie, der Psychologie, aber auch der Wirtschaftswissenschaft zu beschreiben und zu erklären. Die Theorie der Selbstorganisation ist eine mächtige Alternative zu den typischen traditionellen, mechanistischen Sichtweisen, wie wir sie z. T. immer noch in der Wirtschaftswissenschaft finden (Liening 2009). Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht das Konzept der Synergetik. Abbildung 1: Das Synergetische Konzept

Kontrollparameter

-- -

Umwelt

ri 1NL makroskopische Ebene

Ördnungsparameter bzw, makroskopische Variablen

Versklavung !

mikroskopische Ebene

j j

r^tfHm i fnnn .ï'rnrnfri'nfn r'ntfrr

dynamische Muster

; Selbstorgara'sation

[1

System

Quelle: Strunk und Schiepek (2004), S. 27. Voraussetzung für den Selbstorganisationsprozess ist, dass das System ein offenes 10

Haken (1979) weist in einem Vortrag zur Erläuterung des Symmetriebruches daraufhin, dass wir gebrochene Symmetrien auch in der Sprache vorfinden: „...zum Beispiel wenn wir das Wort Schloß sagen, kann dies ein Türschloß bedeuten, andererseits aber auch einen Herrensitz. Oder das Wort Hahn kann Wasserhahn oder Gockelhahn bedeuten. Ganz offensichtlich muß hier durch eine zusätzliche Information die Symmetrie gebrochen werden." Das Wort „Schloss" beinhaltet also spiegelsymmetrisch zwei Entwicklungslinien, zwei Deutungen. Diese Entwicklung würde man als Gabelung normalerweise in Form eines sogenannten Bifurkationsdiagramms veranschaulichen. Dadurch, dass nur eine der beiden Deutungen im konkreten Fall zutrifft, wird die Symmetrie des Wortsystems gebrochen. An dieser Stelle sei auf das grundlegende Werk zur Synergetik hingewiesen (Haken 1981).

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System ist. Denn ein System kann nur selbstorganisierend existieren, wenn ihm von außen Energie zugeführt wird, wie das Beispiel des Lasers zeigt; so wie ein Pendel ausschließlich nur dann permanent schwingen kann, wenn ihm dauerhaft Energie zugeführt wird. Die Energie determiniert dabei nicht das konkrete Verhalten des Systems, die Art der Bewegung - am Beispiel des Pendels also die Pendelbewegung -, aber ohne sie käme die Bewegung, käme die Dynamik des Systems, zum Erliegen. Kurzum: Nur offene Systeme können selbstorganisiert evolutorische Strukturen hervorbringen. Alle anderen sterben, chemisch gesprochen, den Wärmetod (Prigogine und Nicoiis 1987). In diesem Kontext spricht man von Kontrollparametern, die jedoch allenfalls eine unspezifische Kontrolle durch die Umwelt symbolisieren (Tschacher und Brunner 1997, S. 102). Letztendlich geben diese die Ordnungsstruktur nicht vor, ermöglichen sie einerseits jedoch, indem sie durch die Steuerung der Energieversorgung Einfluss auf die Mikroebene nehmen. Andererseits gibt es durch die gegenseitige Beeinflussung auch ein Wechselspiel zwischen Ordnungsparametern und Kontrollparametern. Einmal so entstandene Muster können sich bei Änderung eines Kontrollparameters wieder destabilisieren, was abermals zu neuen Ordnungsparametern fuhren kann. Welche der möglichen Verhaltensweisen sich letztendlich als Ordnungsparameter niederschlagen, kann oftmals nur schwer prognostiziert werden, da bereits eine kleinste Änderung in den Anfangsbedingungen zu vollkommen anderen Ordnungsparametern fuhren kann, was ohne diese Änderung eher unwahrscheinlich gewesen wäre. Diese als ,Schmetterlingseffekt' bekannt gewordene Erkenntnis wird oft folgendermaßen formuliert: Man sagt, dass der scheinbar unbedeutende Flügelschlag eines Schmetterlings in Hong Kong mit der Zeit einen Wirbelsturm in New York auslösen könnte.

3.3. Schwarmintelligenz - Der Zug von Vögeln Als Beispiel für die Anwendung der Idee der Synergetik kann der Zug von Vögeln ins Winterquartier dienen. Unter Selbstorganisation versteht man die Reduktion der Freiheitsgrade auf der Mikroebene, d. h. jeder Vogel könnte sich zwar völlig eigenständig eine Flugroute suchen bzw. diese zurücklegen, dies geschieht jedoch nicht. Im Prozess der Selbstorganisation der Zugvögel bilden sich Vogelschwärme. Aus der Fülle der Parameter, die das System des Vogelschwarms beeinflussen könnten, kristallisieren sich einige wenige heraus, die die Selbstorganisation des Systems beeinflussen. Diese wenigen Parameter werden Ordnungsparameter genannt und können auf einer Makroebene beobachtet werden. Im Falle des Vogelschwarms ist dies z. B. die Flügelform bzw. die Größe der Vögel. Von diesen Parametern leiten sich der Abstand der Vögel untereinander und damit das Reaktionsverhalten sowie die energetische Wirkung des Windschattens ab. Auf der Makroebene entsteht so die Formation des Systems, an die sich die Systemkomponenten (hier: die Vögel) halten. Nicht die Betrachtung einzelner Vögel, sondern des Schwanns lässt die Muster bzw. die Ordnungsstrukturen des Systems erkennbar werden. Die hier beschriebene Schwarmintelligenz ist eine sehr einfache Form der Selbstorganisation, die nur auf drei Regeln beruht, an die sich der einzelne Vogel hält {Otto, Nolting und Bässler 2007, S. 155):

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— Zusammenbleiben: Versuche, dich in Richtung des Mittelpunktes des Schwanns zu bewegen. — Separieren: Bewege dich nach außen, sobald dir jemand zu nahe kommt. — Ausrichten: Bewege dich wie dein direkter Nachbar. Dadurch handelt die Gruppe ohne zentrales Kommando, denn jeder ist autark, und der Schwärm benötigt keine zentrale Aufsicht, sondern agiert dynamisch und selbstorganisiert (Synergetik). Darüber hinaus sind Schwärme sehr flexibel, sie weisen eine große Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Bedingungen (Berge, Häuser, Seen) auf. Schwärme sind sehr robust gegenüber dem Ausfall einzelner. Insgesamt betrachtet steckt die Ordnung im Schwärm, nicht im einzelnen Vogel (Liening und Mittelstadt 2008, S. 41-43).

4.

Der Staat und die Volkswirtschaft synergetisch gedeutet

4.1. Teil- und Gesamtsysteme in der Synergetik Im Folgenden werden beispielhaft zwei Systeme S; und S2 betrachtet. Das System Si sei eine Volkswirtschaft ohne staatliche Aktivitäten und System S2 sei der Staat. Der Zustand der Systeme kann durch eine Vielzahl von Moden charakterisiert werden. So kann das System S/ durch Zahlungsbilanz, Arbeitslosenquote, Preisniveau, Zinssätze, Bruttoinlandsprodukt etc. und das System S2 beispielsweise durch Institutionen, Rechtsprechung, Staatsausgaben, Steuereinnahmen, Subventionen, Transferzahlungen etc. beschrieben werden. Ferner wird angenommen, dass das System S2 auf das System Si durch bestimmte 'Kräfte' einwirken kann: So könnten im System S2 z. B. zur Beseitigung finanzieller Schwierigkeiten die indirekten Steuern erhöht werden. Diese Erhöhung würde in Si eine Zustandsänderung hervorrufen. Beispielsweise könnte es sein, dass die Erhöhung der Steuern einen (unerwünschten) Crowding-Out-Effekt in Si nach sich zieht. Greift S2 allerdings nicht mehr durch Veränderung seiner Parameter in Si ein, indem z. B. die Steuererhöhung wieder zurückgenommen wird, dann bewegt sich 5/ in seinen Ausgangszustand zurück, d. h. der in diesem Beispiel durch den Staat ausgelöste Konjunkturabschwung würde beseitigt. In der Sprache der Synergetik sagt man, dass das System S2 das System S; organisiert. Es wurde nochmals bemerkt, dass die Synergetik auf Selbstorganisation zugeschnitten ist. Deshalb ist es ein äußerst einsichtiger Schritt, wenn nunmehr alle auf das System Sj einwirkenden Kräfte als Teile eines Gesamtsystems aufgefasst werden (Haken 1981, 5. 211 ff.). Dazu wird das Gesamtsystem S = S1S2 betrachtet, d. h. ein System Volkswirtschaft mit staatlichen Aktivitäten. Dann lässt sich sagen, dass S sich selbst organisiert, so dass die Einwirkungen des Teilsystems S2 auf das Teilsystem Si interne Kräfte darstellen. Haken (1981, S. 15) stellt fest:

Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation

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„Der bemerkenswerte Vorgang bei sich selbst organisierenden Systemen [...] ist der folgende: Obwohl dem System in völlig regelloser Weise Energie zugeführt wird, formiert es sich in einer genau festgelegten makroskopischen Mode."

4.2. Der mathematische Trick: Das ,slaving principle' Es gibt bei der Beschreibung selbstorganisierender Systeme jedoch ein Problem: Derartige komplexe Systeme lassen sich in der Regel nur durch viele Variablen und damit häufig nur durch ein umfassendes Gleichungssystem beschreiben. Aus diesem Grunde benutzt man einen mathematischen Trick, der darin besteht, dass man die stabilen Variablen direkt durch instabile Ordnungsparameter beschreibt. Es zeigt sich, dass in der Regel viele stabile und wenige instabile Variablen auftreten. Deshalb folgt der Teil Si eines Systems dem Teil S2 unmittelbar. Man sagt, dass das System S2 das System Si versklavt hat (slaving principle). Dadurch wird die Anzahl der Freiheitsgrade und damit werden die Komplexität reduziert und ein neuer Zustand hergestellt, der durch wenige Ordnungsparameter ausgedrückt wird. In der Synergetik ist das Versklavungsprinzip vollkommen wertneutral gemeint. Es stellt keine von bestimmten Akteuren ausgelöste Zwangsmaßnahme dar. Erdmann (1993, S. 33) stellt hierzu aus der Sicht der Ökonomik fest: „Vielmehr geschieht die Versklavung in Entscheidungssituationen, indem die beteiligten Wirtschaftssubjekte - in Verfolgung ihres Eigennutzens und der dadurch hervorgerufenen tatsächlichen oder perzipierten Sachzwänge - ihr Verhalten von der bestehenden Ordnung (z. B. Preissystem, Rechtsordnung), von einer expliziten oder impliziten Norm oder von einer vorherrschenden Mode abhängig machen. Mit ihrem Verhalten erzeugen die Akteure gleichzeitig und spontan die Ordnung, der sie sich in ihren Entscheidungen unterwerfen." Haken vergleicht am Beispiel eines bestimmten Gleichungssystems 11 die sich aus einer direkten Computerrechnung ergebenden Resultate mit den berechneten Ergebnissen auf der Basis des Versklavungsprinzips. Es stellt sich heraus, dass für ein gewisses Zeitintervall eine sehr genaue Übereinstimmung nachgewiesen werden kann, plötzlich jedoch eine Diskrepanz auftritt, die „für alle späteren Zeiten bestehen bleibt" {Haken 1981, S. 351). Damit zeigt Haken, dass - wenn das Versklavungsprinzip versagt und die vormals stabile Lösung durch Änderung eines Kontrollparameters destabilisiert wird irreguläre, chaotische Bewegungen auftreten, so dass Chaos in Systemen eng mit dem Versagen des Versklavungsprinzips in Zusammenhang steht. Es können - anders formuliert - minimale Änderungen in den Kontrollparametern enorme Auswirkungen im Verlauf der Zeit nach sich ziehen, so dass sich in komplexen Systemen mittel- und längerfristige Prognosen schwierig, wenn nicht gar unmöglich gestalten und somit auch jegliche zentralen Maßnahmen der Justierung der Kontrollparameter, die dazu dienen sollen, ein System nachhaltig zu stabilisieren, im Zweifelsfall sogar den gegenteiligen Effekt haben könnten. Die Ordnungsparameter, die das System beschreiben und ihm eine Struktur geben, entstehen - wie oben beschrieben - letztend11

Haken (1981, S. 342 ff.) betrachtet hier das sogenannte Lorenz-System, das einen seltsamen Attraktor ausweist.

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lieh durch den Wettbewerb im Zweifelsfall unzähliger Elemente auf der Mikroebene, wobei die Kontrollparameter in erster Linie die notwendige Energie für den dynamischen Entwicklungsprozess des Systems zur Verfugung stellen. Und daher ist auch eine externe Suche nach den „richtigen" Ordnungsparametern und deren Festlegung so gut wie unmöglich, da auch ihre Auswirkungen aufgrund der systemimmanenten Komplexität prinzipiell kaum vorhersagbar sind. Van Suntum (2005, S. 13) macht diese Gefahr deutlich, wenn er fragt, wie „eine staatliche Planungsbehörde angesichts dieser Komplexität wissen können [soll], welche Güter wann, in welcher Menge und an welchem Ort nachgefragt werden? Wie sollte sie die konkrete Befriedigung dieser Nachfragevielfalt bewerkstelligen? Nur das dezentrale Wissen Hunderttausender von Unternehmen, Kaufleuten und Managern, die alle ihren Vorteil suchen, kann dieses ,Suchproblem' lösen." Wenn man Systeme synergetisch betrachtet, wie es in den obigen Ausführungen beschrieben wurde, dann benötigt man zum Verständnis derselben eine neue Art der Betrachtung, die deutlich macht, dass es generell kaum möglich ist, ein komplexes System wie die Wirtschaft eines Landes umfassend zu steuern, weil die Folgen eines noch so minimalen Eingriffs unabsehbar sein können (Schmetterlingseffekt). Das Scheitern der antizyklischen Fiskalpolitik der Bundesrepublik in den 1970er Jahren oder noch extremer das Scheitern der Planwirtschaft in den osteuropäischen Staaten können als empirische Belege herangezogen werden. Fast jede Art von Staatseingriff in die ökonomischen Abläufe eines Marktes, und sei sie noch so gut gemeint, kann letztendlich scheitern, wenn sie zur Absicht hat, mehr als nur die notwendigen Rahmenbedingungen für das Funktionieren des Systems bereitstellen zu wollen. 12 Ohne dass von Hayek beim Verfassen seines gleichnamigen Werkes den hier dargelegten Theorieansatz vielleicht kennen konnte, spricht er doch zu Recht in dem dargelegten Kontext von der „Anmaßung von Wissen" (.Hayek 1996).13 Von Hayek (1996, S. 309) weist daraufhin, dass die große Leistung des Marktes darin besteht, „eine weitreichende Arbeitsteilung möglich zu machen und eine laufende Anpassung ökonomischer Handlungen an Millionen besonderer Tatsachen und Ereignisse zustande zu bringen, die in ihrer Gesamtheit von niemanden gewusst werden und von niemanden gewusst werden können."

12

Dies schließt jedoch nicht aus, dass es in bestimmten Bereichen (Bereitstellung von öffentlichen Gutem, Maut-, Allmendegütern) auch ohne Eingriff des Staates, z. B. aufgrund von „Moral Hazard" oder „adverser Selektion" durch Informationsasymmetrien, zu Marktversagen kommen kann und u. U. staatliche Lösungen in Erwägung zu ziehen sind. Vgl. hierzu z. B. die Ausfuhrungen zum Thema „Market Failure and Public Policy" in Ekelund Jr. (1988), S. 440460. Gleichwohl gibt es auch hier Ökonomen, die sich durchaus marktwirtschaftliche Lösungen unter Einbeziehung sozialer Ziele vorstellen können; vgl. z. B. für das Gesundheitswesen (.Blankart 2008, S. 400 ff.). 13 Sein in diesem Band enthaltener Aufsatz über die Theorie komplexer Phänomene erschien erstmals 1967 (Hayek 1996).

Synergetik - Die Theorie der Selbstorganisation

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5. Schlussbemerkung Insgesamt betrachtet ist die Synergetik also eine Theorie der Selbstorganisation, in der es kein globales Stabilitätskriterium gibt. Nach Haken kann man sogar sämtliche interne Variablen durch Ordnungsparameter ausdrücken. Alle stabilen Moden werden dadurch eliminiert. Damit sind nur noch die instabilen Moden, die Ordnungsparameter, von Bedeutung. Moden werden also vorausgesetzt. Durch die Versklavung entstehen neue Systemeigenschaften. Die Frage, wie diese Eigenschaften am Bifurkationspunkt, jenem Punkt, an dem sich der Systemzustand ändert, zustande kommen und in welchem Verhältnis der alte zum neuen Zustand steht, wird dabei allerdings nicht beantwortet. In der Synergetik wird die alte Struktur nicht in die neue abgebildet. Es fehlt so gesehen eine topologische Variante. Trotz dieses Kritikpunktes stellt aber, insgesamt betrachtet, die Synergetik einen geeigneten Ansatz dar, um selbstorganisierende Systeme und damit gerade auch ökonomische Systeme, die auf freien, marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhen, gewinnbringend zu beschreiben und zu analysieren. Die Synergetik zeigt, dass auf der Mikroebene eines Systems nicht der fertige Bauplan, sondern lediglich der Ausgangspunkt für die Evolution einer Gestalt vorliegt, deren Gestaltungsenergie von außen durch Kontrollparameter hinzugefügt wird und die als eine Art ,creatio ex nihilo' - in sich selbst durch Rückkopplungen allmählich auf der Makroebene mittels Ordnungsparameter als dynamische Struktur auftaucht. Das Spannende an der synergetischen Deutung der Volkswirtschaft wird dadurch deutlich, dass sich zeigt, dass komplexe Systeme wie die von Volkswirtschaften sich nur selbstorganisierend generieren können. Aus diesen Gründen und auch wegen des oben angesprochenen Schmetterlingseffekts ist es daher generell kaum möglich, ein komplexes System wie z. B. die Wirtschaft eines Landes umfassend zu steuern, weil jeder minimale Eingriff ,in the long run' unabsehbare Folgen haben kann. Die hier aufgezeigten ersten Erkenntnisse aus der Synergetik müssen z. B. in Bezug auf das Marktsystem nicht zwangsläufig - wie leicht vermutet werden kann - auf eine Unvereinbarkeit von ,sozialer Gerechtigkeit' und .Freiheit' hinauslaufen; gleichwohl können sie uns helfen, den Blick zu öffnen, um die der Marktwirtschaft innewohnenden, sich selbstorganisierenden Kräfte der Freiheit, die durch überzogene Staatseingriffe letztendlich zum Schaden aller gemindert werden, gewinnbringend zu nutzen. Damit ist die Untersuchung komplexer Systeme mittels der Synergetik keineswegs zu Ende. Im Gegenteil: In diesem Beitrag war es lediglich möglich, einen ersten Einstieg in die Thematik zu ermöglichen und für das Thema zu sensibilisieren. Generell gilt jedoch, dass sehr viel Forschungsarbeit zu leisten bleibt, sowohl um komplexe Systeme besser zu verstehen und zu beurteilen als auch um Handlungsoptionen erkennen zu können.

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Andreas Liening

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Teil II: Bildung zur Sozialen Marktwirtschaft

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Ökonomische Aufklärung Der mühsame Weg zur Überwindung des moralischen Makels des Gewinns

Karen Horn

Inhalt 1.

Einleitung

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2.

Die Anfange des Vorurteils in der Antike

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3.

Erste Lockerungsübungen im Mittelalter

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4.

Unterwegs zur Aufklärung

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5.

Ein Zeitalter des Pragmatismus

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6.

Fazit

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Literatur

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1.

Karen Horn

Einleitung

„Profit" gilt als linker Kampfbegriff. Er soll den Gewinn so hässlich machen wie der Kapitalismus die Marktwirtschaft - und das gelingt ihm auch. Noch stärker ist die negative Konnotation im Zusammenhang mit der „Profitmacherei". Profit zu machen ist schon schlimm genug, aber Profitmacherei klingt nach Sünde und „Profitlichkeit" gar nach einem Laster. Hier sind Egoismus und Gier nicht weit, es lauert die pathologische Verengung des Denkens auf den eigenen Vorteil. Schon der Profit selbst - von lateinisch profectus, Fortgang, Zunahme, Vorteil - verweist auf das Profitieren. Profitieren kann man auch von etwas, an dem man keinerlei Anteil hat, zu dem man nichts beigetragen hat - und genau da liegt auch schon der Hase im Pfeffer: Letztlich gilt der Profit als unverdient. Gewinn hingegen wird schlechterdings als etwas empfunden, was einem zufallt, entweder bloß glückhaft wie in einer Lotterie oder, was besser ist, wohlverdient nach dem Sieg in einem Wettbewerb. Gewinn ist ein wenig sympathischer als Profit. Darum tut im Klischee das Gewinnstreben vielleicht auch nicht ganz so weh wie die Profitmacherei. Mit Gewinnstreben assoziieren die Menschen etwas, das zwar auch der Rechtfertigung und der Einhegung bedarf, was aber anerkanntermaßen wohl sein muss, damit die Wirtschaft weiterläuft. Profitmacherei hingegen gilt als etwas Widerwärtiges, etwas Rücksichtsloses, etwas, das ohne Rücksicht auf Verluste bei anderen geschieht. Der klassische Liberale, zu denen der Ökonom und Didaktiker Hans Jürgen Schlösser zu zählen ist, hat angesichts dieser Wahrnehmung zwar gleich den Reflex, zu fragen, ob es derlei eigentlich überhaupt geben kann. Wird jemand, der sich als übler und rücksichtsloser Profitmacher betätigt, von den Kunden auf dem Markt nicht umgehend abgestraft? So schön und so logisch dieser Einwand, der auf der üblichen Annahme von den Selbstheilungskräften des Marktes fußt, auch klingt - man kann sich nicht recht mit ihm zufrieden geben. Denn dass der Markt widerwärtiges Verhalten bestraft, reicht nicht, um es auch schon auszumerzen. Heißt das nun aber, dass Profitmacherei und Moral einander per Definition ausschließen? Dann bräuchte man nicht weiter nachzudenken, dann zerplatzte das Thema und erübrigte sich jeder Versuch einer ökonomischen Aufklärung. So einfach sollte man es sich aber nicht machen, und auch Hans Jürgen Schlösser hat sich natürlich niemals aus dieser didaktischen Verantwortung des Ökonomen davongestohlen. Im Gegenteil: er hat sich in vorbildlicher Weise um die ökonomische Aufklärung verdient gemacht. Um die Zuspitzung zu vermeiden, die jeden weiteren Diskurs verriegeln würde, soll es im Folgenden nicht um Profitmacherei und Moral gehen, sondern „bloß" um Gewinnstreben und Moral - um ein Wortpaar also, bei dem es tatsächlich eine Spannung geben kann, eine positive wie eine negative Spannung, etwas, was für Abstoßung sorgt und sich doch auch in Anziehung und Zusammenhalt äußert. Hier kann es dann nämlich „Checks and Balances" geben. Das Gewinnstreben ist zumindest potentiell in der Lage und funktional betrachtet sogar in der Pflicht, die Moralität im Rahmen der ökonomischen Vernunft zu halten. Wenn nämlich die Moralität so weit getrieben wird, dass ein Unternehmer seine Produkte verschenkt, dann muss er bald Insolvenz anmelden und

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niemandem ist gedient, weder den Kunden noch den Angestellten. Umgekehrt ist die Moralität in der Lage und in der Pflicht, das Gewinnstreben einzuhegen, auf dass es nicht zur rücksichtslosen, zerstörerischen Profitmacherei degeneriere.

2.

Die Anfänge des Vorurteils in der Antike

Mit dem Thema, wie sich das Gewinnstreben und die Moral zueinander verhalten, haben sich die Menschen zu allen Zeiten befasst, und immer war der Ausgangspunkt die Empfindung oder der Verdacht, dass es zwischen Gewinnstreben und Moral einen tiefen Widerspruch gibt oder geben könnte. Und das ist durchaus keine christliche Erfindung, wie man vielleicht glauben könnte. Vielmehr geht dieses Misstrauen schon los mit Aristoteles (384-322 v. Chr.), dem ersten Philosophen unter den antiken Griechen, der in seinen beiden Werken „Politik" und „Nikomachische Ethik" ein zwar vorrangig ethisch motiviertes, aber dennoch auch schon einigermaßen umfassendes und geschlossenes System der ökonomischen Ideen entworfen hat. Dass er sich die Frage nach der Verbindung von Wirtschaft und Moral stellt, hat damit zu tun, dass Aristoteles den umfassenden Blick pflegt und so den Menschen als soziales und politisches Wesen betrachtet eine Breite des Ansatzes, die etwa zwei Jahrtausende später Adam Smith wieder aufgreift und praktiziert. Das ethische Ziel ist „das gute Leben", die Glückseligkeit, die mit der Vollendung der Tugend einhergeht. Die Tugend selbst kennt zwei Abteilungen: die sittliche Tugend und die Verstandestugend. Die sittliche Tugend sorgt dafür, dass die Menschen sich die richtigen Ziele setzen, und die Verstandestugend hilft dabei, diese dann möglichst auch zu erreichen. Die Verstandestugend ist somit ein Mittel zum Zweck und bedarf der Kontrolle, der Einhegung durch die höhere, die sittliche Tugend. Bezogen auf das Wirtschaften und den Gewinn heißt das, dass die Verstandestugend den Menschen anleitet, effizient zu wirtschaften und einen Gewinn zu erzielen; wohingegen ihn die sittliche Tugend in seinem Gewinnstreben bremst, auf dass seine Fertigkeit ihn dabei nicht zur nackten Gier verleitet. Die sittliche Tugend ist der Verstandestugend übergeordnet. Dementsprechend unterscheidet Aristoteles auch mit Blick auf das Gewinnstreben bzw. die sogenannte Erwerbskunst zwei Richtungen: die Ökonomik, bei der es um das Haushalten, die Verwendung der materiellen Mittel geht, die für das gute Leben notwendig sind, und die „Chrematistik", den Erwerb dieser Mittel. Und hier gibt es wieder zwei Niveaus: den naturgemäßen Erwerb, der stets maßvoll mit den materiellen Gütern und dem Geld umgeht, und den naturwidrigen Erwerb, der rasch zum Selbstzweck degeneriert und keine Schranken mehr kennt. Aristoteles erkennt, das der Grenznutzen des Geldes nicht ganz so schnell abnimmt wie der Grenznutzen anderer Güter. Ein Erwerb, der nur der Geldvermehrung dient, findet seine Billigung nicht, und deshalb lehnt er auch den Zins strikt ab. Hier findet sich bei Aristoteles also schon der gewohnte Befund der Befindlichkeiten, den die Menschheit auch im Folgenden weiter gepflegt und eingeübt hat: Ein gemäßigtes Gewinnstreben wird noch gerade toleriert, ein Gewinnstreben um des Gewinnes willen, als materialistischer Selbstzweck, wird aus moralischen Gründen abgelehnt.

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Aber wieso eigentlich, wenn niemand zu Schaden kommt? Oder ist das unausweichlich? Wieso? Und wo verläuft die Grenze? Und wie entstehen eigentlich die gesellschaftlichen Werte und Konventionen, die es erlauben, solche Grenzen festzulegen? Das beides sind ebenfalls Fragen, mit denen sich später der große Adam Smith auseinandergesetzt hat. Die Frage nach dem möglichen Schaden für Dritte beantwortet der Schotte, der als Moralphilosoph begann und als Ökonom die Welt verändert hat, mit seiner Erklärung der Arbeitsteilung. Damit öffnet er den Blick dafür, dass Wirtschaften kein Nullsummenspiel ist, wie Aristoteles noch meinte. Und die Frage nach den Konventionen beantwortet er mit Verweis auf die Rückkopplungsprozesse im gesellschaftlichen Miteinander. Doch dazu später.

3.

Erste Lockerungsübungen im Mittelalter

Eine nächste Etappe in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Gewinnstreben und Moral wurde mit der Scholastik erreicht. Einschlägig ist hier vor allem die „Summa theologica" des Dominikaners Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert. Auch der Kirchenlehrer Aquinus (1225-1274) hadert immer noch mit dem Handel, den er zwar als nützlich anerkennt, aber dennoch als sittlich „niedrig" einstuft. Der Handel produziert eben nicht, er reicht nur weiter. Die Margen, die sich bei diesem Weiterreichen erzielen lassen, bleiben damit problematisch. Thomas von Aquin schreibt: „Der Gewinn jedoch, welcher der Zweck des Handels ist, mag zwar im Eigenwesen nicht etwas Ehrenmaßliches oder Notwendiges in sich haben, sein Begriff enthält aber doch nichts Lasterhaftes oder Tugend gerade Entgegengesetztes. Deswegen hindert nichts, dass der Gewinn auf irgendeinen notwendigen oder auch ehrenmaßlichen Zweck hingeordnet wird. Dergestalt wird das kaufmännische Geschäft erlaubt. Wie dann, warm jemand den maßvollen Gewinn, den er als Kaufmann sucht, auf die Erhaltung seines Hauses hinordnet, oder auch, um den Bedürftigen zu helfen; oder auch, wann einer sich auf den Handel verlegt des öffentlichen Nutzens wegen, damit nämlich nicht die notwendigen Dinge für das Leben im Vaterlande fehlen, und er den Gewinn nicht sozusagen als Zweck, sondern als Lohn der Mühe erstrebt" (Aquin 1954, S. 353). Das soll heißen: eine Sozialbindung des Gewinns adelt den Gewinn. Der Gewinn muss maßvoll bleiben, er muss sich zur Selbsterhaltung rechtfertigen lassen - das ist das gleiche Verständnis von „maßvoll" wie bei Aristoteles - und er darf nur als erfreuliches, aber nicht unmittelbar intendiertes Nebenprodukt eines Tuns abfallen, das sich anderen höheren Zwecken verschreibt. Der Händler soll sein Geschäft dem Vaterland zuliebe betreiben, nicht des Gewinnes wegen, und wenn dabei doch ein Gewinn anfallt, dann darf dieser nicht über das Maß hinausgehen, was er zum Selbsterhalt und allenfalls noch für karitative Zwecke braucht. Eine Freigabe für Materialismus und Hedonismus sieht anders aus. Auch Aquinus kann sich, nicht anders als Aristoteles, mit dem Zins nicht richtig anfreunden. Doch er macht auch hier die Tür wenigstens ein Stück weit auf, indem er den Zins zum Ersatz eines möglichen Schadens bei der Ausleihe erlaubt, insbesondere in Form des entgangenen Gewinns oder als Lohn für eine Kapitalbeteiligung.

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4.

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Unterwegs zur Aufklärung

Bald bröckelte die Front, im 15. Jahrhundert entstand die doppelte Buchführung, umfassend beschrieben, verbreitet und institutionalisiert von dem italienischen Franziskanermönch und Mathematiker Luca Pacioli (1445-1514) in seinem Werk „Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalitâ". Das Unternehmertum wuchs. Das Verhältnis zwischen Gewinnstreben und Moral war erst einmal kein Thema mehr. Es wurde erst in dem Maße wieder ein Thema, wie Verteilungsfragen in der Ökonomik behandelt wurden. Unter Allokationsgesichtspunkten betrafen diese insbesondere die Aufteilung des Ertrags auf die verschiedenen Produktionsfaktoren und unter Distributionsgesichtspunkten die Frage nach Gerechtigkeit oder Ausbeutung - aber um all dies zu untersuchen, galt es im Vorhinein erst einmal den Gewinn an und fur sich zu begreifen. Der Diskurs verlegte sich deshalb von Fragen der Moral auf Fragen der Funktion. Und damit begann die Aufklärung, die den postulierten Gegensatz zwischen Gewinnstreben und Moral eigentlich entschärfen sollte. Auf diesem Weg des wissenschaftlichen Fortschritts wuchs dann allmählich auch die Basis der Rechtfertigung des Gewinnstrebens und des Gewinns. Der Gewinn wurde als Lohn entdeckt, als untrennbares Korrolar des Eigentums, als Ergebnis der ökonomischen Arbeitsteilung, als notwendiger und nützlicher Anreiz. Sowohl Adam Smith (1723-1790) als auch David Ricardo (1772-1823) definieren den Gewinn als Kapitalverzinsung, die dem Unternehmer zukommt, zuzüglich des eigentlichen Gewinns im engeren Sinn, des Unternehmerlohns; Smith in seinem „Wohlstand der Nationen" und Ricardo in seinen „Grundsätzen der politischen Ökonomie und der Besteuerung". Beide gehen davon aus, dass sich aufgrund des Wettbewerbs eine einheitliche Ertragsrate etablieren wird. Adam Smith trennt zwar die Funktionen des Kapitalgebers von jenen des Managers und unterstreicht, dass die Gewinne des Kapitalgebers den Lohn des Managers, also die Bezahlung für Überwachung und Leitung des Unternehmens, nicht schon enthalten. Was in der Betrachtung noch völlig fehlt, was aber später Jean-Baptiste Say (1767-1832) im „Traité d'économie politique" und John Stuart Mill (1806-1873) in den „Principles" andeuten, ist die Tatsache, dass es außerdem auch noch ein Element geben muss, das als Risikovorsorge zu verstehen ist. Außerdem unterscheidet auch Smith noch nicht sorgfaltig zwischen dem Unternehmer und dem Kapitalgeber, offenbar davon ausgehend, dass beide Rollen zusammenfallen. Er äußert sich auch kritisch über den Gewinn als solchen - aber bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es Smith gar nicht um den Gewinn als Unternehmerlohn geht, sondern um das, was man in moderner Sprache „Renten" nennt - insbesondere um Renten, die Produzenten dank der protektionistischen Abschottung des merkantilistischen Systems gegenüber der Konkurrenz aus dem Ausland erzielen und die den Verbrauchern naturgemäß schaden. Von großer Bedeutung ist aber nicht so sehr, was Adam Smith über den Gewinn selbst schreibt, sondern vielmehr das, was er über das Erwerbsmotiv, über das Gewinnstreben an sich zu sagen hat. Hierzu gilt es ein bisschen weiter auszuholen. In grober Verzerrung wird Smith heute oft als jener Wissenschaftler wahrgenommen, der vielleicht allzu idealistisch davon ausging, dass sich der individuelle Egoismus im gesellschaftlichen Miteinander auf dem Markt durch das Wirken einer „unsichtbaren Hand"

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in allgemeines Wohlgefallen auflöst. Auf diesen verkürzenden und irreführenden Nenner wird gelegentlich die Kernaussage seines bekanntesten, mit etwa 1.000 Seiten auch voluminösesten Buches gebracht, des 1776 erstmals erschienenen Werks „Vom Wohlstand der Nationen". Man wirft Smith gern vor, die persönliche Gier und den Eigennutz der Menschen als Antriebskraft der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur toleriert, sondern vielmehr moralisch freigesprochen zu haben. Dabei liegt Smith wohl kaum etwas ferner, als Gier und Eigennutz zu einer Art Normalfall zu erklären, diese Charakteristika moralisch zu beschönigen oder sie auch nur auszublenden. Das unterscheidet sein Menschenbild wesentlich von jenem des Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679), dem der Mensch des Menschen Wolf war, und auch des zeitgenössischen Arztes und Pamphletisten Bernard Mandeville (1670-1733), der in seiner berühmten „Bienenfabel" in übertreibender Zuspitzung behauptete, private Laster hätten öffentlichen Nutzen zur Folge. Davon grenzte sich Smith mit großem Nachdruck ab. Smith war von Haus aus Moralphilosoph, und in seinem ersten Buch, der 1759 veröffentlichten „Theorie der ethischen Gefühle", dreht sich auf rund 400 Seiten alles um die Frage, wie der Mensch durch das Miteinander mit anderen erkennt, was tugendhaft ist. Es ist ein Buch über soziale Selbstorganisation im Gewand einer moralpsychologischen Untersuchung. Es geht darum, wie die moralischen Voraussetzungen von Gesellschaft und Wirtschaft zustande kommen und was sie erhält. Es geht um Empathie, Wohlwollen, Gewissen und Selbstkontrolle. Zwischen den beiden Hauptwerken von Smith gibt es dabei keinen Widerspruch, wie gelegentlich behauptet worden ist. Dagegen spricht schon ihre Genese: An beiden Werken hat Smith bis zu seinem Lebensende weiter gearbeitet; sie waren parallele Projekte. In beiden Werken verwendet er denselben methodischen Ansatz, parallele Prämissen und kommt dementsprechend auch zu einem analogen Ergebnis. Smith geht davon aus, dass Menschen zielgerichtet handeln und im Normalfall besser als Dritte in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden. In der „Theorie der ethischen Gefühle" trifft er darüber hinaus die wichtige Grundannahme, dass der Mensch von Natur aus empathiefahig ist: „Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein" (Smith 2004, S. 1). Zudem sei allen Menschen daran gelegen, anderen zu gefallen: „Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun" (Smith 2004, S. 176). Mehr noch, der Mensch will nicht nur gefallen, er will auch gleichsam sicher gehen und würdig sein, zu gefallen. Folglich kann er das Urteil über sein eigenes Verhalten auch nicht nur den anderen überlassen, sondern er muss sich vorbereiten - und das tut er in Smiths genialer Konzeption mit Hilfe eines fiktiven „unparteiischen Zuschauers" (Smith 2004, S. 52), der nichts anderes ist, als das Gewissen in der eigenen Brust.

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Smith befasst sich bewusst nicht nur mit der Vernunft, sondern mit Gefühlen („sentiments") als Quelle des Wissens über moralische Angemessenheit. Was gut und tugendhaft ist, erspürt der Mensch aus der Reaktion der Mitmenschen, aus der geleisteten oder verweigerten Gegenseitigkeit, sowie aus dem Zuspruch oder Tadel seines über das kurzfristige Kalkül erhabenen „unparteiischen Zuschauers". Der „unparteiische Zuschauer" weiß zwar nicht mehr als der Mensch selbst, aber er ist in der Lage, den einen entscheidenden Schritt zurück zu tun und besonnen abzuwägen. Er bringt das rationale Element ins Spiel. Allerdings bedarf der Mensch dazu der Vorstellungskraft und eben der Empathie: Er muss sich vorstellen, wie jemand anderes ihn wahrnehmen würde, und das nicht von seiner eigenen Warte aus, mit den eigenen Prägungen, sondern von des anderen Warte aus, mit dessen Prägungen. In diesem Prozess der Rückkopplungen zwischen verschiedenen Menschen, aber auch innerhalb einer Person gleichsam zwischen dem Ich und dem „Über-Ich", entstehen die individuellen und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen, kategorischen Imperative und sonstigen Tugendregeln. Diese haben ein nachvollziehbar gestaffeltes Muster: So ist es ganz natürlich, wenn sich die Menschen ihrer eigenen Familie stärker verpflichtet fühlen als unbekannten Fremden. In der Kleingruppe sind Menschen solidarisch, in der anonymen Großgesellschaft folgen sie unserem aufgeklärten, regelgebundenen Selbstinteresse. So wie Smith in der „Theorie der ethischen Gefühle" im Grunde einen kontinuierlichen Austauschprozess auf dem Markt der Normen schildert, widmet er sich im „Wohlstand der Nationen" dem Markt im engeren Sinne, das heißt dem Markt für Güter und Dienstleistungen. Hier setzt er als Grundannahme fest, dass der Mensch eine natürliche Neigung habe, Tauschhandel zu betreiben („truck, barter, and trade"). Diese Neigung braucht genau jene Empathie, die er in seinem anderen Buch voraussetzt. Um Handel treiben zu können, muss man etwas von seinem Gegenüber wollen. In der „Theorie der ethischen Gefühle" ist dies Anerkennung durch die Mitmenschen; im „Wohlstand der Nationen" ist es eine Ware oder Dienstleistung, die ein anderer besitzt. Beides löst Austauschprozesse aus. Und wie immer funktionieren Austauschprozesse nur, wenn dabei Gegenseitigkeit gewährleistet ist. In der Kleingruppe sorgen soziale Kontrolle und emotionale Nähe dafür, in der Großgesellschaft wird dies ersetzt durch tradierte Konventionen und Institutionen. Vor diesem Hintergrund kann Smith den berühmten Satz schreiben, nach dem wir „nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers (das erwarten), was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil" (Smith 1978, S. 17). Eine Heiligung des Egoismus bedeutet dieser Satz nicht - aber es enthält die ausdrückliche Anerkennung der Tatsache, dass das Gewinnstreben im Wesen des Menschen natürlich verankert ist und dass es in einem System der Rückkopplungen, wo es auf Gegenseitigkeit ankommt, nicht nur moralisch gar nicht von Übel ist, sondern im Gegenteil der notwendige Impuls, damit neue Werte entstehen. Aber dieser Rückkopplungsprozess muss verlässlich funktionieren. Wenn er funktioniert, dann wird der einzelne „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fordern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat" (Smith 1978, S. 371).

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Diese Hand ist nicht zwangsläufig die Hand Gottes. Sie ist aber auf jeden Fall die List der Idee: das „einfache System der natürlichen Freiheit", wie Smith (1978, S. 582) es nennt, ist ein System, das bei geringer Anforderung an die Moralität des einzelnen eine ungeheuere Koordinationsleistung vollbringt. Das heißt im Umkehrschluss, dass irreführende Signale ausgesandt werden, wenn Menschen in wirtschaftlichen Dingen ihre eigenen Interessen zurückstellen. Wer nicht darauf achtet, dass seine Geschäftstätigkeit Ertrag abwirft, verzerrt den Prozess, den Adam Smith beschrieben hat - und das ist höchst unproduktiv. Das ist ein Gedanke, der das spätere Argument Milton Friedmans (1912-2006) stärkt, dass es zumindest einem Manager nicht ansteht, sich moralisch über das Erwerbsmotiv der Anteilseigner der Aktiengesellschaft, die ihm anvertraut ist, zu erheben (Friedman 1970, „the business of business is business").

5.

Ein Zeitalter des Pragmatismus

Nach Smith war die Kritik am Gewinnstreben erst einmal auf Eis gelegt. Ein Zeitalter des Pragmatismus brach an. Den meisten Ökonomen der Zeit nach der Aufklärung ist gemeinsam, dass sie die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Gewinn per se nicht anzweifeln, und das Verhältnis zwischen Gewinnstreben und Moral ist für sie nicht wirklich ein Thema. Es geht mehr darum zu verstehen, welche Funktionen der Gewinn an sich zu erfüllen hat. Wichtig und deshalb erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auf jeden Fall Johann Heinrich von Thünen (1783-1850). In seinem „Isolirten Staat" findet sich 1826 immerhin schon eine differenzierte Analyse des Gewinns und der Rolle des Unternehmers. Thünen definiert den Erwerbsprofit als jenes Einkommen, das der Unternehmer aus den Bruttoerträgen seines Unternehmens ziehen kann, wenn er zuvor die Kapitalverzinsung, die Löhne des Leitungspersonals und eine Risikoprämie in eine Versicherung gegen denkbare Verluste bezahlt hat. Aus diesem Residuum speisen sich dann aber noch zwei verschiedene Dinge: die „Industriebelohnung" und der Unternehmergewinn im engeren Sinne. Etwas später sieht Karl Marx (1818-1883), mit dem die Frage nach der moralischen Bewertung des menschlichen Gewinnstrebens wieder zurückkam, das Profitstreben zwar als vorübergehend erfolgreichen, die Dynamik anstachelnden Motor des Kapitalismus, gleichzeitig aber auch als Quelle interner Widersprüche, die den Kapitalismus letztlich zerstören würden. Marx geht in seinem Werk „Das Kapital" davon aus, dass der Unternehmer, der nach Gewinn strebt, seinen Kapitalstock kumulativ erhöht, um weniger Löhne zahlen zu müssen und so seine Profitrate zu steigern. Das gelingt; aufgrund des technischen Fortschritts sinkt die Kapitalintensität. Arbeitslosigkeit, Kapitalkonzentration und Ungleichheit der Verteilung nehmen immer weiter zu. Die Klassengegensätze wachsen, es kommt zu Wirtschaftskrisen und Revolutionen, der Kapitalismus wird politisch beseitigt. Richtig schlüssig ist die Herleitung von Marx nicht. Insbesondere sieht er nicht, was steigende Arbeitsproduktivität bedeutet. Auch empirisch ist er längst widerlegt. Später erfolgte, wesentlich von Carl Menger (1840-1921) mit seinem 1871 erschienenen Werk „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre" betrieben, die marginalistische Revolution, der Wechsel zur Grenznutzenschule und von der objektiven zur subjektiven

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Wertlehre: Bei vollkommener Konkurrenz, im langfristigen Gleichgewicht wird das Gesamtprodukt den Produktionsfaktoren exakt entsprechend ihrer Grenzproduktivität zugeteilt, die Gewinne verschwinden und sind Null. Gewinne können nur noch aus technischem Fortschritt kommen. Damit war die Frage nach der moralischen Bewertung des Gewinnstrebens wieder als irrelevant ad acta gelegt. Eine Gegenströmung hierzu begründete eine Generation später Joseph Schumpeter (1883-1950), der in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" von 1912 mit einer neuen, bisher unbeleuchteten Rolle des Unternehmers aufwartet - der Rolle des Pionierunternehmers, der in einem Akt der schöpferischen Zerstörung ein bestehendes Gleichgewicht in Unruhe versetzt, der also ein Ungleichgewicht stiftet, woraufhin die Marktkräfte sich allerdings in Gang setzen, um ein neues Gleichgewicht zu finden. Diese Arbeit erledigen findige Nachahmer, die dem Pionierunternehmer im Wettbewerb seine Margen abjagen. Schumpeter kann hieraus in diesem Szenario auch eine neue Aufgabe für den Unternehmerlohn ableiten, nämlich die Aufgabe der Entlohnung für eine Innovation - und diese lässt sich immerhin als sozial wohlfahrtssteigernd interpretieren. Freilich werden auch diese Gewinne im Zuge des Wettbewerbs abgejagt und verschwinden somit. In der jüngeren Vergangenheit dann hat Israel Kirzner eine andere Sicht eingebracht, die aber ebenfalls dem dynamischen Denken verpflichtet ist. Kirzner sieht den Unternehmer nicht als jemanden, der von einer Ausgangslage des Gleichgewichts ausgehend agiert, sondern als einen, der schon Ungleichgewichte vorfindet und sie nutzt, der also Arbitragemöglichkeiten ausnutzt und insofern immer wieder die Tendenz zum Gleichgewicht bestärkt (vgl. Kirzner 1978). Der Schumpetersche Unternehmer zerstört ein Gleichgewicht und fuhrt zum Ungleichgewicht, der Kirznersche Unternehmer hingegen nutzt ein bereits vorfindliches Ungleichgewicht und stößt eine Tendenz zum Gleichgewicht an. Sein Lohn ist eine neoklassische Marge; wie bei den klassischen Marginalisten verschwindet sie im Laufe der Zeit.

6.

Fazit

Von den antiken Griechen bis heute hat sich nicht viel verändert an der Art und Weise, wie die Menschen an das Thema der Vereinbarkeit von Gewinnstreben und der Moral herangehen. Das Bauchgefühl ist nach wie vor ein ungutes, wie sich nicht zuletzt immer wieder im öffentlichen Diskurs beobachten lässt, wenn es um Unternehmergewinne oder Managergehälter geht. Wahrscheinlich muss das so sein - als Korrektiv. Wie es Adam Smith ausgeführt hat, haben die Menschen schließlich mehrere Facetten und ihre Interaktion folglich ebenso. Der Mensch sucht den ökonomischen Austausch und Handel, und er will auch sonst mit seinesgleichen interagieren. Er will dabei ökonomischen Erfolg und auch Anerkennung einheimsen. Sowohl die Moral als auch der wirtschaftliche Wohlstand pendelt sich in einem Prozess gesellschaftlicher Rückkopplungen ein und aus. Nicht nur innerhalb dieser beiden Prozesse gibt es Rückkopplungen, sondern auch zwischen ihnen. Wie weit der Mensch gehen kann in seinem Erwerbsstreben, seiner Gewinnsucht, zugespitzt also in seiner Gier, das begrenzt für ihn seine Angewiesenheit auf das Urteil der anderen, widergespiegelt im eigenen Gewissen. Dabei

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ist die Suche nach dieser Grenze ein Thema, das jeder Mensch wieder neu fur sich klären muss, das jeder Mensch fur sich selbst mit konkretem Inhalt füllen muss. Deshalb bleibt das Thema nach dem Verhältnis von Gewinnstreben und Moral ein Dauerbrenner. Die Spannung ist unauflöslich - und von der Auseinandersetzung mit ihr kann man nur profitieren.

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Men-

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Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Richtsinn, Richtkraft, Orientierungssinn: Einsichtsfahigkeit durch Bildung und Erfahrung

Bodo Gemper

Inhalt 1.

Einleitung

60

2.

„Ermessensspielräume" ausloten!

61

3.

„Richtkraft sichern"!

62

4.

„Richtungssinn wieder herstellen"!

63

5.

Europäische Ordnungspolitik etablieren!

64

6.

Epilog

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Literatur

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Bodo Gemper

„Wer nur von der Nationalökonomie etwas versteht, versteht nicht einmal diese." Wilhelm Röpke (1958, S. 132) " ...daß, wer nur ein Nationalökonom ist, auch kein guter Nationalökonom sein kann." Friedrich A. von Hayek (1963, S. 22)

1.

Einleitung

Das Wirken Hans Jürgen Schössers in vivo, also am Puls der Zeit in noch relativ jungem Alter zu würdigen, um es sogar als Beitrag für eine Festschrift zu seinen Ehren zu Papier zu bringen, ist ebenso ehrenvoll wie herausfordernd. Denn dieses Bemühen soll doch, diesem hehren Zwecke entsprechend, nicht nur in seinem Wirken radizieren, sondern auch aus diesem, seinem Denken heraus, Gestalt erfahren. Zudem ist Schlösser kein Nur-Ökonom, sondern ein umfassend gebildeter Generalist, dessen Forschung sich zudem nicht in praxisfernen mathematischen Modellen erschöpft. Die folgenden Ausführungen tragen Gedanken vor, deren „Ausgangspunkt für die Untersuchung des gesellschaftlichen Lebens [...] in der Volkswirtschaftslehre der einzelne Mensch" ist (Schlösser 2009, S. 10) - ganz im Sinne Schlössers. Diese vom „methodologischen Individualismus" ausgehende Untersuchungsmethode erkennt an, dass „der Mensch nicht durch die Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft geformt" wird und er als Bürger „nicht der Gesellschaft, der Gewerkschaft, der Partei, sondern Gewerkschaftsmitgliedern, Parteimitgliedern" begegnet (Schlösser 2009, S. 10). Das ist für eine individualistische Gesellschaftsordnung die angemessene Forschungsmethode. Methode, verstanden als der einzuschlagende Weg zu einem Ziel. Mehr noch: „verweist [...] der Individualismus als Norm, genau wie der Individualismus als Methode, auf die Notwendigkeit, das Handeln der Einzelnen zu koordinieren" (Schlösser 2009, S. 11). Wobei ich, dem vorgegebenen Rahmen gerecht werdend, meine Betrachtung auf Aspekte der Fähigkeit des Auslotens des Ermessensspielraums, aber auch solche des Grades der Erkenntnis- und Einsichtsfahigkeit konzentriere, die die Qualität der Akteure politischer und unternehmerischer Entscheidungen ausmachen: kann doch „Vernünftiges Handeln aus der Sicht des Einzelnen [...] zu einem ungünstigen Ergebnis für die Gesellschaft oder Gruppe insgesamt führen, wenn das Handeln nicht koordiniert wird" (Schlösser 2009, S. 10). Und weil „individuelle Entscheidungen [...] immer auf der Grundlage von subjektiven Wahrnehmungen getroffen" werden (Schlösser 2009, S. 11), fragt Schlösser zu Recht, „ob eine Wirtschaftspolitik mit großen Ermessensspielräumen und zahlreichen Einzeleingriffen nicht mehr Schaden anrichtet als Nutzen stiftet" (Schlösser 2009, S. 36). Nicht selten erkennt der Bürger, dass Akteure in der Politik Verursacher von Störungen sind, mit denen sie ihre Mitbürger belästigen, wofür sie prinzipiell auch die Ver-

Einsichtsfähigkeit durch Bildung und Erfahrung

61

antwortung für ihr Handeln tragen sollten. Sie wären gehalten, für die Folgen ihres Handelns für die Gemeinschaft einzustehen, indem sie diese von ihnen herbeigeführten Belästigungen beseitigen oder doch wenigstens neutralisieren. Und natürlich die Kosten auch dafür zu tragen. Gar nicht zu denken an die Frage, wer bei der Nutzung von Ermessensspielräumen durch die Entscheidungs- und die Einflussträger in der Politik, deren Zahl Legion ist, konkret einsteht, wenn diese sich als Fehlentscheidungen bzw. sich als Fehlverhalten herausstellen. Greift hier auch der Euckensche Grundsatz der Haftung (Eucken 1968, S. 279 ff.)? Allerdings „kann beim jetzigen Stand des wirtschaftspolitischen Wissens [...] wegen der Unvorhersehbarkeit künftiger Ereignisse nicht auf Ermessensspielräume verzichtet werden" (,Schlösser 2009, S. 36). Wie kommen wir weiter?

2.

„Ermessensspielräume" ausloten!

„Fallweise Eingriffe erfordern wegen der mit ihnen verbundenen Nachteile und Risiken sorgfaltige Abwägung und - wo es möglich ist - sollten ihnen Regelbindungen vorgezogen werden" (Schlösser 2009, S. 36). Regelbindung bedeutet, innerhalb konzeptionell gestalteter Wirtschaftspolitik, beispielsweise „die Finanzpolitik in stärker automatisierter Form zu betreiben, [...] das zur Folge hätte, dass Gegensteuerungsmaßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, wenn bestimmte Indikatoren eine Situation signalisieren, die aus der Sicht der Legislative, die der Regelbindung Gesetzescharakter gab, ein Handeln erforderlich macht." (Zimmermann und Henke 2009, S. 355). Allein die Fehlsteuerung und die daraus erwachsenden irreparablen zerstörerischen Wirkungen, die der „Computerhandel" an den Aktienbörsen bereits angerichtet hat und vermutlich weiter anrichten wird, gebieten es, energisch darauf hinzuwirken, verantwortungsbewusste Politik, insbesondere Finanz- und Währungspolitik, weniger an Regeln zu orientieren oder gar „auf Sicht zu fahren", wie es in der weltweiten Banken- und Finanzkrise seit dem Jahre 2008 wiederholt, besonders aus Berlin, zu vernehmen ist. Zudem kann man sich häufig gar nicht einmal sicher sein, ob sich die gerade erkennbare unerwünschte Entwicklung fortsetzt oder schon verlangsamt (Entwicklungstendenz), ja vielleicht bereits Gegenkräfte wirken, gar Gegenbewegungen schon erkennbar sind, die nach sorgfältiger Analyse kein „Eingreifen" mehr geboten erscheinen lassen. Ist doch die wirtschaftspolitische Zielsetzung neben der Lage und der Kenntnis der Entwicklungstendenz sowie den Mitteln bzw. Instrumenten eines der konstitutiven Elemente rationalen wirtschaftspolitischen Handelns. Es geht darum, den Abstand zwischen augenblicklich kritischer Lage und erwünschter Zielvorstellung zu schließen. Das bedingt, zunächst die Lage sorgfältig zu analysieren und sich sowohl der LageMittel-Beziehung als auch der Mittel-Ziel-Beziehung zu vergewissern, ehe Entscheidungen gefallt werden.

62

Bodo Gemper

Abbildung 1: Konstitutive Elemente eines wirtschaftspolitischen Problems Signifikante Diskrepanz zwischen Lage und Zielvorstellung

J

}

Lage ^

t t

Entwicklungstendenz ^

°

Lage-Mittel-Beziehung

Mittel (Instmmente)

tt

Abstand zwischen Lage und Zielvorslellung

deutlich

Zielsetzung (Ziel(-e)

Mittel-Ziel-Beziehung

verkürzen

t t

Quelle: eigenes Schema.

Daraus folgt, dass durch „sorgfältige Abwägung" {Schlösser 2009, S. 34) vermittels bedächtigen Nachdenkens über ein Für und Wider Orientierung zu suchen ist, ja, vielleicht sogar sich der Intuition anzuvertrauen, die die Entscheidung verantwortungsbewusster macht, als sich vorschnell formal auf „Regeln" zu verlassen oder sich gar in Aktionismus zu flüchten. Setzte doch auch Erhard „stets die wirtschaftliche Vernunft und den gesunden Menschenverstand obenan" (Erhard 1962, S. 127), weil man das „einem gesunden Menschenverstand entspringende Gefühl nicht gering schätzen sollte" (Erhard 1962, S. 276).

3.

„Richtkraft sichern"!

Gut unterrichtet auf eine sorgfaltig vorbereitete Orientierung zu setzen, ist deshalb eine conditio sine qua non, weil „künftige Ereignisse" im Sinne Schlössers (2009, S. 36) wirklich nicht vorhersehbar sind, es aber dennoch geboten erscheint, sich über Kommendes Gedanken zu machen. Ein Beispiel liefert Walther Rathenau (1918), als er in diese Richtung denkend uns an seinem vorausschauenden Denken, in seinem Buch „Von kommenden Dingen" zusammengefasst, teilhaben lässt. Rathenau legt sogar Zeugnis davon ab, was eine umfassend gebildete Unternehmerpersönlichkeit mit Neigung zur Politik zu erkennen vermag, wenn sie die Fähigkeit besitzt, „Ermessenspielräume" (Schlösser 2009, S. 36) zu erkennen, diese auszuloten und daraus praktisch relevante Schlüsse zu ziehen-privatwirtschaftliche ebenso wie politische. Nicht nur in der Politik sollten Vorstellungen über die zu erwartende Entwicklung durch Horizontprognosen skizziert und im Wege von Plausibilitätstests diese am Horizont vermeintlich erkennbaren Signale auf ihren Sinn geprüft werden. Allerdings nicht nur reaktiv, indem man abwartet, was - zum Teil schon erkennbar - auf den Betrachter vermeintlich zukommen wird. Vielmehr gilt es, darüber nachzudenken, wohin der gewünschte Weg führten könnte, der uns beispielsweise aus der Banken- und Finanzkrise

Einsichtsfähigkeit durch Bildung und Erfahrung

63

in Deutschland und in Europa herausfuhren kann, mit dem Ziel, wieder zur Kunst, Stabilität im Wandel zu üben, in der Politik zurückzufinden. Aber selbst die wohlmeinendste Ermessensentscheidung bedarf vorgegebener Ziele und zu deren Verfolgung im Rahmen diskretionärer Politik robuster „politischer Richtkraft" (Rathenau 1918, S. 317). Diese Einsicht Rathenaus, seit dem Ersten Weltkrieg bekannt, wurde leider erst nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nur von Ludwig Erhard konsequent befolgt, als er in seiner Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung" schon vor der zu erwartenden Niederlage der Deutschen Wehrmacht bereits im März 1944 mit der „Zielsetzung" darüber nachdachte, „Möglichkeiten des Um- und Aufbaues der deutschen Wirtschaft aufzuzeigen" (Erhard 1944, Vorwort), mithin sich bemühte, konsequent voraus zu denken. Denn was Erhard „im Innersten bewegte, war mehr als nur der vielleicht ehrgeizige Versuch, in einer wissenschaftlich angelegten Analyse mit nüchternen Worten einen Zustand mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen zu beschreiben, sondern [...] [dass er] damit die Absicht [verfolgte] über den Tag hinaus im Hinblick auf die sich fast naturgesetzlich ihrem Ende zuneigende geschichtliche Tragödie unseres Volkes und des Reiches einige richtungweisende Grundsätze zu entwickeln" (Erhard 1944, S. VII, Hervorhebung von mir). Aber auch in der Weitsicht gilt es, „die lebenden und kommenden Generationen" zu ermahnen, „das Andenken an diesen wahrhaftigen und mutigen Kämpfer für Freiheit, Recht und Ordnung in Ehren [...] [zu] bewahren" (Erhard 1944, S. XIII, Hervorhebung von mir). Gemeint ist Carl Goerdeler, der hier für alle diejenigen steht, die nach dem „totalen Krieg" wieder auf einen zukünftigen Wiederaufbaus Deutschlands setzten, das heißt, die darauf hofften, aus einer „kriegsverpflichteten Wirtschaft" (Erhard 1944, S. 17) herauszufinden: Zunächst über „die Lockerung der kriegsbedingten Zwangsmaßnahmen" (Erhard 1944, S. 22) und dann vermittels der „Wiederherstellung einer geordneten freien Währung" (Erhard 1944, S. 22) zu versuchen, durch eine weitere „allmähliche Lockerung der wirtschaftlichen Fesseln die Kriegs- in die kommende Friedenswirtschaft" zu überfuhren (Erhard 1944, S. 44). Mit dem Blick voraus auf eine „sozialwirtschaftlich befriedigende Ordnung" (Erhard 1944, S. 57, 192).

4.

„Richtungssinn wieder herstellen"!

Erneut wird „die Wiederherstellung eines langfristig verlässlichen Richtungssinns [als] das beste Mittel, die neue Ängstlichkeit zu überwinden" empfohlen, um „wieder gestalterisch über die Zukunft zu sprechen" (von Weizsäcker 2012, S. 54). Wobei es um die längst überfallige Konzeption einer neuen „Ethik für Wirtschaft und Gesellschaft [geht], deren Fundament der effiziente Umgang mit Umwelt und Ressourcen ist" (von Weizsäcker 2012, S. 52) und die „ökologische Zweifel ernst" nimmt, indem „wir die Grenzen des Planeten Erde anerkennen und die Schonung unseres Lebensraumes zur Maxime erheben" (von Weizsäcker 2012, S. 54). Auch hier sind wir praktisch weiter hinter dem zurück, das Ludwig Erhard bereits in den frühen sechziger Jahren zum Gebot erhoben hatte: „Der Schutz der Bevölkerung vor Umweltschäden macht es notwendig, daß die Wirtschaft ihre soziale Verpflichtung bei der Entwicklung der Technik durch Maßnahmen zur Abwehr von Schäden für die Menschen erkennt und verwirklicht" (Erhard 1972, S. 171).

64

Bodo Gemper

Vergleichsweise optimistisch stellte Erhard seinerzeit fest: „Die bisher getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Gewässer, zur Reinhaltung der Luft und zur Bekämpfung des Lärms haben bereits einen großen Teil von dem aufgeholt, was in Jahrzehnten versäumt worden war" (Erhard 1972, S. 236). Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den politischen Freund Ludwig Erhards, Herbert Gruhl, der mit größtem Engagement die „Ermessensspielräume" untersucht hat, und der zu dem Ergebnis kam, dass längst „der Wirtschaftsprozeß auch zeitlich zu den Prozessen der Natur in krassem Missverhältnis" stand und der erkannte, dass es höchste Zeit sei, nachhaltigen Umweltschutz zum politischen Ziel zu erheben und mit Nachdruck zu verfolgen: „Angesichts der Dringlichkeit der Situation ist es notwendig, daß Volkswirtschaftler genauso wie Ökologen und erst recht Politiker das Risiko eingehen und die Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin durchbrechen - und die Kritik als eine Art sozialer Pflicht auf sich nehmen" (Gruhl 1975, S. 349). Mit seinem Buch, „Ein Planet wird geplündert: Die Schreckensbilanz unserer Politik" hat Gruhl in einer Zeit schon als Mahner fungiert, in der nur ganz wenige diesen Mut dazu erkennen ließen.

5.

Europäische Ordnungspolitik etablieren!

Was aber verleiht, um ein weiteres Beispiel zu wählen, der „Lissabon-Strategie", in der Hans Jürgen Schlösser eine der „aktuellen Herausforderungen" sieht, den Impetus, „die Gestaltung einer europäischen Ordnungspolitik" erfolgreich zu verwirklichen, da „dieses Projekt nur erfolgreich sein kann, wenn es nicht nur von den politischen Eliten, sondern von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger verstanden und getragen wird"? (Schlösser 2009, S. 55). Denn in der Tat ist „die Ordnungsfrage [...] mit der Frage nach dem Menschenbild aufs Engste verbunden" (Schlösser 2006, S. 113). War nicht der Erfolg Ludwig Erhards bei „der Bewahrung und Fortführung der marktwirtschaftlichen Politik" {Erhard 1962, S. 202), seiner „Politik der Sozialen Marktwirtschaft" (Erhard 1962, S. 292), nicht zuletzt darin begründet, dass Ludwig Erhard unverdrossen seine Politik in öffentlichen Ansprachen und Reden den Bundesbürgern bis ins Einzelne erklärte? Um die Bevölkerung von seinen Absichten mit „einer freien und sozial verpflichteten Marktwirtschaft" (Erhard 1962, S. 7) zu überzeugen und um sie zu bitten, Vertrauen in seine Politik zu setzen? „Dafür wurde das Wort,Seelenmassage' geprägt. Ich bekenne mich [...] zu der Überzeugung, daß solche Anstrengungen aus dem Instrumentarium der modernen Wirtschaftspolitik gar nicht wegzudenken sind, denn [...] [es] vollzieht sich das wirtschaftliche Geschehen nicht nach starren mechanischen Gesetzen im beziehungslosen Raum" (Erhard 1962, S. 12). Diesen Weg, den Erhard ganz konsequent verfolgte, bestätigen die Sozialökonomen Chris Harmse und Geert de Wet, weil für den Erfolg jeglicher Ordnungspolitik als Stabilisierungspolitik in einer freiheitlichen Ordnung gilt: "The government should adopt a more market-oriented approach in its policy decisions" (Harmse und de Wet 1994, S. 99), um eine schöpferische Atmosphäre zu schaffen, die einer anhaltenden Aufbruchstimmung Nahrung bietet, und die getragen wird von einer sozial-ökonomischen Gesellschaftsordnung, mit der sich die Bevölkerung mehr-

Einsichtsfähigkeit durch Bildung und Erfahrung

heitlich identifiziert: Diese Ordnung ist eine sozial verantwortlich Marktwirtschaft.

65

gehandhabte

freie

Aus der augenblicklichen Banken- und Finanzkrise mit Aussicht auf Erfolg wieder herauszufinden, wird entscheidend auch davon abhängen, ob und wie es gelingt - unter Führung der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland - die kritische Phase dieser Krise mit Haltung durchzustehen, die in der richtigen Antwort auf folgende Fragen besteht: "The big questions are whether the government has the capacity and ability to carry through its own rôle of building infra structural, institutional and human development processes and whether it will have the political support to persist with this programme, unyieldingly and uncompromisingly for several years" (de Wet, Harmse und Blignaut 1997, S. 382). Das gilt fur die europäische Stabilisierungspolitik pari passu. Vermag doch einzig rigorose Konsequenz den dazu unabdingbaren radikalen Kurswechsel von der Beliebigkeit wieder zur unbedingten nachhaltigen Orientierung herbeizufuhren. Es ist das klare Bekenntnis zur freiheitlichen Lebensweise und zu der mit ihr kompatiblen „Wirtschaftsordnung, in der Anbieter und Nachfrager sich frei treffen können und der Staat sich auf das Setzen von Rahmenbedingungen beschränkt, [mithin also, B.G.] der Marktmechanismus [freiheitliche oder marktwirtschaftliche Ordnung] [...] die Abstimmung von Millionen Einzelplänen in Haushalten und Unternehmen übernimmt" ( Woll 1992, S. 47). Einzig diese klare glaubwürdige wirtschaftspolitische Position bewahrt uns vor neuem Dirigismus und/oder einem Rückfall in Protektionismus. Diese entschiedene (uncompromising) und unbeugsame, unnachgiebige (unyielding) Haltung ließ Ludwig Erhard auch auf europäischem Parkett erkennen. Mit eindeutigen Sätzen parierte Ludwig Erhard die Versuche seiner ordnungspolitischen Gegner. Waren es die Angriffe von Professor Erich Nölting zu Beginn der fünfziger Jahre in Westdeutschland, so waren es die oberlehrerhaften Versuche Professor Walter Hallsteins zu Beginn der sechziger Jahre im Europäischen Parlament, Erhard von seinem konsequenten Kurs der Sozialen Marktwirtschaft abzulenken. In einer intellektuell auf hohem Niveau heftig ausgetragenen ordnungspolitischen Kontroverse um die für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) angemessene Wirtschaftspolitik standen sich der Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, und der Bundesminister für Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Erhard, im Europäischen Parlament gegenüber. Während Hallstein sich als Befürworter einer „Gemeinschaftspolitik", der „Programmierung" zugunsten einer in Frankreich geübten „Planification française" auch für die Politik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, mithin für mehr staatliche Ermessensspielräume auch in der europäischen Wirtschafts- und Strukturpolitik stark machte, hielt Ludwig Erhard diese interventionistische Politik für verfehlt. Versuchte Hallstein geradezu rabulistisch, Erhard mit einem Zitat aus Walter Euckem „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" (Hallstein 1962, S. 81 f.) in die Defensive zu drängen, behauptete Ludwig Erhard seine ordnungspolitisch eindeutige Haltung unnachgiebig. In sehr elegantem, stilvollem geistigem Florett setzte Ludwig Erhard Walter Hall-

66

Bodo Gemper

stein mit wenigen gekonnt geführten Hieben matt, indem Erhard die unüberhörbaren „zentralistischen Zwischentöne" Hallsteins aufgriff, um die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und damit auch die Europäische Kommission davor zu bewahren, in eine Planwirtschaft nach französischem Vorbild zu verfallen. Erhard gab vor dem Europaparlament unzweideutig zu verstehen, dass er sich „gerade in den wirtschaftspolitischen Fragen besonders stark angesprochen fühle, denn ich habe ja schließlich ein Programm zu vertreten - das Programm nämlich, mit dem wir Deutschland aus Schutt und Asche aufgebaut haben. Ich bin gewiß nicht mit mittel- und langfristigen Programmen an diese Aufgabe herangetreten, sondern ich habe in der Konstituierung einer freien Ökonomie über das Instrument freier Preisbildung und besonders über die Belebung des Wettbewerbs alle Kräfte entfesselt und auf diese Weise Sorge getragen, daß sich die Wirtschaft den jeweiligen Gegebenheiten so schnell wie möglich anpassen konnte" (Erhard 1962a, S. 62). „Was wir brauchen", so fuhr Erhard etwas später fort, „ist meiner Ansicht nach nicht ein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm" {Erhard 1962a, S. 63). Damit rundet sich auch das Bild des zu ehrenden Herrn Kollegen Schlösser elegant ab, von dem ich sagen darf: Hans Jürgen Schlösser ist kein Nur-Ökonom. Er erfüllt die Kriterien, die Wilhelm Röpke und Friedrich von Hayek an einen „Nationalökonomen" im Allgemeinen, und an einen „guten Nationalökonomen" im Besonderen anlegen, die eingangs als Motto diesem Beitrag vorangestellt sind. Hans Jürgen Schlösser ist eine umfassend gebildete Persönlichkeit, die als Sozialwissenschaftler auf einem klassischen „Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften" seinem Inhaber alle Ehre bereitete, quod erat demonstrandum.

6. Epilog „Die analytische Nützlichkeit einer Fiktion für den Sozialwissenschaftler läßt sich mit der Komplexität seines Forschungsgebietes begründen" (Schlösser 1992, S. 39).

Literatur Erhard, Ludwig (1944), „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung." Faksimiledruck der Denkschrift von 1943/44 mit einem Geleitwort von Bundeskanzler Helmut Kohl (1997), Berlin. Erhard, Ludwig (1962), Deutsche Wirtschaftspolitik: Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf u.a. Erhard, Ludwig (1962a), Europäisches Parlament, Verhandlungen, ausführliche Sitzungsberichte, 11/63, Ausgabe in deutscher Sprache, Nr. 59, S. 58-64. Erhard, Ludwig (1972), Bundestagsreden, Bonn. Eucken, Walter (1968), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 4. Auflage, Tübingen - Zürich. Wet, Geert L. de, Chris Harmse und James N. Blignaut (1997), Economic Systems Approach Applied to South Africa, in: Tom Yanagiharaand und Susumu Sambommatsu (Hg.), East Asian Development Experience: Economic System Approach and Its Applicability, Tokyo, S. 365-386.

Einsichtsfähigkeit durch Bildung und Erfahrung

67

Gruhl, Herbert (1975), Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt am Main. Harmse, Chris und Geert L. de Wet (1994), Conditions for Economic Growth and Development in South Africa Through Outward Orientation, in: South African Journal of Economic and Management Sciences, Vol. 13, S. 87-101. Hallstein, Walter (1962), Europäisches Parlament, Verhandlungen, ausführliche Sitzungsberichte, 11/63, Ausgabe in deutscher Sprache, Nr. 59, S. 74-82. Hayek, Friedrich A. von (1963), Wirtschaft und Politik, Freiburg im Breisgau. Rathenau, Walther ( 1918), Von kommenden Dingen, Berlin. Röpke, Wilhelm (1958), Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach u.a. Schlösser, Hans Jürgen (1992), Das Menschenbild in der Ökonomie: Die Problematik von Menschenbildern in den Sozialwissenschaften, dargestellt am Beispiel des homo oeconomicus in der Konsumtheorie, Köln. Schlösser, Hans Jürgen (2006), Ausgewählte Menschenbilder der Wirtschaftswissenschaft, in: Heinrich Schmidinger und Clemens Sedmak (Hg.), Der Mensch - ein „zoon politikón". Gemeinschaft - Öffentlichkeit - Macht, Darmstadt, S. 113-126. Schlösser, Hans Jürgen (2009), Durchführung der Wirtschaftspolitik, in: Hans Jürgen Schlösser, Staat und Wirtschaft. Informationen zur politischen Bildung, Heft 294, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 34-38. Weizsäcker, Ernst Ulrich von (2012), Der Zukunft einen Sinn geben, in: Perspektivwechsel: Ein Heft über Zukunft, in: Evonik-Magazin, Heft 1/2012, S. 52-55. Woll, Artur (1992), Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, München. Zimmermann, Horst und Klaus-Dirk Henke (2009), Finanzwissenschaft: Eine Einführung in die Lehre von der öffentlichen Finanzwirtschaft, 10. Auflage, München.

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

Inhalt 1.

Problemstellung

70

2.

Stand der Forschung

71

2.1. Schulbuchforschung

71

2.2. Schulbuchforschung zum Themenschwerpunkt Ökonomie

73

Analyserahmen

75

3.1. Inhaltliche Ebene

75

3.2. Ebene der Vermittlung

77

3.

4.

5.

3.3. Bewertungsrahmen

78

3.4. Auswahl der Schulbücher

78

Ergebnisse

78

4.1. Ergebnisse zu den Schulbüchern der Sekundarstufe 1

79

4.2. Ergebnisse zu den Schulbüchern der Sekundarstufe II

81

Fazit

83

Literatur

84

70

1.

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

Problemstellung

Nach aktuellen Umfragen ist die Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung gering. Aber ist die vielfach diskutierte Sinnkrise der Sozialen Marktwirtschaft ein Produkt des Zeitgeistes, oder ist doch eher ein weit verbreiteterer Mangel an Verständnis über ökonomische Zusammenhänge die Ursache? Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind bedenklich, wenn nicht sogar alarmierend. Wenn nur noch 38 Prozent aller Bundesbürger über ihre Wirtschaftsordnung eine gute Meinung haben 1 , dann scheint die Soziale Marktwirtschaft in einer tiefen Sinnkrise zu stecken (Goldschmidt 2008). Sind vielleicht die „gierigen" Manager, die „rücksichtslosen" Hedge Fonds, die „Wirtschaftskrise an sich" oder aber eine „Banken rettende" Bundespolitik Anlass dafür, dass die Deutschen ihr Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft verlieren. Die Palette möglicher Gründe aus den Studien der Umfrage- und Meinungsforschungsinstitute ist bunt und vielfältig. Wenn allerdings auch in prosperierenden Zeiten die Sinnkrise nicht signifikant zurückgeht, dann ist doch zu fragen, inwieweit kognitive Dimensionen eine wesentlich wichtigere Rolle in dieser Sinnkrise spielen. Geht es nur um Dimensionen der Umfrageund Meinungsforschung, die versuchen die öffentliche Meinung abzubilden und zu beschreiben (siehe die Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach oder des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung Mannheim). Oder ist zu fragen, welche Einflussfaktoren die Sinnkrise der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland bestimmen? Erste Hinweise auf Einflussfaktoren liefern die empirisch-psychologischen Methoden, die Kaminski et al. (2007) in ihrer Studie über die Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft eingesetzt haben. Sie konnten u.a. mit Hilfe ihrer Korrelationsstudien zeigen, dass die Einstellung der Befragten gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft umso positiver ist, je mehr sie über ökonomische Zusammenhänge wissen 2 . Starke Korrelationen treten bei Befragten auf, die eine sehr positive Einstellung zur Demokratie aufweisen, patriotisch und stolz auf Gemeinschaftsgüter sind oder die ein hohes Vertrauen in den Staat und seine Leistungsfähigkeit haben. Die im Anschluss an diese Studie durchgeführten Experimente belegen, dass ökonomisches Wissen und ein höheres Interesse kurz- und langfristig die Einstellungen zur Sozialen Marktwirtschaft positiv beeinflussen können. So wurde ein Design entwickelt, in dem die Probanden in Crashkursen Informationen über verschiedene Wirtschaftssysteme erhielten. Diese führten zu signifikant positiven Einstellungsveränderungen. Auch die parallel durchgeführten Tiefeninterviews geben Hinweise auf das mögliche Grundproblem der Sozialen Marktwirtschaft: Beruht die vielfach diskutierte Sinnkrise der Sozialen Marktwirtschaft auf einer Vermittlungskrisel

1 2

Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2010). Ähnliche Daten sind bspw. auch beim Bundesverband deutscher Banken (2005) und (2009) zu finden. Auf die Angabe der Werte wurde verzichtet, da in der Studie keine Signifikanzniveaus publiziert wurden.

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen 71

Im Nachfolgenden werden zwölf Schulbücher aus Nordrhein-Westfalen einer Schulbuchanalyse mit dem Fokus „Soziale Marktwirtschaft" unterzogen.

2.

Stand der Forschung

2.1. Schulbuchforschung „Eine ausformulierte Theorie und Methodik der Schulbuchanalyse und Schulbuchkritik fehlt bisher ebenso wie eine Theorie des Schulbuchs" (Scholle 1997, S. 369). Kürzer und prägnanter lässt sich ein Forschungsdesiderat wohl kaum zusammenfassen und dies bei einem Medium, das wie kein anderes den Unterrichtsgang bestimmt. Die Gründe mögen vielleicht darin liegen, dass die „Entdeckung des Mediums als eigenes Strukturmerkmal" (Hacker 1980, S. 7) erst durch Paul Heimarm so richtig erfolgte. Dabei sind Schulbücher in der Schule omnipräsent und erfüllen nach Hacker (1980, S. 14 ff.) folgende Lehrfunktionen, die kurz vorgestellt werden sollen, da sie in die Analyse Eingang finden: (1) Strukturierungsfunktion Schulbücher sind „zum Leben erweckte Lehrpläne". Der Aufbau des Schulbuchs gliedert die in den Lehrplänen vorgegebenen Inhalte und strukturiert sie sinnvoll. Zudem unterstützt das Schulbuch die tägliche, vor allem aber die langfristige Unterrichtsplanung des Lehrers und wird deshalb von Zinnecker (1975) auch der „heimliche Lehrplan" genannt. Diese Makroplanung, vorgenommen durch das Schulbuch, versucht grundlegende Strukturen, Interpretationsmuster zum Verstehen eines Fachs zu liefern. (2) Repräsentationsfunktion Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Instruktion erscheint es wesentlich, wie die Gegenstände im Unterricht vergegenwärtigt werden. Hacker unterscheidet drei Repräsentationsformen: die realitätsnahe sprachliche und bildliche Repräsentation (z.B. Originalquellen), die sprachlich vermittelte Repräsentation der Wirklichkeit sowie die didaktisierte Repräsentation, die besonders kritisch zu hinterfragen ist. (3) Steuerungsfunktion Unterrichtsplanung beginnt mit verschiedenen Überlegungen über die Abfolge, dem Festlegen von Einzelschritten und dem Planen von Impulsen, Fragen, Aufforderungen, Arbeitsanweisungen bis hin zu Interventionen, die den Fortgang des Geschehens gewährleisten. (4) Motivierungsfunktion Hacker (1980, S. 22 f.) unterscheidet zwischen der Sekundär-Motivierung (wie ist das Schulbuch gestaltet?) und der Primär-Motivierung (ist das Schulbuch in der Lage, die Schüler zum Lernen zu motivieren?). (5) Differenzierungsfunktion Unter stärkerer Bezugnahme auf Diversity-Aspekte gewinnt die Individualisierung des Unterrichts an Bedeutung. Die unterschiedlichen Voraussetzungen bei Schülern

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Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürbnann

sollen auch im Schulbuch aufgegriffen werden und adäquat, orientiert an den unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Lerngewohnheiten, fortgeführt werden. Der differenzierte Unterricht erhöht den Planungsaufwand auf Seiten des Lehrers. Es gilt verschiedenen Lernprozessen auch im Schulbuch gerecht zu werden und hierfür Unterrichtsmaterialien bereit zu stellen. So könnten Schulbücher an dieser Stelle entlastend wirken und die Differenzierungsfunktion ausgestalten. Als Gestaltungsprinzip ist dies jedoch eher selten vorzufinden. Häufiger werden die Texte im Buch mit differenzierten Aufgabenstellungen und Bearbeitungshinweisen versehen, oder Schulbuchtexte und weitere Materialien werden als Differenzierung eingesetzt. In diesem Fall differenziert das Schulbuch nicht, aber der Lehrer ergreift eine differenzierende Maßnahme. (6) Übungs- und Kontrollfunktion Die Lernstufen nach Roth (1971, S. 222 ff.) sehen als wesentlichen Bestandteil des Lernprozesses die Phase des Einübens. Einüben fördert das Behalten und ist somit maßgeblich für die als Lernen definierte Erweiterung von Handlungskompetenzen. Dörner (1976) sieht in ähnlichen Aufgaben die Chance, die vorher erarbeiteten Lösungsschritte nochmals nachzuvollziehen und zu trainieren. Allerdings sollten die Aufgaben in elaborierter Form die Inhalte wiederholen. Unter dem Fokus einer Schulbuchanalyse bieten sich verschiedene Zugänge an: historisch, inhaltsbezogen und didaktisch. 3 Historische Schulbuchanalysen sind zumeist Längs- oder Querschnittsuntersuchungen, die sich deskriptiver analytischer Verfahren bedienen und einer fachwissenschaftlichen Orientierung zuzuordnen sind. Die inhaltsbezogene Schulbuchanalyse findet z.T. quantitativ statt, dazu zählen z.B. das Auszählen der Darstellungsanteile eines Themas oder Gegenstandes (Raumanalyse). Auch finden Verfahren der empirischen Inhaltsanalyse Anwendung und versuchen quantitative Aussagen über die Beschaffenheit der Schulbücher zu geben. Die didaktische Analyse unterscheidet sich vom fachlich-inhaltsbezogenen Blickwinkel durch die Hervorhebung der Lernprozesse und vom textanalytischen Vorgehen durch die „Betonung des Funktionszusammenhanges von Lehrabsicht, Methode, Unterrichtsmedium und Schülerverhalten" (Rohlfes 1983, S. 540). Ziel einer Schulbuchanalyse ist die didaktische Reflexion, um dem Schulbuch ein angemessenes Urteil zukommen lassen zu können. Die didaktische Reflexion ist als das integrative Element zwischen allen auf Einzelaspekte gerichteten Schulbuchuntersuchungen zu sehen (Scholle 1997, S. 371). Im Rahmen der hier stattfindenden Analyse werden zum einen die inhaltliche Ebene der Interpretation und Darstellung aus einer Perspektive, in der fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte integriert sind, und zum anderen die Ebene der Vermittlung, wobei als Bezugspunkt die Vermittlungssituation (Unterricht) im Vordergrund steht, analysiert. Genau im Schnittpunkt der beiden Ebenen steht der Schüler. Dieses Dreiecksverhältnis von Inhalt, Adressat und Vermittlungssituation in seinem wechsel-

3

Im Folgenden siehe Scholle (1997), S. 370 f.

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen

73

seitigen Beziehungs- und Bedingungsgefuge muss im Blick gehalten werden, will man dem Medium gerecht werden (Scholle 1997, S. 371).

2.2. Schulbuchforschung zum Themenschwerpunkt Ökonomie Strukturiert nach den oben genannten drei Kategorien historisch, inhaltlich und didaktisch soll nun das Forschungsfeld Schulbuchforschung innerhalb der Domäne Ökonomie überblicksartig dargestellt werden. In die historisch-inhaltliche Kategorie ist die Schulbuchstudie „Arbeit, Wirtschaft und Technik in Schulbüchern der Sekundarstufe I" einzuordnen, die neben einer inhaltlichen Ausrichtung auch Anteile von historischen Aspekten untersucht. Ziel dieser vom B M B F angelegten Studie ist die qualitative und quantitative Darstellung der Themenfelder Wirtschaft, Technik und Beruf in Schulbüchern der Fächer Deutsch, Englisch, Geschichte und Geographie. Neben den historischen Aspekten, die sich vor allem auf die Entwicklung verschiedener Darstellungen von ökonomischen Themen in den letzten Jahren in Schulbüchern beziehen, umfasst diese Studie eine qualitative und quantitative inhaltliche Analyse verschiedener Teildisziplinen der oben genannten Themenfelder (Bönkost und Oberliesen 2011). Zu den rein inhaltlich ausgerichteten Studien gehören die Studien „Darstellung von Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz" sowie „Marktwirtschaft in Schulbüchern". Die erste Studie wurde vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut in Kooperation mit der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt erhoben. Im Auftrag für die Freiheit bezieht sich die des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung Analyse auf fachspezifische inhaltliche Aspekte. Insgesamt schneiden die schweizerischen Schulbücher in Geographie/Erdkunde und Geschichte besser ab als die deutschen Schulbücher, besonders in Bezug auf fehlerhafte Darstellungen. Inhaltlich bemängelt werden die Qualität der Darstellung, fehlerhafte Aussagen bzw. Darstellungen und inhaltliche Lücken im wirtschaftlichen Bereich (Lenz 2010, S. 60 ff.). Bei der zweiten Studie handelt es sich um ein liberales Positionspapier der Friedrich Naumann Stiftung, das sich mit der Thematik „Marktwirtschaft in Schulbüchern" befasst und von Gary Merret (2008) verfasst wurde. Besonderes Augenmerk wird hier auf linkspolitische und anti-kapitalistische Inhalte in Bezug auf ökonomische Themenbereiche im Zuge der Globalisierung und Märkte gelegt. Die Mehrheit der acht untersuchten Schulbücher aus dem Mittel- und Oberstufenbereich bezieht linkspolitische Positionen. Besonders im Vordergrund stehen dabei Themen wie Markt, Kinderarbeit, Wirtschaftswachstum sowie Arbeitslosigkeit und Marktversagen. Die Studie sieht in diesem Punkt der Darstellung von wirtschaftlichen Themen in Schulbüchern einen großen Handlungsbedarf {Merret 2008, S. 5 ff.). Keine der dargestellten Studien bezieht eine vermittelnde Darstellung mit in ihre Untersuchungen ein. Im Vordergrund stehen quantitative und qualitative Merkmale der inhaltlichen Kategorie. Didaktische Aspekte werden bei diesen Analysen stark vernachlässigt.

74

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

Nur zwei Studien können als didaktisch angelegte Studien klassifiziert werden, da sie Kriterien aus diesem Bereich zumindest rudimentär aufgreifen und hierdurch den inhaltlichen Schwerpunkt der Analyse ergänzen. Im Auftrag der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft" wurde vom Georg-EckertInstitut für internationale Schulbuchforschung eine Vergleichsstudie zum Themenschwerpunkt Unternehmer und Staat in europäischen Schulbüchern Deutschland, England und Schweden durchgeführt. Als Bewertungsgrundlage dient eine generelle Fragestellung zur Vermittlung der Ziele der ökonomischen Bildung und deren Aufgaben: — Bild des Unternehmers und des Staates; — Wertevermittlung und Rolle des Schulbuchs in Bezug auf die Erziehung von Kindern und Jugendlichen bezogen auf die ökonomische Bildung, besonders vor dem Hintergrund des mündigen Bürgers bzw. Wirtschaftsbürgers; — laut welcher Basis die Schulbücher der drei zu vergleichenden Länder ihre Wertvorstellung beziehen (Grindel und Lässig 2007, S. 5 f.). Die Analyse zielt dabei sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Schwerpunkte hinsichtlich der thematischen Schwerpunktsetzung „Unternehmer und Staat". Daneben wird die didaktische Darstellung der Themenbereiche festgehalten. Ergebnis der Analyse ist, dass die Schulbücher in England, Schweden und Deutschland ein positives Staatsbild vermitteln mit unterschiedlichen Ansätzen zur Ansicht des Staates in Bezug auf die Fürsorgepflicht des Staates. Weiter ergab die Analyse der deutschen Schulbücher, dass diese einen Schwerpunkt beim Erwerb von analytischen und problemorientierten Kompetenzen haben. Abschließend stellt die Studie heraus, dass besonders die deutschen Schulbücher anspruchsvoll bezogen auf ökonomische Bildung gestaltet sind {Grindel und Lässig 2007, S. 88 ff.). Eine letzte Studie im Forschungsfeld der Schulbuchanalyse vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln bezieht sich auf Schulbücher aus Nordrhein-Westfalen und deren Untersuchung in Bezug auf Unternehmer und Soziale Marktwirtschaft im Schulbuch. Die Studie eruiert Schulbücher verschiedener Unterrichtsfächer aus den Bereichen: Arbeitslehre, Erdkunde, Geschichte, Gesellschaftslehre, Politik, Sozialwissenschaften und Technik und wurde im Auftrag der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen e.V. erstellt. Diese Studie befasst sich in einem ersten Schritt mit einer Analyse der Lehrpläne der unterschiedlichen Schulformen in NordrheinWestfalen, bezogen auf wirtschaftliche Inhaltsfelder und auf die Rolle der Unternehmer sowie die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Die Analyse ergibt, dass alle untersuchten Lehrpläne nicht hinreichend in die Themen einführen können, da teilweise elementare Funktionen, Begriffe und Sachzusammenhänge nicht genannt werden, obwohl diese für das Verständnis und die damit verbundene Vermittlung von wirtschaftlichen Themengebieten relevant wären. In einem zweiten Untersuchungsbereich wurden insgesamt 43 Schulbücher in Bezug auf die o.g. Themen Unternehmen und Soziale Marktwirtschaft untersucht. Als Befund stellt sich heraus, dass wirtschaftliche Thematiken nicht ausreichend in den untersuchten Schulbüchern behandelt werden. Auch die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wird nur formal dargestellt, wobei elementare Bestandteile, die zum Verständnis der Gesamtkonzeption und deren Wirkungszusam-

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen

75

menhang beitragen, fehlen. Besonders die Themen „Finanzen" und „Geld" werden in den meisten Schulbüchern völlig vernachlässigt (Klein und Schare 2010, S. 4 ff.).

3.

Analyserahmen 4

Gegenstand der Untersuchung ist die Darstellung und Vermittlung des Konstrukts der Sozialen Marktwirtschaft in Schulbüchern. Innerhalb dieses Themenkomplexes interessiert das Schulbuch als Unterrichtsmedium mit der Akzentuierung fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer wie auch erziehungswissenschaftlicher Aspekte. In der Typologie und Systematik orientiert sich die Arbeit an der produktorientierten Schulbuchforschung nach Weinbrenner (1986, S. 322 ff.). Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Merkmale müssen auf einer Inhaltsebene analysiert werden und themenspezifischen Ansprüchen genügen. Dem didaktisch-reflektierenden Analyseansatz folgend, werden die Schulbücher in dieser Arbeit zunächst fachwissenschaftlich auf der Inhaltsebene daraufhin geprüft, ob konstitutive Bestandteile einer wissenschaftlichen Zielvorstellung der Sozialen Marktwirtschaft thematisiert werden. Entsprechend dem inhaltlichen Aufbau vieler Schulbücher wird diese Analyse in den drei Bereichen „Grundrechte", „Markt" und „Sozialordnung" durchgeführt. Die zusammenhängende und strukturierte Vermittlung der Thematik durch das Schulbuch als Primärmedium in einer Unterrichtssituation steht daher im Zentrum dieser didaktischen Reflexion. Nur so erscheint es uns möglich, die eingangs aufgeworfene Frage „Steckt die Soziale Marktwirtschaft in einer Vermittlungskrise" beantworten zu können.

3.1. Inhaltliche Ebene Die inhaltlich zentrale Frage lautet: „Was sollen Schüler im Unterricht über Soziale Marktwirtschaft lernen?" Die wissenschaftliche Zielvorstellung 5 der Väter der Wirtschaftsordnung besteht vornehmlich darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" (Müller-Armack 1966). Weil die individuellen Bedürfnisse der Menschen so unterschiedlich sind wie die Menschen selbst, müssen die Individuen deshalb auf ihre gegebene Ausstattung an Ressourcen (neben Gütern auch Arbeit, Kapital und Boden) zurückgreifen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Verfügbare Ressourcen reichen zumeist nicht aus, um alle Bedürfnisse aller Menschen in gleicher Weise zu befriedigen. Folglich herrscht Konkurrenz um die Verwendung der gegebenen Ressourcen, es entstehen Opportunitätskosten und das Problem der Allokation. Um das Allokationsproblem zu lösen, so der Grundgedanke der Marktwirtschaft, sollen die Entscheidungen dezentral, also auf Märkten, koordiniert werden (Schlösser und Schuhen 2011). „Die ,soziale Frage' findet ihre erste und entscheidende Antwort in der Wettbewerbsordnung - also nicht gegen oder für den Markt, sondern mit dem Markt" (Goldschmidt und Wohlgemuth 2007, S. 6; auch Müller-Armack 1966, S. 245 f.). Dieser Wettbewerbsgedanke ist zentral für das Funktionieren der Marktwirtschaft

4

5

Eine ausführliche Fassung der Studie finden Sie bei Hofmann, Schuhen und Schürkmann (2011). Siehe hierzu Goldschmidt und Wohlgemuth (2007), Dickertmann und Fiel (2002), Schlösser (2009).

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Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

und den Wohlstand einer Volkswirtschaft. Unter längerfristiger und dynamischer Perspektive fuhrt der Preiswettbewerb auf Märkten zu technisch-organisatorischem Fortschritt, zum einen in Form von Prozessinnovationen und zum anderen in Form von Produktinnovationen (Müller-Armack 1966, S. 247 f.). Die Informations- und Koordinationsaufgabe des Marktes kann allerdings nur funktionieren, wenn es private Eigentumsrechte gibt, die durch Gesetze und eine funktionierende Judikative gesichert werden (individuelle Dispositionsfreiheiten samt Handelsund Gewerbefreiheit sowie Vertragsfreiheit). Zentrale Antriebsfeder für jegliche Aktivität der Wirtschaftssubjekte ist das Eigennutzstreben. Dies führt sowohl auf Anbieterwie auch auf Nachfragerseite zu einem nutzenmaximierenden und somit ressourcenschonenden Umgang. Der versprochene „Wohlstand für alle" (Erhard) ist ein Resultat des strikten Handelns auf einzelwirtschaftlicher Ebene nach dem ökonomischen Prinzip und dem Streben der privaten Haushalte, ihre eigene wirtschaftliche und soziale Existenz zu sichern. Sind die privaten Haushalte nicht in der Lage, selbst ihre Existenz zu sichern, sieht die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft eine staatliche Umverteilung vor. Begründet wird diese durch das Schutzmotiv des Staates und der daraus abgeleiteten Aufgabe der Sicherung des sozialen Friedens. Darüber hinaus sieht das Sozialstaatsgebot eine ergänzende Umverteilung für die soziale Absicherung vor und findet ihren Ausdruck in den sozialen Grundwerten und in einer umverteilungsorientierten Gestaltung des Abgabensystems. Auftretende Wirkungsmängel, z. B. aufgrund begrenzter Informationen, können zu unwirtschaftlichen Marktergebnissen (Marktversagen) führen, die staatlicherseits ordnungs- und prozesspolitisch korrigiert werden müssen. Diese Korrekturfunktion übernimmt zum einen z. B. das Wettbewerbsrecht. Zum anderen können Mängel in der Güterversorgung auftreten, wie bspw. im Fall öffentlicher Güter. Auch hier kann eine dezentrale Koordinierung aufgrund der Trittbrettfahrer-Möglichkeit suboptimal sein. Ähnlich verhält es sich im Fall externer Effekte. Wenn Angehörige künftiger Generationen noch keine Chance haben, ihre Positionen zu vertreten, so ist der Staat aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen (z.B. im Bereich der Umwelt). Solchen Wirkungsmängeln muss der Staat durch die Gestaltung des institutionellen Rahmens und die Ausformung der Wirtschafts- und Sozialordnung einerseits wie auch durch Prozessteuerung auf Einnahmeseite (insbesondere Steuern) und Ausgabenseite (z.B. Transfers und Subventionen) andererseits entgegenwirken (Schlösser und Schuhen 2011). Somit sind die tragenden Säulen der Sozialen Marktwirtschaft - der konstitutive Rechtsstaat, die Eigenverantwortlichkeit der Bürger, das Leistungsprinzip und der Grundsatz der Subsidiarität - benannt (Goldschmidt und Wohlgemuth 2007, S. 7). Aus letzterem Grundsatz leitet sich das Solidaritätsprinzip für Aufgaben ab, die von einzelnen Bürgern nicht (mehr) wahrgenommen werden können. Für diese Personen sieht die Wirtschaftsordnung das Sozial- und Bedarfsprinzip vor. Soziale Marktwirtschaft ist also nicht nur die Summe seiner normativen Grundstrukturen und Funktionsweisen, sondern ist als Modell einer Wirtschaftsordnung in unterschiedlichste Lebensbereiche vielfältig und tiefgehend integriert.

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen 77

Fachwissenschaftliche

Perspektive

Auch wenn es aus rein fachwissenschaftlicher Perspektive wünschenswert ist, behandeln die wenigsten Schulbücher die Thematik der Sozialen Marktwirtschaft in einem derart komplexen Zusammenhang. Als Grundvoraussetzung für eine funktionierende Wirtschaftsordnung werden hier die Existenz und die Absicherung von unentbehrlichen Rechten und Pflichten gesehen. Der erste Bereich „Grundrechte" enthält Bausteine wie Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit, impliziert aber gleichzeitig die konstitutive Rechtsstaatlichkeit mit der Betonung des Individual-, Subsidiaritäts- und Leistungsprinzips. Der Bereich „Markt" umfasst die o.g. Koordinationsverfahren, Antriebskräfte und Zielvorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft. Gleichzeitig werden die möglichen Wirkungsmängel mit den entsprechenden Opportunitäten von Korrekturen thematisiert. Der dritte Bereich „Sozialordnung" wird schließlich durch die Eckpfeiler des Lebens in einer sozial abgesicherten Gesellschaft gebildet. Dazu gehören die verfassungsmäßige Garantie der Sozialordnung, die gesetzliche Sicherung sozialer Grundwerte sowie das Prinzip der Solidarität. Aus der oben skizzierten normativen Konzeption werden für die fachwissenschaftliche Analyse der Inhaltsebene wesentliche Bausteine in Form von ökonomischen Grundlagen und Funktionsweisen ausgewählt, die die Grundstrukturen der Sozialen Marktwirtschaft integrativ als Modell einer Wirtschaftsordnung kennzeichnen {Dickertmann und Piel 2002, S. 367). Fachdidaktische

Perspektive

Auf der inhaltlichen Ebene wird zunächst die didaktische Qualität des Materials und der Aufgaben in Bezug auf die entsprechenden Lehrfunktionen von Schulbüchern untersucht und bewertet (vgl. die Lehrfunktionen nach Hacker in Abschnitt 2.1). Hier interessiert insbesondere die theoretisch normative wie auch realitätsnahe Repräsentation der Sozialen Marktwirtschaft in Zusatztexten und graphischen Darstellungen sowie deren didaktische Aufbereitung. Mit Einbeziehung der Untersuchung von Aufgabentypen und entsprechenden Qualitätskriterien können Steuerungspotenziale des Lernprozesses eines Schülers eingestuft werden. Ähnliches wird in Bezug auf die Übungs- und Kontrollfunktion, vornehmlich durch die Beurteilung der Aufgaben, durchgeführt.

3.2. Ebene der Vermittlung Schulbücher müssen eine Strukturierungsfunktion übernehmen (Hacker 1980). Deshalb wird auf der Analyseebene „Vermittlung" der Frage nachgegangen, ob ein zusammenhängendes Bild der Sozialen Marktwirtschaft als integrative Wirtschaftsordnung vermittelt wird oder ob einzelne Inhaltsbereiche bzw. Kapitel unverbunden nebeneinander stehen. Die Vernetzung von einzelnen Kapiteln in einer übergeordneten Gesamtstruktur oder einer zusammenfassenden Darstellung ermöglicht eine Verbindung von Demokratie, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung zu einem umfassenden Konstrukt. Abschließend sind auf dieser Analyseebene die Lehrfunktionen der Motivation und der Differenzierung von großer Bedeutung (siehe die Lehrfunktionen nach Hacker in Abschnitt 2.1). Primär ist zu untersuchen, ob das Schulbuch bzw. ein Bereich des Schulbuchs in der Lage ist, den Schüler zu motivieren, sich mit dem Gegenstand Sozia-

78

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schiirkmann

le Marktwirtschaft auseinanderzusetzen. Zusammengefasst werden diese Aspekte unter dem Merkmal der Schülerorientierung. Praxisbezogene und für Schüler herausfordernde bedeutsame Problemstellungen mit einer Ausrichtung auf angestrebte Handlungskompetenzen sind für die Vermittlung von derart komplexen Inhalten unerlässlich (Euler und Hahn 2007, S. 118).

3.3. Bewertungsrahmen Die Schulbuchanalyse im Sinne der didaktischen Reflexion bewegt sich näher an einer Defizitanalyse als an einer Bestandsanalyse. Untersucht wird primär „ein kritischinnovatorisches Erkenntnisinteresse, d.h. bei diesem Ansatz sollen auch Defizite und Mängel des vorliegenden Materials aufgedeckt und Empfehlungen für eine Verbesserung der Schulbuchproduktion gegeben werden" (Weinbrenner 1986, S. 334). Die Normabhängigkeit durch das Operationalisieren, das in erster Linie durch Entscheidungsprozesse stattfindet, ist beim vorliegenden Untersuchungskonstrukt nicht als methodischer Mangel zu werten, sondern in dem didaktisch-reflektierenden Analyserahmen ausdrücklich erwünscht. Bei der Bewertung interessiert zunächst aus fachwissenschaftlicher Perspektive, ob Inhalte vollständig und korrekt nach der herrschenden Lehrmeinung im Schulbuch wiedergegeben werden. Des Weiteren wird die Existenz und die Ausprägung der fachdidaktischen Merkmale in Bezug auf die Inhalte wie auch im Vermittlungskontext untersucht und beurteilt. Die Bewertung wird von drei unabhängigen Ratern vorgenommen und findet unter Verwendung der Ausprägungen ,ja", „nein" und „eingeschränkt" statt. Vor dem Hintergrund eines ausführlich offengelegten Analyserahmens ermöglicht die relativ weite Einteilung insgesamt eine didaktische Reflexion, die den Gütekriterien der Reliabilität, Validität und Objektivität Genüge trägt. Die Merkmale „Darstellung des Unternehmers" (nur im Bereich Markt) und „Darstellung der Sozialen Marktwirtschaft" sollen zum Ausdruck bringen, welches Bild mit welcher Attitüde das Schulbuch in den entsprechenden Kapiteln zu diesen Merkmalen insgesamt vermittelt.

3.4. Auswahl der Schulbücher Die Analyse umfasst alle im Jahr 2010 in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Schulbücher des Faches Politik/Wirtschaft (Sekundarstufe 1 Gymnasium, neuer Kernlehrplan) sowie eine Stichprobe des Faches Sozialwissenschaften (gymnasiale Oberstufe), die das Thema (Soziale) Marktwirtschaft explizit, z.B. durch eine Kapitelüberschrift oder einen Verweis im Inhaltsverzeichnis, beinhalten (Stand Dezember 2010; vgl. Schulministerium NRW2011 und 201 la). Bücher der Unterstufe (5./6. Klasse) sind aus dieser Untersuchung ausgeschlossen, weil das Thema für diese Jahrgangs stufen laut Lehrplan nicht vorgesehen ist.

4.

Ergebnisse

Ausgangspunkt ist die These, dass die Sinnkrise der Sozialen Marktwirtschaft im Kern auf Vermittlungsprobleme zurückzufuhren ist. Dem didaktisch-reflektierenden Analyseansatz und unserem kritisch-innovatorischen Erkenntnisinteresse entsprechend, werden im Folgenden empirische und defizitorientierte Ergebnisse präsentiert. Für jede

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein- Westfalen 79

Sekundarstufe werden sechs zentrale Thesen herausgearbeitet, die darlegen, wie die Soziale Marktwirtschaft in Schulbüchern präsentiert wird und welche fachlichinhaltlichen und didaktischen Mängel eine Vermittlungskrise erklären können.

4.1. Ergebnisse zu den Schulbüchern der Sekundarstufe I 1. These: Kein Schulbuch vermittelt ein inhaltlich vollständiges Bild der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Die Schulbücher der Sekundarstufe I weisen in allen untersuchten Bereichen Grundrechte, Markt und Sozialordnung inhaltliche Lücken auf. Besonders auffallig ist dies in den Kategorien Grundrechte und Markt, in denen keines der untersuchten Schulbücher die Aspekte konstitutiver Rechtsstaat und marktimmanente Korrekturen behandelt. In einem Schulbuch wird der Bereich Grundrechte gänzlich ausgelassen. Lediglich jeweils nur ein Schulbuch thematisiert die Gesichtspunkte Vertragsfreiheit, Eigennutzenstreben als Antriebsfeder, Ordnungs- und Prozesspolitische Korrekturen und Soziale Grundwerte. Neben inhaltlichen Lücken fällt auf, dass die Bereiche „Markt, Sozialordnung und Grundrechte" nicht vernetzt dargestellt, sondern isoliert voneinander behandelt werden. Selbst der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft findet nur in manchen Bereichen Verwendung. Eine abschließende Integration der Themenfelder zum Gesamtkonzept der Sozialen Marktwirtschaft wird weder visuell noch schriftlich im Schulbuch dargelegt {Schulministerium NR W 2007, S. 31). 2. These: Der Umfang der drei Bereiche der Sozialen Marktwirtschaft variiert innerhalb der Schulbücher. Allen ist jedoch gemeinsam, dass eine asymmetrische Gewichtung der Teilbereiche mit dem Schwerpunkt auf den Bereich Sozialordnung vorliegt. Die asymmetrische Gewichtung der Bereiche zeigt sich durch die durchschnittliche Verteilung der Seiten pro Bereich. Dem Themenbereich Grundrechte werden hier durchschnittlich drei Seiten, dem Bereich Markt werden 13 Seiten und dem Bereich Sozialordnung 16 Seiten zugeschrieben. Die Fokussierung auf den Bereich Sozialordnung sowie das Vernachlässigen des Bereiches Grundrechte zeigen in der Vermittlung ein verzerrtes Bild der Sozialen Marktwirtschaft und beeinflussen entsprechend Schülervorstellungen. Eine derart quantitative Verzerrung geht mit den inhaltlichen Mängeln (siehe 1. These) einher. 3. These: Die Schülerorientierung fehlt insbesondere beim Thema Soziale Marktwirtschaft. Weder die Texte noch die Aufgaben sind in der Lage, diese herzustellen. Die Vermittlung der „Sozialen Marktwirtschaft" erfolgt meist fern der Vorstellungen der Schüler. Ihnen wird der ordnungspolitische Rahmen als Abstraktum dargeboten, die notwendige Konkretisierung und lebenspraktische Relevanz fehlt hingegen häufig. In vielen Schulbüchern werden die Lebensdaten der „Gründungsväter" samt einiger vermeintlich wichtiger und aussagekräftiger Textpassagen dargestellt. Dabei darf das Foto von Ludwig Erhard mit seiner Zigarre natürlich nicht fehlen. Die fehlende Problemund Adressatenorientierung trifft besonders auf die Aufgabengestaltung zu. So wurde innerhalb der qualitativen Analyse zu den Arbeitsaufträgen im Themenfeld der Sozialen Marktwirtschaft eine Differenzierung der Aufgaben in die Kategorien „Förderung trägen Wissens" und „Aktivierung" vorgenommen. Unter allen Schulbüchern der Sekun-

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Michael Hofinann, Michael Schuhen und Susanne Schürhnann

darstufe I finden sich im Bereich Grundrechte dreimal so viele reproduktive Aufgaben zu trägem Wissen wie aktivierende Aufgaben. Im Bereich Markt sind es dann schon sechsmal so viele und im Bereich Sozialordnung existieren sogar zwölfmal so viele Aufgaben zu trägem Wissen wie zu aktivem Wissen. Zudem werden in keinem Buch problemorientierte Aufgaben generiert. Ein Großteil der Aufgaben bewegt sich auf einem relativ niedrigen Anspruchsniveau. 4. These: Das Thema Soziale Marktwirtschaft berührt den Schüler nicht. Bei der Untersuchung in den Bereichen Grundrechte und Markt weist nur ein Buch eine schülerorientierte Darstellung auf. Schüler werden weder mit Problemen und Phänomenen Ihrer Alltagswelt konfrontiert, noch mit Texten oder graphischen Darstellungen altersgemäß angesprochen. Ein handlungsorientiertes Ansetzen an Erfahrungen ist genauso wenig vorhanden wie die Möglichkeit der Differenzierung und Individualisierung. Die Schülerorientierung ist ein signifikanter Aspekt in Bezug auf Motivation und Interesse. Andererseits müssen Unterrichtsinhalte altersgerecht präsentiert und dargestellt werden, damit Inhalte eigenständig angeeignet werden. Im untersuchten Themenfeld versäumen die Schulbücher, den Schüler zu motivieren und sein Interesse zu wecken, sich mit derartigen wirtschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. 5. These: Den Schulbüchern gelingt es nicht, die Bereiche Grundrechte, Markt und Sozialordnung zu verbinden und das Konstrukt der Sozialen Marktwirtschaft vernetzt darzustellen. Selbst wenn nur die Einbindung der Einzelaspekte in die jeweiligen Bereiche untersucht wird, lässt sich nur vereinzelt eine Verknüpfung zur Sozialen Marktwirtschaft nachweisen. Ein Aufbau in Form eines Spiralcurriculums mit einem abschließenden Überblick ist in keinem der Bücher zu finden. Soziale Marktwirtschaft wird in Schulbüchern überwiegend nicht als Gesamtkonzept thematisiert. Die Inhalte werden in verschiedenen Kapiteln abdeckt, die den Bereichen „Grundrechte", „Markt" und „Sozialordnung" zuzuordnen sind. Um Soziale Marktwirtschaft in ihrer Gesamtheit zu erfassen und den Schülern als umfassendes ordnungspolitisches Konstrukt verständlich zu machen, muss eine ausgeprägte Vernetzung zwischen diesen Bereichen hergestellt werden. Eine solche Struktur lässt sich in keinem der Schulbücher direkt finden. Die drei Bereiche stehen weitestgehend isoliert nebeneinander. Eine Verbindimg bzw. Gemeinsamkeit wird lediglich durch die Verwendung des Begriffs Soziale Marktwirtschaft hergestellt. Auch Einzelaspekte stehen ohne Zusammenhang zur Sozialen Marktwirtschaft. Insgesamt ist im Bereich „Grundrechte" und „Sozialordnung" in lediglich einem Schulbuch ein strukturierter Aufbau dadurch erkennbar, dass eine Verknüpfung von Einzelaspekten innerhalb einer Gesamtstruktur angestrebt wird. Im Bereich Markt ist dies bei keinem Buch der Fall. Die Integration von Demokratie, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung als etwas Ganzes findet sich in keinem Schulbuch wieder. 6. These: In den Schulbüchern gibt es keine einheitliche Schreibweise des Begriffes der Sozialen Marktwirtschaft. Überwiegend ist die Rede von sozialer Marktwirtschaft'. Der Begriff .Marktwirtschaft' wird lediglich mit dem Adjektiv ,sozial' ergänzt. Soziale Marktwirtschaft als eigenständiges Konstrukt existiert auch sprachlich nicht.

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen 81

Neben den inhaltlichen Defiziten, dem fehlenden strukturierten Aufbau in Form einer verknüpften Darstellung wie auch einer wenig ausgeprägten Schülerorientierung verständigt sich die Schulbuchliteratur auf keine einheitliche Schreibweise des Begriffes „Soziale Marktwirtschaft". Im Bereich „Grundrechte" wird der Begriff, soziale Marktwirtschaft' am häufigsten verwendet. In drei von fünf Büchern findet der Begriff S o ziale Marktwirtschaft' gar keine Verwendung. In den Kapiteln zum Thema Markt wird durch die schriftliche Darstellung kein Bezug zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft hergestellt. Einige der untersuchten Schulbücher verwenden sowohl eine Groß-, wie auch eine Kleinschreibung des Begriffs (Soziale bzw. soziale Marktwirtschaft). Die Verwendung beider Schreibweisen - ohne einen Unterschied der Begrifflichkeiten zu erläutern - wirkt auf den Leser sehr befremdlich. Dadurch, dass dem Begriff Marktwirtschaft wiederholt das Adjektiv sozial zugeordnet wird, kann beim Schüler das Bild entstehen, dass die Soziale Marktwirtschaft eine Marktwirtschaft ist, die ,sozial' gemacht wird. Inhalte und didaktische Mängel spiegeln sich in dieser sprachlichen Unscharfe wider.

4.2. Ergebnisse zu den Schulbüchern der Sekundarstufe II 1. These: Bücher der Sekundarstufe II weisen inhaltliche Lücken in den drei Bereichen der Sozialen Marktwirtschaft auf. Die untersuchten Schulbücher der Sekundarstufe II zeigen sich erwartungsgemäß inhaltlich vollständiger als die Schulbücher der Sekundarstufe I. Trotzdem weisen einzelne Bücher inhaltliche Defizite in den drei Bereichen „Grundrechte", „Markt" und „Sozialordnung" auf. Die Bausteine im Bereich Grundrechte werden nahezu vollständig abgedeckt. Nur ein Schulbuch behandelt lediglich das Thema Marktwirtschaft und verzichtet in diesem Zusammenhang auf die Bereiche „Grundrechte" und „Sozialordnung". Ansonsten werden alle Aspekte im Bereich „Grundrechte" in allen Büchern thematisiert. Im Bereich Markt ist das Bild nicht mehr so einheitlich. Die Bausteine „Koordination durch marktimmanente Korrekturen", „Antriebsfeder" und „Zielvorstellungen" werden bspw. nur von vier Büchern ausreichend inhaltlich thematisiert. Ähnlich ist es im Bereich der Sozialordnung. Hier enthalten nur vier Bücher „Soziale Grundwerte", und nur drei Bücher erklären das „Solidaritätsprinzip" vollständig und korrekt. 2. These: In den Büchern der Sekundarstufe II ist insgesamt ein Anstieg der durchschnittlichen Seitenzahlen der einzelnen Bereiche gegenüber den Büchern der Sekundarstufe I erkennbar. Der Bereich Grundrechte schließt quantitativ zum Bereich Markt auf. Der Bereich Sozialordnung nimmt fast so viel Raum ein, wie die anderen beiden Bereiche zusammen. Bei der Raumanalyse der Schulbücher der Sekundarstufe II ist ein Anstieg der durchschnittlichen Seitenzahl in den einzelnen Bereichen „Grundrechte", „Markt" und „Sozialordnung" zu registrieren. Auffällig ist, dass der Bereich „Sozialordnung" deutlich in den Vordergrund tritt. Daneben nimmt der Bereich „Grundrechte" an inhaltlicher Bedeutung zu. Im Vergleich zur Sekundarstufe I ist der Anteil des Bereiches Grundrechte an der Gesamtseitenzahl von 9,9 Prozent auf jetzt 23,6 Prozent angestiegen.

82

Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

Betrachtet man die Schulbücher der Sekundarstufe II einzeln, ergibt sich ein differenziertes Bild. Insgesamt variiert der Umfang in den einzelnen Schulbüchern. Bei drei Büchern gehört der umfangreichste Themenblock zum Bereich Soziales. Allerdings wird die asymmetrische Gewichtung entschärft. Grundrechte werden hier auf durchschnittlich 15,5 Seiten, Markt auf 19,5 Seiten und Sozialordnung auf 27,2 Seiten behandelt. 3. These: In der Sekundarstufe II wird immer noch doppelt so häufig träges statt aktives Wissen abgefragt. Die Verteilung der Abfrage von trägem und aktivem Wissen in der Aufgabenstruktur ist in allen Bereichen ähnlich. Im Bereich „Grundrechte" und „Markt" ist das Verhältnis zwischen trägen und aktiven Aufgaben etwa 3:2, im Bereich „Sozialordnung" 2:1. Im Bereich „Grundrechte" generieren vier Bücher, im Bereich „Markt" und „Sozialordnung" sechs Bücher problemorientierte Aufgaben. Allerdings fragen die meisten Aufgaben immer noch kontextungebundenes Sachwissen ab. Das betrifft insbesondere typische „textorientierte" Arbeitsaufträge gängiger Schulbücher. Vielleicht noch entscheidender für die schulische Praxis: Von einer textreproduzierend akzentuierten Unterrichtsgestaltung geht auch kein besonderer Lernanreiz aus. Ebenso stellt eine unkritische Reproduktion ideologischer Schriften zur Wirtschaftsordnung nicht den didaktischen Kern eines sozialwissenschaftlich orientierten Ökonomieunterrichts dar. Vielen Schulbüchern mangelt es an einer zusammenführenden Gesamtdarstellung der Wirtschaftsordnung, die Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Demokratie in Beziehung setzt und diese problem- und adressatenorientiert konkretisiert (Schuhen und Weyland 2011). 4. These: Auch Schüler der Sekundarstufe Marktwirtschaft weitestgehend unberührt.

II bleiben vom Thema der

Sozialen

In den Bereichen „Markt" und „Sozialordnung" stellen zwei Bücher Inhalte schülerorientiert und altersgemäß dar. In der Dimension „Grundrechte" schafft dies lediglich ein Buch. Die restlichen Bücher sprechen die Schüler in diesem Kriterium kaum bis gar nicht an. Damit ist auch bei der Sekundarstufe II die inhaltliche und didaktische Aufbereitung des Themas Soziale Marktwirtschaft weder für Schüler ausreichend motivierend noch differenzierend einzustufen. Unter diesen Umständen ist es schwer, dem Schüler mittels Schulbuch ein umfassendes Bild der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zu vermitteln. Die defizitäre Schülerorientierung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte gymnasiale Mittel- und Oberstufe. 5. These: Den Schulbüchern gelingt es in der Sekundarstufe II besser, eine Vernetzung der drei Bereiche aus der Perspektive der Sozialen Marktwirtschaft herzustellen, insbesondere im Bereich Grundrechte. Ein strukturiertes Spiralcurriculum kann allerdings nur mit Vorsicht in den Aufbau der Schulbücher hineininterpretiert werden. Eine abschließende Darstellung und eine Verbindung von Demokratie, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung zu einem Gesamtkonstrukt sucht man weiterhin vergebens. Nur in einem Schulbuch wird dem Bereich Grundrechte und Sozialordnung eine eingeschränkte Verbindung zur Sozialen Marktwirtschaft zugesprochen. Im Bereich Markt ist dies bei zwei Büchern der Fall. Die restlichen Schulbücher erfüllen alle das Kriteri-

Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein-Westfalen 83

um der übergeordneten Vernetzung. Defizite zeigen sich aber vor allem bei der inhaltlichen Verknüpfung der einzelnen Bausteine innerhalb der verschiedenen Bereiche. Wichtige Aspekte im Bereich Markt werden in drei Büchern aus der Perspektive der Sozialen Marktwirtschaft thematisiert. In den restlichen Büchern wird der „Markt" unabhängig und isoliert vom Konstrukt der Sozialen Marktwirtschaft behandelt. Im Bereich Sozialordnung wird auf diese Verknüpfung in vier Büchern und im Bereich Grundrechte in fünf Büchern Wert gelegt. Insgesamt präsentieren die Schulbücher eine wesentlich vollständigere Vorstellung des Konstrukts der Sozialen Marktwirtschaft und können dem Schüler in Ansätzen ein Gesamtbild der Sozialen Marktwirtschaft anbieten. 6. These: Auch in der Sekundarstufe II findet sich in den Schulbüchern keine einheitliche Schreibweise des Begriffes der Sozialen Marktwirtschaft. Allerdings ist nur selten die Rede von „sozialer Marktwirtschaft". Soziale Marktwirtschaft wird sprachlich nun überwiegend als eigenständiges Konstrukt verwendet. Auch in den Büchern der Sekundarstufe II wird der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft" am häufigsten im Bereich Grundrechte verwendet. Alle sechs Bücher, welche den Bereich „Grundrechte" thematisieren, verwenden den eigenständigen Begriff - und das insgesamt 54-mal. Allerdings weisen zwei von den sieben Büchern keine einheitliche Schreibweise auf. In diesen beiden Büchern wird Soziale Marktwirtschaft sowohl klein- als auch großgeschrieben. Der Mangel der sprachlichen Unschärfe setzt sich also teilweise in der Sekundarstufe II fort. Sprachliche Professionalität ist ein Attribut eines jeden guten Lehrers. Diesem Kriterium sollten dann auch die ihm zur Verfugung gestellten Materialien genügen.

5.

Fazit

In der Sekundarstufe I vermittelt kein Schulbuch ein vollständiges Bild der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft als umfassendes ordnungspolitisches Konstrukt existiert auch sprachlich nicht. Vielmehr ist überwiegend die Rede von einer Marktwirtschaft, die sozial gemacht werden muss. Es entsteht der Eindruck, dass in Deutschland auf wirtschaftlicher Ebene das System der (freien) Marktwirtschaft praktiziert wird. Daneben steht der Sozialstaat, der auf Grundlage des Sozialstaatsgebotes die Ungerechtigkeiten des Marktes auszugleichen versucht. Diese Vorstellung ist weit von den ordnungspolitischen Ursprüngen der Idee einer integrativen „funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechtes und des Staates" (Eucken 1940/1989, S. 239) entfernt. Diese Schieflage spiegelt sich letztendlich in der Aufgabenkultur wider. In den Schulbüchern der Mittelstufe wird überwiegend träges Wissen abgefragt, insbesondere im Bereich Sozialordnung. In dem Bereich, dem die vermeintlich größte Bedeutung zugesprochen wird, gelingt es durch Aufgabenstellungen nicht, die Schüler zu aktiveren und einen Transfer zu den anderen Bereichen herzustellen. Die integrative Verknüpfung von Grundrechten, Markt und sozialen Aspekten zu einem geschlossenen Gesamtbild bleibt unerfüllt. In der Sekundarstufe II weisen einige Bücher Lücken in den Bereichen Markt und Sozialordnung auf. Die asymmetrische Fokussierung wird im Gegensatz zur Sekundarstufe I entschärft, und den Grundrechten wird ein größerer Umfang eingeräumt. Das

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Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

Verhältnis zwischen aktivem und trägem Wissen divergiert in einem geringeren Maße, dennoch überwiegt das träge Wissen in allen Aufgabenstrukturen. Die Bücher der Sekundarstufe II lassen kein Spiralcurriculum erkennen, und es fehlt an einer inhaltlichen und übergreifenden Vernetzung der drei Bereiche. Allerdings wird die Soziale Marktwirtschaft überwiegend als eigenständiges Konstrukt dargestellt. Dies wird durch die Thematisierung der Grundrechte ermöglicht. Es gelingt teilweise, eine Vorstellung über die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zu vermitteln. Der Bereich Markt wird in diesem Zusammenhang allerdings wiederum isoliert und nicht in Verbindung zur Sozialen Marktwirtschaft dargestellt. Die untersuchten Schulbücher sind in Bezug auf die Darstellung der Sozialen Marktwirtschaft weder schülerorientiert noch problemorientiert aufgebaut. Kaum einem Schulbuch gelingt es, dem Schüler die Soziale Marktwirtschaft in ihrer Struktur und Vielfältigkeit auf eine altersgerechte Weise näher zu bringen und ihn für ihre Komplexität zu sensibilisieren. Die Liste der Defizite ist lang. Wenn davon ausgegangen wird, dass Vermittlungsprobleme in Schulbüchern entscheidenden Anteil an Bildern und Einstellungen zur Sozialen Marktwirtschaft haben, liegt die Ursache einer Sinnkrise vielleicht genau dort begründet. Zweifellos muss hier stets zwischen normativen Prämissen und Realität unterschieden werden. Genau diese Differenzierung muss in Schulen aber gerade betont werden, um voreingenommenen Meinungen vorzubeugen und entsprechend kritischmündige Bewusstseinsbildung bei Schülern zu ermöglichen.

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Die Soziale Marktwirtschaft aus dem Blickwinkel von Schulbüchern in Nordrhein- Westfalen 85

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Michael Hofmann, Michael Schuhen und Susanne Schürkmann

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Notizen zur Geschichte und Gegenwart der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung

Dietmar

Krafft

Inhalt 1.

Vorwort

88

2.

Die Vorzeit

89

3.

Das Gründungsmotiv der DeGÖB

90

4.

Der Gründungsprozess der DeGÖB

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5.

Erste Aktionen der DeGÖB

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6.

Gemeinschaft stärken - Netzwerk schaffen

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7.

Neue Technologien prägen die Fachtagungen

97

8.

Zehn Jahre DeGÖB - und kein Ende

98

Literatur

99

88

1.

Dietmar Krafft

Vorwort

Einen Beitrag für eine Festschrift eines Kollegen zu liefern, wird zwar nicht immer gern akzeptiert, doch habe ich in diesem Fall zwei schwerwiegende Argumente, die es mir nicht erlauben, die an mich herangetragene Bitte abzuschlagen: Erstens, Hans Jürgen Schlösser ist mein akademischer „Sohn", den ich auf seiner Laufbahn vom Diplom bis zur Professur mehr begleitet als geleitet habe, auch wenn er vorübergehend einen längeren Wissenschaftsausflug ins Ausland unternahm und von der London School of Economics nebenbei den Master of Science mitbrachte. Zweitens, Hans Jürgen Schlösser ist einer meiner Nachfolger in der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung (DeGÖB), in der ich von 1978 bis 1991 den Vorsitz innehatte und er von 1999 bis 2003 ebenfalls die Geschicke dieser Institution lenkte. Das zweite Argument veranlasste mich, die Chance zu nutzen, einen ersten Beitrag zur „Biographie" der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung zu liefern, deren Entstehung und Entwicklung wir beide sowie unsere Kollegen Hans-Jürgen Albers (1991-1995) und Klaus-Peter Kruber (1995-1999) in den ersten 25 Jahren prägten. Die Idee dieser Biographie einer juristischen Person kam mir anlässlich einer Studie zum Bildungs-Marketing, bei der ich durch die Autorin Temming (2012) über die Rolle der DeGÖB als einem der Akteure im Bildungsbereich interviewt wurde. Bei der Vorbereitung auf diesen Rückblick wurde mir bewusst, wie sehr doch die Entwicklung der ökonomischen Bildung in der Bundesrepublik einem Konjunkturverlauf mit ständigem Wellenwechsel gleicht, dem jedoch das Wachstum fehlt. Ich habe bei der Durchsicht von Unterlagen, Schriftverkehr, Publikationen und Resolutionen den Eindruck erhalten, dass wir die damaligen - mit Schreibmaschine und Kohlepapier verfassten - Texte nun zwar technisch-digital umfangreicher und vielfaltiger produzieren können, dass jedoch die Inhalte weitgehend identisch sind. Als Ökonom führte mich dies zur Idee, diesen historischen Fundus zu nutzen, damit andere in der Gegenwart viel Zeit und Mühe einsparen können. Es ist eines der Motive für die Wahl meines Festbeitrages. Ich erleichtere damit auch den heutigen Wissenschaftlern die Literaturrecherche, bei der man für Benotung oder Ranking-Einstufung höchsten Wert auf die Aktualität legen muss. Man kann aus den vorliegenden Unterlagen der Bundesfachgruppe für Ökonomische Bildung z. B. zum Stand der ökonomischen Bildung bei den Schülern und Lehrern und zu Maßnahmen zur Verbesserung sehr viel entnehmen, was heute noch volle Gültigkeit hat. Bei diesen Erfahrungen wächst das Bewusstsein, dass die allgemein beklagte „Beschleunigung des Lebens" zwar in einigen physikalischen Bereichen, d.h. des Transports von Menschen, Waren und Nachrichten, stimmt, dass jedoch die eigentlichen menschlichen Beweggründe dieser Transportrationalisierung - wenn man es ökonomisch ausdrückt - zu keinem positiven psychischen Return on Investment bei den Menschen geführt haben. Ich hoffe, dass die nachfolgenden Erinnerungen bei den heutigen Mitgliedern der DeGÖB auf reges Interesse stoßen und ich bei ihnen ein wenig Verständnis über die Form meiner Darstellung finde.

Notizen zur Geschichte und Gegenwart der DeGÖB

2.

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Die Vorzeit

Grundlegendes Ziel war seit den Anfängen der DeGÖB'-Arbeit, dass ökonomische Bildung zu einem integralen Bestandteil der Allgemeinbildung in der Bundesrepublik werden muss. Aus historischer Sicht sind die spärlichen Ansätze von ökonomischer Bildung, die als Überbleibsel aus der Zeit des Merkantilismus, in der noch ein unmittelbares Interesse des Staates an der Förderung der Wirtschaft bestand, mit Beginn der Humboldtschen Bildungsreform verloren gegangen. Die mit dem General-LandschulReglement von 1763 in Preußen vom Staat eingeführte Schulpflicht mit Steuerung der Lehrerausbildung, der Curricula und Schulbücher bot noch vor Humboldt die Schaffung von stark wirtschaftsbezogen ausgerichteten Realschulen {Hecker 1747) sowie zum Teil allgemeinbildenden Industrieschulen {Kindermann 1779). Mit dem Aufkommen des Liberalismus ging jedoch das unmittelbare Interesse des Staates an der Förderung der Wirtschaft durch Bildung und Erziehung verloren. Die Namen Hecker und Kindermann sollen hier für alle die stehen, die sich um die Verbindung von Schule und Arbeitswelt bemühten, jedoch an den damaligen Verhältnissen scheiterten. Die Ausbildung für den wirtschaftlichen Bereich entwickelte sich seither nicht mehr im Zusammenhang mit dem allgemein staatlichen Bildungssystem, sondern wird zur beruflichen Spezialausbildung im Anschluss an den allgemeinen Bildungsgang oder als Alternative dazu in Berufsschulen, Handelsschulen und der Wirtschaftspraxis. Mit der Prägung des Bildungssystems durch den Humboldtschen Humanismus vollzieht sich ein Rückfall in die Antike, in der materielle Werte keinen Platz in der Erziehung fanden. In Griechenland waren Kaufleute minderwertige und gesellschaftlich nicht anerkannte Bürger. In den „wohleingerichteten Städten" von Piatons Politeia sind die Krämer „die körperlich Schwächsten und solche, die unfähig sind, andere Geschäfte zu verrichten" {Piaton o.J.). Es klingt ein wenig Bedauern heraus, dass diese Krämer in einer Stadt notwendig sind; sie sind ein zu ertragendes Übel, um zum Beispiel die tapferen, eifrigen und sanftmütigen Wehrmänner, die sich mit Philosophie, den Musen und der Gymnastik zu beschäftigen haben, mit dem Notwendigsten zu versorgen. So wird verständlich, dass Odysseus aufbraust, als ihn die Phäaker als Kauffahrer bezeichnen und Hermes zwar als Gott des Handels, aber auch der Diebe eingeordnet wird. Diese Abwertung von Wirtschaftsdenken vollzieht sich auch nach Durchsetzung des Christentums weiter. Die Ausbreitung des europäischen Handels erfolgte in großem Umfang durch Juden, weil das Christentum u.a. den Zins verdammte und z. B. Jesus Sirach in der Bibel sagte: „Ein Kaufmann kann sich schwerlich hüten vor Unrecht". Daher verträgt sich - trotz der teilweise sehr liberalen Einstellung von Wilhelm von Humboldt - in keiner Weise der Bildungsanspruch mit der marktwirtschaftlichen Idee. Zentrales Element des wirtschaftlichen Liberalismus ist die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft, die zwar einen rechtlichen Rahmen durch den Staat oder die Staatengemeinschaften benötigt, jedoch nicht die ständigen Eingriffe in den Marktmechanismus. Timmermann (1976, S. 43 ff.) schreibt:

Sie wurde im Juni 1978 unter dem Namen „Bundesfachgruppe für Ökonomische Bildung e.V." (kurz: BÖB) gegründet und erhielt erst am 30. März 1995 den jetzigen Namen. Ich werde aber in der Biografie von Anfang an den Namen DeGÖB verwenden.

Dietmar Krafft

90

„Wer nun als Theologe, Philosoph oder Politiker den europäischen Frühkapitalismus ablehnte, durfte nicht die Handelssysteme, die Produktionsweisen, das Kreditwesen und den Weltmarkt der Großhandelshäuser als gegeben hinnehmen, wissenschaftlich beschreiben und vielleicht kritisieren, sondern er musste die Entwicklung mit der ihr zugeordneten Bildung selbst ablehnen und zu verhindern suchen." Vieles davon ist noch heute im Bereich des Schulwesens - und nicht nur dort - wirksam und prägt über Einflüsse der „Humanitas" ältere und neuere Entwicklungen gerade der Erziehungswissenschaften. Mit der Abkoppelung der Wirtschaftsbildung von der Allgemeinbildung begann der unheilvolle Kreislauf, der bis in die Gegenwart wirksam ist. Bildungspolitische Entscheidungsträger und Pädagogen wachsen - wie der überwiegende Teil der Bevölkerung, der in den Genuss des weiterführenden allgemeinen Bildungsganges an Gymnasien und Hochschulen kommt - säuberlich getrennt vom Bereich der betrieblichen Berufsausbildung und der sie begleitenden Berufsschulen heran. Die Beschäftigung mit geistigen Werten in unserem Kulturkreis schließt bewusst die Fragen der Wirtschafts- und Arbeitswelt aus.

3.

Das Gründungsmotiv der DeGÖB

Auch heute muss leider noch immer konstatiert werden, dass im allgemein bildenden Schulwesen vieles Nützliche gelehrt wird, jedoch zu dem Bereich der wirtschaftlichen Entscheidungen und Handlungen im Alltag, die eine erhebliche Rolle für jeden Menschen spielen und viele Probleme mit sich bringen, kaum Hilfestellung geleistet wird. Zwei zeitgleiche Ereignisse gaben den Anlass, in dieser Hinsicht optimistischer in die Zukunft zu schauen. Eines war der Bestseller „Die amerikanische Herausforderung" von Jean-Jacques Servan-Schreiber, der sein Werk schon als Herausgeber der Zeitschrift ¡'Express länger geistig vorbereitet hatte und 1967 herausgab. Er machte die Gefahr eines „technological gap", einer technisch-ökonomischen Lücke Europas gegenüber den Vereinigten Staaten deutlich. Wissenschaftler und Bildungspolitiker in der Bundesrepublik sannen auf Abhilfe. Die „Bildungsökonomie" hatte ihre Blütezeit und stellte die Bedeutung des Faktors „Bildung" für die wirtschaftliche Entwicklung und die Notwendigkeit des Brückenschlages zwischen Schule und Wirtschaftswelt heraus. In diesem Zusammenhang kam als zweites Ereignis - der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1964 auf die Idee, in den „Empfehlungen zum Aufbau der Hauptschule" die Entwicklung einer Arbeitslehre, die den „Schüler mit Grundzügen des Arbeitens in der modernen Produktion und Dienstleistung" {Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen 1964) vertraut machen sollte. Eine Vielzahl von oftmals mehr hektischen als durchdachten Initiativen zur Einführung von Wirtschaftsunterricht und Technikunterricht bestimmte die Bildungslandschaft. So sollte durch diese Initiative zumindest schon für eine Schulform eine Änderung eintreten. Mit diesen „Empfehlungen" wurde ein Lernbereich „Arbeitslehre" eingeführt, über welchen die Fächer „Wirtschaft" und „Technik" in den Bildungskanon eingebracht werden sollten. Der „Startschuss" fiel in Nordrhein-Westfalen, wo an den Pädagogischen Hochschulen schon ab 1968/69 Lehraufträge und 1970/71 Lehrstühle für das Fach Wirtschaftswissenschaft und ihre Didaktik eingerichtet wurden. Parallel dazu kamen auch welche

Notizen zur Geschichte und Gegenwart der DeGÖB

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für Technik und für Hauswirtschaftswissenschaft, um eine Grundlage für die Lehrerausbildung für Grund- und Hauptschulen zu schaffen. Diese Entwicklung von „Wirtschaft in die Schule" ging meines Wissens von Nordrhein-Westfalen (NRW) und Berlin aus. Die Gegebenheiten haben sich in der Folge in allen Ländern sehr unterschiedlich entwickelt. In NRW war in den Anfangsjahren die Regelung so, dass man für das Lehramt im Lernbereich Arbeitslehre an der Hauptschule die Fächer Wirtschaftswissenschaft, Technik oder Hauswirtschaft absolvieren konnte, wobei es jedoch sehr bald zu Kooperationen zwischen diesen Fächern kam. In NRW trat 1975 eine neue Regelung für die Ausbildung der Lehrer im Fach Wirtschaft an den pädagogischen Hochschulen in Kraft. Die Kombination der drei Fächer im Lernbereich Arbeitslehre wurde durch die Regelung aufgehoben. Es gab an der Hochschule keine Zulassung mehr für den Lernbereich Arbeitslehre. Die Lehrerausbildung hierfür an der Hochschule wurde gestrichen, blieb aber als Schulfach an der Hauptschule mit „Arbeitslehre" bestehen als Kombination von Wirtschaft/ Technik/ Hauswirtschaft. An der Hochschule studierte man also ein Fach Technik oder ein Fach Hauswirtschaftswissenschaft oder - und das war das ganz Neue - Sozialwissenschaften. Und diese Sozialwissenschaften bestanden wiederum aus drei Fächern, aus Soziologie, Politik und Ökonomie. Diese Verkümmerung und Desorganisation der Bildungspolitik in unserem Fach war der Ausgangspunkt für die Entwicklung der heutigen DeGÖB, die in NRW Lehrstühle für Wirtschaftswissenschaft und ihre Didaktik in Münster, Köln, Bochum, Bonn, Neuss, Aachen, Duisburg, Essen, Dortmund, Bielefeld, Paderborn und Siegen hatte, die alle von der Neuregelung betroffen waren. Es bildete sich aus diesem Anlass eine lose Protestgruppe, die keine Vereinsregeln hatte. Es war ein zwangloses Treffen von Hochschullehrern aus NRW, die dieses Bildungschaos nicht hinnehmen wollten. Es gab ohnehin schon gravierende Unterschiede in den Bundesländern und nun zusätzlich innerhalb von NRW ein totales Chaos. In der Hochschule musste die gerade angelaufene Kooperation von Wirtschaft/Hauswirtschaft/Technik wieder aufgelöst und durch einen neuen Anlauf Politik/Soziologie/Wirtschaft ersetzt werden. Studierende mit Studienanfang ab 1975 hatten völlig andere Studienordnungen als die in noch bis zu 8 Semestern Arbeitslehre-Studienordnung steckenden Studierenden von vor 1975. Auch die Schulen hatten sich darauf einzustellen, dass in Kürze für den gerade erst neu geschaffenen Lernbereich Arbeitslehre die entsprechenden Lehrer ausbleiben würden. Einzige Ursache der Desorganisation war wahrscheinlich die in NRW existierende Trennung von Wissenschaftsministerium (mit Zuständigkeit für die Hochschulen) und Kultusministerium (mit Zuständigkeit für Schulen und Weiterbildung). Die inzwischen entstandene „Landesfachgruppe Ökonomie in Schule und Lehrerbildung NRW" initiierte daraufhin im Februar 1978 für alle ihr bekannten Kollegen aus den anderen Bundesländern ein gemeinsames Treffen vom 11. und 12. Februar in Münster, bei dem u.a. ein Übergangsvorstand für eine zu gründende „Bundesfachgruppe Ökonomie in Schule und Lehrerbildung" gebildet wurde, der die vereinsrechtlichen Grundlagen vorbereitete und zur Gründungsversammlung für den 2. und 3. Juni 1978 nach Bonn einlud. Zur Vorbereitung gehörten auch schon im Tagungsprogramm in Münster Länderberichte zur Situ-

92

Dietmar Krafft

ation von Ökonomie in Schule und Lehrerbildung aus Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. 2

4.

Der Gründungsprozess der DeGÖB

Primäres Interesse bei der Gründung war zum einen, die Situation und die eventuell gemeinsam besser zu lösenden Probleme in den einzelnen Bundesländern kennen zu lernen, zum anderen, eine Satzung zu entwerfen, aus der eine gemeinsame Zielsetzung hervorgeht. In der Gründungsversammlung waren 30 Personen erschienen, die den Namen „Bundesfachgruppe für Ökonomische Bildung e.V." und folgenden Zielkatalog beschlossen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Förderung der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Entwicklung sozialökonomischer Bildung Verankerung und Ausbau der Ökonomie in der Schule Förderung der Lehrerbildung für die ökonomisch orientierten Unterrichtsfächer Ständiger Informations- und Erfahrungsaustausch über die Situation der Ökonomie in Schule und Lehrerbildung mit dem Ziel einer Abstimmung Durchführung von Tagungen und Kongressen sowie Einrichtung eines Informationsdienstes Zusammenarbeit mit allen Einrichtungen, die diese Ziele unterstützen.

In den Vorstand wurden gewählt: Prof. Dr. Dietmar Krafft, Münster (Vorsitzender), Prof. Dr. Franz-Josef Kaiser, Paderborn (Stellvertreter), Dr. H. Koppen, Köln (Geschäftsführer), Prof. Dr. G. Groth, Berlin, und Studiendirektor Wilfried Neugebauer, München, als zwei weitere Mitglieder des Vorstandes. Die 30 Gründungsmitglieder waren: Abraham (Hamburg), Camra (Bremen), Cox (Duisburg), Decker (Weingarten), Dibbern (Flensburg), Dörge (Bielefeld), Fehr (Hannover), Golas (Berlin), Groth (Berlin), Kaiser (Paderborn), Käseborn (Dortmund), Kaminski (Paderborn), Karsten (Bonn), Klitscher (Saarbrücken), Koppen (Köln), Krafft (Münster), Krol (Münster), Kruber (Kiel), Leder (Hildesheim), Lehnert (Koblenz), Neugebauer (München), Nitsch (Berlin), Ochs (Neuss), Ockenfels (Essen), Platte (Dortmund), Pleiß (Worms), Rothkegel (Bonn), Schneidewind (Dortmund), Weinbrenner (Bielefeld), Wittekind (Paderborn). Die Gründung der Organisation wurde der überregionalen Presse und den Presseagenturen mitgeteilt und fand einen guten Anklang. Hier ein Auszug aus der Mitteilung: „An die bildungspolitisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik Deutschland ergeht die Aufforderung zu überdenken, ob Probleme wie — aus dem Bau des Frosches auf seine Lebensweise schließen, — wichtige Fossilien den Erdzeitaltern zuordnen, 2

Teilnehmer waren aus Bayern Stud. Dir. Dr. Neugebauer, aus Berlin Prof. Dr. Groth, Prof. Dr. Steffens, aus Bremen Prof. Dr. Camra, aus Hessen Prof. Dr. Dedering, aus NRW Prof. Dr. Friedrich, Prof. Dr. Käseborn, Prof. Dr. Kaiser, Prof. Dr. Plachetka, Prof. Dr. Platte, Prof. Dr. Weinbrenner, Prof. Dr. Krafft, aus Rheinland-Pfalz Prof. Dr. Lehnert und aus Schleswig-Holstein Prof. Dr. Kruber.

Notizen zur Geschichte und Gegenwart der DeGÖB



beschreiben, wie die Salze der Salzsäure entstehen,



das Problem der Fadenverkreuzung am Prinzip des Webens erkennen,

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die in gegenwärtig gültigen Lehrplänen und Richtlinien der allgemeinbildenden Schulen enthalten sind, weiterhin Priorität vor Fragen der Vorbereitung auf die Berufswahl, der Entlohnung und Mitbestimmung, der Preisgestaltung und Kaufentscheidung, der Strukturveränderungen in der Wirtschaft und ihrer Auswirkungen für alle Beteiligten haben sollen. Es ergeht die Forderung sicherzustellen, dass Lehrer und Schüler nicht nur in den Fächern Deutsch und Mathematik, Biologie und Physik, Textilgestaltung und Hauswirtschaft, Italienisch, Griechisch u.a.m. ausgebildet werden, sondern Wirtschaftslehre verbindlicher Bestandteil einer allgemeinen Bildung wird."

5.

Erste Aktionen der DeGÖB

Der Hauptanlass unserer Anstrengungen lag darin, in der Öffentlichkeit darzustellen, dass die ökonomische Bildung eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist und die bundesweite Misere Änderungen erfordert. Dass eine Einführung von Wirtschaft in das allgemeinbildende Schulwesen wegen starker Gegenströmungen sehr schwierig bleiben würde, war dem Vorstand durchaus klar. Aus der ersten Zeit dieser Auseinandersetzungen ist mir ein Vortragstext in die Finger gefallen, der durchaus auch nach 30 Jahren noch Geltung hat: „Da Bildungspolitiker und -praktiker nur in Ausnahmefallen in der Schule oder in ihrer Berufsausbildung und -tätigkeit Qualifikationen und Interesse für den Erfahrungsbereich Wirtschaft gewonnen haben, erweisen sich gerade Kultuspolitik und -bürokratie als der resistenteste Bereich hinsichtlich der Aufgeschlossenheit für sozioökonomische Probleme. Selbst wenn der Blick auf die Lebenswirklichkeit Anlass gibt, veränderte Lebenssituationen zu erkennen und daher pädagogische Zielsetzungen neu zu formulieren, steht man sich mangels entsprechender Qualifikation selbst im Weg. ... Die Folge ist die eingangs geschilderte Inkompetenz in Wirtschaftsfragen bei weiten Bevölkerungskreisen durch die unzureichende Schulausbildung. Daraus ergibt sich eine unheilige Koalition von einerseits konservativen, die wirtschaftliche Bildung ablehnenden Neuhumanisten mit andererseits neomarxistischen Politökonomen. Gemeinsam sind sie unserem Wirtschaftssystem gegenüber emotional ablehnend und haben eine große Zahl von Anhängern, die alternativen Heilslehren nachjagen. ... Da die herrschende wirtschaftswissenschaftliche Theorie sich i.d.R. auf das Individualprinzip stützt, muss der Systemkritik konsequent auch eine Theoriekritik folgen, indem man die traditionelle Wirtschaftswissenschaft ablehnt und die ,Sozialisierung' der Theorie durch Einbindung in Soziologie und Politologie fordert. , Sozialwissenschaft statt Wirtschaftswissenschaft' ist die Parole. Dieser Angriff fällt umso leichter, als in den Randbedingungen ökonomischer Theorie tatsächlich soziologische und politische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen und in der Theorie vielfach zu stark vernachlässigt werden. Um diese Mischung von Propaganda und begründeter Wissenschaftskritik zu durchschauen, bedürfte es jedoch einer weitaus intensiveren Beschäftigung mit ökonomischen Fragen, als es im gegenwärtigen Bildungssystem - mit einem Schmalspurstudium Sozialwissenschaft - möglich ist." (Kräfft 1981 S. 13 f.)

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Dietmar Krafft

Die zweite Mitgliederversammlung 3 am 24. und 25. November 1978 fand in Feldkirchen-Westerham/Bayem statt. Hier wurde u.a. beschlossen, zur Förderung der internen Kommunikation einen Informationsdienst einzurichten und zur externen Aktion ein Schreiben über die Situation der ökonomischen Bildung in der Bundesrepublik an alle Kultus- bzw. Wissenschaftsminister zu versenden. Das Schreiben wurde am 28. November 1978 versandt, hatte jedoch nur Reaktionen aus Bayern und Baden-Württemberg zur Folge. Interessant war das Ergebnis dennoch, denn die Ministerien versicherten, dass die gute Ausbildung der Lehrer in Wirtschaftswissenschaft gesichert sei und unsere Beschwerde der mangelhaften Ausbildung auf sie nicht zutreffe. Deutlich ging aber aus diesen Schreiben hervor, dass die Ausbildung der Handels- und Berufsschullehrer gemeint war, obwohl unser Schreiben das Problem in den allgemeinbildenden Schulen herausgestellt hatte. In der nachfolgenden Korrespondenz wurde unsere korrigierende Beschwerde einer mangelhaften Ausbildung der Lehrer nochmals verworfen, „da es ja gar keine Ausbildung für Ökonomische Bildung von Lehrern in allgemeinbildenden Schulen" gäbe. In der Tat war das eine salomonische Entscheidung: Denn was es nicht gibt, kann nicht mangelhaft sein! In NRW, das im Mittelpunkt der negativen Entwicklung stand, wurde jedoch durch ein Schreiben der Landesfachgruppe fiir ökonomische Bildung im März 1979 an alle NRW-Ministerien und andere Organisationen weiterhin die Öffentlichkeit mobilisiert. Ein Interview des Vorsitzenden der DeGÖB im Westdeutschen Rundfunk unterstützte die Wirkung, da daraufhin der Landtagsabgeordnete Prof. Dr. Brüggemann am 16. Mai 1979 eine kleine Anfrage an den Landtag richtete. Reaktionen des Kultusministers waren aber nur in Form von Runderlassen und Verwaltungsverordnungen zu sehen, die zu den angesprochenen Problemen keinen Bezug hatten. Es kam im August 1979 noch zu einer weiteren kleinen Anfrage im Landtag durch den Abgeordneten Lemper. Auch diese hatte keine Wirkung auf das Kultusministerium; allerdings nahmen die Studienreformkommissionen Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaft beim Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes N R W von den Bemühungen Kenntnis und befanden die Regelungen des Kultusministers hinsichtlich der drei integrierten Fachdisziplinen als inkompatibel. 4 Zusätzlich muss man erwähnen, dass über diese bildungspolitischen Kämpfe hinaus die Mitglieder der DeGÖB weitere Eruptionen in der Bildungslandschaft zu bewältigen hatten: Es begann gleichzeitig die Auflösung der pädagogischen Hochschulen in N R W und anderen Ländern und ihre teilweise Überfuhrung in die Universitäten, da in den Pädagogischen Hochschulen nur die Ausbildung der Grund- und Hauptschullehrer erfolgte, während Realschul- und Gymnasiallehrer an den Universitäten ausgebildet wurden. Dies war begleitet von der Umstellung auf die Einteilung von Primär-, Sekundarstufe I- und Sekundarstufe II-Studiengängen.

3

4

Die Mitgliederversammlungen waren stets auch Arbeitstagungen. Jedes Jahr gab es eine oder zwei solcher Versammlungen. Da alle in dieser Phase von der DeGÖB vorgetragenen Argumente auch heute noch gültig sind, ist eine Einsichtnahme in die Dokumente zur „Biografié der DeGÖB" lohnend; auf Wunsch sind sie beim Verfasser erhältlich.

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Die dritte Mitgliederversammlung vom 27. bis 29. April 1979 in Berlin hatte als zentrales Thema die Harmonisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Studien für Lehrer an allgemeinbildenden Schulen mit Musterstudienplänen. Dem Vorsitzenden wurde auch die Aufgabe übertragen, den schon geplanten Informationsdienst einzurichten, auch um damit die Informationen über curriculare Entwicklungen zu verbessern. Daraufhin erschien die erste „BÖB-Info - Ökonomische Bildung" im Juli 1979 mit 60 Seiten. Gliederung: 1. Länderberichte, 2.Kurzinformationen 3. Literatur und Medien (von Mitgliedern), Sonstiges (Forschungsprojekte), Mitteilungen für die Mitglieder, Anlagen (Curriculare Lehrpläne aus Bayern). In der Folgezeit wurde in Form von zwei großen Untersuchungen - die das Wirtschaftsministerium N R W finanzierte - erhoben, wie es um die ökonomische Bildung aus der Sicht der Verbraucher in unserer Volkswirtschaft stand ( K r a f f t et al. 1975; Krafft et al. 1977). Ich zitiere einige Ergebnisse, um zu zeigen, was unsere Probleme waren: Es gab zu jener Zeit 11 Bundesländer. In den Realschulen der 11 Länder existierten 14 verschiedene Fachbezeichnungen für das, was nur oder auch „Wirtschaft" als Inhalt hatte. Bei einer Befragung der „Wirtschaft"-Lehrenden in den allgemeinbildenden Schulen wurde festgestellt, dass viele nicht einmal das Fach richtig benennen konnten, das sie unterrichteten. Zwei Prozent dieser Lehrenden, die Wirtschaftsunterricht an den Haupt- und Realschulen in N R W erteilten, kannten den Begriff „Lohnquote", sechs Prozent „Ersatzinvestitionen" und „Volkseinkommen" immerhin 20 Prozent. Natürlich war dieser Mangel nicht auf die Lehrer zurückzuführen; auch ich hätte bei einer Befragung zu Begriffen in der Musik nicht besser abgeschnitten, nach einer kriegsbedingten Schullaufbahn in 13 Schulen ohne Musikunterricht. Auf ihrer 4. Mitgliederversammlung vom 6. und 7. Oktober 1979 in Leverkusen hatte die DeGÖB aufgrund vieler Medienberichte das Interesse anderer Organisationen geweckt, so dass sich Kontakte zu Ministerien, Parteien, Gewerkschaften und Institutionen aus dem Bildungswesen und von Unternehmens- und Arbeitgeberseite ergaben. In Leverkusen war dadurch für die inzwischen 40 Mitglieder der DeGÖB die Möglichkeit gegeben, auch an einem am 4. und 5. Oktober stattfindenden Erfahrungsaustausch des Studienkreises Schule/Wirtschaft N R W teilzunehmen. Die 5. Mitgliederversammlung vom 16. und 17. Mai 1980 hatte im Gesamtdeutschen Studienwerk in Vlotho den Schwerpunkt zu curricularen Fragen von Sekundarstufe IStudiengängen als Hauptfach, Sekundarstufe I-Studiengängen als Nebenfach und Sekundarstufe II-Studiengängen, die in Arbeitsgruppen diskutiert und mit Rahmenempfehlungen abgeschlossen wurden. Es lohnt durchaus, die in diesen Tagen entstandenen Papiere zu sichten, um manche heutige Arbeit abzukürzen.

6.

Gemeinschaft stärken - Netzwerk schaffen

Die 6. Mitgliederversammlung war als Gemeinschaftsveranstaltung mit und beim Deutschen Gewerkschaftsbund für den 7. und 8. Oktober 1980 geplant. Leider kam Mitte September eine Absage mit der Bitte um Verschiebung in die Zeit nach März 1981. Kurzfristig wollte der Vorstand der DeGÖB keine Ersatzveranstaltung für den Herbst 1980 ansetzen, musste jedoch aus vereinsrechtlichen Gründen (Neuwahl) die Mitglie-

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Dietmar Krafft

derversammlung auf März 1981 verschieben. So fand die 6. Mitgliederversammlung am 27. und 28. März 1981 in Vlotho statt, bei der der Vorstand — bis auf den stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Kaiser - mit Prof. Weinbrenner als Stellvertreter wieder gewählt wurde. Der Vorsitzende konnte in dieser Versammlung eine Mitteilung des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr NRW verlesen, dass von ihm das Anliegen der Wiedereinführung des Faches Wirtschaftswissenschaft gegenüber dem Kultusminister nachhaltig vertreten wird. Gleichzeitig kam eine Nachricht des DGB-Bundesvorstandes, dass die 7. Mitgliederversammlung am 27. und 28. November 1981 in der Hans-Böckler-Schule in Hattingen stattfinden werde. Bei dieser Veranstaltung waren 13 Mitglieder aus dem DGBBundesvorstand (Abt. Bildung), Leitung DGB-Bundesschule, Leitung Hans-BöcklerSchule, Sozialakademie Dortmund, Akademie der Arbeit und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) anwesend. Es bestand weitgehend Einigkeit, dass die Förderung der Beschäftigung mit der Wirtschafts- und Arbeitswelt im allgemeinbildenden Schulwesen ein Anliegen aller gesellschaftlichen Gruppen sein muss. Mit dem Leiter der Abteilung Bildung im Bundesvorstand, Horst Kowalak, wurde der Adressenaustausch zwischen den Mitgliedern der DeGÖB und den Arbeitskreisen SchuleGewerkschaft vorgenommen, um weiterhin unser gemeinsames Anliegen zu verfolgen: Beseitigung von Mängeln im Wirtschaftsalltag auf Grund unzulänglicher ökonomischer Bildung der Bevölkerung. Während die 8. Mitgliederversammlung vom 7. und 8. Mai 1982 in Bad Oeynhausen die Problemkreise „Ökonomische Bildung und Arbeitslehre" sowie „Ökonomische Bildung und Sozialwissenschaften" in zwei Arbeitsgruppen behandelte und in erster Linie der internen Harmonisierung der Länderkonzepte diente, fand die 9. Mitgliederversammlung vom 30. September bis zum 2. Oktober 1982 in Nürnberg/Fürth wiederum als kooperative Fachtagung, dieses Mal mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, statt. Sie wurde von Betriebserkundungen bei Quelle und Grundig umrahmt. Unter dem Motto „Übergang von der Schule in das Beschäftigungssystem" beteiligten sich aus der Bundesvereinigung Dr. Himmelreich (Hauptgeschäftsführer), Dr. Juraschek (GF Bildungspolitik), Dr. Siegers (GF Arbeitsmarkt, Berufsbildung) und Dipl.-Soz. Alexander Koch (Vorstand Grundig AG). Es gab bei dieser Mitgliederversammlung auch eine Wahl des Vorstandes der DeGÖB, bei der nur der stellvertretende Vorsitzende, Prof. Weinbrenner, durch Prof. Käseborn abgelöst wurde, während die anderen Vorstandsmitglieder bestätigt wurden. Die 10. Mitgliederversammlung vom 6. und 7. Mai 1983 in Schwerte hatte wiederum ein ganz auf interne Abstimmung ausgelegtes Problem zum Inhalt, die didaktische Verarbeitung des Bereichs „Gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge", zu der fünf unserer Mitglieder vorbereitete Diskussionsimpulse gaben (Friedrich, Dörge, Groth, Kruber, Steinmann). Organisatorisch wurde zum ersten Mal das Thema „Beirat" aus unserer Satzung angesprochen. Auslöser war ein Antrag der Stiftung Verbraucherinstitut zur Aufnahme als Mitglied. Auch wenn die Satzung bei weiter Auslegung es ermöglicht hätte, wurde der

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Antrag von den Mitgliedern abgelehnt und der Vorstand aufgefordert, in einem solchen Fall den Beirat zu aktivieren. Dies geschah auch im folgenden Jahr. Zuvor fand jedoch die 11. Mitgliederversammlung vom 6. bis 9. Oktober 1983 in Freiburg statt, die das Thema „Zukunft der Lehrerausbildung" in den Mittelpunkt stellte. Die DeGÖB war inzwischen auf 58 Mitglieder angewachsen. Die nächste Tagung war verbunden mit der 12. Mitgliederversammlung vom 4. bis 5. Mai 1984 in Etelsen, bei der über die „Ökonomische Bildung in S II" - auch unter Bezug auf eine empirische Arbeit hierzu (Kortum 1983) - diskutiert wurde. Der Vorstand konnte den Mitgliedern auch mitteilen, dass inzwischen der Beirat mit drei Mitgliedern besetzt ist, die in Zukunft an den Veranstaltungen teilnehmen: Dr. Helmut Keim (Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände), Günther Rosenberger (Stiftung Verbraucherinstitut) und Dr. Hermann Adam (Bund-Verlag des DGB).

7.

„Neue Technologien" prägen die Fachtagungen Im Folgenden wird eine kurze Übersicht über die Fachtagungen gegeben:

— Die ökonomisch-technologische Entwicklung, eines der Gründungsmotive der DeGÖB, zeigte sich deutlich bei der Ausweitung des Netzwerkes im Rahmen der 13. Mitgliederversammlung vom 4. bis 6. Oktober 1984 in Baierbrunn/München, Thema: „Qualifikationsanforderungen durch Neue Technologien - Mikroelektronik in Unterricht und Lehrerbildung". — Die 14. Mitgliederversammlung vom 25. bis 27. Februar 1985 in Steinheim bot eine breite Palette zum Gebiet „Arbeitswelt und Schule von morgen". Nach Referaten von Prof. Dr. Zander (Reemtsma), Emst Kiel (Präsident des deutschen Lehrerverbandes) und Dr. Graf (Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Schule/Wirtschaft) waren Gespräche mit Ausbildungsleitern von Firmen wie Stihl, WMF, Kodak und Mann-Hummel möglich. Außerdem war auf der Didacta in Stuttgart zum obigen Thema auch die DeGÖB mit Arbeiten der Mitglieder wie Schulfernsehen, Lernbüro, Schulbüchern u.a.m. beteiligt. — Bei der 15. Mitgliederversammlung vom 1. und 2. November 1985 in Vlotho vertieften wir noch einmal das Thema „Neue Technologien" mit dem Fokus auf die Einsatzmöglichkeiten in der Sekundarstufe I. — Auch bei der 16. Mitgliederversammlung vom 1. bis 3. Mai 1986 in Wünnenberg/Paderborn, dem Standort von Nixdorf, ging es um Computer im Unterricht. Gleichzeitig konnten wir jedoch das Memorandum „Wirtschaftlicher Wandel und der Bildungsauftrag des Gymnasiums" verabschieden. — Die Anwendung der neuen Technologien im Bereich des Lehr- und Ausbildungsmaterials war auch Gegenstand bei der 17. Mitgliederversammlung vom 13. zum 15. November 1986 in Berlin, wo der Kontakt zur Stiftung Verbraucherinstitut mit einem Besuch einbezogen werden konnte. Außerdem war die Planung der Beteiligung an der Didacta 1987 Thema der Veranstaltung. Die DeGÖB war dann im Frühjahr 1987 mit verschiedenartigen Medien und Referaten an einem eigenen Stand vertreten.

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Dietmar Krafft

— Auf der 18. Mitgliederversammlung vom 8. bis 10.Mai 1987 in Oldenburg stand die Lehreraus- und -Weiterbildung im Mittelpunkt, zu der Prof. Kaminski auch Reg. Dir. Wolfgang Masch vom Kultusministerium NDS als Referenten eingeladen hatte. Die Vorbereitung einer gemeinsamen Tagung mit der Deutschen Vereinigung für politische Bildung wurde dem Vorstand empfohlen. Bei der Wahl zum Vorstand schied unser langjähriges Mitglied Dr. Neugebauer aus, und an seiner Stelle kam Prof. Albers in den Vorstand. Die anderen Vorstandsmitglieder wurden bestätigt. Außerdem hatte der Vorstand Joachim Koch-Bantz, Bundesvorstand DGB, Referatsleiter Allgemeinbildung, neu in den Beirat der DeGÖB berufen, die Mitgliedschaft der anderen Beiräte wurde um drei Jahre verlängert. — Die 19. Mitgliederversammlung vom 12. bis 14. November 1987 in Neckarsulm hatte das Thema „Neue Technologien in Beruf und Ausbildung" zum Inhalt, was durch eine Kooperation mit Audi/NSU sehr praxisnah demonstriert wurde. Vollautomatische Fertigung, digitale Bürokommunikation, CNC-Ausbildung und computergestützte Schulung standen zur Ansicht.

8.

Zehn Jahre DeGÖB - und kein Ende

Die 20. Mitgliederversammlung fand am 3. und 4. Juni 1988, genau 10 Jahre nach der Gründung der DeGÖB, in Düsseldorf mit einer wirklichen Jubiläumsfeier in der Industrie- und Handelskammer statt. Der Hauptgeschäftsführer, Herr Ass. U. Kreplin, begrüßte die 75 Teilnehmer der Veranstaltung, und der Vorsitzende der DeGÖB motivierte seine Kollegen, nicht in den Bemühungen nachzulassen, die verkrustete Bildungsbürokratie aufzubrechen. Als Beispiele aus zehn Jahren Innovationshemmung seien genannt: —

Hochschullehrer ohne Aufgabenbereich



Ökonomielehrer ohne Ausbildung



Lehrerfortbildung durch Autodidakten.5

Mit dem Jubiläum verbunden war eine wirkliche Innovation der DeGÖB: Der Jubiläumsband „Ökonomische Bildung - Aufgabe für die Zukunft" (Bundesfachgruppe für ökonomische Bildung 1988) mit Beiträgen von 20 Mitgliedern wurde als erster von inzwischen 21 Bänden, die von der DeGÖB erschienen sind, zu diesem Termin veröffentlicht. Natürlich ist mit diesem Jubiläum weder die Geschichte der DeGÖB beendet noch die Gegenwart erreicht. Zwei Umstände hindern mich daran, das Werk zu vollenden. Zum einen habe ich bei diesem Beitrag zur Festschrift des 60. Jahres meines Freundes Hans Jürgen eine rigide Seitenbeschränkung, zum anderen fehlen mir die historischen Unterlagen für die weitere Bearbeitung, weil meine Zeit als Vorsitzender der Bundesfachgruppe für ökonomische Bildung e. V. drei Jahre nach dem Jubiläum endete.6 Das 5 6

Vgl. o.K (1988). Die weiteren Vorsitzenden waren Jürgen Albers (6/1991-3/1995), Klaus-Peter Kruber (3/1995-3/1999), Hans-Jürgen Schlösser (3/1999-3/2003), Bernd O. Weitz (3/2003-3/2005), Günther Seeber (3/2005-3/2009) und Thomas Retzmann (3/2009-heute).

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Jubiläum schien mir daher ein guter Abschluss für meinen Bericht. Ob, wie und wo die Unterlagen weiterhin bearbeitet und gespeichert wurden, weiß ich nicht. Sollte ich sie auftreiben, würde ich eine Fortsetzung beisteuern - vielleicht in der nächsten Festschrift für Hans Jürgen Schlösser ...

Literatur Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1964), Empfehlungen und Gutachten, Folge 7/8, Stuttgart. Kortum, Dieter (1983), Das Fach Wirtschaftslehre im Unterricht der neugestalteten Gymnasialen Oberstufe und in der Lehrerausbildung an der Universität unter besonderer Berücksichtigung des betrieblichen Rechnungswesens, Diss. Bremen. Kraffl, Dietmar (1981), Ökonomische Bildung für die Gesellschaft von morgen, in: Wie man eine Gesellschaft ruiniert, Köln, S. 7-26. Krafft, Dietmar et al. (1975), Verbrauchererziehung an den Hauptschulen in NordrheinWestfalen - eine Analyse -, Untersuchung im Auftrag des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes NRW, (Kurzfassung und 3 Bände), Düsseldorf. Krafft, Dietmar et al. (1977), Verbrauchererziehung an den Realschulen und Gymnasien des Landes NRW - eine Analyse-, Untersuchung im Auftrag des Ministers für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes NRW durch Prof. Dr. Dietmar Krafft (Kurzfassung und 2 Bde.), Düsseldorf. o.V. (1988), Die verkrustete Bürokratie verhindert Innovationen, in: Handelsblatt vom 6. Juni 1988, S. 6. Piaton (o.J.), Politeia, 2. Buch, http://www.opera-platonis.de/Politeia2.html (abgerufen am 6. Juli 2012). Servan-Schreiber, Jean-Jacques (1968), Die amerikanische Herausforderung, Hamburg. Temming, Andrea (2012), Marketing für eine Bildungsidee, in Arbeit. Timmermann, Johannes (1976), Bemerkungen zum Wirtschaftsiemen in den deutschen Schulen seit der Aufklärung, in: Wilfried Neugebauer (Hg.), Fachdidaktisches Studium in der Lehrerbildung - Wirtschaft 1, München, S. 43-74.

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Welche und wie viel ökonomische Bildung braucht man für die Soziale Marktwirtschaft?

Bernd Remmele

Inhalt 1.

Einleitung

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2.

Ökonomie und Religion

103

3.

Was muss ich wissen?

105

4.

Warum soll ich wissen?

107

5.

Was kann ich wissen?

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Literatur

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1.

Bernd Renimele

Einleitung

Die Frage, welche und wie viel ökonomische Bildung man in einer Sozialen Marktwirtschaft haben muss bzw. haben sollte, richtet sich insbesondere auf die Kenntnisse und Fertigkeiten von Erwachsenen, da diese in relevanter Form an der betreffenden Gesellschaft teilnehmen. Wenn man sich für Erwachsene interessiert, ist der Blick auf das Problem häufig dadurch verdeckt, dass diese vorher Kinder und Jugendliche waren und so in die Gesellschaft hineingewachsen sind. Hierdurch bleibt vieles implizit. Weder wird völlig klar, worin die Anforderungen insgesamt bestehen (und ob dies organisiertes Lernen erfordert), noch wird hinreichend problematisch, ob man diese Kompetenzen dann berechtigterweise auch erwarten darf. Analytisch hilfreich wäre daher eine Blickverschiebung. Eine solche Verschiebung ergibt sich etwa, wenn man zwei Gesellschaften miteinander vergleicht. Nicht umsonst ist die soziologische Kontrasterfahrung von Erwachsenen im Rahmen von ,Reiseliteratur' besonders spannend und gegebenenfalls aufschlussreich. Das reicht von literarischen Formen, wie Montesquieus ,Persischen Briefen', Swifts ,Gullivers Reisen' oder Science Fiction bis zu historischen und ethnographischen Berichten. Es geht um die ,Reise' von einer Kultur in eine andere. Bei einem Teil der Reisen geht die Bewegung darüber hinaus noch von einer (ursprünglichen) Natur in die Kultur - oder umgekehrt. Dort wo diese zivilisatorische Neu- oder Deplatzierung im Kern steht, haben wir aus bildungstheoretischer Perspektive besonders interessante Geschichten, da hier auch ein möglicher Entwicklungs- bzw. Bildungsverlauf thematisch wird. Ein solcher Kontrast kann uns daher helfen, einen ersten Ansatzpunkt für unsere Ausgangsfrage zu erhalten. Einer der bekanntesten und interessantesten Fälle eines - scheinbar - in die Kultur bzw. Gesellschaft geworfenen Menschen ist Kaspar Hauser (der übrigens in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden wäre). Die Ausgangsfrage ließe sich daher umformulieren: Was müsste Kaspar Hauser (oder ein anderer kulturell weit migrierter) über die Soziale Marktwirtschaft wissen, um ,entsprechend' bei uns leben zu können. (Dieser Frage folgt die andere - hier aber nicht weiter verfolgte - direkt auf dem Fuße: Was davon und wie könnte man ihm dies beibringen?) Es könnte sich hierbei unter Umständen auch zeigen, dass Kaspar Hauser das bessere Paradigma zum Einstieg ins .Wirtschaften' darstellt als der übliche Robinson (ohne Freitag). Denn das von letzterem dargestellte solipsistische Wirtschaftsmodell passt nur sehr bedingt in eine Soziale Marktwirtschaft. Kaspar Hauser, der in existentieller Abhängigkeit in seine neue gesellschaftliche Umgebung tritt, macht dagegen deutlich, dass zuerst spezifische interpersonale Bedingungen geschaffen sein müssen, um am komplexen sozialen Verkehr teilzunehmen. Ohne lange Reise fallt nicht auf, dass man sich in einem Sammelsurium von Institutionen bewegt, da man in diese einfach hineingewachsen ist. Luhmann (1988, S. 64 f.) hebt ferner darauf ab, dass erst die Auseinandersetzung der intertemporalen Präferenzen von ego mit denen von alter zu eigentlicher Knappheit fuhrt. Was kann man nun in einem lediglich ersten Schritt aus der Geschichte von Kaspar Hauser für unser Problem lernen? Das Wissen um die Ökonomie stand für die Betreuer

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Kaspar Hausers nicht im Fokus. Dagegen sorgte man sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch mehr um unsere Seelen. Entsprechend finden sich in deren Darstellungen (vgl. Feuerbach 1995; Daumer 1995) verschiedene Anekdoten, wie versucht wurde, Kaspar Hauser Gott und die Religion nahe zu bringen. Kaspar Hauser soll etwas über Religion lernen, aber er macht mehrfach deutlich, dass er keine Geistlichen mag. Einmal erzählt er davon, wie vier von ihnen ihn „gepeinigt" hätten, u. a. dadurch dass sie behauptet haben, Gott habe alles aus Nichts geschaffen. Kaspar Hauser berichtet von seiner Einlassung: „... wenn er etwas machen wolle, so müsse er etwas haben, woraus er es mache, er könne nicht begreifen, wie Gott etwas aus nichts habe machen können, sie möchten ihm sagen, wie das zugegangen. Darauf hätten sie zusammen eine Zeitlang geschwiegen und dann miteinander zu reden angefangen, so das er nun gar nichts mehr hätte unterscheiden und verstehen können." (Daumer 1995, S. 167) Der Versuch, komplexe Sachverhalte zu vermitteln, kann bei den Adressaten zu Frustrationen führen. Über Kaspar Hausers Reaktionen auf avanciertere christliche Denksportaufgaben, wie etwa die Dreieinigkeit oder die Erlösung durch das Kreuz, erfahren wir leider nichts. Im Anschluss an eine eher formale Analyse der relativen Ähnlichkeit von Ökonomie und Religion im Hinblick auf unser Problem werden wir uns dann mit den eher inhaltlichen Fragen beschäftigen, um uns ein wenig Orientierung im Kontext unseres Problems zu verschaffen: Was muss, warum soll, was kann ich wissen?

2.

Ökonomie und Religion

Von Kaspar Hausers Konflikt mit der etablierten Religion lässt sich durchaus etwas auf unser Problem übertragen, denn - ganz unabhängig von dem vielfachen Hinweis, dass Kredit von Glauben kommt - die Ökonomie nimmt heute eine vergleichbar gesellschaftsprägende und entsprechend legitimierende Stellung im öffentlichen Diskurs ein wie früher die Religion. So löst sie die Religion insbesondere als Orientierungsfeld gesellschaftlicher Moral ab (vgl. Luhmann 1988, S. 184 ff.). Es erscheint daher berechtigt, dass ebenso wie von Kaspar Hauser religiöse Bildung verlangt wurde, von unseren heutigen Mitbürgern zu verlangen, dass sie sich mit ,der Wirtschaft' und ihrer gesellschaftlichen Verankerung (in Baden-Württemberg genießen sowohl der Religions- wie der Gemeinschaftskundeunterricht Verfassungsrang) auskennen und diese gegebenenfalls auch akzeptieren. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass Religion und Wissenschaft - insbesondere, was die Letztbegründung betrifft - auf grundlegend anderen Argumentationsstrukturen aufbauen: einerseits eine emanative und andererseits eine explanative (vgl. Dux 1982). Dennoch stehen sie vor ähnlichen Anforderungen der Sinngenerierung, die z. T. ähnliche Antworten zur Folge haben (vgl. z. B. Akerlof und Shiller 2009, S. 84 ff.; Sedldcek 20\2, S. 16 ff.). Ein erster analoger Aspekt von Religion damals und Wirtschaft heute ist die enge Verknüpfung der kognitiven und der affektiven Dimension, d. h., welche Lemzielbereiche eigentlich angesprochen sind und wie diese zueinander stehen. Ein zweiter daran anknüpfender Aspekt ist das Verhältnis von Laien und Experten.

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Bernd Remmele

Die soziale Relevanz und damit auch ein zentrales Problem der Legitimation ökonomischen Wissens ergeben sich aus der engen Verknüpfung der kognitiven und der affektiven (Lernziel-)Dimension, die sich in den beiden verwandten Bereichen zeigen: man muss etwas über die geltende Religion/Wirtschaftsordnung wissen, um an ihr sinnvoll partizipieren zu können, man ist aber auch dazu aufgefordert, sie - notfalls gegen Logik und Erfahrung - als legitim anzuerkennen. Allerdings kann man mit etwas Recht sagen, dass sich Religion und Marktwirtschaft im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Vernunft eher umgekehrt verhalten. Während für die Religion das Verhältnis von Glauben und Vernunft mit der zunehmenden Modernisierung immer mehr zum Konflikt wurde, scheint mehr Wissen über die (Soziale) Marktwirtschaft deren Akzeptanz nicht entgegenzustehen - im Gegenteil, die Akzeptanz scheint zu steigen (vgl. Seeber und Remmele 2009). Ökonomische Bildung hat hier also im Ganzen gegenüber der religiösen einen kleinen Vorteil. Im Detail bleibt die Problematik aber bestehen, das heißt, hier können angesichts der gegebenen Komplexität regelmäßig Widersprüche auftauchen. Man darf annehmen, dass gerade diese inhärente Spannung aus (partieller) Unbegreiflichkeit und Anerkennungsanspruch im religiösen und ökonomischen Wissen dazu nötigt, dieses Wissen durch den spezifischen Status von Experten zu stützen bzw. zu beglaubigen. So oder so kann hier eine einfache Unterteilung möglicher Expertise Anwendung finden: — Der unwissende Laie (oder Novize), dem bestimmte Wissensinhalte nichts sagen, d. h., er kann sie nicht an vorhandenes Wissen anschließen, oder er kann sie nicht auf das erforderliche Abstraktionsniveau heben. Kaspar Hauser verweist etwa auf den Mangel an empirischem Bezug der theologischen Begriffe; auch ökonomische Laien tun sich häufig schwer, abstrakten fachwissenschaftlichen Argumentationen zu folgen, die ihren persönlichen Erfahrungen widersprechen. — Der informierte Laie, der wesentliche Inhalte kennt und gewohnheitsmäßig akzeptiert, aber ohne deren theoretischen Kern systematisch erfasst zu haben - z. B. der Kirchenbesucher, der die wesentlichen Glaubensätze kennt, aber ohne deren eschatologische Hintergründe tiefergehend zu verstehen bzw. erläutern zu können; oder der Zeitungsleser, der aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen mit Hilfe anschlussfähigen Grundwissens verfolgt, aber nur sehr limitiert Zusammenhänge erkennt (und z. B. erfolgreich für seine eigene Anlagestrategie nutzen kann). — Der Experte (bzw. die sich nicht selten uneinigen Experten), dem es gelingt die jeweilige Begriffswelt systematisch zu durchwandern, zu erweitern und dabei gegebenenfalls auch (neu justierte) Erfahrungsbezüge herzustellen - möglicherweise die von Kaspar Hauser erwähnten Geistlichen, generell die (z. T. wenig geliebten) tertiär Gebildeten (und die ,Geschäftemacher'). Sowenig man einzelne Mitglieder einer Religionsgemeinschaft oder einer demokratischen Gesellschaft als unwissende Laien , zurücklassen' möchte, sowenig kann es Ziel sein und sowenig ist es möglich, jeden zum Experten zu machen. Wie nun aber Informiertheit und Laienhaftigkeit in Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft auszutarieren sind, ist damit natürlich nicht geklärt. Vor diesem formalen Hintergrund und der gesellschaftlichen Dynamik kann es nun aber nicht darum gehen, eine endgültig austarierte Liste an Kompetenzen zu entwickeln. Vielmehr bedarf es Kriterien, um zu entscheiden,

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a) was man sinnvollerweise wissen/können sollte, b) warum man dies berechtigterweise wissen/können sollte, und c) was man innerhalb eines Laienrahmens lernen kann.

3.

Was muss ich wissen?

Eine einfache und beständige Antwort auf die Frage, was man zur Erlangung der Laienpriesterschaft in Sozialer Marktwirtschaft wissen und können muss, gibt es nicht (vgl. Klein und Stanik 2009, S. 1). Eine zeitlos gültige Offenbarung kann es nicht geben, insofern sich die Anforderungen dauerhaft wandeln. Aber die Frage lässt sich eingrenzen, zum einen von der subjektiven Seite und zum anderen von der situativen Seite (mit Blick auf die gängigen drei ökonomisch geprägten Lebenssituationen') her. Was die allgemeine inhaltliche Referenzgröße .Soziale Marktwirtschaft' betrifft, kann es hier nicht darum gehen, die Diskussionen über das Für und Wider einzelner Instrumente der Sozial- und Ordnungspolitik im Hinblick auf ihre Rolle für eine Soziale Marktwirtschaft nachzuvollziehen. Wenn Soziale Marktwirtschaft aber ein Konzept sein soll, das nicht nur zwei (sich mehr oder weniger widersprechende) Terme zusammenfügt, sondern Eigenständigkeit für sich beansprucht, dann besteht der Kern dieses Konzeptes darin, dass ,das Soziale' und ,der Markt' nicht gegeneinander sondern füreinander gesetzt werden (vgl. z. B. Miiller-Armack 1947). Unter anderem soll einerseits die soziale Sicherung oder die Schaffung individuell angemessener Bildungschancen eine effizientere Beteiligung der einzelnen am Marktgeschehen erlauben, und andererseits soll der regulatorisch funktionsfähig gehaltene Markt mehr Wohlstand für alle generieren als alternative Wirtschafts Verfassungen. Diese wechselseitige Verknüpfung hat Konsequenzen für die Orientierung adäquater Bildungsziele. Zuerst geht es um Freiheit im Sinne einer Maximierung der (wünschenswerten) Handlungsmöglichkeiten. Eine solche Autonomie meint wiederum nicht nur Handlungsfähigkeit im individuellen und situativen Sinne, sondern auch Handlungsbereitschaft. Diese komplexe Spannung impliziert ein spezifisches Wissen und ein Maß an Anerkennung in Hinsicht auf die gesellschaftliche Ordnung, die erst die Verwirklichung der Freiheit ermöglicht. Denn Freiheit kann zumindest unter modernen Bedingungen nur gewährleistet werden durch „die Entwicklung der Verhältnisse, die durch die Idee der Freiheit notwendig, und daher wirklich in ihrem Umfange, im Staat sind" {Hegel 1821, § 148). Nun zeichnet sich die marktwirtschaftliche Ordnung gerade dadurch aus, dass sie als solche gerade nicht bzw. nur partiell gesetzt ist; sie bildet sich ,spontan' durch (freien) Wettbewerb im Rahmen anderer, z. T. gesetzter, Ordnungen. Diese Ordnungsdifferenz ist damit - wenig erstaunlich - ein erster (harter) Brocken, der gewusst und akzeptiert werden müsste. Freiheit in einem diese gewährenden sozialen Rahmen setzt beim Einzelnen ein Maß an Handlungsrationalität, d. h. einer nachvollziehbaren Wahl von Zwecken und dazu gehörigen Mitteln, voraus. Es müssen einerseits relevante Regeln und Institutionen gekannt (und mit deren verbreiteten Einhaltung gerechnet) werden. Die Bindung von Rationalität an Nachvollziehbarkeit (vgl. Popper 2005) impliziert andererseits ein wechselseitiges Verständnis, d. h. auch eine adäquate intersubjektive Perspektivenübernahme. Sowohl zur Wahl der für einen selbst hinreichend guten Lösung, als auch um das

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Funktionieren entsprechender Institutionen zu gewährleisten (vgl. Jappelli 2010, S. 6), bedarf es weiterer (bei in eine Gesellschaft hinein sozialisierten Personen häufig impliziten) Wissensbrocken über relevante Handlungszusammenhänge und Institutionen, um einerseits die eigenen Zwecke sinnvoll zu erreichen sowie andererseits die Entscheidungen der Anderen beurteilen zu können. Diese thematische Dreiteilung: System/Ordnung, rationale Entscheidung/Handlung, Beziehung/Interaktion (vgl. Seeber et al. 2012, S. 86 ff.), kann durch den Begriff der Effizienz noch weiter auf das Ökonomische hin fokussiert werden. Auf der Ebene der möglichst autonomen rationalen Handlung ist dies weitgehend evident, insofern es hier darum geht, dass von dem handelnden Individuum das ökonomische Prinzip beachtet wird: Das Individuum strebt an, gegebene Ziele mit minimalem Aufwand zu erreichen bzw. die ihm zur Verfugung stehenden Mittel so einsetzen, dass daraus ein maximaler Zielerreichungsgrad resultiert. Auf der Ebene der Strukturierung von intersubjektiven Austauschbeziehungen geht es darum, nicht nur den eigenen Vorteil, sondern stets auch die Perspektive des bzw. der Anderen systematisch in die Überlegungen einzubeziehen, um etwa mögliche Kooperationschancen besser beurteilen zu können. Auch aus nichtteilnehmender Perspektive sollten wirtschaftliche Transaktionen und Beziehungen dahingehend beurteilt werden können, welche Konsequenzen für alle Beteiligten und Betroffenen resultieren. Auf der systemischen Ordnungsebene rückt die gesamtwirtschaftliche Effizienz der Ressourcenallokation in den Blick. Es geht darum, bestimmen zu können, ob etwa Marktprozesse im Rahmen der jeweiligen Ordnung die allgemein gewünschten Ziele in hinreichend satisfizierender Form erreichen (vgl. Seeber et al. 2012, S. 72 f.). Diese abstrakte Differenzierung subjektiver Dispositionsbereiche muss zur Klärung, was man wissen muss, auf konkrete Gegebenheiten hin entfaltet werden. Eine entsprechende Differenzierung von ökonomisch relevanten Situationstypen bietet die fast schon klassische wirtschafitsdidaktische Unterteilung in drei ökonomische geprägte Lebenssituationen: Einkommensverwendung, Einkommensentstehung und wirtschaftsbürgerliche Beteiligung (vgl. insbesondere Steinmann 1997). Die Explikation dieser Matrix aus Dispositionen und Situationen würde hier zu weit fuhren (Seeber et al. 2012; Remmele et al. 2012), kriteriell lässt sich unser Problem aber noch weiter eingrenzen. Denn wenn es um die Frage geht, was man wissen muss, heißt das letztlich, dass es jeder wissen muss. So wird etwa klar, dass wenn man die Frage heute stellt, im Kern des zu Wissenden die Verbraucherbildung steht. Weil unter heutigen Bedingungen Selbstversorgung die absolute Ausnahme darstellt, sind alle gezwungen, die Mittel zur eigenen Lebensführung über Märkte, und d. h. mit Geld, zu erwerben. Die Frage, wie und für was man Geld (in seinen aktuellen Aggregatformen) sinnvoll ausgibt, betrifft somit jeden, der nicht von anderen vollständig abhängig ist bzw. sein will. Man muss hier also über ein hinreichendes Wissen verfugen, um sein Leben autonom fuhren zu können (Remmele et al. 2012). Demgegenüber ist der Aspekt, wie man Einkommen generiert, wie man sinnvoll an Geld kommt, nicht in derselben Weise von allgemeiner Relevanz. Neben Kindern gibt es noch eine Reihe anderer Personengruppen, die nicht selbst für ihr Einkommen sor-

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gen, sondern - zu Recht - von innerfamiliären oder staatlichen Transferleistungen leben. Auch dieses Wissen ist aber entsprechend gesellschaftlich hoch spezifisch. So wird, wer im Wald von Beeren und Pilzen gelebt hat oder regelmäßig Brot in sein Kellerverlies geworfen bekam, nicht direkt verstehen, dass Arbeit in Form von Lohnarbeit oder Mitarbeit in einem größeren Haushalt geleistet werden kann oder muss, um seine Existenz zu sichern. Mit Blick auf die Soziale Marktwirtschaft hat auch der Wirtschaftsbürger eine allgemeine Dimension. Auch wenn ,das Soziale' und ,der Markt' hier nicht von vornherein als konfligierend entgegengesetzt sind, so heißt dies nicht, dass entsprechende Konflikte nicht notwendigerweise und laufend entstehen würden. Dem Wirtschaftsbürger obliegt es daher, mit diesen Konflikten umzugehen und sie gegebenenfalls zu entscheiden oder sie zu ignorieren. So ist es zwar ein wesentlicher Aspekt einer freiheitlichen Gesellschaft, ihre Mitglieder nicht zu bestimmten Formen der politischen Partizipation zu zwingen; das (implizite) Bewusstsein für bestimmte Rechte, wie das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, obwohl man gegebenenfalls von den Anderen abhängt, muss sich dazu aber schon entwickelt haben. Ein solches Bewusstsein ist sicher nicht in jedem anderen gesellschaftlichen Kontext zuhause. Auch Ignoranz will gelernt sein.

4.

Warum soll ich wissen?

Insbesondere mit den Anforderungen an wirtschaftsbürgerliche Bildung ist man direkt auf die Frage nach der Legitimation, warum man etwas wissen soll, verwiesen. In einem sozialwissenschaftlichen Rahmen - in anderen wohl auch - genügt es nicht, Bildungserwartungen aus konkreten Anforderungen abzuleiten. Es wäre eine Art naturalistischer Fehlschluss, aus gesellschaftlichen Gegebenheiten Bildungsziele direkt folgen zu lassen. Gerade auch angesichts der oben erwähnten Verknüpfung von kognitiven und affektiven Komponenten ist es vielmehr erforderlich, die jeweiligen Rechtfertigungszusammenhänge mit Blick auf ihre individuelle und soziale Relevanz transparent (und kritikfähig) zu machen. Wenn Bildung dazu dient, eine demokratische Gesellschaft und die Autonomie der Bürger aufrecht zu erhalten, dann müssen die Bildungserwartungen legitimierbar sein, denn sonst laufen sie Gefahr, dem demokratischen Grundprinzip der (potenziellen) Zustimmungsfähigkeit zu widersprechen. Dem gegebenen Rahmen entsprechend muss sich eine Rechtfertigung daher an der Gewährleistung individueller Freiheiten im Rahmen einer soziale Ideale garantierenden Ordnung orientieren. Legitim ist (ökonomische) Bildung, wenn sie „to highly valued outcomes at the individual and societal levels in terms of an overall successful life and a well-fiinctioning society" (Rychen 2003, S. 66) führt. Abgesehen von diesen allgemeinen Überlegungen, würde eine rein empiristische Anforderungsanalyse auch dazu verleiten, ein wichtiges Element ökonomischer Bildung zu vernachlässigen, nämlich wie hoch - aus sozio-politischer Perspektive - die Opportunitätskosten einer bildungsbezogenen Reaktion sind, d. h., ob regulatorische Eingriffe, die auf gesamtwirtschaftliche Effizienz und nicht auf die zum Teil sehr schwierige persönliche Entfaltung abzielen, nicht besser wären (z. B. Schwartz 2010; Willis 2008). Erst

108

Bernd Renimele

die auch normativ angeleitete Reflektion über Alternativen kann zu einem gesellschaftlich vertretbaren Ergebnis kommen. Insgesamt heißt das aber nicht, dass sich Legitimationen nicht auch auf empirische Evidenzen beziehen können. Für die ökonomische Bildung wären etwa zu nennen: die komplexer werdende Warenwelt, die zunehmende Erfordernis privater Vorsorge, die zunehmende Bedeutung von Neben- und Zuerwerb (vgl. z. B. Piorkowsky und Bürkin 2011) oder die zunehmende Einkommensspreizung. Aber ob und wie solche konkreten Gegebenheiten auch in - wie auch immer organisational zu unterfutternde - Bildungserwartungen transformiert werden, ist normativ begründungsbedürftig. „The general issue - that capacities are required to lead a meaningful and successful life pertains to normative and cognitive reflection" (Canto-Sperber und Dupuy 2001, S. 78). Neben der praktischen Relevanz hängt die normative Reflexions- und Begründungsleistung in der (doppelt-hermeneutischen) Luft der diskursiven Anschlussfahigkeit. So ist etwa die ,Geldgesellschaft' - oder wie man sie nennen möchte (vgl. z. B. Paul 2012; Reifner 2010) - einerseits ein bedeutsamer sozialer Konstruktions- bzw. Interpretationsprozess, an dem sich verschiedene politische und moralisch-ethische Debatten entzünden. Andererseits verwenden wir alle Geld in unserem täglichen Leben, so dass, wie erwähnt, eine autonome Lebensgestaltung von entsprechenden Kompetenzen abhängt. Vor diesem Hintergrund lässt sich rechtfertigen, dass eine spezifische Auseinandersetzung mit ,Geld' und seinen Konsequenzen Teil ökonomischer Bildung sein muss. Weitere geläufige Argumentationen lassen sich für weitere Felder finden: konsumieren in der Konsumgesellschaft' und damit zusammenhängend nachhaltig mit Ressourcen umgehen. Zu klären wäre auch die Frage, welche Rolle die ,Wissensgesellschaft' und mit ihr die zunehmende Ökonomisierung von Wissen, lebenslange Bildungsbemühungen oder die Nutzung immaterieller Güter für die ökonomische Bildung spielt bzw. spielen wird (vgl. Remmele et al. 2012). Die Legitimität von Bildungsanforderungen in der ökonomischen Domäne ist abhängig von der Relevanz bestimmter wirtschaftlicher Handlungs- und Entscheidungsfelder sowie von meist an diese Felder anschließenden gesellschaftlichen Reflexionsbemühungen. Diese Felder müssten dann wiederum anhand der Bestimmungsgrößen der Sozialen Marktwirtschaft und wie man praktisch an ihr partizipiert, gebrochen werden. Nicht alles Wissen nützt.

5.

Was kann ich wissen?

Nicht alles Wissen, das nützt, ist einfach zu lernen. Auch der obige Hinweis auf die mit Bildung verknüpften Aufwände deutet auf ein allgemeineres Problem hin, dem sich das Laienpriestertum der Sozialen Marktwirtschaft gegenübersieht. Gerade bei der Entwicklung ökonomischen Wissens handelt es sich häufig nicht nur um einen kontinuierlichen Wissensaufwuchs durch Hinzufügung neuer Teile zu einer homogenen Wissensmenge. Vielmehr sind, was z. B. Konzepte wie Opportunitätskosten oder Intertemporalität oder allgemein das Systemverständnis betrifft, strukturelle Entwicklungen erforderlich. Damit verknüpft ist ein zentrales Problem der ökonomischen Bildung: das vom einzelnen Handeln bzw. Handlungserfahrung unabhängige theoretische Verständnis

Welche und wie viel ökonomische Bildung braucht manfiirdie Soziale Marktwirtschaft?

109

zentraler Teile des ökonomischen Wissen und der daraus folgenden erheblichen, nur im Rahmen professioneller Lehre zu überwindender Lernschwellen (Remmele 2010). Die entsprechenden Aufwände werfen die Frage auf, ob man dies als (informierter) Laie überhaupt verstehen kann, oder ob man hierzu bereits zum Experten gemacht worden sein muss. Es handelt sich somit letztlich auch um eine Ressourcenfrage. Unter den heute der ökonomischen Bildung zuwachsenden Ressourcen scheint es aber offensichtlich, dass im Hinblick auf die Soziale Marktwirtschaft ein Widerspruch besteht zwischen dem, was man wissen muss, und dem, was man wissen kann. Unter Umständen kann die Vermittlung entsprechender lernbezogener Metakompetenzen (vgl. Canto-Sperber und Dupuy 2001, S. 76 ff.), d. h. insbesondere zu wissen, wann man nichts oder zu wenig weiß und wie man dem gegebenenfalls abhelfen kann, hier noch ein wenig ausgleichend wirken. Angesichts der komplexen Dynamik der wirtschaftlichen Zusammenhänge wird dies aber nicht genügen. In diesem Zusammenhang zeigt sich nochmals eine interessante Parallele zwischen der einleitenden Passage zu Kaspar Hauser und unserem Problem. Dabei wird deutlich, dass, da jeder für sich von Neuem lernen muss, auch bestimmte Lernschwellen immer wiederkehren und zu überwinden sind. So ist die von Kaspar Hauser problematisierte Erschaffung aus dem Nichts schwer nachzuvollziehen. Dasselbe gilt in strukturell analoger Weise auch für die kreditäre Geldschöpfung, die uns im Rahmen der - immer weiter fortschreitenden - Finanzkrise peinigt. Deren dynamische Reflexivität widerspricht dem alltäglichen statischen Weltverständnis. Aus Laienperspektive erscheint die kreditäre Geldschöpfung, d. h. die Generierung von Geld durch Bezugnahme auf (zeitlich) anderes, wie sie z. B. durch die (gestaffelte) Beleihung von Krediten geschieht, als ,wundersame Geldvermehrung'. Das eher statische Laienkonzept von Geld folgt dagegen dem allgemeinen Kausalitätsprinzip: von Nichts kommt Nichts, d. h., die , Substanz' bleibt erhalten. Die allgemeine Ausbildung eines eher statischen Konzeptes ist mehr als verständlich, denn sowenig wir bei materiellen Dingen deren plötzlichem Erscheinen oder Verschwinden beiwohnen, sowenig bläht und platzt es im Geldbeutel oder auf dem Konto. Von dem in seiner Komplexität gerne vernachlässigten Phänomen der Zinsen abgesehen, weist Geld damit für den Einzelnen Konstanzaspekte auf. Entsprechend bilden Laien in Analogie zum Warentausch ein Verständnis von Geld als Träger eines (sozial anerkannten) Wertes (vgl. Claar 1990, S. 90 ff.); dieser Wert bleibt in der Transaktion erhalten. Die creatio ex nihilo ist somit auch in unserer heutigen Welt- und Heilslehre noch immer ein - kognitives und hier auch moralisches - Problem. Die kreditäre creatio ex nihilo war dies auch schon in der Antike: „Man sagt von den Hasen, dass sie zu gleicher Zeit Junge gebären, säugen und wieder trächtig werden. Allein die Kapitalien dieser nichtswürdigen Barbaren [Wucherer] gebären, ehe sie noch empfangen haben. Denn sobald sie das Geld hingeben, fordern sie davon zurück, streichen einen Teil der ausgezahlten Summe weg und nehmen gleichsam Zins dafür, dass sie auf Zinsen leihen. Bei den Messeniem hat man ein Sprichwort: Pylus lieget vor Pylus, doch gibt's noch ein anderes Pylus [drei gleichnamige nahegelegene Städte auf dem Peleponnes]. So könnte man auch zu den Wucherern sagen: Zinsen liegen vor Zinsen, doch gibt's noch andere Zinsen. Sie lachen wohl gar die Naturforscher aus, welche den Satz behaupten: Aus Nichts wird Nichts; denn bei ihnen wird aus dem, was noch nicht existiert, schon Interesse erzeugt" (Plutarch 1911, S. 235 f.).

110

Bernd Remmele

Die , Wucherer' und sonstigen Geschäftemacher sind offensichtlich auch Experten in unserem Gebiet. Sie sind es z. T. gerade auch darin, die kognitiven Grenzen ihrer Kunden auszunutzen, indem sie die Komplexität ihrer ,Angebote' deren Leistungsfähigkeit anpassen. Informiertheit und Laienhafitigkeit vor diesem Hintergrund durch Bildung auszutarieren erinnert an das Rennen zwischen Hase und Igel. Dort, wo man die Bedingungen nicht durchschaut, bleibt Autonomie eine Farce. Freiheit und Ordnung bleiben aufeinander verwiesen, und Bildung vermittelt hier in mehrfacher Weise. Trotz der erwähnten Komplexität und Dynamik der Anforderungen, der inneren Widersprüche und Ressourcenprobleme: die Soziale Marktwirtschaft lebt davon.

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Welche und wie viel ökonomische Bildung braucht man für die Soziale Marktwirtschaft?

111

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Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson an allgemeinbildenden Schulen Eine wissenschaftsinterdisziplinäre Annäherung

Ilona Ebbers

Inhalt 1.

Einleitung

114

2.

Begriffliche Verortung und wissenschaftsinterdisziplinäre Konturierung

114

3.

Zur Akzeptanz an allgemeinbildenden Schulen

118

4.

Ausblick

120

Literatur

120

114

1.

Ilona Ebbers

Einleitung

Seit den 1990er Jahren werden verstärkt Existenzgründungsprogramme initiiert, und gleichzeitig wird die Forderung nach einer Kultur der unternehmerischen Selbstständigkeit lauter. Mit dieser Forderung soll verdeutlicht werden, dass es in der in Deutschland praktizierten Sozialen Marktwirtschaft zu wenige Personen gibt, die in der Lage zu sein scheinen, einen wirtschaftlichen Aufschwung durch unternehmerische Tätigkeit zu unterstützen. Diesbezüglich wird der Bevölkerung eine „Kultur der abhängigen Beschäftigung" bescheinigt (vgl. Ebbers und Klein 2012, S. 6). Indikatoren, die dieses Ergebnis unterstützen, sind beispielsweise das häufig negativ konnotierte Unternehmerbild in der Gesellschaft, die Einstellung gegenüber der unternehmerischen Selbstständigkeit der Bevölkerung und die Rolle, welche die unternehmerische Selbstständigkeit in der schulischen, aber auch beruflichen Ausbildung spielt (vgl. Schulte 2010). Es gibt offensichtlich eine Vielfalt an Gründen, weshalb das Thema einer unternehmerischen Selbstständigkeit bereits an allgemeinbildenden Schulen etabliert werden könnte. Verschiedene Motive sollen u.a. in diesem Beitrag diskutiert werden. Um das Thema unternehmerische Selbstständigkeit als didaktischen Lehr-/ Lerngegenstand behandeln zu können, soll zunächst in Kapitel 2 sachanalytisch Unternehmertum bzw. Entrepreneurship definiert werden, um die fachwissenschaftliche Diskussion zum Entrepreneurship und die Auffassung der jeweiligen Entrepreneurship-Schulen abbilden zu können. Hieraus lassen sich Folgen für eine Entrepreneurship Education ableiten, welche als Teilaufgabe der Wirtschaftsdidaktik definiert wird. Nach Klärung des Stands der Entwicklung einer Entrepreneurship Education aus wissenschaftsinterdisziplinärer Perspektive in Kapitel 2 werden dann im dritten Kapitel der Stand der Etablierung einer Entrepreneurship Education an allgemeinbildenden Schulen und das Bild des Unternehmers und der Unternehmerin, welches u.a. hierdurch in Schulen gezeichnet wird, vorgestellt. Abschließend werden Implikationen für die Bedeutung des Bildes von Gründungspersonen an allgemeinbildenden Schulen, welche in diesem Beitrag aufgeworfen wurde, dargestellt.

2.

Begriffliche Verortung und wissenschaftsinterdisziplinäre Konturierung

Zur grundsätzlichen Verortung des Begriffs „Entrepreneurship" und zur Einfuhrung in die wissenschaftsinterdisziplinäre Diskussion soll folgende Definition dienen: Entrepreneurship bezieht sich auf unternehmerische Aufgabenkomplexe, die zur Entstehung neuer institutionalisierter Geschäftsgrundlagen in situationsadaptiver Weise wahrgenommen werden müssen, um den Prozess von deren Generierung bis zu deren nachhaltigen Etablierung nach eigenen Vorstellungen erfolgreich gestalten zu können (vgl. Freiling 2006, S. 16-17). Der Fokus soll im weiteren Verlauf auf die in der Definition aufgeführte Neuartigkeit der Geschäftsgrundlage gerichtet werden, die den Einfallsreichtum und die Tatkraft von Unternehmern und Unternehmerinnen abbildet, welche eine Grundlage des durch die

Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson

115

Soziale Marktwirtschaft entstandenen hohen Lebensstandards in Deutschland darstellt (vgl. Meier 2000, S. 1). Ontologisch betrachtet, spielt die Person des Unternehmers und der Unternehmerin fur die Soziale Marktwirtschaft eine sehr bedeutsame Rolle. Inwiefern diese es auch in der ökonomischen Bildung in der Sekundarstufe 1 spielt, soll später in Kapitel 3 betrachtet werden. Zunächst soll vielmehr geklärt werden, welche Auffassung die Fachwissenschaft hinsichtlich des Entrepreneurships vertritt, und welche Diskussion zur Person des Entrepreneurs stattfindet. Hierzu sind verschiedene Schulen des Entrepreneurships zu identifizieren (vgl. Freiling 2006, S. 15), die als funktionale Schule, persönlichkeitsbezogene Schule, gründungsbezogene Schule und verhaltensbezogene Schule bezeichnet werden können. So lassen sich beispielsweise Vertreter wie Danhoff (1949) und Drucker (1985) der funktionalen Schule zuordnen, die einer Gründungsaktivität beispielsweise funktionale Inhalte wie Innovation, Koordination und Risikoübernahme zuschreiben. Diese Funktionen einer Gründung sind personenunabhängig und somit auch personenübergreifend zu betrachten. Die persönlichkeitsbezogene Schule stellt hingegen spezielle fur die Gründungsaktivität forderliche Eigenschaften der Gründungspersonen in den Vordergrund. Schumpeter (1934) und Kirzner (1978) seien hier als nachhaltige Vertreter genannt. Mit dieser personenbezogenen Schule ist der bekannte Trait-Ansatz verbunden. Dieser geht davon aus, dass Eigenschaften bei Gründungspersonen wie Innovationskraft, Findigkeit und auch Kreativität den Gründungsprozess stützen. Entgegen dieser Ausrichtung favorisiert die gründungsbezogene Schule die Perspektive auf den Prozess des Entrepreneurships an sich. Vertreter wie Garnier (1985), Bygrave (1998) und Timmons (1994) gehen unter anderem davon aus, dass durch das Begründen einer neuen Unternehmensidentität Innovation am Markt geschaffen werden kann, ohne dass ein Unternehmen neu gründet werden muss. Dieser Prozess kann dementsprechend personenunabhängig bzw. personenübergreifend stattfinden. Auch die verhaltensbezogene Schule geht davon aus, dass ein Gründungsprozess personenunabhängig, aber zum Teil auch personenübergreifend generiert werden kann. Verhaltensweisen wie Chancengenerierung und -Orientierung sowie Proaktivität am Markt lassen sich damit nicht der Persönlichkeit der Gründerperson zuschreiben, sondern werden durch das aktive Verhalten der Personen bestimmt. Unter anderem Cole (1979), Shapero (1975) und Ronstadt (1985) seien hier als Vertreter dieser Ausrichtung genannt. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Schulen nochmals zusammengefasst abgebildet. Es verwundert bei Betrachtung der Schwerpunkte der jeweiligen Schulen kaum, dass in der fachwissenschaftlichen Diskussion seit jeher die Frage nach "born or made" der Gründungsperson gestellt wird. Kann eine Entrepreneurship-Aktivität verhaltensleitend sein oder sind bestimmte Eigenschaften bei gründungsaktiven Personen angeboren? Spätestens seit Grichniks Darstellung in der Zeitschrift für Betriebswirtschaftslehre, in der er eine Opportunity Map der internationalen Entrepreneurshipforschung vorstellt, wird deutlich, dass die Entwicklungen in die Richtung der verhaltensbezogenen Schule tendieren (vgl. Grichnik 2006).

116

Ilona

Ebbers

Tabelle 1: Entrepreneurship Schulen Entrepreneurship Schulen Funktionale Schule

Persönlichkeitsbezogene Schule

Ontologie

Zentrale Inhalte

Vertreter

Personenunabhängig und somit personenübergreifend Personenbezogen

Innovation, Koordination, Risikoübernahme, Arbitrage

Danhoff ( 1949); Drucker (1985)

Innovationskraft, Findigkeit, Kreativität, Durchsetzungsmacht, Leistungsmotivation, Ambiguitätstoleranz, Urteilskraft, Menschenkenntnis Begründung einer neuen Untemehmensidentität

Schumpeter (1934); Kirzner (1978); Schaller (2001); Beaver(2002)

Gründungsbezogene Schule

Personenunabhängig und somit personenübergreifend

Verhaltensbezogene Schule

Personenbezogen (z.T. auch personenübergreifend)

Eigennutz-, Innovations-, Wandlungs-, Chancenorientierung und Chancengenerierung, positive Einstellung zu Fehlern, Proaktivität

Gartner (1985); Bygrave und Hofer (1991); Timmons ( 1994); Bygrave ( 1998); Kuratko und Hodgetts ( 1998); Reckenfelderbäumer (2001); Scarborough et al. (2003); De (2005) Cole (1959); Shapero (1975); Shapero und Sokol (1982); Miller (1983); Ronstadt (1984); Hébert und Link (1988); McGrath (1999); Holcombe (2003)

Quelle: Freiling (2006), S. 15 Dieser Beitrag schließt sich der Auffassung der verhaltensbezogenen Entrepreneurshipforschung an. Hiervon ausgehend, wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass gründungsrelevantes Verhalten bzw. diesbezügliche bislang nicht vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten angeeignet werden können. Damit wird vorausgesetzt, dass eine gründungsbezogene Handlungskompetenz lehr- bzw. erlernbar ist (vgl. Ripsas 1998, S. 218). Da die Entwicklung der beruflichen Handlungskompetenz bei Lernenden als traditioneller Gegenstandsbereich in der Wirtschaftsdidaktik fungiert (vgl. Braukmann 2001, S, 79), erscheint es plausibel, dass auch gründungsbezogene Handlungskompetenzen hierzu zählen dürften. In diesem Zusammenhang wird das Subjekt in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Dieser so genannten Subjektebene wurde aus fachwissenschaftlicher Perspektive jedoch lange keine Aufmerksamkeit geschenkt. So fühlte sich die Fachdisziplin bis Ende der 1990er Jahre der Objektebene (Inhaltsebene) verpflichtet. Zudem wurde sie bis zu diesem Zeitpunkt kaum theoretisch überhöht. Diese Überhöhung wurde zwar schon seit den 1980er von anerkannten Wissenschaftlern gefordert (siehe hierzu Ronstadt 1985, Gibb 1987, Vesper und McMullan 1988), aber es konnte bis vor kurzem ein Verharren auf der Objektebene sowie ein Mangel an Theoriebildung in der Wissenschaftsdisziplin beklagt werden (vgl. Halbfas 2006, S. 322-323). Spätestens seitdem nun in Deutschland auch eine wissenschaftsinterdisziplinäre Betrachtung aus der Richtung der Wirtschaftsdidaktik Einzug gehalten hat, werden beide Ebenen verbunden. Es wird deutlich, dass sowohl fachwissenschaftliche als auch fach-

117

Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson

didaktische Forschungsansätze und -analysen miteinander verwoben sind, wenn beide Anteile sich für den Bildungsprozess des Lernenden zuständig fühlen. Hierbei werden fachwissenschaftliche Analysen, Forschungsaspekte und Theorien sowohl auf der einen Seite als auch auf der anderen Seite zusammengeführt. Hierauf aufbauend soll nun der Bezug der Wirtschaftsdidaktik zum Entrepreneurship (Gründungsvorhaben) als Objekt und zum Entrepreneur (Gründungsperson) als Subjekt wird hergestellt werden. In diesem Zusammenhang darf das Entrepreneurship als inhaltlicher Gegenstand einer Lehr-/Lernsituation verstanden werden. Das Subjekt darf als lernende Person bezeichnet werden, die sich in dieser Situation befindet. Im angloamerikanischen Bereich wird diesbezüglich von einer Entrepreneurship Education gesprochen. Obgleich dieser Begriff in Deutschland adaptiert wurde, wird hierzulande auch die Bezeichnung Gründungslehre genutzt. Wie der untenstehenden Abbildung 1 zu entnehmen ist, sind dieser verschiedene einschlägigen Theorien und Inhalte zuzuordnen. Zu den Theorien gehören beispielsweise Lerntheorien, Sozialisationstheorien, Motivationstheorien, Persönlichkeitstheorien oder auch Theorien der Selbstorganisation. Wissenschaftlich etablierte Inhalte zur Geschäftsidee, des Marketings, der Finanzierung oder der schon erwähnten Chancengenerierung sowie Kreativitätstechniken zählen zu den Gegenständen der Gründungslehre. Die folgende Abbildung macht diese interdisziplinäre Einordnung einer Gründungslehre in die Wirtschaftsdidaktik nochmals deutlich. Abbildung 1: Disziplinare Konturierung einer Gründungslehre Objekt

GründungsVorhaben

Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Braukmann (2002), S. 57.

Subjekt

Gründerperson

118

Ilona Ebbers

Somit kann, auf den bisherigen Ausfuhrungen basierend, zusammenfassend festgehalten werden, dass eine Entrepreneurship Education bzw. Gründungslehre als eine Ausbildung von Personen definiert werden kann, die für das Thema der unternehmerischen (innovativen) Selbstständigkeit geöffnet sowie optional hierfür befähigt werden können. Bezugnehmend auf die weiter oben angeführten fachwissenschaftlichen Schulen zum Entrepreneurship, kann vermutet werden, dass die Entwicklung der Entrepreneurshipforschung in Richtung der verhaltensbezogenen Schule die Annahme der Erlernbarkeit des Entrepreneurships argumentativ unterstützt. So liegt des Weiteren die Vermutung nahe, dass ein positiver Trend zur Etablierung des Themas Unternehmertum und Gründerperson auch an allgemeinbildenden Schulen verzeichnet werden kann. Inwiefern diese Vermutung bestätigt werden kann, soll im nächsten Kapitel veranschaulicht werden.

3.

Zur Akzeptanz an allgemeinbildenden Schulen

Ein Grund für das bereits in der Einleitung beschriebene Desinteresse an einer unternehmerischen Selbstständigkeit in der deutschen Bevölkerung wird tatsächlich auch in der geringen thematischen Bedeutung für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen gesehen. 1 Um eine Verbindlichkeit zur Schaffung einer Kultur der unternehmerischen Selbstständigkeit an Schulen erzeugen zu können, müssten neben der Ziel- und Inhaltsbestimmung auch die Bildungsaufträge der unterschiedlichen Schulformen bedacht werden (vgl. Fritsch et al. 2008, S. 282). Allgemeinbildende Schulen stehen in diesem Sinne anscheinend fast diametral zu den Anforderungen an einer unternehmerischen Selbstständigkeit. So befinden sich beispielsweise die Lehrenden zumeist in einem sicheren Arbeitsverhältnis, das durch Rahmenlehrpläne und Nutzung von entsprechenden Schulbüchern recht stark im Rahmen ihrer Tätigkeit strukturiert wird. Der Schulalltag wird durch Stundenpläne geregelt, und komplexe Sachverhalte werden einer didaktischen Reduktion unterzogen (vgl. Faltin 2009, S. 36). Anders als es bei unternehmerischer Selbstständigkeit der Fall sein kann, müssen hier Entscheidungen selten unter einem hohen Risiko gefallt werden. Wird nun das Thema der unternehmerischen Selbstständigkeit undogmatisch und lebensweltorientiert von Seiten der Schulen begriffen, und wird erkannt, dass allein damit Selbstständigkeit als Kompetenz bei Schülerinnen und Schülern weiterentwickelt werden kann, wird auch die Auffassung der Lehr- und Erlernbarkeit von Selbstständigkeit etabliert. Inwiefern diese Auffassung aktuell an allgemeinbildenden Schulen akzeptiert ist, wird im Weiteren dargestellt. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang nun die aktuelle InmetStudie (Institut für Mittelstandsökonomie an der Universität Trier e.V.) zum Thema Entrepreneurship Education an Schulen, welche im Schuljahr 2008/2009 mit insgesamt 2.800 Jugendlichen (Schülerinnen und Schüler sowie ehemaligen Schülerinnen und Schülern) und 193 Lehrkräften bundesweit durchgeführt werden konnte (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 10-11). Hierbei wurden Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte in

1

Siehe hierzu und im Folgenden auch Ebbers und Klein (2011).

Zur Bedeutung der Entrepreneurship Education und der Gründungsperson

119

Form von Fragebögen und Telefoninterviews befragt, die an einem „UnternehmergeistProjekt" teilnehmen bzw. teilgenommen hatten. Zu diesen Projekten gehörten „JUNIOR/JUNIOR-Kompakt", „Deutscher Gründerpreis für Schüler" sowie „Jugend gründet" (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 9).2 Zudem befanden sich in der befragten Kohorte der Schülerinnen und Schüler 449 Nichtteilnehmende an den zuvor genannten Projekten, die als Kontrollgruppe fungierten. Die Schulklassen 7 bis 13 aller Schulformen wurden hierbei untersucht (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 1 -11). Legt man die hieraus resultierenden Ergebnisse zu Grunde, so lässt sich feststellen, dass sich die Projektteilnehmenden wie auch die Nichteilnehmenden bei der Frage zu dem allgemeinen Ansehen von Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland tendenziell sehr positiv bis eher positiv geäußert haben. Lediglich im Schnitt 10 % der Befragten schätzten das Ansehen eher negativ bis sehr negativ ein. Das Bild des Unternehmers an deutschen Schulen scheint demnach durchaus differenzierter wahrgenommen zu werden als zuvor angenommen, so dass zu vermuten ist, dass die "Unternehmergeist-Projekte" an Schulen durchaus erste Wirkungen erzielen (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 22). Weiterhin lässt sich feststellen, dass im Schnitt mehr als die Hälfte (52,9 %) der an den Projekten Teilnehmenden sich zu der Selbsteinschätzung, ob sie ein Unternehmertyp seien, mit ja bzw. eher ja äußerten. Nichtteilnehmende hatten sich insgesamt nicht so oft als Unternehmertyp eingeschätzt (50,6 %) (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 24). Diese Ergebnisse lassen die Vermutung zu, dass sich ca. jeder zweite Befragte grundsätzlich die Kompetenzen einer Unternehmerperson zuschreibt. Wird hier eine reflektierte Selbsteinschätzung vorausgesetzt, kann auch ein Rückschluss auf das Lehr/Lerngeschehen an Schulen gezogen werden. Es darf nun angenommen werden, dass Kompetenzen wie Verantwortungsübernahme, Kreativität und Ambiguitätstoleranz, über die auch Unternehmerpersonen verfügen müssen, demnach als Querschnittskompetenzen vermittelt werden. Sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch von den Lehrkräften wurde des Weiteren die Teilnahme an den genannten Projekten als nützlich und positiv beurteilt. Die Projekte stellten aus deren Sicht eine hervorragende Möglichkeit dar, die Befähigung zu erhalten, eine eigene Einschätzung zu den weiterentwickelten Kompetenzen und zu der Option, unternehmerisch selbsttätig werden zu wollen, abgeben zu können (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 37). Lehrkräfte sahen darüber hinaus den Effekt, dass wirtschaftliche Themen in handlungsorientierter Form vermittelt werden konnten (vgl. Josten und van Elkan 2010, S. 36). Damit auch unternehmerische Selbstständigkeit von Jugendlichen in diesem Sinne selbst erlebt werden kann, ist der Einsatz kreativer Unterrichtsmethoden beispielsweise in Form oben genannter Projekte als sinnvoll einzustufen. Dabei darf jedoch der Erziehungsauftrag nicht dahingehend missverstanden werden, dass junge Unternehmerpersonen herangezogen werden sollen. Weber (2002, S. 163 f.) unterstützt diesen Gedanken: 2

Diese öffentlich geforderten Projekte wurden für die Studie aufgrund der hohen Teilnehmerzahl und des bundesweiten Verbreitungsgrades sowie des inhaltlichen Bezugs zum Unternehmertum und zur Existenzgründung ausgewählt.

120

Ilona Ebbers

„Ökonomische Bildung im allgemeinen Schulwesen ist weder vorgezogene Berufsbildung, noch steht sie im Dienst einer Imagekampagne für den Unternehmerberuf. Sie dient der Lebens- und Welt vorbereitung in ökonomisch geprägten Lebens Situationen und Entwicklungen sowie der Ausbildung vielseitiger Fähigkeitsdimensionen als allgemeine Persönlichkeitsentwicklung.". In diesem Sinne soll nun abschließend ein Ausblick zu einer Entrepreneurship Education an allgemeinbildenden Schulen gegeben werden.

4.

Ausblick Will eine Entrepreneurship Education und die inhaltliche Einbindung der G r ü n -

dungsperson eine Akzeptanz u n d Implementierung in die Curricula der allgemeinbildenden Schulen erfahren, so kann dies nur in einer d e m Bildungsauftrag der Schule nicht widersprechenden reflektierten F o r m stattfinden. Das T h e m a der unternehmerischen Selbstständigkeit nebst Gründungsperson sollte dementsprechend bildungspolitisch in die Lehrpläne fächerübergreifend nach Schulformen differenziert u n d bereits in der Lehrerausbildung implementiert werden (vgl. Fritsch

et al. 2008, S. 285,). Hierbei

sollte es sich vor allem u m die Vermittlung von Sachkompetenz und didaktischmethodischer K o m p e t e n z handeln. Im Vordergrund des inhaltlichen Lehr/Lernprozesses steht dann die ökonomische H a n d l u n g s k o m p e t e n z unternehmerischer Selbstständigkeit. Eine erste Kontur des P h ä n o m e n s der Kultur einer unternehmerischen Selbstständigkeit an Schulen und in der Lehrerausbildung könnte sich damit abzeichnen (vgl.

Unger

2004, S. 19). Schule w ä r e hierdurch in der Lage, das T h e m a ohne legitimatorische Probleme u n d ohne es als Postulat zu erheben, in den Schulalltag zu implementieren (vgl. Gerbershagen

2002, S. 134). Die Jugendlichen sollen ihre eigenen Karrierepläne selbst-

kritisch entwickeln u n d ihren individuellen L e b e n s w e g im System der Sozialen Marktwirtschaft verfolgen. Unternehmerische Selbstständigkeit kann irgendwann in ihrem Berufsleben zu einer Option werden. O b sie sich für oder gegen diese Option entscheiden, hängt dann im hohen M a ß e von d e m bis dahin reflektierten U m g a n g mit d e m T h e m a und der Identifikation mit einem selbstreflektierten Unternehmerinnen- u n d Unternehmerbild ab, deren Basis möglicherweise schon in der Schule grundgelegt werden konnte.

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Teil III: Ökonomische Bildung und Empirie

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

Klaas Macha und Michael Schuhen

Inhalt 1.

Einleitung

126

2.

Eckdaten zu ECOS

127

3.

Kompetenzbegriff in ECOS

128

4.

Kompetenzmodell von ECOS

130

5.

Das zugrundeliegende Domänenmodell

133

6.

Ergebnisse

135

7.

Zusammenfassung und Ausblick

136

Literatur

137

126

1.

Klaas Macha und Michael Schuhen

Einleitung

Die aktuelle Kompetenzforschung im Large-Scale-Maßstab wird dominiert von den Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Ökonomische Inhalte werden erstmals in PISA 2012 erhoben, wahrscheinlich als Reaktion auf die Finanzkrise. Allerdings wird nicht eine economic literacy fokussiert, sondern die viel speziellere financial literacy der Schüler, wobei die Diskussion, ob es sich hierbei um eine eigenständige Kompetenzdimension handelt, noch nicht abschließend gefuhrt wurde, auch deshalb weil das umfassendere Konstrukt,economic literacy' bislang nicht tiefergehend getestet wurde (siehe Macha und Schuhen 201 la, S. 3f). Der Fokus des vorliegenden Beitrages liegt deshalb im weiter gefassten Konstrukt der „ökonomischen Kompetenz" (vgl. Salemi 2005; Macha und Schuhen 2011). Das Zentrum für ökonomische Bildung und das Zentrum für Bildungsforschung der Universität Siegen haben hierzu im Jahre 2010 die Pilotstudie ECOS (Economic Competencies Study) begonnen. In der ECOS-Pilotstudie wurde ein Modell für ökonomische Kompetenzen entwickelt, dass sich u.a. hinsichtlich seiner zentralen normativen Vorannahme maßgeblich von anderen Studien (vgl. der Überblick in Macha und Schuhen 201 la) in diesem Bereich unterscheidet. Ökonomische Kompetenzen sollen nicht Curriculumbasiert getestet werden, da die Situation des Unterrichtsfaches und somit der Wissensstand der Schülerinnen und Schüler sehr heterogen sind (Schlösser und Weber 1999). Deshalb wurde in ECOS die Idee aus PISA aufgegriffen, die Befähigung der Schüler zu messen, wie diese mit alltäglichen Aufgaben, die für eine vollumfängliche gesellschaftliche Teilhabe unabdingbar sind, im ökonomischen Bereich umgehen. Für dieses Vorgehen sprechen vor allem zwei Gründe: Erstens, und dies ist ein eher forschungspolitisches Argument, wurde dadurch die Anschlussfähigkeit an den ,literacy'-Ansatz der OECDPISA-Studien gegeben, auch vor dem bereits genannten Hintergrund von PISA 2012. Dieser ,literacy'-Ansatz erweitert aber auch die ursprünglich enge Bedeutung des Begriffs als Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben in Richtung einer universellen, jeweils domänenspezifischen Literalität bzw. „Grundbildung" (Schlösser und Schuhen 2011). Zweitens, und dies ist ein forschungspraktisches Argument, trägt dieses Vorgehen der Problematik des sehr heterogenen und faktisch nicht vorhandenen Faches „Wirtschaft" bzw. „Ökonomische Bildung" Rechnung. Denn wo es kein einheitliches Fach gibt, gibt es auch kein einheitliches Curriculum, das in einem Kompetenzmodell abgebildet werden könnte. Vielleicht aufgrund des fehlenden einheitlichen Curriculums haben wesentliche fachliche Diskussionen immer noch nicht zu einer einheitlichen Ausgangsbasis für die Modellierung ökonomischer Kompetenz geführt. Anders sieht es in diesem Bereich in etablierten Domänen wie beispielsweise der Mathematik aus. So wird in der ökonomischen Bildung viel Energie aufgewandt, die Inhalte ökonomischer Bildung kategorial, institutionenökonomisch, verhaltensökonomisch oder aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu legitimieren (siehe u.a. auch die kritische Zusammenstellung von Hedtke 2011), um so eine Begründung für ein Schulfach Wirtschaft zu haben oder eben dieses zu verhindern. Diese geisteswissenschaftliche Herangehensweise hat über Jahre hinweg den empirischen Zugang vernachlässigt. So sind die meisten empirischen Vorarbeiten aus dem

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

127

Kernbereich ökonomischer Bildung eher schwach (Hedtke und Assmann 2008; Macha und Schuhen 2011a), einzig die Arbeiten aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, sofern sie denn ökonomische Bildung thematisieren, sind aussagekräftig und weiterführend (siehe Macha und Schuhen 201 la, S. 8 f). Vielleicht ist die mangelnde empirische Betrachtung aber auch auf die Anatomie des Begriffs (Beck 1989) zurückzuführen. So ist bisher immer noch ungeklärt, welchen Bezugspunkt man einem Modell für die ökonomische Bildung zugrunde legt. Ist es das Rollenkonzept oder ein eher kategorialer Ansatz, aber dann welcher? Was könnten die zentralen Kategorien ökonomischer Bildung sein? Welche Kategorien liefern Einsichten in die Grundstrukturen ökonomischen Denkens? Ist dies kategorial überhaupt leistbar, oder führt nur eine Rekonstruktion des Faches aus der Lebenswelt der Schüler heraus zum Ziel? Der nachfolgende Beitrag kann diese Fragen nicht alle beantworten. Er versucht aber eine Kompetenzdefinition für ökonomische Bildung herzuleiten und die darin getroffenen, aus der Literatur entlehnten Annahmen empirisch zu testen und zu belegen. Deshalb folgt in Kapitel 2 eine Kurzzusammenfassung der Arbeit und des Vorgehens. Kapitel 3 skizziert den in ECOS zugrunde gelegten Kompetenzbegriff. In den Kapiteln 4 und 5 werden die Annahmen des Modells vorgestellt, bevor in Kapitel 6 die empirischen Ergebnisse zu eben diesen Annahmen präsentiert werden.

2.

Eckdaten zu ECOS

Aufgrund der skizzierten Forschungslücke hat die bereits genannte Arbeitsgruppe des Zentrums für ökonomische Bildung in Siegen (ZöBiS) und des Siegener Zentrums für Bildungsforschung im Jahr 2009 begonnen, ein dem allgemeinbildenden Bereich zugeordnetes Modell ökonomischer Kompetenz zu konzeptualisieren und zu operationalisieren. Ihr Ziel ist es, Kategorien und Inhalte für das Konstrukt „ökonomische Kompetenz" bei Schülerinnen und Schülern im Alter von 15-16 Jahren zu identifizieren und empirisch zu testen. Das Modell gründet auf ökonomischen Situationen des Alltags der Probanden. Neben ökonomischem Wissen wird auch ökonomisches Handeln in diesem Alltag erfasst. Die Arbeitsgruppe erarbeitete seit 2009 ein entsprechendes Kompetenzmodell und zahlreiche Testaufgaben, die zwischen Dezember 2010 und Juli 2011 mithilfe von computerbasierten Tests durchgeführt wurden. Das Testinstrument, das insgesamt 78 wissensbasierte und handlungsorientierte Aufgaben enthält, wurde in der Pilotstudie in 15 Schulen bei insgesamt 580 Schülerinnen und Schülern in NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz eingesetzt. Basis für die Testdurchführung ist die Testplattform www.ecos-test.de, einer Entwicklung der Forschergruppe Online-Testen (www.online-testen.com) der Universität Siegen. Die technischen Voraussetzungen für die Teilnahme an dieser Testplattform sind niederschwellig: Es bedarf für die Teilnahme lediglich eines aktuellen Standardbrowsers (z.B. MS Internet Explorer ab Version 8, Mozilla Firefox ab Version 3, Safari 5, Opera 11), der den Webstandard W3C und Java unterstützt, insofern für die einzelnen Testteile lokale Java-Scripts ausgeführt werden. Die simulativen Aufgaben in ECOS verwenden serverseitig die Programmiersprache PHP mit einer MySQLDatenbankanbindung. Clientseitig sind daher keine besonderen Voraussetzungen vonnöten. Die Bedienung der Testdurchfuhrung orientiert sich an weit verbreiteten Quasi-

128

Klaas Macha und Michael Schuhen

Standards zur Gestaltung von Internet-Seiten. Die Gestaltung der Simulationsaufgaben in ECOS wurde so angelegt, dass sie auf einem als allgemein anzunehmenden Minimum an PC-Ausstattung problemlos laufen. Insgesamt orientiert sich die technische Implementierung von ECOS an den Standards des in PISA üblichen Computer-BasedAssessment. Da die ECOS-Pilotstudie an allgemeinbildenden Schulen durchgeführt wurde, sind die Testteile auf vier Blöcke ä 45 Minuten aufgeteilt. Zwei Blöcke beinhalten die Instrumente zu den später noch ausführlich diskutierten domänenverbundenen Kompetenzen (Allgemeine Intelligenz, Sprach-, Rechen- und Problemlösefahigkeit), zwei Blöcke die Testaufgaben zur domänenspezifischen Kompetenz (also den eigentlichen ECOS-Test) und zu den sonstigen Kompetenzdeterminanten. Diese Blöcke können nach dem Einloggen auf der Testplattform durch den Testleiter einzeln per Passwort freigeschaltet werden.

3.

Kompetenzbegriff in ECOS

Kompetenzen sind, anders als beispielsweise das Konstrukt der Intelligenz, besonders stark an (domänen-)spezifische Konstrukte gebunden. Dies zeigen bereits die frühen Arbeiten von Chomsky, wobei bei ihm, der in die kognitivistische Schule einzuordnen ist, im Zentrum die Kompetenz-Performanz-Abgrenzung steht (Chomsky 1965). Nach Chomsky wird (linguistische) Kompetenz über kognitive Strukturen und Regeln bestimmt, ohne die die Fähigkeit, Sprache zu erzeugen, nicht gegeben wäre. Linguistische Performanz, um den angesprochenen Gegensatz zu verdeutlichen, wäre dann die beobachtbare Fähigkeit (Sprache) in der praktischen Anwendung. Dabei ist der Bedeutungsumfang der kognitiven Strukturen und Regeln zunächst nicht festgelegt. So sind Kompetenzen nach Weinerts Definition „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können" (Weinert 2001, S. 27 f.). Ganz im Sinne Chomskys und Weinerts werden Kompetenzen unter dem testtheoretischen Fokus als kognitive Leistungsdispositionen verstanden, die sich auf einen übergeordneten, sinnstiftenden, thematischen Handlungskontext, die Domäne, beziehen. Werden diese kognitiven Leistungsdispositionen zur Aufgabenbearbeitung herangezogen, spricht man von Performanz. Die Dispositionen zeigen sich dann in der konkreten Aufgabenbearbeitung, also auf performativer Ebene. So kann im Umkehrschluss von der Performanz auf die Kompetenz zurückgeschlossen werden (Winther 2010, S. 9). Folglich sind die typischen Handlungsannahmen und -abfolgen, werden sie in ein Testdesign eingebunden, damit später Rückschlüsse durch das Enkodieren der beobachtbaren Performanz auf die Kompetenz erlaubt sind, im Vorfeld sehr genau zu analysieren und zu erheben (siehe hierzu Klieme und Leutner 2006). Ein Kompetenzmodell stellt somit das Bindeglied zwischen dem Konstrukt „Kompetenz" und den realen Aufgaben dar, weshalb u.a. auch die Diskussion um .financial literacy' als eigenständige Kompetenz relevant und notwendig ist ( O E C D 2012; Aprea 2012).

Kompetenzmessung

in der Domäne

Ökonomie

129

In Kompetenzmodellen werden konkrete bereichsspezifische Leistungserwartungen formuliert, wodurch das Verhalten einer Person bei der Bearbeitung von Items eines Tests als Hinweis auf deren Kompetenz zu werten ist (Klieme und Hartig 2008). Dabei bedürfen Kompetenzmodelle einer empirischen Überprüfung, in der erhoben wird, ob sich die im Modell formulierten Aspekte tatsächlich bei den Schülern nachweisen lassen. Theoretisch begründete Kompetenzmodelle, wie sie bei ECOS vorzufinden sind, werden zur Konstruktion von Tests eingesetzt, mit deren Hilfe individuelle Stärken und Schwächen der Lernenden aufgedeckt werden können. Die Individualdiagnostik und die damit verbundene Förderung der Schüler im schulischen Alltag (Klieme et al. 2003) stehen somit im Fokus. Die erzielten Testergebnisse können in einem nächsten Schritt zur Diagnose von Kompetenzstrukturen von Gruppen, z.B. Kompetenzprofile von Schülern, genutzt werden. Allerdings schränken Klieme et al. (2003) diesen vermeintlich überlegenen Ansatz ein, indem sie darauf hinweisen, dass es sinnvoller erscheint, einen kleinen Kompetenzbereich detailliert abzubilden, als ein großes Kompetenzspektrum im Sinne einer dann umfassenden ökonomischen Kompetenz zu erfassen. Im Rahmenantrag zur Einrichtung des DFG-Schwerpunktprogramms heißt es deshalb auch: „Die zentrale Aufgabe der Forschung besteht in der Entwicklung von Modellen der Struktur, Stufung und Entwicklung von Kompetenzen, die kognitionspsychologisch fundiert sind und mit avancierten psychometrischen Techniken verbunden werden können. (...) Bei der Formulierung von theoretischen Modellen zur Beschreibung und Erklärung von Kompetenzen geht es zum einen um die Definition von Strukturen, zum anderen um die Charakterisierung von Niveaus. Kompetenzstrukturmodelle befassen sich mit der Frage, welche und wie viele verschiedene Kompetenzdimensionen in einem spezifischen Bereich differenzierbar sind. Bei der Beschreibung von Kompetenzniveaus geht es darum, welche konkreten situativen Anforderungen Personen bei welcher Ausprägung einer Kompetenz bewältigen können" (Klieme und Leutner 2006, S. 5-7).

Deshalb wurden bei ECOS thematische Eingrenzungen auf die Bereiche Markt, Geld und Arbeit vorgenommen, die im nachfolgenden Kapitel begründet werden sollen. Allerdings setzt dies wiederum voraus, dass beim Erheben kontextspezifischer Kompetenzen Erfahrungen mit den jeweiligen Kontexten vorauszusetzen sind. An dieser Stelle wird der Bezug zum Konzept der Lebenswelt, das eine prominente Stellung in der fachdidaktischen Diskussion innerhalb der ökonomischen Bildung einnimmt, eingefordert und eingelöst. Da Kompetenzen im Sinne der hier vertretenen kognitivistischen Auffassung erlernbar sind (Greeno, Riley und Gelman 1984, S. 95), wurde für die im prozeduralen Bereich anzusiedelnden Handlungsaufgaben die Lebens- und Erfahrungsumwelt der Schüler mit Hilfe von Concept Maps erhoben. Fraglich ist hingegen im Rahmen der Kompetenzstrukturdiskussion, wieweit Kompetenzen - vor allem in der Domäne ökonomische Bildung - reichen? Greeno, Riley und Gelman (1984, modifiziert Gelman und Greeno 1989, S. 134) unterscheiden in der Modifikation drei Kompetenzdimensionen: conceptual, interpretative und utilizational competence. Dieser Ansatz spiegelt sich in bekannten Schulleistungsstudien (PISA, IGLU oder DESI) wider, die bereichsübergreifende Kompetenzen (z.B. Problemlösekompetenz) und bereichsübergreifende Faktoren (wie das Selbstkonzept, Motivation) erheben, da nicht alle Anforderungssituationen die vorhandenen Ressourcen der Ler-

130

Klaas Macha und Michael Schuhen

nenden tatsächlich fordern. In Abgrenzung zu diesem Ansatz fassen Klieme und Leutner (2006) ihre Auffassung der kognitiven Kompetenzdimension enger. Das Kompetenzmodell von ECOS ist in das weite Verständnis von Kompetenz im Sinne von Gelman und Greeno (1989) einzuordnen, weshalb dieses nun eingehender vorgestellt werden soll.

4.

Kompetenzmodell von ECOS

Zu Beginn der Arbeit zur Pilotstudie wurde die Existenz ökonomischer Kompetenz von der Forschergruppe gänzlich in Frage gestellt und diskutiert, ob sich ökonomische Kompetenz nicht immer auf die drei Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen zurückfuhren lasse. Um die Existenz eines eigenständigen Konstrukts ökonomische Kompetenz zu be-/widerlegen, wurde bewusst auf die Beziehungen zwischen fachlich spezifischen und eher übergreifenden Komponenten abgestellt. So wurden die von Gelman und Greeno in die Diskussion eingebrachten handlungsregulativen Faktoren zur Planung und Ausfuhrung kompetenter Handlungen in spezifischen Anforderungssituationen im Modell berücksichtigt. Diese Aufgliederung von Kompetenz in Teilkompetenzen hat, so Gelman und Greeno (1989, S. 128), nachhaltigen Einfluss auf die Interpretation der gezeigten Performanz. Vor dem Hintergrund instruktionstheoretischer Ansätze dürften diese Implikationen auch Einfluss auf die Entwicklung von Kompetenz haben, weshalb in einem umfassenden Konzept einer „Nature of competence" (Gelman und Greeno 1989) auf Überlegungen zur Systematisierung von Wissensbeständen und Lerneingangsvariablen und zum Prozess des Lernens zurückgegriffen wird (Winther 2010, 5. 31). Den Ansatz von Greeno und Gelman aufgreifend, wurden zur Formulierung eines ersten Kompetenzmodells in ECOS die bereits genannten drei Kompetenzdimensionen conceptual, interpretative und utilizational competence reflektiert. ,Conceptual competence' ist domänenspezifisches Wissen, das regelbasiert und abstrakt ist. Gelman und Greeno (1989, S. 142), die die Domäne Mathematik und speziell das Zählen bei Grundschülern vor Augen haben, schreiben hierzu: „[...] those schemata that specify the counting principles for the abstract mathematical knowledge of counting constitute one subset of the schemata we have called conceptual competence. Henceforth, we use the phrase counting competence to refer to such principled or definitional knowledge. The other subset of schemata included in the model of conceptual competence is now referred to as counting-linked competence. [...] Countinglinked competence is clearly domain relevant and, as we will see, can even serve as a source for learning further principles. These domain-linked schemata are not, however, definitional for counting." ,Conceptual competence' kann somit in einen spezifischen Handlungsplan umgesetzt werden und zeigt ihre Wirksamkeit in spezifischen Handlungen. Bereits an dieser Stelle kann eingeworfen werden, was denn an der Domäne Ökonomie domänenspezifisch ist, einen Einwand aufgreifend, den Resnick (1987) einmal in die Diskussion eingebracht hat. Nach Gelman und Greeno (1989, S. 131) sind es die erlernten Regeln im Bereich der conceptual competence', unter der kognitivistischen Annahme, dass Lernen in Abhängigkeit vom Vorwissen erfolgt. In letzter Konsequenz bedeutet dies aber auch, dass zwischen der Kompetenz, gegebene Anforderungssituationen konzeptual zu erfassen,

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

131

und der Kompetenz, in einer spezifischen Situation adäquat handeln zu können, unterschieden werden muss (Winther 2010, S. 31). In einem zweiten Schritt erweitern Gelman und Greeno diese Perspektive um die im Zitat bereits angesprochene Sichtweise domänenspezifischer und domänenverbundener Kompetenz. Im Unterschied zur domänenverbundenen Kompetenz fokussiert die domänenspezifische Kompetenz die Bewältigung der Anforderung in der Domäne. Beim Begriff der domänenverbundenen Kompetenz handelt es sich um verfugbare Repräsentationen und/oder Verhaltensmuster. Diese sind ausführungsbezogen, um die Bewältigung der Anforderungssituation zu unterstützen. Soll nun die Reichweite ökonomischer Kompetenz erfasst werden, so ist nach spezifischen kognitiven Strukturen zu fragen, die in einer gegebenen Anforderungssituation als aktives Zugriffswissen verfugbar sein müssen. Es sind aber auch unterstützende Verhaltensmuster und Repräsentationen zu ermitteln, die die Bewältigung der Anforderungssituation begünstigen. Besonderes Augenmerk kommt hierbei den domänenverbundenen, allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und den domänenspezifischen kognitiven Fähigkeiten als Repräsentation einer spezifischen Anforderungssituation dar. Hier liegt ein deutlicher Unterschied zum Ansatz vom Chomsky. Gelman und Greeno geht es nicht um die Gegenüberstellung von Leistung und Kompetenz, sondern um eine Erweiterung der Konzepte um handlungsbasierte Komponenten. Diese werden als Ergebnis des operationalen und interpretativen wissensbasierten Zugriffs in spezifischen Anforderungssituationen beschrieben. Handlungen, und dies hat Winther (2010, S. 33) herausgearbeitet, sind nur dann kompetent, wenn sowohl domänenspezifische als auch domänenverbundene Repräsentationen von Fakten, Prinzipien und Theorien verfügbar sind. Dieser Schritt eröffnete der Berufs- und Wirtschaftspädagogik die Tür für die Erfassung der Übergänge zwischen fachspezifischen berufsbezogenen Fähigkeiten und allgemeinen bereichsübergreifenden kognitiven Dispositionen. Die konzeptuale Kompetenz, so Winther (2010, S. 33), ist weniger auf übergreifende kognitive Fähigkeiten zurückführbar, sondern auf mentale Netzwerke domänenspezifischen Wissens sowie auf domänenspezifische Techniken und Arbeitsroutinen, welche innerhalb der Domäne erlernt werden. Überträgt man diese Gedanken auf die ökonomische Bildung, so bedeutet dies, dass es eine ökonomiespezifische ,literacy' und ,numeracy' geben könnte. Auch in der Expertiseforschung 1 , die sich mit den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen auseinandersetzt, wird eine differenzierte Struktur einzelner Wissensdimensionen diskutiert (Bransford, Brown und Cocking 2002). Winther und Achtenhagen (2009) sprechen in ihren Studien für den Bereich der beruflichen Bildung folgerichtig auch von „economic literacy" und „economic numeracy". In ECOS wird der Ansatz verfolgt, dass die Unterscheidung von sprachlicher und mathematischer Herangehensweise auch und insbesondere für den Bereich der ökonomischen Kompetenzmessung von größter Bedeutung ist. Handelt es sich doch im Gebiet des „Ökonomischen" typischerweise um einen Bereich, der verbale und mathematische Fähigkeiten gleichermaßen fordert. So erfordert das Wirtschaften bereits in archaischen Kulturen strukturiertes Entscheiden unter Zuhilfenahme mathematischer und verbaler

1

U.a. Renkl (1996), Schneider (1997), aber auch Ericsson et al. (2006).

132

Klaas Macha und Michael Schuhen

Denkoperationen. Wenn man nun als - wahrscheinlich unstreitig - annimmt, dass verbale und mathematische Fähigkeiten jedenfalls irgendwie zum Bereich der ökonomischen Kompetenz hinzugehören, stellt sich die Frage, in welcher Weise dies genau der Fall ist. Sind verbale und mathematische Kompetenzen domänenspezifisch, d.h. originär dem psychologischen Konstrukt der ökonomischen Kompetenz zuzuordnen, oder sind sie lediglich domänenverbunden, also eigenständige psychologische Konstrukte, die zur ökonomischen Kompetenz hinzutreten? Anders gewendet könnte man fragen, ob eine ökonomische Kompetenz ohne mathematische und verbale Anteile existieren kann. 2 Diese Gedanken basieren auf der von Gelman und Greeno (1989, S. 143) eingebrachten .interpretative competence', die die Kulturtechniken zum Interpretieren und Verstehen konkreter Anforderungssituationen umfasst 3 : „ A significant extension of our previous discussions involves a treatment of children's interpretations of the tasks they are asked to perform. To do this, it is necessary to consider processes of social interpretation and linguistic interpretation. These interpretative processes deal with the interactive aspects of the setting." Die hier getroffenen Annahmen decken sich auch mit den Erkenntnissen aus der Experten-Novizen-Forschung: Experten sind nicht generell intelligenter als die Novizen, aber sie sind in der Lage, die Anforderungssituationen besser zu erfassen (siehe hierzu das Kompetenzentwicklungsmodell von Rauner 2002). Diesem Hinweis wird in ECOS dadurch Rechnung getragen, dass die zur .interpretative competence' gehörenden Fähigkeiten gesondert Betrachtung finden. Die dritte Dimension, die ,utilizational competence' umfasst die Fähigkeit, Aufgaben- und Zielanforderungen einzuschätzen und in Beziehung zueinander zu bringen (vgl. Gelman und Greeno 1989; Greeno, Riley und Gelman 1984). Fazit: Für die erste Näherung, die im Rahmen der Pilotstudie ECOS vorgenommen wurde, wird auf der höchsten Stufe der Kompetenzdefinition zwischen eher verbal gebundenen und eher mathematisch orientierten ökonomischen Kontexten und den damit verbundenen Kompetenzen unterschieden. Um den Einfluss der Kulturtechniken im Sinne der .interpretative competence' erfassen zu können, haben die Schüler in den Bereichen allgemeine Intelligenz, verbale und mathematische Intelligenz zusätzliche standardisierte Tests durchlaufen. 4 Im „Siegener Kompetenzmodell zur ökonomischen Kompetenz" 5 wird ökonomische Kompetenz als die Fähigkeit definiert, in verbal und mathematisch geprägten Situationen und Rollen, (1) ökonomische Fragestellungen zu erkennen,

2

3

4 5

Siehe hierzu auch die ersten Testergebnisse im Bereich der ökonomischen Bildung an allgemeinbildenden Schulen von Schlösser und Schuhen (2006). Siehe auch die Diskussion am Ende des Beitrags von Schlösser und Schuhen (2006) und die Interpretation der Ergebnisse. CFT-20 (Weiß 2006 und 2007). Siehe nachfolgend Macha und Schuhen (2012), S. 168 ff.

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

133

(2) ökonomische Phänomene zu beschreiben und ökonomische Schlussfolgerungen zu ziehen, (3) ökonomisches Wissen in unterschiedlichen Handlungssituationen anzuwenden, (4) sich mit ökonomischen Ideen und Themen zu beschäftigen und sich reflektierend mit ihnen in einer Weise auseinander zu setzen, die den Anforderungen des gegenwärtigen und künftigen Lebens einer Person als konstruktivem, engagiertem und reflektierendem Bürger entspricht sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Teil (1) und (2) der vorstehenden Definition rekurrieren dabei auf das kognitive Konstrukt der verstehensbasierten Kompetenz im Sinne von Winther und Achtenhagen (2008, 2009, 2010), d.h., es wird auf das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge und Fragestellungen abgestellt. Die Teile (3) und (4) der Definition beziehen sich dagegen auf handlungsbasierte Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, bei denen konkretes Handeln in ökonomisch geprägten Situationen und Rollen erfasst werden soll.

5.

Das zugrundeliegende Domänenmodell

Inhaltlich konzentriert sich ECOS vorerst auf einige wenige zentrale Leitideen, die repräsentativ für den Bereich des ökonomischen Verständnisses stehen können. Diese „Big Ideas" wurden in der Konzeption der PISA-Studie entwickelt, wo sie z.B. für den Bereich Naturwissenschaften wie folgt beschrieben wurden: „PISA zielt auf zentrale und grundlegende Ideen (,Big Ideas') ab, die dazu beitragen, unsere natürliche Umwelt besser verstehen und erklären zu können" (PISA-Konsortium, 2004). Dies bedeutet, dass nicht der Ansatz einer kategorialen Didaktik verfolgt wurde, dem vor allem innerhalb der ökonomischen Bildung vorgeworfen werden kann, dass die Vertreter sich stark an der Fachwissenschaft (im Wesentlichen nur der Volkswirtschaftslehre) orientiert haben und die Struktur der Disziplin (Bruner 1970, S. 67 ff.) die Struktur der Bildung prägt (Hedtke 2011, S. 24). Aus den fachwissenschaftlichen Stoffkategorien sollten aber im Sinne der klajkisehen kategorialen Didaktik fachdidaktische Kategorien, die so genannten Bildungskategorien werden (Derbolav 1960, S. 27). Auch die von Hedtke (2011, S. 31 ff.) angeführten Ansätze „paradigmatischer ökonomischer Bildung" mit der Hervorhebung des Akteursmodells als typisch ökonomische Denkweise und den Ansätzen, die die neue Institutionenökonomik als Denkweise ins Zentrum ökonomischer Bildung stellen, entspringen weitestgehend einem rein fachwissenschaftlichen Impetus und nicht einer fachdidaktischen Argumentation und sind somit unter den multiplen Fragestellungen der Kompetenzmessung nur eingeschränkt nutzbar. Die Frage ist, was ökonomische Bildung auszeichnet. Einen Erklärungsansatz hierzu liefern Schlösser und Schuhen (2011) mit ihren Vorschlägen zu einer ökonomischen Grundbildung und den drei Grunderfahrungen ökonomischer Bildung (Schuhen 2012). Deutlich wird in Übereinstimmung mit Hedtke, dass ökonomische Bildung alles andere als die Verkürzung einer Fachwissenschaft ist. Es geht nicht um deren Abbildung, aber Aufgabe einer jeden Fachdidaktik ist es, die einer Fachwissenschaft typischen Denkund Erklärungsmuster sowie deren Sprache und Darstellungsform zu vermitteln (Klafki

134

Klaas Macha und Michael Schuhen

1976, S. 275). Diese typischen Denk- und Erklärungsmuster finden sich in der Idee der „Big Ideas" wieder. Einen ersten Ableitungsversuch haben Schlösser und Schuhen (2006, S. 17 ff.) bereits in ihrer Analyse ökonomischer Leitideen, hervorgegangen aus einer Analyse kategorialer Vorstellungen, vorgenommen. Diese Analyse wurde in ECOS durch eine Inhaltsanalyse der in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gängigen Schulbücher für Sozialwissenschaften ergänzt. Tabelle 1:

Inhaltsbereiche und Itemstämme in ECOS

Inhaltsbereich

Itemstämme

I. Geld

10

1. Kontoführung

2

2. Haushaltsbudget / Einkommensverwendung

4

3. Wechselkurs

2

4. Inflation

1

5. Bruttoinlandsprodukt

1

II. Markt

8

6. Angebot und Nachfrage

2

7. Marktformen

2

8. Marktverhalten

2

9. Öffentliche Güter / Allmende

2

III. Arbeit

8

10. Berufswahl und Bewerbung

2

11. Berufsausbildung

1

12. Produktionsprozess

1

13. Arbeits- und Transfereinkommen

2

14. Arbeitslosigkeit / Demographischer Wandel

2

Gesamtzahl

26

Quelle: eigene Darstellung Die quantitative Analyse ergab folgende Themen: — Geld: Hierbei steht Geld nicht für den engen Bereich der Geldpolitik. Geld umfasst auch Fragen der Haushaltsführung, des Sparens, Versicherns, also im weitesten Sinne eine ,financial literacy' inklusive einer „geldnahen" Verbraucherbildung, die den engeren Bereich einer volkswirtschaftlich geprägten Geldpolitik ergänzt. — Markt: Hinter dem Begriff Markt verbirgt sich ebenfalls nicht das enge Konzept von Angebot, Nachfrage und Preisbildung, dessen Prinzip ansonsten auch auf den Geld- und Arbeitsmarkt hätte übertragen werden können, sondern in die Kategorie

135

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

Markt sind auch betriebswirtschaftliche Konzepte wie fixe und variable Kosten und Themen aus dem Bereich Konjunkturzyklus eingegangen. -

Arbeit-, Auch im Bereich Arbeit wird nicht nur der Arbeitsmarkt an sich thematisiert, sondern das weite Feld der Berufsorientierung und -wähl ist ebenfalls in diesen Oberbegriff inkludiert.

Die quantitative Analyse wurde durch Expertenbefragungen mit Wirtschaftslehrerinnen und -lehrern und Wirtschaftswissenschaftlern validiert, die die Bereiche als relevant und inhaltlich ansahen. Sie können nach Meinung der Experten als pars pro toto für das Feld des Ökonomischen stehen. Zu diesen drei „Big Ideas" wurden die in Tabelle 1 angegebenen Itemstämme erstellt.

6.

Ergebnisse

Betrachtet man nun die empirischen Zusammenhänge des theoretisch abgeleiteten Domänenverständnisses, so geben die Korrelationen (nach Pearson) einen ersten Eindruck über die Beziehungen der unterschiedlichen psychologischen Konstrukte untereinander. Die in der nachfolgenden Tabelle ersichtlichen Werte sind hierbei so zu verstehen, dass die Variable ECOS_MATH den Summenscore der insgesamt 30 Aufgaben mit mathematisch ökonomischer Ausrichtung repräsentiert. Die Ergebnisse wurden hierbei in dem Sinne dichotomisiert, dass 1 eine richtige Antwort charakterisiert und 0 eine falsche. ECOS_VERBAL steht für den Summenscore der insgesamt 28 Items, die verbale ökonomische Kontexte betreffen. Unter dem Akronym CFT verbirgt sich der Summenscore des allgemeinen Intelligenztests, WS steht für den Summenscore des Wortschatztests und ZF für den Summenscore des Zahlenfolgentests. Tabelle 2:

Korrelationenmatrix MATHE vs. VERBAL ECOS_

ECOS_

MATHE

VERBAL

WS

ZF

ECOS MATHE

1

ECOS VERBAL

,649

1

WS

,374

,436

1

ZF

,464

,466

,635

1

CFT

,386

,444

,600

,674

CFT

1

Alle Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.

Quelle: Macha und Schuhen (2012), S. 172 Die im linken unteren Quadranten dargestellten Korrelationen sind auf dem 0,01Niveau signifikant und decken sich mit den mehrfach belegten Korrelationen der verschiedenen Intelligenzkomponenten ( W e i ß 1998). Betrachtet man die doch recht hohe Korrelation von 0,649 zwischen den Summenscores ECOS_MATHE und ECOS_ VERBAL, die sich trotz der Aufgabenkonstruktion mit spezifisch mathematisch orientierten bzw. verbal orientierten ökonomischen Fragestellungen ergibt, so darf geschluss-

136

Klaas Macha und Michael Schuhen

folgert werden, dass eine übergreifende Komponente ökonomischer Kompetenz existiert, die für beide Testteile notwendig ist. Dass die mathematische ökonomische Kompetenz wie erwartet in mittlerem Maße mit der allgemeinen Intelligenz und mit der verbalen Intelligenz korreliert und dass ihr stärkster Prädiktor die mathematische Intelligenzkomponente ist, spricht für das zugrunde gelegte Modell. Entgegen der im Vorfeld diskutierten möglichen Ergebnisse überrascht, dass die ökonomische Kompetenz in verbal orientierten ökonomischen Kontexten ebenfalls, wenn auch auf niedrigem Niveau, stärker von mathematischen Intelligenzanteilen beeinflusst zu werden scheint als von verbalen. Ein Erklärungsansatz für diesen Befund ist, dass selbst in ökonomisch geprägten Alltagssituationen mathematische Fähigkeiten gefordert sind. Dies würde erklären, warum Mathematikkompetenz die ökonomische Kompetenz insgesamt beeinflusst. Tabelle 3:

Korrelationenmatrix der Inhaltsbereiche ECOS_

ECOS

ECOS_

Geld

Markt

Arbeit

ECOSGeld

1

,581

ECOSMarkt

,581

1

ECOS_ Arbeit

WS

ZF

CFT

,458

,400

,476

,426

,379

,432

,445

,408

1

,226

,287

,244

1

,635

,600

1

,674

WS ZF CFT

1

Alle Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.

Quelle: eigene Darstellung Betrachtet man die Korrelationen der ECOS-Inhaltsbereiche, so fallt auf, dass die Beziehungen zwischen ECOS_Markt und ECOS_Geld wesentlich deutlicher ausfallen als die Beziehungen zwischen ECOS_Markt/ECOS_Geld zum Themenbereich ECOS_Arbeit. Dies mag u.a. an der weiten Formulierung des Themenbereiches Arbeit liegen, da u.a. Berufswahl und Bewerbungsgespräch in das Konstrukt aufgenommen wurden. Ferner fallt auf, dass die Beziehungen der einzelnen Testteile untereinander höher sind als die Korrelationen zum Wortschatztest, dem allgemeinen Intelligenztest und zum Zahlenfolgentest. Auch diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es eine spezifische ökonomische Kompetenz gibt.

7.

Zusammenfassung und Ausblick

Mit der ECOS-Pilotstudie und dem in ihr gemessenen „Siegener Kompetenzmodell" wurde der erste Versuch unternommen, eine Aussage über die ökonomische Allgemeinbildung von Schülern, verstanden als alltagsorientierte ökonomische Grundbildung, zu treffen. Eine Unterscheidung in die verschiedenen Kompetenzbereiche, so zeigen es die Daten, scheint berechtigt und weiterführend. Die von Beck (1989, S. 579) der ökonomi-

Kompetenzmessung in der Domäne Ökonomie

137

sehen Bildung vorgeworfene „wolkige Konturenlosigkeit" wird durch diese Ergebnisse zwar noch nicht beseitigt, aber ein erstes getestetes Konstrukt und ein einem Belastungstest unterzogenes Erhebungsinstrumentarium eröffnen nun die Möglichkeit, ökonomische Kompetenzen noch detaillierter zu erheben und in ein Large-Scale-Assessment zu überfuhren.

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138

Klaas Macha und Michael Schuhen

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Menschenbild und Moralität: Der Selektions- und Indoktrinationseffekt ökonomischer Bildung

Christian Müller, René Ruske und Johannes Suttner'

Inhalt 1.

Das Menschenbild in der Ökonomie: Fluch oder Segen?

140

2.

Selektion oder Indoktrination? Ergebnisse der empirischen Forschung

142

3.

4.

2.1. Laborexperimente

142

2.2. „Real World"-Experimente

144

2.3. Umfragen

145

Untersuchung und Ergebnisse

147

3.1. Deskriptive Statistik

148

3.2. Regressionsanalyse

150

3.3. Selektion und Indoktrination

151

Fazit

151

Literatur

152

Die Autoren danken Tobias Pfaff und Michael Oberste für wertvolle Anregungen. Des Weiteren gilt unser Dank Sonja Rinne, Fabian Schleithoff und Lisa Schlesewsky für ihre Hilfe bei der Datenerhebung.

140

1.

Christian Müller, René Ruske und Johannes Suttner

Das Menschenbild in der Ökonomie: Fluch oder Segen?

Aus den zahlreichen Arbeitsgebieten, denen sich Hans Jürgen Schlösser im Laufe seines beruflichen Schaffens gewidmet hat, sticht die Beschäftigung mit dem Homo Oeconomicus und seinen jüngeren „Verwandten" besonders hervor. Bereits in seiner Habilitationsschrift {Schlösser 1992) verteidigte er mit teils wissenschaftstheoretischen, teils ökonomisch-fachwissenschaftlichen Argumenten das - so der Titel seiner Arbeit „Menschenbild in der Ökonomie" gegen die Angriffe aus der eigenen wie aus Nachbardisziplinen, wobei er als Menschenbild nicht eine anzustrebende Norm verstand, sondern eine positive Theorie des durchschnittlichen Verhaltens von Individuen. Schlösser würdigte darin nicht nur das Innovationspotenzial, das besonders Gary S. Becker aus dem traditionellen ökonomischen Ansatz gehoben hatte, sondern erkannte auch die Bedeutung der damals noch jungen - v.a. empirisch orientierten - Forschungen aus dem Bereich der Behavioral Economics. Schlösser widmete sich besonders dem von Schelling, Elster und anderen herausgearbeiteten, nicht selten unter dem Rubrum der „Egonomics" (Schelling 1978; siehe auch Elster 1985; Koboldt 1995; Tietzel und Müller 1998) firmierenden Problem der „Willensschwäche", nach dem der Homo Oeconomicus als eine „multiple Persönlichkeit" modelliert wird, also nach der Verwirklichung gleich mehrerer, einander widersprechender Präferenzsysteme strebt. In seiner originellen und informierten Auseinandersetzung mit der möglichen „Zerrissenheit" (Schlösser 1992, S. 134) des Entscheidungsträgers verknüpft Schlösser (1992, S. 132 ff.) diese Idee unter anderem mit der Ethik und entwickelt dabei en passant die interessante und folgenreiche Idee, die Metapräferenz des Individuums als Soziale Wohlfahrtsfunktion utilitaristischer oder Äaw/sianischer Prägung zu formulieren. Auch in den folgenden Jahren ließ Schlösser die ökonomische Verhaltenstheorie nicht mehr los. So betrachtete er die Frage des „economic man" unter dogmenhistorischen Aspekten {Schlösser und Schlösser 2007), konfrontierte sie mit neueren Entwicklungen, etwa aus der neuronalen Forschung {Schlösser 2006), oder beschäftigte sich mit ihrem Test im Experiment {Schlösser et al. 2009). Wir wollen im Folgenden die Frage des Menschenbildes mit dem zweiten großen Arbeitsgebiet Schlössers verbinden: mit der ökonomischen Bildung. In der empirischen Literatur gibt es seit geraumer Zeit die Beobachtung, dass sich Ökonomen von NichtÖkonomen in Bezug auf ihr Fairness-Empfinden und -verhalten signifikant unterscheiden. Wirtschaftswissenschaftler, so zeigt eine wachsende Zahl von Arbeiten, tendieren dazu, Fairness-Aspekten ein geringeres Gewicht einzuräumen als andere Menschen. Wer über (akademische) ökonomische Bildung verfügt, verhält sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit „unsozial", insofern er in klassischen GefangenendilemmaSituationen mehr als „Trittbrettfahrer" agiert oder im Ultimatumspiel {Güth, Schmittberger und Schwarze 1982) stärker von der Gleichverteilungsvorstellung abweicht, welche die meisten NichtÖkonomen für gerecht halten. Wirtschaftswissenschaftler wenden, so scheint es, das positiv-theoretische Verhaltensmodell des Homo Oeconomicus in ihren eigenen Entscheidungssituationen häufiger normativ an als andere Menschen: Sie nehmen den Kalkül des rationalen und eigeninteressierten Entscheidungsträgers,

Menschenbild und Moralität

141

wie ihn die ökonomische Theorie meist zur verhaltenstheoretischen Grundlage ihrer Modelle macht, nicht (nur) als Erklärung, sondern als Verhaltensnorm. Macht also die Beschäftigung mit dem ökonomischen Menschenbild die Adressaten wirtschaftlicher Bildung zu „schlechteren" - oder zumindest konservativeren, weniger an Fairness-Idealen orientierten - Menschen? Selbst Standardökonomen nehmen genau dies an. So schreibt etwa bereits Stigler (1959, S. 528): „The main reason for the conservatism [of economists; die Verf.] surely lies in the effect of the scientific training the economist receives. He is drilled in the problems of all economic systems and in the methods by which a price system solves these problems:"

Auch in der wissenschaftlichen Diskussion zur ökonomischen Bildung finden sich mitunter Vertreter dieser sog. Indoktrinationsthese. Es ist sicher nicht zu weit gegriffen zu vermuten, dass die jahrzehntealten Forderungen nach einem eigenen Schulfach für Wirtschaft 2 , das auch der empirisch ermittelte katastrophale Zustand des Schülerwissens über ökonomische Sachverhalte nahelegt 3 , auch deshalb bislang einen so geringen politischen Widerhall gefunden hat, weil einschlägige Autoren eine Schulung des Denkens von Kindern durch das Rational-Choice-Modell für schädlich halten. 4 Die Kausalität könnte aber auch genau umgekehrt sein: Nicht die Ökonomik lehrt dann die Menschen, den Markt für fair zu halten, sondern Menschen, die den Markt für eine faires Allokationsverfahren halten, wählen die Ökonomie als ihr Studienfach. Nicht Indoktrination durch die ökonomische Theorie wäre dann der Grund für das empirisch protokollierte abweichende Verhalten von Ökonomen, sondern eine (Selbst->Se/eta'on. Was lässt sich über den relativen Einfluss beider Effekte sagen? Das Institut für Ökonomische Bildung an der Universität Münster befragte hierzu über 600 Erstsemesterstudierende wirtschaftswissenschaftlicher und anderer Studiengänge nach ihrer Fairness-Einstellung in Bezug auf einen Beispielsfall, in dem u.a. der Marktmechanismus bewertet werden sollte. Um die Robustheit der Ergebnisse vorangegangener Umfragen überprüfen zu können, wurde hierbei das exakte Design der Studie von Haucap und Just (2010), welche auf dem Design der Studie von Frey et al. (1993) aufbaut, übernommen. Des Weiteren wurde in der hier vorliegenden aktuellsten Version auf die Repräsentativität der gewählten Stichprobe sowie auf die Berücksichtigung relevanter Kontrollvariablen geachtet. 5 Hinzu kommt, dass im Unterschied zur bisherigen Literatur die Befragung der Ökonomiestudierenden am Anfang und am Ende des Semesters

2

Vgl. hierzu Krol (2001); Kruber (2001); Kaminiski et al. (2007); Schlösser (2008).

3

Vgl. hierzu Sczesny und Lüdecke (1998); Müller, Fürstenau und Witt (2007); Wurth und Klein (2001); Erner, Gödde-Menke und Oberste (201 la).

4

Siehe hierzu auch die Auseinandersetzung zwischen Hedtke (2008) einerseits und Kaminski und Eggert (2009) sowie Kaminski (2009) andererseits.

5

Eine Schwäche der von Frey et al. (1993) durchgeführten Studie war der Verzicht auf die Aufnahme relevanter Kontrollvariablen bzw. Soziodemographika wie des erwarteten (zukünftigen) Einkommens, von Geschlecht, Alter, Ausbildungsniveau, Nationalität etc. Haucap und Just (2010) umgingen diese Problematik, da ihre Stichprobe aus männlichen Studenten der Bundeswehr verschiedener Fächer bestand und somit eine homogene Gruppe bildete. Sie selbst stellten dabei jedoch die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Studenten anderer „normaler" Universitäten in Frage (S. 241).

142

Christian Müller, René Ruske und Johannes Suttner

durchgeführt wurde. Erstmals ist damit eine Einschätzung des Indoktrinationseffekts eines einzigen Lehrveranstaltungsmoduls mit intensiven Rational-Choice-Bestandteilen möglich. Unser Beitrag ist wie folgt organisiert: Nach einem kurzen Überblick über die relevante Literatur (Abschnitt 2) stellen wir in Abschnitt 3 unser Untersuchungsdesign und unseren Datensatz mit deskriptiver Statistik und Regressionsanalyse vor. Im Ergebnis (Abschnitt 4) finden wir Hinweise für einen Indoktrinationseffekt, welcher sich aufgrund der Beschäftigung mit dem Homo-Oeconomicus-Modell ergibt; die Fairness-Einstellung der Befragten verändert sich im Laufe des Semesters leicht zugunsten der Marktallokation. Allerdings ist der Selektionseffekt deutlich stärker: Personen, die ein Ökonomiestudium aufnehmen, halten den Markt für fairer als Studienanfänger in den Fächern Medizin, Germanistik und Theologie. Der Beitrag schließt mit der Frage der Übertragbarkeit unserer Ergebnisse auf schulische Lehr-Lern-Prozesse (Abschnitt 5).

2.

Selektion oder Indoktrination? Ergebnisse der empirischen Forschung

Die empirische Literatur hat sich in den vergangenen Jahren um eine Klärung des Verhältnisses von Indoktrinations- und Selektionseffekt bei der Vermittlung des ökonomischen Menschenbildes mit Hilfe von Labor-Experimenten, sog. „Real World"Experimenten und mit Umfragen bemüht. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei vor allem auf Verhaltensunterschiede, die sich als Konsequenz des Einflusses der institutionalisierten ökonomischen Bildung auf die Ansichten der Individuen über die Vorteilhaftigkeit des Markt- und Preissystems sowie allgemein gegenüber der Profitmaximierung ergeben.

2.1. Laborexperimente Betrachtet man zunächst die Ergebnisse der vorliegenden Labor-Experimente in diesem Kontext, so lässt sich eine eindeutige Tendenz erkennen: Ökonomen verhalten sich systematisch eigennutz- bzw. profitorientierter als Nicht-Ökonomen. Die Frage, ob hierfür Selbstselektions- oder Indoktrinationseffekte verantwortlich gemacht werden können, lässt sich in diesem Rahmen jedoch aufgrund der vorliegenden heterogenen Resultate nicht eindeutig beantworten. Marwell und Ames (1981) führten erstmalig ein Laborexperiment durch, in welchem sie systematische Unterschiede im Trittbrettfahrerverhalten zwischen Ökonomen und Nicht-Ökonomen untersuchten. Sie fanden heraus, dass Ökonomiestudenten im Vergleich zu Studierenden anderer Fachrichtungen deutlich mehr dazu tendierten, die FreeRiding-Strategie zu spielen, insofern diese vergleichsweise am wenigsten zu einem fiktiven öffentlichen Gut beisteuerten. Ob in diesem Fall Selbstselektions- oder Indoktrinationseffekte für die Verhaltensunterschiede zwischen Ökonomen und Nicht-Ökonomen verantwortlich waren, wurde in ihrem Szenario aufgrund des einheitlichen Ausbildungsniveaus der Ökonomen jedoch nicht näher untersucht.

Menschenbild und Moralität

143

Auch im Gefangenendilemma-Experiment von Frank et al. (1993) defektierten Ökonomiestudierende deutlich öfter als Studierende anderer Fächer. Im Gegensatz zu Marwell und Ames (1981) identifizierten sie in ihrem Szenario jedoch sowohl Selbstselektions- als auch Indoktrinationseffekte. Carter und Irons (1991) untersuchten die Fragestellung anhand eines Ultimatumspiels (grundlegend Güth, Schmittberger und Schwarze 1982). In diesem Spiel unterbreitet ein Vorschlagender einer anderen Person, dem Responder, ein Angebot, eine bestimmte Summe Geldes, die von dem Versuchsleiter bereitgestellt wurde, aufzuteilen. Nur dann, wenn der Antwortende die vorgeschlagene Verteilungsregel akzeptiert, erhalten beide Spieler den Betrag wie vorgeschlagen; lehnt er hingegen ab, gehen beide Parteien leer aus. Verhandlungen zwischen den Beteiligten sind nicht möglich. Die Standard-Spieltheorie lässt nun erwarten, dass der Vorschlagende rationalerweise ein Angebot wählt, das der kleinstmöglichen Einheit entspricht, die er dem Antwortenden zugestehen kann. Der Rezipient wird dieses Angebot auch tatsächlich annehmen, da ihn - als rationalen, unersättlichen Nutzenmaximierer - jeder noch so kleine Ressourcenzuwachs gegenüber dem Status quo besser stellt. Tatsächlich machen reale Individuen aber Angebote zumeist nach der 50:50-Regel (Ockenfels 1999, S. 141-143). Die Ablehnungswahrscheinlichkeit wird dabei umso kleiner, je kleiner der zu verteilende „Kuchen" (Slonim und Roth 1998, S. 590 f.) und/oder je größer die absolute Höhe des Angebots (Bolton und Zwick 1995) ist. Im Unterschied zu den Vorhersagen der ökonomischen Standardtheorie ist die Mehrzahl der Spielteilnehmer offenkundig bereit, Vorteilseinbußen in Kauf zu nehmen, um bestimmte Fairness-Gebote einzuhalten. Statt allein ihren eigenen Nutzen zu maximieren lassen sich Menschen Fairness offensichtlich etwas kosten - vorausgesetzt, es handelt sich nicht um Ökonomen. Denn Ökonomen schlagen ihren Mitspielern systematisch geringere Geldbeträge vor als Nicht-Ökonomen, so dass sich ihr strategisches Verhalten sehr viel mehr mit dem von der Standardtheorie Vorhergesagten deckte. Die Ursache für diese Verhaltensunterschiede fuhren Carter und Irons auf Selbstselektionseffekte zurück, da das Verhalten zwischen Ökonomen unterschiedlicher Ausbildungsphasen keine weiteren Differenzen aufwies. Selten und Ockenfels (1998) entwarfen ein Solidaritätsspiel, in welchem der bzw. die Gewinner eines fiktiven Geldgewinns die Möglichkeit hatten, diesen mit dem Verlierer bzw. den Verlierern eines Dreierteams zu teilen. Wiederum zeigten die Ökonomen im Fall eines Gewinnes eine signifikant geringere Bereitschaft zu teilen als die NichtÖkonomen. Neben erkennbaren Selbstselektionseffekten ließen sich in diesem Fall Indoktrinationseffekte jedoch nur bei männlichen Ökonomen nachweisen. Frank und Schulze (2000) entwickelten ein Experiment, welches erstmalig Verhaltensunterschiede zwischen Ökonomen und Nicht-Ökonomen im Hinblick auf Korruption untersuchte. Sie konnten eine signifikant höhere Korruptionsneigung bei Studierenden der Ökonomie als bei Studierenden anderer Fachrichtungen feststellen. Wie Carter und Irons (1991) führen sie die Verhaltensunterschiede hauptsächlich auf Selbstselektionseffekte bei den Ökonomen zurück.

144

Christian Müller, René Ruske und Johannes Suttner

2.2. „Real World"-Experimente Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass diese Ergebnisse allein eine Folge unrealistischer Experimentalsituationen sind, wie Befürworter von „Real World"-Experimenten bemängeln. So wird in der Literatur, neben individueller operativer Kritik - u.a. an der Relevanz und Repräsentativst der Stichprobe, der Anzahl und Auswahl der Kontrollvariablen oder der Nichtbeseitigung verzerrender Einflüsse - , vor allem das generelle Problem der externen Validität von Laborexperimenten angeführt, d.h. der Übertragbarkeit von Ergebnissen aus hypothetischen „Spiel-Situationen" auf tatsächliches menschliches Verhalten. 6 So widersprechen Yezer et al. (1996, S. 159) der von Frank et al. (1993) im Labor erzielten allgemeinen Aussage, dass „the exposure to the self-interest model commonly used in economics alters the extent to which people behave in self-interested ways." Aus dem unterschiedlichen Verhalten der Ökonomen in Labor-Experimenten lasse sich nämlich lediglich eine Aussage über deren besseres Verständnis für strukturierte Spielsituationen ableiten und über deren realistischere Einschätzung über das Kooperationsverhalten von Individuen im Sinne der standardtheoretischen „nonfairness assumption" 7 treffen (Yezer et al. 1996, S. 39). In einem „Lost Letter"-Experiment zeigten sie weiterhin, dass entgegen den Erkenntnissen aus der Labor-Forschung Ökonomiestudierende in ihrem Szenario sogar ein signifikant kooperativeres bzw. ehrlicheres Verhalten als Studierende anderer Fächer aufwiesen, da diese verhältnismäßig mehr unversiegelte und mit einem Geldbetrag gefüllte Briefe an die angegebenen Absender zurückgaben. Auf Indoktrinationseffekte konnte in diesem Experiment allerdings aufgrund der Homogenität innerhalb der Gruppe der Ökonomen nicht eingegangen werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Laband und Beil (1999), welche die Zahlungsmoral von Wissenschaftlern verschiedener Professionen überprüften. In ihrer Untersuchung verglichen sie den Eingang von Zahlungen jährlicher Beiträge, welche Ökonomen, Soziologen und Politologen in Abhängigkeit der Höhe ihres Gehaltes an die jeweilige „American Science Association" abzuführen hatten. Wiederum zeigten die Ökonomen, dass sie, betrachtet man den fristgerechten Eingang und die korrekte Höhe des überwiesenen Betrages, ebenso kooperativ wie die Politologen und sogar kooperativer als die Soziologen waren. Blais und Young (1999) führten eine Feldstudie über das Wahlverhalten kanadischer Bürger durch. Einer großen Gruppe Studierender wurden während der kanadischen Bundeswahlphase 1993 in einer zehnminütigen Präsentation das nach dem RationalChoice-Ansatz zu erwartende Wahlverhalten vermittelt. Im Vergleich zur nicht geschul-

6

7

Für eine nähere Betrachtung der Diskussion über die (relative) Vorteilhaftigkeit von Laborbzw. „Real World"-Experimenten siehe z.B. Kirchgässner (2005) und Cipriani et al. (2009). Die traditionelle standardökonomische Theorie geht von einer Abwesenheit von Fairnesserwägungen bzw. allgemein von einer Abwesenheit moralischer Motive bei den Handlungen von Individuen aus. Diese nutzen vielmehr, nach dem Leitbild des Homo Oeconomicus, jede sich bietende legale Möglichkeit zur Profitmaximierung aus. Kahneman et al. (1986a, S. 285-286) sprechen von der sog. „nonfairness assumption" der standardökonomischen Theorie.

Menschenbild und Moralität

145

ten Kontrollgruppe stellten sie einen Rückgang der Wahlbeteiligung der „indoktrinierten" Studierenden um sieben Prozent fest. In einer „Real World"-Studie über das Verhalten von Schweizer Ökonomen im Vergleich zu Nicht-Ökonomen im Hinblick auf deren tatsächliches Spendenverhalten untersuchten Frey und Meier (2003; 2005) deren Bereitschaft, zu zwei Sozialfonds der Universität Zürich beizutragen. Sie konnten zeigen, dass in diesem Fall wiederum ein auf Selbstselektionseffekte zurückfuhrbares eigennutzorientierteres Verhalten der Ökonomiestudierenden im Vergleich zu Studierenden anderer Fachrichtungen resultierte. Es zeigt sich, dass aufgrund der vorliegenden widersprüchlichen Evidenz der „Real World"-Experimente bzw. der gesamten experimentellen Forschung sowohl keine klare Tendenz zum eigennutzorientierteren Verhalten der Ökonomen auszumachen ist als auch die Frage offen bleibt, ob diese auf Selbstselektion oder Indoktrination zurückzufuhren ist. Kirchgässner (2005, S. 551) sieht die Ursache hierfür primär in der vorherrschenden „low-cost"-Situation der Probanden in Kombination mit der fehlenden Erfassung ihrer Einkommenssituation: »[•••] — due to the low-cost situations in which they are performed — these laboratory and field experiments tell us more about the preferences of the subjects than about their actual behaviour in (costly) everyday situations. Economic theory, however, has hardly anything to tell us about preferences but rather considers changes in behavior of individuals as a result of changes in constraints. If different people in different places at different points of time have different preferences, we should not be surprised to see different results."

2.3. Umfragen Bei der dritten Forschungsstrategie in diesem Kontext, den Umfragen, arbeiten die Ökonometriker bis heute an einer Verbesserung der operativen und methodischen Qualität. So besteht zwar auch bei dieser Alternative das Problem der externen Validität; die vermehrte Aufnahme von Kontrollvariablen und die Ausweitung der Stichproben in der neueren Literatur lassen hingegen immer genauere Aussagen zur oben genannten Fragestellung zu. Hinzu kommt, dass grundsätzlich eine Motivation für strategisches Verhalten nach dem „cheap talk"-Argument aufgrund der fehlenden Anreize ausgeschlossen werden kann (Kirchgässner 2005, S. 548). Mithilfe einer Umfrage konnten Kearl et al. (1979) erstmals zeigen, dass eine deutliche Mehrheit von 600 befragten Angehörigen der American Economic Association an das Funktionieren und die Vorteilhaftigkeit des Marktsystems glaubten 8 . Ein entgegengesetztes Ergebnis zeigte sich bei Kahneman et al. (1986a) in einer Umfrage unter 191 Haushalten der Stadt Vancouver zu verschiedenen Allokationsmechanismen. Im Genaueren sollten die Alternativen „Lotterie", „Auktion" sowie „first-come first-served" bei dem Verkauf von Fußballtickets im Hinblick auf deren Fairness bewertet werden. Es zeigte sich, dass nur eine geringe Anzahl von vier Prozent der Befragten die marktnahe

8

Vergleichbare länderspezifische Studien mit ähnlichen Ergebnissen wurden von Bobe und Etchegoyen (1981) für Frankreich, Frey et al. (1982) für die Schweiz, Schneider et al. (1983) für Deutschland und von Pommerehne et al. (1983) für Österreich durchgeführt. Einen Überblick hierzu bietet Frey et al. (1984).

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Lösung der Auktion für fair hielt. Differenziertere Aussagen, etwa zu Selbstselektionsoder Indoktrinationseffekten, lassen beide Studien jedoch aufgrund fehlender Kontrollvariablen und Referenzgruppen noch nicht zu. Abweichend davon hatten Kahneman et al. (1986b) in einer weiteren Umfrage die Fairness des Preismechanismus im Fokus. Darin befragten sie Einwohner der Städte Toronto und Vancouver, wie diese gegenüber einer Preiserhöhung von Schneeschaufeln als Folge eines Nachfrageanstiegs, der wiederum aus einer unerwarteten winterlichen Extremsituation resultierte, gegenüberstanden. Wie zu erwarten, bildete sich als die überwiegende Meinung der Bürger heraus, dass in einer solchen Situation die marktlichen Vorgänge zu einem unfairen bzw. sehr unfairen Ergebnis fuhren. Wie bei den vorangegangenen Umfragen wurde auch in ihrer Studie auf eine weitergehende Analyse der Ursachen und einer Abgrenzung zu einer Kontrollgruppe verzichtet. Gleiches gilt für Gorman und Kehr (1992) sowie Frey und Pommerehne (1993), welche eine identische bzw. eine modifizierte Version 9 der Umfrage von Kahneman et al. (1986b) durchführten und wiederum vergleichbare Ergebnisse fanden. Frank et al. (1993) befragten 1245 zufällig ausgewählte Professoren nach ihrem Wahl- und Spendenverhalten. Sie konnten zeigen, dass einerseits beim Wahlverhalten keine signifikanten Differenzen zwischen Ökonomen und Nicht-Ökonomen feststellbar waren, andererseits im Spendenverhalten die Ökonomen hingegen deutlich mehr „Free rider"Verhalten aufwiesen. Ein erster Evolutionsschritt, aufbauend auf der modifizierten Umfrage von Frey und Pommerehne (1993), vollzog sich durch die Studie von Frey et al. (1993). Diese stellten durch die Befragung von Ökonomie-Studierenden verschiedener Ausbildungsphasen der Universitäten Zürich und Berlin sowie von Haushalten in WestBerlin und Zürich eine direkte Vergleichbarkeit der Antworten her. Sie konnten zeigen, dass signifikant mehr Ökonomen (34 %) die Preiserhöhung als fair bewerteten als Nicht-Ökonomen (15 %). Des Weiteren waren sie in der Lage, Indoktrinationseffekte weitestgehend auszuschließen, da sich das Verhalten innerhalb der Gruppe der Ökonomen mit zunehmendem Ausbildungsniveau kaum änderte. An der Untersuchung von Frey et al. (1993) ist jedoch zu kritisieren, dass sie die allgemeinen Ceteris-paribus-Bedingungen verletzt haben, insofern sie weder auf das erwartete Einkommen noch auf andere relevante Soziodemographika wie Geschlecht, Alter, Nationalität und Ausbildungsniveau testeten. U m dieser Problematik zu entgehen, führten Haucap und Just (2010) einen weiteren Durchlauf der Befragung mit männlichen Offiziers-Studenten verschiedener Disziplinen an der Universität der Bundeswehr in Hamburg durch, welche im Hinblick auf Soziodemographika sowie Einkommenserwartungen eine homogene Gruppe darstellten. Wiederum konnten sie zeigen, dass Ökonomen (durchschnittlich 50 %) „marktfreundlich" agierten, also eine Preiserhöhung deutlich fairer einschätzten als die Studenten anderer Fächer (28 %). Im Gegensatz zu Frey et al. (1993) fanden sie jedoch auch Evidenz für einen Indoktrinationseffekt. Dieser zeigte sich, da Ökonomiestudierende höherer Fachsemester (60 %) wiederum signi-

9

Frey und Pommerehne (1993) ersetzten die Nachfrage nach Schneeschaufeln durch die Nachfrage nach Wasserflaschen an einem heißen Tag auf einer Aussichtsplattform.

Menschenbild und Moralität

147

fikant marktfreundlicher eingestellt waren, als Ökonomiestudierende im ersten Jahr (41 %). Im Unterschied zu vorangegangenen Studien behandelt Rubinstein (2006) hauptsächlich den Konflikt zwischen der Profitmaximierung einer Firma und den hierfür notwendigen Entlassungen der Belegschaft. Seine Stichprobe umfasst dabei Studierende verschiedener Fachrichtungen der Universität Tel Aviv, Harvard-Doktoranden der Ökonomie sowie Leser der israelischen Wirtschaftszeitung „Globes". Die ÖkonomieStudierenden (durchschnittlich 47 %) verhielten sich auch hier im Vergleich zu Studierenden anderer Fachrichtungen (durchschnittlich ca. 21 %) und den Globes-Lesern (28 %) eigennutzorientierter (im Sinne der Profitmaximierung „ihrer" Firma). Eine Überraschung brachte hingegen das unterschiedliche Verhalten der vergleichsweise „indoktrinierteren" Harvard-Doktoranden mit sich, da sie sich je nach „Framing" der Fragestellung zwischen 27 % und 51 %, im Mittel (39 %) jedenfalls deutlich seltener als die Ökonomie-Studierenden für die Profitmaximierung entschieden. Nachteilig an der Untersuchung von Rubinstein (2006) ist jedoch die wie in früheren Studien fehlende Möglichkeit einer klaren Differenzierung der Verhaltensunterschiede im Hinblick auf Selbstselektion bzw. Indoktrination. Cipriani et al. (2009) kombinierten die Umfragen von Kahneman et al. (1986a/b) und Rubinstein (2006). Mithilfe ihrer Stichprobe von Studierenden verschiedener Fachrichtungen konnten sie wiederum signifikante Unterschiede im Profitmaximierungsverhalten und der Bewertung marktlicher Mechanismen zwischen Ökonomen und NichtÖkonomen feststellen, welche in ihrem Fall sowohl auf Indoktrinations- als auch auf Selbstselektionseffekte zurückzufuhren waren.

3.

Untersuchung und Ergebnisse

Unsere eigene Umfrage zur vergleichsweisen Fairness-Einstellung von ÖkonomieStudierenden führten wir im Wintersemester 2011/2012 an der Universität Münster durch. Im Interesse der Vergleichbarkeit mit anderen Studien verwendeten wir die Fragestellung von Haucap und Just (2010): Auf einem nur zu Fuß erreichbaren Aussichtspunkt wurde ein Brunnen geschlagen. Das Wasser wird in Flaschen abgefüllt und durstigen Wanderern für zwei Euro pro Flasche verkauft. Am Tag können maximal 100 Flaschen abgefüllt werden. An einem besonders heißen Tag werden 200 durstige Wanderer erwartet. Bitte beurteilen Sie die folgenden Maßnahmen, nach denen das Wasser den Wanderern angeboten werden soll: [...] Die Probanden haben dabei folgende fünf Allokationsmechanismen zu beurteilen: a) das Preissystem b) das Windhundverfahren („Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.") c) den Zufallsmechanismus d) eine behördliche Zuteilung e) eine Rationierung.

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Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, den jeweiligen Allokationsmechanismus als „sehr gerecht", „akzeptabel", „ungerecht" oder als „sehr ungerecht" zu qualifizieren. In den folgenden Ausfuhrungen beschränken wir uns auf die Deskription und Analyse der Beurteilung des Preissystems. Darunter wird den Studierenden vorgeschlagen, dass sich der Preis einer Flasche Wasser von zwei auf vier Euro erhöht. Die Umfrage führten wir in den ersten beiden Vorlesungswochen des Wintersemesters 2011/2012 in mehreren Erstsemesterveranstaltungen der Universität Münster in den Fachbereichen Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Germanistik und Katholische Theologie durch. Als Gruppe der Ökonomen befragten wir die Studierenden der ErstsemesterVorlesung „MikroÖkonomik" für interdisziplinäre Studiengänge. Das Modul ist für eine Untersuchung des Indoktrinationseffektes ökonomischer Bildung besonders geeignet, weil es für die Studierenden im Regelfall der erste und in diesem Semester einzige Kontakt mit dem ökonomischen Menschenbild darstellt. Auf diese Weise können wir die Auswirkungen von Rational-Choice-Inhalten isoliert betrachten. Die Vorlesung zur MikroÖkonomik findet im Umfang von vier Semesterwochenstunden statt; gemeinsam mit der ergänzenden Übung im Umfang von zwei Semesterwochenstunden bildet sie das Modul „MikroÖkonomik". Mit insgesamt sechs Semesterwochenstunden ist folglich die Befassung mit mikroökonomischen Sachverhalten sehr intensiv. Um den Indoktrinationseffekt im Verlauf eines einzigen Semesters besser als in den vorangegangenen Studien von Haucap und Just (2010) und Frey et al. (1993) erfassen zu können, fuhren wir für die Gruppe der Ökonomen die gleiche Befragung in der ersten und in der letzten Sitzung der Vorlesung durch. Über die eigentliche Fragestellung hinaus erheben wir von den Studierenden das Geschlecht, ihr Alter und ihre Nationalität, Note, Jahrgang und das Bundesland ihres Abiturs sowie ihre (weiteren) Studienfächer und das aktuelle Fachsemester. Um für institutionalisierte ökonomische Vorbildung kontrollieren zu können, fragen wir die Studierenden, ob sie in der Schule ein Fach mit Wirtschaftsinhalten besucht haben und gegebenenfalls welches. Zudem fragen wir nach den wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen, die sie unter Umständen bereits in früheren Semestern hatten, etwa in dem Fall, dass der wirtschaftswissenschaftliche Studiengang nicht ein Erststudium ist. Außerdem fragen wir anhand einer 5-Punkte-Skala von 1 (= links) bis 5 (= rechts) die politische Einstellung ab.

3.1. Deskriptive Statistik Aus unserer im Oktober 2011 durchgeführten Umfrage erhalten wir insgesamt 612 verwertbare Fragebögen. In der MikroÖkonomik erhalten wir am Anfang des Semesters 214 Fragebögen, die wir zur weiteren Analyse verwenden. Am Ende des Semesters ist die Teilnehmerzahl wohl etwas gesunken, so dass wir nur 171 Fragebögen zurückbekommen. Erwartungsgemäß ist die durchschnittliche Abiturnote bei den Medizinern mit 1,25 am höchsten. Der Durchschnitt der Stichprobe liegt bei 1,86. Alle anderen Gruppen liegen unter dem Durchschnitt.

149

Menschenbild und Moralität

Durchschnittlich 55,9 % geben an, ein „Schulfach mit Wirtschaftsinhalten" besucht zu haben (econschool = 1). Mit rund 60 % weisen die Studierenden aus der MikroÖkonomik und der Medizin einen hohen Wert auf, während von den Germanisten und Theologen nur etwas mehr als die Hälfte ein Schulfach mit Wirtschaftsinhalten hatte. Der Anteil derjenigen, die bereits eine Vorlesung aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich gehört hatten (econlect = 1 ) , liegt bei den MikroÖkonomik-Studierenden mit knapp 13 % am höchsten. In Tabelle 1 fassen wir einige deskriptive Informationen zusammen. Tabelle 1 : Deskriptive Statistiken zu einzelnen Vorlesungen Gruppe

Anzahl

Mittelwert Abiturnote

econschool = 1

econlect = 1

Gesamt 1

612

1,86

55,9 %

6,8 %

MikroÖkonomik (Semesteranfang) Medizin

214

1,94

58,9 %

12,9%

145

1,25

59,9 %

2,8 %

Germanistik

112

1,97

50,9 %

1,8%

Theologie

141

2,29

51,4%

5,8 %

MikroÖkonomik (Semesterende)

171

1,87

56,4 %

10,1 %

1

ohne zweite Umfrage in MikroÖkonomik

In Tabelle 2 geben wir schließlich nach Fächern gesondert den Anteil deijenigen Studierenden wieder, die das Preissystem mit „sehr gerecht" oder „akzeptabel" bewerten. Tabelle 2:

Anteile einzelner Gruppen, die das Preissystem als „sehr gerecht" oder „akzeptabel" qualifizieren

Gruppe

Anzahl

Gesamt'

612

Anteil an der Bewertung als „sehr gerecht" oder „akzeptabel" 29,8 %

214

47,9 %

145

24,3 %

Germanistik

112

18,9%

Theologie

141

16,6%

MikroÖkonomik (Semesterende)

171

52,4 %

MikroÖkonomik fang) Medizin

(Semesteran-

ohne zweite Umfrage in MikroÖkonomik

Unserer Vermutung entsprechend sehen die Ökonomen den Preismechanismus zu einem deutlich höheren Prozentsatz als gerecht an als die übrigen Studierenden, die um etwa 20 bis 30 Prozentpunkte darunter liegen. Dies deutet auf einen starken Selbstselektionseffekt hin.

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Ansonsten finden zu Semesterende 52,4 % das Preissystem gerecht, was einem Anstieg um 9,3 % gleichkommt. Jedenfalls scheint ein geringer Indoktrinationseffekt vorzuliegen. In der Studie von Haucap und Just (2010) ist bei der Preisallokation der Anteil der fortgeschrittenen Ökonomen mit 60 % etwas höher, jedoch befinden sich diese bereits am Ende ihres Studiums. Wir haben dagegen versucht, den Indoktrinationseffekt eines Semesters MikroÖkonomik zu isolieren. 3.2.

Regressionsanalyse

Im Folgenden interessieren wir uns für die Determinanten der fundamentalen Einstellung zur Allokation über das Preissystem, d.h. welche Variablen einen Einfluss darauf haben, ob man das Preissystem als im Grundsatz gerecht oder ungerecht ansieht. Zu diesem Zweck fuhren wir eine binäre logistische Regression durch, wobei die abhängige Variable den Erwartungswert abbildet, dass das jeweilige Verfahren als im Grundsatz gerecht, d.h. als „sehr gerecht" oder „akzeptabel", angesehen wird (auch Haucap und Just 2010). Als erklärende Variablen nehmen wir Dummys für drei der vier Vorlesungen und kontrollieren gleichzeitig für bereits gehörte Vorlesungen aus den Wirtschaftswissenschaften, ein Schulfach mit Wirtschaftsinhalten und das Geschlecht (jeweils als Dummy) sowie für die politische Einstellung, Abiturnote, Abiturjahr und das aktuelle Fachsemester. Tabelle 3:

Ergebnis der binären Logit-Regression für das Preisystem

intercept

-55,36 (-0,48)

econ_stud

1,11

medstud

0,01 (0,04)

theostud

-0,45

(3,46)***

econstud =

Teilnahme an MikroÖkonomik-Vorlesung (Dummy)

medstud =

Teilnahme an Medizin-Vorlesung (Dummy)

theostud =

Teilnahme an Theologie-Vorlesung (Dummy)

(-1,17) econlect

0,73

econlect =

Besuch anderer wirtschaftswissenschaftlicher Vorlesungen (Dummy)

econschool =

Besuch von Unterricht mit Wirtschaftsinhalten in der Schule (Dummy)

(1,60) econschool pol_att

-0,10 (-0,49) 0,45 (2,99)***

poiatt =

sex

0,59 (2,85)***

sex =

abigrade

-0,15 (-0,68)

abiyear

0,03

abigrade = abiyear =

politische Einstellung von 1 (= links) bis 5 (=rechts) Geschlecht (0 = weiblich, 1 = männlich) Abitumote Abiturjahrgang

(0,46) sem

sem = Fachsemester im angegebenen Hauptstudienfach (1,06) Signifikanzniveaus: *•» (1%), »* (5%), » (10%) In Klammem sind jeweils die dazugehörigen z-Werte angegeben. 0,08

Menschenbild und Moralität

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3.3. Selektion und Indoktrination Wie erwartet erhöht die Entscheidung für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium in überdurchschnittlichem Maß die Wahrscheinlichkeit für ein positives Gerechtigkeitsurteil über das Preissystem. Dies spricht für einen ausgeprägten Selektionseffekt. Geringeren, aber ebenfalls signifikanten Einfluss haben die politische Einstellung sowie das Geschlecht: Politisch rechts orientiert oder Mann zu sein hat einen positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, das Preissystem als gerecht einzustufen. Wirtschaftsunterricht in der Schule (econschooi) hat in keinem der Fälle einen signifikanten Einfluss. Dies könnte damit begründet werden, dass in der Schule kaum Rational-Choice-Bestandteile behandelt werden. Nach dem gängigen Abgrenzungskriterium für Signifikanzniveaus stellt sich auch die Variable econlect für die Änderung der grundsätzlichen Einstellung als nicht signifikant heraus, weist jedoch einen p-Wert von etwa 11 % auf. Vergleicht man die Ökonomen hinsichtlich ihrer Einstellung zur Gerechtigkeit des Preissystems zu Beginn und zum Ende des Semesters, lässt sich ein Anstieg von 47,9 % auf 52,4 % feststellen. Wie ein Chi-Quadrat-Homogenitätstest zeigt, ist die Verteilung am Anfang und am Ende des Semesters statistisch nicht signifikant voneinander verschieden. An dieser Aussage ändert sich auch nichts, wenn wir auf Gleichheit der Verteilung über alle vier Antwortkategorien hinweg testen. Einen statistisch signifikanten Indoktrinationseffekt können wir demnach nicht feststellen. Wir ziehen aus diesen Ergebnissen den Schluss, dass Ökonomen ihre FairnessEinstellung im Wesentlichen bereits an die Universität mitbringen und nicht durch das Studium „umerzogen" werden. Dieses Ergebnis überrascht insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Befassung mit Rational Choice in diesem Semester sehr intensiv war.

4.

Fazit

Hans Jürgen Schlösser hat die Bildungsrelevanz des Homo-Oeconomicus-Modells stets bejaht (siehe z.B. Schlösser 2008a, S. 160; auch Loerwald und Müller 2012). Wir lesen die Ergebnisse unserer Untersuchung als eine Bestätigung dieser Position. Denn danach steht der Verwendung des ökonomischen Rationalverhaltensansatzes in Bildungssituationen vor allem dann nichts im Wege, wenn man explizit eine Vermittlung von Kompetenzen zur ethischen Beurteilung von Konflikten anstrebt (siehe zu dieser Zielsetzung für den Bereich allgemeinbildender Schulden Deutsche Gesellschaft fiir ökonomische Bildung 2005). Im Wintersemester 2011/2012 befragten wir an der Universität Münster mehr als 600 Studierende wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge sowie aus den Fächern Medizin, Germanistik und Katholischer Theologie, um die relative Fairness-Einstellung von Ökonomiestudierenden im Verlauf eines mikroökonomischen Standardmoduls zu erheben. Die Studierenden hatten dabei auf einem Fragebogen anhand eines in der Literatur eingeführten Beispiels die (Un-)Gerechtigkeit der Marktallokation und daneben auch anderer Mechanismen einzuschätzen.

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Im Ergebnis konnten wir keinen eindeutigen Indoktrinationseffekt der RationalChoice-Theorie feststellen, den wir aufgrund einer zweimaligen Durchfuhrung der Befragung der Ökonomiestudierenden - am Anfang und am Ende des Semesters - zudem deutlicher vom Selektionseffekt separieren konnten als in der bisherigen Literatur. Unsere Untersuchung zeigt im Wesentlichen, dass die Studierenden ihr Gerechtigkeitsempfinden an die Hochschule mitbringen. Trotz intensiver Beschäftigung mit der RationalChoice-Theorie im Verlauf des ersten Semesters veränderten sich die FairnessEinstellungen der betroffenen Studierenden kaum. Wenn Ökonomen in Bezug auf ihr Fairnessempfinden somit anders sind als andere Menschen, so ist daran nicht (in erster Linie) die ökonomische Bildung schuld, sondern ein ausgeprägter Selektionseffekt: Wer das Preissystem für fair hält, macht eher die Ökonomie zu seinem Studienfach als Personen mit anderen Gerechtigkeitsvorstellungen; in der Folgezeit verändern sich diese Vorstellungen im Zuge der Konfrontation mit der ökonomischen Rational-Choice-Theorie nicht sehr wesentlich. Fachdidaktiker, die wie Hans Jürgen Schlösser ein eigenes Schulfach Wirtschaft fordern, mögen sich fragen, inwieweit diese Ergebnisse auf den schulischen Kontext übertragbar sind. Wird, wenn schon die intensive Beschäftigung mit dem Rationalverhaltensansatz im Studium nur eine äußerst geringe Veränderung der Gerechtigkeitsüberzeugungen der Studierenden zeitigt, die schulische Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich Wirtschaft ebenfalls keinen signifikanten Indoktrinationseffekt aufweisen? Diese Vermutung liegt nahe, insofern das Homo-Oeconomicus-Modell auch in einem Schulfach Wirtschaft naturgemäß eine viel geringere Rolle spielen muss als im Rahmen eines ökonomischen Fachstudiums. Als einen ersten Hinweis in diese Richtung mag man werten, dass im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung die Indoktrination durch schulischen Wirtschaftsunterricht keinen signifikanten Einfluss aufweist.

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Menschenbild und Moralität

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Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Wie kann Wirtschaftsunterricht so gestaltet werden, dass Lernende möglichst umfassend ihre politisch-ökonomischen Einstellungen herausbilden können?

Athanassios Pitsoulis und Astrid Lange

Inhalt 1.

Einleitung

158

2.

Einstellungen und ökonomische Bildung

158

3.

Ergebnisse zweier Erhebungen bei Studierenden in Bezug auf die Einflussquellen der Einstellungsbildung

160

Ideen für die praktische Unterrichtsgestaltung

162

4.

Literatur

163

158

1.

Athanassios Pitsoulis und Astrid Lange

Einleitung

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, wie Unterricht in der ökonomischen Bildung dahingehend verbessert werden kann, dass Lernenden eine bessere Umgebung für das selbstständige Ausbilden eigener Einstellungen in Bezug auf die Marktwirtschaft, Umverteilung und die wirtschaftlichen und sozialen Funktionen des Staates angeboten wird. Wir entwickeln insbesondere Handlungsempfehlungen, die auf den Ergebnissen zweier Studien an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus in den Jahren 2009 und 2011 beruhen. Die zentralen Punkte sind, dass (i) sich zumindest in einem universitären Kontext eine erstaunlich hohe Bandbreite an Einflussfaktoren auf die Einstellungsbildung offenbart, (ii) nicht alle Einflussquellen für alle Individuen gleich wichtig sind, (iii) Lehrende auch in der allgemeinbildenden Schule die spezifischen Sensibilitäten und Vorlieben der Lernenden selbst erheben und (iv) diese Erkenntnisse aktiv in die Unterrichtsgestaltung einfließen lassen können.

2.

Einstellungen und ökonomische Bildung

Einstellungen sind ein sozialpsychologisches Kernthema. Eagly und Chaiken definieren eine Einstellung als „eine psychologische Tendenz, die sich darin ausdrückt, dass ein spezifisches Objekt mit einem Grad von Befürwortung oder Missfallen bewertet wird" (Eagly und Chaiken 2005, S. 745, Übersetzung durch die Verf.). Einstellungen haben als wichtige normative Größen fundamentale Funktionen und erleichtern die Anpassung des Individuums an die Umwelt (vgl. z.B. Wood 2000; Ajzen 2001; Johnson et al. 2005). Fischer und Wiswede (2009) zufolge werden Einstellungen über sozial vermittelte Lernprozesse erworben, die grundsätzlich der empirischen Analyse zugänglich sind. Die Bildung von Einstellungen wird in der Fachliteratur als ein „andauernder, dynamischer Prozess zwischen Individuum und Umwelt" (Edwards 1990, S. 213, Übersetzung durch die Verf.) aufgefasst, der kontextabhängig betrachtet werden sollte. Politisch-ökonomische Einstellungen werden regelmäßig von Meinungsforschungsinstituten erhoben. So werden beispielsweise im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) regelmäßig Surveys u.a. zur Wirtschaft, zu politischen Einstellungen und zur Partizipation oder zur sozialen Ungleichheit und zum Wohlfahrtsstaat durchgeführt (vgl. Terwey etal. 2011). Für die ökonomische Bildung sind dabei besonders Daten zur Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft interessant. Laut InfraTest dimap (2012) sind beispielsweise 49 % der Befragten in der Bevölkerung mit der Wirtschaftsordnung in Deutschland „alles in allem" zufrieden bzw. sehr zufrieden während sich 50 % kritisch äußern. Die Soziale Marktwirtschaft wird von 67 % der Befragten als maßgeblich für die derzeit gute wirtschaftliche Lage angegeben. Immerhin 52 % der Befragten sehen in ihr indes gleichzeitig die Ursache für soziale Ungerechtigkeit in Deutschland. In einer interessanten Studie kommen Kaminski et al. (2007) mit quasiexperimentellen Untersuchungsmethoden zu dem Ergebnis, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft und der Variable „ökonomisches Wissen" besteht. Die Autoren leiten daraus u.a. ab, dass (i) durch die

Wie kann Wirtschaftsunterricht

gestaltet

werden?

159

Einführung eines Pflichtschulfaches „Wirtschaft" und durch Arbeitsgemeinschaften zu wirtschaftlichen Themen in Schulen mehr Wissen über die Wirtschaft verbreitet werden kann, (ii) die zielgruppengerechte Aufbereitung und Darbietung von Wissensinhalten von zentraler Bedeutung ist und (iii) Studierende aller Fachrichtungen wirtschaftliches Basiswissen während des Studiums vermittelt bekommen sollten (vgl. Kaminski et al. 2007, S. 21). Solche und ähnliche Praxisempfehlungen erscheinen intuitiv nachvollziehbar, bedürfen aber einer ausreichenden theoretischen und empirischen Unterfütterung durch zielgerichtete Erforschung der Einstellungswirkungen von Unterricht. Zum speziellen Thema Einstellungen und ökonomische Bildung liegt nicht nur eine sozialpsychologische, sondern tatsächlich auch eine schnell wachsende sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftliche Forschung vor (vgl. z.B. Dawson 1966; Lloyd 1970; Scott und Rothman 1975; McWilliams und Pinney 1978; Frey etal. 1993; Whaples 1995; Cipriani et al. 2009; Haucap und Just 2010; Goossens und Meon 2010; Potrafke et al. 2012). Die Untersuchungsbefunde in dieser Literatur sind allerdings bislang uneinheitlich und sich widersprechend, was in erster Linie auf die Heterogenität der Forschungsansätze und uneinheitliche Begriffsverwendungen zurückzuführen ist. Darüber hinaus greifen bisher zu wenige Arbeiten zu (politisch-ökonomischen) Einstellungen auf den umfassenden und fundierten Erkenntnisstand der Sozialpsychologie zurück, was in einer ungenügenden Abbildung der Interdependenz von Bildungsprozessen und des Wandels von Einstellungen resultiert. Genauere Aussagen über die Einstellungswirkungen ökonomischer Bildung lassen sich mithin erst dann machen, wenn mehr Klarheit darüber vorliegt, mit welchen einstellungsbildenden Einflussvariablen Unterricht interagiert und welche Einflüsse als Moderator- bzw. Mediatorvariablen fungieren. Hierzu besteht noch eindeutiger Bedarf an Grundlagenforschung. Auf eine umfassende Diskussion der im Unterricht wirksamen Einflussfaktoren auf die Einstellungen von Lernenden soll hier verzichtet werden. Man kann aber mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass in formellen Lernprozessen die kognitive Basis für Einstellungen beeinflusst wird. Abgesehen davon übertragen sich unter Umständen die Einstellungen von Lehrenden auf die Lernenden. Diese beiden Einflussvariablen sollten stets in einem Interaktionskontext betrachtet werden: In der empirischen Forschung konnte u.a. gezeigt werden, dass sich positive Einstellungen von Lehrenden zu ihrem Fach in einem signifikant höheren Lernerfolg bei den Lernenden niederschlagen und umgekehrt (vgl. Marlin 1991). Außerdem beinhalten formelle Lernprozesse die Aktivierung von Verhalten, was wiederum Einstellungswirkungen bei den Lernenden verursachen kann. Es ist intuitiv einleuchtend, dass Unterricht nur einer von vielen sozial vermittelten Lernprozessen ist. Beim Versuch, die Einstellungseffekte ökonomischer Bildung nachzuvollziehen, sollten demgemäß andere, parallele Lernprozesse mitberücksichtigt werden. Unterricht, sei es an der allgemeinbildenden Schule oder in der höheren Bildung, findet immer in einem weiteren Kontext statt, in dem vielfältige Einflüsse auf die Einstellungen der Lernenden vorhanden sind. Es ist durchaus denkbar, dass es interindividuelle Variationen in Bezug auf die Präferenzen bzw. Sensibilitäten für verschiedene Einflusskanäle gibt. Diese können in einem differentialpsychologischen Forschungsdesign erfassbar gemacht werden. Zunächst einmal müssen aber die Einflusskanäle identi-

160

Athanassios Pitsoulis und Astrid Lange

fiziert und evaluiert werden, denn über die Bandbreite und Bedeutung der Einflussquellen für die Einstellungen von Lernenden besteht noch keine ausreichende Klarheit.

3.

Ergebnisse zweier Erhebungen bei Studierenden in Bezug auf die Einflussquellen der Einstellungsbildung

Wir stützen uns in unseren Studien auf die Introspektion der Lernenden. In der ersten Studie (,Lange und Pitsoulis 2012a) wurde die Bewertung der Bedeutsamkeit von Einflussquellen für die Bildung der eigenen Einstellungen in Bezug auf Staat und Wirtschaft erhoben. Hierzu wurden ca. 500 Teilnehmer/innen einer volkswirtschaftlichen Vorlesung im Sommersemester 2009 zu vierzehn möglichen Quellen der Einstellungsbildung (darunter Vorlesungen, Massenmedien, Freunde und Verwandte etc.) befragt. Abbildung 1 stellt eine Zusammenfassung der deskriptiven Ergebnisse dar. Abgebildet sind für die Quellenitems jeweils die Mittelwerte sowie die obere und untere Standardabweichung, d.h. der Bereich, der bei Annahme einer Normalverteilung ca. 68,3 % aller Befragten umfasst. Es zeigt sich ein erstaunlich differenziertes Bild der Quellenpräferenz und Reflektion Lernender. Wirtschaftliche sowie politische Ereignisse und Entwicklungen, aber auch eigenständiges Nachdenken und Schlussfolgern werden von den Studierenden als die wichtigsten Einstellungsquellen bezeichnet. Die vertiefte Untersuchung der Frage nach den Beziehungen der Quellen untereinander ist ein Kernanliegen der zukünftigen Forschung. Der Inhalt der VWL-Vorlesung bzw. von Lehrveranstaltungen an der Universität allgemein wird als neutral bis eher wichtig beurteilt. Persönliche Ereignisse und Erfahrungen werden von den Studierenden aber als durchschnittlich mindestens ebenso wichtig bewertet. Das Gesamtbild sowie die weiteren Analysen, die hier nicht vertieft betrachtet werden sollen, deuten auf eine große interindividuelle Quellenpräferenzheterogenität hin (vgl. Lange und Pitsoulis, 2012a). In der zweiten Studie (Lange und Pitsoulis 2012b) wurden mittels einer qualitativen Befragung von ca. 160 Teilnehmern/innen an einer volkswirtschaftlichen Vorlesung im Sommersemester 2011 detaillierte Daten in Bezug auf die in der ersten Studie als besonders bedeutsam identifizierten Einflussfaktoren „wirtschaftliche und politische Ereignisse" erhoben. Wir legten in einem Fragebogen drei offene Befragungsitems vor, in denen nach öffentlichen Ereignissen gefragt wurde, die die politisch-ökonomischen Einstellungen der Lernenden beeinflussten. Die so erhaltenen qualitativen Daten wurden dann von mehreren Beurteilern in 29 Kategorien unterteilt (z.B. Vorfalle in Japan im März 2011, Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001, Wirtschaftsund Finanzkrise 2008 etc.). Bei der Analyse dieser Daten konnten weitere Erkenntnisse gewonnen werden. Es zeigt sich auch bei den angegebenen wirtschaftlichen und politischen Ereignissen eine große Bandbreite von als relevant charakterisierten Ereignissen. Betrachtet man die Häufigkeit der Nennungen von Kategorien, zeigen sich darüber hinaus z.B. auch Differenzen zwischen den Geschlechtern und Studiengängen. Diese Ergebnisse implizieren systematisch reproduzierbare Unterschiede in den Präferenzen unterschiedlicher Gruppen; vor allem aber illustrieren die Ergebnisse die Art von öffentlich rezipierten Ereig-

161

Wie kann Wirtschaftsunterricht gestaltet werden?

nissen, welche ggfs. im Unterricht zu thematisieren wären, um einstellungsrelevante Fehlschlüsse zu vermeiden. Abbildung 1: Ergebnisse der Erhebung zu Einstellungsquellen (Mittelwerte und obere/untere Standardabweichung)

Unwichtig

Sehr wichtig

Item 1

2

3

4

5

Wirtschaftliche Ereignisse und Entwicklungen (z.B. Wirtschaftskrise, Globalisierung)

j

Eigenständiges Nachdenken und Schiussfolgern

; f

j

j j

j

Politische Ereignisse und Entwicklungen (z.B. Wahlen, EUOsterweiterung)

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Informationen aus den Massenmedien (TV, Tageszeitungen, Internet etc.)

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Informationen aus Fachliteratur (Lehrbücher Fachzeitschriften, wissenschaftliche Jnternetquellen)

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Private Ereignisse und Erfahrungen Inhalte, die mir im Rahmen von Vorlesungen und Seminaren an der BTU Cottbus vermittelt werden

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Quelle: Eigene Abbildung

Zusammengenommen zeichnet sich ein unterrichtsrelevantes Bild ab: Lernende, in unserem Fall Studierende an einer technischen Universität, nehmen eine große Bandbreite an unterschiedlich wichtig bewerteten Einflussquellen auf ihre Einstellungen wahr, von denen Unterricht nur eine ist. Aus der Bewertung der Wichtigkeit der Einflussquellen kann man schließen, dass (konventioneller universitärer) Unterricht auch nur bedingt bedeutsam ist, wobei es auffällige Unterschiede in den Einstellungsquellenpräferenzen der Befragten gibt, welchen durch einen entsprechend differentiell konzipierten Unterricht Rechnung zu tragen wäre (s.u.). Für die Lernenden in unserer Stich-

162

Athanassios Pitsoulis und Astrid Lange

probe ist zumindest laut Selbstwahrnehmung vor allem die aktive intellektuelle Befassung mit unterschiedlichsten wirtschaftlichen und politischen Ereignissen einstellungsrelevant. Auch hier zeigen sich Präferenzen oder Sensibilitäten, die sich beispielsweise mit eigenen Interessen, Vorwissen etc., aber auch den oben angeführten Quellenpräferenzen erklären lassen. Hieraus können - mit einer gewissen Zurückhaltung aufgrund der bislang nicht erfolgten Reproduktion der Untersuchung - interessante Implikationen für die praktische Unterrichtsgestaltung abgeleitet werden.

4.

Ideen für die praktische Unterrichtsgestaltung

Ökonomische Bildung sollte stets der Präferenzheterogenität sowohl in Bezug auf die Einstellungsquellen als auch in Bezug auf die relevanten wirtschaftlichen und politischen Ereignisse gerecht werden. Lehrende sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass Lernende ihre Einstellungen in einem Kontext vieler miteinander interagierender Quellen bilden, von denen Unterricht nur eine ist. Wenn das Ziel des Unterrichts sein soll, die Lernenden zu autonomer und kritischer Reflektion zu veranlassen, sodass sie unbeeinflusst im Rahmen einer freien Persönlichkeitsentfaltung ihre politisch-ökonomischen Einstellungen bilden können, sollte Unterricht möglichst bewusst und gezielt in das Interaktionsgefüge der Quellenfaktoren integriert werden. Notwendige Bedingungen dafür sind u.a. die Bereitschaft der Lehrenden, den Unterricht in dieser Hinsicht aktiv zu konzipieren, sowie das Wissen über die Präferenzen der Zielgruppe. Wissen über die Präferenzen einer Zielgruppe von Lernenden ist bei der durchdachten Integration multipler Quellen der Einstellungsbildung in den Unterricht von großem Vorteil. Verwertbare Indizien für die Quellenpräferenz lassen sich beispielsweise leicht im Unterricht über eine Erhebung mit Hilfe eines einfachen Fragebogens erhalten. Lehrende können sich so unter Inkaufnahme eines begrenzten Aufwands selbst informieren, welche Einstellungsquellen für die Lernenden besonders wichtig sind. Mithilfe dieser Information kann der Einsatz von Methoden und Medien im Unterricht mit dem Ziel der Schaffung einer effektiven Grundlage für die Einstellungsbildung optimiert werden. Ein Beispiel: Mit den Informationen, die wir für die Studierendenstichprobe an der BTU erhoben haben, wäre z.B. eine hinsichtlich ihres Einstellungsbildungspotenzials optimierte kombinierte Unterrichtsmethode die schriftliche Ausarbeitung persönlicher Erfahrungen, die die Lernenden auf bestimmte wirtschaftliche und politische Ereignisse zurückführen. Wenn Lernende beispielsweise während einer Wirtschaftskrise eine signifikante Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation aufgrund der Arbeitslosigkeit eines Elternteils erlebt haben, ist davon auszugehen, dass diese sich spürbar auf die politisch-ökonomischen Einstellungen auswirkt. Eine Möglichkeit, solche Erfahrungsberichte für kritische Reflektion zu nutzen, könnte darin bestehen, andere Lernende über diese (zuvor anonymisierten) Ausarbeitungen Kurzvorträge halten zu lassen. Aufgrund der großen Bedeutung der Massemedien erscheinen auch eigenständige oder teambasierte Auswertungen besonders von Medienberichten als förderlich oder zur Vermeidung unerwünschter, unreflektierter Kurzschlüsse - erforderlich für die autonome Einstellungsbildung. Denkbar ist hier die Zusammenstellung und gezielte Gegenüberstellung der Interviews von Betroffenen, z.B. in einer Dokumentation in Form

Wie kann Wirtschaftsunterricht

gestaltet

werden?

163

eines Kurzfilms. Diese Methode lässt sich leicht mit der oben angeführten Ausarbeitung persönlicher Erfahrungen verbinden. Ein von den Lernenden gepflegter Medienmonitor ist eine andere denkbare Unterrichtsmethode: Hier geht es darum, dass die Lernenden einzelne Quellen, z.B. Fernsehprogramme, Zeitungen oder Nachrichtenagenturen, hinsichtlich zentraler Kriterien für Objektivität über einen gewissen Zeitraum überwachen. Inhalte, z.B. Kommentare und Editoriais, in denen eine Präferenz für eine der verschiedenen im Diskurs vertretenen Meinungen geäußert wird, werden als solche identifiziert und im Medienmonitor vermerkt. Aus solchen Daten können z.B. einfache Indizes für Objektivität und Unvoreingenommenheit bzw. Meinungsbarometer erstellt und gepflegt werden. Mithilfe solcher Methoden kann ein Bewusstsein für die Heterogenität der in der Medienlandschaft vertretenen Positionen geschaffen werden. Die zukünftige Forschung kann besonders bei der Klärung der Frage, welche Massenmedien besonders einflussreich sind, helfen, noch genauere Handlungsempfehlungen für die praktische Unterrichtsgestaltung auszuarbeiten. Der relativ hohe Stellenwert persönlicher Erfahrungen lässt auch Unterrichtsexperimente, Planspiele oder Schülerfirmen als für die Einstellungsbildung besonders geeignet erscheinen. Hier sollte die Erfahrbarkeit ein zentrales Kriterium sein. Diese Methoden erscheinen vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse ebenfalls gut geeignet, eine kritische Überprüfung von Einstellungen auszulösen. Es gilt aber auch hier, dass bislang noch keine Forschung über die Einstellungswirkungen solcher Methoden bei Lernenden vorliegt; dieses Problem ist darauf zurückzuführen, dass, wenn überhaupt, bei der Evaluierung dieser Methoden im Rahmen der empirischen Lehr-Lern-Forschung nur rein kognitive Zielgrößen, wie z.B. Wissens- und/oder Kompetenzscores, im Vordergrund stehen. Die Wirtschaftsdidaktik hat bei der Evaluierung der Einstellungseffekte von Unterrichtsexperimenten und Planspielen noch großen Nachholbedarf, aber mithin auch große Erfolgschancen für weiterführende Erkenntnisgewinne.

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Athanassios Pitsoulis und Astrid Lange

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Teil IV: Soziale Marktwirtschaft unterrichten

Michael Schuhen, Michael Wohlgemuth und Christian Müller (Hg.), Ökonomische Bildung und Wirtschaftsordnung, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 96 • Stuttgart • 2012

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise Ursachen und Lösungsansätze

Michael

Weyland

Inhalt 1.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

168

2.

Ergebnisse systematischer Schulbuchanalysen

169

3.

Lösungsansätze

171

4.

3.1. Theorie- und Erfahrungswissen systematisch verzahnen

171

3.2. Entscheidungsprozesse simulativ erfahrbar machen

173

3.3. Aufgabenkultur domänenspezifisch weiterentwickeln

176

Fazit

180

Literatur

181

168

1.

Michael Weyland

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

Im Wettbewerb der Wirtschaftsordnungen hat sich die Soziale Marktwirtschaft seit den 50er Jahren durchgesetzt. Wesentliche Prinzipien wurden in den letzten Jahrzehnten in viele andere Länder exportiert. Und dennoch: Die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft innerhalb der deutschen Bevölkerung verharrt auf niedrigem Niveau. So besaßen im Jahre 2010 nur 38 Prozent der Bürger eine gute Meinung über den deutschen Exportschlager. Dass die wirtschaftlichen Verhältnisse im Großen und Ganzen gerecht sind, bejahten nur 21 Prozent der Befragten. Und schließlich antwortete eine Mehrheit von 52 Prozent auf die Frage, ob es ein Wirtschaftssystem gebe, das besser sei „als unsere soziale Marktwirtschaft", mit ja oder „unentschieden" (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2010). Diese Zahlen deuten darauf hin, dass sich die Soziale Marktwirtschaft in einer tiefen „Sinnkrise" (Goldschmidt 2008, S. 422) befindet. Diese Krise lässt sich nicht auf die globale Finanz- und Staatsschuldenkrise und ihre problematischen Folgen für die nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken zurückfuhren, denn der Trend besteht schon länger (vgl. etwa Bundesverband deutscher Banken 2005, S. 8). Dass in der sozialwissenschaftlichen Forschung - national wie international - die Einstellung der Bevölkerung zur Sozialen Marktwirtschaft bislang wenig Beachtung gefunden hat, ist daher umso erstaunlicher (Kaminski et al. 2007, S. 3). Zwischen der Einstellung der Bürger zur Sozialen Marktwirtschaft und einigen parallel erfassten Persönlichkeitsmerkmalen konnten im Rahmen der Studie von Kaminski et al. einige interessante statistische Zusammenhänge belegt werden, so z.B. die Tatsache, dass Frauen, jüngere Befragte und Konfessionslose eine kritischere Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft besitzen als Männer, ältere Personen und Christen (vor allem Protestanten). In parteipolitischer Hinsicht besitzen demnach SPD-Anhänger die positivste Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft, gefolgt von Grünen-, CDU-, FDP- und Linkspartei-Anhängern. Ein weiteres Ergebnis der Studie führt uns zu einem völlig anderen Erklärungsansatz für die Akzeptanzprobleme der deutschen Wirtschaftsordnung. Demnach besteht ein positiver Zusammenhang zwischen ökonomischem Wissen einerseits und positiven Einstellungen zur bestehenden Wirtschaftsordnung andererseits. Die Korrelation zwischen den Merkmalen „ökonomisches Wissen" bzw. „Kenntnisse über die Soziale Marktwirtschaft" und der Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft beträgt + 0,36 auf einer Skala von +1 (extrem positiver Zusammenhang) bis - 1 (extrem negativer Zusammenhang). Ein ausgeprägtes Interesse für ökonomische Zusammenhänge und ein hohes Maß an Wirtschaftswissen scheinen sich also positiv auf die Einstellung zur Sozialen Marktwirtschaft auszuwirken. Womöglich verbirgt sich hinter den schwachen Zustimmungswerten zur Sozialen Marktwirtschaft also gar keine Sinnkrise, sondern eine Unzufriedenheit mit einer Wirtschaftsordnung, die von vielen Bürgern nicht wirklich verstanden wird. Dies würde bedeuten, dass die wesentlichen Ursachen für die statistisch belegbaren Akzeptanzprobleme in einer weit verbreiteten Verständnis- bzw. Vermittlungskrise der Wirtschaftsordnung zu suchen sind.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

169

Im Rahmen dieses Aufsatzes wird zunächst untersucht, worin genau die vermutete Vermittlungskrise wurzelt (Abschnitt 2). Im Hauptteil werden dann drei wirtschaftsdidaktische Ansätze formuliert, die geeignet erscheinen, um die im zweiten Abschnitt skizzierten didaktischen Probleme zu reduzieren. Es wird verdeutlicht, warum eine stärkere unterrichtliche Verzahnung von Theorie- und Erfahrungswissen (Abschnitt 3.1), eine stärkere Berücksichtigung simulativ-entscheidungsorientierter Unterrichtsmethoden (Abschnitt 3.2) sowie eine stärkere Akzentuierung domänenspezifischkompetenzorientierter Aufgabenformate (Abschnitt 3.3) aus wirtschaftsdidaktischer Sicht empfehlenswert erscheinen, um die skizzierten Vermittlungsprobleme schrittweise zu überwinden.

2.

Ergebnisse systematischer Schulbuchanalysen

Der Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft besteht nach Müller-Armack (1956, S. 390) darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden." Es handelt sich also um eine „Wirtschaftsordnung, in der wirtschaftliche Freiheit mit einem durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt verbunden wird" (Clapham 1995, S. 10). Diese zentrale Idee sollte auch im Unterricht intensiv beleuchtet werden. Aus wirtschaftsdidaktischer Sicht gehört es daher zum unverzichtbaren Kern, den Preisbildungsmechanismus unter Wettbewerbsbedingungen und dessen Folgen für den technischen Fortschritt, Produktinnovationen und den Konsumenten als positive soziale Auswirkungen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für Schüler erfahrbar zu machen. Zudem sollten charakteristische Unterschiede zwischen den Preisbildungsprozessen bei verschiedenen Marktformen - Polypol, Oligopol, Monopol - exemplarisch dargestellt und die jeweiligen Folgen für Anbieter bzw. Nachfrager analysiert werden. Wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Unterricht, der sich auf die modellhafte Erörterung vollkommener polypolistischer Marktmodelle beschränkt und oligopolistische, monopolistische und unvollkommene Marktformen gar nicht oder nur am Rande thematisiert, wird diesem Anspruch nicht gerecht - mit der Folge, dass die Lernenden das theoretisch vermittelte Buchwissen mit den für sie praktisch erfahrbaren Realitäten nicht hinreichend in Beziehung setzen können. In vielen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien wird aber leider ein vertieftes Verständnis der Marktformenlehre gar nicht angestrebt: „Auf die in vielen Lehrbüchern zur Volkswirtschaftslehre sehr ausführlich dargestellte Lehre von den Marktformen wollen wir an dieser Stelle nur kurz eingehen" (Floren 2010, S. 179). Die „Logik der Sozialen Marktwirtschaft" kann von den Schülerinnen und Schülern so nicht hinreichend erschlossen werden - ein erster Hinweis auf den Ursprung der Akzeptanzprobleme. Inwiefern es sich bei den bisher geschilderten Eindrücken um typische Vermittlungsprobleme handelt, wurde im Rahmen von drei systematischen Schulbuchanalysen untersucht, deren Ergebnisse hier kurz skizziert werden sollen. Die erste Studie „Marktwirtschaft in Schulbüchern" (Merret 2008) beruht auf einer Analyse von acht Erdkunde-, Geschichts-, Politik- und Ethikbüchern eines niedersächsischen Gymnasiums aus den Jahren 1996 bis 2007. Der Autor attestiert den Schul-

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Michael Weyland

büchern anhand zahlreicher Beispiele eine negative Einstellung gegenüber marktwirtschaftlichen Prinzipien und eine unkritische Bewertung von Eingriffen des Staates. Neben inhaltlichen Fehldeutungen kritisiert der Autor auch die Tendenz, politische Forderungen auszusprechen, die durchweg auf eine erhöhte Aktivität des Staates zielen, anstatt den Schülern eine Auswahl verschiedener Lösungsvorschläge für ökonomische Probleme vorzustellen. Darüber hinaus verdeutlicht er die suggestive Wirkung von Themensetzungen, wenn etwa wirtschaftliche Ungleichheit nicht nur rein deskriptiv erfasst, sondern als ethisches Problem normativ diskutiert wird (Merret 2008, S. 16 f.). Insgesamt stellt Merret die politische Neutralität der Schulbuchautoren in Frage, weil ökonomische Probleme einseitig auf zu viel Markt und zu wenig Staat zurückgeführt würden und nicht selten emotionale Aufladungen im Mittelpunkt stünden. Inwiefern sich diese interessante These verallgemeinern lässt, kann leider aufgrund der überschaubaren Stichprobe derzeit nicht beantwortet werden; hier besteht Forschungspotential für umfangreichere Analysen. Eine zweite Studie zum Thema „Unternehmer und Staat in europäischen Schulbüchern" wurde vom Georg-Eckert-Institut (2007) durchgeführt und konzentriert sich bei der Analyse auf die Aspekte Staatsverständnis und Darstellung des Unternehmertums. Untersucht wurde eine Stichprobe von zwischen 1997 und 2006 erschienenen Lehrbüchern der Fächer Geschichte sowie Gemeinschaftskunde, in denen wirtschaftliche Themen eine nennenswerte Rolle spielen. Für Deutschland wurden dabei unter Berücksichtigung mehrerer Bundesländer sowie unterschiedlicher Schultypen in den Sekundarstufen I und II insgesamt 58 Schulbücher ausgewählt. Die Studie stellt im Vergleich mit 66 englischen und 18 schwedischen Schulbüchern die besondere Bedeutung der Vermittlung von Grundlagenbildung und den hohen Anteil an abstrakten Unterweisungen in deutschen Schulbüchern heraus (Georg-Eckert-Institut 2007, S. 91). Im Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Freiheit und sozialer Absicherung nehmen die deutschen Schulbücher demnach eine Mittelstellung ein gegenüber den englischen Büchern mit ihrer Würdigung aktiven Bürgertums und der traditionellen liberalen Staatsidee sowie den schwedischen Büchern, welche die Fürsorgepflicht des Staates deutlich akzentuieren. Dennoch zeige sich dort zugleich die größte Anerkennung für Unternehmergeist, während die „Entrepreneurship Education" in deutschen Schulbüchern stark vernachlässigt werde (Georg-Eckert-Institut 2007, S. 94). Diese Tatsache hängt auch mit der Beobachtung zusammen, dass in deutschen Schulbüchern eine „generelle Dominanz von strukturgeschichtlichen Ansätzen" (Georg-Eckert-Institut 2007, S. 26) zu verzeichnen sei und personale Zugänge „fast vollständig gegenüber Strukturen und Prozessen zurücktreten" (Georg-Eckert-Institut 2007, S. 33). Eine dritte Studie, die von Mitarbeitern des Zentrums für ökonomische Bildung in Siegen (ZöBiS) im Jahre 2011 durchgeführt wurde, bestätigt ebenfalls die These von der Vermittlungskrise. Zwölf Schulbücher aus Nordrhein-Westfalen wurden dazu einer kriterienorientierten Qualitätsanalyse mit dem Fokus „Soziale Marktwirtschaft" unterzogen. Die wichtigsten Ergebnisse seien hier kurz skizziert (vgl. Hoftnann et al. 2011 sowie die ausführlichere Darstellung in diesem Band): -

Kaum einem Schulbuch gelingt es, den Schülern die Soziale Marktwirtschaft in ihrer Struktur und Vielfältigkeit auf eine altersgerechte Weise näher zu bringen und

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

171

sie für ihre Komplexität zu sensibilisieren. Den Schülern wird der ordnungspolitische Rahmen als Abstraktum dargeboten, die notwendige Konkretisierung und lebenspraktische Relevanz fehlen hingegen häufig. — In der Sekundarstufe I vermittelt keines der analysierten Schulbücher ein vollständiges und ausgewogenes Bild der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist eine starke inhaltliche Fokussierung auf den Bereich Sozialordnung hin erkennbar, die Bereiche „Grundrechte" bzw. „Marktsystem und Wettbewerbsordnung" stehen weniger im Mittelpunkt. Auch in der Sekundarstufe II mangelt es an einer inhaltlichen und übergreifenden Vernetzung der drei Bereiche Grundrechte, Marktsystem/ Wettbewerbsordnung und Sozialordnung. — Diese Schieflage spiegelt sich zudem in der Aufgabenkultur wider. In den Schulbüchern der Mittelstufe wird überwiegend träges Wissen abgefragt, insbesondere im Bereich Sozialordnung. In dem Bereich, dem quantitativ die größte Bedeutung zugesprochen wird, gelingt es nicht, die Schüler zu aktivieren und einen Transfer zu den anderen Bereichen herzustellen.

3.

Lösungsansätze

Fasst man die Ergebnisse des zweiten Abschnitts zusammen, so kann festgehalten werden, dass es marktgängigen Schulbüchern zu wenig gelingt, — zwischen der Sozialen Marktwirtschaft als Modell und der praktisch erfahrbaren Wirklichkeit unserer Wirtschaftsordnung überzeugend zu vermitteln; — Markt- und Wettbewerbsprozesse aktiv-entdeckend im Unterricht erfahrbar zu machen; — Aufgaben zu konstruieren, die über träges Wissen hinausgehen und den Erwerb domänenspezifischer Kompetenzen in den Mittelpunkt rücken. Nachfolgend sollen diese drei Kritikpunkte aufgegriffen und „kreativ gewendet" werden. Folgende Leitfragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wie kann das Thema „Marktwirtschaft" adressatenorientiert konkretisiert werden, so dass Schülerinnen und Schüler das Fundament unserer Wirtschaftsordnung „wirklich" verstehen (Abschnitt 3.1)? Wie können Markt- und Wettbewerbsprozesse im Unterricht adressaten- und handlungsorientiert erfahrbar gemacht werden (Abschnitt 3.2)? Und worauf sollte bei der Aufgabenkonstruktion zum Thema besonders geachtet werden, um domänenspezifische Kompetenzen zu fördern (Abschnitt 3.3)?

3.1. Theorie- und Erfahrungswissen systematisch verzahnen „Wirklichkeitsorientierte" Unterrichtsmethoden, z.B. Wettbewerbe, Projekte oder Schülerfirmen, bieten die Möglichkeit, reale ökonomische Gegebenheiten schulisch erfahrbar zu machen. Sie sind jedoch häufig im Differenzierungs- oder AG-Bereich von Schulen angesiedelt und daher nicht für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend. Im Gegensatz dazu erscheint das Betriebspraktikum als diejenige domänenspezifische und wirklichkeitsorientierte Unterrichtsmethode, welche sich für die Vermittlung eines gültigen Bildes unserer (real existierenden!) Wirtschaftsordnung aus fachdidaktischer Sicht

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am besten anbietet - denn Betriebspraktika sind mittlerweile fester und integrierter Bestandteil in den Lehrplänen aller allgemeinbildenden Schulformen. Traditionell stehen allerdings berufskundliche Themen im Mittelpunkt der Vorbereitung, Durchfuhrung und Nachbereitung des Praktikums. Für zwei bis drei Wochen verlassen die Schülerinnen und Schüler der 9. oder 10. Klassen die Schule, um die Bewältigung von verschiedenen beruflichen Tätigkeiten und Aufgaben kennenzulernen, sich mit Problemen der Berufswelt auseinanderzusetzen und die eigenen Berufswahlvorstellungen kritisch zu hinterfragen. Allgemeinbildende ökonomische Fragestellungen werden hingegen häufig nur am Rande thematisiert. Dies erscheint insbesondere im Hinblick auf die mittlerweile am meisten nachgefragte allgemeinbildende Schulform - das Gymnasium - bedenklich, denn Gymnasiasten müssen ihre Berufswahlentscheidung in der Regel erst deutlich später treffen. Betrachtet man marktgängige Unterrichtsmaterialien rund um das Thema „Betriebspraktikum", wird deutlich, dass die traditionelle „berufskundliche" Orientierung aber nach wie vor dominiert. Sie wird zudem häufig ergänzt durch vor- oder nachbereitende Betriebsbesichtigungen lokaler Unternehmen. Das Städtische Siebengebirgsgymnasium in Bad Honnef hat einen anderen Weg gewählt. Hier wird das Betriebspraktikum vorrangig unter dem Blickwinkel einer vertieften ökonomischen Allgemeinbildung betrachtet (in Anlehnung an Schudy 2002). Der Leitgedanke des Betriebspraktikums am Siebengebirgsgymnasium besteht darin, Schul(buch)wissen und Wirklichkeit stärker miteinander zu verzahnen und die künstliche Kluft zwischen Unterricht „über" Wirtschaft und realer Begegnung „mit" Wirtschaft zu überbrücken. Im Rahmen der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung des Praktikums sollen Schülerinnen und Schüler vorrangig 1 — differenzierte betriebliche Zusammenhänge kennenlernen; — Einsicht gewinnen in die spezifischen Herausforderungen, denen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen gegenüberstehen; — die Bedeutung wirtschaftlicher, technischer und rechtlich-politischer Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln begreifen und auf diese Weise die praktischen Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen verstehen lernen. Um differenzierte Einblicke in die reale Arbeits- und Wirtschaftswelt zu gewinnen, werden systematisch vorbereitete Betriebserkundungen durchgeführt, bei denen Schülerinnen und Schüler vorgegebene oder auch selbst entwickelte Fragestellungen durch intensives Beobachten oder Befragen der Mitarbeiter selbstständig - zumeist in Kleingruppen - bearbeiten. Auch während des Praktikums sind berufliche Tätigkeiten, Arbeitsmittel, Fertigungsabläufe sowie technische, ökonomische oder organisatorische Prinzipien beobachtbar, die mithilfe von zuvor eingeübten Fachmethoden systematisch erschlossen werden. Zu diesen zählen insbesondere folgende Methoden der empirischen Sozialforschung 2 :

1

2

Eigene Zusammenstellung; der Autor koordiniert das Betriebspraktikum am Siebengebirgsgymnasium. Eigene Zusammenstellung; die aufgeführten Methoden haben sich in der Praxis besonders bewährt.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

173

— Hypothesenformulierung, — Messverfahren (Operationalisierung, Indikatorenauswahl), -

Fragebogenerstellung mit offenen und geschlossenen Fragen,

-

Durchfuhrung schriftlicher Befragungen,

-

Durchführung qualitativer und quantitativer Interviews,

-

Durchfuhrung qualitativer und quantitativer Beobachtungen,

— Interpretation von Korrelationen, Trends, Kausalitäten, — Grenzen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. In diesem Sinne wird das Betriebspraktikum als exemplarische Betriebserkundung interpretiert, bei der die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Methodenkompetenzen im Mittelpunkt steht. Das Praktikum fungiert somit als Erkenntnishilfe auf dem Weg zur selbständigen Erschließung ökonomischer Zusammenhänge. Der „Ausflug" in die Arbeitswelt wird weniger unter dem Blickwinkel eines direkten Bedarfs für die Berufswahl der Schülerinnen und Schüler gesehen. Vielmehr werden „Realbegegnungen" organisiert, um innerhalb des sozialwissenschaftlichen Unterrichts ausgewählte ökonomische und soziale Aspekte zu vertiefen. Im Bereich der Erfahrungsmöglichkeiten sind allerdings einige Einschränkungen vorzunehmen (Schuhen 2009): So verschließen sich aus der Rollendefinition der Schüler als Praktikanten u.a. einige Arbeitnehmererfahrungen, aber auch bestimmte berufstypische Tätigkeiten und Anforderungen. Ferner erschwert der auftretende Kontrast zwischen der neuen Arbeits- und der bekannten Schulrealität z.T. auch kritische Einschätzungen von Schülerseite (vgl. Krol et al. 2006). Dennoch wird das Betriebspraktikum als Chance begriffen, Praxiskontakte systematisch in den Unterricht zu integrieren und auf diese Weise verzerrte Wahrnehmungen der sozioökonomischen Umwelt auf Schülerseite zu korrigieren. Das Praktikum bietet die Möglichkeit, erworbenes Wissen in konkreten Handlungssituationen zur Anwendung zu bringen (Kompetenzerwerb). Daneben bietet das Praktikum auch die Chance, den außerschulischen „Lernort Betrieb" zu nutzen, um neue Motivationen hervorzurufen, beruflich diffuse Vorstellungen zu ordnen und diese in realistische Bahnen zu lenken. Auf dem Bad Honnefer Modell basierende, praktisch erprobte und evaluierte Modulelemente zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Betriebserkundungen und Betriebspraktika an allen Schulformen liefern Schlösser et al. (2011, 201 la, 2011b).

3.2. Entscheidungsprozesse simulativ erfahrbar machen Im Gegensatz zu vorgezeichneten Unterrichtsverläufen bei gelenkten Unterrichtsgesprächen weisen simulative Unterrichtsmethoden eine hohe Offenheit des Verlaufs und des Ergebnisses auf, die durch die vielfaltigen Entscheidungs- und Handlungsalternativen bedingt ist und die eine hohe Handlungsflexibilität erfordert. Mithilfe simulativer Unterrichtsmethoden werden den Lernenden Handlungsspielräume eröffnet, innerhalb derer sie verschiedene strategische Handlungsoptionen ausprobieren können. Erweisen sich Strategien dabei als erfolgreich, können diese das vorhandene Handlungs-

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repertoire erweitern und zu einer erhöhten Handlungssicherheit auch in Realsituationen beitragen (Vermittlung von Handlungskompetenz durch Probehandeln). Dies gilt ganz besonders für ökonomische Experimente. Der große Erfolg dieses methodischen Ansatzes in der Ausbildung von Wirtschaftswissenschaftlern lässt sich sowohl an den durchgeführten Studien (vgl. Becker und Watts 1998\ Gemmen und Potters 1997) als auch an der in den letzten fünfzehn Jahren erschienenen Reihe von Lehrbüchern ablesen, die Experimente als Zusatzmaterial anbieten. Ökonomische Experimente können dazu beitragen, die im letzten Abschnitt bereits thematisierten Realitätsbezüge im Unterricht zu stärken („Wirklichkeitsorientierung"). Ein Beispiel dazu ist das Thema Emissionshandel. Durch ein EmissionshandelExperiment kann die Vernetzung zwischen Ökonomie und Ökologie spielerisch simuliert und der Handel mit Emissionsrechten realitätsnah „durchgespielt" werden (Beteiligte: Industriebetriebe, Unternehmen, Broker, Banken, Börsen, Spekulanten, Deutsche Emissionshandelsstelle - vgl. Krüger und Tavernier 2010). Wesentliche inhaltliche Aspekte, die im Zusammenhang des „Marktversagens" stehen - z.B. Internalisierung negativer externer Effekte, Handel mit Verschmutzungsrechten, Diskussion um ordnungsrechtliche versus marktwirtschaftliche Instrumente - werden auf diese Weise aktivhandelnd erkundet. 3 Ökonomische Experimente stellen eine im Hinblick auf die von uns intendierten ökonomischen Bildungsprozesse „domänenspezifische" Simulationsform dar. Interessengegensätze werden bei dieser Methode gezielt ins Spielgeschehen eingebaut, so dass Schülerinnen und Schüler systematisch Entscheidungen treffen und begründen müssen, um die Gegensätze bzw. Dilemmasituationen zu überwinden. So sind z.B. im CournotOligopolspiel die Spieler die Unternehmen, und ihre Handlungsoption ist die Variation der Angebotsmenge. Im Bertrand-Spiel haben die Spieler die Möglichkeit, Angebotspreise festzusetzen und zu verändern. Im Experiment zum Gefangenendilemma sind die Spieler die beiden Gefangenen und ihre Optionen lauten Aussagen oder Schweigen (vgl. Schuhen 2005). Mittels ökonomischer Experimente werden auf diese Weise didak3

Konkret repräsentiert dazu jede Schülergruppe ein großes Energieunternehmen und erhält detaillierte Hintergrundinformationen zum Unternehmen, zur Markt- und zur Wettbewerbssituation. Da der CCVAusstoß laut Bundestagsbeschluss von 2008 um 22 Mio. t reduziert werden soll, stellt sich die Frage, welches der beteiligten Unternehmen wie viel C 0 2 einsparen sollte. Ergebnis des Simulationsspiels: E.ON und EnBW können noch Zertifikate verkaufen und Gewinn erzielen, während RWE Zertifikate hinzukaufen muss. Rechnet man nun die Kosten der C0 2 -Reduktion für jedes Unternehmen aus (Kosten der eigenen Produktion plus Kosten eines Ankaufs bzw. Gewinn eines Verkaufs), ergeben sich die Gesamtkosten für alle Unternehmen, die durch das Gesetz der Bundesregierung von 2008 entstanden sind: 284 Mio. Euro. Zum Vergleich: Die Kosten einer prozentualen Reduktionsverpflichtung von 22 Mio. Tonnen betragen 342 Mio. Euro. Es zeigt sich, dass der Emissionshandel günstiger ist als die Grenzwertfestsetzung. Beim Emissionshandel wird also ein vorgegebenes Emissionsziel zu minimalen Kosten erreicht (Minimalprinzip). Der Emissionshandel reduziert den C0 2 Ausstoß nicht zusätzlich, macht aber die Verwirklichung eines einmal abgesteckten Umweltziels kostengünstiger. Zudem werden durch Emissionshandel Anreize geschaffen, weitere Reduktionen zu erreichen - was bei einer Grenzwertfestsetzung nicht der Fall ist. Zur Nachbereitung und Vertiefung der Simulation können zusätzlich Experten in den Unterricht eingeladen werden, wodurch die Wirklichkeitsnähe des Modells nochmals überprüft werden kann.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

175

tisch fruchtbare Kooperationsprobleme und Interessenkonflikte simuliert, strategische Entscheidungssituationen trainiert und anspruchsvolle mikroökonomische Theorieelemente aktiv-entdeckend überprüft. Insofern können ökonomische Experimente als hypothesenprüfende Simulationsspiele klassifiziert und wie folgt von alternativen domänenspezifischen Simulationsmethoden abgegrenzt werden4: — von Plan- und Konferenzspielen durch ihren hypothesenprüfenden Charakter; — von Fallstudien und Übungsfirmen durch ihre spielerischen Elemente; — von Rollen- und Entscheidungsspielen durch ihren wissenschaftlichen Gehalt. Wie oben bereits dargestellt, erfüllen ökonomische Experimente typische Merkmale handlungsorientierter Lernformen und bieten den Lernenden so die Möglichkeit, ihre Entscheidungs- und Handlungskompetenz auf aktiv-entdeckende Weise zu trainieren („Handlungsorientierung"). Darüber hinaus bieten sich ökonomische Experimente auch dazu an, kontroverse wirtschaftsethische Fragestellungen im Unterricht zu inszenieren („Problemorientierung"). Ein Beispiel dazu ist das Fischereispiel, welches auch unter dem Namen „Allmendedilemma" bekannt ist (vgl. im Folgenden Schuhen und Weyland 2011, S. 392). Das Dilemma besteht im Kern darin, dass unter bestimmten Rahmenbedingungen durchaus rationale Entscheidungen der Beteiligten in die - hier ökologische und ökonomische - Katastrophe fuhren können. Das Fischereispiel will den Lernenden dieses Dilemma erfahrbar machen, indem sie in die Rolle von Fischern schlüpfen, die über ihre Fangmengen autonom entscheiden und ihre Fanggründe auf diese Weise systematisch selbst zerstören. Doch so offensichtlich unbefriedigend das Ergebnis auch sein mag: Welche Alternativen kann es geben? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Fischer zunächst die Struktur des Allmendedilemmas herausarbeiten, den Kern des Problems erkennen und danach realistische Lösungsansätze diskutieren. Die Schüler erarbeiten sich auf diese Weise die typischen Eigenschaften von Allmendegütern (Nicht-Ausschließbarkeit bei der Nutzung, Rivalität im Konsum) im Gegensatz zu privaten bzw. öffentlichen Gütern und problematisieren die Folgen denkbarer Lösungsansätze (kleinere Netze, kleinere Boote, Verkürzung der Fangsaison, Einführung von Fangquoten). Daran anschließend wird der Versuch unternommen, das AllmendeDilemma auf reale politische Problembereiche zu übertragen. Insgesamt werden auf diese Weise Einsichten ermöglicht, die ansonsten aufgrund ihrer Komplexität für Schüler kaum zugänglich wären (vgl. Zieße 2000). Ökonomische Experimente eignen sich besonders für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe, da Hypothesentests im Sinne Poppers, als zentrales Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens angesehen werden können („Wissenschaftsorientierung"). Die Experiment-Methode bietet sich insbesondere für den Einstieg in ein neues Thema an, da der starke fachwissenschaftliche Aspekt in der anschließenden Nachbesprechung aufgegriffen und thematisiert werden kann. Sofort einsetzbare, detailliert ausgearbeitete und erprobte Experimente zu mikroökonomischen, eher theorienahen Themen wie Angebot und Nachfrage, Marktformen und Auktionen liefern Schlösser et al. (2009). Eine

4

Eigene Zusammenstellung; zu den einzelnen Simulationsmethoden vgl. Retzmann (Hg.) (2011).

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praktisch erprobte und evaluierte Zusammenstellung von Modulelementen zu ökonomischen Experimenten rund um das Thema „Soziale Marktwirtschaft" liefern Schuhen und Weyland {2011).

3.3. Aufgabenkultur domänenspezifisch weiterentwickeln Schülerinnen und Schüler verbringen viel Zeit damit, Aufgaben zu bearbeiten, die ihnen zu Lern- oder Testzwecken vorgelegt werden. Lehrerinnen und Lehrer wiederum verbringen viel Zeit damit, solche Aufgaben zu recherchieren oder gar selbst zu konstruieren - und im Anschluss die Schülerleistungen zu bewerten. Ganz allgemein werden Aufgaben als „Kernstück jeden Unterrichts" interpretiert und als „Aufforderung oder Verpflichtung zur Bewältigung einer Anforderung" (Abraham und Müller 2009) was die Schwierigkeit der Konstruktion einer guten Aufgabe nicht reduziert, sondern nur verdeutlicht. Denn woher soll ein Lehrer wissen, welche „Aufforderungen oder Verpflichtungen" geeignet sind, um Schülern bei der künftigen Bewältigung von Anforderungen (in der Ausbildung, im Studium, im Beruf, im Leben) zu helfen? Lässt sich die Frage nach der „guten" Aufgabe vor diesem Hintergrund überhaupt präzise beantworten? Unabhängig davon, ob sie sich präzise beantworten lässt: In der Praxis wird diese Frage tagtäglich von tausenden Lehrern beantwortet, verbunden mit der Hoffnung, dass es sich bei ihren Aufgaben um gute Aufgaben handelt. Im Zeitalter der „Outputorientierung" gewinnen dabei kompetenzorientierte Leistungsaufgaben stark an Bedeutung. Im Gegensatz zu Lernaufgaben, die im Mittelpunkt des Lernprozesses stehen und zum problemorientierten, fehlerfreundlichen Lernen anregen sollen, stehen Leistungsaufgaben am Ende des Erkenntnisprozesses (vgl. Abraham und Müller 2009, S. 6). Versteht man Kompetenzen als „kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen" (Klieme und Leutner 2006, S. 879), so können Leistungsaufgaben als kompetenzorientiert gelten, sofern für ihre Bearbeitung nicht das Wissen an sich, sondern die Anwendung domänenspezifischen Wissens in konkreten, möglichst authentischen Problemsituationen entscheidend ist. Mithilfe kompetenzorientierter Leistungsaufgaben, die den Schülern als standardisierte Tests (z.B. PISA, IGLU), als zentral gestellte Prüfungen (z.B. Lernstandserhebungen, Vergleichsarbeiten, Zentralabituraufgaben) oder in Form von selbst konstruierten, sich aus dem Unterricht ergebenden Aufgaben (Klassenarbeiten, Klausuren, mündliche Abiturprüfungen) begegnen, soll also überprüft werden, inwiefern der Lernende am Ende des Lernprozesses tatsächlich über intelligentes, anwendbares und vernetztes domänenspezifisches Wissen verfügt. Insbesondere im Bereich der ökonomischen Bildung, die je nach Bundesland - wenn überhaupt - im Rahmen eines eigenen Schulfaches oder als Teil diverser Integrationsfacher (z.B. Sozialwissenschaften) unterrichtet wird und daher wenig standardisierte Aufgabenformate aufweist, fuhrt dies häufig zu Diskussionen, wenn etwa über die Zulässigkeit von Aufgabenvorschlägen für die Abiturprüfung entschieden werden muss. Ein typisches Beispiel möge dies verdeutlichen. Ist die folgende Aufgabe zum Inhaltsfeld „Wirtschaftspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft" eine gute Aufgabe? 1. Stellen Sie die Theorieansätze zu den Ursachen von Arbeitslosigkeit dar.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

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2. Arbeiten Sie die Position des Autors bezüglich der Misere der Langzeitarbeitslosen sowie seine Lösungsvorschläge aus dem Text heraus. 3. Erörtern Sie, inwiefern zusätzliche Ganztagsschulen langfristig zur Lösung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit beitragen können.

Ohne an dieser Stelle weitere Rahmenbedingungen zu erörtern (die im Unterricht behandelten Themen, Inhalte und Methoden; die Leistungsstärke des Kurses bzw. der betroffenen Schüler; die Vorgaben der Richtlinien und Lehrpläne; die zur Aufgabe gehörenden Materialien wie z.B. Texte, Statistiken, Karikaturen usw.) sei hier kurz erläutert, warum dieser Aufgabenvorschlag für eine Abiturprüfung im Fach Sozialwissenschaften (NRW) die Kriterien einer kompetenzorientierten Leistungsaufgabe nicht erfüllt. Die erste Aufgabe (sog. Anforderungsbereich I: Reproduktion) stellt eine erhebliche Überforderung für die Schüler dar, denn Theorieansätze zu den Ursachen von Arbeitslosigkeit (z.B. Suchtheorien, Humankapitaltheorien, Segmentationstheorien, InsiderOutsider-Theorien) waren gar nicht Gegenstand des Unterrichts. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass nur die vier Arten von Arbeitslosigkeit (saisonal, friktionell, konjunkturell, strukturell) wiedergegeben werden sollten. Die Aufgabe ist also nicht eindeutig formuliert. Zum zweiten Aufgabenteil muss kritisch angemerkt werden, dass lediglich eine Reorganisation der Position des Autors und somit keine echte Anwendung von Wissensstrukturen gefordert wird - diese wird aber im Abitur verlangt (sog. Anforderungsbereich II: Analyse). Eine Textanalyse, bei der die Reproduktion bereits vorformulierter Informationen im Vordergrund steht, bleibt aber in der Regel aspekthaft und ideologisch vorgeprägt. Das eigentliche Ziel einer sozialwissenschaftlichen Textanalyse das ideologiekritische „gegen den Strich Bürsten" eines Textes - kann auf diese Weise nicht realisiert werden. Die Aufgabe erfüllt daher nicht die Kriterien des Anforderungsbereichs II. Die dritte Aufgabe (sog. Anforderungsbereich III: Beurteilung) muss einerseits als zu leicht eingestuft werden, da jeder Schüler irgendetwas zu diesem Zusammenhang sagen kann, andererseits ist sie kaum bewertbar, denn inwiefern Ganztagsschulen tatsächlich zur Lösung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit beitragen können, hängt von der Gestaltung dieser Ganztagsschulen ab - insofern ist hier ein ausgewogenes, präzises und vor allem kriterienorientiertes Schülerurteil nicht zu erwarten. Dass es bei der Konstruktion von Leistungsaufgaben (auch) im Bereich der ökonomischen Bildung immer wieder zu Irritationen kommt, liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass viele verschiedene Qualitätsmerkmale berücksichtigt werden müssen 5 : — Pragmatische Kriterien: Verständlichkeit, Eindeutigkeit, Angemessenheit bzgl. Umfang und Schwierigkeit, Korrekturaufwand auf Seiten des Lehrers, Erwartungssicherheit auf Seiten des Schülers, ... — Rechtliche Kriterien: Richtliniengemäßheit, Lehrplangemäßheit, Berücksichtigung der Vorgaben der jeweiligen Landesregierung (hier: inhaltsfeld-übergreifendes und problemhaft formuliertes Thema, drei Teilaufgaben, Berücksichtigung von mindestens zwei Inhalts- und Methodenfeldern, Exklusivität der Texte, angemessenes Ver-

5

Eigene Zusammenstellung; vgl. dazu auch Reisse (2008), S. 315-317.

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hältnis der drei Anforderungsbereiche, ausschließliche Nutzung von Operatoren aus der Operatorenliste 6 , ...) — Klassische testtheoretische Kriterien: Objektivität (z.B. durch Bewertung anhand einer fachlich korrekten Musterlösung bzw. eines Erwartungshorizonts), Reliabilität (z.B. durch mehrere voneinander unabhängige und überschneidungsfreie Teilaufgaben), Validität (z.B. durch angemessene Berücksichtigung der Themen, die im Unterricht behandelt wurden). Im Zeitalter der Kompetenzorientierung wird das Testkriterium der „Validität" anders als bisher interpretiert, da die Frage der Domänenspezifizität der Aufgabenstellung eine viel größere Bedeutung erhält. An unserem Klausurbeispiel kann das konkret verdeutlicht werden. Schon lange wird an aufsatzähnlichen Aufgabenformaten kritisiert, dass die Schreibgeschwindigkeit, die Handschrift, die Rechtschreibung und die Art der Darstellung wesentlich in die Bewertung einfließen - obwohl ja etwas ganz anderes gemessen werden soll. Aus kompetenztheoretischer Sicht kommt nun noch hinzu, dass weder die zweite noch die dritte Aufgabe vom Schüler den Nachweis „domänenspezifischer" Kompetenzen (im engeren Sinne) verlangt. Überspitzt formuliert: Es wird eher die sprachliche Kompetenz des Lernenden gemessen, während die genuin ökonomische Fach- und Methodenkompetenz nur am Rande erfasst wird. Versucht man nun, die Ausgangsaufgabe aus kompetenztheoretischer Sicht zu optimieren, so gelangt man z.B. zu folgender Variante 7 : 1. Stellen Sie anhand eines Marktdiagramms möglichst präzise dar, warum es aus neoklassischer Sicht nur freiwillige Arbeitslosigkeit geben kann. Prüfen Sie anschließend, inwiefern die Annahmen des neoklassischen Modells auf den deutschen Arbeitsmarkt zutreffen. 2. Rechtfertigen Sie - in einer Entgegnung auf die Position des Autors - die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen (sog. Hartz-Gesetze) der Regierung Schröder. 3. Formulieren und begründen Sie abschließend drei Forderungen an die deutsche Bundesregierung, die geeignet erscheinen, um das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Aufgabe 1 ist nun eindeutig formuliert und geht über die reine Reproduktion auswendig gelernten Wissens hinaus. Aufgabe 2 prüft domänenspezifische Anwendungskompetenzen und setzt voraus, dass der Lernende über intelligentes, anwendbares

6

Beispiel Nordrhein-Westfalen:

Operatoren flir den Anforderungsbereich I: aufzählen, nennen, wiedergeben, zusammenfassen, benennen, bezeichnen, beschreiben, darlegen, darstellen; Operatoren für den Anforderungsbereich II: analysieren, auswerten, charakterisieren, einordnen, erklären, erläutern, herausarbeiten, ermitteln, erschließen, interpretieren, vergleichen, widerlegen; Operatoren für den Anforderungsbereich III: begründen, beurteilen, bewerten, Stellung nehmen, entwerfen, entwickeln, erörtern, gestalten, problematisieren, prüfen, diskutieren. 7

Auf dem ursprünglichen Vorschlag basierender eigener Vorschlag, der sich zweifellos aus kompetenzorientierter Sicht noch weiter optimieren lässt.

Soziale Marktwirtschaft in der

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Vermittlungskrise

Grandwissen verfugt. Schließlich unterscheidet sich die neue dritte Aufgabe von der alten durch ihre Bewertbarkeit: Der Lernende kann hier unter Beweis stellen, dass er auf Grundlage seiner Sach- und Methodenkenntnisse zu einem gut begründeten, kriterienorientierten Urteil gelangt ist. Im Hinblick auf die Vermittlung der Grundzüge unserer Wirtschaftsordnung bietet dieser neue, kompetenzorientierte Blickwinkel auf die Qualität von Leistungsaufgaben die Chance, die traditionell einseitig textorientierten Aufgabenformate durch vielfaltigere und vor allem domänenspezifische Aufgabenformate zu ergänzen. Diese Chance kann am folgenden, sehr überzeugenden Beispiel verdeutlicht werden (vgl. Möller 2002, hier: Fallstudie 7, leicht gekürzt und verändert). Sachverhalt: Die wirtschaftliche Lage eines Mitgliedstaates von „Euroland" zeige für ein soeben zu Ende gegangenes Jahr folgende Zahlen (VR = Veränderungsrate): Bruttoinlandsprodukt VR des Bruttoinlandsprodukts real

2 000 Mrd. € + 1 % (Vorjahr: + 1,5%)

Zahl der Beschäftigten

30 Mio. (Vorjahr: 30,3 Mio.)

Zahl der Arbeitslosen

2,0 Mio. (Vorjahr: 1,7 Mio.)

Kapazitätsauslastung in Inlandsindustrie Kapazitätsauslastung in der Exportindustrie

86 % (Vorjahr: 86,5 %) 82 % (Vorjahr: 83 %)

VR der privaten Investitionen real

+ 3%

VR der Staatsnachfrage real

+ 3%

VR des privaten Verbrauchs real

+ 2,5 %

Außenbeitrag

- 4 4 Mrd. € (Vorjahr: - 2 7 M r d . € )

Saldo der Kapitalbilanz

+ 65 Mrd. € (Vorjahr: + 40 Mrd. €)

Saldo der Devisenbilanz

+ 21 Mrd. € (Vorjahr: + 13 Mrd. €)

VR der Exporte

- 0,1 % (Vorjahr: + 2,5 %)

VR der Importe

+ 4 % (Vorjahr: + 4 %)

Exportquote

20%

Importquote

22, 2 %

VR der Ausfuhrpreise VR der Einfuhrpreise

+ 2,5 % (Vorjahr: + 3 %) -1,5%

VR des Verbraucherpreisindex im Euroland

+ 2,5 % (Vonahr: + 3%)

VR des Verbraucherpreisindex im Ausland

+ 2,5 % (Vorjahr: + 2,5 %)

VR der Löhne im Euroland bzw. im EU-Ausland VR der Einkommen aus Unternehmert. u. Vermögen VR der Geldmenge Hauptrefinanzierungssatz Kapitalmarktzins im Euroland Kapitalmarktzins im Ausland

+ 5 % bzw. + 6 % (Vorjahr: je + 6 %) + 6 % (Vorjahr: + 4,5 %) + 2 % (Vorjahr: 3,5 %, im Durchschnitt der letzten 10 Jahre: 5 %) 7% 8,5 % 5,5 %

VR der Staatsausgaben

+ 6%

VR der Staatseinnahmen

+ 3%

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Michael Weyland

1. Stellen Sie die geldpolitischen Instrumente der EZB im Zusammenhang dar und erklären Sie mithilfe einer schlüssigen Wirkungskette, wie sich geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank auf den Gütermarkt übertragen. 2. Analysieren Sie die wirtschaftliche Lage des Mitgliedstaates von „Euroland" und arbeiten Sie deren Ursachen heraus (nachfrageseitig, angebotsseitig, geldpolitisch, außenwirtschaftlich). 3. Beurteilen Sie die Erfolgschancen folgender Maßnahmen für den Mitgliedstaat von „Euroland" im Hinblick auf die Ziele der Wirtschaftspolitik: a) Erhöhung des Angebots an längerfristigen Refinanzierungsgeschäften. b) Verstärkter Ankauf ausländischer Währung durch die EZB. c) Vergabe zusätzlicher Staatsaufträge, die durch Kreditaufnahme auf den inländischen Kreditmärkten finanziert werden. d) Abbremsen des Lohnanstiegs in den nächsten beiden Jahren auf jeweils 2 % im Rahmen einer konzertierten Aktion zwischen Tarifpartnern und Regierung. Möller (2002, S. 4 f.) liefert ein Arbeitsschema, Lösungstechniken sowie Musterlösungen zu insgesamt 33 wirtschaftspolitischen Fallstudien, die aus wirtschaftsdidaktischer Sicht als vorbildlich im Hinblick auf eine moderne, kompetenzorientierte Aufgabenkultur angesehen werden können. Um die Lernenden in die Lage zu versetzen, solche anspruchsvollen Fallstudien mithilfe domänenspezifischer Fach- und Methodenkompetenzen sachangemessen bearbeiten zu können, sollten im Unterricht angemessene Übungsphasen berücksichtigt werden (vgl. Meyer 2004, S. 104 f.).

4.

Fazit

Wenn die Kernaufgabe und die Kernkompetenz der ökonomischen Bildung darin bestehen, die Funktionsweise der Sozialen Marktwirtschaft verständlich zu machen, sollte der inhaltliche Schwerpunkt des Unterrichts künftig viel stärker auf die zentralen ökonomischen Fragen gelegt werden (vgl. Schlösser 2001). Zum Beispiel: Welche Entscheidungsprozesse laufen in Haushalten und Unternehmen ab, wie funktionieren Märkte und wie bilden sich Preise (real, simulativ, im Modell)? Wie entstehen ökonomische Institutionen, welche Funktionen haben sie, und wieso kommt es zu Marktversagen oder zu Staatsversagen in der Wirtschaftspolitik? „Wenn ökonomische Bildung entsprechende fachdidaktische Konzepte anbietet - und das kann sie bereits heute - so ist sie erfolgreich und sollte sich nicht mit dem Anspruch von Omnipotenz auf alle möglichen Gebiete wagen, vielleicht nur, um ihren sozialwissenschaftlichen Charakter zu demonstrieren, indem sie überall mitredet" (Schlösser 2001, S.

5). Die im Rahmen dieses Aufsatzes unterbreiteten Vorschläge zur Verbesserung von Lehr-Lern-Prozessen im Bereich der ökonomischen Bildung greifen diesen Gedanken auf. Sie zielen darauf ab, das Verständnis für ökonomische Zusammenhänge auf Seiten aller Schülerinnen und Schüler systematisch zu fordern und die Funktionsweise der Sozialen Marktwirtschaft auf wirklichkeitsnahe (Abschnitt 3.1), entscheidungsbasierte (Abschnitt 3.2) und kompetenzorientierte (Abschnitt 3.3) Art und Weise zu verdeutlichen. Dies vor dem Hintergrund gravierender Defizite marktgängiger Schulbücher bzw.

Soziale Marktwirtschaft in der Vermittlungskrise

181

Unterrichtsmaterialien sowie z.T. besorgniserregender Akzeptanzprobleme des deutschen Exportklassikers „Soziale Marktwirtschaft" (Abschnitte 1 und 2). Abschließend ist Goldschmidt daher zuzustimmen, wenn er betont, dass „die lange vernachlässigte Förderung wirtschafte- und ordnungspolitischer Kompetenz (...) von ökonomischer Seite die wichtigste Aufgabe sein (wird), um sich dem wachsenden Vertrauensverlust in die Soziale Marktwirtschaft argumentativ entgegen stellen zu können" (Goldschmidt 2008, S. 423).

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182

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Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer Reflexionsgegenstand der ökonomischen Bildung

Hans Kaminski

Inhalt 1.

Ausgangsproblem

184

2.

Betrachtungsdimensionen der Wirtschaftsordnung als Institutionen- und Regelsystem

186

2.1. Fokale Dimension

186

2.2. Bildungstheoretische Dimension

187

2.3. Die konstruktivistische bzw. lerntheoretisch-methodische Dimension

189

Curriculare Unterstützungsstrukturen

193

3.1. Lehrpläne, Rahmenrichtlinien, Kerncurricula

193

3.2. Begriffsnetze als Ordnungsinstrumente: Konsequenzen für die Entwicklung von Schülermaterialien

197

Fazit

202

3.

4.

Literatur

203

184

1.

Hans Kaminski

Ausgangsproblem

Hans Jürgen Schlösser, der sich in vielfältiger Weise um die ökonomische Bildung in Deutschland verdient gemacht hat, wurde nie müde, immer wieder deutlich zu machen, wie wichtig es ist, dem Bürger Grundstrukturen und Prozesse unserer Wirtschaftsordnung zu verdeutlichen und diese Aufgabe sowohl in der akademischen Ausbildung von Wirtschaftswissenschaftlern wie für Studierende der ökonomischen Bildung an allgemeinbildenden Schulen zu verankern. Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig die zentralen Ordnungsformen und Ordnungselemente einer Wirtschaftsordnung bei der Bevölkerung bekannt sind. Dies zieht nach sich, dass wesentliche Wirkungszusammenhänge politischen und ökonomischen Handelns in unserer Volkswirtschaft mit erkennbarem Missvergnügen wahrgenommen werden, dass der Ruf nach systemischer Korrektur seitens der Bevölkerung insbesondere in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und dass die latent ablehnende Haltung von großen Teilen der deutschen Bevölkerung gegenüber einer marktwirtschaftlichen Ordnung evident ist. Dafür mag es viele Gründe geben, sicherlich muss aber als ein wesentlicher Einflussfaktor in Betracht gezogen werden, dass die Grundstruktur der Wirtschaftsordnung vielen Bürgern nicht bekannt ist. In diesem Beitrag soll es darum gehen, didaktische Erträge in der Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsordnung als Institutionen- und Regelsystem in der ökonomischen Bildung aufzuzeigen, und zwar unter der Voraussetzung, dass die Systemstruktur als Ausgangspunkt für die Einordnung von wirtschaftlichen Phänomenen gewählt wird, um sich ebenfalls zielorientiert mit der Semantik zu eben dieser Systemstruktur auseinandersetzen zu können. Des Weiteren geht es darum, einige fachdidaktische Konsequenzen zu identifizieren, die zeigen, wie fachwissenschaftliche und fachdidaktische Reflexionen aufeinander zu beziehen sind und welche Auswirkungen dies auf die Entwicklung von Lehr-LernArrangements hat. Dabei gilt jedoch folgende fachdidaktische Prämisse: Direkte Ableitungen von einer wie immer zu definierenden fachwissenschaftlichen Disziplin sind nicht möglich, wenn sie nicht zu einem verkürzten Verständnis von ökonomischer Bildung in der Schule führen sollen. In diesem Sinne ist die fachdidaktische Fragestellung komplexer als die fachwissenschaftliche, weil sie die fraglichen Sachverhalte unter einem subjektiven Aspekt, dem Aspekt eines lernenden Individuums in seiner konkreten gesellschaftlichen Situation zu konstruieren hat. Die fachwissenschaftlichen Inhalte lassen sich nicht getrennt von ihrer Bedeutung für den Lernenden bestimmen und damit auch nicht von der Frage danach, ob und wie sie Mündigkeit und Selbstbestimmung der Lernenden fördern können. Die fachdidaktische Fragestellung variiert nicht nur die fachwissenschaftliche, sondern sie verändert sie auch, da sie eine Verbindung mit den individuellen Interessen der Lernenden eingeht (vgl. Giesecke 1973). Damit wird eben nicht unterschwellig einer Abbilddidaktik das Wort geredet, sondern genau das Gegenteil: Es wird von einer Problemsicht, von zentralen Lebenssituationen für Kinder und Jugendliche ausgegangen und nicht von einer wirtschaftswissenschaftlichen Fachsicht. Das Gefüge einer Wirtschaftsordnung ist vielmehr ein Referenzelement der ökonomischen Bildung und hilft wirtschaftliche Sachverhalte einzuordnen und im Zusammen-

Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer

Reflexionsgegenstand

185

hang zu sehen, damit Schüler zunehmend das Denken in Ordnungen auf die eigenen Lebenssituationen beziehen können. Abbildung 1: Argumentationsmodi für die Auseinandersetzung mit der Wirtschaftsordnung eines Landes als Referenzrahmen für die Ökonomische Bildung f \ Argumentationsmodi

\

y

Unterscheidung schafft die Voraussetzung für Reflexion: Der Zusammenhang von a) (Sozialstruktur) Sein: Institution matters b) (Semantik) Bewusstsein: Idea matters

Quelle: eigene Darstellung Hilfreich - auch für die fachdidaktischen Überlegungen - erscheint das ordonomische Forschungsprogramm, das von einer rational-choice-basierten Analyse von Interdependenzen zwischen Sozialstruktur und Semantik ausgeht (Pies 2010). Als „Sozialstruktur" werden die „formalen und informalen Regel-Arrangements der Gesellschaft und ihre Anreizwirkungen" bezeichnet; „Semantik" steht für die „Begriffe und Denkkategorien, die unsere Wahrnehmung und Kommunikation prägen." Es geht also um die Reflexion der wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Sein und Bewusstsein. Solch eine Sichtweise, das Wechselspiel von handlungslogischen und situationslogischen Argumentationsmodi (vgl. Abbildung 1), eröffnet der ökonomischen Bildung aus fachdidaktischer Sicht zahlreiche Perspektiven für ein differenziertes Verständnis von Wirtschaftsordnungen und für die Analyse von typischen Denkfehlern, was die ethische Dimension der ökonomischen Bildung angeht. Diese interessante Perspektive kann hier nicht im Einzelnen entfaltet werden, aber unterstreicht die hohe Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit den Regelsystemen einer Wirtschaftsordnung für differenzierte Betrachtungsweisen hat. Es muss deutlich werden: Für jedwede Form gesellschaftlicher Weiterentwicklungen ist eine allgemeine Zustimmungsfähigkeit zu Problemlösungen seitens der Bevölkerung wichtig. Aber Verständigung beruht auf Verständnis und setzt Aufklärung voraus (vgl. Pies et al. 2009, S. 1). Wer jedoch Strukturen und Prozesse im Rahmen der Wirt-

186

Hans Kaminski

schañsordnung unzureichend versteht, wird mehr auf Einstellungsmuster zurückgreifen, die die individuelle Betroffenheit berühren als sich für gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen zu engagieren. „Die Erfolgsaussichten für Verständigung hängen entscheidend davon ab, ob die Kommunikation über Regeln und Anreize zur Lösung gesellschaftlicher Probleme mit Hilfe eines Begriffsapparats möglich ist, der sich dazu eignet, Ansatzpunkte einer gemeinsamen Problemlösung ins Blickfeld zu rücken. Aufklärung bezieht sich somit auf die Frage, ob und inwiefern sich gesellschaftliche Akteure durch die Entwicklung geeigneter Denkund Begriffskategorien selbst in die Lage versetzen können, Konflikte so zu beschreiben, dass sie einer konstruktiven Bearbeitung zugänglich sind." (Pies et al. 2009, S. lf.)

2.

Betrachtungsdimensionen der Wirtschaftsordnung als Institutionen- und Regelsystem

Für ein tieferes Verständnis der Wirtschaftsordnung eines Landes als Institutionenund Regelsystem sollen drei Betrachtungsdimensionen herausgestellt werden, die wiederum das Hintergrund-Szenario für weitere fachdidaktische Reflexionen bilden und bis in die Entwicklung von Lehr-Lern-Arrangements hineinspielen.

2.1. Fokale Dimension Das zweifellos in der Nachkriegszeit maßgeblich von Eucken u.a. beeinflusste „Denken in Ordnungen" mit Hilfe einer Methode der „pointierend hervorhebenden Abstraktion" wurde sicherlich auch mit beeinflusst dadurch, dass viele Juristen sich an den Konzeptionsdebatten zur künftigen Ausgestaltung einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung beteiligten. Diese Denkweise lieferte den Baukasten für eine überschaubare Anzahl „elementarer, reiner Formen" (Eucken 1939, S. 79 ff.) von Wirtschaftsordnungen. „Sein eigenes Denken in Ordnungen ist explizit angelehnt an das juristische Denken in politischen Verfassungen, und es ist kein Zufall, sondern geradezu Programm", so Pies (201 la, S. 2), „dass Eucken insbesondere in seiner Freiburger Zeit (1927-1950) eng mit Rechtswissenschaftlern wie beispielsweise Franz Böhm und Hans GroßmannDoerth zusammengearbeitet hat." Eucken (1939, S. 183) zeigte, dass gesellschaftliche Teilordnungen kein Eigenleben unabhängig von den anderen Teilordnungen führen, sondern eine Interdependenz besteht. Die „Interdependenz der Ordnungen ist ein wesentlicher Tatbestand des Lebens und gerade des modernen Lebens. Ihre Erkenntnis ist eine Voraussetzung für das Verständnis aller Probleme sowohl der Wirtschaftspolitik als auch der Rechts- und Staatspolitik der Gegenwart (....). Das exakte Erkennen der Ordnungsformen und ihrer wechselseitigen Beziehungen ist nötig."1 Ein „Denken in Ordnungen" ist m.E. fruchtbar für die Entwicklung von Referenzsystemen zur ökonomischen Bildung und bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Historisch gewachsene und politisch bewusst gestaltete Wirtschaftsordnungen bilden - geliebt oder ungeliebt - den Rahmen, „innerhalb dessen die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft ab-

1

Zu den Stärken und Schwächen des Theorieentwurfs Euckens vgl. Pies (201 lc), S. 3 und S. 17-20.

Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer Reflexionsgegenstand

187

laufen und mit geeigneten Theorien verstanden werden können" (Klump 2011, S. 94). Ein besonderer didaktischer Vorteil lässt sich darin sehen, dass die Strukturelemente der Wirtschaftsordnung einen interdisziplinären Zugang geradezu herausfordern und für Lernende eine gedankliche Engfuhrung erschweren. Dies ist u. a. auch ein Argument, das die Vorgehensweise bei der Entwicklung des Oldenburger Ansatzes zur ökonomischen Bildung wesentlich mit beeinflusst hat (vgl. Kaminski und Eggert 2008). Bei der Entwicklung von Referenzsystemen für die ökonomische Bildung sowie von Lehr-Lern-Arrangements soll ein tieferes Verständnis für die Vielzahl ökonomischer Phänomene erzeugt werden. Diese sollen geordnet und die Suche nach Interdependenzen soll als konstitutiv für die Entwicklung von Kompetenzen für die ökonomische Bildung betrachtet werden. Kinder und Jugendliche müssen einen Orientierungsrahmen erhalten, mit dem sie gegenwärtige und zukünftige Lebenssituationen in der ökonomischen Bildung durchdringen lernen. Der didaktische Vorteil, den die Beschäftigung mit der Wirtschaftsordnung eines Landes als System zusammenhängender Ordnungsformen und -elemente mit sich bringt, wird deutlich, wenn wir Systeme als Denk- und Arbeitskategorien auffassen, die dazu dienen, komplexe Erscheinungen auf ihre jeweilige Grundstruktur und deren Ordnungsprinzipien zu reduzieren und vielfaltige Zusammenhänge von Elementen auf ihre jeweilige Prägungskomponente und Relevanz zurückzuführen. Durch die Reduktion komplexer Erscheinungen auf ein analytisch fassbares und zu bewältigendes Maß wird es oft erst möglich, den Kern einer Sache oder den wesentlichen Grund eines Problems freizulegen. In dem scheinbaren Chaos von unübersehbar vielen Elementen und deren Zusammenhängen lassen sich latent vorhandene Ordnungselemente auf Teilgebieten entdecken (vgl. Peters 1997, S. 3). Mit dem Fokussieren auf das Institutionen- und Regelsystem erhöht sich die Transparenz der Struktur einer Wirtschaftsordnung, ohne sich für die unendliche Vielfalt der wirtschaftlichen Erscheinungsformen zu verschließen. Abschließend soll dieser Gedanke noch einmal am Beispiel des Pointiiiismus, einer Kunstrichtung Ende des 19. Jahrhunderts (wichtigster Vertreter: Georges Seurat), verdeutlicht werden. Aus der Nähe betrachtet, offenbaren sich die Bilder dieser Kunstrichtung als eine Vielzahl farbiger Tupfer und Kleckse, von denen jeder Einzelne über das Gesamtwerk noch nichts aussagt. Allerdings aus der Distanz, wenn das System der Tupfer und Kleckse richtig erfasst wird, ergibt sich ein Bild und eine Aussage. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Wir können uns noch so viele „Bildtupfer" oder „Quadrate" einprägen, diese ordnen oder analysieren, über das Gesamtsystem lernen wir auf diesem Wege nichts. Werden die Teile nicht in eine „Ordnung" gebracht, die dem Betrachter deutlich deren Beziehungen zueinander aufzeigt, dann wird sich der Betrachter im Gestrüpp unterschiedlicher Informationen verheddern (vgl. Kaminski und Koch 2005, S. 43 f)-

2.2. Bildungstheoretische Dimension Bildung ließe sich verstehen als die Ausstattung des Individuums mit jenen Kenntnissen, Fähigkeiten, Einsichten und Werthaltungen, die es befähigen, seine eigene indi-

188

Hans Kaminski

viduelle und soziale Identität zu entwickeln und jene Situationen erfolgreich zu bewältigen, mit denen es privat, beruflich und öffentlich konfrontiert wird. Wenn man sich auch immer wieder der Relativität und der Kontextbezogenheit von Kompetenzen bewusst bleiben will, dann hat die Bezugnahme auf das herrschende Institutionen- und Regelsystem einer Wirtschaftsordnung für die Analyse von ökonomisch geprägten Lebenssituationen zunächst nur eine kritische erste Orientierungsfunktion. Die Legitimation der ökonomischen Bildung hat sich zum einen immer wieder in Bezug auf das jeweilige aktuelle wirtschaftlichen Geschehen zu beweisen und zum anderen an dem Beitrag zu messen, den die ökonomische Bildung leistet, Kinder und Jugendliche zur Mündigkeit und Tüchtigkeit zu fuhren. 2 Deshalb wird in Anschluss an Menze (1983, S. 335) die Position geteilt, dass Bildung auf jene Anforderungen zu beziehen ist, die „die konkrete Welt an ein konkretes Individuum" stellt.3 Forderungen nach Selbstverwirklichung und idealistischer Individualität gelten abgelöst von sozialen, ökonomischen und politischen Kontexten des Individuums als wenig sinnvoll. „Bildung ist in diesem Sinne mehr ein sozialpraktischer Begriff, der sich zwar auch an klassischen Basisnormen orientiert, aber dennoch eine konkrete, handlungsleitende Funktion in der Bewältigung der Lebenslage des Individuums zu erfüllen hat" (Menze 1983, S. 335). Wird dieser bildungstheoretische Grundgedanke geteilt, dann hat die jeweilige Verfasstheit und Ausformung der aktuellen Wirtschaftsordnung eines Landes den Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Referenzsystems für die ökonomische Bildung zu bilden. Die aktuellen Ausprägungsformen unserer Wirtschaftsordnung sind nicht der Endpunkt einer zu erzeugenden affirmativen Akzeptanzphilosophie für eben diese geltende Wirtschaftsordnung, wie zuweilen missverständlich angenommen wird. Ökonomische Bildung soll eben nicht zu einer sterilen Schulbuch-Wissenschaft degenerieren, sondern es gilt konzeptionell sicherzustellen, dass damit die Auseinandersetzung mit strukturellen Prozessen der Wirtschaftsordnung immer wieder auf der Ebene der gegenwärtigen Ausprägungsformen möglich wird. Auf diese Weise wird konzeptionell eine didaktische „Warnleuchte" in das Konzept der ökonomischen Bildung implantiert, die immer wieder aufleuchtet, wenn der „progressive Stilgedanke", d.h. die Notwendigkeit einer permanenten ordnungspolitischen Gestaltungsaufgabe aus den Augen verloren gehen könnte. Kinder und Jugendliche müssen erkennen: Eine Wirtschaftsordnung ist nicht „fertig", sondern immer wieder mit den nationalen und internationalen Herausfor-

2

3

Die Ansätze zur Systematisierung von Wirtschaftsordnung sind vielfältig und sind hier nicht zu diskutieren, weil hier der Grundgedanke der Interdependenz der Ordnungsformen unstrittig ist. Vgl. neben dem morphologischen Ansatz den Property-Rights-Ansatz, den marxistischen Ansatz sowie den entscheidungs- und verhaltenstheoretischen Ansatz (Kaminski und Koch 2005, S. 45 ff.). Allerdings hat dies auch zur Folge, dass Lehrkräfte gefordert sind, sich mit aktuellen Erscheinungsformen des Wirtschaftens stetig auseinanderzusetzen, und der Selbstanspruch an die eigene fachliche Qualifikation nicht am Tag des 2. Staatsexamens an einen Nagel im Lehrerzimmer gehängt wird.

Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer Reflexionsgegenstand

189

derungen zu konfrontieren. Die Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen mit z.B. krisenhaften Erscheinungsformen einer Wirtschaftsordnung, wie sie sich gegenwärtig national und international zeigen, wird durch den Zugriff auf das aktuelle Wirtschaftsgeschehen unterstützt, ohne dass das Referenzsystem für die ökonomische Bildung immer wieder konzeptionell „umgestrickt" werden müsste. Das grundlegende Kategoriengerüst ist vorhanden und „materialisiert" sich nur durch das aktuelle Geschehen. Die jeweils aktuell realisierte Wirtschaftsordnung eines Landes, wie sie sich dem Bürger in der Bewältigung von Lebenssituationen darbietet, ist eine erste Kontextbedingung für die Einordnung und Analyse aktueller wirtschaftlicher Phänomene. Dahinter steht ein Bildungsbegriff, der sich dagegen wehrt, von normativen Implikationen entsorgt zu werden. Das grundlegende Wertesystem der Sozialen Marktwirtschaft ist solange politische Entscheidungsgrundlage, bis es durch demokratisch legitimierte politische Entscheidungsprozesse außer Kraft gesetzt wird. Marktwirtschaftliche Ordnungen stehen in der öffentlichen Diskussion - insbesondere in Krisenzeiten - immer unter der Anklage, zumindest aber unter dem Verdacht, Gerechtigkeitsziele und soziale Ziele permanent zu verletzen und im Alltagsgeschehen semantisch zu kolonialisieren. Unterschwellig wird die Systemfrage nicht selten auch dort schon gestellt, wo der Charakter und die Funktionsweise des Systems von weiten Teilen der Bevölkerung, wie Untersuchungen immer wieder zeigen, nur unzureichend erfasst worden ist. Hier hätte die ökonomische Bildung eine zentrale aufklärerische Funktion, und eine weitere Begründung ließe sich dafür finden, dass es m. E. unabdingbar ist, über die Identifikation von Ordnungsformen und Ordnungselementen einer Wirtschaftsordnung auch ein geeignetes Kategoriengerüst für die Analyse z. B. ethischer Herausforderungen im Spannungsfeld von Individual- und Ordnungsethik zu entwickeln (vgl. Homann und Suchanek 2005; Pies 201 lb). Man könnte aus didaktischer Sicht das Regelsystem einer Wirtschaftsordnung als „intellektuelles Klettergerüst" für Kinder und Jugendliche bezeichnen mit dem Ziel, dass sie sich mit den Strukturen und Prozessen der Wirtschaft auseinandersetzen, die eigene Position in dem System bestimmen und sich nicht in der Fülle von Einzelerscheinungen verlieren.

2.3. Die konstruktivistische bzw. lerntheoretisch-methodische Dimension Es kann hier keine Auseinandersetzung mit den gegenwärtig unterschiedlichen lerntheoretischen Positionen erfolgen (vgl. einführend Krapp und Weidenmann 2006; Driscoll 2000; Woolfolk 2008). Hier wird eine sogenannte „gemäßigt konstruktivistische Sicht" des Lernens vertreten (vgl. Kaiser und Kaminski 2012). Diese Position hat allerdings didaktisch-methodische Konsequenzen beim Versuch, Ziele, Inhalte und Methoden miteinander zu verknüpfen und mit neueren lerntheoretischen Erkenntnissen zu fundieren. Das heißt, ohne lerntheoretisches Wissen wird die Entwicklung von Lehrund Lernarrangements für die ökonomische Bildung nur unzureichend gelingen. Gerade aus konstruktivistischer Sicht bietet - so die These - das Institutionen- und Regelsystem einer Wirtschaftsordnung als Teil der Sozialstruktur einen wichtigen Be-

190

Hans Kaminski

zugspunkt für die Bestimmung von Ziel-Inhalts-Konzepten der ökonomischen Bildung und darüber hinaus für die Entwicklung von Lehr- und Lern-Arrangements. Die domänenspezifische Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen ist eine generelle „fachdidaktische Baustelle", weil die Methodendiskussionen in den letzten Jahrzehnten mehr von allgemeinpädagogischen Prinzipien wie Problem-, Schülerorientierung, facherübergreifendes, jahrgangsübergreifendes Lernen, Interdisziplinarität usw. bestimmt worden sind als von der Frage, wie sich Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Fachmethodik aufeinander beziehen lassen. Methodenentscheidungen wurden in allgemeinpädagogischen Diskussionen nicht selten zu Gesinnungsentscheidungen, ohne dafür eine lerntheoretische Basis auszuweisen. Als ein Indiz dafür mag die in den letzten Jahren geführte Debatte zu den „Merkmalen guten Unterrichts" (Helmke 2009; Brophy 2000, Hattie 2012) gelten, die so manchen Didaktikvertreter in eine berufliche Sinnkrise gestürzt hat, weil sich die Methodendebatte mit einem Stichwort wie „Handlungsorientierung" leider noch nicht beherrschen lässt und damit eher von entscheidenden fachdidaktischen Fragen abgelenkt wurde (vgl. u.a. Wellenreuther 2008). Hierzu passt eine Aussage von Aebli aus dem Jahre 1951 (S. 15): „Die wissenschaftliche Didaktik stellt sich die Aufgabe, aus der psychologischen Kenntnis der Vorgänge geistiger Formung diejenigen methodischen Maßnahmen abzuleiten, welche für die Entwicklung der Prozesse am besten geeignet sind. Eine solche Beziehung zwischen Didaktik und Psychologie wird nur selten bewusst und unmittelbar hergestellt."

Dies gilt m.E. auch heute noch in weiten Teilen für die Diskussion des Verhältnisses von Didaktik und Methodik. Die allgemeine Didaktik präsentiert sich immer noch häufig genug wie das „Stricken ohne Wolle", weil sich die Relevanz von Methodenarrangements im Unterrichtsalltag letztlich nur in den fachdidaktischen Konkretisierungsschritten für Unterrichtskonzepte legitimieren kann, ob es nun im Physik- oder im Ökonomieunterricht ist. Man kann deshalb Reussers (2008, S. 222) Beobachtung nur bestätigen und hoffen, dass „Fachdidaktiken mit ihren disziplinaren auf Autonomie und Generierung ausgerichteten spezifischen Referenzrahmen für Lehren, Lernen und (Grund-)Bildung der allgemeinen Didaktik zunehmend den Rang ab(laufen)".

Erziehungswissenschaftliche Kategorienakrobatik hilft selten in der 6. Stunde einer Hauptschule in der Zeit von 12.35 bis 13.15 Uhr weiter. Der Lehrer muss auch dann handeln, wenn die letzte Auswertungsrunde einer empirischen Untersuchung noch nicht erfolgt ist. Deshalb: Für die hier vertretene Position, und zwar die einer konstruktivistischen Sicht auf Lehr-Lern-Prozesse, bietet ein Referenzsystem für die ökonomische Bildung mit der Wirtschaftsordnung eines Landes als Reflexionsgegenstand eine erste orientierende Funktion für die Entwicklung von Lehr-Lern-Arrangements mit dem Ziel, dass die Vielzahl von wirtschaftlichen, tagesaktuellen Handlungen „durchgearbeitet" werden können. Dies unterstützt ein methodisches Gesamtverständnis, das „konstruktivistisch" davon ausgeht, dass Wissen keine Abbildung einer „objektiven", kanonisch interpretierten ökonomischen Wirklichkeit darstellt und „dass mit der Vermittlung von deklarativem

Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer

Reflexionsgegenstand

191

(„Materialien") Wissen immer auch Prozesse (personennahe, „formale" Bildungsziele) mit geschult werden" (Reusser 2008, S. 226). Der gewählte methodische Ansatz schafft Fragestellungen, Differenzierungen, unterschiedliche Betrachtungsperspektiven, mit denen die Inhalte des Unterrichts als „geronnene Methodologie" bezeichnet werden können und deshalb „aufgetaut" werden müssen. Die für die ökonomische Bildung vorgeschlagenen Ordnungsversuche (Kaminski et al. 2007 und 2010; Kaminski und Eggert 2008), haben - neben anderen Funktionen auch die Funktion einer De-Kanonisierung von scheinbar kanonischen Inhalten ökonomischer Bildung, d.h. es gilt dem Schüler den Konstruktionscharakter jedweden Wissens immer wieder deutlich zu machen und aufzuzeigen, wie das jeweilige Erkenntnisinteresse die Antworten auf Fragen mitbestimmt. Es stellt sich somit auch die Frage, wie der Lernende erfahren kann, von welchen Konstruktionsprinzipien die gesellschaftliche Realität getragen wird, wie die auf der gesellschaftlichen Bühne agierenden Personen miteinander agieren, kommunizieren, miteinander um gesellschaftliche Machtpositionen streiten, welche gesellschaftlichen Rituale eingesetzt werden, wie Macht und Herrschaft bis auf die einzelnen menschlichen Verkehrsformen durchgreifen und wie die ökonomische Existenz der Individuen deren Alltagshandeln bestimmt. Ökonomische Bildung hätte den Zweck (vgl. Hiller 1975, S. 469), alltägliches Handeln durchsichtig und kritisierbar zu machen, um bewusstes Handeln für den Einzelnen wie für die Gruppen zu ermöglichen und einzuordnen. Es geht in gewisser Weise um das modellhafte „Nachbauen" spezifischer Wirklichkeitsbereiche, wobei die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse deutlich werden muss: Was Menschen geschaffen haben, können Menschen auch verändern. Hier lassen sich gewisse Parallelen zum Ansatz des mehrperspektivischen Unterrichts aufzeigen (vgl. Giel et al. 1974) mit seiner Nähe zu bestimmten Theoremen des französischen Strukturalismus, und zwar im Sinne einer vorsichtigen didaktischen Nutzenanwendung des Begriffes der „struktufalistischen Tätigkeit" (vgl. Kaminski 1977, S. 239 ff.). Nach R. Barthes umfasst diese strukturalistische Tätigkeit zwei grundlegende Operationen und zwar die Zerlegung (Destruktion) und das Arrangement. „Indem man das erste Objekt zerlegt, findet man in ihm lose Fragmente, deren winzige Differenzen untereinander eine bestimmte Bedeutung hervorbringen; das Fragment an sich hat keine Bedeutung, ist aber so beschaffen, dass die geringste Veränderung, die man an seiner Lage und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen bewirkt ..." (Barthes, zitiert nach Schiwy 1973, S. 155) Diese „strukturalistische Tätigkeit" intendiert, Realität so zu konstruieren, dass sich zeigen kann, nach welchen Regeln dies geschieht. So sind „Schöpfung oder Reflexion hier nicht originalgetreuer Abdruck der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will" (Barthes, zitiert nach Schiwy 1973, S. 154). Insbesondere diese Vorgehensweise erscheint anschlussfähig an kompetenzorientierte Unterrichtsphilosophien mit der Forderung nach einem kumulativen Kompetenzaufbau und macht deshalb vor allem auch die besondere Bedeutung des jeweils erforderlichen Vorwissens deutlich (vgl. dazu die Diskussion um „kognitiv aktivierende Aufgabenkulturen").

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Hans Kaminski

Das skizzierte didaktische Grundverständnis verlangt aus methodischer Sicht nach unterschiedlichen „Durchwasch-Versuchen" gesellschaftlicher Realität. Wir bezeichnen sie als „Ordnungsversuche" (vgl. Kaminski 2010, S. 47; Kaminski und Eggert 2008, S. 13 ff.; Kaminski et al. 2007; Kruber, Hg., 1994). Was heißt in diesem Zusammenhang „Ordnen"? Insgesamt geht es um die Förderung einer kognitiven Beweglichkeit im Denken, die Kinder und Jugendliche befähigt, sich zu orientieren, sich zu verhalten. „Ordnung", so Zotter (2004, S. 25), „ist die Herstellung einer gesicherten Verfügbarkeit, eine Sicherung des Wissens durch die Wiederauffindbarkeit." Stammen und Weber (2004) führen aus: „Ob nun im Bücherregal oder im Kopf eines Lernenden. Jedwede Versuche, sich über Ausmaß - die Spannweite, die Gesamtheit - und die innere Ordnung des jeweils Gewussten zu vergewissern" ist ein „grundlegendes Bedürfnis jeder komplexen Gesellschaft". In diesem Sinne lässt sich aus didaktischer Sicht das Institutionen- und Regelsystem einer gesellschaftlichen Systemstruktur als Ordnungsakt bezeichnen, der die Wiederauffindbarkeit von Zusammenhängen unterstützt. Ordnung zielt aber auch auf eine anthropologische Dimension von Schule, und zwar ließe sich das bezeichnen als die „Dialektik von Individualisierung und Enkulturation" (vgl. Duncker 1995, S. 39). Individuelle Konstruktionsakte sollten nicht als Widerspruch zur Entwicklung einer notwendigen gesellschaftlichen Partizipationsfahigkeit gesehen werden. Im Hinblick auf das Schulsystem führt uns dies zur Frage nach dem Ordnungsbeitrag von Schulfachern oder auch fächerübergreifenden Lerneinheiten, die „an ihre Stelle treten sollen, was sie leisten können im Hinblick auf die Personwerdung und Individualisierung und hinsichtlich des Erwerbs eines kulturellen Habitus" (vgl. Duncker 1995, Pkt. 2). Von überragender Bedeutung „sind in diesem Zusammenhang jene Momente, die den Gewinn von Übersicht und Orientierung, von Vorstellungsvermögen und Anschauungskraft, von schöpferischer Phantasie und Kreativität versprechen". Hier muss auf H. Aebli (1980, 1981) verwiesen werden, der Ordnungsversuche ganz im Sinne seiner Charakterisierung des Denkens als ein „Ordnen des Tuns" bezeichnet: Denken und Erkennen werden zusammengespannt zu einem aktiven Interaktionsprozess. Ordnen stiftet Beziehungen zwischen Dingen, schafft Zusammenhänge und damit Strukturen im Sinne eines „konstruktivistischen Aktes". Diese haben jeweils nur problem- und aufgabenbezogen ihre Gültigkeit, aber bei neuen Problemen wird ihr Lösungsbeitrag erneut zu prüfen sein. Bei dem hier verwendeten Begriff der Ordnung geht es also darum, „in welcher Weise die Methode des Ordnens als Aneignung von Wirklichkeit in Erscheinung tritt. Ordnen im hier verstandenen Sinne soll helfen, für den Lernenden Übersicht herzustellen, sein Orientierungsvermögen zu verbessern und so insgesamt den Unterricht als einen Prozess zu verstehen, in dem Vorstellungen aufgebaut, geklärt und in Handlungsbezüge eingelagert werden" (Duncker 1997 S. 40) sowie die Partizipationsfahigkeit des Individuums gefordert wird.

Die Wirtschaftsordnung

3.

als fachdidaktischer

Reflexionsgegenstand

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Curriculare Unterstützungsstrukturen

Was haben die o. g. skizzierten Dimensionen (vgl. Punkt 2) für didaktische Konsequenzen bei der Entwicklung von kompetenzorientierten Lehr-Lern-Arrangements? Dazu wollen wir uns auf zwei Ebenen beschränken und durch Beispiele verdeutlichen: a) die Ebene der Lehrpläne Rahmenrichtlinien, Kerncurricula o.Ä. b) die Ebene der Lehr-Lern-Materialien.

3.1. Lehrpläne, Rahmenrichtlinien, Kerncurricula Wenn die bundesdeutschen Reformversuche in der PISA-Nachfolge-Zeit betrachtet werden, dann wird eine Modernisierung des Schulsystems nicht über die Entwicklung von Fachstandards als isolierte Maßnahmenpakete gelingen, sondern Reformversuche werden auf sehr unterschiedlichen Ebenen ansetzen müssen. Dies gilt für die Curriculumentwicklung in den Schulfächern einerseits und für die Umgestaltung der Lehreraus-, -fort- und -Weiterbildung und für die Entwicklung von Lehr-Lern-Materialien andererseits. Eine Aufgabe wird es auf Bundesländerebene sein, sog. kompetenzorientierte Kerncurricula o. Ä. zu entwickeln, die jedoch mit der Tradition der letzten Jahrzehnte im Bereich der ökonomischen Bildung brechen müssen: Es müsste nicht ein didaktisches Sammelsurium von Ziel-Inhalts-Vorschlägen präsentiert werden, und die Lehrkraft dürfte nicht mit der Aufgabe allein gelassen werden, dieses Sammelsurium zu ordnen. Vielmehr ist es erforderlich, eine Gesamtstruktur für ein Fach (z. B. das Fach Wirtschaft) vorzuschlagen, die dennoch so offen ist, dass situations- und altersbezogene Lehr-Lern-Arrangements 4 entwickelt werden können, die spiralcurricularen, kumulativen Grundanforderungen genügen. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise sind die Niedersächsischen Kerncurricula für ein Fach Wirtschaft an den Hauptschulen, den Realschulen und den Oberschulen. Diese weisen vier Themenfelder aus, die kompetenztheoretisch gestuft für die Jahrgänge 7 bis 10 (Hauptschule) bzw. für die Jahrgänge 8 bis 10 (Realschule) aufbereitet worden sind (vgl. Niedersächsische Kerncurricula, Niedersächsischer Bildungsserver nibis.de): 1.

Verbraucher und Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen

2.

Ökonomisches und soziales Handeln in Unternehmen

3.

Aufgaben des Staates im Wirtschaftsprozess

4.

Ökonomisches Handeln regional, national und international

4

Wer Beispiele für diese Vorgehensweise sucht, wird bei den neuesten Curricula der Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen zur Arbeitslehre schnell fündig.

194

Hans Kaminski

Für die vier Themenfelder in den Jahrgängen 8 bis 10 (Realschule) werden drei Kompetenzbereiche (Wissen, Erkennen, Beurteilen/Bewerten) unterschieden, die für unseren Zusammenhang hier nicht im Einzelnen darzustellen sind. Wichtig ist jedoch, das Prinzip des Kerncurriculums, eine horizontale und vertikale Verknüpfung, anzustreben: a)

alle vier Themenfelder in einer Anforderungsstufe (z. B. Schuljahr) werden

b)

mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad von Jahrgang 8-10

c)

mehrfach durchlaufen.

Damit wird ein kumulativer Wissensaufbau im Kerncurriculum angestrebt, d. h. grundlegende Strukturen und Prinzipien sowie die unterschiedlichen Inhaltsbereiche sind von Beginn an (hier z. B. von Klasse 8 bis Klasse 10) zu entwickeln, auszudifferenzieren, zu vertiefen und erneut aufzugreifen. 5 Die o. g. Themenfelder des Kerncurriculum stehen, wie leicht erkannt werden kann, in einem Gesamtzusammenhang, der sich in einem ersten Ordnungsschritt über den Wirtschaftskreislauf abbilden lässt (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2: Themenfelder und Wirtschaftskreislauf

Die vier Themenfelder (Thema 1, 2, 3, 4) werden in drei Durchläufen horizontal und vertikal (z. B. 1,5, 9) durchlaufen, d.h. jedes der vier Themenfelder wird dreimal unterrichtlich behandelt, wie es die Abbildung 3 deutlich machen soll. Die Ordnungsformen

5

Die Diskussion zur Unterscheidung von Kompetenzen ist in der Bundesrepublik nicht abschließend geklärt und wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich interpretiert. Dies soll hier nicht diskutiert werden und ist für den weiteren Gedankengang zunächst unerheblich.

Die Wirtschaftsordnung als fachdidaktischer

195

Reflexionsgegenstand

und Ordnungslemente einer Wirtschaftsordnung sind vielfaches Bindeglied zwischen den Themenfeldera und eröffnen Ansatzpunkte für Problemstellungen, um auch aktuelle Ausprägungsformen wirtschaftlichen Handels immer wieder kritisch hinterfragen zu können. Man könnte sie als „didaktischen Kitt" bezeichnen, um die wechselseitige Bezogenheit auszuweisen. Abbildung 3: Kumulativer Wissensaufbau in den vier Themenfeldern

o

1H £

Verbraucher und Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen

Ökonomisches und soziales Handeln in Unternehmen

Aufgaben des Staates im Wirtschaftsprozess

Ökonomisches Handeln regional, national und international

1 ArbeitEi nkomme nWirtschaften

2 Aufgaben und Ziele von Unternehmen

3 Wirtschaften braucht Regeln und Akteure

4 Leben und Arbeiten in unserer Region

6

7

8

Arbeitsbeziehungen in Unternehmen

Soziale Marktwirtschaft

Die Regionen und die Welt verändern sich

CO 5 Einflüsse auf das Verbraucherverhalten

9

10

11

12

Märkte, Preise und Verträge

Veränderungen In der Arbeitswelt

Soziale Marktwirtschaft Herausforderungen

Wirtschaften ist international

Quelle: eigene Darstellung Hinter dieser Vorgehensweise steht eine Form „didaktischer Rekonstruktion" (vgl. Kattmann und Gropengießer 2001) mit dem Ziel, Schülerperspektiven und fachlich geklärte Konzepte systematisch aufeinander zu beziehen und für die Konstruktion von Unterrichtsinhalten zu nutzen und stufenweise aufzubauen. Für den weiteren Gedankengang ist es m. E. sinnvoll, zu unterscheiden zwischen der Lehrstoff- und Aufgabenkultur, Lernhilfe- und Unterstützungsstruktur sowie der Lernprozess- und Interaktionsstruktur des Handlungsfeldes Unterricht. Im Hinblick auf die Lehrstoff- und Aufgabenkultur gilt es zu berücksichtigen, dass fachliche Inhalte eben keine „fertigen" Stoffe sind, sondern sie müssen vielmehr in ihrer Konstruktion (vgl. strukturgenetischer Ansatz Piagets) als etwas „Gewordenes" interpretiert werden, und wir müssen fragen, wie wir die innere Struktur eines Lehrstoffes erfassen können. Wie machen wir das Verhältnis zwischen Spielregeln und Spielzügen im Rahmen einer Wirtschaftsordnung erfahrbar, wie können wir den Lernenden „Trugschlüsse der

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Hans Kaminski

unzulässigen Verallgemeinerung" deutlich machen? Wie zeigen wir Unterschiede zwischen der Mikro- und Makroebene bei Betriebserkundungen auf? Oder wie lassen sich auf der Basis von didaktischen Ordnungsversuchen (vgl. Kapitel 2.3) in Alltagssituationen Kategorien identifizieren, wie z. B. Knappheit, Bedürfnisse, Interdependenz, Risiko, und welche Anreizwirkungen haben Eigentumsverfassungen, zentrale, dezentrale Lenkungsmechanismen? Abbildung 4: Artikulation einer konstruktivistischen Unterrichtskultur inhalt. R e f e l x i o n s g e g e n s t a n d : W i r t s c h a f t s o r d n u n g als Institution u n d Regelsystem

Quelle: Reusser (2006, S. 162) Dafür wird es erforderlich sein, sich noch mehr mit den „Verstehensklippen" von Inhalten auseinanderzusetzen. Das Nachdenken über Inhalte wird zu einem „NachDenken" des Weges ihrer Entstehung. Fazit: Lehrkräfte brauchen ein Verständnis der „Tiefenstruktur" ihrer fachdidaktischen Aufgabe. Damit soll besonders betont werden, dass die Verschiebung der Perspektive zu möglichst variantenreichen Methodenarrangements in den letzten Jahrzehnten zwingend verschoben werden muss in Richtung einer stärkeren Hinwendung zu den Tiefenstrukturen des Schülerlernens mit folgender Leitfrage: Welche psychologischen Lern- und Verstehensprozesse ergeben sich für Lernende in fachlichen „Domänen", das heißt hier in der ökonomischen Bildung, und welche Konsequenzen hat das für die Gestaltung von Methodenkonzepten? In diesem Sinne wäre ein konstruktivistisches Lern- und Interaktionsverständnis nach Reusser dann gegeben, „wenn Schülerinnen und Schüler ausreichend Gelegenheit zu erfahrungsorientiertem, verständnisvollem problemorientierten und dialogischem Lernen erhalten" {Reusser 2006, S. 163). Hier sehen wir eine weitere Möglichkeit, das Institutionen- und Regelsystem der Wirtschaftsordnung als Referenzpunkt für die Entwicklung vielfältiger Lehr-Lern-Arrangements zu nutzen.

Die Wirtschaftsordnung

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Reflexionsgegenstand

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3.2. Begriffsnetze als Ordnungsinstrumente: Konsequenzen für die Entwicklung von Schülermaterialien Zum Abschluss sollen an einem Beispiel denkbare Konsequenzen für die Entwicklung von Schülermaterialien aufgezeigt werden und zwar, welche Folgerungen sich aus dem Ordnungsgedanken für die Konstruktion eines Schulbuchs ergeben. Für die Entwicklung eines kompetenzorientierten Schulbuches für das Fach Wirtschaft in Niedersachsen (.Kaminski et al. 2009 ff.) wurde eine Strukturierung der vier Themenfelder durch sog. Strukturgrafiken (vgl. Abbildungen 5 bis 12) für Lehrkräfte und Schüler vorgenommen (vgl. die Diskussion zu den sog. Concept Maps), um einen begrifflichen Weg durch ein Themenfeld zu markieren. Die Strukturgrafik gibt den Lernenden sowie den Lehrkräften Hinweise zu ausdifferenzierten Einordnungsmöglichkeiten für inhaltliche Facetten eines Themenfeldes der Kerncurriculums für ein Bundesland. Dies bedeutet nicht, dass in der dargestellten Reihenfolge des Begriffsgerüsts der Strukturgrafik die unterrichtliche Aufbereitung begonnen werden muss, sondern diese kann abhängig vom gewählten methodischen Ansatz oder dem gewählten Ausgangsproblem zu einer anderen didaktisch begründeten Vorgehensweise führen. Die Grafik dient lediglich als Einordnungshilfe und ist keine unveränderliche Vorgabe, sondern sie ist offen für die Berücksichtigung vielfaltiger situativer Bezüge. Sie ist ein unterstützendes Element im Lernprozess, um das Denken beweglich zu machen und nicht um dieses Denken in ein starres begriffliches Korsett einzufrieren. Die Strukturgrafiken werden zunehmend erweitert um jene Begriffe, die auf einer nächsten Unterrichtsebene Gegenstand werden. Für jedes Themenfeld sind deshalb drei aufeinander aufbauende Grafiken entwickelt worden. Im Unterschied zur Abbildung 5 ist in Abbildung 6 der Block Verbraucherverhalten um Einflüsse auf das Verbraucherverhalten und um den Verbraucherschutz erweitert worden. Die gleiche Vorgehensweise ist in den Abbildungen 7 bis 12 erkennbar, die dem Lernenden immer wieder bei Bedarf den jeweiligen unterrichtlichen Stand spiegeln können. Die Strukturgrafiken werden zunehmend erweitert um jene Begriffe, die auf einer nächsten Unterrichtsebene Gegenstand werden. Für jedes Themenfeld sind deshalb drei aufeinander aufbauende Grafiken entwickelt worden. Im Unterschied zur Abbildung 5 ist in Abbildungen 6 der Block Verbraucherverhalten um Einflüsse auf das Verbraucherverhalten und um den Verbraucherschutz erweitert worden. Die gleiche Vorgehensweise ist in den Abbildungen 7 bis 12 erkennbar, die dem Lernenden immer wieder bei Bedarf den jeweiligen unterrichtlichen Stand spiegeln können. Die Strukturgrafiken unterstützen den Lernenden dabei, zu erkennen, in welchem Lernabschnitt, in welcher „begrifflichen Umgebung" er sich gerade befindet. Hinzu kommt, dass durch diese Vorgehensweise auch auf der horizontalen Ebene (vgl. Abbildung 3) eine didaktische Verknüpfung zwischen den Themenfeldern auf einer Jahrgangsstufe ermöglicht wird, z. B. im 8., 9., 10. Jahrgang.

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Abbildung 5: Themenfeld 1: Verbraucher und Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen Unterrichtseinheit 1: Arbeit-Einkommen-Wirtschaften c:

c

Bedürfnisse + Knappheit

o

Bedarf > ökonomische Setrachlunq