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German Pages 516 [528] Year 1997
S. Paraskewopoulos (Hg.) Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Klemens Pleyer, Köln Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf
Unter Mitwirkung von
Prof. Dr. Dieter Cassel, Duisburg Prof. Dr. Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Prof. Dr. Ulrich Wagner, Pforzheim
Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 53:
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Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Lucius & Lucius · Stuttgart · 1997
Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Herausgegeben von
Spiridon Paraskewopoulos
Mit Beiträgen von Werner Baer, Dieter Bender, Thomas Brockmeier, Axel Fischer, Egon Görgens, Simone Hartmann, Hans-Rimbert Hemmer, Carsten Herrmann-Pillath, Andreas Knorr, Rolf J. Langhammer, Helmut Leipold, Thomas Lenk, William Maloney, Volker Nienhaus, Spiridon Paraskewopoulos, Angelika Patz, Ingo Pies, Carsten Schreiter, Peter Steinmüller, Uwe Vollmer
34 Tabellen und 27 Abbildungen
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Lucius & Lucius · Stuttgart · 1997
Anschrift des Herausgebers: Prof. Dr. Spiridon Paraskewopoulos Universität Leipzig Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Marschnerstraße 31 04109 Leipzig
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung/ hrsg. von Spiridon Paraskewopoulos. Mit Beitr. von Werner Baer ... — Stuttgart: Lucius & Lucius, 1997 (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 53)
ISBN 3-8282-0034-6 NE: Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.); Baer, Werner; GT
© Lucius & Lucius Verlags-GmbH · Stuttgart -1997 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany ISBN
3-8282-0034-6
ISSN
1432-9220
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Vorwort Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten Referate, die auf dem 29. Internationalen Forschungsseminar Radein 1996 zum Thema "Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung" gehalten wurden. Auf der Grundlage von siebzehn Vorträgen diskutierten die etwa fünfzig Seminarteilnehmer aus ordnungstheoretischer und -politischer Sicht Erscheinungen und Ursachen wirtschaftlicher Unterentwicklung und gingen vor allem der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen wirtschaftliche Entwicklung in der heutigen - sich rasant verändernden - Welt möglich ist. Dabei wurde eine Themenvielfalt zu Grunde gelegt, die sowohl die theoretischen Aspekte der Thematik - vor allem die Ergebnisse der neueren Forschungen - wie auch die relevanten empirischen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen erfaßte. Im gesamten Seminar und dem vorliegenden Band wurde von dem Leitgedanken ausgegangen, daß die Entwicklungstheorie bislang zu prozeßtheoretisch ausgerichtet war und in der ordnungstheoretischen Fundierung eine Notwendigkeit und echte Neuerung besteht. Diese Lücke zu füllen, ist das Hauptanliegen des Buches. Wie die Gesamtsicht und die einzelnen Beiträge bestätigen, ist es vor allem gelungen, solche Problemkomplexe wie -
die Ursachen von Unterentwicklung, die enorme Vielfalt von Entwicklungswegen, das Entstehen von Ordnungsformen fur wirtschaftliche Entwicklung und die Bedeutung von Ordnungen in den Entwicklungsländern
zu verdeutlichen und Ansätze für erfolgversprechende Entwicklungswege zu den gewünschten Ordnungsformen aufzuzeigen. Ein wichtiges Fazit kann in der Erkenntnis gesehen werden, daß ordnungspolitische Fehlentwicklungen eine der Hauptursachen für wirtschaftliche Unterentwicklung darstellen und die Entwicklungstheorie mit institutionentheoretischen Ansätzen verbunden werden muß, um die Frage zu beantworten, auf welche Weise die Entwicklungsländer in den institutionellen Wettbewerb integriert werden können - oder besser -, wie die Entwicklungsländer selbst institutionell vorgehen müßten, um ebendiesen Status zu verlieren. Entsprechend der thematischen Schwerpunkte des Forschungsseminars gliedert sich der Band in vier Abschnitte: Der erste wird von dem grundlegenden Beitrag des Herausgebers zum Thema "Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung" ausgefüllt. Behandelt werden - der Stand der Diskussion über die Begriffe ökonomische Entwicklung beziehungsweise Unterentwicklung und - theoretische Ansätze für die Bestimmung der Ursachen der ökonomischen Unterentwicklung und die Möglichkeiten ihrer Überwindung (neomarxistische Sicht, Strukturalismus als entwicklungstheoretischer Ansatz, liberaler ordnungstheoretischer Ansatz, neue Wachstumstheorie). Paraskewopoulos arbeitet als eine der drei Hauptfragen, die in der nächsten Zeit in der Ordnungstheorie eine dominierende
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Rolle spielen werden diejenige nach der marktwirtschaftlichen Variante und ihrer Kombination von politischen und sonstigen Institutionen, die am besten geeignet ist, das Problem der ökonomischen Unterentwicklung in der sogenannten Dritten Welt zufriedenstellend zu lösen, heraus. Das liegt darin begründet, daß infolge der Beendigung des Ost-West-Konfliktes die administrativen sozialistischen Wirtschaftssysteme als ordnungspolitische Leitbilder für die Entwicklungsländer obsolet geworden sind und sich die Diskussion jetzt auf die Bestimmung desjenigen marktwirtschaftlichen Ordnungstypus konzentriert, der wirtschaftliche Entwicklung am ehesten einzuleiten und zu forcieren vermag. Der zweite Abschnitt steht unter der Überschrift "Institutionelle Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung" mit Beiträgen von Hans-Rimbert Hemmer (Gießen), Ingo Pies (Bochum), Carsten Schreiter (Marburg) und Thomas Brockmeier (Marburg). Der einleitende Grundgedanke wird vor allem von Pies mit der Problemstellung aufgegriffen und untersetzt, "welche politische Ordnung am besten geeignet ist, eine marktwirtschaftliche Ordnung herbeizufuhren und auf Dauer erfolgreich zu stabilisieren", während Hemmer nach der Frage differenziert, "warum es auch trotz einer vom Grundsatz her marktwirtschaftlichen Wirtschaftslenkung zu Armut kommen kann bzw. warum eine marktwirtschaftliche Wirtschaftssteuerung für sich genommen keine hinreichende Konstellation fur eine Armutsminderung oder gar -beseitigung darstellt". Brockmeier fuhrt die Betrachtung auf die Ebene der rechtlichen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung, indem er in unterentwickelten Wirtschaften die innovative Kraft des schöfperischen Unternehmers vermißt, was seine "Ursache in einem System innovationsfeindlicher Handlungsrechte, unzureichenden Fähigkeiten sowie ungeeigneten Umweltherausforderungen" haben kann. Dem Zusammenhang von Humanvermögen, Wachstum und Entwicklung geht Schreiter nach und diskutiert die Konsequenzen der neuen Wachstumstheorie für die Entwicklungsländer. Der dritte Abschnitt dieses Bandes ist "Nationale(n) und intemationale(n) Gestaltungsprobleme(n) wirtschaftlicher Entwicklung" vorbehalten und erörtert den wirtschaftlichen Entwicklungsbeitrag der Geld- und Währungssysteme (Uwe Vollmer, Leipzig), den wirtschaftlichen Entwicklungsbeitrag der öffentlichen Finanzsysteme (Thomas Lenk, Leipzig), den Zusammenhang von Entwicklung und Umwelt am Beispiel des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) und dessen wirtschaftspolitische Implikationen (Andreas Knorr, Bayreuth), die entwicklungspolitischen Strategien von IWF und Weltbank (Egon Görgens, Bayreuth) und die Bedeutung des GATT bei der Lösung des Unterentwicklungsproblems (RolfJ. Langhammer, Kiel). "Alternative Entwicklungsstrategien am Beispiel von Länderstudien" sind der Inhalt des vierten und letzten Abschnittes der Monographie. Dabei wurde bewußt auf die bloße Beschreibung von Entwicklungen und Zuständen in bestimmten Regionen verzichtet, sondern vielmehr beispielhaft markante Entwicklungsdeterminanten auf ihre Relevanz für Unterentwicklung einerseits oder beschleunigte Entwicklung andererseits hin analysiert. Solche Determinanten können historische und regionale oder Besonderheiten in der politischen und wirtschaftlichen Struktur, religiöse Bindungen u.a. exemplarische Erscheinungen sein. Dabei fördert die subtile theoretische und empirische Forschung durchaus Erkenntnisse zu Tage, die mit herkömmlichen Auffassungen nicht kompatibel
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sind, z.B. dann, wenn - wie im Beitrag von Volker Nienhaus (Bochum) - der Einfluß der islamischen Religion und Tradition auf wirtschaftliche Unterentwicklung diskutiert wird. Außerdem untersuchen in diesem Abschnitt Dieter Bender (Bochum) marktwirtschaftliche Reformprozesse und Wachstumsdynamik in Südostasien, Carsten Herrmann-Pillath (Duisburg) in einer evolutionsökonomisch-komparativen Betrachtung Taiwans und der Volksrepublik China den Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und Entwicklung im chinesischen Kulturraum, Werner Baer und William Moloney (Illinois/ USA) die Beziehung zwischen Neoliberalismus und ökonomischer Ungleichheit in Lateinamerika, Helmut Leipold (Marburg) institutionelle Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung in Schwarzafrika sowie Axel Fischer, Simone Hartmann und Peter Steinmüller an Hand der Länder Ost- und Südosteuropas wirtschaftliche Entwicklung im Prozeß der Systemtransformation. Den Abschluß des Bandes, der hiermit einem hoffentlich breiten und interessierten Leserkreis zur Verfugung gestellt wird, bildet ein Ausschnitt aus der überaus anspruchsvollen und auch kontrovers geführten Diskussion, der von Dr. Angelika Patz (Leipzig) zusammengestellt wurde und exemplarischer Beleg dafür ist, in welch hohem Maße das Gelingen des Seminars und der vorliegenden Veröffentlichung allen Referenten und Korreferenten geschuldet ist, denen ich mich dafür zu sehr herzlichem Dank verpflichtet fühle. Ein besonderer Dank gebührt Herrn Dr. Axel Fischer für die organisatorischen und sorgfältigen redaktionellen Arbeiten an den Manuskripten. Mein Dank gilt auch Herrn cand. Dipl.-Vw. Tilo Köhler für die aufwendige Erstellung des Layouts.
Spiridon Paraskewopoulos
Leipzig, im Februar 1997
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Inhalt
Α. Einführung in die Thematik Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung Spiridon Paraskewopoulos
3
B. Institutionelle Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung Preismechanismus, Institutionen und Armut in Entwicklungsländern Hans-Rimbert Hemmer
23
Autokratie versus Demokratie: Die politischen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung Ingo Pies
41
Humanvermögen und Wirtschaftsordnung: Konsequenzen der neuen Wachstumstheorie für die Entwicklungsländer? Carsten Schreiter
71
Rechtsordnung und wirtschaftliche (Unter-)Entwicklung - zugleich ein Beitrag zur Theorie der Property Rights Thomas Brockmeier
121
C. Nationale und internationale Gestaltungsprobleme wirtschaftlicher Entwicklung Der wirtschaftliche Entwicklungsbeitrag der Geld- und Währungssysteme Uwe Vollmer
157
Der wirtschaftliche Entwicklungsbeitrag der öffentlichen Finanzsysteme Thomas Lenk
181
Entwicklung und Umwelt: das Konzept der "nachhaltigen Entwicklung" (sustainable development) und dessen wirtschaftspolitische Implikationen Andreas Knorr
231
Die entwicklungspolitischen Strategien von IWF und Weltbank Egon Görgens
261
Die Bedeutung des GATT bei der Lösung des Unterentwicklungsproblems Rolf J. Langhammer
277
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D. Alternative Entwicklungsstrategien am Beispiel von Länderstudien Marktwirtschaftliche Reformprozesse und Wachstumsdynamik in Südostasien Dieter Bender Wirtschaftsordnung und Entwicklung im chinesischen Kulturraum: Eine evolutionsökonomisch-komparative Betrachtung Taiwans und der Volksrepublik China Carsten Herrmann-Pillath Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung: Islamische Religion und Tradition als Ursache wirtschaftlicher Unterentwicklung? Volker Nienhaus
301
323
361
Neoliberalismus und ökonomische Ungleichheit in Lateinamerika Werner Baer und William Maloney
377
Institutionelle Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung in Schwarzafrika Helmut Leipold
415
Entwicklung im Prozeß der Systemtransformation (Länder Ost- und Südosteuropas) Axel Fischer, Simone Hartmann und Peter Steinmüller
E. Zur Diskussion
445
481
Angelika Patz
Sachregister
499
Autoren und Seminarteilnehmer
515
Α. Einführung in die Thematik
S. Paraskewopoulos
(Hg.): Wirtschaftsordnung
und wirtschaftliche Entwicklung • Schriften zu
Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 53 • Stuttgart • 1997
Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung Spiridon
Paraskewopoulos
1. Einleitung
4
2. Zum Stand der Diskussion über die Begriffe „ökonomische Entwicklung" bzw. „ökonomische Unterentwickung"
4
3. Theoretische Ansätze für die Bestimmung der Ursachen der ökonomischen Unterentwicklung und die Möglichkeiten ihrer Überwindung
7
3.1. Zur neomarxistischen Sicht
7
3.2. Zum Strukturalismus als entwicklungstheoretischem Ansatz
9
3.3. Zum liberalen ordnungstheoretischen Ansatz
13
3.4. Zur Neuen Wachstumstheorie
15
Literatur
17
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Spiridon
Paraskewopoulos
1. Einleitung Seit dem Zusammenbruch der ehemaligen ost- und mitteleuropäischen administrativen Wirtschaftssysteme Ende der achtziger Jahre entfiel auch ein Teil des Gegenstandes der Forschung der traditionellen Ordnungstheorie, nämlich der empirische Vergleich marktwirtschaftlicher mit zentralgeleiteten Wirtschaftssystemen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß dadurch die Theorie des Vergleichs von Wirtschaftsordnungen obsolet geworden ist. Es findet nur eine Verlagerung des Schwerpunktes der Forschung in Richtung Vergleich verschiedener Varianten marktwirtschaftlicher Ordnungen statt. Daraus resultieren primär drei Hauptfragen, die meines Erachtens in der nächsten Zeit in der Ordnungstheorie eine dominierende Rolle spielen werden: Erstens: Welche Ausprägungsform der Marktwirtschaft ist die geeignetste, um den hochentwickelten Volkswirtschaften langfristige stabile politische, ökonomische und soziale Entwicklungen zu gewähren? Zweitens: In welcher Kombination sind welche marktwirtschaftlichen sowie politisch administrativen Formen am besten geeignet, den politischen und ökonomischen Transformationsprozeß in den ehemaligen administrativ geleiteten Volkswirtschaften zu beschleunigen und zu vollenden? Drittens: Welche marktwirtschaftliche Variante mit welcher Kombination von politischen und sonstigen Institutionen ist am besten geeignet, das Problem der ökonomischen Unterentwicklung in der sogenannten Dritten Welt zufriedenstellend zu lösen? Die dritte Frage bestimmte den Gegenstand der Diskussion des Radeinseminars 1996, das damit zwar wissenschaftliches Neuland betrat, ohne aber den Rahmen seines bisherigen Forschungsobjektes zu verlassen, da auch dieses Gebiet Gegenstand einer vergleichenden Ordnungstheorie ist. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat dazu gefuhrt, daß - zumindest vorläufig - die administrativen sozialistischen Wirtschaftssysteme als Alternativen zu marktwirtschaftlichen für die Entwicklungsländer erheblich an Bedeutung verloren haben. Um so heftiger wird m.E. jetzt die Diskussion darüber gefuhrt werden, welcher Ordnungstypus der Marktwirschaft am besten geeignet ist, wirtschaftliche Entwicklung nicht nur einzuleiten, sondern auch und vor allem zu beschleunigen.
2. Zum Stand der Diskussion über die Begriffe „ökonomische Entwicklung" bzw. „ökonomische Unterentwickung" Eine Aufgabe meines Beitrages sehe ich zum einen darin, den Begriff der wirtschaftlichen Unterentwicklung begrifflich zu präzisieren. Dies scheint mir insofern notwendig, da in der entwicklungstheoretischen Literatur dazu keine einheitliche Position besteht. Zum anderen sollen die entwicklungstheoretischen Grundpositionen, die bis heute mehr oder weniger als Grundlage für die Entwicklungspolitik gedient haben, selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in ihren Grundzügen dargestellt werden. Das verdeutlicht, dem Anliegen des Bandes entsprechend, die Notwendigkeit der ordnungstheoretischen Fundierung der Entwicklungspolitik.
Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung
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In der breiten öffentlichen Diskussion werden die Begriffe „wirtschaftliche Entwicklung" oder „wirtschaftliche Unterentwicklung" in der Regel so verwendet, als ob jedem klar sei, was damit gemeint ist. In der wissenschaftlichen Diskussion herrscht dagegen keine Evidenz, eher sogar Verwirrung hinsichtlich der Definition dieser Begriffe. Einige Beispiele verdeutlichen diese Aussage: "'Entwicklung' ist ein in den verschiedensten Zusammenhängen verwendeter, entsprechend vieldeutiger, definitorisch kaum erfaßbarer und dem Meinungs- und Ideologiestreit entrückbarer Begriff' (Nehlen und Nuscheier 1992, S. 56). Der Entwicklungsbegriff hat "...keinen Inhalt, aber doch eine Funktion: er verleiht jedem beliebigen Eingriff die Weihe, im Namen eines höheren evolutionären Ziels vollzogen zu werden. 'Entwicklung' ist ausgehöhlt bis auf ein leeres Plus" (Sachs 1989). "In 'Entwicklung' klingt zu vieles an, daß noch etwas Bestimmtes damit benannt werden könnte. Entwicklung ist einer jener unsäglichen Konglomeratbegriffe, die einen zur Weißglut treiben" (Dirmoser, Gronemeyer und Rakelmann 1991, S. 13). Ahnliches gilt auch für den Begriff der „Unterentwicklung". Es gibt viele Definitionsversuche, von denen aber keiner den Anspruch erheben kann, alle Aspekte erfaßt zu haben und einhellig Zustimmung zu finden. Nohlen und Nuscheier behaupten, daß es keinen allumfassenden und alles erklärenden Begriff der Unterentwicklung gebe,"... der die jeweils verschiedenen historischen, natürlichen und ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen, kulturellen und anthropologischen Komponenten in sich vereinen und gleichzeitig in eine kausale Wechselbeziehung unter Berücksichtigung internationaler Rahmenbedingungen bringen könnte" (Nohlen und Nuscheier 1992, S. 54). Es ist fraglich, ob eine solche allumfassende Definition notwendig ist. Wie bei der Definition der Begriffe „Entwicklung" und „Unterentwicklung" scheint das Problem bei allen Definitionen vor allem darin zu bestehen, daß es eine große Unsicherheit hinsichtlich der Präzisierung des Inhalts der Definition gibt. Soll die Definition ein Phänomen nur beschreiben oder soll sie auch Andeutungen über sein Zustandekommen und darüber hinaus Handlungsanweisungen für die Akteure, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, enthalten (vgl. Nohlen und Nuscheier 1992, S. 31)? Der Anspruch auf eine nicht ausschließlich deskriptive Definition eines Phänomens wird m.E. nicht nur die Forscher überfordern, sondern auch über die Funktion hinaus gehen, welche eine Definition zu leisten hat. Das Äußern von Vermutungen über das Entstehen eines Phänomens oder sogar von Handlungsanweisungen zu seiner Behandlung, setzt bereits eine erklärende Theorie voraus. Deshalb müßte eine möglichst präzise Beschreibung des zu erklärenden Phänomens als Definition genügen. Der Begriff „wirtschaftliche Unterentwicklung" wird seit den fünfziger Jahren in der Literatur vorwiegend fast synonym mit den Begriffen "Entwickungsländer" (developing countries), „unterentwickelte" (underdeveloped), „unentwickelte" (undevoloped) oder ,Rückständige" (backward) Länder verwendet (vgl. Hemmer 1990, S. 506 f.). Darunter wird mehr oder weniger ein Katalog - im Sinne Leibensteins (vgl. 1957, S. 40 f.) - von spezifischen politischen, ökonomischen, demographischen und soziokulturellen Merkmalen verstanden, die den Zustand der ökonomischen Unterentwicklung umschreiben bzw. anzeigen. Die wichtigsten der 37 Merkmale in Leibensteins Katalog, die auch von anderen
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Autoren (vgl. Ringer 1966; Hemmer 1988) in verschiedenen Varianten bis heute verwendet werden, sind: Extrem hoher Kapitalmangel, hohe versteckte und offene Arbeitslosigkeit, fehlende technische, ökonomische und soziale Infrastruktur, sehr geringe Arbeitsproduktivität, ein hoher Anteil der landwirtschaftlichen Produktion an der Gesamtproduktion, ein relativ hohes Bevölkerungswachstum, eine hohe Analphabetenquote, extreme Einkommens· und Vermögensunterschiede, ein hoher Grad an staatlichem Dirigismus in allen Bereichen der Wirtschaft, autoritäre und instabile politische Verhältnisse etc. Alle diese Merkmale werden - verglichen mit den Industrienationen Westeuropas oder Nordamerikas - statistisch durch ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen sichtbar. Wirtschaftliche Entwicklung würde demzufolge eine Verbesserung dieser Merkmale in der Zeit bedeuten, die praktisch in dem Erreichen eines immer höheren Lebensstandards für die Menschen zum Ausdruck kommen soll (vgl. Hemmer 1988, S. 4). Mit Hilfe der genannten Merkmale werden nicht nur die krassen Wohlstandsunterschiede zwischen den Entwicklungs- und den Industrieländern verdeutlicht, sondern das entsprechende Niveau in den Industrieländern diente und dient als Leitbild für die Richtung des Entwicklungsprozesses in den Entwicklungsländern. Die Merkmale geben allerdings keine Auskunft hinsichtlich der Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung. "Sie sind Hilfsmittel für die wissenschaftliche Analyse, zeigen bestimmte Tatbestände auf und geben eine Vorstellung vom Umfang der Probleme, die alle Bereiche in Entwicklungsländern der Entwicklungspolitik stellen. Bei ihrer Verwendung muß man sich immer der Tatsache bewußt bleiben, daß sie einem größeren Zusammenhang zuzuordnen sind" (Ringer 1966, S. 19). Diese Zuordnung muß die wissenschaftliche Analyse leisten. Will man als Ökonom eine Empfehlung für die Entwicklungspolitik geben, macht sich eine ökonomische Analyse der möglichen Ursachen des beschriebenen Phänomens der wirtschaftlichen Unterentwicklung erforderlich. Alle bisherigen entwicklungstheoretischen Beiträge genügen m. E. mehr oder weniger diesem Anspruch. Die Frage ist nur, warum dann die bisherige Entwicklungspolitik nur bescheidene Erfolge aufzuweisen hat. Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung und der daraus resultierenden Armut ist fur Millionen Menschen in den Entwicklungsländern auch in den neunziger Jahren sehr aktuell" (vgl. Hemmer 1990). Man kann davon ausgehen, daß es in den Entwicklungsländern derzeit ca. 1,2 Mrd. absolut armer Menschen gibt" (vgl. Hemmer 1994, S. 57). Absolute Armut liegt vor, wenn die Mindestversorgung einer Person oder eines Haushalts im Hinblick auf das physische Existenzminimum in einer solchen Intensität besteht, "...daß die Betroffenen nicht mehr im Stande sind, ein 'menschenwürdiges Leben' zu fuhren ihre 'Grundbedürfnisse' also nicht befriedigt werden können -..." (Hemmer 1994, S. 56). Vom Standpunkt der Wirtschaftswissenschaft ist daher eine Überprüfung der bisherigen, die Entwicklungspolitik bestimmenden, wirtschaftstheoretischen Argumentation durchaus berechtigt.
Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung
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3. Theoretische Ansätze für die Bestimmung der Ursachen der ökonomischen Unterentwicklung und die Möglichkeiten ihrer Überwindung Im Zusammenhang mit den Entwicklungsländern ist seit dem Ende des zweiten Weltkrieges weltweit eine Flut von Publikationen entstanden, die auf unterschiedlichster Weise die Ursachen der ökonomischen Entwicklung bzw. Unterentwicklung sehr gründlich analysieren. Es wäre eine Anmaßung zu glauben oder gar zu versuchen, im vorliegenden kurzen Beitrag alle diese Ideen und Theorieansätze auch nur annähernd zu streifen. Mein bescheidenes Anliegen ist es, eine grobe subjektive Selektion der unterschiedlichen theoretischen Ansätze vorzunehmen, die als Basis für den Gesamtband dienen können. Die entwicklungstheoretische und -politische Diskussion wurde und wird m. E. im Rahmen von vier grundtheoretischen Gebäuden gefuhrt (vgl. Jungfer 1991, S. 13 ff.).
3.1. Zur neomarxistischen Sicht Jahrelang beherrschte weltweit eine mehr oder weniger „neomarxistische" Sicht die Entwicklungstheorie, die zum großen Teil in den verschiedenen Varianten der sogenannten Dependenztheorie (marxistischer und nicht-marxistischer Prägung) zum Ausdruck kam. Darunter lassen sich, um einige zu nennen, die Theorie des kapitalistischen Weltsystems (vgl. Wallenstein 1979), die Dualismustheorie (Boeke 1953; Myrdal 1959), die Theorie des peripheren Kapitalismus, die Theorie der strukturellen Heterogenität und Marginalität (vgl. Senghaas 1974) sowie das Theorem des „ungleichen Tausches" subsumieren. Sieht man zunächst von den nicht-marxistischen Varianten der Dependenztheorie ab, dann läßt sich sehr verkürzt feststellen, daß die Denkrichtung des Neomarxismus (Theorie des kapitalistischen Weltsystems), basierend auf der Psychoanalyse, "...alle Beziehungen der Menschen untereinander, gleichgültig, ob es sich um internationale, ökonomische oder zwischenmenschliche handelt, mit sogenannten herrschaftssoziologischen Methoden (Analyse von Interessen und Motiven)...." (Jungfer 1991, S. 13) zu erklären versucht. Die Vertreter dieser Theorie glaubten bewiesen zu haben, daß eine auf der „kapitalistischen Ausbeutung" basierende marktwirtschaftliche Ordnung, repressiv und menschenfeindlich sei. Da der Neomarxismus damit eine leicht verständliche Erklärung von Macht und gesellschaftlichen Abhängigkeiten anbot, hat sich diese relativ schnell - insbesondere in Afrika und teilweise in Lateinamerika - verbreitet. Hiermit lieferte der Neomarxismus de facto Grundlagen für die „Theologie der Befreiung", für die sogenannte Theorie der Folgen des Kolonialismus, Imperialismus und der multinationalen Konzerne sowie letztlich die „Begründung" der Notwendigkeit einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die auf dem Ordnungsprinzip der zentralgeleiteten Volkswirtschaften basieren sollte (vgl. Jungfer 1991, S. 13 f.). Die Folge davon war, daß sich in den sechziger und siebziger Jahren in der Mehrheit der Entwicklungsländer - insbesondere Asiens und Afrikas - eine zunehmende Hinwendung zu Praktiken zentraler Planung zeigte (vgl. Wülbern 1970, S. 12). Auch wenn diese Entwicklung nicht überall zu strengen zentralverwaltungswirtschaftlichen Systemen
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kommunistischer Prägung führte, hat sie doch den Glauben an die Fähigkeit des Staates, Initiator, Träger und Lenker des Entwicklungsprozesses zu sein, verstärkt. Parallel dazu wuchs bei den politischen und wissenschaftlichen Führungseliten dieser Länder das Mißtrauen gegenüber dem marktwirtschaftlichen Lenkungsprinzip (vgl. Wülbern 1970, S. 13; Kraus 1967, S. 322 f.), das von ihnen nicht selten mit Kolonialismus gleichgesetzt wurde (vgl. Schiller 1964, S. 180). Verstärkt wurde der Glaube an die Wirksamkeit der zentralen staatlichen Planung auch durch die Auffassung, die in dieser Zeit in den Führungsgremien der UNO herrschte: " The concept of national planning - for social as well as for economic development...is central for all the proposals for intensified action by the United Nations system during the development decade..." (Thant 1962, S. VI). Aber auch die praktischen Beispiele der Sowjetunion, Chinas oder später Kubas, die aus der damaligen Sicht - erfolgreich mit Hilfe von zentraler Planung eine schnelle und radikale Umwandlung ihrer agrarischen in industrielle Gesellschaften zu erreichen schienen, dienten als Leitbilder. So schrieb beispielsweise Nehru 1960: „Wir dachten ... an einige östliche Länder, die nach vorne drängten. Vor allem aber hatten wir das Beispiel der Sowjetunion vor Augen, die in zwei kurzen Jahrzehnten angesichts scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten riesige Fortschritte gemacht hat" (Kraus 1967, S. 322). Aus heutiger Sicht wären vielleicht alle diese unbefriedigenden Umwege des Entwicklungsprozesses vielen Ländern der Dritten Welt - und nicht nur diesen - erspart geblieben, wenn die Begründer, Befürworter und Akteure dieser Entwicklungspolitik ein wenig auf Warnungen zu ihrem Wirtschaftssystems- und entwicklungspolitischen Experiment geachtet hätten. Das Buch von F. A. Hayek „Der Weg zur Knechtschaft" beispielsweise hätte nach dem zweiten Weltkrieg in diesem Zusammenhang mehr Aufmerksamkeit verdient. W. Röpke war der Meinung, daß Hayek mit diesem Buch die theoretische Begründung lieferte,"... daß Sozialismus und politische Freiheit miteinander unvereinbar sind, und daß dies sowohl für den deutschen Nationalsozialismus wie für den russischen Sozialismus wie für jede andere Form des Kollektivismus gilt... Der Verfasser (sieht) im Kollektivismus die eigentliche Wurzel aller Übel und Irrtümer unserer Zeit, und er zeigt uns gleich, daß echte Planwirtschaft, Sozialismus, Kollektivismus oder wie immer man es nennen mag, mit einer liberalen und wirklich demokratischen Struktur der Gesellschaft unvereinbar ist und sich schließlich als ein Weg zur Knechtschaft erweisen muß" (Röpke 1952, S. 10). Schon Ende der fünfziger Jahre zieht der Schweizer Soziologe R. F. Behrendt eine erste Zwischenbilanz der kollektivistischen Entwicklungspolitik, die 35 Jahre später keinesfalls überholt ist. "Die traurige Realität der meisten unentwickelten Länder ist heutzutage, daß sie nicht nur die Bürde ihrer überkommenen, geschichts- und naturbedingten Probleme zu tragen haben, sondern außerdem belastet sind mit den Auswirkungen eines Staatsdirigismus, welcher meist eine Mischung von sozialreformatorischem Experimentieren, prinzipienlosem Opportunismus und politischem Abenteurertum darstellt" (Behrendt 1959 S. 26).
Die immer noch unbefriedigenden Ergebnisse der bisher betriebenen Entwicklungspolitik lassen sich allerdings aus theoretischer Sicht nicht allein mit den Irr-
Das Problem der wirtschaftlichen Unterentwicklung
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tümem der Neomarxisten begründen. Die teilweise realisierten entwicklungspolitischen Empfehlungen der sogenannten bürgerlichen Varianten der Wirtschaftswissenschaft haben wesentlich zu den Mißerfolgen der Entwicklungspolitik beigetragen.
3.2. Zum Strukturalismus als entwicklungstheoretischem Ansatz Die sogenannte Richtung des Strukturalismus bildet das zweite theoretische Gebäude der Entwicklungstheorie. Hierunter sind auch die nicht-marxistischen Varianten der Dependenztheorie (Dualismus, Theorie des peripheren Kapitalismus, Strukturelle Heterogenität und Marginalität etc.) zu fassen. Der Strukturalismus hat nach Ansicht Jungfers bis Mitte der achtziger Jahre die Entwicklungspolitik der Weltbank wesentlich beeinflußt und ist mit den Namen von Entwicklungstheoretikern wie Rosenstein-Rodan, Nurkse, Levis, Prebisch, Singer, Myrdal und Chenery verbunden. Diese Denkrichtung hat durch ihre verschiedenen Varianten die Theorie der Entwicklungspolitik in der ehemaligen westlichen Welt geprägt und weist insgesamt mehr Ähnlichkeiten mit dem Neomarxismus als mit der liberalen marktwirtschaftlichen Theorie auf {Jungfer 1991 S. 15). Die wissenschaftliche Argumentationskette dieser Denkrichtung, die seit den fünfziger Jahren an Aktualität nichts verloren hat, soll im folgenden kurz dargestellt werden: Aus der mit Hilfe der oben genannten Kriterien der wirtschaftlichen Unterentwicklung getroffenen Feststellung, daß es sehr große Wohlstandsunterschiede zwischen Industrieund Entwicklungsländern gibt, entsteht die berechtigte Forderung nach der Notwendigkeit einer raschen Überwindung dieses Zustandes. Hier schließt sich zuerst die wichtige Frage nach der Art der Wirtschaftsordnung an, die am besten geeignet ist, das existierende Wohlstandsgefälle schnell und zufriedenstellend zu verringern. Der hierfür in den Entwicklungsländern notwendige Kapitalbildungsprozeß, so eine der zentralen Thesen des Strukturalismus, könne sich allerdings im Rahmen einer Wirtschaftsordnung, die hauptsächlich auf privatwirtschaftlicher Initiative basiert, sehr langsam vollziehen, weil es in den Entwicklungsländern ein sehr niedriges Durchschnittseinkommen, eine hohe Konsumneigung und folglich keine nennenswerte Ersparnisbildung gäbe (vgl. Spengler 1964, S. 12). Da auch die für die erfolgreiche Funktionsweise einer marktwirtschaftlichen Ordnung erforderliche rational handelnde Untemehmerschicht fehle, seien zumindest für diese Zeit primär staatliche Lenkungsmechanismen unentbehrlich (vgl. Behrens 1966, S. 34). Hinzu kommt die aus dem Keynesianismus bekannte Grundthese, daß der Marktmechanismus grundsätzlich instabil sei, und da die Marktunvollkommenheiten in den Entwicklungsländern wesentlich größer als die in den Industrieländern seien, mache dies das Eingreifen des Staates in den Marktmechanismus um so mehr notwendig. "Wenn die ungeheuren Schwierigkeiten... überhaupt überwunden werden, dann nur durch die in aller Welt aufgetretene Wirtschaftslenkung" (Predöhl 1963, S. 321; vgl. Myrdal 1959 S.77 ff.). Weitere Argumentationspunkte, die nach Auffassung vieler Strukturalisten wie auch Neomarxisten eine staatliche Entwicklungsplanung zur Beseitigung der Unterentwicklung erforderlich machten, sind der von ihnen überbewertete „soziokulturelle Einfluß" sowie die vorwiegend vom Kolonialismus geschaffene „duale Gesellschaft" in den Entwicklungsländern. Sie führten nach ihrer Auffassung zu jeweils speziell traditionellen Produktionsweisen in den Entwicklungsländern und zementierten damit den Zustand der wirt-
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schaftlichen Unterentwicklung. Somit wird wirtschaftliche Unterentwicklung primär als Folge der durch Tradition geprägten Wertordnungen und Verhaltensmuster (vgl. Behrendt 1971), sowie als Folge der aus der Kolonialherrschaft resultierenden Spaltung der Volkswirtschaft in Zentrum und Peripherie angesehen (vgl. Frank 1970). Die radikale Veränderung dieser Strukturen könnte dann nur durch eine rationale nationale Gesamtplanung bewältigt werden. Insofern wären hier marktwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen fehl am Platze. Viel wichtiger seien in diesem Zusammenhang gründliche Länderstudien, ökonometrische Querschnittsanalysen und sonstige Untersuchungen von Entwicklungsprojekten, welche die nötigen Informationen fur eine nationale Entwicklungsplanung liefern könnten (vgl. Chenery und Syrquin 1975, S. 69). Die Auffassung, daß das Phänomen des Dualismus eine entwicklungstheoretische Schlüsselrolle hat, ist m. E. berechtigt (vgl. Hemmer 1988, S. 209 ff.). Die entwicklungstheoretischen und die daraus resultierenden politischen Implikationen haben sich allerdings, wie die heutige Situation der Entwicklungsländer zeigt, nicht als besonders erfolgreich erwiesen. Die Problematik des Dualismusphänomens läßt sich, wie folgt, vereinfacht darstellen: Die Kolonialländer haben in ihren Kolonien im Laufe ihrer Kolonialherrschaft wirtschaftliche und Verwaltungszentren geschaffen, die ähnliche soziokulturelle, wirtschaftliche und infrastrukturelle Bedingungen aufweisen wie die der Metropolen in den Kernländern. Dies führte zu einem ökonomischen, technologischen, infrastrukturellen, soziokulturellen und regionalen Gegensatz zwischen städtischen Zentren einerseits und dem marginalisierten und sehr schwach erschlossenen Hinterland andererseits (vgl. Nehlen und Nuscheier 1992, S. 42 f.). Besonders der infrastrukturelle Dualismus wirkt sich desintegrativ für jede Volkswirtschaft aus, und stellt damit ein spezifisches Strukturmerkmal von Unterentwicklung dar (vgl. Jochimsen 1968). Die entwicklungspolitische Besonderheit der dualistischen Strukturen in den Entwicklungsländern liegt darin, daß die gespaltenen Bereiche weitgehend voneinander isoliert sind. "Dadurch werden die vom dynamischen Bereich ausgelösten Impulse nicht vom statischen Bereich übernommen, so daß dort keine Imitations- bzw. Nachzüglereffekte eintreten. Die Spaltungserscheinungen bauen sich nicht von selbst ab, sondern bleiben im Zeitablauf unverändert bestehen oder verstärken sich noch. Es liegt eine der Teufelskreiskonstellation analoge Situation vor; der Teufelskreis wird von der Wirtschaftsstruktur ausgelöst" (Hemmer 1988, S. 211). Wie die nachkoloniale Zeit der meisten Entwicklungsländer zeigt, scheinen sich zunächst die Befürchtungen von Boeke (1953) und Myrdal (1959), daß das Dualismusphänomen unüberwindbar sei, zu bestätigen. Es ergibt sich jedoch die Frage, ob sich diese Entwicklung als Folge der Funktionsweise des internationalen kapitalistischen Wirtschaftssytems darstellt, was implizit von den oben Genannten unterstellt wird. In der Tat ist es nach der Außenhandelstheorie der komparativen Kosten so, daß die aus der Kolonialzeit in den Entwicklungsländern nach dem Prinzip der absoluten bzw. komparativen Kosten geschaffenen Strukturen durch den Welthandel weiter bestätigt werden. In der Regel war und ist es so, daß diese hochmodernen Produktionsstätten vorwiegend für die Herstellung von Rohstoffgütern für den Export geschaffen worden sind. Bei Karl Schiller ist diesbezüglich zu lesen:
Das Problem der wirtschaftlichen
Unterentwicklung
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"So begegnen wir in krassen Fällen einer Mineralölextraktion, die auf die umliegende Produktion sonstiger Güter von geringem Einfluß ist; so fahren wir durch hochkultivierte Kautschuk- und Tee-Plantagen Südostasiens und finden daneben und dazwischen Dorfwirtschaften, die davon in ihrer eigenen Erzeugungstätigkeit völlig unberührt erscheinen" (Schiller 1960, S. 8). Obwohl man nicht allgemein behaupten kann, daß die Entwicklungsländer überhaupt keine regionale Streuung von industriellen Produktionen besitzen, ist es dennoch richtig, daß sich diese Streuung in Grenzen hält, und daß diese Produktionsstätten nicht modernisiert sind. Das gilt besonders für die dem eigenen Verbrauch dienende Produktion sowie für das Kreditwesen (vgl. Schiller 1960, S. 8). So ist von Anfang an eine schrittweise Verbreitung der modernen Arbeitsweisen auf die gesamte Volkswirtschaft nicht vorgenommen worden. Daher stehen die Entwicklungsländer heute vor der schwierigen Aufgabe, einerseits die Folgen der Versäumnisse der Vergangenheit, deren Behebung eine notwendige Voraussetzung für eine moderne wirtschaftliche Entwicklung ist, nachzuholen; und zum anderen parallel mit gleichem Prioritätsgrad die hochmoderne Exportproduktion der Zentren weiter zu betreiben. Diese Aufgabe des Verlagerungsvorgangs von monokultureller Spezialisierung in Richtung Inlandsverbrauch und Export sei - so die Behauptung - marktwirtschaftlich wenn nicht ganz unmöglich so doch sehr zeitraubend und die Erfolgsaussichten seien sehr ungewiß. Die theoretische Begründung dieser These erscheint für die Diskussion der Gesamtthematik des Bandes sehr wichtig und soll im folgenden kurz skizziert werden: Da die meisten und insbesondere die rohstoffexportierenden Entwickungsländer aufgrund der oben dargestellten Produktionsstrukturen einen hohen Anteil ihres Volkseinkommens im Exportgeschäft verdienen, seien sie gezwungen, ihre bisher geschaffene Produktionsstruktur weiter aufrecht zu erhalten. Da zugleich anzunehmen sei, daß bei den hochentwickelten Exportprodukten limitationale Beziehungen (rechtwinklig verlaufende Isoquanten) bei den Produktionsfaktoren herrschten, führten oft marktwirtschaftlich erzwungene Produktionsumstellungen zu kaum verkraftbaren Produktionsverlusten. Dies sei deshalb der Fall, weil die Umstellung der Produktion nicht automatisch eine neue Faktorkombination mit einer neuen Produktion bedeute. Die Alternativen der Umstellung seien entweder Stillegung von modernen Produktionskapazitäten oder die weitere Aufrechterhaltung der bisherigen Produktion bei niedrigeren Erlösen aufgrund der Rückläufigkeit der Preise (vgl. Schiller 1960, S. 8). Dieses marktwirtschaftlich bedingte Ergebnis verewige dann die dualistische Wirtschaftsstruktur und konserviere die Unterentwicklung der Peripherie. Daher sei staatliche Regulierung erforderlich, die einerseits Konsumgüter- zu Gunsten von Kapitalgüterimporten massiv einschränke und andererseits durch gezielte staatliche Investitionslenkung die Entwicklung der Peripherie begünstige. Willkommene theoretische Argumentationshilfe lieferte in diesem Zusammenhang auch die postkeynesianische Harrod-Domar - Wachstumstheorie. Wie wir heute wissen, suggerierten die analytischen Wachstumsmodelle mit ihren Ergebnissen, daß es möglich wäre, aus ein paar globalen Wachstumsvariablen Werkzeuge der Entwicklungspolitik zu entwerfen (vgl. Helmstädter 1978, S. 337). So schlossen in den sechziger Jahren auf der Basis der Harrod-Domar - Wachstumstheorie zunächst viele Ökonomen und dann auch Politiker (vor allem in den damaligen sozialistischen Staaten) darauf, daß man durch eine
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ständige Erhöhung der Investitions- und Sparquote nicht nur ein absolut höheres Sozialprodukt, sondern auch eine höhere Wachstumsrate des Sozialprodukts erzielen könne (Paraskewopoulos 1992, S. 77 f.). Diese aus der modelltheoretischen Analyse gewonnene Erkenntnis führte z.B. bei sowjetischen Ökonomen zu der Schlußfolgerung, daß eine Wachstumspolitik, die zu einer ständigen Erhöhung der Investitionsquote fuhrt, die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft so dynamisieren würde, daß es gelänge, in einer gewissen Zeit die Wirtschaftskraft der USA einzuholen und sogar zu überholen (vgl. Senf und Timmermann 1971, S. 182). Ähnliche, auf diesen Überlegungen basierende Berechnungen, prognostizierten im Jahre 1967, daß das Pro-Kopf-Sozialprodukt der ehemaligen DDR im Jahre 2000 höher als das der Bundesrepublik Deutschland sein werde (vgl. Schröder 1971, S. 24 ff.). Heute, dreißig Jahre später, wissen wir sehr genau, was man nun von solchen "wissenschaftlichen" Entwicklungsplanungen und Prognosen zu halten hat. Trotzdem ist damit der Glaube an die mögliche makroökonomische Steuerbarkeit des wirtschaftlichen Wachstums über zentrale Instanzen nicht verloren gegangen. Die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit von Methoden und gesamtwirtschaftlichen Organisationsformen, welche die Ausdehnung des wirtschaftlichen Wachstums insbesondere im Zusammenhang mit der Problematik der wirtschaftlichen Unterentwicklung fördern, ist berechtigt und muß nach dem Zusammenbruch der ehemaligen zentralgeleiteten Wirtschaftsysteme erneuert und mit der Frage der möglichen Übertragung wirtschaftlicher und sozialer Organisationsformen des sogenannten kapitalistischen Westens gekoppelt und diskutiert werden. Derzeit scheinen die Befürworter marktwirtschaftlicher Lösungen, begleitet von sozialen Elementen, nach dem Muster der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, an Aufmerksamkeit zu gewinnen (vgl. Hemmer 1990, S. 547). In diesem Zusammenhang muß dann auch die Auffassung, daß soziokulturelle und traditionelle Bedingungen - als Summe von tradierten Wertvorstellungen und Verhaltensweisen - die wirtschaftliche Entwicklung maßgebend bestimmen, erneut überprüft werden. In den Sozialwissenschaften hat diese Auffassung eine lange Tradition. Theoretische Argumentationshilfen lassen sich sowohl bei K. Marx wie auch bei M. Weber finden. Während Marx in den traditonellen religiös bedingten Wirtschaftsweisen (asiatische Produktionsweise) einen wesentlichen Faktor der ökonomischen und sozialen Unterentwicklung sah und die Zerschlagung dieses Faktors in den Kolonien immerhin als eine fortschrittliche und revolutionäre Tat der britischen Kolonialherrschaft für den Beginn wirtschaftlicher Entwicklung betrachtete (vgl. Marx 1976, S. 345 f.), sah Weber in der protestantischen Ethik und in den daraus resultierenden Verhaltensweisen den Schlüssel für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung. So wurden kulturelle, traditionelle und ethische Werte als die maßgebenden wirtschaftlichen Entwicklungsfaktoren angesehen. "Die grundlegenden Ursachen der Armut sind nicht so sehr in ökonomischen Tatbeständen wie Kapitalmangel etc. zu suchen, sondern mehr im psychologischen und gesellschaftlichen Bereich. Vor allem die religiöse Tradition ist es, die die Menschen im 'Ewig - Gestrigen' (Max Weber) gefangenhält" (•Stucken 1966). Aufklärung wäre dieser Auffassung zufolge dann die wirksamste Entwicklungspolitik.
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Damit wurde m. E. die Kernfrage der Entwicklungstheorie angesprochen. Haben tatsächlich die soziokulturellen Bedingungen den Stellenwert fur die Entwicklungspolitik, den ihnen Marx und Weber zuschreiben?
3.3. Zum liberalen ordnungstheoretischen Ansatz Auch im Rahmen der liberalen Ordnungstheorie wird nicht geleugnet, daß die Qualität (die ökonomische und soziale Effizienz) einer Wirtschaftsordnung nicht nur von den gesetzlich normierten institutionellen Ordnungsformen (Wirtschaftsverfassung) abhängt, sondern auch von "...historisch gewachsenen sozialen Regeln. Letztere stellen allgemein anerkannte normative Verhaltensmuster dar, die sich in Sitten, Gebräuchen, Gewohnheiten und allgemeinen Erwartungen dokumentieren" {Gutmann 1993, S. 42). Die letzteren bestimmen im Zusammenhang mit dem gesetzlich fixierten institutionellen Rahmen (Ordnungsformen) das ökonomische Entscheiden und Handeln der Menschen in jeder Gesellschaft. Würde man von der Richtigkeit dieser Aussagen ausgehen, dann wird vermutlich die Frage nach den Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung, wie sie im Rahmen der dependenztheoretischen und strukturalistischen Positionen zum Ausdruck kommt, nicht richtig gestellt. Die Dependenztheoretiker fragen ständig nach exogenen Abhängigkeiten der Entwicklungsländer, die ihre wirtschaftliche Entwicklung verhindern. Diese werden in der Regel in den Folgen der Kolonialherrschaft oder/und in den Bedingungen des kapitalistisch geprägten Weltwirtschaftssystems gesehen. Wäre es für die Entwicklungspolitik nicht ergiebiger, wenn man nach den Ordnungsbedingungen und ihrer jeweiligen historischen Konstellation gefragt hätte, die beispielsweise in Australien, Kanada oder Hongkong trotz deren Einbindung in das Kolonialsystem, also trotz Abhängigkeit von Großbritannien, eine Industrialisierung und rapide ökonomische Entwicklung ermöglichten? Die Strukturalisten fragen nach der Art der soziokulturellen und traditionellen Strukturen, die nach ihrer Auffassung die Hauptschuld für die wirtschaftliche Unterentwicklung tragen. Wäre es auch hier entwicklungspolitisch nicht aufschlußreicher gewesen, wenn nach den institutionellen Ordnungsbedingungen geforscht würde, die beispielsweise in Japan, Hongkong und neuerdings in Taiwan, in Südkorea oder Singapur trotz ihrer irgendwie gearteten „asiatischen Produktionsweisen" eine stürmische industrielle Entwicklung in Gang setzten (vgl. Nehlen und Nuscheier 1992, S. 41). Diese Entwicklung läßt vermuten, daß "...traditionale Kultur weder starr, noch festgefugt, noch modernisierungsfeindlich ist, sondern elastisch, kreativ und anpassungsfähig auf moderne kulturelle, wirtschaftliche, politische Orientierungen und Verhaltensweisen reagiert und sie phasenweise - selektiv abstoßend oder inkorporierend - ...verarbeitet..." (Riegel 1976, S. 195). Mit anderen Worten kann man sagen, daß fur eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung außer der ökonomischen Faktorausstattung, wodurch in der Regel die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft bestimmt wird, auch noch die soziokulturellen Bedingungen erforderlich sind, welche die Leistungsbereitschaft beeinflussen. Allerdings würden diese soziokulturellen Bedingungen vermutlich nur dann zur Dynamisierung der ökonomischen Entwicklung beitragen, wenn der entsprechende und auf den jeweiligen soziokulturellen Unterbau passende institutionelle, politische und ökonomische Ordnungsrahmen vorhanden wäre. Die Dynamisierung kann aber ausbleiben, wenn die geeigneten (dem kulturellen
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Unterbau entsprechenden) politischen und ökonomischen Ordnungsbedingungen nicht vorhanden sind. Sind sie existent, dann müssen politische und wirtschaftliche Ordnungsformen, um dynamische wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen, einen hohen Kompatibilitätsgrad aufweisen. Denn "zwischen dem politischen und dem ökonomischen System besteht immer ein bestimmtes, mehr oder weniger festes Zuordnungsverhältnis, das es verbietet, ein beliebiges politisches System mit einem beliebigen wirtschaftlichen zu kombinieren und umgekehrt" (Röpke 1979, S. 143). Eine solche Kombination von politischer und ökonomischer Ordnung gibt auch eine Auskunft darüber, wie die Produktivkräfte in einer Volkswirtschaft verwendet werden und wer darüber entscheidet. "Das ist das fundamentale Problem jeder wie immer organisierten Wirtschaft, der Wirtschaft des Pharaonenreiches oder der griechischen Polis, der Wirtschaft Robinsons, der Siouxindianer wie der heutigen Industrievölker...Nach dieser Antwort bestimmt sich das tragende Gerüst der Wirtschaftsverfassung..." {Röpke 1979, S. 165 f.) eines Landes. Nach liberaler Ordnungstheorie ermöglichen stabile demokratisch gestaltete politische Strukturen in Verbindung mit möglichst konstanten und stabilen marktwirschaftlichen Ordnungsformen den höchsten volkswirtschaftlichen Dynamisierungsgrad und damit den höchsten wirtschaftlichen Effizienzgrad in jeder Gesellschaft. Nach dieser Vorstellung ist also ein demokratisch legitimierter starker Rechtsstaat notwendig, um die für einen dynamischen wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß als erforderlich erkannten politischen und ökonomischen Ordnungsformen (Institutionen) zu setzen und darauf zu achten, daß sie eingehalten werden. Diese Institutionen müssen allerdings "...einen Dauerrahmen bilden, innerhalb dessen die Individuen frei entscheiden und handeln können" (Schlecht 1986, S. 15 f.). Außerdem müssen sie für alle voraussehbar und allgemein gültig sein (vgl. Hayek 1952, S. 101 ff.). Kritisch ist hier anzumerken, daß es in der liberalen Konzeption keine plausible Theorie gibt, die erklärt, wie man zu jener Variante des starken Rechtsstaates kommt (vgl. Schadendorf 1995, S. 385). Gerade für die Entwicklungsländer ist die Beantwortung dieser Frage aber sehr wichtig. Unabhängig von der Frage, wie dieser starke Staat entstehen soll, obliegt ihm gemäß der liberalen Konzeption die Aufgabe, solche konstituierenden Ordnungsprinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung festzulegen, die möglichst ohne weiteren staatlichen Einfluß den Wirtschaftsprozeß automatisch regeln. Flankierend hierzu dürfen, wenn besondere Situationen es erfordern, einige ausgewählte regulierende Prinzipien eingesetzt werden, mit der Funktion, die konstituierte Ordnung abzusichern und zu erhalten (vgl. Eucken 1990). Prozeßpolitisch müßte sich der Staat zurückhalten. Daher gilt nach dieser Konzeption: Je freier eine Volkswirtschaft von staatlichen Prozeßeingriffen, um so mehr wird staatlich institutionell bedingte Unsicherheit der handelnden Wirtschaftssubjekte abgebaut, und um so höher sind dann die Innovationstätigkeit und die Arbeitsproduktivität und damit die Entwicklungsfähigkeit der Volkswirtschaft (vgl. Klump und Reichel 1994, S. 446 f.). Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die den Stand des wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses in Entwicklungsländern mit dem Grad der institutionellen Unsicherheit, die durch ständige Eingriffe des Staates entsteht, in Verbindung bringen. Die Frage, ob staatliche Eingriffe den Entwicklungsprozeß bremsen oder fordern und ob überhaupt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und wirtschaftlichem Ent-
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wicklungserfolg existiert, wird allerdings in diesen Untersuchungen unterschiedlich beurteilt. Der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit kommt in einer vergleichenden Analyse zum Ergebnis, daß sich empirisch nicht nachweisen läßt, daß es einen Zusammenhang zwischen der realisierten Wirtschaftsordnung und der wirtschaftlichen Entwicklung gibt (vgl. Beirat 1985, S. 24 f.), ein Ergebnis, daß auch Wilkens (1990, S. 246 f.) und Gsänger (1986, S. 67) in ihren Studien über Schwarzafrika bestätigen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bestreitet in einem Beitrag über Entwicklungsländer, daß man wissenschaftlich eine EfFizienzüberlegenheit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnungen nachweisen kann (DIW 1985, S. 547 f.). Allerdings gibt es eine Reihe von Autoren, die in ihren Untersuchungen genau das Gegenteil bewiesen zu haben glauben. Sie sehen nicht nur einen signifikanten Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und wirtschaftlichem Entwicklungserfolg, sondern kommen in ihren vergleichenden Studien zu dem Ergebnis, daß marktwirtschaftliche Ordnungsformen erfolgreicher sind als alle anderen.1 Die Ordnungsabhängigkeit wirtschaftlichen Handelns resultiert nach ordoliberaler Sicht daraus, daß sich die Menschen überall und grundsätzlich von ihren individuellen Zielen und Interessen leiten ließen. Dieses interessenmotivierte Handeln begründe zu allen Zeiten und in allen arbeitsteiligen Gesellschaften Interessenkonflikte und Interessengegensätze. Dabei gelinge es einzelnen Personen oder Gruppen, ihre Interessen gegenüber anderen durchzusetzen mit der Folge, daß dadurch ihre ökonomische und eventuell, politische Machtposition sowie die Möglichkeiten, erneut die eigenen Interessen zu Lasten der anderen durchzusetzen, verbessert würden (vgl. Thieme 1991, S. 16). Aus diesem Prozeß des Suchens nach einer geeigneten Lösung des Interessenproblems könnten - nach realisierten Ordnungsbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens - eine vorwärtstreibende Dynamik oder auch eine Stagnation und Rückständigkeit resultieren. Es hänge dieser Auffassung zufolge von den realisierten Ordnungsbedingungen ab, welche Alternative man erreichen wird. Mit anderen Worten: Man braucht solche Ordnungsformen und -regeln, die auf die einzelnen Menschen und Menschengruppen in der Weise wirken, daß jene Verhaltensweisen induziert würden, die ein geregeltes Nebeneinander und Miteinander zum Vorteil aller ermöglichen würden. Die dauerhaften Interessenkonflikte, die mit der menschlichen Natur verbunden sind, können, sofern sie ordnungsbedingt kanalisiert und kontrolliert werden, zum Impuls gesellschaftlicher Entwicklungen werden (vgl. Thieme 1991, S. 17; Paraskewopoulos 1992, S. 87 ff.). Eine solche politökonomische Ordnung, die der jeweils spezifischen Situation der einzelnen Entwicklungsländer angepaßt werden kann, halten die Ordoliberalen für das geeignetere entwicklungspolitische Instrument. 3.4. Zur Neuen Wachstumstheorie Viele Entwicklungsländer, darauf wurde bereits oben hingewiesen, weisen extrem niedrige Pro-Kopf-Einkommen auf, die ein erhebliches Entwicklungsgefälle im Vergleich mit den Industrieländern verdeutlichen und statistisches Zeichen eines erheblichen Ausmaßes absoluter Armut darstellen. Aus diesem Grund kommt der Zielsetzung einer ver-
Vgl. Görgens (1983); Agarwala (1983); Balassa (1984); IFO - Institut (1985); Jungfer (1991); Klump und Reichel (1994).
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besserten materiellen Güterversorgung durch stetiges Wirtschaftswachstum absolute Priorität zu. Kernpunkt der auf neoklassischen Wachstumsmodellen basierenden Neuen Wachstumstheorie bilden die Faktoren Humankapital und Wissen, die sowohl durch gezielte Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen als auch durch „learning by doing" entstehen. Insofern unterstreicht die Neue Wachstumstheorie die große Bedeutung des technischen Fortschritts für langfristiges Wirtschaftswachstum. Im Gegensatz zur neoklassischen Wachstumstheorie geht sie jedoch davon aus, daß die Wachstumsrate endogen bestimmt und folglich wirtschaftspolitisch beeinflußt werden kann (vgl. Haas 1995). Infolge des Bestehens technologischer und pekuniärer Externalitäten wird von der Wirtschaftspolitik gefordert, Forschung und Entwicklung durch den Staat zu fördern und z.B. langlebige Infrastruktureinrichtungen, die nicht von privaten Anbietern bereitgestellt werden, anzubieten oder zu fördern, um das Wachstum zu beschleunigen. Diese Erwartungen setzen für die Entwicklungsländer die Existenz eines Staates voraus, der, gestützt auf eine kompetente Bürokratie, eine Politik verfolgt, die auf die Gesamtwohlfahrt abstellt, dem Druck von Partikularinteressen begegnet und der „rent seeking"- Mentalität des privaten Sektors entgegenwirkt. Wie schon erwähnt ist solch ein „starker Entwicklungsstaat" nicht a priori vorauszusetzen. In der Neuen Wachstumstheorie ist regional divergierendes Wachstum möglich. Bezüglich der Entwicklungsländer sind die Ansätze der Neuen Wachstumstheorie vor allem deshalb relevant, weil sie nicht wie die traditionelle neoklassische Wachstumstheorie, die für Regionen mit übereinstimmenden Sparverhalten und Zugang zu denselben Technologien eine Angleichung der Pro-Kopf-Einkommen prognostiziert, zwingend zu dem Schluß führen, daß sich das Pro-Kopf-Einkommen im Zeitablauf international angleichen würde. Nach der „widening-gap"-Hypothese könnten sich Einkommensunterschiede zwischen Regionen unterschiedlichen Ausgangsniveaus langfristig sogar noch verstärken. Basierend auf dieser These leistet die Neue Wachstumstheorie ihren Beitrag zur Erklärung der Unterentwicklung. Die Ursachen derselben resultieren aus regionalen Unterschieden bei der Wissensproduktion und Wissensdiffusion (vgl. Hemmer und Wilhelm 1996). Die Geschwindigkeit, mit der neues Wissen entsteht, bestimmt das globale Wachstumspotential. Die unterschiedliche regionale Verfügbarkeit von Wissen kennzeichnet das räumliche Muster des Wachstumsprozesses. Nach einiger Zeit strahlt das neue Wissen aber auch in Regionen aus, die weniger innovativ sind. Daraus resultiert für Entwicklungsländer, die ihre langfristigen Möglichkeiten an Wirtschaftswachstum verbessern wollen, die Frage, ob es sinnvoller ist, gezielt neues Wissen zu produzieren oder aus Industrieländern zu importieren. Zunächst ist bei der Beantwortung dieser Frage davon auszugehen, daß sowohl Wissensproduktion als auch Humankapitalbildung, also Aneignung dieses Wissens durch Individuen, ressourcenintensiv sind, sich folglich ein Zielkonflikt zwischen der Förderung der Produktion von Wissen z.B. durch die Forschung und der sich durch formelle Bildung vollziehenden Wissensverbreitung eröffnet.
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Bekanntlich müssen die Entwicklungsländer im Vergleich zu den Industrieländern bei der Produktion von Wissen erhebliche, aus ihrer traditionellen wirtschaftshistorischen Stellung resultierende komparative Kostennachteile bei Forschung und Entwicklung (Wissensproduktion) hinnehmen. Für sie scheint es unter dem Aspekt der begrenzten Ressourcen wesentlich günstiger, in den Industrieländern bereits vorhandenes Wissen über Direktinvestitionen - Lizenzvergabe wäre kontraproduktiv, da in den meisten Entwicklungsländern ein funktionsfähiger „Markt für Wissen" gar nicht existiert - und die Entsendung bzw. Remigration qualifizierter Arbeitskräfte aus den Industrieländern zu importieren. Innovative Unternehmen selbst verwerten das Wissen unterm „eigenen Dach" (Internalisierungsthese) {Wilhelm 1996, S. 31). Hemmer und Wilhelm weisen aber daraufhin, daß die geringe und m. E. recht einseitige Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt und die infolge sogenannter Dualismen (strukturelle Brüche zwischen formellem und informellem Sektor, Stadt und Land usw.) behinderte Verbreitung von Information wachstumshemmend wirken können (iWilhelm 1996, S. 14). Deshalb sollte komplementär zum Wissenstransfer die Anpassungsfähigkeit der Menschen in den Entwicklungsländern an neues Wissen mittels der Bereitstellung eines Bildungssystems, das qualifizierte und flexible Arbeitskräfte hervorbringt und allen Bevölkerungsgruppen offensteht, gefördert werden. Vor allem aber kann der Abbau der negative Einflüsse auf das Humankapital ausstrahlenden Armut (u.a. hohe Sterblichkeitsraten, negative Produktivitätseffekte auslösende hohe Krakheitsraten) einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten. „Falls es den Entwicklungsländern gelingt, stabile institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen und kontinuierlich technisches Wissen aus Industrieländern zu importieren, werden sich ihnen zahlreiche neue Investitionsmöglichkeiten eröffnen. Da das Imitieren häufig kostengünstiger ist als das Erfinden, haben die Entwicklungsländer die Möglichkeit, schneller zu wachsen als die Industrieländer. In der Zukunft können sie im Vergleich zu den alten Industrieländern möglicherweise auch eine befristete technologische Führerschaft übernehmen" (Wilhelm 1996, S. 14). Der Frage, ob und inwieweit die, wenn auch eingeschränkte, Euphorie einer solchen Einschätzung gerechtfertig ist, werden weitere Beiträge dieses Bandes nachgehen. Nicht zuletzt dokumentiert dabei das Beispiel ostasiatischer Schwellenländer, daß es reelle Chancen gibt, den Einkommensrückstand zu den Industrieländern und somit auch das Problem der Massenarmut zu mindern.
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1. Die Fragestellung
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2. Determinanten der Armut auf der Mikroebene
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3. Die Kosten einer Nutzung des Preismechanismus als gesamtwirtschaftliches Koordinationsinstrument
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4. Beschränkungen der Wirksamkeit des Preismechanismus in der Realität
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4.1. Beeinträchtigung der technischen Funktionsfahigkeit von Märkten
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4.2. Grenzen einer uneingeschränkten Akzeptanz der Marktergebnisse trotz technisch fehlerfreier Marktfunktion
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5. Zum Versagen des Preismechanismus bei der Bestimmung der Eigentumsverteilung
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6. Fazit
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Literatur
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1. Die Fragestellung (1) Die Massenarmut in den Entwicklungsländern stellt ein großes Problem, ihre Beseitigung bzw. Minderung entsprechend ein wichtiges entwicklungspolitisches Ziel dar. Als arm gelten nach BMZ-Definition jene Menschen, die „nicht über das Minimum an monetärem und nicht-monetärem Einkommen verfugen, welches zur Deckung ihres Nahrungsmittelbedarfs und zur Befriedigung der übrigen Grundbedürfnisse erforderlich ist".' Zu den Grundbedürfnissen gehören dabei 2 a) bestimmte Mindesterfordernisse einer Familie in bezug auf den privaten Verbrauch: Ausreichende Ernährung, Wohnung und Bekleidung, ferner bestimmte Haushaltsgeräte und Möbel; b) lebenswichtige Dienstleistungen der Gemeinschaft für die Gemeinschaft: Schaffung von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Versorgung mit gesundem Trinkwasser, sanitäre Anlagen, Bereitstellung öffentlicher Verkehrsmittel. (2) Um erfolgversprechende Maßnahmen zur Minderung dieser Massenarmut ergreifen zu können, ist es erforderlich, ihre wichtigsten Ursachen aufzudecken. Nun haben die vergangenen Jahre - insbesondere der ökonomische Bankrott des auf dem Prinzip der Zentralplanung basierenden „Ostblocks" - die bereits früher abgeleitete theoretische Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Wirtschaftssteuerung gegenüber einer Zentralplanung auch empirisch belegt. 3 Dies gilt trotz der Tatsache, daß die ausschließlich marktwirtschaftliche Steuerung einer Volkswirtschaft allein schon deshalb nicht möglich ist, weil nicht sämtliche Güter und Faktoren über Märkte gehandelt werden können. Dies trifft bspw. auf den gesamten Bereich der öffentlichen Verwaltung (einschließlich der Rechtsprechung und der inneren Sicherheit), aber auch häufig auf Infrastruktureinrichtungen zu. Hier muß der Staat die benötigten Güter und Dienstleistungen bereitstellen (sogenannte öffentliche Güter). Zweifellos unterliegt nicht jedes Gut, welches in Entwicklungsländern vom Staat bereitgestellt wird, der (für öffentliche Güter konstitutiven) Nicht-Ausschlußmöglichkeit. Zumindest für einen Teil dieser Erzeugnisse könnten Vorkehrungen getroffen werden, welche das Wirksamwerden des Ausschlußprinzips zur Folge hätten. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, daß viele Entwicklungsländer bei konsequenter Anwendung dieses Prinzips (z.B. bei der Erhebung von Straßen- oder Kanalbenutzungsgebühren) aufgrund ihrer begrenzten organisatori-
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1992, S. 2): Bei dieser am Einkommen anknüpfenden Definition steht die materielle absolute Armut im Vordergrund der Betrachtung, ohne daß allerdings die übrigen Erscheinungsformen der Armut komplett ausgeblendet würden; diese rücken nur im Vergleich zur materiellen Armut etwas in den Hintergrund. Darüber hinaus ist zu beachten, daß die Höhe des zur Deckung des Nahrungsmittelbedarfs und zur Befriedigung der übrigen Grundbedürfnisse erforderlichen Einkommens nicht objektiv eindeutig festgestellt werden kann. Insofern drücken sowohl die häufig zur Armutserfassung verwendeten Sozialindikatoren als auch monetär definierte Einkommensniveaus (bzw. ihre kritischen Werte im Sinne einer „Armutsschwelle") stets Werturteile aus (vgl. Wolff \995, S. 78 ff.). Diese - in bezug auf einzelne Details sicherlich streitige - Definition (bspw.: was sind „lebenswichtige" öffentliche Verkehrsmittel?) stammt vom Internationalen Arbeitsamt (ILO)(\g\. International Labour Office 1976). Vgl. hierzu die Literaturhinweise bei Hemmer (1988, S. 310 ff.).
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schen Leistungsfähigkeit überfordert wären. Diese Bereiche bleiben deshalb auch bei im Grundsatz marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystemen vom Marktprozeß ausgeklammert. 4 Insofern muß sich die folgende Analyse auf solche Wirtschaftsbereiche beschränken, die sich marktwirtschaftlich organisieren lassen. (3) In der entwicklungspolitischen Realität sind die Vorzüge des marktwirtschaftlichen Wegs bei der Realisierung des Wachstumsziels allerdings wesentlich besser in Erscheinung getreten als in bezug auf das verteilungspolitische Ziel der Armutsminderung. 5 Dies läßt die Frage aufkommen, warum es auch trotz einer vom Grundsatz her marktwirtschaftlichen Wirtschaftssteuerung zu Armut kommen kann bzw. warum eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsteuerung für sich genommen keine hinreichende Konstellation für eine Armutsminderung oder gar -beseitigung darstellt. (4) Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst erforderlich, die sich aus ökonomischer Sicht ergebenden Determinanten der Armut auf der Mikroebene aufzuzeigen. Im Anschluß daran kann erörtert werden, wie diese Determinanten von einem funktionierenden Preismechanismus beeinflußt werden und ob die Kriterien eines funktionsfähigen Preismechanismus in der entwicklungspolitischen Realität einzelner Länder überhaupt erfüllt sind.
2. Determinanten der Armut auf der Mikroebene (1) Bei einer ökonomischen Analyse lassen sich auf der Mikroebene drei grundlegende Ursachengruppen der Armut unterscheiden: a) Armut als Folge unzureichender Einkommen aus dem Produktionsprozeß (= unzureichende Leistungseinkommen), b) Armut als Folge unzureichender Transferzahlungen und/oder -leistungen zur Kompensation ungenügender Leistungseinkommen (= unzureichende Transfereinkommen) sowie c) Armut als Folge eines unzureichenden Zugangs zu den grundbedürfnisrelevanten öffentlichen Gütern. (2) Von diesen drei Ursachengruppen entfallt im Zusammenhang mit der hier interessierenden Frage nach dem Zusammenhang von Marktwirtschaft und Armut zunächst
In diesem Zusammenhang muß man sich allerdings davor hüten, einen zu eng gefaßten „Öffentliches-Gut-Begriff' zu verwenden. Zu den öffentlichen Güter zählen, wie die endogene Wachstumstheorie überzeugend begründet, auch wesentliche Bereiche des technischen Fortschritts (insbesondere Wissenskapital) sowie die Informationsbereitstellung. Hier liegen wichtige staatliche Aufgabenbereiche vor, die in den meisten Entwicklungsländern (aber nicht nur dort) bislang völlig unzureichend wahrgenommen wurden. Als Folge dieses Versäumnisses verspielen viele potentiell wettbewerbsfähige Produzenten aus Entwicklungsländern ihre Chancen auf Erlangung internationaler Wettbewerbsfähigkeit, damit auf die Schaffung von außenhandelsbestimmten Arbeitsplätzen und - in Folge dessen - auf einen Abbau der Armut. Außerdem tragen diese Defizite zu einer niedrigen Arbeitsproduktivität vieler armer Produzenten (z.B. in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und im informellen Sektor) bei; daraus kann gleichfalls Armut resultieren. Siehe die Literaturhinweise bei Hemmer (1988, S. 310 ff.).
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der Aspekt des unzureichenden Zugangs zu den grundbedürfnisrelevanten öffentlichen Gütern: Dieser Zugang wird - wie bereits erläutert - nicht über den Marktmechanismus gesteuert, sondern über politische Entscheidungsprozesse, die meist Spiegelbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in dem betreffenden Land sind. Angesichts der Tatsache, daß die Atmen eines Landes meist politisch und gesellschaftlich diskriminiert werden, haben sie auch bei einer im Prinzip marktwirtschaftlichen Wirtschaftssteuerung keine angemessenen Zugangschancen zu den grundbedürfnisrelevanten öffentlichen Gütern; Marktwirtschaft kann die hier angesprochene Variante der Armut nicht verhindern. (3) Beschränkt man sich auf jenen Teil der Armut, der durch unzureichende Einkommen erklärt werden kann, so interessieren im Zusammenhang mit der Analyse des Preismechanismus nur die Determinanten der Leistungseinkommen. Die Transfermechanismen haben die primäre Aufgabe, unbefriedigende Ergebnisse des Einkommensentstehungsprozesses zu korrigieren, und stellen insofern nur eine „second-best"Lösung dar. 6 Das armutspolitische Primärinteresse im Zusammenhang mit der Einkommenserzielung besteht folglich darin, die Produktionsprozesse so zu gestalten, daß ein möglichst geringer Redistributionsbedarf in bezug auf die resultierenden Leistungseinkommen entsteht. (4) Die Höhe der im Produktionsprozeß erwirtschafteten Leistungseinkommen hängt von der Verfügbarkeit über produktiv nutzbare Ressourcen, vom Ausmaß ihrer produktiven Nutzung und von dem realen Nettoentgelt ab, das die Eigentümer dieser Ressourcen aufgrund ihrer produktiven Nutzung erhalten. 7 (5) Die Verfügbarkeit über produktiv nutzbare Ressourcen als Determinante der Leistungseinkommen wird davon bestimmt, in welchem Maße einzelne Personen oder Haushalte Eigentumsrechte an den einkommensrelevanten Produktionsfaktoren (bei einer globalen Betrachtung sind dies Arbeit, Kapital [und zwar sowohl Human- als auch Sachkapital] und natürliche Ressourcen [vor allem landwirtschaftliche Nutzflächen sowie gewerblich verwendbare Standortflächen, aber auch Wasser- und Waldnutzungsrechte etc.]) haben. Je geringer die quantitative und/ oder qualitative Ressourcenverfugbarkeit auf der Basis solcher Eigentumsrechte ausfallt, desto geringer sind die Chancen der Betroffenen, im Produktionsprozeß ein Einkommen zu erzielen, welches Armut verhindern kann. 8
Diese Argumentation schließt nicht aus, die Transfermechanismen so zu gestalten, daß sie die Chancen verbessern, in späteren Perioden höhere Leistungseinkommen zu erzielen. Insofern bestehen durchaus Interdependenzen zwischen Transfer- und Leistungseinkommen, die aber im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter interessieren. Zu dieser Klassifikation vgl. Hemmer (1995). Bei den formalen Eigentumsrechten unterscheidet man üblicherweise Rechte der Nutzung („usus"), der Einbehaltung von Erträgen („usus fructus"), der Veränderung von Form und Substanz („abusus") und der Überlassung (z.B. Veräußerung). Hinzu kommt noch die Unterscheidung nach der Art der Spezifizierung der Eigentumsrechte in Individualeigentum, Gemeinschafts- oder Gruppeneigentum und Staatseigentum. Je mehr Personen Verfugungs- und Nutzungsrechte über eine Ressource haben, desto mehr sind die individuellen Eigentumsrechte ausgedünnt. - Zur entwicklungspolitischen Relevanz der
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(6) Einkommen als Folge des Eigentums an produktiv einsetzbaren Ressourcen lassen sich nur erzielen, wenn diese auch tatsächlich produktiv genutzt werden. Je mehr die formellen Eigentumsrechte an einzelnen Ressourcen materiell eingeschränkt werden sei es wegen ressourcenbezogener Beschränkungen (bspw. als Folge eines unzureichenden Zugangs zu benötigten Komplementärfaktoren einschließlich öffentlicher Güter, wie es beim Fehlen grundlegender Infrastruktureinrichtungen [einschließlich der Finanzinfrastruktur] der Fall ist), sei es wegen ressourcenbesitzerbezogenen Beschränkungen (bspw. als Folge eingeschränkter materieller Durchsetzbarkeit der einzelnen Personen bzw. -gruppen formal gegebenen Eigentumsrechte, wie es bei fehlender Rechtssicherheit oftmals der Fall ist) -, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Armut. (7) Werden die produktiv nutzbaren Ressourcen auch tatsächlich eingesetzt, so hängt die Höhe des Leistungseinkommens ihrer Eigentümer davon ab, welches reale Nettoentgelt sie für diese Ressourcennutzung erhalten. Im Falle selbständiger Tätigkeiten sind zur Bestimmung dieses Nettoentgelts fünf Komponenten aufzuführen: a) Die Produktivitätskomponente: Sie bestimmt, welche Erträge (= physische Produktionsergebnisse) aus dem gemeinsamen Einsatz der betrachteten und der komplementär verwendeten Ressourcen resultieren. b) Die Markterlöskomponente: Sie bestimmt, welche Nettoerlöse (= monetäre Bewertung der Erträge) aus dem Verkauf der mit Hilfe der betrachteten sowie komplementärer Ressourcen produzierten Güter und Dienstleistungen erzielt werden. Dazu müssen die Bruttomarkterlöse um die in ihnen enthaltenen indirekten Steuern vermindert bzw. um etwaige erhaltene Subventionen ergänzt werden, um die für die Leistungseinkommensbestimmung maßgeblichen Nettomarkterlöse ermitteln zu können. c) Die Komplementärfaktorkostenkomponente: Sie bestimmt, welcher Teil der Nettomarkterlöse (bei Bezahlung in „cash") oder der Erträge (bei Bezahlung in „kind") an die Besitzer jener Ressourcen abzführen ist, die komplementär zu den eigenen Ressourcen bei der Produktion sowie im Zusammenhang mit der Durchführung marktbezogener ökonomischer Transaktionen (z.B. im Zusammenhang mit Transporten) eingesetzt und dafür beschafft bzw. „gemietet" werden müssen. d) Die direkte Steuerkomponente: Sie bestimmt, welcher Teil des solchermaßen verbleibenden Nettoeinkommens der Ressourcenbesitzer in Form direkter Steuern an den Staat abgeführt werden muß. Nur der verbleibende Betrag stellt das für die Ausgabenentscheidung der Einkommensbezieher und damit ihre Grundbedürfnisbefriedigung maßgebliche verfügbare Nettoleistungseinkommen dar. 9
verschiedenen Typen von Eigentumsrechten vgl. Pritzl (1995, S. 266 ff.) sowie Clapham (1993, S. 15 ff.). Den direkten Steuern gleichzustellen sind andere Zwangsabgaben der Einkommensbezieher.
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e) Die Realeinkommenskomponente: Sie bestimmt, welches Realeinkommen die Nettomarkterlöse (bei monetärem Tausch) bzw. Erträge (bei güterwirtschaftlichem Tausch) nach Abzug der Kompensationskomponente repräsentieren. 10 Im Falle abhängig Beschäftigter mit fixierten Lohnkontrakten hängt die Einkommensposition der Betroffenen davon ab, zu welchem Lohnsatz sie eine Beschäftigung finden können (Zusammenfassung der Komponenten a - c), welche direkten Steuern sie entrichten müssen (Komponente d) und welches Realeinkommen die verbleibenden Nettolöhne repräsentieren (Komponente e). Die Beschäftigten in der formellen Ökonomie erhalten meist relativ hohe Löhne, so daß in dieser Personengruppe meist nur wenig Arme zu finden sind. Für viele Lohnempfänger im informellen Sektor ist die erzielbare Lohnhöhe jedoch sehr niedrig; trotz zeitlicher Vollbeschäftigung sind die Menschen absolut arm, d.h. ihr Einkommen reicht nicht zur Grundbedürfnisbefriedigung aus. (8) Je nachdem, wie diese einzelnen Komponenten in konkreten Einzelfällen wirken, können sie trotz einer als hinreichend erscheinenden Ressourcenverfugbarkeit und -nutzung einzelner Personen und/oder Haushalte Armut (im hier definierten Sinne einer unzureichenden Grundbedürfnisbefriedigung) zur Folge haben.
3. Die Kosten einer Nutzung des Preismechanismus gesamtwirtschaftliches Koordinationsinstrument
als
(1) Um die Auswirkungen des Preismechanismus, wie er sich in den einzelnen Ländern konkret darstellt, auf die Armut bewerten zu können, muß auf die häufig vernachlässigte bzw. übersehene Tatsache verwiesen werden, daß die Nutzung des Preismechanismus als Koordinationsinstrument ökonomischer Tätigkeiten nicht kostenlos ist, sondern Transaktionskosten verursacht: Die einzelnen Wirtschaftssubjekte müssen sich Informationen beschaffen und diese auswerten; Tauschpartner für die jeweiligen im Zuge der Arbeitsteilung produzierten Güter und Dienstleistungen müssen gefunden werden; Verträge müssen angebahnt, ausgehandelt, erfüllt und ihre Einhaltung überwacht werden - um nur einige Beispiele zu nennen."
Bei Eigenverbrauch entfallen die Komponenten (b), (d) und (e). Die Erträge gemäß (a) müssen zwar weiterhin um die Komplementärfaktorkostenkomponente (c) vermindert werden; anstelle der Realeinkommenskomponente (e) muß der unmittelbare Wert des Ertrags im Sinne seines Beitrags zur Grundbedürfnisbefriedigung (welche dem hier verwendeten Armutsbegriff zugrundeliegt) ermittelt werden. Man muß somit zwischen Produktions- und Transaktionskosten unterscheiden: Die Produktionskosten fallen direkt bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen an, während die Transaktionskosten im Zusammenhang mit der Koordinierung der ökonomischen Aktivitäten entstehen. Dabei stellen Produktionskosten einer Wirtschaftseinheit möglicherweise Transaktionskosten fur eine andere Wirtschaftseinheit dar, wenn die produzierten Dienstleistungen einer Wirtschaftseinheit von einer anderen Wirtschaftseinheit zur Vorbereitung bzw. Durchführung ihrer Transaktionen eingesetzt werden (Beispiel: Anwaltskosten). - Zwar entstehen Transaktionskosten auch bei anderen (nichtmarktlichen) Koordinationsformen; diese sind aber nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen.
Preismechanismus,
Institutionen
und Armut in
Entwicklungsländern
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(2) Die ökonomische Antwort auf die Existenz von Transaktionskosten lautet: Schaffung von Institutionen. Als Institutionen bezeichnet man dabei alle Regelungen für die Interaktion wirtschaftlicher Akteure, denen sich diese unterwerfen (müssen). Etwas präziser läßt sich jede einzelne Institution definieren als ein Bündel von Handlungsbeschränkungen in rekurrenten mehrpersonellen Entscheidungssituationen, das auf formeller (z.B. durch Gesetze) oder auf informeller Basis (z.B. durch kulturelle Normen) soweit allgemein anerkannt ist, daß die Individuen reziproke Verhaltenserwartungen besitzen (vgl. Eisner 1987, S. 5). Mit Institutionen strebt man im Prinzip die Lösung zweier Aufgaben an: a) Zum einen sollen die Transaktionskosten gesenkt werden. Institutionen, die vergleichweise niedrige Transaktionskosten induzieren, werden gegenüber solchen präferiert, die mit relativ hohen Transaktionskosten verbunden sind, sofern sie keine Unterschiede bei den Produktionskosten bewirken. b) Zum anderen sollen Institutionen dazu beitragen, die im Zuge der Arbeitsteilung zunehmend größer werdende Unsicherheit zu überwinden, die sich bspw. beim Vorliegen von Gefangenendilemmasituationen, aber auch in bezug auf die Eigenschaften der Tauschobjekte einstellt. Bei Unsicherheit verzichten viele Individuen auf ansonsten nutzensteigernde Transaktionen. Dadurch behindert Unsicherheit die ökonomische Interaktion von Individuen und kann somit zum Engpaß des ökonomischen Entwicklungsprozesses werden. (3) Die in einer Volkswirtschaft vorhandenen Institutionen lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: a) in Institutionen als normative Muster oder Regelungen (z.B. die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten; die Standardisierung von Zahlungsmitteln; die Verabredung von geschriebenen [z.B. Gesetze] und/oder ungeschriebenen [z.B. Tradition, Sitte, Moral] Rechtsgrundsätzen, die bei der Durchführung von Transaktionen zu beachten sind); b) in Institutionen als korporative Gebilde bzw. Organisationen (z.B. staatliche Behörden, Zentralbank, Unternehmen usw.). Solche Organisationen sind in der Regel die Voraussetzung dafür, daß die Institutionen als normative Muster oder Regelungen eingehalten werden und damit reziproke Verhaltenserwartungen bei den Akteuren bewirken. Die Nutzung dieser Organisationen verursacht zwar Koordinationskosten (die gleichfalls zu den Transaktionskosten zählen); sofern diese organisationsinternen Koordinationskosten aber geringer sind als die Transaktionskostenersparnis durch die Organisationsnutzung, ist die Inanspruchnahme der Organisation ökonomisch rational.12 (4) Wie eingangs bereits festgestellt wurde, erfordert der Abbau der Armut - vor allem bei einer längerfristigen Betrachtung - eine wesentlich bessere Berücksichtigung marktwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen als in den meisten Ländern bislang praktiziert. 13 Je mehr die Steuerung marktwirtschaftlichen Prozessen überlassen werden Die hier zum Ausdruck kommende Grundstruktur der Wirtschaftsordnungselemente Regeln, Gesetze und Institutionen als korporative Gebilde (letztere werden häufig verkürzt als Institutionen bezeichnet) findet sich bereits bei Adam Smith, (vgl. hierzu Krüsselberg 1984, S. 189 ff.). Wie die bisherigen Erfahrungen mit den Strukturanpassungsprogrammen sowie mit den Transformationsprozessen ehemals sozialistischer Volkswirtschaften belegen, kann die
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soll, desto stärker ist jedoch darauf zu achten, daß der Staat die Funktionsfahigkeit der Faktor- und Gütermärkte auch durchsetzen kann. Dies kann nur gewährleistet werden, wenn die für eine funktionierende marktwirtschaftliche Steuerung erforderlichen Institutionen, und zwar sowohl in ihrer Form als normative Muster/Regelungen als auch in ihrer Form als Organisationen, vorhanden sind. Fehlen diese Institutionen oder sind sie nicht adäquat ausgestaltet, so besteht trotz einer im Prinzip marktwirtschaftlichen Steuerung die Gefahr wirtschaftlicher Fehlentwicklungen - in unserem Fall von umfangreicher Armut auf der Basis der personellen Leistungseinkommenserzielung. Auf diese Zusammenhänge hat im übrigen bereits A. Smith hingewiesen, in dessen liberalistischem Ansatz der Staat zumindest makroökonomische Stabilität sowie Rechtssicherheit gewährleisten muß; beide stellen Institutionen im Sinne von normativen Mustern/Regelungen dar, zu deren Umsetzung Institutionen im Sinne von Organisationen (z.B. Gerichte) geschaffen werden müssen. 14
4. Beschränkungen in der Realität
der
Wirksamkeit
des
Preismechanismus
4.1. Beeinträchtigung der technischen Funktionsfähigkeit von Märkten (1) Tatsächlich sind in vielen Ländern die Güter- und Faktormärkte als zentrale Determinanten der primären Einkommensverteilung in ihrer Funktionsfähigkeit stark eingeschränkt - teilweise als Folge der praktizierten Prozeßpolitik, teilweise aufgrund fehlender institutioneller Grundlagen. Da viele Arme ausschließlich über ihre (meist ungelernte) Arbeitskraft als produktive Ressource verfugen, ist das Ausmaß der Armut ceteris paribus um so größer, je geringer die Arbeitsintensität der betrachteten Volkswirtschaft ist und je niedriger die für die Arbeitsentlohnung maßgebliche monetäre Arbeitsproduktivität ausfallt. Gesamtwirtschaftliche Arbeitsintensität und -Produktivität werden ihrerseits bestimmt von der Entscheidung zugunsten bestimmter Techniken bei der Herstellung einzelner Güter sowie vom „product mix" der Volkswirtschaft, d.h. vom gesamtwirtschaftlichen Produktionsanteil jener Güter, die besonders arbeitsintensiv hergestellt werden. In bezug auf beide Aspekte werden bis heute in vielen Ländern relativ arbeitsintensive Produktionsverfahren diskriminiert. Eine stärkere Berücksichtigung des Ziels der Armutsminderung erfordert dann den Abbau dieser Diskriminierungen. (2) Die Höhe der gesamtwirtschaftlichen Arbeits- bzw. Kapitalintensität hängt entscheidend von den Faktorpreisverhältnissen zwischen ungelernter Arbeit und Kapital ab: Je niedriger das Zins-/ Lohnverhältnis ist, desto billiger ist ceteris paribus der Einsatz von Kapitalgütern, desto kapitalintensiver wird ceteris paribus produziert, desto weniger Arbeitskräfte werden ceteris paribus eingestellt, und desto größer ist ceteris paribus die Wahrscheinlichkeit von Armut. In vielen Entwicklungsländern wird eine
verstärkte Berücksichtigung marktwirtschaftlicher Prinzipien kurzfristig allerdings zunächst das Ausmaß der Armut vergrößern. Es liegt bezüglich der Armut somit eine Art „J-Kurven-Effekt" vor. Die Forderung nach Rechtssicherheit bezieht sich nicht nur auf die öffentliche Sicherheit, sondern betrifft auch die materiellen Eigentumsrechte sowie die Vertragssicherheit (vgl. Goldsmith 1995, S. 633 ff.).
Preismechanismus, Institutionen und Armut in Entwicklungsländern
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Politik betrieben, welche die Armen fast schon systematisch von einer produktiven Verwertung ihrer Arbeitskraft ausschließt: Der Einsatz von Kapital wird (oft aus einem falsch verstandenen Modernisierungskonzept heraus) verbilligt, bspw. durch Steuervergünstigungen, Vorzugszölle für importierte Kapitalgüter und zinsverbilligte Kredite. Der Arbeitseinsatz wird hingegen durch kostensteigernde Regulierungen auf den Arbeitsmärkten verteuert, z.B. durch die Festlegung relativ hoher, d.h. über dem Effizienzlohn liegender Mindestlöhne und Lohnnebenkosten. Zwar profitieren die Empfanger dieser Mindestlöhne von ihnen; der von ihnen ausgehende beschäftigungsmindernde Effekt schließt aber eine größere Anzahl Arbeitswilliger als bei niedrigeren Löhnen von entsprechenden Beschäftigungen aus. Eine solche Politik schafft einen starken Anreiz zur Verwendung relativ kapitalintensiver Verfahren, die zum einen als „modern" gelten, zum anderen aufgrund ihrer hohen Kapitaleinkommensquoten ceteris paribus zu einer hohen gesamtwirtschaftlichen Sparquote und damit Reinvestitionsrate führen. 15 Dadurch gelten sie vielfach als entscheidende Wachstumsmotoren. Als Folge absorbiert der formelle Sektor (moderne Industrie, Staat) nicht genügend Arbeitskräfte. Die verbleibenden Arbeitswilligen drängen in den informellen Sektor, wo sie das infolge einer relativ geringen Arbeitsproduktivität bereits niedrige Einkommensniveau noch weiter drücken und damit Armut auslösen bzw. Ausmaß und Tiefe der Armut verschärfen. 16 (3) Auf den Gütermärkten gibt es ebenfalls vielfältige Verzerrungen im System der relativen Preise. Sie betreffen zum einen die Preisrelationen zwischen inländischen und ausländischen Erzeugnissen, die oft als Folge überbewerteter Wechselkurse - häufig die Konsequenz einer Importsubstitutionspolitik - zu Lasten der einheimischen Produkte verzerrt sind. Bei der Produktion der einheimischen Güter werden häufig die arbeitsintensiv produzierenden Bereiche durch preispolitische Reglementierungen (einschließlich Steuer- und zollpolitischer Diskriminierungen) benachteiligt, so daß Armut verschärft statt abgebaut wird. Vielfach betreibt der Staat eine Preispolitik, die einseitig zugunsten landwirtschaftlicher Großbetriebe und städtischer Bevölkerungsgruppen konzipiert ist und die politisch meist einflußlose kleinbäuerliche Landwirtschaft - also jenen Teil der Landwirtschaft, der besonders arbeitsintensiv produziert und in dem der größte Teil der ländlichen Armen tätig ist - systematisch diskriminiert: Städtische Arme werden mit Hilfe staatlich verordneter niedriger Preise für Grundnahrungsmittel bevorzugt, ländliche Kleinbauern aufgrund geringer Erzeugerpreise für ihre Produkte hingegen benachteiligt. Hinter diesen preispolitischen Interventionen des Staates steht meist die Absicht, über relativ geringe Lebenshaltungskosten in den Städten die Nominallöhne für den Aufbau einer Industrie niedrig zu halten. Bezahlt wird dieses Vorgehen jedoch mit unDiese Argumentation geht bis auf die klassische Theorie zurück: Bereits Ricardo ging davon aus, daß nur aus Kapitaleinkommen gespart und damit akkumuliert werden könne. Der mehrmalige Verweis auf die „ceteris paribus"-Annahme ist erforderlich, weil die hier angeführten Zusammenhänge deutlich relativiert werden müssen, wenn zwischen Produktionstechnik bzw. Faktorintensität und Produktqualität eindeutige Beziehungen bestehen. In diesem Fall setzen bestimmte, für die (nationale wie internationale) Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbare qualitative Mindeststandards der Endprodukte mitunter relativ kapitalintensive Produktionstechniken voraus; die technisch möglichen Substitutionsspielräume zwischen Arbeit und Kapital sind dann von der Absatzseite stark eingeschränkt.
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zureichenden Produktions- und Beschäftigungsanreizen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die neben unzureichenden Leistungseinkommen für die Bauern zu teilweise erheblichen Versorgungsengpässen der städtischen Armen führen. (4) Aber nicht nur vom Staat festgelegte Preisober- und -untergrenzen, sondern auch legale, physische und psychische Zutrittsschranken zu einzelnen Märkten spielen eine große Rolle bei der Entstehung von Armut. In einigen Fällen dürfen bestimmte Personen(-gruppen) wie ethnische Minoritäten, Anhänger bestimmter Religionen oder Mitglieder einzelner Kasten auf bestimmten, institutionell gesicherten Märkten die von ihnen erzeugten Güter und Dienstleistungen nicht verkaufen: Ihnen wird das „usus fructus" nicht gewährt. In anderen Fällen dürfen bestimmte Produkte auf einzelnen Märkten nicht angeboten werden, und oftmals werden einzelne Personen(-gruppen) aufgrund der unzureichenden physischen Infrastruktur am Marktzutritt gehindert. Außerdem hängt die Höhe der erzielbaren Verkaufserlöse entscheidend von den Machtstrukturen auf der Angebots- und der Nachfrageseite der Märkte ab. Machtlose Anbieter können oft nur geringe Erlöse erzielen, wenn ihnen ein Nachfragemonopolist gegenübersteht; umgekehrt bedeutet Angebotsmacht, die auf eine polypolistische Nachfragestruktur trifft, ein relativ hohes Erlöspotential. Da vielfach die Armen - im Gegensatz zur Marktgegenseite - weder auf den Absatz- noch auf den Beschaffungsmärkten eine Machtposition aufbauen können, verbleibt ihnen meist nur die Position eines Optionsempfängers - mit der Folge geringer Einkommen, die oft unterhalb der Armutsgrenze liegen und daher nicht zur Grundbedürfnisbefriedigung ausreichen. (5) Aus dieser Bestandsaufnahme resultiert die Forderung, die festgestellten Preisverzerrungen zu beseitigen und die Funktionsweise der Faktor- und Gütermärkte durch wettbewerbsfordernde Maßnahmen so zu stärken, daß sich ein System relativer Preise herausbildet, welches die bestehenden Knappheitsverhältnisse auf Faktor- und Gütermärkten weitgehend korrekt widerspiegelt. Gleichzeitig müssen institutionelle Arrangements - bspw. durch entsprechende materiell durchsetzbare Rechte - geschaffen werden, die personenbezogene Diskriminierungen weitgehend unmöglich machen. Private Arrangements sind allerdings meist nicht geeignet, die Funktionsweise des Marktes sicherzustellen, weil vom Staat unregulierte privatwirtschaftliche Tätigkeiten es vielfach einzelnen Wirtschaftssubjekten ermöglichen, Monopolpositionen zu erobern und der Marktgegenseite die eigenen Positionen - bei fehlender Rechtssicherheit notfalls mit Gewalt - aufzuzwingen. Die für die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Systems unerläßliche Freiheit des Marktes kann meist nur der Staat herbeifuhren und gewährleisten - aber nicht durch direkte Marktintervention, sondern indem er die Handlungsspielräume der Individuen institutionell einschränkt. Entsprechend obliegt dem Staat die Aufgabe, solche Wettbewerbsnormen und -regeln zu bestimmen und durch die Schaffung entsprechender Kontrollorganisationen für ihre Einhaltung zu sorgen, die marktliche Fehlentwicklungen vermeiden. Im Interesse der Armen muß vor allem verhindert werden, daß -
vorübergehende Machtpositionen eines Innovators auf einem Markt zu dauerhaften Monopolstellungen werden;
-
Wettbewerb durch Kartellverträge gemindert oder ausgeschaltet wird;
-
potentielle Anbieter und/oder Nachfrager am Marktzutritt gehindert werden;
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- vorhandene Monopolstellungen durch institutionelle Absicherung verfestigt werden. (6) Wo trotz solcher Förderungen des Wettbewerbsmechanismus Monopolpositionen verbleiben, weil bestimmte Unternehmen aufgrund interner Ersparnisse (natürliche Monopole), rechtlich abgesicherter Faktor- und Technologieverfügbarkeiten (z.B. Patentschutzabkommen) oder spürbarer Transaktionskostenvorteile (niedrigere interne Koordinationskosten als alternativ hierzu zustandekommende marktbestimmte Transaktionskosten) gegenüber Kleinanbietern die allokationspolitisch effizientere Alternative darstellen, muß der Staat eine Mißbrauchskontrolle etablieren. Die grundsätzliche Sicherstellung des Marktzugangs für ausländische Unternehmen kann gleichfalls das Entstehen bzw. die Konservierung von Monopolpositionen in ihrer allokationsverzerrenden Wirkung senken. Allerdings erweist sich die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs nicht an der Zahl der Anbieter (also keine Vorgabe der Marktform der vollständigen Konkurrenz), sondern am Marktergebnis (Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs: „workable competition"). Zum relevanten Marktergebnis zählt dabei auch der Beitrag zur Armutsminderung. (7) Zur Stärkung der Funktionsfähigkeit der Faktor- und Gütermärkte ist es außerdem notwendig, daß die für einen Marktzutritt und den marktlichen Güteraustausch erforderliche Infrastruktur - von der Einrichtung der Marktflächen über Lagerräume bis zur Verkehrsanbindung - geschaffen wird. Von einer fehlenden Infrastruktur sind besonders häufig die Armen betroffen, wie die für die meisten Armen unzugänglichen formellen Kreditmärkte vieler Entwicklungsländer belegen. Insofern stellt die Verbesserung der Marktinfrastruktur und ihre institutionelle Zugänglichkeit für die Armen eine Vorbedingung dafür dar, daß die marktwirtschaftliche Steuerung wesentlicher wirtschaftlicher Tätigkeitsfelder zu einer spürbaren Armutsminderung beiträgt. Eine wesentliche Aufgabe des Staates besteht folglich darin, in jenen Fällen für die Bereitstellung dieser infrastrukturellen Voraussetzungen zu sorgen, wo entsprechende private Einrichtungen den Armen nicht in der benötigten Quantität und/oder Qualität zur Verfügung stehen. Versagt der Staat bei dieser Aufgabe, so resultieren derart hohe Transaktionskosten, daß die erwirtschafteten Markterlöse nach Abzug der Komplementärfaktorkostenkomponente (die auch die aufzubringenden Transaktionskosten umfaßt) häufig nicht zur Grundbedürfnisbefriedigung ausreichen. 4.2. Grenzen einer uneingeschränkten Akzeptanz der Marktergebnisse trotz technisch fehlerfreier Marktfunktion Darüber hinaus kann ein technisch funktionierender Marktmechanismus zu gesamtwirtschaftlich bzw. sozial unakzeptablen Ergebnissen führen - mit dem Ergebnis staatlichen Interventionsbedarfs. Dies ist vor allem zu vermuten im Falle stärkerer Divergenzen zwischen den kurz- und langfristigen Auswirkungen bestimmter Tätigkeiten (z.B. im Fall meritorischer oder demeritorischer Güter), bei hohen Kosten der Informationsbeschaffung, beim Vorliegen natürlicher Monopole und bei inversen Angebotsund/oder Nachfrageentscheidungen. In anderen Fällen fuhrt die ausschließlich marktwirtschaftliche Steuerung zu gesamtwirtschaftlichen Fehlallokationen (z.B. im Umwelt-, im Infrastruktur- und im Bildungsbereich). Damit ist beim Vorliegen umfangrei-
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eher technologischer externer Effekte im Produktions- und/oder Konsumbereich zu rechnen, aus denen eine deutliche Divergenz privater und sozialer Kosten bzw. Erträge resultiert.17 Es gilt auch für den Fall (de)meritorischer Güter, bei denen sich die gesellschaftliche Zielfunktion nicht allein durch die Aggregation der privaten Zielfunktionen ergibt, sondern Elemente enthält, die von den Privaten nicht berücksichtigt werden.
5. Zum Versagen des Preismechanismus bei der Bestimmung der Eigentumsverteilung (1) Je besser die entsprechend diesen Überlegungen modifizierten und durch die Schaffung der erforderlichen institutionellen Grundlagen auch materiell abgesicherten marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismen greifen, desto besser sind die Aussichten auf einen effizienten Einsatz der gesamtwirtschaftlich verfugbaren Ressourcen. In bezug auf die oben aufgelisteten Determinanten der Leistungseinkommen der Armen können damit entsprechend gute Ergebnisse bei der Ressourcennutzung und der Ressourcenentlohnung erreicht werden. Da die personelle Leistungseinkommensverteilung jedoch - wie ausgeführt - zusätzlich noch von der personellen Eigentumsverteilung an produktiv nutzbaren Ressourcen bestimmt wird, hängen die Armutswirkungen eines funktionierenden Marktmechanismus auch von dieser Komponente ab, die aber nur in begrenztem Maße über Märkte optimiert werden kann. 18 Dabei geht es nicht so sehr um die formale Ressourcenausstattung als vielmehr um die Ausstattung mit materiell durchsetzbaren Eigentums- und Verfügungsrechten an produktiv einsetzbaren Ressourcen. Sozial akzeptabel sind die Ergebnisse einer funktionierenden Marktwirtschaft deshalb nur, wenn es keine übermäßigen Divergenzen bei der Ausstattung einzelner Gesellschaftsmitglieder mit den wichtigsten produktiv verwendbaren Ressourcen gibt bzw. die Ausstattungsunterschiede einzelner Gesellschaftsmitglieder bei den verschiedenen Ressourcen sich nicht kumulieren, sondern zumindest teilweise kompensieren: Nur bei einer personell zumindest einigermaßen ausgewogenen materiellen Ressourcenausstattung kann damit gerechnet werden, daß die Anwendung einer marktwirtschaftlichen Steuerung Armut minimiert." Eine inhaltliche Präzisierung des Begriffs „einigermaßen ausgewogenen materiellen Ressourcenausstattung" kann an dieser Stelle allerdings nicht gegeben werden; letztlich entscheidet das Ergbnis - d.h. das tatsächlich zustandekommende Ausmaß an Armut - darüber, ob die materielle Ressourcenausstattung „einigermaßen ausgewogenen" ist.
So werden z.B. reine Luft und Wasser in der Regel als freie, unbegrenzt verfügbare Güter angesehen, obwohl von einer solchen unbegrenzten Verfügbarkeit keine Rede sein kann. Diese Güter und Leistungen sind jedoch entweder nicht erfaßbar oder nicht quantifizierbar, so daß man sie nicht über Märkte handeln und ihren volkswirtschaftlichen Knappheitspreis ermitteln kann. Dies gilt für die einzelnen Ressourcenarten in unterschiedlicher Stärke: Die nicht akkumulierbaren natürlichen Ressourcen sind von dieser Einschränkung in der Regel stärker, das durch individuelle Ausgabenentscheidungen akkumulierbare Sachkapital schwächer betroffen als das Humankapital. Dieser Ansatz kann in einzelnen Fällen die Forderung nach einer Umverteilung nicht personengebundener oder nicht akkumulierbarer Ressourcen (z.B. die Forderung nach einer Bodenreform) beinhalten, d.h. die Eigentumsverfassung eines Landes betreffen.
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(2) Mit einer solchen kompensierenden bzw. „einigermaßen ausgewogenen" Ausgangsverteilung an Ressourceneigentum kann in der Realität aber normalerweise nicht gerechnet werden. Vielmehr sind die materiellen Eigentumsrechte an den relevanten Ressourcen in ihrer Gesamtheit weitgehend ungleich verteilt - in vielen Ländern mit dem Ergebnis umfangreicher Armut. Die in vielen Entwicklungsländern tatsächlich bestehende, zum Teil extrem ungleiche Eigentumsverteilung an produktiv verwendbaren Ressourcen betrifft sowohl die Eigentumsverteilung an Boden als auch die Zugangschancen einzelner Personen und Haushalte zum Kapitalmarkt - einem Sektor, der für die Finanzierung der Sachkapitalbildung sowie für den Erwerb von Komplementärfaktoren von entscheidender Bedeutung ist - sowie zum Bildungs- und Gesundheitsbereich, die für die Humankapitalbildung besonders wichtig sind. Außerdem können die zur privaten Humankapitalfinanzierung benötigten Geldbeträge von vielen Armen nicht aufgebracht werden, so daß ihre Chancen auf Armutsminderung drastisch eingeschränkt sind. Gerade die Humankapitalbildung wird in den neueren entwicklungstheoretischen Analysen aber nicht nur als Schlüsselgröße wirtschaftlichen Wachstums, sondern auch der Armutsbekämpfung angesehen (Barham u.a. 1995, S. 1257 ff.). Wo die Armen keinen angemessenen Zugang zu den für die Humankapitalbildung entscheidenden Sektoren Bildung und Gesundheit erhalten, kann nicht mit nachhaltigen Armutsminderungen auf der Basis der Erzielung von Leistungseinkommen gerechnet werden - unabhängig davon, ob die Volkswirtschaft überwiegend marktwirtschaftlich gesteuert wird oder nicht: Die Chancen der Armen, aus eigener Kraft der Armutsfalle zu entrinnen, sind folglich extrem eingeschränkt.
6. Fazit (1) Insgesamt stellt man somit eine Vielzahl armutsrelevanter Größen fest, die sich nicht über einen funktionierenden Marktmechanismus steuern lassen. Deshalb besteht aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ein Interventionsbedarf. Dieser kann sowohl eine Korrektur der privatwirtschaftlichen Tätigkeiten durch eine Veränderung der für die Privaten maßgeblichen Rahmenbedingungen (bspw. durch den Erlaß und die Durchsetzung produktionstechnischer Auflagen, die dem Schutz der Umwelt und der Sicherheit der Arbeitskräfte dienen) als auch eine Substitution privatwirtschaftlicher durch staatliche Tätigkeiten (z.B. durch die Errichtung eines ländlichen Grunderziehungssystems) enthalten. Dabei genügt es in vielen Fällen, wenn der Staat den Auftrag zur Bereitstellung der betroffenen Güter an privatwirtschaftlich organisierte Betriebe erteilt und die Bereitstellung bezahlt. Viele tatsächliche Staatseingriffe in den Marktmechanismus lassen sich aber nicht auf diese Weise rechtfertigen, sondern sind entweder Ausdruck unzureichender Kenntnisse gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge oder politischer Entscheidungen, die trotz ihrer ökonomisch fragwürdigen Wirkungen getroffen werden sollen. Allerdings werden häufig die falschen Instrumente zur Beeinflussung der Marktprozesse und -ergebnisse eingesetzt, wie das Beispiel der Nahrungsmittelsubventionen belegt: Von Nahrungsmittelsubventionen profitiert - wie die bisherigen Erfahrungen belegt haben - vielfach eine große Zahl von Nicht-Armen, die im Prinzip keine derartige Unterstützung benötigen. Insofern sind Nahrungsmittelsubventionen verteilungs- (und entwicklungs-) politisch fragwürdig. Noch problematischer ist der Ansatz, geringe Nahrungsmittelpreise über relativ niedrig angesetzte Höchstpreise zu erreichen. Eine solche
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Politik löst über die von ihnen ausgehenden negativen Erlöserwartungen deutlich negative Produktionsanreize aus, von denen besonders häufig landwirtschaftliche Kleinanbieter (die in vielen Fällen selbst zur Gruppe der absolut Armen zählen) betroffen sind. Statt dessen sollten bestehende Preisverzerrungen abgebaut und ein System relativer Preise etabliert werden, welches die tatsächlichen Knappheiten in den betrachteten Ländern widerspiegelt. Die beabsichtigte Unterstützung der Armen ist über direkte Einkommenstransfers an ausgewählte Zielgruppen anzustreben, d.h. über sozialpolitische Maßnahmen, die in den meisten Fällen trotz eventuell höherer Verwaltungskosten einer preispolitischen Intervention vorzuziehen sind. (2) Ferner muß dafür Sorge getragen werden, daß die Marktinterventionen des Staates keine negativen Rückwirkungen auf die Funktionsfähigkeit der privatwirtschaftlich organisierten Märkte auslösen. Auf vielen Märkten haben staatliche Institutionen (Bürokratien, aber auch öffentliche Unternehmungen) die Position eines Angebots- oder Nachfragemonopolisten inne. Bspw. sind staatliche Bürokratien für weite Teile der Bauwirtschaft Nachfragemonopolist, für die Nutzer der ausschließlich von öffentlichen Unternehmungen bereitgestellten Güter dagegen Angebotsmonopolist. Um so wichtiger ist dann eine Politik, die nicht Monopolpositionen auf der Marktgegenseite stützt, sondern die vom Staat monopolistisch beherrschten Märkte einer Vielzahl von Privaten öffnet. Dadurch können vor allem für solche Wirtschaftszweige, in denen viele Arme beschäftigt sind - wie die kleinbäuerliche Landwirtschaft und der informelle Sektor -, wirtschaftliche Tätigkeitsfelder geöffnet und/oder erweitert werden, von denen die Armen profitieren. Es wird m.a.W. eine stärker an den Armutsgruppen ausgerichtete, ihre Belange besser berücksichtigende zielgruppenorientierte Wettbewerbspolitik benötigt. (3) Für alle hier angeführten Handlungsfelder ist die Frage der institutionellen Grundlagen von entscheidender Bedeutung, wobei vor allem die Errichtung sowie Stärkung der Funktionsfahigkeit umsetzungsbezogener Institutionen im Vordergrund stehen sollte. Als solche Institutionen gelten zum einen Organisationen, welche über die erforderliche fachliche Kompetenz und politische Rückendeckung verfugen, um die notwendigen Entscheidungen fällen und umsetzen zu können; zum anderen bedarf es entsprechender gesetzlicher Zuständigkeiten. So muß bspw. eine gesetzliche Rahmenordnung die Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus gewährleisten und gleichzeitig mögliche negative Auswirkungen dieses Mechanismus (z.B. durch Machtkonzentrationen) verhindern. Dies erfordert neben der Schaffung der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen die Errichtung einer funktionsfähigen wettbewerbspolitischen Kontrollinstanz, der sich alle Marktteilnehmer zu unterwerfen haben. Gerade angesichts der Tatsache, daß auf vielen Märkten Machtstrukturen existieren, deren Stoßrichtung sich gegen die Armen richtet, muß speziell versucht werden, die machtpolitische Basis der Armen zu stärken. Dies setzt in Einzelfällen die Zerschlagung der bestehenden Machtpositionen, in anderen Fällen die Errichtung und Förderung gegengerichteter Marktmacht voraus. Dazu gehört auch der systematische Verzicht auf eine administrative und steuerpolitische Diskriminierung jener informellen Märkte, die häufig das ökonomische Rückgrat der Armen (informeller Sektor als „Ökonomie der Armen") darstellen - eine Forderung, die in vielen Entwicklungsländern eine Kehrtwende der bisherigen Wirt-
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schaftspolitik (selbst wenn diese bisher, zumindest laut offizieller Bekundung, marktwirtschaftlich orientiert war) bedeuten würde. (4) Versucht man, aus dieser Analyse einige entwicklungspolitische Folgerungen abzuleiten, so stößt man auf die (normative) Frage, ob und ggf. in welcher Form und in welchem Ausmaß der Staat in institutionelle Selbstorganisationsprozesse eingreifen soll, um ein möglicherweise vorliegendes Versagen dezentraler Mechanismen zu kompensieren. Die Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus hängt davon ab, inwiefern wirksame Arrangements etabliert werden können, die in der Lage sind, Unsicherheit und Transaktionskosten zu reduzieren. Die entwicklungshemmenden Wirkungen von Informationsasymmetrien, die in der Realität in vielen Bereichen (mehr oder minder ausgeprägt) vorliegen, sind unstrittig; deshalb wurde vorne auch die Informationsbeschaffung und -Verarbeitung in den Rang eines öffentlichen Gutes erhoben. Weitgehende Einigkeit besteht auch im Hinblick auf die Bedeutung sozialer Faktoren, insbesondere moralischer Werte und Normen, die wirksame Handlungsbeschränkungen in institutionalisierter Form darstellen (können). Die zentrale politische Frage besteht darin, ob Selbstorganisationskräfte ohne die ordnende Hand des Staates in der Lage sind, die soziale und ökonomische Interaktion von Individuen durch die schrittweise Etablierung von Institutionen so zu strukturieren, daß durch die Senkung von Transaktionskosten ein positiver Entwicklungsprozeß ausgelöst, gesichert oder forciert werden kann. Aus beobachtetem Marktversagen darf man dabei aber nicht die Unvollkommenheit politischer Märkte aus den Augen verlieren, um auszuschließen, daß Marktversagen lediglich durch Staatsversagen substituiert wird. Zu den Bestimmungsgrößen möglichen Staatsversagens zählen nicht zuletzt jene Probleme, die aus der Bestimmung der relevanten Zielfunktion (insbesondere der anzustrebenden personellen Verteilungsstrukturen) sowie aus beobachtbaren principal-agent-Phänomenen staatlicher Bürokratien resultieren. (5) Institutionen spielen eine bedeutende und sehr komplexe Rolle im Entwicklungsprozeß. Es genügt nicht, private Eigentumsrechte zu etablieren, ein Vertrags-, Wettbewerbs- und Konkursrecht zu schaffen und freien Handel einfach zuzulassen, um den Marktmechanismus effizient nutzen zu können. Im Gegenteil: Die plötzliche Einfuhrung solcher Regelungen kann - abhängig von der sozialen Akzeptanz - unter Umständen mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Wenn eine verordnete Regel von den Gesellschaftsmitgliedern als unfair empfunden wird, werden diese sich nicht damit abfinden; wenn eine Regel formal erlassen, aber nicht durchgesetzt werden kann, so daß die einzelnen Marktteilehmer keine reziproken Verhaltenserwartungen haben, gilt sie nicht mehr als gesamtwirtschaftlich relevante Institution. Statt die Transaktionskosten zu senken und Unsicherheit abzubauen, kann sie sogar zusätzliche Verzerrungen und Transaktionskosten hervorrufen. 2 0 Die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen ökonomischen und sozialen Institutionen, sollte folglich bei interkulturellen Vergleichen der ökonomischen Bedeutung von Institutionen ebenso wenig vergessen werden wie die Tatsache, daß Institutionen im Zuge des Entwicklungsprozesses
Wohin eine radikale Liberalisierungspolitik ohne adäquate institutionelle Grundlage führen kann - insbesondere welche gravierenden Armutssteigerungen von ihr ausgehen können -, zeigt deutlich der russische Transformationsprozeß. (vgl. Mroz und Popkin 1995/96, S. 1 ff.).
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einem ständigen Wandel unterworfen sind (bzw. sein müssen, w e n n sie ihre gestaltende Kraft beibehalten sollen). 2 1 (6) A l l e hier vorgebrachten Überlegungen machen schließlich deutlich, daß Armutsbekämpfung ohne Rückgriff auf Transfermechanismen, d.h. ausschließlich auf der Basis der Leistungseinkommenserzielung, illusorisch ist. Sicherlich kann durch die richtige institutionelle Flankierung des Marktmechanismus das Ausmaß der Armut in einem Lande zum Teil drastisch reduziert werden. Eine Überflüssigkeit von sozialen Sicherungssystemen auf der Basis von Transfermechanismen darf daraus aber nicht abgeleitet werden: Ein solche Schlußfolgerung wäre eindeutig falsch. D i e Diskussion sozialer Transfermechanismen würde aber den Rahmen meiner Themenstellung sprengen; sie muß an anderer Stelle erfolgen.
Literatur Harham, V. u. a. (1995), Education and the Poverty Trap, in: European Economic Review, Band 39. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Hrsg.) (1992), Hauptelemente der Armutsbekämpfung, Bonn. Clapham, R. (1993), Umwelt- und Ressourcenschutz durch die Gestaltung von Property Rights in Entwicklungsländern, in: Sautter, Η. (Hrsg.), Umweltschutz und Entwicklungspolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Band 226, Berlin. Eisner, W. (1987), Institutionen und ökonomische Institutionentheorie - Begriffe, Fragestellungen, theoriegeschichtliche Ansätze, in: WiSt - Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Band 16, Nr. 1. Goldsmith, A.A. (1995), The State, the Market and Economic Development: A Second Look at Adam Smith in Theory and Practice, in: Development and Change, Band 26. Hemmer, H.-R. (1988), Wirtschaftsprobleme der Entwicklungsländer: Eine Einführung, 2. Auflage, München. Hemmer, H.-R. (1995), Zur Problematik der Massenarmut in Entwicklungsländern: Der Zusammenhang zwischen der Mikro- und der Makroebene, Entwicklungsökonomische Diskussionsbeiträge/Discussion Papers in Development Economics Nr. 17, Gießen. International Labour Office (Hrsg.) (1976), Employment, Growth and Basic Needs: A OneWorld-Problem, Geneva. Krüsselberg, H.-G. (1984), Wohlfahrt und Institutionen: Betrachtungen zur Systemkonzeption im Werk von Adam Smith, in: Kaufmann, F.-X. und H.-G. Krüsselberg (Hrsg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt und New York. Mroz, Τ. A. und Β. M. Popkin (1995/96), Poverty and the Economic Transition in the Russian Federation, in: Economic Development and Cultural Change, Band 44. North, D. C. (1981), Structure and Change in Economic History, New York (deutsche Übersetzung: Theorie des institutionellen Wandels: Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988).
Mit dieser Frage hat sich vor allem North befaßt. (vgl. bspw. North
1981).
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Institutionen und Armut in
Entwicklungsländern
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North, D. C. (1990), Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge (Mass.) (deutsche Übersetzung: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992). Pritzl, R. F. (1995), Property Rights, Rechtsunsicherheit und Rent-Seeking in Entwicklungsländern, in: LIST FORUM für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 21. Wolff, J. H. (1995), Armut, Entwicklung und Entwicklungspolitik: Ein Tabubruch, in: Steinbach, U. und V. Nienhaus (Hrsg.), Entwicklungszusammenarbeit in Kultur, Recht und Wirtschaft, Festgabe für V. Köhler zum 65. Geburtstag, Opladen.
S. Paraskewopoulos (Hg.): Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung • Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 53 • Stuttgart • 1997.
Autokratie versus Demokratie: Die politischen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung Ingo Pies
1. Autokratie versus Demokratie? - Ergebnisse empirischer Forschung
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2. Autokratie versus Demokratie: Ergebnisse theoretischer Forschung
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3. Autokratie versus Demokratie: Ein heuristisches Modell
53
4. Autokratie versus Demokratie: Definition und Ausblick
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Literatur
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I. Pies
„Individual rights and freedoms are often regarded as morally desirable but costly to economic performance - as a luxury that the less-developed countries, or countries in especially difficult situations, may need to do without. This error is as tragic as it is commonplace." Mancur Olson (1992, S. 66). Wie so viele Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, fand auch die internationale (wirtschafts-)politische Auseinandersetzung im Zeichen der Sozialismusdebatte statt, die das 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt hat. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand der Systemwettbewerb zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft. Vor diesem Hintergrund fiel es der ökonomischen Politikberatung nicht schwer, sich im ideologischen Streit klug zu positionieren: Die theoretischen und empirischen Argumente zugunsten der Marktwirtschaft waren und sind so überwältigend, daß man guten Gewissens, d.h. unter durchgängiger Wahrung wissenschaftlicher Seriositätsstandards, eindeutig Stellung beziehen konnte. Das ökonomische Plädoyer für die Marktwirtschaft war ein wissenschaftlich fundiertes Plädoyer. Diese für die ökonomische Politikberatung komfortable Lage hat sich spätestens durch die internationale Entwicklung nach 1989 drastisch geändert. Die politische Praxis hat mit dem ökonomischen Erkenntnisstand gleichgezogen. Der Systemwettbewerb um die geeignetere Wirtschaftsordnung gilt als entschieden. Das Projekt einer Marktwirtschaft ist nicht mehr prinzipiell umstritten. Umstritten ist lediglich, welche politische Ordnung am besten geeignet ist, eine marktwirtschaftliche Ordnung herbeizufuhren und auf Dauer erfolgreich zu stabilisieren. Abb. 1 kann dabei helfen, die neue Lage zu verdeutlichen. Abbildung 1 Marktwirtschaft
Planwirtschaft
Demokratie
I
II
Autokratie
IV
III
Die reichen Gesellschaften der westlichen Zivilisation sind dem ersten Quadranten zuzuordnen. Typische Beispiele hierfür sind die USA und Großbritannien. Den extremen Gegensatz hierzu stellen die autokratischen Planwirtschaften des dritten Quadranten dar. Typische Beispiele hierfür sind die Sowjetunion unter Stalin sowie China unter Mao. In den letzten Jahren haben die dem vierten Quadranten entsprechenden marktwirtschaftlich orientierten Autokratien viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Typische Beispiele hierfür sind neben Chile einige wirtschaftlich erfolgreiche Länder Ostasiens, namentlich Singapur, Südkorea und Taiwan. Abgesehen vom Sonderfall der Kriegswirtschaft fallt es allerdings schwer, Beispiele für Länder zu finden, die dem zweiten Quadranten zu-
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versus
Demokratie
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zuordnen sind. Man kann in dieser Schwierigkeit einen empirischen Hinweis auf die Unvereinbarkeit von Planwirtschaft und Demokratie sehen.1 Die Entwicklung der letzten Jahre ist eindeutig gekennzeichnet durch eine Neuorientierung von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft. Die „horizontale" Dimension wird also zunehmend unstrittig. Strittig hingegen ist die „vertikale" Dimension. Es herrscht große Unklarheit, inwiefern man Ländern, die sich um wirtschaftliche Entwicklung bemühen, zu einer Transformation - d.h. zur Simultanreform sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen Ordnung - raten kann. Die theoretischen und empirischen Evidenzen zugunsten der Demokratie sind weitaus weniger eindeutig als die Evidenzen zugunsten der Marktwirtschaft.2 Die Schwerpunktverlagerung der Auseinandersetzung von der horizontalen auf die vertikale Dimension, von den wirtschaftlichen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung zu den politischen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung, stellt daher eine große Herausforderung für die ökonomische Politikberatung dar. Will sie im ideologischen Streit wissenschaftlich seriös bleiben, muß sie sich vorschneller Antworten enthalten und stattt dessen theoretische und empirische Forschungen forcieren, um überhaupt erst jene positiven Erkenntnisse zu produzieren, auf deren Grundlage eine wissenschaftliche Politikberatung konstitutiv angewiesen ist. Die folgenden Ausführungen versuchen, auf diese neue Lage zu reagieren. Abschnitt 1 gibt einen Überblick über die bisher vorliegenden Ergebnisse empirischer Forschung. Abschnitt 2 resümiert Ergebnisse theoretischer Forschung. Abschnitt 3 präsentiert ein heuristisches Modell, das dabei helfen kann, sich über die relevanten Fragestellungen und über die hierfür geeigneten theoretischen Kategorien intellektuelle Klarheit zu verschaffen. Abschnitt 4 skizziert einige Folgerungen für die Ausrichtung der Forschungsanstrengungen politischer Ökonomik.
1. Autokratie versus Demokratie? - Ergebnisse empirischer Forschung Nach ersten Anläufen in den 60er und 70er Jahren, wurde in den 80er Jahren eine ganze Reihe empirischer Studien durchgeführt, die der Frage nachgehen, inwiefern es einen statistisch signifikanten Zusammenhang gibt zwischen der Art des politischen Regimes auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Wachstumsrate auf der anderen Seite.3 Ökonometrisch sind diese Untersuchungen i.d.R. als Regressionsanalysen für einen Länderquerschnitt angelegt: Die Länder werden - mit oder ohne weitere Abstufungen - in die Kategorien „Demokratie" oder „Autokratie" eingeteilt, und darauf aufbauend wird über einen längeren Zeitraum hin untersucht, inwiefern diese beiden Ländergruppen unterschiedliche Wachstumserfolge zu verzeichnen haben. Eine solche Unvereinbarkeit ist ein Leitmotiv der Schriften von Hayeks (1944, 1994), (1960, 1991). Würde man einen Pfeil vom zweiten zum dritten Quadranten zeichnen, so hätte man eine zutreffende Repräsentation dessen, wovor von Hayek als "Weg zur Knechtschaft" gewarnt hat. Man denke etwa an die unterschiedlichen - und unterschiedlich erfolgreichen - Strategien, die China unter Deng Xiaoping und die Sowjetunion unter Gorbatschow in den 80er Jahren verfolgt haben. Vgl. hierzu die Überblicksartikel von Sirowy und Inkeles (1991) sowie von Przeworski und Limongi (1993), mit den entsprechenden Literaturhinweisen.
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Das einzige, was sich über diese Forschungsrichtung mit eindeutiger Sicherheit aussagen läßt, ist, daß sie zu keinem eindeutigen Ergebnis fuhrt. In ihrem Überblicksartikel kommen Przeworski und Limongi (1993, S. 60) zu dem Schluß, daß von 21 Analysen 8 einen signifikanten Wachstumsvorteil demokratischer Regimes und ebenfalls 8 einen signifikanten Vorteil autokratischer Regimes ausweisen, während 5 weder der Demokratie noch der Autokratie einen signifikanten Einfluß auf die Wachstumsrate bescheinigen. 4 Dieses Resultat mag überraschen, j a sogar enttäuschen, aber zum Trost gilt hier wie so oft: Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis. Die offensichtliche Tatsache, daß diese empirischen Studien - trotz beträchtlicher Anstrengungen - „mixed evidence" produzieren, läßt darauf schließen, daß die Fragestellung und die gewählte Methode, um die Fragestellung zu bearbeiten, nicht recht zusammenpassen. Eine solche Perspektive rückt zwei mögliche Reaktionen ins Blickfeld. Man kann versuchen, entweder die Methode oder die Fragestellung zu korrigieren. Hinsichtlich der Methode machen Przeworski und Limongi (1992, 1993) geltend, daß die in der Literatur verwendeten regressionsanalytischen Verfahren prinzipiell ungeeignet sind, mit dem Problem endogener Selektion fertigzuwerden. Eine solche endogene Selektion liegt vor, wenn die wirtschaftliche Wachstumsrate einen Einfluß auf die Wahl des politischen Regimes ausübt. In diesem Fall kommt es zu einer Umkehrung der ursprünglich unterstellten Kausalität. Anstatt die Wachstumsrate zu erklären, wird das politische Regime durch die Wachstumsrate erklärt. Beispielsweise könnte man annehmen, daß eine Autokratie nur bei hohen Wachstumsraten überlebt und durch ein demokratisches Regime ersetzt wird, sobald die Wachstumsrate nachläßt. Unterstellt man ferner eine Tendenz zu wirtschaftlicher Konvergenz, so führt dies unmittelbar zu dem Ergebnis, daß Länder mit niedrigem wirtschaftlichem Niveau, aber hohen Wachstumsraten autokratisch regiert werden, während Länder mit hohem wirtschaftlichen Niveau und niedrigen Wachstumsraten demokratisch regiert werden. In der Tat können die beiden Autoren nachweisen, daß sich mit Simulationsdaten, die unter der Annahme erstellt wurden, die politischen Regimes seien nicht Ursache, sondern Auswirkung wirtschaftlichen Wachstums, exakt jenes Muster reproduzieren läßt, das Regressionsanalysen (fälschlicherweise) als einen signifikanten Kausalitätseffekt ausweisen. 5 Allerdings ist festzuhalten - darauf machen Przeworski und Limongi (1993, S. 64) selbst aufmerksam -, daß es nicht leicht ist, dieser Methodenkritik eine entsprechende Methodenkorrektur folgen zu lassen: Während die üblichen
Von den 13 Studien, die Sirowy und Inkeles evaluieren, weisen 3 einen eindeutig negativen Effekt demokratischer Regimes auf wirtschaftliches Wachstum aus, 6 können keinen signifikanten Einfluß feststellen, und die restlichen 4 kommen zu Ergebnissen, deren Gültigkeit stark eingeschränkt ist. Angesichts dieser "inconclusive results" ziehen Sirowy und Inkeles (1991, S. 136) folgendes Fazit: "[OJverall, these studies present a very mixed and confusing picture with regard to the effect of democracy on economic growth." Zu einer ähnlichen Einschätzung empirischer Forschungsergebnisse kommt auch die ausfuhrliche, politikwissenschaftlich ausgerichtete Literaturstudie von Erdmann (1995, S. 1-40). Auf S. 38 heißt es dort, den empirischen Erkenntnisstand zusammenfassend: "Wir wissen nichts Genaues über den Zusammenhang von Demokratie und Entwicklung." Przeworski und Limongi (1993, S. 63 f.): "It is the difference in the way regimes are selected - the probabilities of survival conditional on growth - that generate the observed difference in growth rates. Hence, this difference is due entirely to selection bias."
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versus
Demokratie
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Regressionstechniken zu verzerrten Ergebnissen fuhren, weisen ökonometrische Testverfahren, die auf Selektionsmodellen basieren, die notorische Eigenschaft auf, nicht robust zu sein: „Selection models turn out to be exceedingly sensitive: minor modifications of the equation that specifies how regimes survive can affect the signs in the equations that explain growth." Vor diesem Hintergrund ist es von besonderem Interesse, daß auch die den Tests zugrundegelegte Fragestellung einer eingehenden Kritik unterzogen worden ist. Möglicherweise - so wird argumentiert - ist die dichotome Unterscheidung zwischen Autokratie und Demokratie zu unscharf, um den Einfluß politischer Regimes auf das wirtschaftliche Wachstum analytisch einzufangen. Eine solche Diagnose ermöglicht eine ursachenadäquate Therapie, und in der Tat ist seit Ende der 80er Jahre eine entsprechende Neuausrichtung der empirischen Literatur zu beobachten. Länder werden nicht mehr einfach als autokratisch oder demokratisch eingestuft, sondern nach zunehmend fein abgestuften Indizes wirtschaftlicher und politischer Rechte bzw. Freiheiten klassifiziert. Typische Vertreter dieser neuen Richtung sind Scully (1988, 1992), Scully und Slottje (1991), Pourgerami (1988, 1991) sowie Bhalla (1994).6 Diese Studien kommen durchweg zu dem Ergebnis, daß das gesellschaftliche Institutionensystem, operationalisiert durch Indizes wirtschaftlicher und politischer Handlungsrechte, einen signifikanten Einfluß auf das wirtschaftliche Wachstum ausübt. In dem Maße - und nur in dem Maße -, wie eine Demokratie ihren Bürgern vergleichsweise mehr dieser Rechte einräumt, sprechen diese Analysen gegen eine wirtschaftliche Erfolgsträchtigkeit autokratischer Regimes. Die Vorgehensweise und argumentative Stoßrichtung dieser Literatur läßt sich am Beispiel der Studie von Bhalla (1994) besonders anschaulich illustrieren. Auf das Wesentliche reduziert, besteht seine Argumentation aus fünf Schritten. (1) Die zur Förderung des Wirtschaftswachstums wichtigsten Handlungsrechte bzw. Handlungsfreiheiten - Bhalla verwendet beides synonym - sind für ihn das wirtschaftliche Recht auf exklusives Eigentum und das politische Recht, die Regierung abzuwählen. Ersteres versorgt die Marktteilnehmer - insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen Ein wichtiger Wegbereiter der Idee, Länder-Rankings auf Rechts- und Freiheitsindizes zu stützen, ist Raymond Gastil. Für einen Überblick vgl. Gastil (1991). Auf der Basis seiner Arbeiten erstellt Freedom House jährlich einen Index politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten, der in der empirischen Literatur zunehmend Verwendung findet. Natürlich kann man einer solchen Quantifizierung qualitativer Variablen kritisch gegenüberstehen. Unverhältnismäßig jedoch und völlig unhaltbar ist die Auffassung von Nuscheier (1992, S. 272), "[e]ine solche Sorte von Statistik [sei] nicht erkenntnisfordernd, sondern eher kontraproduktiv". Ganz im Gegenteil, handelt es sich bei der empirischen Forschung, die erst aufgrund solcher Indexierungen überhaupt möglich wird, um einen gewaltigen Fortschritt gegenüber jenen vordergründig normativen, postulierenden Positionen, die in der Politikwissenschaft selbst heute noch gelegentlich anzutreffen sind und für die Nuscheier (1992, S. 281) ein typisches Beispiel abgibt, wenn er kategorisch feststellt: "Demokratie und Menschenrechte sind Werte an sich, nicht Bedingungen oder abhängige Variablen von Wirtschaftswachstum." - Für einen Überblick über empirische Konzepte zur Messung von Demokratie vgl. die Beiträge in Inkeles (1991), insbesondere Bollen (1991). Zur besseren Einschätzung dieser Literatur und fur einen Gesamtüberblick über die empirische Wachstumsforschung von Ökonomen vgl. Levine und Renelt (1992).
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mit ökonomischen Handlungsanreizen, letzteres setzt die Regierung unter Druck. Sie weiß, daß ihre Wiederwahl nicht zuletzt von der wirtschaftlichen Lage abhängt und hat daher allen Grund, das Interesse der Bevölkerung an wirtschaftlichem Wachstum in ihrem Machtkalkül angemessen zu berücksichtigen. (2) Für Bhalla ist nun entscheidend, daß man allenfalls eine lose Zuordnung vornehmen kann zwischen dem Ausmaß der Einräumung dieser Rechte auf der einen Seite und dem jeweiligen politischen Regime auf der anderen Seite. Er verweist darauf, daß in einigen Staaten, die „phänotypisch" durchaus als Demokratie zu klassifizieren sind, diese politischen und wirtschaftlichen Rechte drastisch eingeschränkt und verletzt worden sind, beispielsweise durch Notstandsverordnungen, die das Wahlrecht vorübergehend außer Kraft setzen, oder durch exzessive Regulierungen, Preiskontrollen und Verstaatlichungen von Industrien etc. Für Bhalla (1994, S. 10) lautet die unmittelbare Schlußfolgerung: „The high variance of freedoms associated with both democracies and authoritarian regimes means that a measured relationship between democracy and economic growth is likely to be heavily contaminated with error. It is preferable, therefore, to analyze economic growth with respect to important attributes of a 'proper' democracy, i.e. presence of political and economic freedom." (3) Die Verbindung zwischen diesen Rechten und Freiheiten auf der einen Seite und wirtschaftlicher Entwicklung auf der anderen Seite stellt Bhalla (1994, S. 11) wie folgt her: „A developing country has a manna advantage in that it is a late-comer." Arme Länder - so der Kern des Arguments - müssen das Rad nicht neu erfinden; sie können die erfolgreichen Maßnahmen bereits entwickelter Länder nachahmen. Damit wird ihre Entwicklung zu einem Problem des Wissens, genauer: zu einem Anreizproblem, Wissen zu erwerben und produktiven Gebrauch davon zu machen, und die Lösung dieses Anreizproblems hängt ab von der institutionellen Ausgestaltung der entsprechenden Rechte und Freiheiten. Bhalla (1994, S. 12 und 14): „Thus, there is a synergistic effect between education and economic freedom. The two together allow a country to achieve convergence at a faster pace, i.e. higher relative growth. ... [A] free society can help allocate resources more efficiently than a non-free society." Genau so, wie die Ausgestaltung wirtschaftlicher Rechte die Marktakteure zu produktiven Verhaltenskorrekturen anhält, sorgen politische Rechte für politisches Lernen. Die Wahlurne sowie ein funktionierendes Presseund Gerichtswesen sind für Bhalla (Rückkopplungs-)Mechanismen zur Korrektur politischer Fehler. Folglich sind es die durch politische und wirtschaftliche Rechte institutionell festgelegten Handlungsanreize, von denen Fortschritte im Aufholprozeß wirtschaftlicher Entwicklung abhängen. (4) Zur Operationalisierung des institutionellen Einflusses auf die wirtschaftliche Entwicklung verwendet Bhalla u.a. die folgenden Indizes: erstens einen auf Gastil (1987) zurückgehenden Index politischer Bürgerrechte, der seit 1973 jährlich erstellt wird und jedem Land - je nach Menschensrechtslage usw. - einen Wert zwischen 1 und 7 zuordnet; zweitens einen wirtschaftlichen Länderindex fur den Offenheitsgrad der einheimischen Gütermärkte, beruhend auf einem Vergleich der einheimischen Preise und der Weltmarktpreise für handelbare Güter; drittens einen wirtschaftlichen Länderindex fur die Integration in den globalen Kapitalmarkt, beruhend auf einem Vergleich des offiziellen Wechselkurses mit den Schwarzmarktkursen, für die mittlerweile auch jährliche Statistiken
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verfügbar sind. Die wirtschaftliche Entwicklung wird gemessen anhand zweier Indizes für das Wachstum des wirtschaftlichen Pro-Kopf-Einkommens, eines Index' für das Wachstum der volkswirtschaftlichen Faktorproduktivität und anhand zwei sozialer Indizes, die die Verminderung der Kindersterblichkeitsrate und das prozentuale Wachstum höherer Schulbildung messen. (5) Den empirischen Tests werden die Daten von 90 Ländern fur die Zeit von 1973 bis 1990 zugrundegelegt. Getestet werden verschiedene Spezifizierungen der vermuteten Ursache-Wirkungs-Kette. Die Schätzungen werden mit zwei alternativen Verfahren vorgenommen und verschiedenen Sensitivitätsanalysen unterzogen. Das Ergebnis ist robust und eindeutig: Sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen Rechte haben einen signifikant positiven Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung, und auch die unterstellte Konvergenz läßt sich nachweisen: Die unterentwickelten Länder holen auf, und zwar um so schneller, je ausgiebiger sie ihren Bürgern wirtschaftliche und politische Rechte einräumen. Neben ihrer besonderen Eignung zu Illustrationszwecken ist die hier resümierte Studie von Bhalla aus zwei weiteren Gründen besonders interessant. Zum einen wirft sie neues Licht auf die Debatte um die sog. „neue Wachstumstheorie", die steigenden Skalenerträgen bei Humankapitalinvestitionen und positiven Bildungsextemalitäten eine wichtige Rolle zur Erklärung wirtschaftlichen Wachstums beimißt. Bhallas Studie kann diese Effekte nur bedingt nachweisen und legt den Schluß nahe - so Bhalla (1994, S. 36) -, daß hinter den vermuteten Bildungsextemalitäten in Wirklichkeit institutionelle Einflüsse stecken, die die „neue Wachstumstheorie" übersieht. Zum anderen wirft die Studie neues Licht auf den Sonderfall der sechs Länder China, Taiwan, Hong Kong, Japan, Singapur und Südkorea, deren wirtschaftliche Entwicklung - gekennzeichnet durch spektakuläre Wachstumsraten während der letzten 30 Jahre - in der gesamten Diskussion zu zahlreichen Verwirrungen Anlaß gegeben hat. Aus diesem Grund sei die Argumentation von Bhalla (1994, S. 24 f. und S. 28-34) kurz wiedergegeben.7 Fakt ist, daß die durchschnittliche Sparrate in diesen Ländern zwischen 1973 und 1987 über 28 Prozent lag, die Wachstumsrate zwischen 1960 und 1990 bei über 5,5 Prozent. Fakt ist auch, daß mit Ausnahme von Hong Kong und Japan die besonders erfolgreichen Aufholländer Ostasiens während des Untersuchungszeitraums durch autokratische Regimes gekennzeichnet waren. Daraus könne man jedoch nicht schließen, das politische Regime einer Autokratie sei generell wachstumsfördernd. Einem solchen Schluß stehe vielmehr folgendes Argument im Weg: Für Bhalla waren die Regimes in diesen Ländern nicht generell freiheitsfeindlich, sondern zeichneten sich durch eine Kombination relativ geringer politischer und relativ großzügig bemessener wirtschaftlicher Freiheiten aus. Es sei gerade diese Kombination, durch die sich die erfolgreichen Autokratien von anderen unterschieden hätten, was am Beispiel des Vergleichs von Süd- und Nord-Korea augenfällig werde oder beim Vergleich mit den autokratisch regierten afrikanischen Ländern südlich der Sahara, deren Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 1973 und 1990 -0,1 Prozent betrug. Für Bhalla zwingen insbesondere auch die chinesischen Erfahrungen zu einer differenzierteren Betrachtung. Vor dem Reformjahr 1978 wuchs die WirtFür eine ausführlichere Analyse vgl. World Bank (1993), insbesondere Kapitel 2 und 4.
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schaft seit 1960 mit durchschnittlich 4 Prozent, von 1978 bis 1991 wuchs sie mit durchschnittlich 8,4 Prozent pro Jahr. Für Bhalla (1994, S. 34, Fn. 23) bedeutet das: ,,[T]he Chinese experience is supportive of arguments which state that economic freedom and political freedom are important positive growth contributors." Als Fazit bleibt festzuhalten, daß die empirische Forschung der letzten Jahre beträchtliche Fortschritte auf dem Weg zu einem besseren Verständnis der politischen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung verzeichnen kann. Durch den Wechsel der ursprünglichen Fragestellung und das Abgehen von einer dichotomen Klassifizierung verschiedenster Regierungen als „autokratisch" oder „demokratisch" ist es gelungen, institutionelle Einflußfaktoren zu identifizieren, die wirtschaftliches Wachstum fördern. Vieles spricht dafür, daß dieser Weg auch in Zukunft erfolgreich weiter beschritten werden wird. Insgesamt ist zu erwarten, daß kontinuierliche Bemühungen um verbesserte Indizes und Datensammlungen einen kumulierten Erkenntnisfortschritt ermöglichen, der dazu beiträgt, die eingangs skizzierte Wissenslücke allmählich zu füllen und auf diese Weise ökonomischer Politikberatung ein sichere(re)s Fundament zu verschaffen. Dennoch bleiben offene Fragen. Mit der Betonung von Rechten und Freiheiten betritt die empirische Forschung (institutionen-)ökonomisch vertrautes Gelände, doch läßt sie gerade dadurch die Wirkungsweise der politischen Regimes unterbelichtet. Was genau hat man sich unter einer „proper democracy" vorzustellen, und worin unterscheidet sie sich von einer „proper autocracy"? Diese Fragen sind konstitutiv wichtig für ein besseres Verständnis der politischen Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung. Sie lassen sich jedoch nicht durch empirische, sondern nur durch theoretische Forschung beantworten.8
2. Autokratie versus Demokratie: Ergebnisse theoretischer Forschung Bei Sichtung der einschlägigen Literatur fällt auf, daß sich zwei Ansätze unterscheiden lassen. Den Mainstream bilden die frühe Pionierarbeit von Tullock (1974) und die sich hieran anschließenden Beiträge, vor allem die Beiträge seiner Schüler. Es handelt sich um orthodox public-choice-orientierte Studien, bei denen der mikroökonomische Kalkül des
Ähnliches gilt für die Frage nach den Transmissionsmechanismen, durch die Rechte und vor allem Freiheiten - beides ist schließlich nicht dasselbe - die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen. Auch hier dürften theoretische Differenzierungen angebracht sein. Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob Gewerbefreiheit zugleich auch Kartellfreiheit bedeutet. In jedem Fall dürfte es sich bei der Generalisierung, die Einräumung möglichst weitreichender Freiheiten sei gut für die wirtschaftliche Entwicklung, um eine unzulässige Trivialisierung handeln. In der modernen Gesellschaft sind unterschiedliche Freiheiten unterschiedlich funktional. Deshalb bestehen politische Probleme oft gerade darin, konkurrierende Freiheitsansprüche ausgleichen zu müssen. In dieser Hinsicht sind Freiheiten und Rechte ähnlich. Man denke etwa an die Konkurrenz zwischen den Rechtsansprüchen auf Umweltschutz und den Rechtsansprüchen derer, in deren traditionelle Property Rights dann eingegriffen werden muß. Diese Überlegungen deuten darauf hin, daß nicht nur die Quantität, sondern sicherlich auch die Qualität von Rechten und Freiheiten eine zentrale Rolle spielt, also die - für diese Literatur bislang noch offene Frage nach dem Prozeß, der Rechte und Freiheiten generiert und hierbei (notwendig) auftretende Konflikte ausgleicht.
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Autokraten im Vordergrund steht.9 Diese Literatur hat durchaus zu interessanten Thesen10 und Einsichten geführt. Beispielsweise macht sie darauf aufmerksam, daß das Verhalten eines Autokraten von seinem Zeithorizont abhängt, und rückt damit das - in Autokratien notorisch ungelöste - Problem einer geregelten Nachfolge ins Blickfeld. Weiterfuhrende Einsichten sind jedoch eher dem - wie üblich - unorthodoxen Ansatz von Mancur Olson zu verdanken, der in den 90er Jahren eine Reihe von einschlägigen Aufsätzen vorgelegt hat" Auch Olsons Analysen basieren auf mikroökonomischen Kalkülen. Unorthodox - und nur dies macht den eigentlichen Unterschied aus - ist die gesellschaftstheoretische Perspektive, die seinen Untersuchungen die Fragestellung und damit die Richtung vorgibt. Gerade dieser gesellschaftstheoretische Ansatz erhöht die Produktivität der ökonomischen Untersuchungsmethode und führt zu interessanten und neuen Einsichten.12 Dies sei im folgenden an zwei Punkten belegt: Olsons Herangehensweise ermöglicht einen expliziten Vergleich von Autokratie und Demokratie, und sie wirft neues Licht auf das Phänomen der Planwirtschaft. (1) Olson entwickelt eine Stufentheorie staatlicher Herrschaft. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß sowohl wirtschaftliche als auch politische Leistungen von Anreizen abhängen, und daß diese Anreize durch Eigentumsrechte gesetzt werden. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Olson drei politische Regimes: die Anarchie, die Autokratie und die Demokratie, (a) Kennzeichen der Anarchie ist eine ruinöse (politische) Konkurrenz, illustriert am Beispiel marodierender Räuberbanden im China der 20er Jahre dieses Jahrhunderts. Olson (1993a, S. 567) spricht von „uncoordinated competitive theft by roving 'bandits'". Solche Räuberbanden, die davon leben, Bauern und Händler zu enteignen, (zer-)stören deren Eigentumsrechte und damit die wirtschaftlichen Anreize zu gesellschaftlicher Produktivität, (b) Kennzeichen der Autokratie ist ein (politisches) Monopol, illustriert am Beispiel seßhafter Räuber, deren territoriale Herrschaft die ruinöse Konkurrenz abschafft und durch verläßliche, erwartungssichere Ausbeutungsverhältnisse ersetzt. Olson (1993a, S. 567) sieht im Autokraten einen „'stationary bandit" who monopolizes and rationalizes theft in the form of taxes". Autokraten leben davon, die Bevölkerung dauerhaft auszubeuten. Deshalb ist der Übergang von Anarchie zu Autokratie damit verbunden, maximale Ausbeutung durch optimale Ausbeutung zu ersetzen. Bildlich gesprochen, füttert der Autokrat die Kuh, bevor er sie melkt.13 (c) Kennzeichen der Demokratie ist (politischer) Wettbewerb, d.h. ein Verfahren, das die Regierungsgewalt an mehrheitliche Bürgerzustimmung koppelt. In einem solchen System sind der Ausbeutung noch wesentlich engere Grenzen gesetzt als in der Autokratie. Selbst wenn auch hier durchgän9 10 11 12
13
Für einen Überblick vgl. Lamberti (1990). Vgl. etwa Bloch (1986). Vgl. Murrel und Olson (1991) sowie Olson (1991, 1992, 1993aund 1993b). Diese These kann hier nur genannt, nicht aber eingelöst werden. Für Anschauungsmaterial vgl. jedoch die Schriftenreihe "Konzepte der Gesellschaftstheorie", Pies und Leschke (1995, 1996). Auch die abschließenden Bemerkungen in Abschnitt 4 kommen auf diese These zurück. Oder in den Worten von Olson (1993a, S. 569): "[A] stationary bandit... is not like the wolf that preys on the elk, but more like the rancher who makes sure that his cattle are protected and given water."
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gig eigeninteressierte Akteure unterstellt werden, müssen die Kandidaten oder Parteien um die Zustimmung der Wähler werben und können daher ihr eigenes Wohl nur dadurch fördern, daß sie das Wohl der Bevölkerung zumindest teilweise mit berücksichtigen. Für Olson ist der entscheidende Unterschied zwischen den drei Regimes institutioneller Natur. Er besteht in der Qualität politischer Eigentumsrechte, (a) In der Anarchie haben Herrscher ungesicherte Eigentumsrechte. Von einer solchen Konstellation gehen starke Konsum-, nicht jedoch Investitionsanreize aus. Solche Herrscher haben kein umfassendes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft, weil sie sich die Erträge von Investitionen in dieses Wohlergehen nur unzulänglich aneignen können. Würde sich einer bei der Ausbeutung der Bevölkerung zurückhalten, so käme dies einem positiven externen Effekt gleich, von dem vor allem seine Konkurrenten profitierten, die um so größere Beute machen könnten. Die Folge ist politisches Trittbrettfahren, (b) In dem Maße, wie es einem Autokraten gelingt, politische Konkurrenz auszuschalten, herrschen sichere Eigentumsrechte. Im Vergleich zur Anarchie sind also in der Autokratie positive externe Effekte internalisiert. Der Autokrat kann sich die Erträge aus Investitionen in die Produktivität der Gesellschaft aneignen, weil diese Gesellschaft ihm quasi gehört. Als Monopolist hat er ein wesentlich umfassenderes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft. Er nimmt nicht nur, er gibt auch; allerdings gibt er nur, um letztlich mehr nehmen zu können. Aber immerhin: Ein Autokrat sorgt mit seinem Gewaltmonopol für öffentliche Ordnung, und darüber hinaus stellt er weitere öffentliche Güter bereit, und zwar so lange, bis aus seiner individuellen Sicht Grenznutzen und Grenzkosten zum Ausgleich gebracht sind, (c) Im Gegensatz zur Autokratie ist die Erwerbung und Ausübung politischer Herrschaft in der Demokratie Regeln unterworfen. Hier sind die Eigentumsrechte der Regierung begrenzt. Regierung und Opposition stehen in einem dauernden Wettbewerb um die Wählergunst, und dieser Wettbewerb nötigt ihnen - analog zum wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Unternehmen - Leistungen ab, von denen die Bürger profitieren. Da jedoch i.d.R. die Mehrheit ausreicht, um Regierungsgewalt zu erlangen, fällt das Interesse einer demokratischen Regierung nicht mit dem umfassenden Interesse aller Bürger zusammen, aber es ist doch signifikant umfassender als das Interesse des Autokraten am Wohlergehen der Gesellschaft. Für Olson wird damit der Begriff des mehr oder weniger „umfassenden Interesses" zum terminus technicus, der den entscheidenden Parameter bezeichnet, von dem die Leistung politischer Regimes abhängt. 14 In der Autokratie ist dieses Interesse umfassender als in der Anarchie, und in der Demokratie ist es umfassender als in der Autokratie. Olsons grundlegende These lautet nun, daß es der Bevölkerung um so besser geht, je umfassender das Interesse der Regierung ist. Für diese These läßt sich folgende Argumentation ins Feld fuhren - vgl. Abb. 2 in Anlehnung an Olson (1991): Ein rationaler, eigeninteressierter Autokrat betreibt Steuermaximierung. Er wählt den Maximalpunkt Β der Laffer-Kurve L a . Die Steuern verwendet er entweder für die Aufrechterhaltung seines Regimes und ein Mindestmaß an weiteren öffentlichen Gütern oder fur eigene Konsumzwecke. Für Olson Der Begriff des "encompassing interest" wurde bereits von Olson (1982, 1985) in die Literatur eingeführt und resultiert aus einer konzeptionellen Weiterentwicklung der Logik kollektiven Handelns. Gerade hierin zeigt sich die gesellschaftstheoretische Stoßrichtung seines Ansatzes.
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besteht der entscheidende Unterschied nun darin, daß in der Autokratie die Umverteilung zugunsten eines einzigen, in der Demokratie hingegen zugunsten der Mehrheit erfolgt. Dieser Unterschied macht sich in zweierlei Weise bemerkbar: zum einen in einer Verlagerung der Lafferkurve nach Nord-Westen (L D ), zum anderen in der Wahl eines Optimalpunkts links vom Maximum. Der zwingende Grund hierfür liegt darin, daß die Mehrheit der Bürger - im Gegensatz zu einem Autokraten - ihr Einkommen nicht nur aus Steuereinnahmen bezieht, d.h. nicht nur als Umverteilungseinkommen, sondern zum Teil auch als Markteinkommen. Deshalb fallen die Wahlentscheidungen der Mehrheit systematisch anders aus als die des Autokraten, der schlicht seine Steuereinnahmen maximiert. Dies betrifft zum einen die Verwendung der Steuern: Abbildung 2
Steueraufkommen A
>- Steuersatz
Anders als ein Autokrat, profitiert die Mehrheit von der Bereitstellung öffentlicher Güter nicht nur indirekt, in Form höherer Steuereinnahmen, die das Umverteilungseinkommen steigen lassen, sondern auch direkt, in Form einer höheren Produktivität ihrer Marktaktivitäten. Dieser Effekt ist für die Verlagerung der Laffer-Kurve auf L D verantwortlich. Zum anderen betrifft der Unterschied die Wahl des Steuersatzes. Gerade weil die Mehrheit nicht nur Umverteilungseinkommen erzielt, sondern auch Markteinkommen, liegt es in ihrem Interesse, das Gesamteinkommen zu maximieren. Ausgehend von Punkt C auf der Laffer-Kurve L D profitiert die Mehrheit, wenn niedrigere Steuersätze gewählt werden, weil den sinkenden Steuereinnahmen zunächst größere Markteinkommen aufgrund geringerer Fehlanreize gegenüberstehen. Aus diesen Überlegungen zieht Olson (1993a, S. 570) folgenden Schluß: „Though both the majority and the autocrat have an encompassing interest in the society because they control tax collections, the majority in addition earns a significant share of the market income of the society, and this gives it a more encompassing interest in the productivity of the society. The majority's interest in its market earnings induces it to redistribute less to itself than an autocrat redistributes to himself." (2) Der Ansatz Olsons zeichnet sich durch eine komparative Analyse institutioneller Arrangements aus und eröffnet damit ein weites Feld für genauere - theoretische und empirische - Detailuntersuchungen, mit denen der skizzierten Fragestellung präziser nachgegangen werden kann. Das Fundament für kumulative Wissensfortschritte scheint gelegt, ein geeignetes Paradigma formuliert. Die Fruchtbarkeit des von Olson gewählten Ansatzes -
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und, damit zusammenhängend, seine Überlegenheit gegenüber der Mainstream-Literatur zeigt sich aber auch noch in einem zweiten Punkt, der hier von Interesse ist: Seine Analyse läßt das Phänomen der Planwirtschaft in neuem Licht erscheinen. Für Olson ist die stalinistische Planwirtschaft nicht das Resultat einer sozialistischen, der Intention nach das Volksinteresse wahrnehmenden Ideologie, sondern das Resultat autokratischer Steuermaximierung und insofern mikroökonomisch rekonstruierbar, nämlich als autokratische Ausbeutung des Volkes. Abbildung 3 Einkommen
Einkommen
Λ
wohlmeinender Diktator
Freizeit
Freizeit nicht-wohlmeinender Diktator
Auf das wesentliche reduziert, beruht diese Rekonstruktion auf der - gesellschaftstheoretisch instruierten - Umkehrung eines orthodoxen finanzwissenschaftlichen Arguments. In Anlehnung an Olson (1993b, S. 14) lassen sich die Überlegungen mit Hilfe von Abb. 3 illustrieren. Orthodoxer Lehrbuchökonomik folgend, werden zunächst eine (proportionale) Einkommensteuer und eine aufkommensgleiche Kopfsteuer verglichen: Ausgehend von einer Situation ohne Steuern, repräsentiert die Steigung der Gerade AB den Bruttolohn und damit die Opportunitätskosten, die die individuelle Wahl zwischen Arbeits- und Freizeit beeinflussen. Das Ausgangsgleichgewicht liege in Punkt P. Die Einfuhrung einer Einkomensteuer führt zu einem niedrigeren Nettolohn, mit der Folge, daß die neue Opportunitätskostengerade AC flacher verläuft. Das neue Gleichgewicht stelle sich in Punkt Q ein. Die Steuereinnahmen betragen QR. Eine aufkommensgleiche Kopfsteuer (lump-sum tax) fuhrt zu der neuen Opportunitätskostenkurve DE. Sie ermöglicht es dem Individuum, eine höhere Indifferenzkurve zu realisieren. Das neue Gleichgewicht stelle sich in Punkt S ein. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen Einkommensteuer und Kopfsteuer entscheiden zu müssen, würde ein wohlmeinender Diktator also die Kopfsteuer wählen, weil sich mit ihr - im Interesse der Bürger - allokative Verzerrungen vermeiden lassen. Wie würde ein nicht-wohlmeinender, eigeninteressierter Diktator: wie würde ein Autokrat wählen? Auch er würde sich für eine Kopfsteuer entscheiden. Allerdings würde er den Allokationsvorteil nicht den Bürgern zugutekommen lassen, sondern sich im Wege höhe-
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rer Steuern selbst aneignen: Unterstellt sei, das Einkommensniveau in Q repräsentiere ein Existenzminimum, so daß es auch fur einen Autokraten nicht ratsam sei, den Bürgern per Steuersystem noch niedrigere Indifferenzkurven aufzuzwingen. Die optimale Kopfsteuer läßt die individuelle Opportunitätskostengerade den Verlauf FG annehmen. Das neue Gleichgewicht liegt bei Punkt T. Die Steuereinnahmen sind maximal und betragen TU. Olsons Argument besteht nun darin, daß es Stalin mit der Einfuhrung der Planwirtschaft gelungen sei, sich selbst mit den nötigen Freiheitsgraden zu versorgen, um ein Einkommensteuersystem faktisch in ein Kopfsteuersystem zu verwandeln: Während sich in einem Rechtsstaat der Grundsatz prinzipieller Gleichheit vor dem Gesetz (rule of law) auch auf das Steuersystem bezieht und damit systematische Diskriminierung ausschließt, sei es Stalin gelungen, mit der planwirtschaftlich simultanen Festlegung der Steuersätze einerseits sowie der Löhne und Gehälter einzelner Berufsgruppen andererseits den individuellen Trade-off zwischen Arbeitszeit und Freizeit in ähnlicher Weise zu beeinflussen wie eine ausbeuterische Kopfsteuer: Die Kombination niedriger Grundlöhne und hoher Prämien fuhrt faktisch zu einer hohen Besteuerung der infra-marginalen Einkommen und zu einer weitgehenden Steuerentlastung der marginalen Einkommen. Nimmt man zu diesen Überlegungen noch den Gedanken hinzu, daß Stalin nicht nur die Faktor-, sondern auch die Güterpreise und damit letztlich die volkswirtschaftliche Spar- und Investitionsquote planwirtschaftlich festlegen konnte, dann wird deutlich, daß sein System darauf beruhte, den Bürgern der Sowjetunion all jene Ausweichstrategien (Trade-offs) zu versperren, mit denen sie sich in einem Rechtsstaat vor steuerlicher Ausbeutung und staatlicher Enteignung zu schützen versuchen würden. Insgesamt führt Olson (1993b, S. 21) den (vorübergehenden) Erfolg des stalinistischen Systems auf planwirtschaftliche Innovationen zurück, die es einem autokratischen Regime ermöglichten, die Anstrengungen der Bürger in bis dahin nie gekannter Weise für eigene Zwecke einzuspannen: „By the time that this system had been perfected, the Soviet Union had more resources for the purposes of the leadership than any other society in history." 15
3. Autokratie versus Demokratie: Ein heuristisches Modell Aufbauend auf Olsons Pionierleistungen, die einen gangbaren Weg zu weiterem Erkenntnisfortschritt markieren, läßt sich die eingangs gestellte Frage wieder aufgreifen: Können westliche Wissenschaftler jenen Ländern - genauer: den Bürgern jener Länder -, die sich um wirtschaftliche Entwicklung bemühen, demokratische Reformen ihres Politiksystems mit dem gleichen guten (Ge-)Wissen empfehlen, mit dem sie für marktwirtschaftliche Reformen plädieren? Und weiter: Was soll die Wissenschaft den westlichen Ländern raten? Sollen sie mit ihrer Außenpolitik wirtschaftliche oder politische Reformen Aufbauend auf dieser positiven Erklärung der stalinistischen Planwirtschaft und ihrer Leistungskraft, entwickeln Murrel und Olson (1991) sowie Olson (1992 und 1993 b) eine gesellschaftstheoretisch instruierte, auf die Logik kollektiven Handelns abstellende Erklärung für den Niedergang des sowjetischen Systems und eine auf diese Erklärung abgestimmte Empfehlung für geeignete Strategien zur Transformation autokratischer Planwirtschaften in demokratische Marktwirtschaften. In auffallendem Kontrast zu diesen ökonomischen Erkenntnisleistungen steht die resignative Einschätzung von Streit (1995, S. 39), eine Theorie der Transformation könne es prinzipiell nicht geben.
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unterstützen, oder sollen sie beides unterstützen, und wenn ja, mit welcher Priorität? Soll man sich auf die wirtschaftliche Förderung konzentrieren, was ohnehin schon bedeuten würde, die Entwicklungszusammenarbeit stärker von finanzieller Unterstützung auf Institutionalisierungshilfen umzustellen? Oder soll man sich auf politische Abbildung 4 Β ai -PRm(q)-K
fli» KRm(q)
a« = RN
ft, = KRw(qw) - Γ TK
as »TN
ß.-KRw(qw)-TK
Reformen konzentrieren und den hierfür erforderlichen Druck gar mit Hilfe wirtschaftlicher Sanktionen erzeugen, wie dies zunehmend etwa von westlichen „civil rights movements" - mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten auf Menschenrechten, Bürgerrechten oder neuerdings speziell auf Frauenrechten - gefordert wird? Das Modell, das nun vorgestellt werden soll, ist heuristischer Natur. Es kann diese Fragen nicht definitiv beantworten, aber es kann der weiteren Forschung die Richtung weisen, in der mit einiger Aussicht auf Erfolg nach geeigneten, d.h. differenzierte(re)n Antworten gesucht werden kann. Bei diesem heuristischen Modell handelt es sich um ein bewußt einfach gehaltenes dynamisches Spiel mit vollständiger Information (vgl. Abb. 4). Ausgehend von einem autokratischen Regime, wird die Interaktion zwischen einem Autokraten (A) und der Bevölkerung (B) modelliert: In jeder Regierungsperiode müssen sich die Bürger entscheiden, ob sie das autokratische Regime akzeptieren oder durch eine demokratische Revolution umstürzen wollen. Diese Entscheidung wird vom Autokraten antizipiert. Er steht vor der Alternative, entweder die Bürger mit einem autokratischen Leistungsniveau (q) zu konfrontieren oder aber eine demokratische Transformation durchzufuhren. Das Spiel wird per Rückwärtsinduktion gelöst. Die Bürger vergleichen die Payoffs ß, und ß 2 . Um eine Revolution zu verhindern, muß der Autokrat ein Leistungsniveau wählen, das die Bürger mindestens indifferent hält. Solange er bei dem hierzu erforderlichen Leistungsniveau noch einen nicht-negativen Payoff erzielen kann (α] > TN = 0), ist es für ihn weiter vorteilhaft, seine autokratische Position zu behaupten. Der Autokrat nimmt zu einer demokratischen Transformation erst dann Zuflucht, wenn das Leistungsniveau, mit dem er
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die Bürger von einer Revolution gerade noch abhalten kann, ihm negative Payoffs bescheren würde. Um die Payoff-Struktur inhaltlich zu füllen, wird unterstellt, daß sich die Leistungen des politischen Sektors (q) als ein ökonomisches Gut auffassen lassen, für das es einen Markt gibt, auf dem sich Angebot und Nachfrage gegenüberstehen. Für die Bevölkerung wird eine übliche Nachfragefunktion der Form (a - b q) unterstellt. Autokratie wird mit einer monopolistischen Angebotsstruktur, Demokratie spiegelbildlich mit einer wettbewerblichen Angebotsstruktur gleichgesetzt. Für die Produktion politischer Leistungen werden konstante Grenzkosten in Höhe von c m bzw. c w unterstellt, wobei die Indizes m und w für den Monopol- bzw. Wettbewerbsfall stehen. Dies vorausgesetzt, lassen sich die unterstellten Payoffs wie folgt interpretieren: Das Nutzenniveau ß 3 , das die Bevölkerung im Fall einer demokratischen Transformation realisiert, ergibt sich aus der Differenz zwischen ihrer Konsumentenrente im Wettbewerbsfall (KR W ) und den Transformationskosten (TK), die aufgewendet werden müssen, um die für eine demokratische Versorgung erforderlichen Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. TK sind somit die Set-up-Kosten eines demokratischen Regimes. Bei der Definition des Nutzenniveaus ß 2 ist in Form des Parameters r (mit r > 1) zusätzlich berücksichtigt, daß bei einem revolutionären Umsturz höhere Kosten anfallen als im Fall einer Transformation, durch die der Autokrat auf seine Regierungsgewalt freiwillig verzichtet. Das Nutzenniveau ßt ergibt sich in Höhe der Konsumentenrente im Monopolfall (KR^) und hängt direkt vom autokratischen Leistungsniveau q ab. So weit zur Nachfrageseite. Was nun die Angebotsseite anbelangt, so realisiert der Autokrat einen Nutzen a, in Höhe von seiner Produzentenrente im Monopolfall (PR™), abzüglich der Fixkosten Κ (mit Κ > 0), die zur Aufrechterhaltung des Monopols anfallen. Der Revolutions-Payoff des Autokraten a 2 ist aus plausiblen Gründen negativ, sein Transformations-Payoff α 3 exakt gleich null. 16 Abb. 5 dient einer graphischen Illustration dieser Zusammenhänge. 17
Selbst wenn sie wollten, könnten die Bürger es ex ante kaum glaubwürdig machen, im Fall einer Revolution dem Autokraten ex post einen nicht-negativen Payoff zuzugestehen. Im Fall einer friedlichen Transformation jedoch sind sie an rechtsstaatliche Standards gebunden. Nicht glaubwürdig wäre es jedoch, wollten die Bürger dem Autokraten für diesen Fall positive Payoffs in Aussicht stellen, also quasi eine Autokraten-Rente, durch die sie dem Autokraten die Transformation „abkaufen". Wie zahlreiche Verurteilungen ehemaliger Autokraten zeigen, sind es gerade die rechtsstaatlichen Standards, die solche Versprechen eher unglaubwürdig machen. Zu beachten ist, daß man flir eine graphische Repräsentation der Bedingung ß1 = ß2 von der vertikal schraffierten Fläche noch die Revolutionskosten (r TK) abziehen muß, bevor man sie mit der horizontal schraffierten Fläche vergleicht. Analog muß man für eine graphische Repräsentation der Bedingung α] = α 3 = 0 von der diagonal schraffierten Fläche noch die Kosten (K) zur Aufrechterhaltung des autokratischen Regimes abziehen.
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Abbildung 5
Ρ A
ß2 + r Τ Κ αϊ + K
M o n o p o l f a l l für qm < q < q* < q c
Wettbewerbsfall !KRw(qw)
Unter den getroffenen Annahmen können die einzelnen Payoffs berechnet werden. 1 8 Die Ergebnisse sind in Tab. 1 zusammengefaßt. Tabelle 1 A
Β
αϊ = (a - c m ) q - b q 2 - Κ
ß, = 0,5 b q 2
α 2 = RN < 0
ß2 = 0,5 b q w 2 - r T K
α 3 = TN = 0
ß 3 = 0,5 b q w 2 - T K
r > 1; a , b , c m , c w , ΤΚ, Κ > 0
Beispielsweise wird die Konsumentenrente für den Wettbewerbsfall durch Bildung des Integrals wie folgt ermittelt: | (a-bq)dq - Cw · qw = (a-c„) • qw - 0,5 • b • q2w = 0,5 • b • q2w.. ο Dabei ist berücksichtigt, daß man die Gleichgewichtsbedingung fur den Wettbewerbsfall wie folgt umformen kann: KR.(qJ
=
a
' c»