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German Pages 232 [234] Year 2001
GRUNDZÜGE DER MODERNEN WIRTSCHAFTSGESCHICHTE
Gerold Ambrosius
Staat und Wirtschaftsordnung Eine Einführung in Theorie und Geschichte
Franz Steiner Verlag Stuttgart
3
Gerold Ambrosius
Staat und Wirtschaftsordnung
Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte
Herausgegeben von Toni Pierenkemper
Band 3
Franz Steiner Verlag Stuttgart
2001
Gerold Ambrosius
Staat
und
Wirtschaftsordnung Eine Einführung in Theorie undGeschichte
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2001
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ambrosius, Gerold: Staat undWirtschaftsordnung: eine Einführung inTheorie und Geschichte / Gerold Ambrosius. –Stuttgart: Steiner, 2001 (Grundzüge dermodernen Wirtschaftsgeschichte; Bd. 3) 7 06778– 515– ISBN 3–
ISO 9706
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig undstrafbar. Diesgilt insbesondere fürÜbersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung odervergleichbare Verfahren sowie fürdieSpeicherung inDatenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2001 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Druck: Rheinhessische Druckwerkstätte, Alzey. Printed in Germany
Inhalt Vorwort
7
Einleitung: ZumZweck undInteresse dieses Buches
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I. Theoretische Grundlagen
1. Kapitel: Ordnungstheorien 1.1 Einführung
1.2 Typologische Ordnungstheorien
a.
Stufentheoretische Ansätze
b. Gestalttheoretische Ansätze
c.
Ordnungstheoretische Ansätze 1.3 Evolutorische Ansätze a. Menschliche Bedürfnisse b. Ideengeschichtliche Ansätze c. Institutionenökonomische Ansätze
2.
Kapitel: Staatstheorien
2.1 Einführung 2.2 Faktoranalytische Ansätze 2.3 Funktionsanalytische Ansätze
a. Neoklassische
2.4
Ansätze b. Politökonomische Ansätze Entscheidungstheoretische Ansätze
II. Empirische Entwicklungen
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung 3.1 Wirtschaftsverfassungen a. Teilverfassungen b. Gesamtverfassungen –Verfassungs-Urkunde von Kurhessen 1831 –Verfassung desDeutschen Reiches von1919 –Grundgesetz derBundesrepublik Deutschland von 1949 3.2 Wirtschaftsordnungen a. Teilordnungen b. Gesamtordnungen –Preußen erste Hälfte des 19.Jahrhunderts –Deutsches Reich 1871–1914
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6
Inhalt
–Weimarer Republik 1918–1932 –Nationalsozialistische Diktatur 1933–1939
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen des Staates
4.1 Allgemeine Entwicklung desStaates 4.2 Makroökonomische Indikatoren derStaatstätigkeit 4.3 Organisatorische Entwicklung derWirtschaftsverwaltung
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
124 129
139 139 150 160 173
5. Kapitel:
Fallbeispiele zurEntwicklung von Wirtschaftsordnungen 173 5.1 Klassifikatorische Ordnungstheorie –Vergleich der Wirtschaftsordnungen derBundesrepublik Deutschland 173 undderDeutschen Demokratischen Republik 5.2 Neue Institutionenökonomik (Property Rights) –Übergang vondermerkantilistischen zurmarktwirtschaftlichen Ordnung 180 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 5.3 Neue Institutionenökonomik (Transaktionskosten) – 187 Entwicklung vomVerlag zurFabrik im 19.Jahrhundert
192 6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates 6.1 Faktoranalytische Staatstheorie –Entwicklung derStaatsquote 192 im20. Jahrhundert 6.2 Politökonomischer Ansatz –Verhältnis vonStaat und 198 Wirtschaft imNationalsozialismus 6.3 Neue Politische Ökonomie –Einführung derEisenzölle im 206 Deutschen Zollverein 1844 Ausblick: ZurAktualität undRelevanz desThemas
216
Literatur
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Vorwort
desHerausgebers
Die vom Steiner Verlag publizierte und von mir herausgegebene Reihe dermodernen Wirtschaftsgeschichte“stellt keine geschichtswissenschaftliche Lehrbuchreihe imherkömmlichen Sinne dar.Vielmehr wirdin dieser neuen Reihe versucht, dieneuere undneueste Methodik derWirtschaftsgeschichte, dieihrInstrumentarium stärker ausdentheoretischen Grundlagen derWirtschafts- undSozialwissenschaften bezieht, mitdenempirischen Ergebnissen derhistorischen Forschung zuverknüpfen. Damit sollen Querschnitte aus denverschiedenen Gebieten der Wirtschaftsgeschichte (wie z.B. desArbeitsmarktes oder derIndustriellen Beziehungen) nicht nurfürdiewissenschaftliche Forschung, sondern auch fürdas „ Grundzüge
Studium derWirtschaftsgeschichte, sowie derWirtschafts- undSozialwissenschaften undderallgemeinen Geschichte angeboten werden. Derhier nunmehr vorliegende dritte BandderReihe beschäftigt sich mit demStaat undderdurch ihnwesentlich gestalteten Ordnung derWirtschaft. Erstellt damit einen Sachverhalt indasZentrum derErörterung, derzumKernbestand derÖkonomie schlechthin gehört unddaher auchineiner Reihe nicht fehlen darf, diediemoderne Wirtschaftsgeschichte inihren Grundzügen entwickeln will. Schließlich können auchdieWirtschaftswissenschaften, die für die moderne Wirtschaftsgeschichte wichtige Richtpunkte bieten, zumindest inDeutschland inihrer Ausprägung alsVolkswirtschaftslehre bzw.Nationalökonomie ihre Herkunft ausdensogenannten „ Staatswissenschaften“kaum leugnen. Doch dies ist nurein Entwicklungsstrang neben anderen, der die Gestaltung konkreter Wirtschaftsordnungen inDeutschland mitgeprägt hat. DerAutor unterscheidet imersten Teil seiner theoretischen Grundlagen zwischen Ordnungstheorie undStaatstheorie. Erstere bezieht sichaufAnsätze diedieOrdnung derWirtschaft indenVordergrund derBetrachtung rücken, während letztere die staatlichen Institutionen besonders thematisieren. Beide Theorieansätze dienen imzweiten Teil desBandes zurEinordnung derdargelegten historischen Entwicklungen vonWirtschaftsordnungen undStaatsformenehe dann imdritten Teil der Arbeit die empirisch ausgebreiteten Sachverhalte inFormvonFallbeispielen mitdentheoretischen Ansätzen inBeziehunggesetzt werden. Hierwerden vertraute Sachverhalte z.B. dieSystemkonkurrenz zwischen der Bundesrepublik Deutschland undder DDR oder etwa die Einführung derEisenzölle imfrühindustriellen Deutschland ineiner neuenPerspektive durchleuchtet. MitGerold Ambrosius wurde ein Autor gefunden, derdie aufgeworfenenFragestellungen in kompetenter Weise behandelt. Staat undWirtschaft, Staat undUnternehmer sind Themen, mit denen er sich seit Beginn seiner
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Vorwort
akademischen Laufbahn intensiv auseinandersetzt undüber die er bereits in vielfältigen Formen publiziert hat. Meiner Mitarbeiterin Frau Sandra Osburg danke ich wiederum für die bewährte undintensive Betreuung dieses Bandes sowie derGesamtreihe.
Köln imFebruar 2000
Toni Pierenkemper
Einleitung: ZumZweck undInteresse dieses Buches DerZweck dieses Buches istes nicht, einen enzyklopädischen Überblick über die Entwicklung derWirtschaftsordnung unddesStaates indenletzten Jahrhunderten zu geben. Dies wäre auch gar nicht möglich, denn der damit verbundene theoretische undempirische Themenbereich ist so umfassend, daß selbst einSpezialist ihnnicht mehrinseiner ganzen Komplexität überschauen kann. Die Literatur füllt ganze Bibliotheken. Der Zweck ist vielmehr ein didaktischer undmethodischer zugleich: Es sollen Kriterien geboten werden, mit deren Hilfe manausdenvielen Problemen undAspekten eine Auswahl treffen kann. Dazuwerden Ansätze, Modelle, Theorien vorgestellt, mitdenen derempirisch-historische Stoff geordnet undanalytisch bearbeitet werden soll. Angesichts der überwältigenden Vielfalt der Forschung können immer nur Beispiele genannt werden, sodaßdieLeser undLeserinnen, deren spezifische Interessen im folgenden nicht befriedigt werden, aufgefordert sind, sich anhandderangegebenen Literatur weiter zuinformieren. Insofern wirdhiereher ein Arbeitsprogramm formuliert als einÜberblick über dasThema gegeben. DerSinneines stärker theoretischen Zugriffs aufhistorische Sachverhalte ist es, ausderBeschreibung undErklärung desEinzelfalls zuallgemeineren Zusammenhängen zugelangen. Theorien sollen die Wirklichkeit nicht naturgetreu abbilden, sondern ihre Komplexität reduzieren undsignifikante Elemente undderen Verknüpfungen herausarbeiten. Bei sozialwissenschaftlichen Theorien kannes sich nieumsolche mitraumzeitlosen Perspektiven imnaturwissenschaftlichen Sinne handeln, sondern immer nurumsolche, diesich auf einen bestimmten Raum undeine bestimmte Zeit beziehen, um–wenn man so will –‚historische Theorien‘. Das Ziel ist die Rekonstruktion vonGeschichte, dennjede Interpretation historischer Tatbestände stellt, daes eine ‚historische Wahrheit‘wohl nicht gibt, ein theoretisches Konstrukt dar. Auch wenn es inderRealität letztlich keine unabhängigen undabhängigen Variablen gibt, die manüber theoretische Kausalbeziehungen miteinander verknüpfen kann, weil eben alles mitallem zusammenhängt, so macht dieses methodische Vorgehen dennoch Sinn. Einerseits kann damit eine gewisse Willkürlichkeit
in
derAnalyse vermieden werden, andererseits wird die–wennauch begrenzte
–Generalisierung eines singulären Sachverhalts möglich. DieAuswahl derhier vorgestellten Ansätze undderhistorischen Themen erfolgte nach unterschiedlichen Kriterien. Da Geschichts- undWirtschaftswissenschaften miteinander verbunden werden sollen, kommen erstens ausschließlich solche Modelle zurAnwendung, die imRahmen derWirtschaftswissenschaften formuliert worden sind. Eswäresicherlich sinnvoll, auchpolitik- undandere sozialwissenschaftliche Theorien zutesten, allein derRahmen
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Einleitung: ZumZweck undInteresse dieses Buches
einer solchen Einführung würde damit gesprengt. Zumzweiten wurden natürlich nur solche Ansätze ausgewählt, die für das Thema Wirtschaftsordnung undStaat relevant sind. Drittens spielte auch der Grad der Abstraktheit und Komplexität derentsprechenden Modelle eine Rolle. Es kommen nursolche Ansätze in Frage, die hinreichend operational ausformuliert sind, umsie mit historischen Fakten füllen zukönnen. DieWirtschaftswissenschaft leidet m.E. generell daran, daß sie zwar logisch-stringente, formalisierte Modelle konstruiert, die sich durch ihrhohes Abstraktionsniveau aber häufig einer empirischen Überprüfung entziehen. Schließlich spielt viertens auch das Kriterium derAktualität undSubjektivität eine Rolle. Es wurden Ansätze undThemen deshalb ausgewählt, weil sie aktuell erscheinen und weil sie der Autor für interessant undergiebig hält. Was die historische Perspektive anbelangt, so konzentriert sich derText aufdie Wirtschaftsgeschichte Deutschlands seit dem 18.Jahrhundert. Ganz bewusst werden sehr unterschiedliche Ansätze vorgestellt undanhand ganz unterschiedlicher Fallbeispiele auf ihre empirische Tragfähigkeit geprüft. Damit soll ein Einblick in die Pluralität der theoretischen Zugriffe undderempirischen Themen gewährt werden. Es geht hier also nicht umdie Propagierung einer methodischen Einheitslehre, sondern es soll der Vorteil derPluralität genutzt werden. Diesmageklektisch erscheinen, wobei Eklektizismus durchaus nicht negativ interpretiert werden muss. Jedenfalls leugnet derjenige, derglaubt, Wirtschaftsgeschichte miteinem einzigen theoretischen Entwurf erfassen zu können, m.E. die historische Realität. Derfolgende Text gliedert sichindrei Hauptteile. Imersten werden TheorienundMethoden vorgestellt, mitdenen derempirische Stoff bearbeitet werdenkann. Damit einEindruck entsteht, wiesich dieWirtschaftsordnung und derStaat inihrer Entwicklung deskriptiv darstellen lassen, werden diese ohne explizit theoretischen Bezug im zweiten Kapitel beispielhaft beschrieben. Auchhier mussexemplarisch vorgegangen, d.h. eine Auswahl getroffen werden, weil es unmöglich ist, das Thema auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln, sobald die Darstellung etwas differenzierter ausfällt. Im dritten Teil wird dann an Hand von Fallbeispielen versucht, Theorie undEmpirie miteinander zuverknüpfen.
I. Theoretische
Grundlagen
1. Kapitel: Ordnungstheorien 1.1 Einführung
Daswirtschaftliche Geschehen ist mit anderen Bereichen einer Gesellschaft eng verbunden. Der wirtschaftende Mensch handelt als gesellschaftliches Wesen. Seine wirtschaftlichen Aktivitäten werden daher vonsehr unterschiedlichen Faktoren bestimmt: vonmenschlichen Grundbedürfnissen wiephysische Existenz, Sicherheit, Ansehen oder Selbstverwirklichung, vonkulturellen Werten undNormen, von politischen Institutionen undrechtlichen Bestimmungen u.v.a.m. Trotz dieser überwältigenden Komplexität des wirtschaftlichen Handelns vollzieht es sich nach Regeln imRahmen vonOrdnungen, daein nicht-regelhaftes Verhalten ohne institutionelles Gerüst zuChaos führen würde. Unter Wirtschaftsordnung werden daher alle für denAufbau undfür den Ablauf einer Volkswirtschaft geltenden Regeln sowie alle entsprechenden wirtschaftlichen undwirtschaftsgestaltenden Institutionen verstanden. Dabei kannes sich sowohl umeine gedachte alsauch umeine realisierte Ordnung handeln.¦1¿ In der Literatur gibt es bis heute keine einheitliche Sprachregelung für denBegriff Wirtschaftsordnung. Vorallem aber gibt es keinen Konsens über die Abgrenzung zumBegriff des Wirtschaftssystems. Hier soll unter Wirtschaftssystem die Gesamtheit aller natürlichen undsachlichen Ressourcen – Boden, Umwelt, Arbeit, Kapital, Technik –sowie aller wirtschaftlichen Beziehungen verstanden werden, die dazu dienen, die Knappheit derMittel bei Beschaffung, Produktion undVerteilung vonökonomischen Gütern zu mildern. Alles wasirgendwie mitWirtschaften in Verbindung steht, soll mitdieservagen Begriffsbestimmung erfasst werden. DasWirtschaftssystem istprinzipiell offen, d.h. es ist mitanderen gesellschaftlichen Subsystemen verzahnt, besonders natürlich mitdensozialen undpolitisch-administrativen. Innerhalb desWirtschaftssystems gibt es Elemente –dieerwähnten Regeln undInstitu, dieseine Struktur prägen. Mankannalsoinnerhalb eines Wirtschaftstionen – systems zwischen derOrdnung (Aufbau, Organisation) unddemAblauf (Prozess, Geschehen) unterscheiden.¦2¿ Der Begriff des Wirtschaftssystems wird somit weiter gefasst als derderWirtschaftsordnung, die lediglich denforma-
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Lampert, Heinz, DieWirtschafts- undSozialordnung derBundesrepublik Deutschland, München 1985. Schönwitz, Dietrich/Weber, Hans-Jürgen, Wirtschaftsordnung. Eine Einführung inTheorie undPolitik, München/Wien 1983, S. 6 ff.
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I. Theoretische
Grundlagen
len institutionellen Rahmen des Systems bildet, in der sich die wirtschaftlichen Prozesse vollziehen. Das Wirtschaftssystem beschreibt die Realität des wirtschaftlichen Geschehens. Zahlreiche Elemente einer Wirtschaftsordnung werden durch rechtliche Bestimmungen stabilisiert undfinden ihren Ausdruck in Gesetzen undVerordnungen. Diese sollen dafür sorgen, dass die Spielregeln eingehalten werden. Mit demBegriff Wirtschaftsverfassung werden die rechtlichen Bestimmungen von grundlegender Bedeutung umschrieben. Als Wirtschaftsverfassung imengeren Sinn bezeichnet mannurdie wirtschaftlich relevanten Normen der eigentlichen Staatsverfassung.¦3¿ Die Wirtschaftsverfassung im weiteren Sinn erfasst dagegen alle relevanten Normen, d.h. sowohl die im Verfassungs- als auch die im Gesetzes- und Verordnungsrecht. Zur Wirtschaftsverfassung imweitesten Sinn werden außerdem die höchstrichterlichen Urteile gezählt, soweit sie ordnungspolitische Bedeutung besitzen. DieWirtschaftsverfassung ist also enger zuinterpretieren als die Wirtschaftsordnung, weil nicht alle wirtschaftlich relevanten Tatbestände durch dasRecht geregelt werden; sie ist Teil derWirtschaftsordnung. Unterschieden werden mussaußerdem zwischen derVerfassungsnorm undderVerfassungswirklichkeit, denn häufig stimmt die wirtschaftliche Realität mitderwirtschaftsverfassungsrechtlichen Normnicht überein. Die bisherige Definition derWirtschaftsordnung ist noch sehr allgemein gefasst. Etwas konkreter werden die Zusammenhänge, wenn mannach den Aufgaben fragt, die sie erfüllen soll. ImLaufe derGeschichte ist es zueiner immer stärker ausgeprägten technischen undgesellschaftlichen Arbeitsteilung gekommen. DieWirtschaft hatsichaufdiese Weise zueinem hochkomplexen Gebilde entwickelt. Dabei sind es vorallem drei Fragen, die injeder Wirtschaft beantwortet werden müssen unddie die Funktionen vonWirtschaftsordnungen bestimmen:¦4¿ Wer entscheidet darüber (Entscheidungsfunktion), wasundwie (Koordinationsfunktion) für wenproduziert (Verteilungsfunktion) wird? Das Kernproblem einer Wirtschaftsordnung besteht also in der Steuerung der begrenzten Mittel zur optimalen (effizienten, sinnvollen, gerechten) Befriedigung unbegrenzter Bedürfnisse. Bei der Entscheidungsfunktion geht es nicht nur umdas konkrete Entscheidungsverhalten von Individuen oder Gruppen bei der Auswahl einer Handlung aus einer Anzahl von alternativen Handlungsmöglichkeiten, sondern zugleich auch umdie längerfristige Festlegung derökonomischen Ent-
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4
Vgl. Rupp, Hans Hermann, Grundgesetz undWirtschaftsverfassung, Tübingen 1974; Nörr, Knut Wolfgang, AufdemWege zur Kategorie der Wirtschaftsverfassung. Wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen imjuristischen Denken vor undnach demErsten Weltkrieg, in: Nörr, KnutWolfgang u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich undRepublik. ZurEntwicklung vonNationalökonomie, Rechtswissenschaft und 451, S. 223 ff. Sozialwissenschaft im20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 223– Kolb, Gerhard, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Eine wissenschafts- undordnungstheoretische Einführung, München 1991, S. 39 ff.
WIRTSCHAFTSORDUNG (IST-Zustand)
WIRTSCHAFTSVERFASSUNG (SOLL-Zustand)
Gesamtheit der in Verfassung, Gesetzen und Verordnungen enthaltenen wirtschaftlich relevanten Regelungen Realisierte Institutionen bzw. OrdnungsFormen
Wirtschaftsablauf: Produktions-, Verteilungs-, Konsumprozesse WIRTSCHAFTSSYSTEM
Tatsächliche Verhaltensweisen, auch durch Sitten und Gebräuche (meist ungeschriebene Normen) geprägt
natürliche u. sachliche Ressourcen (Produktionsfaktoren Boden / Natur und Kapital)
Technik („Know-how“)
Quelle: Gerhard Kolb, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Eine wissenschafts- und ordnungstheoretische Einführung, München 1991, S. 37.
Menschen (Produktionsfaktor Arbeit) und ihre ökonomischen Beziehungen
Geist (Wirtschaftsgesinnung)
Wirtschaftsv erfassung - Wirtschaftsordnung - Wirtschaftssystem
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1. Kapitel: Ordnungstheorien
I. Theoretische
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Grundlagen
scheidungsbefugnisse aufgrund vonSitten, Normen, Regeln, Gesetzen oder Verordnungen. Die Entscheidungsfunktion bezieht sich auf die Frage, wer innerhalb einer bestimmten Ordnung dieKompetenz besitzt, Wirtschaftspläne zu entwerfen unddurchzusetzen. Bei der Koordinationsfunktion lautet die Frage, welche Güter in welchen Mengen undauf welche Weise produziert werden sollen. Damit wirdzugleich dasProblem derAllokation, d.h. derVerteilung knapper Ressourcen auf alternative Verwendungszwecke angesprochen. Es müssen also diedurch dieArbeitsteilung notwendig gewordenen Einzelpläne derprivaten Haushalte, derUnternehmen undöffentlichen Körperschaften aufeinander abgestimmt werden. Schließlich musseine Wirtschaftsordnung nochdieVerteilungsfunktion erfüllen, d.h., es mussentschieden werden, fürwendie Produktion erfolgt undanwendie Güter undDienstleistungen verteilt werden. Dazu gehört auch die Schaffung der Möglichkeit, eine primär anderindividuellen Leistungsfähigkeit orientierte Verteilung imnachhinein zukorrigieren. Obwohl der folgende Gesichtspunkt damit bereits angesprochen worden ist, soll ernocheinmal hervorgehoben werden: Eine Wirtschaftsordnung muss das Lenkungsproblem im weitesten Sinn lösen. In ihr soll aber auch Wirtschaftslenkung imengeren Sinn möglich sein, d.h. dieBeeinflussung deseinzelwirtschaftlichen Handelns durch denStaat zurErreichung wirtschaftspolitischer Ziele. Eine Wirtschaftsordnung muss also nicht nurRegeln undInstitutionen schaffen, umwirtschaftliche Beziehungen herstellen undwirtschaftliche Transaktionen abwickeln zukönnen, sondern auchumeine zielgerichtete Lenkung wirtschaftlicher Aktivitäten zu ermöglichen. Außerdem hat sie gesellschaftspolitische Aufgaben zu erfüllen.¦5¿ Bei der Eigentumsordnung – , derMarktordnung –freie oder gePrivateigentum oder Gemeineigentum – , derSozialordnung –schwach oderstark lenkte Produktion undKonsumtion – undanderen Teilordnungen gehtesja nicht nur ausgebaute Sozialleistungen – umsozioökonomische Regelungen, sondern immer auchumpolitische, staatliche, letztlich gesellschaftliche Ziele. DieWirtschaftsordnung stellt eben nur einen Teil einer umfassenden Lebensordnung dar. DieTheorie derWirtschaftsordnung lässt sich aufvierfache Weise unterteilen, wobei die verschiedenen Teile jeweils unterschiedliche Aufgaben erfüllen sollen.¦6¿(1) Die klassifikatorische (morphologische oder definitorische) Wirtschaftsordnungstheorie versucht, Typologien vonWirtschaftsordnungen zuerstellen. Dies kann zumeinen dadurch geschehen, dass aus realen Wirtschaftssystemen die konstitutiven Elemente herausgearbeitet unddamit die ihnen zugrunde liegenden Wirtschaftsordnungen gewonnen werden. Zumanderen können anhand ordnungsrelevanter Kriterien Typen vonWirtschaftsordnungen gebildet werden. (2) Die evolutorische (morphogenetische) Wirt-
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Lampert, Heinz, Wirtschafts- undSozialordnung, S. 19 ff. Peters, Hans-Rudolf, Einführung indieTheorie derWirtschaftssysteme, München 21993,
S. 3 f.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
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schaftsordnungstheorie will das Entstehen und den Wandel von Wirtschaftsordnungen erklären. (3) Die erklärende (nomologische) Wirtschaftsordnungstheorie soll die Funktionsweise vonWirtschaftsordnungen analysieren. Dieskannentweder abstrakt aufmodelltheoretischer Ebene erfolgen oder empirisch auf der Basis historischer Fakten. (4) Die entscheidungslogische (dezisionistische) Wirtschaftsordnungstheorie unternimmt es, optimale Steuerungssysteme zuentwerfen undzu klären, wie ein gesetztes Ziel ordnungskonform undeffektiv erreicht werden kann. Auch dies erfordert angesichts der Komplexität realer Verhaltensweisen derWirtschaftssubjekte ein erhebliches Maßan Abstraktion. Die Begriffe derVerfassung, derOrdnung unddesSystems werden nicht nurauf die Gesamtwirtschaft bezogen, sondern auch auf Teilbereiche. Man spricht u.a. vonderMarktordnung, derGeldordnung oder derFinanzordnung oder von den entsprechenden Verfassungen undSystemen. Es sind aber in diesen Teilbereichen die gleichen Tatbestände gemeint wie in derWirtschaft insgesamt, nur eben begrenzt auf einen Ausschnitt aus der umfassenden Wirtschaftsordnung. Derweiteren Darstellung liegt folgende Untergliederung einer Wirtschaftsordnung zugrunde, wobei die Sozialordnung nuramRande berücksichtigt wird.¦7¿ Produktionsordnung Eigentumsordnung Betriebsordnung Selbstverwaltungsordnung
– – –
Marktordnung Gewerbeordnung Wettbewerbsordnung Regulierungsordnung Arbeitsmarktordnung
– – – –
Geld- undWährungsordnung – Geldordnung
– –
Währungsordnung Zentralbankordnung
Finanzordnung –Steuerordnung –Verwaltungsordnung – Haushaltsordnung
Sozialordnung –Versicherungsordnung –Arbeitsschutzordnung –Fürsorgeordnung
7
Zuanderen Einteilungen z.B. Gutmann, Gernot, DieWirtschaftsverfassung derBundesrepublik Deutschland, Stuttgart/New York 21979; Lampert, Wirtschafts- undSozialordnung.
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I. Theoretische
Grundlagen
1.2. Typologische Ordnungstheorien
a. Stufentheoretische
Ansätze
Schon dieantike Ökonomik unddiemittelalterliche Gesellschaftslehre kann-
ten das Denken in Wirtschaftsordnungen. In derNeuzeit waren es zunächst die französischen Physiokraten des 18. Jahrhunderts, die den Ordnungsgenatürliche danken in den Mittelpunkt ihrer Wirtschaftslehre stellten.¦8¿ Die „ Ordnung“(ordre naturel) wareine vonGott gewollte Schöpfung, dersich die vondenMenschen geschaffene „positive Ordnung“(ordre positif) annähern sollte. Umdaszuerreichen, sollte sich derMensch entsprechend denPrinzipien der Aufklärung möglichst frei entfalten können undder Staat die Wirtschaft weitestgehend sichselbst überlassen. Ausdiesem Gedanken entwickelte sich das Axiom der prästabilisierenden Harmonie einer liberalen Wirtvornehmlich in schaftsordnung. FürdieVertreter derklassischen Ökonomik – England –amEnde des 18.undamAnfang des 19.Jahrhunderts waren liberale Verhältnisse bereits soselbstverständlich, dassdasProblem derWirtschaftsordnung fürsie keinzentrales Thema mehrdarstellte.¦9¿DaihrErkenntnisinteresse darauf zielte, zeit- undsystemübergreifende Gesetzmäßigkeiten zu finden, klammerten sie möglichst viele politisch-institutionelle Tatbestände aus ihren Überlegungen ausundverstanden ihren Ansatz nurnochalsreine Lehre von Gütern undPreisen. Andieser, die Vielfalt realer Wirtschaftssysteme weitgehend ignorierenden Einstellung änderte sich in derFolgezeit nurnoch wenig. ImGegenteil, die sogenannte Neoklassik amEnde des 19. Jahrhunderts brachte nocheinmal einen kräftigen Schub inRichtung logisch stringenter, formalisierter Modelle, diesichimmer mehrvonderWirklichkeit entfernten.¦10¿ Angesichts derTatsache, dass sichderWandel vomfeudalen zumkapitalistischen System in England vor Generationen vollzogen hatte, dass das neue System gut funktionierte undeine überragende Wettbewerbsfähigkeit besaß, schienen die konkreten sozialen, wirtschaftlichen undpolitischen Institutionen, Normen undRegeln nurnoch vonuntergeordneter Bedeutung zu sein. Während dieser Periode waren in Deutschland jedoch weder derProzess derNationenbildung nochdieNeugestaltung derWirtschaftsordnung imSinne liberaler Prinzipien abgeschlossen. Zugleich bildeten die deutschen StaatenimVergleich zuEngland einen relativ rückständigen Wirtschaftsraum, der sich erst inderzweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zunehmend konsolidierte
8 Blaich, Fritz, Merkantilismus, 9
10
Kameralismus, Physiokratie, in: Issing, Otmar (Hg.), Geschichte der Nationalökonomie, München 1988, S. 35 ff. Kolb, Gerhard, Geschichte derVolkswirtschaftslehre. Dogmenhistorische Positionen des ökonomischen Denkens, München 1997, S. 51 ff. Vgl. Fusfeld, Daniel R., Geschichte undAktualität ökonomischer Theorien. VomMerkantilismus bis zurGegenwart, Frankfurt 1975.
1.Kapitel: Ordnungstheorien
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undeine industrielle Dynamik entwickelte. Es lag nahe, nach denGründen der politischen, sozialen undökonomischen Rückständigkeit zu fragen und damit nicht nurdenOrdnungs-, sondern auchdenEntwicklungsgedanken stärkerzuberücksichtigen.¦11¿ Getragen wurde er vonderdas 19.Jahrhundert prägenden Evolutionsidee, vonder Gewissheit des Fortschritts im Sinne einer ständigen Höherentwicklung. Die als Historische Schule bezeichnete Richtung der deutschen ‚National‘ökonomie entwickelte eine Reihe vonStufenoderStadientheorien, mitdenen dielangfristige Entwicklung erfasst undmittels aufeinanderfolgender Stufen geordnet werden sollte. Dabei versuchte man, utiven EledasTypische, diecharakteristischen Wesenszüge oder die konstit mente einer Epoche zu erfassen. So unterscheidet Friedrich List (1789–1840) nach dem„Stand derEntfaltung derproduktiven Kräfte bei derGütererzeu-
gung“ folgende „Entwicklungsgrade“:¦12¿Zustand derursprünglichen Wildheit, Hirtenstand, Agrikulturstand, Agrikultur-Manufakturstand, Agrikultur-Manufaktur-Handelsstand. Lists Ordnungs- undPeriodisierungsschema hatte einen durchaus konkreten wirtschaftspolitischen Hintergrund, ginges ihmdochdarum, die wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Länder voranzutreiben, die seiner Meinung nach im Vergleich zumüberlegenen England um 1830 Art erst die vierte Stufe seines Entwicklungsmusters erreicht hatten. Nach „ der Tauschmittel“legt Bruno Hildebrand (1812–1878) seine Stufen folgendermaßen fest:¦13¿ Naturalwirtschaft, Geldwirtschaft undKreditwirtschaft. Sozialpolitische Überlegungen spielen für ihn ebenfalls eine Rolle, da Hildeselbstsüchtige brand glaubt, dass eine mit der Geldwirtschaft verbundene „ Interessenökonomie“auf der Stufe der Kreditwirtschaft zumsozialen Ausgleich gebracht werde. Auch Karl Marx (1818–1883) konstruiert auf dialektische Weise Entwicklungsstufen, wobei dasEigentum andenProduktionsGemitteln als entscheidendes Kriterium dient. Er unterscheidet folgende „ sellschaftsformationen“ :¦14¿ klassenloses Gemeineigentum derursprünglichen Produktionsweise, asiatische Produktionsweise (Gegensatz Freier –Sklave), antike Produktionsweise (Gegensatz Patrizier –Plebejer), feudale Produktionsweise (Gegensatz Baron –Leibeigener sowie Zunftbürger –Geselle), kapitalistische Produktionsweise (Gegensatz Bourgeois –Proletarier), klassenlose kommunistische Produktionsweise ohne Privateigentum. Neben dengenannten gibt es weitere Stufenschemata.
11
Pribam, Karl H.,Geschichte desökonomischen Denkens, 2 Bde., Marburg 1992; Priddat, Birger, Zufall, Schicksal, Irrtum. Über Unsicherheit undRisiko in derdeutschen ökonomischen Theorie vom18.Jahrhundert bis insfrühe 20. Jahrhundert, Berlin 1993;
Winkel, Harald, Diedeutsche Nationalökonomie im 19.Jahrhundert, Darmstadt 1977. 12 List, Friedrich, Dasnationale System derpolitischen Oekonomie, 1.Bd., Derinternationale Handel, die Handelspolitik undderdeutsche Zollverein, Düsseldorf 1989. 13 Hildebrand, Bruno, Nationalwirtschaft, Geldwirtschaft undCreditwirtschaft, in:Jahrbücher fürNationalökonomie undStatistik 2, 1864, S. 1 ff. 14 Vgl. Kromphardt, Jürgen, Konzeptionen undAnalysen des Kapitalismus –vonseiner Entstehung bis zurGegenwart, Göttingen 1980, S. 123 ff.
18
I. Theoretische
Grundlagen
Die Ansätze derälteren Historischen Schule ausderersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden später vonderjüngeren Historischen Schule wieder aufgegriffen. Allerdings stellten deren Vertreter nicht mehrnurdieeinzelnen Stufengetrennt dar, sondern sie entwickelten darüber hinaus Kausalbeziehungen zwischen ihnen. Gustav Schmoller (1838–1917) wählt die gesellschaftliche Organisationsform alskennzeichnendes Ordnungselement undAbgrenzungskriterium. Er unterscheidet Hauswirtschaft, Dorfwirtschaft, Stadtwirtschaft, Territorialwirtschaft undStaatswirtschaft.¦15¿ Karl Bücher (1847–1930) bringt die gesellschaftliche Organisationsform in Verbindung mit der „Länge des . Daraus ergibt sich folgende Gliederung:¦16¿geschlossene HausAbsatzweges“ wirtschaft (tauschlose Wirtschaft), Stadtwirtschaft (direkter Tausch) und Volkswirtschaft (Güterumlauf). Dereindimensionale Evolutionsgedanke imSinne einer organischen Entwicklung von „ primitiven“zu „ entwickelten“Wirtschaftsweisen, der hinter allen stufentheoretischen Ansätzen steht, dürfte kaumbefriedigen, wennman daran denkt, dass die Wirtschaftsgeschichte vielfältige Formen derÜberschneidung, der Rückbildung unddes Überspringens von Stufen kennt. Im übrigen wird in den Schemata nicht klar, welche Kräfte eigentlich die Entwicklung vorantreiben, denWandel derStufen bewirken. Allerdings wollen die Vertreter der Historischen Schule die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung in ihrerganzen Komplexität auchgarnicht erfassen, sondern nurdasWesen einer Epoche, ihrentscheidendes Merkmal –allein dieses undnicht eine Kombination vonMerkmalen –einfangen. Dabei erheben siedenAnspruch, sich ander realen Entwicklung zuorientieren. Obsie allerdings dieWirklichkeit indieser extremen Verkürzung auf denPunkt bringen, ob derBegriff der Stufe einen Typus darstellt, der als Realtypus aufgefasst werden kann, bleibt mehr als fraglich. Zumindest müssen sich die entsprechenden Autoren den Vorwurf gefallen lassen, bei derAuswahl derMerkmale willkürlich undsubjektiv vorzugehen. In methodischer Hinsicht stehen die Stufentheorien zwischen einer individualisierenden Geschichtsschreibung und einer reinen, am naturwissenschaftlichen Ideal orientierten Theoriebildung. Sie werden daher vonbeiden Seiten angegriffen: vonereignisgeschichtlich orientierten Historikern wievon deduktiv vorgehenden Wirtschaftstheoretikern.¦17¿ Erstere wenden sich gegen denuniversalen Charakter derStufentheorien, diezuallgemein formuliert seien, um über die Art, wie sich die reale Entwicklung vollziehe, konkrete Aussagen machen zu können. Letztere bestreiten, dass Stufentheorien Entwicklungsgesetze erfassen oder gardarstellen, daes sich bei ihnen eben nicht um Kausalbeziehungen zwischen den Stufen, sondern allenfalls umempirische Regelmäßigkeiten, bestenfalls also umTendenzen handele. 15 Schmoller, Gustav von, Grundriß derAllgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1.Teil, Leipzig 1900. 16 Bücher, Karl, Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893. 17 Kolb, Gerhard, Grundlagen, S. 105 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
b. Gestalttheoretische
19
Ansätze
Parallel zurWeiterentwicklung derStufentheorien durch diejüngere Historische Schule wurde amEndedes 19., Anfang des20. Jahrhunderts eine Wende vonderhistorisch-empirischen Evolutionsidee zurlogisch konstruierten, von außen in die Geschichte hineingetragenen Gestaltidee vollzogen. Ausgangspunkt wardervonMaxWeber (1864–1920) formulierte Begriff desIdealtyps. Ein Idealtyp wirdgewonnen „durch einseitige Steigerung eines odereiniger Gesichtspunkte unddurch Zusammenfassung einer Fülle vondiffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise garnicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, diesichjenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zueinem insicheinheitlichen Gedankengebilde“.¦18¿ EinIdealtyp soll also nicht die Realität „naturgetreu“abbilden, sondern dient als heuristisches InIdestrument dazu, ausdenUnterschieden undGemeinsamkeiten zwischen „ Realtyp“–derWirklichkeit –Erkenntnisse über die Zusammenaltyp“und„ hänge vonGesellschaften, inunserem Fall vonWirtschaften, zugewinnen. In Auseinandersetzung mit demWeberschen Idealtyp entwickelt Werner SomWirtschaftssystems“. Unter eiGestaltidee“des „ bart (1863– 1941) seine „ , beiderdieGrundnemWirtschaftssystem versteht ereine „Wirtschaftsweise“ bestandteile der Wirtschaft –für ihn sind das Geist (Wirtschaftsgesinnung), Form (Ordnung) undTechnik –jeweils eine bestimmte Gestalt aufweisen, es ist die als geistige Einheit gedachte Wirtschaftsweise, die (1.) von d.h., „ einem bestimmten Geiste beherrscht wird; (2.) eine bestimmte Ordnung und Organisation hatund(3.) eine bestimmte Technik anwendet“.¦19¿ Diese Grundbestandteile können nicht willkürlich zusammengefügt werden, sondern nur auf sinnvolle Art undWeise, umein Wirtschaftssystem zu bilden. Sombart spricht dabei vonSinnadäquanz, Sinn- oder Strukturverwandtschaft. DerBegriff Wirtschaftssystem wird vonihmvornehmlich als Idealtyp gebraucht. Die kennzeichnenden Merkmale derWirtschaft unddieMöglichkeiten ihrer Ausprägung sind nach Sombart folgende:
18 Weber, Max, Die „Objektivität“sozialwissenschaftlicher undsozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), Tübingen 1973, S. 146 ff. 19 Sombart, Werner, Die Ordnung des Wirtschaftslebens, Berlin 1925.
I. Theoretische
20
Grundlagen
Merkmale einer Wirtschaft unddie Möglichkeiten ihrer Ausprägung nach Werner Sombart Merkmale
undUntermerkmale
1. Wirtschaftsgesinnung 1.1Zweckeinstellung zumWirtschaftsleben
1.2. Verhalten beiderMittelwahl 1.3. Verhalten dereinzelnen am Wirtschaftsleben beteiligten Personen zueinander 2. Ordnung undOrganisation 2.1. Bindung derWirtschaftssubjekte durch objektive Normen 2.2. Träger derwirtschaftlichen Initiative
2.3. Verteilung
privatwirtschaftlicher Anordnungsbefugnisse 2.4. GradderArbeitsteilung 2.5. Ausrichtung der Güterproduktion
2.6. Gestaltung derBetriebs-
organisation 3. Technik
3.1. geistige Struktur 3.2. dynamische Struktur
3.3. stoffliche Struktur
Möglichkeiten der Ausprägung
Bedarfsdeckungsprinzip
–Erwerbs-
prinzip Traditionalismus –Rationalismus Individualismus Solidarismus –
1
Gebundenheit
–Freiheit
Privatwirtschaft – Gemeinwirtschaft Aristokratie Demokratie –
Geschlossenheit –Offenheit Bedarfsdeckungswirtschaft – Verkehrswirtschaft Individualbetriebe liche Betriebe
–gesellschaft-
wissenschaftlich empirisch – stationär –revolutionär nichtorganisch organisch –
Quelle: Dietrich Schönwitz, Hans-Jürgen Weber, Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie undPolitik, Wien 1983, S. 36.
Wirtschaftssysteme“ableiten: Daraus lassen sich folgende „
21
1. Kapitel: Ordnungstheorien
Formen vonGesellschafts- bzw.Wirtschaftsordnungen nachWerner Sombart Sammelname
(a) Vorkapitalistische Wirtschaftssysteme (aa) Wirtschaft in urwüchsigen Geschlechtsverbänden
(ab) Dorfwirtschaft
(ac) Oikenwirtschaft (Großsklavenwirtschaft)
(ad) Fronhofwirtschaft
(Großhörigenwirtschaft)
Ordnungsmerkmale i.w.S. Ausprägung
Lfd. Nr.¦1¿
1.1.
Bedarfsdeckungs-
1.1.
Bedarfsdeckungs-
Ordnungsmerkmale i. e. S. Ausprägung Gebundenheit 2.1.
Lfd. Nr. 1
prinzip
1.2. 1.3. 3.1. 3.2. 3.3.
1.1.
prinzip Traditionalismus
Solidarismus empirisch stationär
organisch Bedarfsdeckungsprinzip
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
2.6. 2.1.
1.2.
Traditionalismus
2.2.
1.3. 3.1. 3.2.
Solidarismus empirisch stationär
2.3. 2.4. 2.5.
3.3. 1.1.
organisch Bedarfsdeckungs-
2.6. 2.1.
prinzip
1.2. 1.3. 3.1. 3.2.
Traditionalismus Solidarismus empirisch
stationär
2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Gebundenheit Privatwirtschaft Demokratie
Geschlossenheit Bedarfsdeckungs-
-
wirtschaft
Gebundenheit Privatwirtschaft/ Gemeinwirtschaft Demokratie
Geschlossenheit Bedarfsdeckungswirtschaft
-
Gebundenheit Privatwirtschaft Aristokratie Offenheit
Bedarfsdeckungswirtschaft gesellschaftliche Betriebe Gebundenheit
3.3.
organisch
2.6.
1.1.
Bedarfsdeckungs-
2.1.
1.2. 1.3. 3.1. 3.2.
Traditionalismus Solidarismus empirisch stationär
2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Bedarfsdeckungs-
3.3.
organisch
2.6.
gesellschaftliche Betriebe/Individualbetriebe Gebundenheit
prinzip
Privatwirtschaft Aristokratie Offenheit wirtschaft
(ae) Handwerk
(b) kapitalistische Wirtschaftssysteme
(c) nachkapitalistische Wirtschaftssysteme (sozialistische Wirtschaftssysteme)
1.1.
Bedarfsdeckungs-
2.1.
1.2.
prinzip Traditionalismus
2.2.
1.3. 3.1. 3.2. 3.3.
Solidarismus empirisch stationär
1.1. 1.2. 1.3. 3.1. 3.2. 3.3.
Erwerbsprinzip Rationalismus Individualismus
1.1. 1.2. 1.3. 3.1. 3.2.
organisch
wissenschaftlich revolutionär
2.3. 2.4. 2.5. 2.6.
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
nichtorganisch
2.6.
Bedarfsdeckungs-
2.1.
Privatwirtschaft/ Gemeinwirtschaft Demokratie Offenheit Verkehrswirtschaft gesellschaftliche Betriebe/Individualbetriebe Freiheit Privatwirtschaft Aristokratie
Offenheit Verkehrswirtschaft gesellschaftliche Betriebe/ Individualbetriebe Gebundenheit
prinzip
Rationalismus Solidarismus
2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Gemeinwirtschaft
Offenheit Bedarfsdeckungswirtschaft gesellschaftliche 2.6. 3.3. nichtorganisch Betriebe 1DieNummerierung derWirtschaftsordnungsmerkmale erfolgt nachdenvorangegangenen Übersicht
wissenschaftlich revolutionär
3.
Quelle: Dietrich Schönwitz, Hans-Jürgen Weber, Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie undPolitik, Wien 1983, S. 39 f.
22
I. Theoretische
Grundlagen
Die Kritik, die an denStufentheorien geübt wird, trifft auch dengestalttheoretischen Ansatz Sombarts. Es fehlt ihman Kriterien für die Auswahl der systembestimmenden Strukturelemente. Es werden keine Aussagen über ihre relative Bedeutung gemacht. Trotz derDifferenzierung derGrundtatbestände werden wesentliche Strukturelemente nicht berücksichtigt, z.B. die Formen derKoordination unddamit diederMärkte. Zumindest ein weiterer gestalttheoretischer Ansatz soll noch erwähnt werden undzwar derderWirtschaftsstile vonArthur Spiethoff (1873– 1957).¦20¿ Stärker als Sombart ist dieser an der historischen Realität orientiert undwill eine „geschichtliche Theorie“entwickeln, die empirische Regeln mit hypothetischen Aussagen verknüpft undaufdiese Weise typische Wesenszüge als „ Denkgebilde“in Form von „ Abbildungen der Wirklichkeit“konstruieren kann. Dieser Ansatz versucht aus der konkreten historischen Realität Regelmäßigkeiten herauszufiltern, die als Realtypen die arteigene Gestaltung des Wirtschaftslebens wiederzugeben vermögen. Die fünf Merkmale des Wirtschaftsstils, die Spiethoff unterscheidet, sind folgende: Wirtschaftsgeist, natürliche undtechnische Grundlagen, Gesellschaftsverfassung, Wirtschaftsverfassung undWirtschaftslauf. Den Ausgangspunkt jeder Stilisierung bilden für , in denen die Einzigartigkeit historischer Zusammenihn „Musterbeispiele“ hänge zumAusdruck kommt. AusderZusammenfassung vonMusterbeispielengelangt mandannzuhistorisch undräumlichen begrenzten Allgemeingültigkeiten –dem Stil.¦21¿ Fürjeden Wirtschaftsstil ist nach Spiethoff eine allgenurfürihren meine Volkswirtschaftslehre möglich undnötig. Sie gilt immer „ eigenen Stil, nicht darüber hinaus, nicht für alles Wirtschaftsleben, nicht für dasaller Zeiten“.¦22¿ Eine Wirtschaftswissenschaft, die raum- undzeitlose Gesetze aufstellt, macht für ihn daher keinen Sinn. Im Gegensatz zumBegriff des Wirtschaftssystems hat sich der des Wirtschaftsstils in den Wirtschaftswissenschaften jedoch nicht durchgesetzt.
c. Ordnungstheoretische
Ansätze
Die zentrale Aufgabe einer klassifikatorischen Wirtschaftsordnungstheorie besteht darin, aussagefähige Schemata zurCharakterisierung vonWirtschaftsordnungen aufzustellen, indem ausderKomplexität derrealen Erscheinungen jene Determinanten ausgewählt werden, vondenen manglaubt, dass sie eine Wirtschaftsordnung prägen. DerSinneiner Systematisierung vonWirtschaftsordnungen wirdfolgendermaßen begründet: 20
21
22
Spiethoff, Arthur, DieAllgemeine Volkswirtschaftslehre alsgeschichtliche Theorie. Die Wirtschaftsstile, in: Schmollers Jahrbuch 56 (1932), S. 891 ff. Vgl. Schefold, Bertram, Wirtschaftsstile, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 f. Zitiert nach Kolb, Gerhard, Grundlagen, S. 109.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
23
• DieKennzeichnung vonWirtschaftsordnungen erleichtert dieGewinnung,
Aufbereitung undAuswertung vonInformationen überverschiedene Wirtschaftssysteme. Durch Ordnung kann Komplexität reduziert werden. • Da das wirtschaftliche Geschehen durch die dahinterstehende Ordnung bestimmt wird, beeinflussen die Ordnungsbedingungen die Verhaltensweisen derWirtschaftssubjekte unddamit diewirtschaftlich-sozialen Prozesse allgemein. Erst durch das Verstehen der Ordnung kann das wirtschaftliche Geschehen begriffen werden. • Vergleicht manWirtschaftssysteme, so erfüllt die klassifikatorische Ordnungstheorie eine heuristische Funktion. Wirtschaftspolitische Strategien können daraufhin überprüft werden, ob sie aufandere Systeme übertragbar sind.
DerVersuch, Wirtschaftsordnungen durch ihre prägenden oder konstitutiven Merkmale zukennzeichnen, hatinderdeutschsprachigen Nationalökonomie, wie gezeigt, eine lange Tradition. Der bekannteste Ansatz, der von Walter Eucken (1891–1950), wurde allerdings erst inderMitte des20. Jahrhunderts entwickelt, wobei –imGegensatz zurhier verwendeten Begriffsbestimmung –bei ihmdas Wirtschaftssystem denIdeal- unddie Wirtschaftsordnung den Realtyp darstellt.¦23¿ Wie schon die Ansätze seiner gestalttheoretischen Vorgänger muss Euckens Lehre von denOrdnungsformen als Antwort auf den Streit zwischen derHistorischen Schule mitihrer induktiven Methode undder abstrakten Wirtschaftstheorie mitihrer deduktiven Methode gesehen werden. FürEucken haben beide Methoden ihre Berechtigung. Seiner Meinung nach ist die Einheit vonhistorischer Betrachtung undtheoretischem Denken, von genetischer undstruktureller Erklärung unverzichtbar. Diese Einheit glaubt er mit Hilfe der Konzeption der ‚Wirtschaftsordnung‘ herstellen zu können. In ihr sollen die geschichtlichen Rahmenbedingungen desökonomischen Handelns erfasst werden. Erst sie erlaubt die Analyse desWirtschaftsablaufs mit Hilfe der deduktiven Methode der Wirtschaftstheorie. Begründet wird dieser Methodendualismus mitder Komplexität historischer Ordnungstatbestände. Die Wirklichkeit ist nach Euckens Auffassung so komplex, dass die rechtlicheundsoziale Ordnung als Datum betrachtet werden muss, alsetwas Vorgegebenes, dessen Entwicklung undWandel sich einer ökonomischen ErkläGeschichtsrung entzieht. Eucken wendet sich damit zugleich gegen die „ philosophie der Zwangsläufigkeit“ , gegen das Denken in historischen Entwicklungsgesetzen. Die Grundannahme des Denkens in Ordnungen besteht fürihndarin, dass dieGeltung einer bestimmten Wirtschaftsordnung aufpolitischen Entscheidungen beruht, diezwardurch dievorangegangene Geschichte beeinflusst wurden, dieabernicht durch einwieimmer beschaffenes geschichtliches Entwicklungsgesetz determiniert sind.¦24¿ 23 Eucken, Walter, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1940; Eucken, 24
Grundsätze derWirtschaftspolitik, Tübingen 1952. Kolb, Gerhard, Grundlagen, S. 32.
Walter,
24
1.Theoretische
Grundlagen
Die konstitutiven Grundformen einer Ordnung, die als Idealtypen ver–imEuckenschen Sprachgebrauch Wirtschaftsreinen Formen“ standenen „ , stellen lediglich gedankliche Modelle, geschichts- unddamit sinnsysteme – geben –obwohl aus exakter Beobachtung der freie Denkfiguren dar. Sie „ Wirklichkeit entstanden –keine Abbilder konkreter Wirklichkeit. Sie sind weder Photographien noch Gemälde undwollen nicht solche sein. Sie sind auch nicht in einem bestimmten historischen Milieu gedacht“.¦25¿ Als „konstitutives Prinzip“e iner Wirtschaftsordnung wählt Eucken die „ Zahl der selbständig planenden Wirtschaftseinheiten“ . MitHilfe derMethode der„pointie, Idealtypen reine Formen“ rend-hervorhebenden Abstraktion“ b ildet erzwei „ oder Referenzmodelle: „Zentralgeleitete Wirtschaft“und „Verkehrswirtschaft“ . Innerhalb derZentralgeleiteten Wirtschaft werden wiederum dieeinEigenwirtschaft“–eine überschaubare geschlossene Familifache Formder„ enwirtschaft miteinigen Dutzend oder hundert Menschen –unddie Zentral-
verwaltungswirtschaft mit volkswirtschaftlicher Dimension unterschieden. NachdemMerkmal derArt derVerteilung derKonsumgüter werden jeweils , inderes überdrei Varianten genannt: die„Total zentralgeleitete Wirtschaft“ haupt keinen Tausch gibt, die „ Zentralgeleitete Wirtschaft mit freiem Konsumguttausch“unddie „ . Zentralgeleitete Wirtschaft mit freier Konsumwahl“ DerIdealtyp derVerkehrswirtschaft wirddadurch gekennzeichnet, dass Betriebe undHaushalte untereinander inTausch- bzw.Marktbeziehungen stehen. Hierbei ergibt sich eine große Variationsvielfalt der Formen. Bei den Marktformen unterscheidet Eucken jeweils fünf Arten desAngebots undder Nachfrage: Konkurrenz, Teiloligopol, Oligopol, Teilmonopol undMonopol, woraus sich insgesamt 25 verschiedene Kombinationen, d.h. Marktformen, ergeben. Außerdem wirddieunterschiedliche Art desMarktzugangs berückgeschlossichtigt, je nachdem, ob Angebot und/oder Nachfrage „ offen“oder„ sen“s ind. Hinsichtlich der Formen der Geldwirtschaft wird auf die beiden Funktionen vonGeld als Tauschmittel undRecheneinheit abgestellt –Geld nurals Tauschmittel oder zugleich Recheneinheit. Schließlich werden in der Verkehrswirtschaft nachderArt derGeldschöpfung undderGeldvernichtung verschiedene Geldsysteme unterschieden. DieBipolarität desOrdnungsdenkens in Plan- undMarktwirtschaft wurdevonEucken selbst nicht überwunden. Sein Konzept erfasst lediglich Varianten derreinen Formen, mischt diese aber nicht. Dies versuchen neuere Ansätze zurKlassifikation vonWirtschaftsordnungen undfüllen damit denRaum zwischen denbeiden Extremen. Dierealisierten Ordnungen wurden natürlich auch vonEucken als Mischungen derreinen Formen angesehen. DieOrdnungstheorie Euckens wurde noch in anderer Hinsicht weiterentwickelt. Karl Paul Hensel unterscheidet dieVielfalt derMerkmale einer Wirtkonstitutiv“und„akzidentiell“.¦26¿ Konschaftsordnung anhand derKriterien „
25 26
nach, ebenda Hensel, Karl Paul, Grundformen derWirtschaftsordnung. Marktwirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft, München 1978.
zitiert
1. Kapitel: Ordnungstheorien
25
stitutiv bleibt dabei weiterhin die Art der Planung. Akzidentielle Merkmale sind u.a. Eigentumsformen, Rechtsformen von Unternehmen, Formen der Willensbildung undder Ergebnisrechnung in Unternehmen undFormen der Geldversorgung. Das konstitutive Element der Planungssysteme ergibt sich fürHensel ausderFrage nachdenkonkreten Ordnungsfunktionen. Dabei konzentriert er sich aufdieFunktion derKnappheitsminderung. WennKnappheit wirksam gemindert werden soll, so Hensels funktionsbezogene Begründung derAuswahlentscheidung, isteinwirtschaftlicher Rechnungszusammenhang, einkoordiniertes Planungssystem unerlässlich. Daneben beinhaltet beiHensel eine Wirtschaftsordnung noch ein rechtliches „Gebilde“–alle in Verfassungen, Gesetzen oder Verordnungen niedergelegten Rechtsregeln –undeinsittGebilde“–kulturelle Werte, Normen, Sitten undGebräuche.¦27¿ liches „ Der Einfluss der Wirtschaftsordnung auf die wirtschaftlichen HandlungenderWirtschaftssubjekte wird indiesem Konzept analytisch mitHilfe von Anreiz- und Kontrollsystemen erfasst. Je nach der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnungen werden unterschiedliche Anreize undKontrollformen begründet, woraus unterschiedliche Interessenlagen entstehen können undsich unterschiedliche wirtschaftliche Verhaltensweisen ergeben. Norbert Kloten betont indiesem Zusammenhang neben derweiterhin als Primärkriterium akzeptierten FormderPlanung die„Ordnung desEigentums“alsSubsidiärkritegemischten“Wirtschaftsordnungen baut auf der rium.¦28¿ Sein Schema von „ Bedeutung deröffentlichen oder privaten Wirtschaftsführung aufundbezieht die idealtypischen Systeme nurnoch als Grenzfälle ein, zwischen denen sich je nach der Intensität der politisch-administrativen Steuerung reale Wirtschaftsordnungen als Mischformen ergeben. InderTradition vonEucken wurden weitere Typologien vonWirtschaftsordnungen entwickelt, diesich vorallem dadurch unterscheiden, dass sie entweder stärker ideal- oder stärker realtypisch ausgerichtet sind, die aber fast durchgängig aufdieFormen derPlanung unddesEigentums alszentrale Ordnungselemente abheben. Andieser Stelle soll lediglich noch eine dieser Typologien vorgestellt werden undzwar die vonHans-Rudolf Peters. Seine kennzeichnenden Merkmale sindebenfalls die „Verfügungsgewalt , wobei er zwischen derprivaten, dergenosüber Produktion undVerteilung“ komplesenschaftlichen undderstaatlichen Variante unterscheidet, unddie „ xenPlanungs- undKoordinationssysteme“, dievondezentralen übergemischte bis zuzentralen Systemen reichen. AusderKombination dieser beiden Kriterien entwickelt Peters fünf als Realtypen verstandene Wirtschaftssysteme, wobei er in seinem Typologie-Tableau –anders alsindemhier abgedruckten
27 Vgl. Leipold, Helmut, Wirtschafts- undGesellschaftssysteme imVergleich. Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftssysteme, Stuttgart 1981, S. 31 ff.; Peters, Hans-Rudolf, Wirtschaftspolitik, S. 123 ff. 28 Kloten, Norbert, ZurTypenlehre derWirtschafts- undGesellschaftsordnung, in: Ordo 7 (1955), S. 123 ff.
26
I. Theoretische
–auch die Bereitstellung
öffentlicher Güter durch das Infrastruktursystem
Grundlagen
miteinbezieht.¦29¿
Typologie realtypischer Wirtschaftssysteme (nach H.-R. Peters) Vorwiegende Verfügungsgewalt privat über Produktion und Verteilung vonprivaten Gütern
genossenschaftlich
staatlich
Vorherrschen-
des Planungs- und Koodinierungssystem Dezentrales Planungssystem
Ordoliberale
Ordnungsorientiertes marktwirtschaftliches Koodinierungssystem
schaft
Kombiniertes Planungssystem dezentraler
und
indikativ globaler Planung
Marktwirt-
Global-
gesteuerte Marktwirt-
Konjunkturpolitisch beeinflusstes marktwirtschaftliches Koordinierungssystem
Kombiniertes Planungssystem dezentraler indikativ-struktureller Planung
und
Strukturpolitisch beeinflusstes marktwirtschaftliches Koordinierungssystem
schaft Struktur-
Struktur-
gesteuerte
gesteuerte
Marktwirt-
Arbeiter-
schaft
selbstverwaltung
Zentral geleitete Produktionswirtschaft
Zentrales Planungssystem Administratives Koordinierungssystem
in die Theorie derWirtschaftssysteme, München, Wien 1993, S. 141.
Quelle: Hans-Rudolf Peters, Einführung
Eine Kritik derklassifikatorischen Ordnungstheorie muss m.E. anfolgenden Punkten ansetzen, wobei¦30¿ • die Frage, ob es sich bei diesen Konzepten überhaupt um Ansätze mit theoretischem Gehalt handelt, nicht sowichtig ist. Zweifel sindimmerhin Theorien“ angebracht, auch wenn klassenbegriffliche undtypologische „ für die morphologische Analyse von Bedeutung sind. • Wichtiger ist dasProblem derRelevanz derjeweils ausgewählten konstitutiven Merkmale. Kriterien zur Klassifikation von Wirtschaftsordnungensindnicht objektivierbar. Allgemeine Auswahlkriterien imSinne von 29 Peters, Hans-Rudolf, Einführung, S. 141. 30 Riese, Hajo, Die Ordnungsidee und Ordnungspolitik –Kritik einer wirtschaftspolitischen Konzeption, in: Kyklos 25 (1872), S. 24 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
27
intersubjektiv nachvollziehbaren undanwendbaren Regeln fürdie Selektion prägender Ordnungsmerkmale werden nicht angegeben. Daran ändern letztlich auch die verschiedenen Versuche nichts, die Auswahlentscheidungen ausdenFunktionen derWirtschaftsordnung oderausmensch-
lichen Bedürfnissen abzuleiten. • Bei dentraditionellen Ansätzen stellt sich dieFrage, obdie Kriterien der Planungs- undEigentumsformen nicht überbetont unddamit die Realitätenidealtypisch zusehr verengt werden. DerDualismus bzw. die Dichotomie vonMarkt undPlan, Privateigentum undKollektiveigentum grenzt andere Merkmale weitgehend aus. • Erweitert manandererseits denOrdnungsbegriff umsittliche undrechtliche Elemente, ist dieser kaum noch handhabbar undverleitet zu einer historischen Beschreibung undErklärung. Wennjede Wirtschafts„nur“ ordnung ihre historische Individualität hätte, dannwärees kaummöglich, allgemeine Aussagen darüber zumachen, wiederWirtschaftsprozess innerhalb dieser Ordnung verlaufen würde. Wirtschaftswissenschaft könnte dannnurmitdenMethoden derhistorischen Forschung betrieben werden. • Es fehlt bei allen Ordnungsschemata der dynamische Aspekt. Die bloße Klassifikation von Wirtschaftsordnungen trägt kaum der Tatsache Rechnung, dass diese sich laufend wandeln, auch wenn ihre Grundstrukturen über längere Zeiträume stabil bleiben. Gerade kleine Unterschiede könnenerhebliche Konsequenzen für wirtschaftliches Verhalten haben. Als analytisches Mittel wäre der Begriff ‚Ordnung‘, deman sich schon eine statische Perspektive anhaftet, daher nurdann brauchbar, wenn manihn imSinne von‚Ordnen‘interpretiert. • Vorallem aberhandelt essichbeidiesen Ansätzen umtypologische Theorien, nicht umeine evolutionäre odererklärende. Warum Wirtschaftsordnungen entstehen, wiesie sich wandeln, welche gesellschaftlichen Kräfte alldies sindFragen, dienicht beantwortet dahinter wirksam werden etc. – werden. Institutionen gehören eben zumDatenkranz, d.h. zujenen Phänomenen, die zwar das ökonomische Geschehen mit beeinflussen, die selbst aber außerhalb desGegenstandsbereiches derökonomischen Analyse undTheorie liegen.
1.3. Evolutorische Ansätze
In diesem Abschnitt sollen Ansätze vorgestellt werden, die nach den Ursachen fürdie Entwicklung unddamit demWandel vonWirtschaftsordnungen fragen. Dabei geht es nicht umFaktoren, die außerhalb dessozio- bzw. polit-
ökonomischen Systems liegen, sondern umsolche, diediesem immanent sind. Damit soll zugleich zumAusdruck gebracht werden, dass es weniger umden theoretische Regelmäßigkeit“geht. historischen Zufall“undmehr umdie „ „ Natürlich werden Wirtschaftsordnungen durch politische Ereignisse beein-
28
I. Theoretische
Grundlagen
flusst –oft auf dramatische Weise. Die Französische Revolution von 1789 unddieMachtergreifung Napoleons inEuropa ließdieWirtschafts- undSozialordnungen desAncien Regimes indendeutschen Territorien zusammenbrechen. Unter dernationalsozialistischen Diktatur inden1930er Jahren trateine tiefgreifende Veränderung derliberal-marktwirtschaftlichen Ordnung ein. Der sowjetische Einfluss in Osteuropa nach demZweiten Weltkrieg ließ auch in
Ostdeutschland eine Zentralverwaltungswirtschaft entstehen. Indiesen Fällen waren es „ externe“E inflüsse, die zueinem schockartigen Wandel der Wirtschaftsordnungen führten. Aber auch soziale Revolutionen im Inneren könneneinen plötzlichen Umbruch bewirken, wobei deren Ursachen wiederum häufig in denUngerechtigkeiten des wirtschaftlichen Systems lagen. Sie führten zum Zusammenbruch des politischen Systems, der dann die Wirtschaftsordnung mitsich riss. Hier sollen aber, wiegesagt, die wirtschaftssystemimmanenten Faktoren imVordergrund stehen, dieeinen evolutionären Wandel derWirtschaftsordnung bewirken können. Das Ausmaß, in demWirtschaftsordnungen auf „Störungen“reagieren, hängt von ihrer Stabilität oder Instabilität ab. Der Begriff der ‚Stabilität‘ ist derGleichgewichtstheorie entlehnt. Danach sind Ordnungen stabil, wenn sie innere Kräfte besitzen, diedieentstandenen Ungleichgewichte vonselbst wiederabbauen. DieUngleichgewichte kumulieren also nicht undlassen dieOrdnungen nicht zusammenbrechen. InderRealität wirdessolche Gleichgewichte gar nicht geben, weil sie eine stationäre Gesellschaft voraussetzen, in der sich nichts verändert. In derWirklichkeit müssen dieWirtschaftsordnungen vielmehr permanent densich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden. DerZustand desUngleichgewichts istdieRegel undnicht die Ausnahme. Insofern wird auch die Tendenz zurStabilität in denmeisten Ordnungen vorhanden sein, dasiesonst selbst kurzfristig nicht überleben könnten. Wennsich aber Ordnungen permanent verändern, stellt sichdasdefinitorische Problem der Identifikation: Bis wann kann manvonderAnpassungsfähigkeit ein undderselben Ordnung sprechen undab wann findet ein Bruch statt, der zu einer neuen Ordnung führt. Sicherlich gibt es konstitutive und akzidentelle Bestandteile einer Ordnung undmansollte vonderen Wandel nursprechen, wennsichdiekonstitutiven Bestandteile ändern. Allerdings stellt sich sofort die Frage, was grundlegende undwas nebensächliche Elemente sind.¦31¿
Eine klare Abgrenzung zwischen typologischen undevolutorischen Ordnungstheorien istkaummöglich. Bereits beidentypologischen Ansätzen wurde deutlich, dass sie auch entwicklungstheoretische Elemente enthalten und die im folgenden dargestellten evolutorischen beschäftigen sich auch mit klassifikatorischen Strukturmerkmalen. Bevor auf ideengeschichtliche und institutionenökonomische Ansätze eingegangen wird, soll zunächst nochein31
Gutmann, Gernot, Volkswirtschaftslehre. Eine ordnungstheoretische Einführung, Stuttgart 1990.
1.Kapitel: Ordnungstheorien
29
maldaran erinnert werden, dassesletztlich diemenschlichen Bedürfnisse sind, diedieEntwicklung derwirtschaftlichen wiediealler anderen Teilordnungen einer Gesellschaft bestimmen.
a. Menschliche Bedürfnisse
In letzter Konsequenz sinddiemenschlichen Bedürfnisse dieTriebkräfte der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen.¦32¿ Indem der Mensch lernt, seine Umwelt zu beherrschen undzur Erfüllung seiner Bedürfnisse einzusetzen, verfestigen sich seine Handlungen inInstitutionen. DieBedürfnisentwicklung bestimmt die Organisationsentwicklung. Sicherlich sind nicht alle menschlichen Bedürfnisse fürdie Ausgestaltung vonWirtschafts- undSozialordnungengleichermaßen wichtig. Bei denphysiologischen Bedürfnissen (Nahrung, Kleidung, Wohnung) undbei denSicherheitsbedürfnissen (sicheres Leben, sicherer Beruf, sicheres Einkommen, gesichertes Alter etc.) dürfte es noch relativ leicht sein, ihre ordnungsrelevante Bedeutung zu erkennen. Bei den sozio-emotionalen Bedürfnissen (Zuneigung, Freundschaft, Geselligkeit etc.), denBedürfnissen nach Ansehen undnach Selbstverwirklichung dürfte dies schon schwieriger sein. Dennoch dienen Wirtschaftsordnungen nicht nurdazu, die„materiell“fassbaren Bedürfnisse derMenschen zubefriedigen. Sie müssenvielmehr als gesellschaftlich-kulturelle Teilordnungen begriffen werden, die auch durch nicht-ökonomische Bedürfnisse geprägt werden. Eine selbständige Sphäre des ‚Wirtschaftens‘gibtes nicht; sie ist unauflöslich mitder des ‚Sozialen‘undderdes ‚Kulturellen‘verbunden. Kultur ist der Komplex vonWerten, Glauben, Wissen, Kunst, Moral undallen übrigen Fähigkeiten undGewohnheiten, Denk- undVerhaltensmuster, die sich die Menschen als Mitglieder einer Gemeinschaft durch soziales Lernen aneignen.¦33¿ Dasökonomisch-technische Paradigma neigt dazu, die kulturelle Bedingtheit menschlichenHandelns zuunterschätzen. AberauchdieWirtschaft undihre Ordnung wird durch diese geprägt. Wirtschaftsordnungen sind komplexe gesellschaftliche Gebilde, deren kulturelle Dimensionen fast alle Bestandteile prägen. Mit menschlichen Bedürfnisse werden nicht nur ganz allgemein Einflussfaktoren für die Entwicklung vonWirtschaftsordnungen benannt. Mit ihrer Hilfe können auch spezielle Merkmale von Wirtschaftsordnungen begründet werden. Diese Merkmale stellen dann die aufbauorganisatorische Konkretisierung funktionaler, d.h. zurBefriedigung menschlicher Bedürfnisse geeigneter Handlungsabläufe dar. Wählt manmenschliche Bedürfnisse als Bezugspunkte einer funktionsfundierten Auswahl vonMerkmalen, kanneventuell eine intersubjektiv nachvollziehbare und nachprüfbare Regel für die 32 33
Schönwitz, Dietrich/Weber, Hans-Jürgen, Wirtschaftsordnung, S. 17 f. Koslowski, Peter, Wirtschaft als Kultur. Wirtschaftskultur undWirtschaftsethik Postmoderne, Wien 1989.
in der
30
I. Theoretische
Grundlagen
Auswahl prägender Ordnungsmerkmale gewonnen werden – einProblem, das bei der Klassifikation vonWirtschaftsordnungen bereits angesprochen wur-
de.
b. Ideengeschichtliche Ansätze
Vor allem Historiker neigen dazu, die Entwicklung vonGesellschafts- und damit von Wirtschaftsordnungen auf die Veränderung von Ideen, Normen, Werten oder Traditionen zurückzuführen. Jede Ordnung basiert danach letztlich auf bestimmten geistigen, politischen undethischen Überzeugungen, die sich im Laufe der Zeit wandeln. Wenn anfangs darauf hingewiesen wurde, dass hier die wirtschaftsimmanenten Faktoren imVordergrund stehen sollen, die denWandel vonWirtschaftsordnungen verursachen, so muss die Frage, obdasSeindasBewusstsein prägt oderumgekehrt, imSinne einer Rückkopplung beantwortet werden: Die sozioökonomischen (und gesellschaftlichen) Verhältnisse lassen neue Ideen entstehen, die danneine Veränderung derselbenbewirken. Nunkönnen andieser Stelle keine gesellschaftspolitischen oder geschichtsphilosophischen Entwürfe vorgestellt werden. Es geht im folgendenlediglich umwirtschaftspolitische Konzeptionen, dieinderNeuzeit einen Wandel derWirtschaftsordnungen mitverursacht haben können. Dabei sollen folgende Fragen andiese Konzepte gestellt werden: Wie wurden die sozioökonomischen Verhältnisse beurteilt? Welche Ziele wurden formuliert? Welche Ordnung wurde anvisiert? Welche wirtschaftspolitischen Instrumente wurden vorgeschlagen?¦34¿ Merkantilistische Konzeption
Die Lageanalyse derdeutschen Merkantilisten bzw. Kameralisten des 17.und 18. Jahrhunderts musste zunächst einmal die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse im undnach dem30jährigen Krieg konstatieren.¦35¿ Offensichtlich war außerdem, dass die mittelalterliche Eigen- undZunftwirtschaft an Bedeutung verlor unddas ‚Wirtschaften‘ zunehmend einen arbeitsteiligen, marktorientierten Charakter aufwies. Hinzu kam, dass sich seit Beginn der Neuzeit der territoriale Nationalstaat herausbildete, undder absolutistische Landesherr die traditionellen Machtträger –Stände, Klerus, Städte –allmählich ablöste. Sein Machtanspruch wurde zwar durch die politische Ordnung weitgehend abgesichert, erbedurfte abereiner wirtschaftlichen Basis, umden wachsenden Beamtenapparat, dasstehende Heer unddieprachtvolle Hofhaltung finanzieren zukönnen. DasZiel dermerkantilistischen Konzeption war 34 Glastetter, Werner, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Mannheim 1992, S. 13 ff. 35 Blaich, Fritz, DieEpoche desMerkantilismus, Wiesbaden 1973; Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik, S. 32 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
31
es daher, den„Reichtum“des Staates –personalisiert imregierenden Fürsten –zumehren, wobei dieser Reichtum aufzweifache Weise interpretiert wurde:
zumeinen unmittelbar als Geld- oder Edelmetallbesitz, zumanderen mittelbarals Wirtschaftskraft desLandes imSinne einer produktiven Nutzung seinerRessourcen Arbeit, Boden, Kapital undtechnischer Fortschritt. DasGewerbe sollte gefördert undderExport angeregt werden, umdurch höhere Steuer- undZolleinnahmen die Staatsfinanzen zuverbessern. DasZiel ergab sich somit unmittelbar ausderAusgangslage undführte ebenso folgerichtig zuden ordnungspolitischen Konsequenzen: Deromnipotente Staat konnte einen willkürlichen, direkten Interventionismus betreiben, d.h. dieWirtschaft inseinem Interesse kontrollieren undlenken. Zwar waren Begriffe wie ‚Wettbewerb‘, ‚Markt‘oder ‚Preis‘nicht unbekannt. Sie wurden aber nicht im Sinne einer liberalen Ordnung interpretiert, sondern alsMittel verstanden, umPrivilegien vonZünften undStädten zurückzudrängen. Sobald staatliche Interessen berührt wurden, warmanim Rahmen der merkantilistischen Konzeption ohne Bedenken bereit, monopolistische Machtpositionen zuschaffen. Derstaatliche Interventionismus entsprach insofern demordnungspolitischen Rahmen, alser ankeine Vorgaben gebunden war. DerStaat sollte sich dasRecht vorbehalten, überall undjederzeit direkt eingreifen zukönnen. Dasvorgeschlagene Instrumentarium reichte vonspezifischen Maßnahmen zur Vermehrung des Produktionsfaktors Arbeit übersolche zurFörderung desGewerbes, aberauch derLandwirtschaft, bis zudirigistischen Eingriffen in die Außenwirtschaft. Dabei ging es imkameralistischen Schrifttum vornehmlich umkonkrete Vorschläge zur Bewältigung praktischer Probleme.
Klassisch-liberale Konzeption Vorgedacht wurden verschiedene Elemente derklassisch-liberalen Konzep-
tion durch die Physiokraten derersten Hälfte des 18.Jahrhunderts undderen Vorläufer im 17.Jahrhundert. Abererst zuBeginn des 19.Jahrhunderts setzte sie sich in dendeutschen Territorien allmählich durch. In derZwischenzeit hatte sich die Naturrechtslehre zueiner breiten Geistesströmung entwickelt.¦36¿ Das Individuum wurde als vernunftbegabtes Wesen begriffen, das rational handelt unddeshalb keiner Bevormundung bedarf –weder durch vorgegebeneSittenlehren, nochdurch überkommene Traditionen oder staatliche Gewalten. Realökonomisch und-politisch konstatierte dieLageanalyse derklassischliberalen Konzeption, dass der Übergang vonder feudalen zurbürgerlichen Gesellschaft voranschritt. Die industrielle Revolution hatte in einigen Ländern–allen voran Großbritannien –eingesetzt, dieMarktbeziehungen weitetensich ausunddie Produktionskräfte entwickelten eine bis dahin nicht gekannte Dynamik. Mit diesen Veränderungen wandelten sich auch die wirtschaftspolitischen Ziele, indem derBegriff desWohlstandes neuinterpretiert 36 Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik, S. 37 ff.
32
I. Theoretische
Grundlagen
wurde. Nicht mehrderReichtum desHerrschers sollte vermehrt, sondern die Güterversorgung der Bevölkerung verbessert werden. Umdas zu erreichen, sollten die individuellen Entscheidungen von staatlicher Gängelung befreit undder ungehinderte Marktmechanismus als zentrales Steuerungsmedium eingesetzt werden. Dabei wurden die Marktergebnisse als „natürlich“nicht nurimpositiven (naturgesetzlichen), sondern auchimnormativen (bewertenden) Sinne angesehen, da sie durch die individuelle Leistungsfähigkeit bestimmt wurden. Hieraus leitete manunmittelbar daszentrale Ordnungsprinzip ab: Obwohl derMensch vonNatur ausegoistisch ist undseine eigenen Interessen verfolgt, sorgt derwettbewerbliche Marktmechanismus dafür, dass gesamtwirtschaftlich ein füralle befriedigendes Ergebnis erzielt wird. DieimVergleich zumMerkantilismus unterschiedliche Zielformulierung führte also zueinem unterschiedlichen Ordnungskonzept. Indiesem Ordnungskonzept störten staatliche Eingriffe den freien markt- undpreisgesteuerten Wirtschaftsablauf, derdie effektivste Allokation derProduktionsfaktoren und diegerechteste Verteilung derProduktionsergebnisse sicherte. Dennoch sollte derStaat indieser liberal angelegten Wirtschaftsordnung wichtige Funktionenausüben; dasSozialprinzip besaß auchinderklassisch-liberalen Konzep1790) forderte Staatstion einen eigenständigen Wert. Adam Smith (1723– interventionismus aus allokationspolitischen Gründen, Thomas R. Malthus (1766–1834) aus stabilitätspolitischen, John St. Mill (1806–1873) aus verteilungspolitischen. Allerdings wardieser, durch die liberale Ordnung gezügelte Interventionismus nicht mit der Vielzahl mehr oder weniger willkürlicher Maßnahmen dermerkantilistischen Konzeption zuvergleichen. Besaß dagegen das Sozialprinzip keinen eigenständigen Wert, blieb demStaat nurdie Aufgabe, denOrdnungsrahmen zusichern; seine Bedeutung als aktiver Akteur im wirtschaftlichen Geschehen wardann äußerst gering, wie bei David 1823). Diese verschiedenen ziel- undordnungspolitischen PerRicardo (1772– spektiven bestimmten auch die wirtschaftspolitischen Instrumente, die zum Einsatz kommen sollten. Einig warmansich imliberalen Lager darüber, dass diezahlreichen Privilegien, diead-hoc-Interventionen unddieHandelshemmnisse desmerkantilistischen Systems abgebaut werden sollten. Weniger einig warmansich überdiepositiven Instrumente, überdiederStaat verfügen sollte. Überschaut mandiekonzeptionelle Spannbreite desklassischen Liberalismus,wirdmankaumextreme Positionen finden, dievollkommen denGleichgewichts- undSelbstheilungskräften derwettbewerblichen Ordnung vertrauten. In denmeisten Entwürfen spielte derStaatsinterventionismus eine nicht unwichtige Rolle. Ähnlich wie bei der merkantilistischen kann manbei der klassisch-liberalen Konzeption nurbedingt voneinem einheitlichen Ansatz sprechen. Erst imLaufe des 19. Jahrhunderts setzte sich danndiekonsequent utilitaristisch-individualistische Auffassung durch, mit derdas liberale Konzeptzwareine logische Geschlossenheit erreichte, gleichzeitig aberdenBlickwinkel verengte undimmer weniger in der Lage war, die gesellschaftliche unddamit sozioökonomische Realität zu erfassen. Der Liberalismus wurde
1. Kapitel: Ordnungstheorien
33
zurtheoretisch-ideologischen Grundlage desungezügelten „Laissez-faire“ -Kapitalismus. Insgesamt stellte dasklassisch-liberale Konzept also eine radikale Alternative zummerkantilistischen dar. Es entsprach dengeistig-politischen Reformströmungen unddensozialökonomischen Veränderungen seiner Zeit. Mit demwettbewerblichen Preismechanismus deseigengesetzlichen Marktes löste es den Konflikt im merkantilistischen Ansatz zwischen der Etablierung wirtschaftlicher Dynamik unddemwillkürlichen staatlichen Dirigismus auf. Mit den klassisch-liberalen Ideen wurden wichtige konzeptionelle GrundlagenderWirtschaftsordnung des 19.unddes20. Jahrhunderts geschaffen.
Sozialistische Konzeption
Derwissenschaftliche Sozialismus entstand inden 1850er und1860er Jahren mit seinen Hauptexponenten Friedrich Engels (1820–1895) undKarl Marx (1818–1883).¦37¿ In derZwischenzeit hatte sich dasneue liberale System auch indendeutschen Staaten ausgebreitet; eindramatischer Wandel desinstitutionellen Rahmens warvollzogen worden. DieIndustrialisierung hatte endgültig Fußgefasst undveränderte die realen Produktionsprozesse nicht weniger radikal. Imgesellschaftlich-sozialen Bereich entstand mitdenbürgerlichen UndenKapitalisten –eine neue Machtelite, deren Basis nicht mehr ternehmern – derGrund undBoden unddie feudal-ständischen Rechte waren, sondern ihre Betriebe undProduktionsmittel –das Kapital. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts warzugleich diePeriode, indersich diesozialen Sicherungssysteme desAncien Regime endgültig auflösten, neue aber noch nicht geschaffen waren. Der‚Pauperismus‘prägte diese Epoche, d.h. eine bisdahin nicht gekannte Verelendung großer Teile derBevölkerung. WieamAnfang desKapitels bereits angesprochen, enthalten diemeisten Ordnungstheorien klassifikatorische undevolutorische Perspektiven. Diesgilt auchundganzbesonders fürdenmarxschen Ansatz, dersowohl gesellschaftliche Entwicklungen als auch gesellschaftliche Strukturen analysieren will. Es geht Marx undEngels darum, sowohl das „kapitalistische Bewegungsgesetz dermodernen Gesellschaft“als auchdie „innere Organisation derkapitalistischen Produktionsweise“zu erfassen. Hier soll auf die evolutorischen Überlegungen eingegangen werden.¦38¿ Derdiematerialistische Geschichtsauffassung unddendialektischen Materialismus prägende Grundgedanke wird amprägnantesten vonMarx selbst Inder imVorwort zur„Kritik derPolitischen Ökonomie“zusammengefasst: „ gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Pro-
37 Ebenda, S. 44 ff.; Kromphardt, Jürgen, Konzeptionen, S. 123 ff. 38 Leipold, Helmut, Wirtschaftssysteme, S. 14 ff.
34
I. Theoretische
Grundlagen
duktivkräfte entsprechen. DieGesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich einjuristischer undpolitischer Überbau erhebt, undwelcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt densozialen, politischen undgeistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht dasBewusstsein derMenschen, dasihr Sein, sondern umgekehrt ihrgesellschaftliches Sein, dasihrBewusstsein bestimmt. Aufeiner gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte derGesellschaft inWiderspruch mitdenvorhandenen Produktionsverhältnissen oder, wasnureinjuristischer Ausdruck dafür ist, mitdenEigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln ¦39¿ derselben um.Es tritt danneine Epoche sozialer Revolution ein.“ ImGegensatz zumTier ist derMensch inderLage, dieNatur zuformen undin gebrauchsfähige Güter zutransformieren. Dabei nutzt er die technischen Möglichkeiten, die er selbst geschaffen hatunddie er ständig verbessert. Indiesen technischen Produktionsinstrumenten vergegenständlicht ereinen Teil seiner produktiven Arbeit. Im Produktionsprozess wirken somit Mensch undNatur gegenseitig aufeinander ein, wobei sich imZuge dieser naturalökonomischen Vorgänge zugleich sozialökonomische Verhältnisse und Beziehungen –die Produktionsverhältnisse –undmit ihnen auch die Wirtschaftsordnung formen. ObderMensch dabei eine dominante, schöpferische oder untergeordnete, passive Rolle spielt, hängt letztlich vonderMöglichkeit ab,überProduktionsmittel zuverfügen. DenndieVerfügung überdieProduktionsmittel bedingt wegen der Einheit von natural- undsozialökonomischen Verhältnissen auch die Verfügung über Menschen. Sie hängt wiederum von den Eigentumsverhältnissen ab. Die Art unddie Ausgestaltung der Eigentumsrechte bestimmen darüber, wersich aufwelche Weise dieNatur imweiteren unddie Produktionsergebnisse im engeren Sinne aneignen kann. Die Eigentumsverhältnisse andenProduktionsmitteln sindindermarxschen Theorie somit die konstitutive Determinante der Produktionsverhältnisse unddamitderWirtschaftsordnung. Berücksichtigt manaußerdem, dassentsprechend demBasis-Überbau-Theorem dieökonomischen Verhältnisse diepolitischen, sozialen undkulturellen bedingen, so prägen sie letztlich dasgesamte gesellschaftliche System. Marx unterscheidet mit demprivaten undgesellschaftlichen Eigentum zwei grundlegende Eigentumsformen. Seiner Meinung nach warPrivateigentum immer mit ökonomischer Ausbeutung undpolitischer Herrschaft über Nichteigentümer verbunden, d.h., es begründete Klassenverhältnisse. Dabei folgten die Sklaverei, derFeudalismus undderKapitalismus nicht rein zufäldie Entwicklung der ökonomischen lig aufeinander. Marx fasst vielmehr „
39 Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) (1859), in: MEW, Bd. 13, Berlin-Ost 1954, S. 3 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
35
Gesellschaftsformationen alseinen naturgeschichtlichen Prozess“auf, alsein objektiv waltendes Geschichtsgesetz, dasdie tendenzielle Übereinstimmung vonProduktivkräften –natürliche Ressourcen, Arbeitskräfte, Produktionsmittel, Roh- undHilfsstoffe, technisches Wissen –undProduktionsverhältnissen gewährleistet. Wennsich aberdieineinem dialektischen Zusammenhang stehenden Produktivkräfte undProduktionsverhältnisse, die zusammen die Produktionsweise bestimmen, auseinander entwickeln, entstehen Spannungen. Dieinihrer Entwicklung behinderten Produktivkräfte versuchen denRahmen zusprengen, dendie vergleichsweise starren Produktionsverhältnisse setzen. DieProduktivkräfte spielen also diedynamische unddominierende Rolle im Entwicklungsprozess. Allerdings geht eine Gesellschaftsformation nie unter, bevor sich nicht alle Produktivkräfte unter denvondenProduktionsverhältnissen gesetzten Bedingungen voll entfaltet haben, undneue Produktionsvermateriellen Exihältnisse treten nie an die Stelle der alten, bevor nicht die „ stenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind“.¦40¿ Dieses Entwicklungsschema beinhaltet denGlauben anpermanenten Fortschritt, dadiealte Gesellschaftsformation immer voneinerneueren aufhöherer Entwicklungsstufe abgelöst wird. DieGeschichte der Menschheit endet schließlich in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Marxkannunmittelbar andenMaterialismus derKlassik anknüpfen –der klassische Liberalismus denkt ja mitdemZiel derindividuellen Wohlstands, ihndann aber diamaximierung ebenfalls in materialistischen Kategorien – lektisch wenden: Wenn die wirtschaftlichen Prozesse durch die bestehenden Produktionsverhältnisse bestimmt werden, diese aber wiederum historisch vorgegeben sind, haben die Ablaufgesetze desliberalen Systems keinen zeitlosgültigen Charakter, sondern sindentwicklungsgeschichtlich bedingt. Marx setzt somit andieStelle deruniversellen ‚Ablaufgesetze‘desLiberalismus die historisch bedingten ‚Bewegungsgesetze‘ desKapitalismus. Dasmarxsche Konzept ist letztlich eine kritische Analyse derVerhältnisse im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ziel-, Ordnungs- undInstrumentenanalyse sind unterentwickelt.¦41¿ Eine überzeugende Alternative zumklassischen Verständnis von Freiheit undWohlstand als letztem Ziel wird nicht geboten. Zwarfasst MarxdenBegriff derindividuellen Freiheit weiter alsdie Klassiker –nicht nur ‚frei‘vonjeglichem staatlichen Zwang, sondern auch frei vonprivater Ausbeutung. Aber auch bei ihmbedarf individuelle Freiheit dermateriellen Absicherung, d.h. wirtschaftliches Wachstum ist ebenfalls eine entscheidende Zielgröße. Allerdings wird im Liberalismus das Wachstumsziel individualistisch interpretiert, während es bei Marx im Endstadium der ‚jegesellschaftlichen Entwicklung zwar auch individualistisch geprägt ist – , gleichzeitig aber füreine ‚sozialistische‘Zwidernachseinen Bedürfnissen‘– 40 Zitiert nach Leipold, Wirtschaftssysteme, S. 17.
41
Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik,
S. 46 ff.
I. Theoretische
36
Grundlagen
Schema derStruktur undEntwicklung vonGesellschaftsformationen
nach Karl Marx Überbau = (Gesamtheit politischer, rechtlicher undkultureller Institutionen Ideologien)
und
Gesetz (Tendenz) derÜberGesellschaftsformation
einstimmung des Überbaus mitderökonomischen Ba-
sis
Produktionsverhältnisse = (BeziehunMenschen (Klassen) und
genzwischen
Produktionsprozeß, diedurch diejeweiligen Eigentumsverhältnisse anProdukttionsmitteln geprägt werden)
Produktionsweise als Einheit vonProduktionsverhältnissen undProduktivkräften (z.B. Sklavenhalterge-
sellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Kom-
Da sich die Produktivkräf-
Gesetz (Tendenz) der
Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mitdemCharakter undStand derProdukt-
tivkräfte
munismus)
Produktivkräfte
te entwickeln, tauchen Widersprüche mitden
Produktionsverhätlnissen auf. Sie werden durch gewaltsame Modifikation
der Produktionsverhält-
nisse gelöst. DerÜberbau passt sich langsam aber allmählich andieveränderten Verhältnisse an.
= (Menschen undPro-
duktionsmittel). Beideren ZusammenwirkenimProduktionsprozeß entstehen relativ stabile Verhältnisse, Produktionsverhältnisse genannt.
Natur
Helmut Leipold, Wirtschafts- undGesellschaftssysteme im Vergleich. Grundzüge einer Theorie derWirtschaftssysteme, Stuttgart 1981, S. 18.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
37
schenphase ganz allgemein der Aufbau des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials in den Vordergrund tritt. In dieser Zwischenphase muss das Ziel derVerteilungsgerechtigkeit nochhinter demderKapitalbildung zurücktreten; dieLösung dersozialen Probleme wirdaufeine unbestimmte Zukunft vertagt. Auch das Ordnungskonzept für den langen Weg bis zumkommunistischen Endstadium wirdnicht präzisiert. Eindeutig istzwardieForderung nach Abschaffung desPrivateigentums anProduktionsmitteln. WasaberandieStelle privatwirtschaftlicher Eigentumsverhältnisse treten soll –VergesellschaftungoderVerstaatlichung –bleibt ebenso diffus wiedieRolle desStaates, der ja langfristig absterben soll. Unklarheit herrscht ebenso hinsichtlich desInstrumenteneinsatzes. Würde die Geschichte einem deterministischen Entwicklungsgesetz folgen und wäre derKapitalismus zumZusammenbruch verurteilt, erübrigten sich Maßnahmen, umdiesen Zusammenbruch herbeizuführen. Wäredies nicht derFall, müsste dasProletariat ineinem revolutionären Aktdasüberkommene System zerstören. Die Hinweise zur sozialistischen Übergangsphase zwischen der Zerstörung desKapitalismus undderErrichtung desKommunismus beschränkensich auf die Förderung derindustriellen undagrarischen Produktion, die zentrale Lenkung derKreditvergabe durch eine nationale Zentralbank unddie arbeitswertorientierte Preis- und Lohnbildung. Prinzipiell soll an die Stelle derstaatlichen Lenkung immer mehrdiegesellschaftliche Selbststeuerung treten, die schließlich in eine wie auch immer organisierte herrschaftslose Gesellschaft mündet. Zwar wurde das marxsche Entwicklungsgesetz –soweit es überhaupt empirisch überprüfbar ist –nirgends bestätigt, dennoch wurde die EntwicklungderWirtschaftsordnungen im 19.und20. Jahrhundert durch diemarxistische Konzeption entscheidend geprägt. Fast noch stärker als beim Liberalismussollte eine Idee denGang derDinge beeinflussen –meist imGegensatz zumeigenen analytischen Ansatz, d.h. unabhängig vomEntwicklungsstand derProduktivkräfte undvonderAusgestaltung derProduktionsverhältnisse.
Interventionistische Konzeption
Die interventionistische Konzeption entwickelte sich seit demEnde des 19. Jahrhunderts undgelangte im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren endgültig zumDurchbruch.¦42¿ ImLaufe des 19.Jahrhunderts hatte sich derLiberalismus inallen weiterentwickelten Ländern etabliert, wobei sichdie staatlichen Funktionen zunächst aufdieSchaffung vonmarktwirtschaftlichen Freiräumen konzentrierten, ohne diese auszufüllen. In ordnungspolitischer Hinsicht entstand damit ein Machtvakuum, dasdasIndividuum als einzelnes nicht ausfüllen konnte und das der Staat nicht ausfüllen sollte. Allerdings 42
Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik,
S. 50 ff.
38
I. Theoretische
Grundlagen
drängten im Laufe der Zeit gesellschaftliche Kräfte in diese Freiräume, die das klassisch-liberale Konzept noch nicht hatten erkennen können. ImZuge derfortschreitenden Industrialisierung förderten dertechnische Fortschritt, der steigende Kapitalbedarf derUnternehmen undnicht zuletzt dasBemühen, sich demKonkurrenzdruck zuentziehen, denKonzentrationsprozess, dieBildung vonKartellen, Trust undKonzernen. Es entstanden Wirtschaftseinheiten, die sich nicht denMarktdaten unterwarfen, sondern diese selbst setzten. Gleichzeitig entwickelten sich Interessenverbände, die Einfluss auf denStaat nahmen. Die sozialen Probleme blieben bestehen undverlangten nach einer Lösung. In Bereichen von Bildung, Gesundheit oder Verkehr wurde deutlich, dass öffentliche Eingriffe nicht nurausgemeinwohlfördernden Motiven notwendig waren, sondern auch umdie Reproduktionsfähigkeit undEffizienz des Systems zuerhalten. Amgrundsätzlichen Ziel derSteigerung derindividuellen Wohlfahrt änderte das interventionistische Konzept nur insofern etwas, alsdieses Ziel nicht mehrfast ausschließlich individuell überdenMarkt, sondern stärker solidarisch auch über die Gemeinschaft erreicht werden soll-
te.
Die ordnungspolitischen Konsequenzen, die aus der Lageanalyse gezogen wurden, zielten aufein verändertes Verhältnis vonMarkt undStaat. Der Staat sollte beiFehlentwicklungen intensiver alsbisher eingreifen, dieMarktprozesse vonvornherein in bestimmte Bahnen lenken oder die MarktergebRechts- undMacht“ nisse im nachhinein korrigieren. Der Übergang vom„ taat (Adolph Wagner, 1835–1917) wurStaat zum„Cultur- undWohlfahrts“ de gefordert.¦43¿ Vomklassisch-liberalen -S Konzept unterscheidet sich dasinterventionistische also dadurch, dass es nicht mehrvornehmlich demMarkt vertraut, vomsozialistischen dadurch, dassesdiegegebenen ProduktionsverhältOffenheit“gegenüber diesen nisse grundsätzlich nicht verändern will. Die „ Konzeptionen erfordert aber eine eindeutige undtheoretisch begründete Vorstellung über das Verhältnis von Markt undStaat, die Ziele des Staates und seine Instrumente. Da darüber aber gesellschaftlich-politische Wertvorstellungen entscheiden, kann die interventionistische Konzeption nicht die gleiche rationale Geschlossenheit aufweisen wie die anderen Konzeptionen, die diese allerdings nuraufgrund fragwürdiger Implikationen erreichen. Sie muss vielmehr aufdiekonkreten, sich permanent verändernden Sachprobleme reagieren können unddeshalb pragmatisch angelegt sein.¦44¿ Es wardiese Orientierung anpraktischen Problemen, die zuganz unterschiedlichen Ansätzen innerhalb derinterventionistischen Konzeption führte, wobei tendenziell die Spannbreite öffentlicher Eingriffe immer mehr erweitert wurde. AmEnde des 19. Jahrhunderts ging es vornehmlich umdenAufbau sozialer Sicherungssysteme undinfrastruktureller Dienstleistungsnetze.
43 44
Leineweber, Norbert, Dassäkulare Wachstum derStaatsausgaben. Eine kritische Analyse, Göttingen 1988 S. 11 ff. Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik, S. 54 f.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
39
als Konzept der ‚Daseinsvorsorge‘ bezeichnet der Weltwirtschaftskrise vor dem Hintergrund extremer Arbeitslosigkeit und nicht ausgelasteter Kapazitäten Anfang der 1930er Jahre entwickelte Ansatz, dervorallem mitdemNamen vonJohn M. 1946) verbunden ist, stellte danndasklassische Paradigma von Keynes (1883– derautomatischen Stabilisierung des liberalen Systems grundsätzlich in Frage. Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen –vorallem diekreditfinanzierte Ausgabensteigerung deröffentlichen Haushalte –zurRückgewinnung neuer Aufschwungsdynamik inderKrise wurde nunauchtheoretisch begründet.NachdemZweiten Weltkrieg folgten Interventionskonzepte, diedemStaat mehr oder weniger intensive Lenkungskompetenzen übertrugen, mit denen sowohl strukturelle als auch konjunkturelle Verwerfungen geglättet werden
Es entstand das, was später werden sollte. Der während
sollten.
‚Die‘interventionistische Konzeption gibt es also noch weniger als ‚die‘ merkantilistische oder ‚die‘klassisch-liberale. Es gibt vielmehr ein breites linkskeynesianischen“VorstelSpektrum unterschiedlicher Ansätze, dasvon„ lungen über eine konsequente Umverteilung undeine intensive Global- und Struktursteuerung bis zusolchen übereine lediglich moderate Konjunkturbeeinflussung reicht. Gerade injüngster Vergangenheit verschwimmen dieGrenzenzwischen derinterventionistischen undderliberalen Konzeption. Diejenigen, die den Selbststeuerungsfähigkeiten des liberal-marktwirtschaftlichen Systems grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen, können für einen Abbau staatlicher Regulierung undfüreine Privatisierung öffentlicher Unternehmen sein, wieumgekehrt überzeugte Anhänger desLiberalismus staatliche Steuerung insolchen Bereichen akzeptieren, indenen eingesellschaftlicher Bedarf besteht, der aber marktwirtschaftlich nicht befriedigt wird. Insofern ist eine eindeutige Abgrenzung zur folgenden neoliberalen Konzeption nicht möglich. Neoliberale Konzeption
Denhistorischen Hintergrund, vordemsich dieneoliberale Konzeption –des eher theoretisch orientierten ordoliberalen unddeseher praktisch orientierten sozial-marktwirtschaftlichen Ansatzes –entwickelte, bildete die Krise des ungeschützten Liberalismus unddes ebenso ausufernden Interventionismus
in den 1930er Jahren.¦45¿ Die Grundgedanken desNeoliberalismus
wurden in Weltkrieg Zweiten dem nach Jahrzehnt formuliert undunmittelbar diesem vonWalter Eucken ineinem umfassenden Entwurf veröffentlicht (siehe auch denvorangegangenen Abschnitt). Während diebisher beschriebenen Konzeptionen –wennauch mitnationalspezifischen Varianten –ineiner ganzen Reihe europäischer Länder formuliert wurden, handelt es sich hierbei umeinen spezifisch deutschen Entwurf.
45
Glastetter, Werner, Wirtschaftspolitik,
S. 57 ff.
40
I. Theoretische
Grundlagen
Das neoliberale Konzept soll –zumindest nach Auffassung seiner Vordenker –einen eigenständigen Wegzwischen Kapitalismus undSozialismus weisen. Es knüpft einerseits amFreiheits- undWettbewerbsgedanken desLiberalismus an,distanziert sich gleichzeitig aber vomungezügelten Kapitalismusundversucht, diemitihmverbundenen Gefahren desMachtmissbrauchs durch Konzentration zu verhindern. Das ordnungspolitische Grundprinzip stellt die„vollständige“Konkurrenz dar – viele kleine Anbieter undNachfrager ohne Marktmacht. Sie soll aber nicht mehr ungeschützt demKonzentrationsprozess ausgeliefert, sondern aktiv geschützt werden. DerMarkt ist keine vorgegebene ‚natürliche‘ Ordnung wie bei den Klassikern, sondern eine „ Gestaltungsaufgabe“desStaates. Bei Eucken muss die Wirtschaftsordnung zwei Funktionen übernehmen¦46¿: Erstens soll sie die „konstituierenden Prinzipien“umsetzen, d.h. die Rahmenbedingungen für ein Konkurrenzsystem schaffen –Privateigentum anProduktionsmitteln, Gewerbefreiheit undfreier Zugang zudenMärkten, Vertragsfreiheit, Wahrung vonGewinnchancen bei gleichzeitiger voller Haftung bei Verlusten undSicherung derWährungsstabilität. Zweitens soll derStaat die„regulierenden Prinzipien“umsetzen, wenn dasMarktsystem versagt –Monopolkontrolle, Einkommenspolitik, wennungleiche Startchancen zu sozial ungerechtfertigten Verteilungen führen oder dieMechanismen amArbeitsmarkt denLohnsatz unter dasExistenzminimum drücken, Berücksichtigung sozialer Kosten wie z.B. Umweltbelastungen in der unternehmerischen Kostenkalkulation. Die Wirtschaftspolitik soll dabei systematisch“angelegt sein, d.h. nicht willkürlich, sondern berechenerstens „ bar undordnungskonform. Sie soll zweitens freiheitlich orientiert sein, d.h. der Freiheit undWürde des Menschen gerecht werden, wasdie Vergesellschaftung der Produktionsmittel unddie zentrale Lenkung des Wirtschaftsprozesses ausschließt. Sie soll drittens durch einen „starken Staat“betrieben werden, der nicht durch einzelne oder organisierte Sonderinteressen instrumentalisiert werden kann. Wenndiese Prinzipien undGrundsätze erfüllt werden, erübrigt sich fürEucken weitergehender Interventionismus. Derwettbewerbliche Markt kann seine Flexibilität undKreativität beweisen, ohne Gefahr zulaufen, sichdurch Konzentration selbst zuzerstören. Nicht allen Ordoliberalen genügte diese ökonomistische Perspektive. So forderte beispielsweise Wilhelm Röpke (1899–1966) darüber hinaus eine „widergelagerte Gesell, dieaufeine umfassende Dezentralisierung aller Lebensbereischaftspolitik“
che hinauslief.¦47¿ Eine differenzierte Lageanalyse fehlt in der ordoliberalen Konzeption ebenso wieeine Zielanalyse. DasDenken inabstrakten Ordnungen dominiert, diepraktische Umsetzung spielt eine untergeordnete Rolle. Ineiner hochindustrialisierten Wirtschaft kann es ebenso wenig vollständige Konkurrenz ge46 47
Eucken, Walter, Grundlagen, S. 15ff. Röpke, Wilhelm, Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- undWirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich 1944.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
41
ben, wieineiner entwickelten Gesellschaft einen überallen Interessen schwebenden neutralen Staat. Es kamnachdemZweiten Weltkrieg aber darauf an, ein Konzept zu entwickeln, das nicht nur neoliberalen Ordnungsprinzipien entsprach, sondern auf dessen Grundlage auch praktische Politik betrieben werden konnte. MitdemBegriff der ‚Sozialen Marktwirtschaft‘wollte Alfred 1978) zumAusdruck bringen, dass derWiderspruch Müller-Armack (1901– zwischen ‚sozial‘und‚Markt‘aufgelöst werden sollte, undzwar durch Wirtschaftswachstum.¦48¿ Wirtschaftswachstum erfüllt in seiner Konzeption einerseits eine Zielfunktion, weil es denLebensstandard erhöht, andererseits eine Instrumentalfunktion, weil es denStaat hinsichtlich seiner Distributions-, Allokations- undStabilisierungsaufgaben entlastet. Das Modell der vollständigenKonkurrenz wirdimsozial-marktwirtschaftlichen Konzept ebenso aufgegeben wiedie regulierenden Prinzipien, wenndiese demWachstumsziel widersprechen. Es soll flexibel neuen sozioökonomischen undgesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden. Wiedieinterventionistische Konzeption mussauchdie sozial-marktwirtschaftliche mitkonkreten Inhalten gefüllt werden, wobei sie recht unterschiedliche Interpretationen zulässt. Auf ihrer Grundlage stehen interventionsfreudige Sozialdemokraten ebenso wie marktradikale Liberale. Die Forderung nachRegulierung, Vermögensumverteilung oderMitbestimmung findet ebenso indiesem Konzept Platz wiedie nach Deregulierung, Einschränkung der sozialen Sicherungssysteme und Beschränkung von Arbeitnehmerrechten. Insofern ist seine Auslegung fast willkürlich, aber eben nurfast. Zwar stellen sich immer wieder neue Herausforderungen, dieeine permanente Weiterentwicklung dieser Konzeption erzwingen, die konstituierenden undregulierenden Prinzipien bilden aber Konstanten, die nur in engen Grenzen verändert werden können. Diesozial-marktwirtschaftliche Konzeption ist nicht nurdes-
halb von Bedeutung, weil die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nachihrgestaltet wurde undwird, sondern auchdeshalb, weilsie auf europäischer Ebene im Zuge derwirtschaftlichen undwirtschaftspolitischen Integration eine immer größere Rolle spielt.
c. Institutionenökonomische
Ansätze
Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) –‚neu‘imVergleich zur ‚alten‘, die umdieWende vom19.zum20. Jahrhundert entwickelt wurde –isteine Theorierichtung innerhalb derneoklassischen Wirtschaftswissenschaften, die seit den 1970er Jahren immer breiteres Interesse findet.¦49¿ Während die traditionelle neoklassische Wirtschaftstheorie als reine Lehre vonGütern undPreisen 48 49
Müller-Armack, Alfred, Genealogie derSozialen Marktwirtschaft, Bern 1974. Richter, Rudolf, Institutionen ökonomisch analysiert. Zurjüngeren Entwicklung aufeinemGebiet derWirtschaftstheorie, Tübingen 1994.
42
I. Theoretische
Grundlagen
den institutionellen
Hintergrund, vor demsich Wirtschaften vollzieht, vernachlässigt –Institutionen werden als exogene, außerökonomische Größen , will die NIÖgerade dasEntstehen unddenWandel vonInstitubetrachtet – tionen sowie deren Wirkungen aufdasmenschliche Verhalten erklären. Institutionen werden in die ökonomischen Modelle miteinbezogen. Damit brauchen sie nicht mehrausgeschichtsphilosophischen Zusammenhängen, gesellschaftlich-kulturellen Ideen, Werten oderTraditionen abgeleitet werden. Die NIÖ geht wie die klassische Wirtschaftstheorie vom methodologischen Individualismus aus.¦50¿ Allerdings verändert sie das damit verbundene Menschenbild einwenig. InderNeoklassik istderMensch als homooeconomicus –imGegensatz zumhomo sociologicus –ein ausschließlich zweckrationales Individuum, das seinen Nutzen maximiert. Er verfügt jederzeit kostenlos übersämtliche Informationen, dieer fürBewertung undAuswahl der Güter braucht. Er ist letztlich allwissend. In derNIÖ ist er dagegen aufgrund der Unsicherheit über zukünftige Ereignisse, aufgrund fehlender Informationenundmangelhafter Fähigkeit, diese zuverarbeiten, nurbedingt inderLage, rational zu handeln. Wie der Mensch seine Möglichkeiten nutzt, hängt im Übrigen nicht nurvondenihmzurVerfügung stehenden Informationen ab, sondern auch davon, wieer sie interpretiert undseine Umwelt wahrnimmt. Langfristig wird diese Umwelt wiederum vonseinem Verhalten beeinflusst. Zusammenfassend kannderMensch derNIÖals„ REMM“(ressourceful, evaluative, maximizing man), als erfindungsreiches, bewertendes, maximierendes Individuum, bezeichnet werden, dasunter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen lebt undderen Restriktionen unterworfen ist. WiebeimMenschenbild gibt es indenSozialwissenschaften zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen vonderGesellschaft¦51¿: dieholistische bzw. kollektivistische unddie individualistische. Die holistische Gesellschaftsauffassung geht von der Existenz überindividueller kollektiver Akteure aus – , deren Zustandekommen nicht ganzer Gesellschaften, Klassen oderGruppen – näher untersucht wird. Sie folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht ausschließlich aus denInteressen undVerhaltensweisen dereinzelnen Mitgliedern ableiten lassen. Die individualistische Gesellschaftsauffassung basiert dagegen aufderVorstellung, dass soziale Gemeinschaften nurdurch die einzelnen Elemente, d.h. durch die einzelnen Menschen undihr Verhalten, erklärt werden können. DieExistenz kollektiver Akteure wirdnicht bestritten; sie werden aber nicht als gegeben hingenommen, sondern als Problem betrachtet. Auchimneoklassischen Ansatz desmethodologischen Individualismusbesteht eine Gesellschaft nicht ausatomisierten Individuen, d.h. aussich
50 Erlei, Mathias/ Leschke, Martin/Sauerland, Dirk, NeueInstitutionenökonomik, Stuttgart 1999, S. 1 ff. 51 Lindenberger, Siegwart, Homo Socio-oeconomicus: theEmergence of a General Model of ManintheSocial Science, in:Journal of Institutional andTheoretical Economics 146 (1990), S. 727 ff.
1.Kapitel: Ordnungstheorien
43
selbst genügenden Menschen ohne Außenbezüge. Jeder sozialen Gemeinschaft liegt vielmehr ein institutionelles Gefüge zugrunde, das das Verhalten der Menschen restriktiv beeinflusst. Institutionen lenken die menschlichen Verhaltensweisen in bestimmte Bahnen undmachen sie damit abschätzbar. Sie reduzieren strategische Unsicherheiten beiEntscheidungen underleichtern es denMenschen, ihrVerhalten aufeinander abzustimmen. Erst durch diese Koordination werden die Individuen zueinem sozialen System: zueiner Gesellschaft, Gruppe, einem Stamm odereinem Verein. Neben diesen methodologischen Überlegungen gibtesverschiedene Theorieelemente der NIÖ, die für die Behandlung vonWirtschaftsordnungen besonders relevant sind. Ein erstes Theorieelement stellen die ‚Institutionen‘ dar.¦52¿ Mit ihnen sind weniger –wie im allgemeinen Sprachgebrauch meist üblich –politisch-staatliche Organe oderVerwaltungen gemeint, sondern ganz allgemein alle Regeln, die das Verhalten von Individuen im Rahmen ihrer sozialen Beziehungen steuern. Mankann zwischen formellen Regeln unterscheiden, die bewusst geschaffen werden –wiez.B. Gesetze undVerordnun, undinformellen, die sich spontan undallmählich herausbilden –wie gen– z.B. Konventionen, moralische Standards, Sitten undGebräuche. Eine andere Form der Unterteilung ist die in äußere undinnere Institutionen; bei ersteren stützt sichdieKontrolle derEinhaltung aufdasstaatliche Gewaltmonopol; bei letzteren ist dies nicht derFall, allerdings drohen bei Nichteinhaltung gesellschaftliche Sanktionen. Institutionen erlauben oder verbieten also bestimmte Verhaltensweisen. Indem sich die Menschen anRegeln orientieren, wird ihr Verhalten regelhaft undgeordnet. Eine Wirtschaftsordnung kann somit als Gesamtheit derinstitutionellen Bedingungen, diedenEntscheidungsraum der Wirtschaftssubjekte beschränken, interpretiert werden. DaInstitutionen inder NIÖals knappe „Güter“behandelt werden, wird ihre Bereitstellung vonKosten-Nutzen-Kalkülen bestimmt, womit ihrWandel letztlich aufökonomische Entscheidungen zurückgeführt werden kann. Einzweites zentrales Theorieelement sinddie ‚property rights‘. Property Rights sind rechtlich garantierte oder gesellschaftlich anerkannte Verfügungsrechte, die die Beziehungen der Individuen untereinander hinsichtlich der Nutzung von materiellen undimmateriellen Gütern bestimmen.¦53¿ Property Rights umfassen also mehrals nurEigentums- oder Besitzrechte. Die Verfügung über Güter wird als ein Bündel vonRechten aufgefasst undderGüter-
52
Kiwitt, Daniel/Voigt, Stefan, Überlegungen zuminstitutionellen Wandel unter Berücksichtigung desVerhältnisses interner undexterner Institutionen, in: Ordo 46 (1995), S.
53
Property-Rights-Ansatz“inderWirtschaftsgeschichte –Zeichen Borchardt, Knut, Der„ füreine systematische Neuorientierung desFaches?, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Theorien inder Praxis des Historikers (1977), S. 140 ff.; Wischermann, Clemens, Der PropertyRights-Ansatz unddie „neue“Wirtschaftsgeschichte, in: Geschichte undGesellschaft
117 ff.
19 (1993), S. 239 ff.
44
I. Theoretische
Grundlagen
tausch als Tausch dieser Rechte. Verfügungsrechte vermitteln das exklusive Recht, einGutodereine Ressource zunutzen (usus), ihre Form undSubstanz zuverändern (abusus), sich die Erträge anzueignen (usus fructus) undes mit den damit zusammenhängenden Rechten auf andere zu übertragen. Verfügungsrechte können nicht nuranSachen bestehen, sondern sich auch auf andere Rechte erstrecken, wie z.B. auf Lohnforderungen aus Arbeitsverträgen oder Mietforderungen aus Mietverträgen. Auch der Wert eines Gutes beschränkt sich nicht aufseinen materiellen Gehalt, sondern hängt vondenmit ihmverbundenen Rechten, aber auch Pflichten ab. Beispielsweise besteht der Wert eines Hauses nicht nurausderBausubstanz, sondern auchausdenRechtenundPflichten, die mitihmverbunden sind: Länge derMietverträge, Ausbaumöglichkeiten, Lage in Wohn- oder Gewerbegebiet u.s.w. Unter dieser Annahme kann eine Änderung des Systems der Verfügungsrechte weitreichende Folgen fürdie Allokation derRessourcen, die Struktur derProduktion unddie Distribution derGüter haben. Mandenke nuraneine Änderung der Produkthaftung oderderUmweltschutzbestimmungen. Wichtig imRahmen desProperty-Rights-Ansatzes ist außerdem die Annahme, dass die Leistungsbereitschaft desMenschen umso größer ist, je spezifischer undexklusiver die Verfügungsrechte formuliert sind, d.h. je uneingeschränkter er Ressourcen nutzen, sich ihre Erträge aneignen undsie verändern undtauschen kann. Solange beispielsweise die Erfinder die Kosten der sozialiInvention undInnovation allein tragen mussten, der Nutzen jedoch „ siert“wurde, d.h. die Erfindung sofort allen zugänglich war, solange scheuten sie dendamit verbundenen Aufwand. Sobald abereinPatentrecht dasgeistige , privatisierte“ Eigentum schützte unddenNutzen ausder Erfindung damit „ wurde der Erfindergeist angeregt. Unspezifische oder „ verdünnte“Verfügungsrechte mindern demnach die Bereitschaft, produktiv tätig zu sein. Die Ausgestaltung derVerfügungsrechte ist also vonzentraler Bedeutung fürdie wirtschaftliche Entwicklung ganz allgemein. Dietraditionelle neoklassische Theorie gehtvomprivaten Eigentumsrecht ausundnimmt darüber hinaus an,dass es vollständig spezifiziert undkostenlos durchsetzbar ist.¦54¿ Diese extrem unrealistische Annahme ist ein weiterer Grund dafür, dass sie fürdie Wirtschaftsgeschichte nurbedingt operationalisierbar ist. DasKonzept derVerfügungsrechte überwindet dagegen nicht nur die schlichte Zweiteilung vonPrivat- undGemeineigentum, sondern öffnet sich derkomplexen Struktur vonVerfügungsrechten, dieja gerade inderGeschichte eine besondere Rolle spielen. Die Verfügungsrechte unter feudalen Verhältnissen stellten ein kompliziertes Geflecht von Eigentums-, Besitz-, Nutzungs- undVersorgungsrechten darundauch inderFolgezeit unter kapitalistischen Verhältnissen wurde dasexklusive Eigentumsrecht durch zahlreiche Einschränkungen verdünnt. 54 Peters, Hans-Rudolf, Wirtschaftspolitik, München 1995, S. 132 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
45
Ein dritter wichtiger Baustein der NIÖ sind die Transaktionskosten und die damit verbundenen theoretischen Überlegungen.¦55¿ In der traditionellen neoklassischen Wirtschaftstheorie werden nicht nurdie Verfügungsrechte kostenlos durchgesetzt, auch das Sammeln von Informationen, das Anbahnen, derAbschluss unddie Kontrolle vonVerträgen, derAufbau vonRechtsordnungen, die Unterhaltung derJustiz undVerwaltung u.s.w. kosten nichts. Für die traditionelle Neoklassik gibt es nur Produktionskosten. Für die NIÖ sindaber gerade diemitTransaktionen verbundenen Kosten vonbesonderem Interesse. Während die Produktionskosten vonTechnologien undFaktorpreisenabhängen, wird die Höhe derTransaktionskosten durch die Organisation desWirtschaftssystems, durch sein Institutionengefüge mitbestimmt; erstere sind systemneutral, letztere sind systemspezifisch. Transaktionskosten treten
beider„Nutzung“vonUnternehmen, vonMärkten undvonpolitischen, letztlich gesellschaftlichen Systemen auf. Gemäß derNIÖhaben Institutionengefüge bzw. Wirtschaftsordnungen die Aufgabe, Transaktionskosten zu minimieren, weil hohe Transaktionskosten dieEntwicklungschancen eines Unter-
nehmens oder eines Wirtschaftssystems beeinträchtigen. Als vierte zentrale Komponente derNIÖ kann mandenunvollständigen Beziehungsvertrag“ ) bezeichnen.¦56¿Während die oder ‚relationalen Vertrag‘(„ ursprüngliche neoklassische Theorie vonderunrealistischen Konstruktion eines einmaligen, abschließenden undalle Eventualitäten berücksichtigenden, umfassenden Vertragsaktes ausgeht, akzeptiert dieNIÖ, dass Verträge immer unvollständig sind. Sie enthalten Lücken, sind interpretierbar undmüssen oft nachgebessert werden. Mit ‚Verträgen‘sind nicht nursolche im rechtlichen Sinne gemeint, sondern Beziehungen ganzallgemein. Dabei spielt inderökonomischen Vertragstheorie der Tatbestand der ‚Vertretung‘ eine besondere Rolle. Mitihrkönnen auchsolche Beziehungen erfasst werden, denen imrechtlichen Sinne kein Vertrag zugrunde liegt. DasModell derökonomischen Theorie derVertretung geht davon aus, dass zwei Individuen eine Beziehung eingehen, in derdaseine denStellvertreter (Agent) unddasandere denVertretenen (Prinzipal) darstellt: Arzt –Patient, Lehrer –Schüler, Arbeitnehmer – Arbeitgeber, Manager –Aktionär u.s.w. Der Agent wählt aus einer Anzahl möglicher Handlungen diejenige aus, die sowohl seine eigene Wohlfahrt als auch die des Prinzipals positiv beeinflusst. Der Prinzipal kann die Aktionen desAgenten nicht beobachten undnurbedingt beeinflussen; erkannlediglich das Ergebnis kontrollieren. Er muss demAgenten also Anreize geben, die diesen motivieren, sowohl seine eigenen Interessen alsauchdiedesPrinzipals zuvertreten. Fastjedes Verhältnis zwischen zweiWirtschaftssubjekten ist auf irgendeine Weise eine Prinzipal-Agent-Beziehung. Da die Ergebnisse der Handlungen desAgenten indenmeisten Fällen nicht imEinzelnen vorhersehbar sind, müssen Prinzipal undAgent von Fall zu Fall neue Arrangements 55 Richter, Rudolf, Institutionen, S. 5 ff. 56 Ebenda, S. 16 ff.
46
I. Theoretische
Grundlagen
treffen. Das Problem derunvollständigen oder relationalen Verträge wird relevant. Die verschiedenen Theorieelemente der NIÖ können zu einem Modell desinstitutionellen Wandels, desWandels vonWirtschaftsordnungen zusammengefügt werden, demfolgende Prämissen zugrunde liegen: 1. Der institutionelle Wandel geht auf individuelle Wahlentscheidungen zurück. 2. Institutionen sind knappe Güter, deren Preis bzw. (Transaktions-)Kosten minimiert werden sollen. 3. Institutionengefüge, die die Verfügungsrechte spezifisch undexklusiv zuordnen, wirken sich auf die Leistungsbereitschaft undletztlich auf die Wirtschaftsentwicklung günstig aus. Fügtmandiese Prämissen zusammen, so ist dietreibende Kraft, diehinter der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen –letztlich der wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung generell –steht, die Suche nach „ effizienten“ , kostenminimierenden Institutionen. DerWandel vonWirtschaftsordnungen lässt sich also aufdasBestreben zurückführen, dieTransaktionskosten zusenken. Demnach setzen sich neue institutionelle Arrangements dann durch, wenn diese gegenüber denbisherigen niedrigere Transaktionskosten aufweisen. Allerdings musses Hemmnisse beiderSuche nach kostengünstigeren Institutionen geben, denn diese weisen, sieht maneinmal vonden selten vorkommenden dramatischen Reformen undRevolutionen ab,einhohes Maßan Stabilität auf.¦57¿ Wenn die Entscheidung zwischen der Befolgung unddem Bruch einer Regel immer einem Rationalitätskalkül unterläge, könnten Institutionen wohlkaumüberlängere Zeit bestehen. DerGrund fürdierelativ hohe Stabilität liegt inderbereits erwähnten beschränkten Fähigkeit desMenschen, Informationen aufzunehmen undzu verarbeiten. Da niemand alle ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten erfassen unddie sich daraus ergebenden Konsequenzen abwägen kann, ist es unmöglich, die kostengünstigste Strategie zuverfolgen. DasWirtschaftssubjekt wirdsich mitErgebnissen zufrieden geben, die aufgrund bewährter Regeln erzielt werden können. Jedenfalls weisen etablierte Institutionen meist ein erhebliches Beharrungsvermögen auf, selbst wenn sie als ineffizient erkannt worden sind. Erst wenn die Einhaltung dieser Regeln zu erheblichen Nachteilen führt, werden die Wirtschaftssubjekte versuchen, sie zuändern. Die Ursachen dafür, dass eine solche Situation eintritt, sind vielfältig: Ein Wandel kollektiver Werte oder Normen kanneine Veränderung desformellen Institutionengefüges auslösen. Daes sich bei ihnen imSprachgebrauch derInstitutionenökonomik selbst um Institutionen handelt, müsste man korrekterweise davon sprechen, dass ein Wandel derinneren Institutionen denderäußeren bewirkt. Auch eine Ände-
57 Leipold, Helmut, ZurPfadabhängigkeit derinstitutionellen Entwicklung: Erklärungsansätze desWandels vonOrdnungen, in:Cassel, Dieter (Hg.), Entstehung undWettbewerb vonSystemen, Berlin 1996, S. 93 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
47
rung der Umweltbedingungen, die sich in einer Verschiebung der relativen Preise ausdrückt, kann einen solchen Wandel herbeiführen. Das gleiche gilt
fürtechnische Neuerungen, dieebenfalls die relativen Preise verändern. Die Liste derUrsachen ließe sich fortsetzen. In all diesen Fällen kommen allerdings sofort die spezifischen EinzelundGruppeninteressen insSpiel. Diejenigen, dieerkennen, dass dasgeltende Regelwerk für ihre Mitmenschen zwar Nachteile, für sie selbst aber Vorteile bringt, werden kaum für seinen Wandel eintreten, sondern im Gegenteil für seinen Bestand. Sie werden versuchen, sich auf diese Weise Renten zu sichern. Die NIÖspricht in diesem Zusammenhang vonder Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels: Wie sich Institutionen verändern, wird vonder institutionellen Entwicklung derVergangenheit mitbestimmt. So können spezifische Investitionen in Sach- undHumankapital, die imRahmen undunter Ausnutzung eines bestehenden Institutionengefüges getätigt wurden, resistent wirken, weil sie bei dessen Veränderungen an Wert verlieren. Dies betrifft meist dieäußeren Institutionen. Bei inneren, beideren Durchsetzung dasstaatliche Gewaltmonopol keine Rolle spielt, können sogenannte Netzwerke zum Tragen kommen: DieBefolgung bestimmter interner Regeln istfüreinIndividuumumso günstiger, je mehrMenschen diese Regeln ebenfalls befolgen. Im übrigen kann schon die Tatsache, dass die Menschen die Regeln eines bestehenden Institutionengefüges beherrschen, d.h. effizient nutzen können, kostenmindernd wirken undzueinem Beharrungszustand führen. Ineiner neuen Wirtschaftsordnung müssen sie sich dagegen erst zurecht finden, waszumindest anfangs höhere Kosten zurFolge hat. Die Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels gilt also füräußere wie für innere Institutionen. Bei äußeren Institutionen kommt hinzu, dass bei ihnenPreise oder ähnliche Selektionskriterien nurindirekt greifen. Sie werden vornehmlich vonpolitischen Entscheidungsträgern verändert, die wieprivate Wirtschaftssubjekte vornehmlich ihren Eigeninteressen undweniger gesamtgesellschaftlichen Effizienzkriterien folgen. Daspolitische Regime spielt dabei eine wichtige Rolle. In Demokratien müssen sich die Parteien mit ihren Programmen zurWirtschaftsordnung denWählern stellen. In autoritären Systemen –im frühneuzeitlichen Absolutismus oder in denverschiedenen Diktaturen des20. Jahrhunderts –befinden sich diestaatlichen Machthaber dagegenineiner stärkeren Position. Sie konkurrieren mitihren Wirtschaftsordnungenzwar im internationalen Vergleich, können aber bei einer ausreichenden Versorgung derBevölkerung undgeschlossenen Grenzen stärker eigene Ziele verfolgen. Um den Grundgedanken der Transaktionskostenökonomik nicht aufgeben zumüssen, wird zwischen politischen undökonomischen Transaktionskosten unterschieden. Politische Transaktionskosten fallen bei der kollektiven Willensbildung, z.B. bei Wahlen, bei derEntscheidungsfindung und -durchsetzung, z.B. in der Verwaltung, an undbestimmen den Wandel der äußeren Institutionen. Es ist allerdings die Frage, ob nicht doch dererwartete Nutzengewinn oder -verlust derpolitischen Entscheidungsträger denInstitu-
48
I. Theoretische
Grundlagen
tionenwandel stärker beeinflusst als die mehr oder weniger abstrakten politischen Transaktionskosten, die damit verbunden sind.¦58¿ Eine kritische Bewertung derNIÖmuss zunächst darauf hinweisen, dass es sich beidiesem Ansatz nochnicht umeinfertig ausgebautes Theoriegebäude handelt; teilweise wird eher ein Forschungsprogramm vorgestellt. Obsie operational genug formuliert werden kann, umdie historische Entwicklung vonWirtschaftsordnungen –auch die spezifischer Teilordnungen –zuanalysieren, wird manerst noch prüfen müssen. Dennoch kann bereits auf einige grundlegende Schwachstellen hingewiesen werden:
• Dieradikalste FormderKritik istnatürlich dieInfragestellung derGrundannahmen desgesamten neoklassischen Theoriegebäudes imHinblick auf sein Menschenbild. Den homo oeconomicus auch in seiner „realistischeForm, diederNIÖzugrunde liegt, gibt es nicht. Nunsoll eine Theoren“ rie die Realität nicht naturgetreu abbilden; es istja gerade ihre Aufgabe
sie zu vereinfachen. Historiker, die meist mit der ganzen Komplexität menschlicher Verhaltensweisen konfrontiert werden, müssen dennoch die Frage stellen, obeine so radikale Vereinfachung noch zulässig ist, obdie darauf aufbauenden theoretischen Zusammenhänge nicht so sehr ander realen Welt vorbeigehen, dass sie letztlich für die historische Analyse unbrauchbar sind. Abgesehen davon, dass das neoklassische Menschenbilddie Realität vereinfacht –vielleicht sogar verzerrt –‚steht es geradezuimWiderspruch zurzentralen Annahme, dass individualisierte Marktbeziehungen die Transaktionskosten senken. Je konsequenter sich Menschen eigennützig, opportunistisch verhalten, um so höher werden die Transaktionskosten sein. Umgekehrt gilt, dass mit zunehmender Akzeptanz moralischer Standards undgesetzlicher undadministrativer Regelungen, in denen Moral ihre institutionalisierte Form findet, die Transaktionskosten sinken.
• Die universelle
Geltung des neoklassischen Rationalitätsprinzips
–selbst
wennvonbegrenzter Rationalität ausgegangen wird–unddie Reduktion
geschichtlicher Abläufe aufdasökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül greifenzukurz. Wirtschaftsordnungen, besonders auch als soziale undkulturelle Gebilde verstanden, sind vonenormer Komplexität undsperren sich gegen einen monokausalen Erklärungsansatz. Geschichte ist keine Einbahnstraße inRichtung aufSenkung derTransaktionskosten. So wirdbeispielsweise iminstitutionenökonomischen Ansatz dasProblem vonIdeologie undMacht, vonsozialer Ungleichheit undGewalt kaumbehandelt. Obdiegewählten Institutionen vorallem einer Minderheit dienen, obvielleicht die Mehrheit sogar schlechter gestellt wird, ob schwächere Mitgliedereiner Gesellschaft zurUmwertung vonInstitutionen zu ihrem Nach-
58 Kiwitt, Daniel/Voigt, Stefan, Grenzen desinstitutionellen Wettbewerbs, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), S. 320 ff.
1. Kapitel: Ordnungstheorien
teil gezwungen werden beantwortet.
–all dies sind Fragen, die dieser
49 Ansatz nicht
• Die NIÖ bzw. die Theorie des institutionellen
Wandels kann nicht die Entscheidung zwischen Alternativen erklären. FürWirtschaftsubjekte, die nurübereine begrenzte Rationalität verfügen, istes meist unmöglich, die transaktionskostenmäßigen Vor- undNachteile einer Veränderung von Institutionen zuerkennen. Letztlich bestätigt dieser Ansatz lediglich die Lösungen, die sich tatsächlich durchgesetzt haben, als die unter denjeweiligen historischen Verhältnissen kostengünstigsten. Dabei müssen die effizienteren Lösungen, diedieweniger effizienten verdrängen, inirgendErfindung“von einer Form schon existieren. Wie es aber überhaupt zur„ effizienteren Institutionen kommt, kannebenfalls nicht erklärt werden.
• Die NIÖbietet bisher kein Konzept zurIdentifikation undMessung von Transaktionskosten. Sie kann daher nurbedingt auf empirische Zusammenhänge angewendet werden. Ist es schon schwierig, Transaktionskosten innerhalb einer betrieblichen Organisation, wie z.B. einem Fronhof oder einem Unternehmen, operational zudefinieren unddannquantitativ zubestimmen, sodürfte diesbeigesellschaftlichen Institutionen, wiez.B. derZunftverfassung odereiner ganzen Wirtschaftsordnung, fast unmöglich sein.
Ähnlich, wenn auch nicht mit einem so starken theoretischen Bezug, argumentiert einAnsatz, dessen zentrale These lautet, dass Systeme bzw.OrdnungenwiederMensch eine biographische Entwicklung durchmachen.¦59¿Zunächst wachsen sie undreagieren flexibel auf die Herausforderungen der Umwelt. Abeiner bestimmten Entwicklungsphase treten aberAlterserscheinungen auf, die sie zunehmend erstarren lassen. Es kommt zu einer Art institutioneller Sklerose. Als Ursachen für die abnehmende Flexibilität und Elastizität werden u.a. folgende genannt: Anpassungsprozesse sind meist für bestimmte Gruppen mit vorübergehenden Wohlfahrtsverlusten verbunden. Mit steigendemWohlstand sind die Menschen aber immer mehr bereit, auf potentielle Einkommensverbesserungen zuverzichten, wenndiese nurüberAnpassungsprozesse zuerreichen sind, bei denen dieGefahr besteht, dass zumindest zeitweilige Verschlechterungen der Lebensverhältnisse eintreten. Wer viel hat, kann eventuell viel verlieren. Ein zweiter Grund liegt im wachsenden Anteil derfixen Kosten, dermitderdurch technischen Fortschritt bewirkten Kapitalintensivierung verbunden ist. Je größer derAnteil derfixen Kosten ist, umso weniger sind die einzelnen Unternehmungen in derLage, flexibel auf Datenänderungen zuregieren. Drittens gewinnen mitsteigendem Wohlstand Ziele
59 Olson, Mancur, Aufstieg undNiedergang vonNationen, Tübingen 1985; Olson, Mancur, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter unddie Theorie derGruppen, Tübingen 1968.
50
I. Theoretische
Grundlagen
wie Sicherheit, Gerechtigkeit, Partizipation etc. an Bedeutung, die zueinem immer dichteren Netz von Interventionen oder Regulierungen in Form von Gesetzen undVerordnungen führen. Viertens nimmt die Organisationsfähigkeit von Interessen im Laufe der Zeit zu. Dies ist für die Entwicklung und Dynamik von Wirtschaftssystemen insofern von Bedeutung, als sie von der Stärke undZahl organisierter Interessen abhängen. DasWachstum nimmt ab, wennes eine Vielzahl vonzersplitterten, aufenge Sektoren undThemen beschränkte, aber mächtige undwenig kooperationswillige Interessengruppen gibt. Eine solche fragmentierte Struktur organisierter Interessen ist besonders typisch für solche Länder, die seit langem industrialisiert, demokratisiert und verbandspluralistisch organisiert sind. Hierin liegt ein innerer Widerspruch in derEntwicklung fortgeschrittener Gesellschaften: Gerade in Phasen längerer ökonomischer undpolitischer Stabilität baut sichjene institutionelle Sklerose auf, die demSystem seine Flexibilität nimmt. Es entwickelt sich eine Protektions- und Subventionsmentalität, ein Rentendenken, wobei die Interessenorganisationen immer rücksichtsloser ihre spezifischen Vorteile suchen, ohne Rücksicht aufdie Effizienz undFlexibilität desGesamtsystems.
2. Kapitel: Staatstheorien
2.1 Einführung DerBegriff ‚Staat‘zeigt besonders deutlich das Problem derAngemessenheit historischer Begriffsbildung, in diesem Fall das Problem, Begriffe der Staatslehre des 19.Jahrhunderts aufmittelalterliche, frühneuzeitliche, aber auchauf aktuelle Verhältnisse zu übertragen.¦60¿ Er hat eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen erfahren, die sich imLaufe derZeit tiefgreifend wandelten. Grundsätzlich dürfte es in der Menschheitsgeschichte keine kleineren oder größeren sozialen Einheiten gegeben haben, die ohne irgendeine Form sanktionierter, demZusammenleben imInneren unddemSchutz nach außen dienenden Ordnungen ausgekommen sind. Es ist eine definitorische Frage, ob undgegebenenfalls vonwelcher Größe undOrganisationsintensität ansolche moderGebilde als ‚Staaten‘bezeichnet werden. Legt mandieMerkmale des‚ , wird man nen Staates‘zugrunde –Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt – bereits imaltvorderasiatischen Raumsolche Organisationsformen finden. Geht mandagegen mitdermodernen Staatsrechtslehre davon aus, dass derneuzeitliche Staat durch die Einheit derStaatsgewalt, die Verfassung, die gemeinsame Nationalrepräsentation unddie souveräne Gesetzgebung bestimmt ist, waren die deutschen Staaten selbst in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 60 Brunner, Otto (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zurpolitischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, Staat undSouveränität, S. 1 ff.
2. Kapitel: Staatstheorien
51
nochkeine ‚Staaten‘unddieeuropäischen amEndedes20.Jahrhunderts schon keine
mehr.¦61¿
In diesem Buch wird der ‚Staat‘ausschließlich
institutionell bestimmt, wobei wiederum weite undenge Definitionen möglich sind. ImRahmen einer weiten Definition gehören ausheutiger Sicht zurstaatlichen Sphäre dieParlamente, Regierungen undVerwaltungen derverschiedenen Gebietskörperschaften: Zentralstaat, Länder undKommunen. ZumZweiten werden die öffentlichen Versicherungsanstalten dazu gerechnet. ZumDritten ordnet mandie öffentlichen Unternehmen, die Sondervermögen unddie Zentralbank dem öffentlichen Sektor zu,wobei gerade indenletzten Jahren grundlegende Veränderungen in diesem Bereich eingetreten sind. ObBerufsgenossenschaften, Zwangsinnungen, Kammern etc. –also halböffentliche Institutionen –ebenfalls zurstaatlichen Sphäre gerechnet werden sollen, ist umstritten. DerStaat ist ausdieser Perspektive also ein extrem heterogenes Gebilde mit komplizierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen innerhalb ganz verschiedener Institutionen, auf die sehr unterschiedliche Interessen einwirken. Mankann ihn ausinstitutioneller Perspektive auch wesentlich enger definierenundnurdie legislativen unddieexekutiven Organe darunter verstehen. In derengsten Bestimmung wirdStaat mitderExekutive bzw. der‚Verwaltung‘ gleichgesetzt. Zwischen Staat, öffentlichem Sektor oder öffentlicher Handwird imFolgenden nicht unterschieden. Andieser Stelle soll zumindest erwähnt werden, dass mandenStaat auch auf andere Weise definieren kann. Viele Staatstheorien bestimmen ihn beispielsweise funktional über seine Aufgaben, wobei häufig der normative Aspekt imVordergrund steht.¦62¿ Hier gehtes aber nicht umdie normative Perspektive, sondern umdie Erklärung realer Phänomene, wobei der Staat auf seine Rolle als wirtschaftlicher Akteur beschränkt wird. DasProblem besteht auch indiesem Abschnitt darin, auseiner Vielzahl unterschiedlicher Modelle einige wenige auszuwählen, die eine gewisse Repräsentanz besitzen, wirtschaftshistorisch relevant sind undoperationalisiert werden können. Das Verhältnis vonStaat undWirtschaft hinsichtlich derökonomischen Beziehungen kann vierfach gegliedert werden.¦63¿ Erstens bestehen monetäre Beziehungen: Der Staat entzieht der Wirtschaft über Steuern, Beiträge und Abgaben Geld undgibt sie über Transfers undSubventionen zurück. Zweitens existieren güterwirtschaftliche Beziehungen: DerStaat nimmt einen Teil der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital in Anspruch, produziert damit Güter undDienstleistungen undstellt diese derWirtschaft kostenlos oder gegen Entgelt zur Verfügung. Drittens gibt es wirtschaftspolitische Beziehungen: Der Staat beeinflusst durch seinen Interventionismus die Einnahmen-
61 Küchenhoff, Günter/Küchenhoff, Erich, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1977. 62 aushistorischer Perspektive siehe Müller, Volker, Staatstätigkeit in denStaatstheorien 63
des 19. Jahrhunderts, Opladen 1991. Ambrosius, Gerold, Staat undWirtschaft im20. Jahrhundert, München 1996.
52
I. Theoretische
Grundlagen
undAusgabenseite indenBetrieben undHaushalten unddamit dieMenge der Güter, die produziert oder konsumiert werden. Viertens bestehen ordnungssetzende Beziehungen: DerStaat regelt nicht nurseine Beziehungen zurWirtschaft, sondern auch die zwischen denWirtschaftssubjekten untereinander. Letztlich sind wohl die meisten formalen Regeln, die den Aufbau undden Ablauf einer Wirtschaft bestimmen, durch denStaat mitHilfe vonGesetzen undVerordnungen festgelegt. Es handelt sich hierbei zwar nurumindirekte Beziehungen zwischen Staat undWirtschaft, allerdings umdieumfangreichsten, intensivsten undwichtigsten.
2.2 Faktoranalytische
Ansätze
Staatsausgaben sind ein besonders markanter Ausdruck staatlicher Aktivitäten.¦64¿ Sie haben denVorzug, exakt messbar zusein. AlsAnteil amSozialprodukt–als Staatsquote –vermitteln sie einen Eindruck vonderBedeutung des öffentlichen Sektors innerhalb einer Volkswirtschaft unddienen daher oft als Ausdruck derStaatstätigkeit ganz allgemein. Daher wurde auch das„ Gesetz derwachsenden Staatstätigkeiten“, dasAdolph Wagner (1835–1917) amEnde des 19.Jahrhunderts formulierte, oftmals unzulässigerweise zueinem derzunehmenden Staatsausgaben umformuliert.¦65¿ Spätestens seit Wagner gibt es eine intensive Diskussion überdie Faktoren, diedieEntwicklung derStaatsausgaben beeinflussen. Aufdie unterschiedlichen Vorschläge, wiemandiese Einflussfaktoren systematisieren kann, wird an dieser Stelle nurkurz eingegangen. Häufig wird zwischen sozio-ökonomischen, ideologisch-kognitiven undpolitisch-institutionellen unterschieden. Als vierte Gruppe könnte man „ zufällige“F aktoren wie Kriege, Wettrüsten oder politische Umwälzungen nennen. Sie treiben dieStaatsausgaben meist kurzfristig indieHöhe, können sie aber auchlangfristig beeinflussen, indem dieAusgaben, nachdem dieFaktoren nicht mehr wirken, nurteilweise wieder zurückgeführt werden. Fürdas 19. und20. Jahrhundert wurde dieser sogenannte „displacement-effekt“vorschnell verallgemeinert, nachdem festgestellt worden war, dass die beiden Weltkriege in Großbritannien tatsächlich eine schubartige dauerhafte Erhöhung des Niveaus derStaatsausgaben bewirkt hatten. Ebenso wie diese zufälligen Determinanten werden die ideologisch-kognitiven unddie politisch-institutionellen im Folgenden nicht eingehender behandelt. Dies impliziert allerdings kein Urteil überihre Bedeutung imVergleich zudensozio-ökonomischen Determinanten. Ideologische Faktoren haben sicherlich entscheidend die Entwicklung öffentlicher Haushalte beeinflusst. So wiebis indiezweite Hälfte des 19.Jahrhunderts dieliberale Auffas-
64 Fehr, Benedikt,
65
Erklärungsansätze zur Entwicklung der Staatsausgaben. Eine methodenkritische Analyse, Freiburg 1984. Leineweber, Norbert, Dassäkulare Wachstum, S. 8 ff.
2. Kapitel:
Staatstheorien
53
sung vomkleinsten alsbestem Budget dessen Expansion bremste, sobewirkteninderFolgezeit Vorstellungen vonsozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und gemeinschaftlicher Solidarität seine Ausweitung. Umgekehrt wurde die Einschränkung sozialer Sicherungssysteme amEnde des 20. Jahrhunderts wohl inerster Linie durch dieleeren Staatskassen erzwungen; daneben dürfte aber auchdieneoliberale Renaissance eine Rolle gespielt haben, mitdererneut die Verantwortung desEinzelnen fürsein Wohlergehen betont wurde.
Auchpolitisch-institutionelle Faktoren übten maßgeblichen Einfluss aus.¦66¿
So wurden dieliberalen Auffassungen indenersten Jahrzehnten des 19.Jahr-
hunderts vondenpolitischen undbürokratischen Eliten vertreten, die ihre restriktive Finanzpolitik ohne wirkliche parlamentarische Kontrolle durchsetzenkonnten. Erst mitderDemokratisierung derpolitischen Verhältnisse wurde ihr Widerstand gegen die Ausweitung deröffentlichen Haushalte gebrochen. Derumfassende Ausbau desöffentlichen Sektors begann, als sich der größte Teil derBevölkerung mehr oder weniger gleichberechtigt ampolitischen Gestaltungsprozess beteiligen konnte. Die Neue Politische Ökonomie hatsich aufihre spezielle Weise dieser Zusammenhänge angenommen. Was dasAngebot öffentlicher Leistungen anbelangt, sowerden weiter unten einige Aspekte dieses theoretischen Ansatzes vorgestellt. Wasdie Nachfrage nach öffentlichen Leistungen betrifft, so hatdie Neue Politische Ökonomie ebenfalls Modelle entwickelt: z.B. dieökonomische Theorie derDemokratie oder diedeskollektiven Handelns.¦67¿ Sie beschäftigen sich mitderFrage, wiesich ineinem demokratischen Mehrparteiensystem individuelle undkollektive Interessen durchsetzen. Aufsie soll hier, wie gesagt, nicht näher eingegangen werden. Im folgenden konzentriert sich die Betrachtung auf die sozio-ökonomischen Faktoren.¦68¿ Sie können wiederum dreifach unterteilt werden, indierein ökonomischen, dievornehmlich technischen unddiedemographischen Komponenten. Dieökonomischen Faktoren werden häufig aufdasPro-Kopf-Einkommen als Ausdruck desWohlstandes reduziert. Es wird die These vertreten, dass mit zunehmendem Wohlstand aufgrund sich verändernder Bedürfnisse die Ausgaben derprivaten Haushalte füröffentliche Güter undDienstleistungen –Elektrizität, Verkehrsleistungen, Bildung, Gesundheit oder Kultur –überproportional zunehmen. Die Nachfrage nach öffentlichen Gütern undDienstleistungen besitzt demnach eine Einkommenselastizität, diegrößer als eins ist: Steigt das Einkommen um 10%, so steigt deren Anteil an den Gesamtausgaben ummehrals 10%. Dieser Zusammenhang wird anhand empirischer Daten mitHilfe vonKorrelationskoeffizienten statistisch überprüft.
66 Ebenda, S. 80 ff.
67
68
Downs, Anthony, Ökonomische Theorie derDemokratie, Tübingen 1968; Olson, Mancur, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter unddie Theorie der Gruppen, Tübingen 1968.
Leineweber, Norbert, säkulare Wachstum,
S. 29 ff.
54
I. Theoretische
Bei den vornehmlich technischen
Grundlagen
Determinanten werden folgende Thesen
aufgestellt:¦69¿
• Aufgrund dergeringeren Rationalisierungsmöglichkeiten desöffentlichen
Sektors entsteht eine zunehmende Produktivitätslücke zumprivaten, die seine Kosten überproportional ansteigen lässt. • Zunehmende Arbeitsteilung bzw. fortlaufend sich vertiefende Produktionsstrukturen erfordern eine permanente Ausweitung der administrativen(Verwaltung, Rechtswesen) undökonomischen Infrastrukturen (Verkehr, Kommunikation), die vornehmlich vomöffentlichen Sektor bereitgestellt werden müssen. • Die zunehmende Kapitalintensivierung derProduktionsprozesse verlangt eine steigende Risikoübernahme durch denStaat mittels Subventionen, Direktbeteiligungen oder sonstigen Vergünstigungen. • Die industrielle Produktion erzeugt soziale undökologische Folgekosten, die ebenfalls ein verstärktes Engagement desStaates erfordern. All dies führt im Vergleich zumSozialprodukt zueinem überproportionalen Wachstum der Staatsausgaben unddamit zu steigenden Staatsquoten. Auch hier werden dieFaktoren in ihrer langfristigen Entwicklung –so weites möglich ist–statistisch erfasst, derEntwicklung derStaatsausgaben gegenübergestellt undderZusammenhang zwischen denDatenreihen mittels statistischer Verfahren berechnet. Bei der dritten Gruppe, dendemographischen Faktoren, geht es umBevölkerungswachstum, Bevölkerungsdichte, Urbanisierung undAltersstruktur. Wiederum werden Regressionsanalysen erstellt, diediestatistische Beziehung zwischen diesen Faktoren unddenStaatsausgaben aufzeigen. Die Entwicklung derStaatsausgaben, den„abhängigen“Variablen, wird in diesem Ansatz also aufdie sozioökonomischen Faktoren, die „unabhängigen“ Variablen, zurückgeführt. Dabei wird implizit oder explizit davon ausgegangen, dass zwischen den abhängigen unddenunabhängigen Variablen ein funktionales Verhältnis besteht. Faktoranalytische Ansätze zeichnen sich durch einen starken empirischen Bezug aus, der zuweilen sogar dazu führt, die statistischen Regelmäßigkeiten nicht nurals quasi gesetzmäßige, sondern als theoretische Beziehungen anzusehen. Mittels Induktionsschluss werden sie zueiner „Theorie“verallgemeinert. Diesentspricht einer mechanistischen, extrem ahistorischen Vorgehensweise. Es ist daher nurkonsequent, wennder ‚Staat‘ in diesen Ansätzen als das bestimmt wird, wasals ‚Staatsausgaben‘ definiert worden ist. Als Institution, innerhalb derunter demEinfluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ablaufen unddieaktiv aufdieGestaltung desöffentlichen Haushalts Einfluss nimmt, tritt der Staat kaum in Erscheinung. Auch die Auswir-
69
Recktenwald, Horst Claus, Umfang undStruktur deröffentlichen Ausgaben insäkularer Entwicklung, in: Neumark, Fritz (Hg.) Handbuch derFinanzwissenschaft, Bd. 1,Tübingen 1977, S. 713 ff.
2. Kapitel: Staatstheorien
55
kungen derStaatsausgaben aufWirtschaft undGesellschaft tauchen vornehmlich als statistisches „Interdependenz-Problem“auf. Im Mittelpunkt dieser Ansätze steht die Frage, ob sich Staatsausgaben und„ verursachende Faktoso voneinander isolieren undaufeinander beziehen lassen, dass dies beren“ stimmten formal-statistischen Ansprüchen genügt. Diezentrale Frage derhistorischen Analyse lautet demgegenüber, ob dem politisch-administrativen Bereich lediglich eine Transformationsfunktion zukommt, indem er die sozioökonomisch, technisch unddemographisch bedingte Entwicklung der kollektiven Bedürfnisse ineinöffentliches Budget umsetzt, oderobRegierungen undBürokratien, Parteien undParlamente einsolches Eigengewicht besitzen, dass sie Art undUmfang der Staatsausgaben unddamit ihre Auswirkungen mitbestimmen können. Dies kann allerdings nureine rhetorische Frage sein, dennes ist zuoffensichtlich, dass der ‚Staat‘in historischer Perspektive eine eigenständige, aktive Größe war, deren Bedeutung mannicht aufdie mechanische Umsetzung von Umweltfaktoren in öffentliche Haushalte reduzieren
kann. Dennoch darf die Bedeutung derfaktoranalytischen Ansätze nicht unterschätzt werden. Dierelativ kontinuierliche Entwicklung wichtiger Staatsquoten über einen Zeitraum vonmehr als 100 Jahren, die signifikanten statistischen Zusammenhänge zwischen Staatsausgaben undbestimmten Determinanten unddie Ähnlichkeit der Entwicklung in fast allen Industriestaaten legenesnahe zuvermuten, dasses sichbeiderEntwicklung derStaatsausgaben tatsächlich umeinen quasi unausweichlichen Prozess handelte, dervornehmlich durch sozioökonomische, technische unddemographische Faktoren bestimmt wurde. Zumindest wird dadurch das Bemühen historischer Untersuchungen relativiert, diedieEntwicklung deröffentlichen Haushalte ausschließlich aus den zeitspezifischen Macht- undInteressenverhältnissen heraus zu erklären versuchen (siehe Kapitel III.6.1).
2.3 Funktionsanalytische
Ansätze
ImGegensatz zudenimvorangegangenen Abschnitt behandelten empirischinduktiven Ansätzen basieren diejetzt dargestellten Ansätze auftheoretischdeduktiven Überlegungen hinsichtlich derFunktion des Staates.¦70¿ Sowohl in denliberalen als auch indenmarxistischen Modellen stellt derStaat ein funktionales Komplement zumMarkt dar. Er hat die Aufgabe, das Versagen des Marktes hinsichtlich derAllokation, Distribution undStabilisierung zukompensieren. Beide Theorierichtungen gehen davon aus, dass derstaatliche den marktlichen Sektor nicht nurergänzt, sondern letztlich seinen Bestand und seine Funktionsfähigkeit sichert. Im Gegensatz zu den faktoranalytischen Ansätzen, die in denStaatsausgaben die abhängigen undin bestimmten öko70 Fehr, Benedikt, Erklärungsansätze, S. 67 ff.
56
I. Theoretische
Grundlagen
nomischen, technischen unddemographischen Determinanten dieunabhängigen Variablen sehen, die aber nicht die Rückwirkungen derStaatsausgaben aufdiese Variablen erfassen, ist die Interdependenz vonMarkt undStaat die entscheidende Prämisse derfunktionalen Staatsbestimmung. Staat undMarkt bedingen sich gegenseitig, allerdings miteindeutiger Dominanz dermarktlichen Sphäre. Bei dieser Gemeinsamkeit imgenerellen Zugriff der liberalen undmarxistischen Ansätze dürfen natürlich nicht die tiefgreifenden Unterschiede hinsichtlich desErkenntnisinteresses, derfunktionalen Beziehungen imEinzelnen undderSchlussfolgerungen übersehen werden.
a. Neoklassische
Ansätze
Denkt man das neoklassische Modell radikal zu Ende, so minimiert sich der staatliche Aufgabenbereich aufwenige ordnungssetzende Funktionen. Allerdings kannauchdieneoklassische Wirtschaftstheorie nicht daran vorbei, dass derMarkt unvollkommen in demSinne ist, dass er zuErgebnissen führt, die gesamtwirtschaftlich nicht optimal sind –ganz abgesehen davon, dass sie von derGesellschaft nicht akzeptiert werden. Sie versucht daher, die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in systematischer Weise aus den Funktionsmängeln dermarktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung zubegründen. Bevor auf diese Funktionsmängel im Einzelnen eingegangen wird, soll ein Versuch beschrieben werden, im Rahmen des neoklassischen Ansatzes eine „Staatstheorie“zu entwickeln. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass politische Institutionen als Bestandteil eines Systems von Verhaltensregeln undinstitutionellen Vorkehrungen interpretiert undanalysiert werden, dasauf demPrinzip spontaner Koordination gesellschaftlicher Produktion undVerteilung basiert undnicht durch übergeordnete Werte undZiele geprägt ist. Aufdieser Grundlage lässt sich eine Theorie konstruieren, die auf dereinen Seite politische Institutionen normativ begründen undauf der anderen reale Institutionengefüge positiv erklären kann. Ein Beispiel füreine solche Theorie ist die Vertragstheorie vonJames M. Buchanan.¦71¿ Die Beziehungen zum Thema Wirtschaftsordnung sind eng, so dass das Folgende auch im Kapitel über dieOrdnungstheorien hätte behandelt werden können. Buchanan versucht dasEntstehen politischer Institutionen –nicht nurvon staatlich-administrativen –als Ergebnis eines spontanen sozialen Konsens zu erklären: Einökonomisches System aufderGrundlage freiwilliger Tauschbeziehungen kannaufDauer nurdurch kollektive Vereinbarungen gewährleistet werden. Solche freiwilligen konstitutionellen Kontrakte aller Gesellschaftsmitglieder müssen aucheinen Staat schaffen, derzwarmitZwangsgewalt ausgestattet ist, dessen Funktion allerdings auf den Schutz der vereinbarten
71
Buchanan, James
1975.
M.,TheLimits of Liberty. Between Anarchy andLeviathan, Chicago
2. Kapitel: Staatstheorien
57
Rechtsordnung –insbesondere desprivaten Eigentums –beschränkt bleibt – , densogenannten protektiven Staat. Er braucht keine besonderen Institutionen fürkollektive Entscheidungen, daalle wesentlichen Rechte undPflichten der Menschen bereits in denkonstitutionellen Verträgen festgelegt worden sind. Er benötigt lediglich Institutionen, die Verstöße gegen diese feststellen und
sanktionieren. Innerhalb einer solchen gesellschaftlichen Ordnung entstehen Märkte aus demeigennützigen Verhalten der Menschen spontan. Die Produktion und Verteilung vonprivaten Gütern undDienstleistungen wird auf diese Weise effizient koordiniert, ohne dass dafür gemeinsame Entscheidungen aller Gesellschaftsmitglieder notwendig sind. Probleme gibt es bei densogenannten kollektiven Gütern, weil bei ihnen das Ausschlussprinzip nicht funktioniert, d.h., es kann auch derjenige konsumieren, der keinen Preis zahlt (siehe die folgenden Seiten). Deshalb erfordert die Produktion undVerteilung solcher Güter kollektive Entscheidungen über die zu produzierenden Mengen, ihre Distribution unddie Kostenaufteilung. DadasEinstimmigkeitsprinzip ingrößeren Kollektiven zu kostspielig ist –Gegner vonbestimmten Entscheidungenmüssten solange entschädigt werden, bissie zustimmen – , eine Vereinbarung also nicht mehr freiwillig zustande kommt, muss sie durch Zwangsgewalt abgesichert werden, überdie nurderStaat verfügt. Dadurch entsteht der sogenannte produktive Staat, dessen Funktion sich nicht mehr auf die Gewährleistung vonEigentums- undVerfügungsrechten beschränkt, sondern der darüber hinaus öffentliche Güter produziert undverteilt. Einöffentliches Gut ist ein kollektives Gut, das fürdie ganze Gesellschaft produziert undvor allemvomStaat finanziert wird. Da nicht-einstimmige Entscheidungen für die überstimmten Mitglieder eines Kollektivs mit mehr oder weniger großen Verlusten verbunden sind, besteht der Anreiz, Entscheidungen über die Produktion undVerteilung öffentlicher Güter zubeeinflussen. Es entstehen deshalb Verteilungskoalitionen mitdemZiel, eine fürdie Mitglieder dieser Koalitionen möglichst günstige Versorgung mit öffentlichen Gütern zu erreichen. Da sie außerdem immer höhere Ansprüche an denStaat stellen, wird dieser zueiner ständigen Ausweitung seiner Tätigkeiten gezwungen. Der ursprünglich nurzurSicherung einer spontanen Ordnung konstituierte Staat wird aufdiese Weise zerstört. Angesichts dieses Dilemmas müssen die Eigentums- undVerfügungsrechte permanent andentechnischen, ökonomischen undsozialen Wandel angepasst werden. Diese Anpassung ist deshalb erforderlich, weil dertechnische, ökonomische undsoziale Wandel zuMarktversagen führen kann. Die Funktionsfähigkeit des Marktmechanismus setzt ja –zumindest imModell –voraus, dass Kosten undErträge innerhalb einer Tauschbeziehung verbleiben, d.h. internalisiert werden. Keiner soll Kosten fürdie Bereitstellung eines Gutesübernehmen, andessen Nutzen ernicht partizipiert. Keiner soll Nutzen aus derBereitstellung eines Gutes ziehen, andessen Kosten er nicht beteiligt ist. DasAuftreten solcher „ungedeckten“Kosten- oder Nutzeneffekte bezeichnet
58
I. Theoretische
Grundlagen
manalsExternalitäten oderexterne Effekte. Will maneindurch solche Effekte verursachtes Marktversagen unddamit eine zunehmende Kontrolle vonProduktion undVerteilung durch kollektive Entscheidungen, d.h.durch denStaat, vermeiden, müssen dieEigentums- undVerfügungsrechte möglichst rasch dem gesellschaftlichen Wandel angepasst werden. Bei Buchanan läuft dies aufeine möglichst weitgehende Privatisierung bisher öffentlicher Güter undDienste hinaus. Letztlich wird damit dasgrundlegende Problem derVerteilungskoalitionenaber nicht gelöst. Da auch bei derAnpassung der Eigentumsrechte prohibitiv hohe Kosten entstehen, umeinstimmige Entscheidungen zuerreichen, wird es erneut aktuell. Eine systematische Lösung des vonBuchanan aufgezeigten Problems scheint somit nicht möglich. Die Tätigkeit des vertraglich konstituierten Staates ist aussystematischen Gründen nicht so kontrollierbar, dass er in seinem ursprünglich vorgegebenen Rahmen verbleibt. Buchanans Vertragstheorie lässt somit politische Institutionen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Funktionen weitgehend unbestimmt. Sie kann keine hinreichende Basis für eine ökonomische Theorie politischer Institutionen darstellen. Diese müssen vielmehr normativ in Bezug aufihre ökonomischen Aufgaben definiert werden.¦72¿ Es sei an dieser Stelle noch einmal auf das methodische Vorgehen der neoklassischen Wirtschaftstheorie hingewiesen.¦73¿ Sie arbeitet mit demModell des liberalen, zumGleichgewicht tendierenden Marktes, derAngebot und Nachfrage zumAusgleich bringt. DerWettbewerb sichert eine effiziente Allokation derProduktionsfaktoren, eine leistungsgerechte Distribution derEinkommen undeine stabile Entwicklung derWirtschaft. DamitderVorstellung vom‚Wettbewerb‘zugleich dieBedingungen angegeben werden, unter denen dies gilt, wird es bei der Abgleichung von Theorie undRealität möglich festzustellen, ob ein gleichgewichtiger Markt vorliegt, undwenn nein, warum nicht. Ineinem nächsten Schritt kanndanngeprüft werden, obpolitisch-staatliche Intervention das Marktversagen korrigieren soll, undwennja, welche Instrumente dazueingesetzt werden können. Im Rahmen derliberalen politischen Ökonomie lassen sich generell folgende Staatsfunktionen ableiten: 1.dieRegelung vonEigentums- undVerfügungsrechten als Voraussetzung fürdie Entwicklung undFunktionsfähigkeit vonMärkten, 2. die Vermeidung oder Kompensation vonMarktversagen und 3. die Produktion undVerteilung vonGütern, die über denMarkt nicht oder nicht effizient produziert werden können. Auf die erste Funktion wurde im Abschnitt über die Ordnungstheorien näher eingegangen; hier geht es umdie
72 Frey, Bruno S./Kirchgässner, 73
Gebhard, Demokratische Wirtschaftspolitik. Theorie und Anwendung, München 1994, S. 28 ff. Weimann, Joachim, Wirtschaftspolitik. Allokation undkollektive Entscheidung, Berlin
1996, S. 29 ff.
2. Kapitel: Staatstheorien
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zweite unddritte Funktion. In systematisch-theoretischer Hinsicht wird wie folgt argumentiert:¦74¿ Öffentliche Güter: Zumeinen liegt Markt- undWettbewerbsversagen vor, wenn derMarkt bestimmte Güter gar nicht anbietet, weil bei ihnen dasAusschlussprinzip nicht funktioniert undkeine Rivalität der Nutzer umdasGut besteht. DasAusschlussprinzip besagt, dass derjenige, dernicht bereit ist, den geforderten Preis eines „privaten“G utes zuzahlen, vondessen Konsum ausgeschlossen wird. Dieser Ausschluss ist bei „ öffentlichen“G ütern entweder aus technischen Gründen nicht möglich oder verursacht prohibitiv hohe Kosten, d.h., erist ausökonomischen Gründen nicht sinnvoll. DasRivalitätsprinzipbesagt, dass einGutnurvoneinem Individuum undnicht gleichzeitig von anderen Individuen konsumiert werden kann, ohne dass es zuEinschränkungenfüralle Konsumenten kommt. Eine solche Konsumentenrivalität giltebenfalls nicht füröffentliche Güter, dieohne Einschränkung gleichzeitig vonvielen Individuen genutzt werden können. Menschen werden sich bei ihnen wie ‚Frei- oderTrittbrettfahrer‘ verhalten; sie konsumieren ohne zuzahlen. Wechselt man nun von der Theorie zur Realität, so zeigt sich, dass es reine“ö ffentliche Güter nicht gibt. Selbst diejenigen, die immer wieder als „ Paradebeispiele angeführt werden –z.B. äußere undinnere Sicherheit, Ver, waren in der Geschichte lange Zeit „private“ kehr, Bildung, Gesundheit – Güter. Mandenke andieprivat finanzierten Söldnerheere derfrühen Neuzeit, an Mautchausseen im 19. Jahrhundert oder anprivate Schulen, Universitäten undSicherungsdienste heute. Angesichts derhohen Mobilität undderneuen technischen Möglichkeiten scheint manauch bei einem Teil des Straßennetzes dasAusschluss- undRivalitätsprinzip wieder anwenden zukönnen. Insofern hatdiescharfe Trennung vonprivaten undöffentlichen Gütern vornehmlich einen heuristischen Wert. Jedenfalls lassen sich öffentliche Güter inkonkreter Form nicht zeitunabhängig bestimmen. Wie stark die Definition öffentlicher Güter vonsich wandelnden gesellschaftspolitischen Vorstellungen geprägt wird, zeigen auch andere systematische Argumente, mitdenen ihre Bereitstellung gerechtfertigt wird. So sollen z.B. Leistungen des Bildungswesens öffentlich angeboten werden, weil Ausbildung nicht nurindividuellen Nutzen, sondern gleichzeitig gesamtwirtschaftlichen stiftet. Wegen dieser positiven externen Effekte muss damit gerechnet werden, dass Menschen sich weniger ausbilden lassen, als dies aus gesellschaftlicher Perspektive wünschenswert wäre. Außerdem neigen Individuen dazu, die kurzfristigen Nutzen zuüberschätzen; sie berücksichtigen zuwenig die langfristigen Vorteile, die ein gut entwickeltes Bildungswesen stiftet. Schließlich widerspricht einrein privates Bildungssystem derAuffassung von Chancengleichheit, wasallerdings einnormatives Argument ist. Letztlich lässt sich aber die Frage, welche Güter in welchem Umfang öffentlich bereitge-
74
Cezanne, Wolfgang, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München 1996, ters, Hans-Rudolf, Wirtschaftspolitik, München 1995, S. 216 ff.
S. 43 ff.; Pe-
60
I. Theoretische
Grundlagen
stellt werden (sollen), nurunter Rückgriff aufgesellschaftliche Wertvorstellungen undpolitische Machtverhältnisse beantworten. Externe Effekte: Alsexterne Effekte bezeichnet manjene Folge vonHandlungen imBereich derProduktion undKonsumtion, diederHandelnde selbst nicht spürt, aber seine Umwelt, d.h. andere durch die inpositiver oder negativer Weise betroffen werden. Negative externe Effekte entstehen z.B., wenn ein Handwerksbetrieb mit seinen Maschinen so viel Lärm verursacht, dass andere in derNachbarschaft bei ihrer Arbeit gestört werden. Positive externe Effekte entstehen z.B., wenn eine touristische Attraktion zurBelebung des umliegenden Hotel- undGaststättengewerbes führt. Umes für denFall der privaten“Kosten der negativen Effekte allgemein auszudrücken: Wenndie „ Produktion geringer sind als die „ sozialen“K osten, wirddieProduktion über jenes Maßhinaus ausgedehnt, das gesamtwirtschaftlich optimal ist. Es werdenzu viele Ressourcen in Produktionen mitexternen Kosten gelenkt, weil sich die Produzenten –ausgesamtwirtschaftlicher Perspektive –andenfalschen Preisen orientieren. DerStaat soll daher mitVer- undGeboten, Steuern oder Subventionen die falschen Signale, die die Marktpreise in diesen Fällen geben, korrigieren. Generell sollen die Produzenten gezwungen werden, die externen Kosten zu „internalisieren“ . Nicht alle liberalen Markttheoretiker fordern allerdings die Intervention desStaates. Sie präferieren eine Internalisierung externer Effekte durch Verhandlungen zwischen Verursachern und Betroffenen. Wie die Bestimmung öffentlicher Güter wird dieexterner Effekte durch Wertvorstellungen beeinflusst, die sich imLaufe derZeit wandeln oder von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sind. Gerade im Bereich der Umweltverschmutzung haben externe Effekte inhochentwickelten Industriegesellschaften denmassiven Eingriff desStaates bewirkt, während in unterentwickelten Ländern die gleichen Effekte zukeiner entsprechenden Reaktiongeführt haben. ImÜbrigen verändern Güter auch„objektiv“ihrenCharakter. Sowaren Luft undWasser bisvornicht allzu langer Zeitnochsogenannte freie Güter. Ihre Verschmutzung veränderte daher auch nicht dieeinzel- und gesamtwirtschaftliche Kosten-Nutzen-Bilanz. Dies hatsich indenletzten Jahrengrundlegend geändert. Natürliche Monopole: Ein natürliches Monopol besteht dann, wenn ein einzelner Anbieter aufgrund vonVorteilen derMassenproduktion jede Nachfragemenge kostengünstiger alseine Mehrzahl vonProduzenten anbieten kann. DerGrößenvorteil besteht darin, dassdiese Produktionen beieiner relativ großenAusbringungsmenge in die Zone derdegressiven Stückkosten gelangen. Dies trifft z.B. auf die Schienennetze bei derEisenbahn, die Kabelnetze bei derElektrizität undTelekommunikation unddie Rohrnetze beim Gaszu, bei denen das Leistungsaufkommen unddamit die Absatzmenge bis zurabsolutenVollauslastung meist nurunter geringen zusätzlichen Betriebskosten vergrößert werden kann. Die Aufteilung derProduktion aufzwei oder mehr Unternehmen führt injedem Fall zuhöheren Kosten als beim monopolistischen
2. Kapitel: Staatstheorien
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Angebot. Als Argument für die staatliche Regulierung dient die potentielle Gefahr, dass sich ein natürliches Monopol, obwohl es die gesamtwirtschaftlich kostengünstigste Lösung darstellt, nicht automatisch am Markt durchsetzt: Wennes zumZwecke desinternen Ertragsausgleichs fürbestimmte Erzeugnisse ausdemProduktionssortiment relativ hohe Preise zumAusgleich für ertragsschwache Produkte oder Dienstleistungen verlangt, können sich Wettbewerber gerade in diesen Hochpreissegmenten des natürlichen Monopols ansiedeln undletztlich dessen gesamte Existenz gefährden. Auch indiesem Fall gilt, dass es natürliche Monopole in derhier behandelten Form inderRealität nicht gibt; insofern kann sich derBegriff „natürlich“ nuraufeintheoretisch-heuristisches Konstrukt beziehen. Galt dastraditionelle Fernmeldewesen mit dem Kabelnetz der Post viele Jahrzehnte als Paradebeispiel eines natürlichen Monopols, so hat der technische Fortschritt imBereich dermodernen Telekommunikation dazu geführt, dass dieses nur noch eingeschränkt existiert. Dennoch ist staatliche Regulierung weiterhin notwendig umzu verhindern, dass sich private Anbieter in den profitablen Bereichen desKommunikationswesens ansiedeln, dieverlustbringenden aber vernachlässigen. Wiederum steht dahinter eine gesellschaftspolitische Entscheidung, nach derjeder zu angemessenen Preisen über einen Telefonanschluss verfügen soll. Ähnlich stellt sich dieSituation beim ‚öffentlichen‘NahundFernverkehr, bei derElektrizität undbeim Gasoder bei derPost dar. Ruinöse Konkurrenz: Unter ruinöser Konkurrenz wird eine Marktkonstellation verstanden, die zu Preisen unter denGestehungskosten unddamit zum Ausscheiden von Anbietern undzur Unterversorgung führt. Sie wird ebenfalls aufbranchenspezifische Eigenarten undBesonderheiten derProduktion zurückgeführt, z.B. aufdieNichtlagerfähigkeit vonVerkehrsleistungen, dieUnmöglichkeit derVariation homogener Massengüter oderdieWetterabhängigkeit landwirtschaftlicher Erzeugung. DakaumMöglichkeiten zurProduktdifferenzierung undzumQualitätswettbewerb bestehen, wird der Wettbewerb fast ausschließlich über denPreis ausgetragen. Der Preiskampf aller gegen alle lässt die Gewinnspannen schrumpfen, bis schließlich die Selbstkosten nicht mehr gedeckt werden. Es dürfte allerdings nur wenige Märkte geben, für die diese Argumentation zutrifft, vornehmlich wiederum für die mitVersorgungsnetzen. Zweiparallele Eisenbahnlinien, beidenen Qualitätswettbewerb hinsichtlich Bequemlichkeit undSchnelligkeit nureingeschränkt wenn möglich ist, werden eventuell ebenso unter ruinöser Konkurrenz leiden – wieparallele Elektrizitäts- oderGasleikeine Absprachen getroffen werden – tungen. Auch in diesem Fall wäre der Staat gefordert, durch entsprechende Regulierung oder Eigenproduktion eine Unterversorgung zuvermeiden. Asymmetrische Information: Imreinen neoklassischen Modell sindzwar alle Wirtschaftssubjekte umfassend informiert, sobald mansich aber derRealität annähert, wird dies nicht mehrderFall sein. Sie verfügen vielmehr über unterschiedliche Informationen; derInformationsstand wirdnicht gleich sein. Bei denmeisten ökonomischen Transaktionen spielt dies nureine untergeord-
62
I. Theoretische
Grundlagen
nete Rolle. Kommt es allerdings zusystematischen Informationsasymmetrien, so können sich daraus Probleme ergeben. So werden häufig explizit oder implizit Verträge abgeschlossen, bei denen eine der beteiligten Parteien in Vorleistung tritt und sich darauf verlassen muss, dass die andere ihren Informationsvorsprung nicht ausnutzt unddenVertrag ebenfalls erfüllt. Inden meisten Fällen sorgen Sitte undMoral für die Einhaltung von Verträgen. In selteneren Fällen wird sie durch Gerichte gesichert. Es gibt aber auch Fälle, bei denen weder derjenige, dereine Vorleistung erbringt, noch einGericht in der Lage ist zu überprüfen, ob die zweite Vertragspartei ihren Verpflichtungen nachgekommen ist. Dies kommt immer dann vor, wenn zwischen den Vertragsparteien eine asymmetrische Informationsverteilung herrscht: zwischen Arzt undPatient, Versicherungsgeber und-nehmer, Handwerker und Kunden etc. Hier könnte es zu einer ‚adversen Selektion‘ kommen, d.h. zu einer systematischen Verschlechterung der angebotenen Leistungen undin deren Folge zuMarktversagen: Dabeispielsweise derNachfrager vonHandwerksleistungen deren Qualität imVoraus kaumabschätzen kann, besteht die Gefahr, dass sich der Kunde nuramPreis orientiert. Dadurch werden besser befähigte Handwerker mit höheren Preisen gegebenenfalls von schlechter qualifizierten, aber billigeren verdrängt. Es könnte sich eine Situation ergeben, in der auch die besser qualifizierten Handwerker gezwungen werden, tendenziell immer schlechtere Leistungen zugeringeren Preisen anzubieten, wasletztlich sogar –insbesondere bei sogenannten „Gefahrenhandwerken“– mitRisiken fürdieGesundheit derBevölkerung verbunden sein kann. Insolchen Fällen soll derStaat regulierend eingreifen –imhier angeführten Beispiele durch vorgeschriebene Berufsausbildungen und-prüfungen. Dies sind die wichtigsten Gründe, die die neoklassische Wirtschaftstheorie anführt, umwirtschaftspolitische Eingriffe desStaates aussystematischen Fehlentwicklungen des Marktes abzuleiten. Dabei geht es vornehmlich um die Allokation der Produktionsfaktoren auf der Angebotsseite. Sehr viel zurückhaltender ist die neoklassische Theorie, wennes umdie Distribution und Stabilisierung, d.h. umverteilungs-, wachstums-, struktur- oder konjunkturpolitische Eingriffe, geht. Immerhin erkennt die stärker interventionistische Richtung innerhalb der liberalen Theorie hier ebenfalls Marktversagen und die Notwendigkeit staatlicher Steuerung.
h. Politökonomische Ansätze
Aufdie marxistische Analyse deskapitalistischen Systems –ihre Prämissen, Konstruktionen undAbleitungen –kannhier nicht näher eingegangen werden (siehe Abschnitt I.1.3.b). Die Darstellung soll sich auf die Rolle des Staates beschränken.¦75¿ Da Marx selbst keine Staatstheorie entwickelt hat, muss sie
75
Butterwege, Christoph, Probleme dermarxistischen Staatsdiskussion, Köln 1977; Esser, Josef, Einführung in die materialistische Staatsanalyse, Frankfurt a. M. 1975.
2. Kapitel:
Staatstheorien
63
ausdemaufLenin zurückgehenden Konzept desStaatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK) abgeleitet werden. Insofern handelt es sich umein marxistisch-leninistisches Analysemodell. Der bereits von Marx diagnostizierte Grundwiderspruch kapitalistischer Produktionsverhältnisse liegt in der wachsenden Vergesellschaftung der Produktion undderprivaten Aneignung des Mehrprodukts menschlicher Arbeit imZusammenhang mitderprivaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Die Logik der profitgesteuerten Kapitalverwertung bestimmt die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Das politische System –der ‚Staat‘–steht auch in diesem Ansatz in einem funktional-komplementären Verhältnis zur Wirtschaft. Generell erfüllt es folgende Aufgaben: • Herstellung undSicherung derallgemeinen kapitalistischen Produktionsbedingungen: derGewährleistung desPrivateigentums, derEinhaltung der Regeln des Tauschverkehrs, der Schaffung der administrativen, ökonomischen undsonstigen Infrastruktur etc.; • Gewährung eines Mindestmaßes ansozialer Sicherheit undStabilisierung desWirtschaftsprozesses; • Förderung derProduktivkraftentwicklung durch Übernahme spezifischer Produktionsrisiken.
Dererste Aufgabenbereich desStaates warkonstitutiv fürdieEtablierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Daher bemerkte schon Engels, dass der Staat bei ihrer Wahrnehmung nicht die Interessen einzelner Kapitalfraktionen vertreten könne, sondern denReproduktionsprozess im Interesse dergesamten kapitalistischen Klasse sichern müsse. Er bezeichnete denStaat indieser ideellen Gesamtkapitalisten“.¦76¿ Die beiden anderen AufgabenFunktion als „ bereiche traten im Laufe der Zeit hinzu. Die Vertreter des SMK-Konzepts haben in diesem Zusammenhang sehr konkrete Vorstellungen über die verschiedenen Entwicklungsphasen derkapitalistischen Entwicklung inDeutschland. Nachderersten Phase derfreien Konkurrenz setzte inden1870er Jahren die zweite Phase desMonopolkapitalismus ein, derseit demErsten Weltkrieg die dritte Phase des Staatsmonopolistischen Kapitalismus folgte; sie dauert bis heute an. In dieser dritten Phase ist allein derStaat in derLage, denjetzt nicht mehr auf derGrundlage marktlicher Gesetzmäßigkeiten funktionierendenKapitalismus vordemZusammenbruch zubewahren. DerStaat kann mit seinen Instrumenten denProduktionsprozess zwarzeitweilig stabilisieren, insgesamt verschärfen sich aber die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems.¦77¿
76 77
Ambrosius, Gerold, ZurGeschichte desBegriffs undderTheorie desStaatskapitalismus unddes Staatsmonopolistischen Kapitalismus, Tübingen 1984. Wirth, Margaret, Kapitalismustheorie in der DDR. Entstehung und Entwicklung der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1972.
64
I. Theoretische
Grundlagen
Im Laufe dieser Entwicklung kames zueiner immer engeren Verflechtung zwischen Staat undWirtschaft im Allgemeinen undzwischen StaatsMonopolkapital“ , d.h. Großunternehmen, im Besonderen. Die apparat und„ ‚staatsmonopolistische Regulierung‘ führte dann zu ihrer endgültigen „ Verschmelzung“ . Allerdings wirddasVerhältnis zwischen beiden nicht eindeutig entsprechend dertraditionellen SMK-Theodefiniert. Einerseits istderStaat – rie –nurnoch ein Instrument derMonopolbourgeoisie. Andererseits müssen sich auch die monopolistischen Profitinteressen demSysteminteresse unterordnen. DasMonopolkapital kannnicht ausschließlich seine spezifischen Ziele verfolgen, da sonst das gesamte System gefährdet ist. Daraus resultiert eine gewisse Selbständigkeit desStaates. Selbst wennauchindenmodernen ‚Spät-
kapitalismustheorien‘derHandlungs- undEntscheidungsspielraum politischer Instanzen in letzter Konsequenz von den spezifischen Gesetzlichkeiten des privatwirtschaftlichen Systems bestimmt wird, so löst sich doch derStaat aus seiner ökonomischen Determination undgewinnt eine eigenständige Bedeutung als derBereich, indemgesellschaftliche Verteilungskonflikte ausgetragenwerden müssen.¦78¿ Dasführt zuLegitimationsproblemen, eröffnet aberdie prinzipielle Möglichkeit derpolitischen Veränderung ökonomischer Verhältnisse; dieFunktionen desStaates sind nicht mehr nurökonomisch festgelegt, sondern politisch gestaltbar. Daraus ergibt sichdieNotwendigkeit, Staatsfunktionen normativ zubestimmen undzubegründen. Die ökonomische Theorie des Staates wirdzueiner politischen. AufdieWidersprüche undUngereimtheiten dieses Ansatzes kannhier im Einzelnen nicht eingegangen werden.¦79¿Lediglich drei Punkte sollen erwähnt werden: – Zumeinen erscheint derStaat als einzige Instanz, die Gemeinschaftsinteressen bzw. -zwecke vertreten kann. Seine Existenz wirdja gerade damitbegründet, dass dieeinzelnen Wirtschaftssubjekte (Unternehmer) ihn zurVerfolgung derInteressen benötigen, diesieselbst aufgrund ihrer Konkurrenzbeziehungen nicht verfolgen können. Dies trifft insofern nicht zu, als gemeinschaftliche Aufgaben in der Vergangenheit immer auch von konkurrierenden Privaten am Staat vorbei geregelt wurden. Damit wird aber die Grundannahme der Staatsableitung in Frage gestellt, die aus systemimmanenten Funktionsdefiziten des Marktes auf die Notwendigkeit staatlicher Interventionen schließt. – ZumZweiten handelt essichumeinahistorisches Modell. Indem derStaat aus denVerwertungsinteressen des Kapitals abgleitet wird, ist er extern bestimmt. Nungab es aber schon vor demkapitalistischen System der bürgerlichen Gesellschaft sowohl ‚freie Märkte‘als auch den ‚Staat‘und hoheitliche Regelungen. ObderStaat ausderWirtschaft oder umgekehrt dieWirtschaft ausdemStaat abgeleitet werden kann, sei dahingestellt. Da
78 Hirsch, Joachim, Staatsapparat undReproduktion des Kapitals, Frankfurt a. M. 1974. 79 Peters, Rudolf, Einführung, S. 69 ff.
65
2. Kapitel: Staatstheorien
aber der modernen Wirtschaftsweise von Beginn an das staatliche Element immanent ist, daderStaat fürdie Durchsetzung desMarktprinzips mitverantwortlich war,kanndieÜbertragung neuer Aufgaben andenStaat genauso
als eigenständiger politischer Prozess interpretiert werden.
– ZumDritten stellt dieses
Konzept, zumindest in seiner marxistisch-leninistischen Variante, keinen offenen Ansatz dar. Seine wichtigste These, dass derStaat ausschließlich im Interesse des Monopolkapitals agiert, kann nicht widerlegt werden. Dadas kapitalistische System nicht zusammengebrochen ist, können alle staatlichen Maßnahmen –seien es sozial-, stabilitäts- oder umweltschutzorientierte –im Sinne der Systemerhaltung interpretiert werden. Füreine theoriegeleitete historische Analyse ist es daher nurbedingt brauchbar.
2.4 Entscheidungstheoretische Ansätze
In den bisher behandelten Ansätzen erscheint der Staat als Anhängsel des Marktes, als ausführendes Organ ‚extern‘bestimmter Funktionszusammenhänge, die sich aus wirtschaftlichen Sachzwängen oder aus –außerhalb des politischen Abstimmungen undMachtkämpfen Staatssektors stattfindenden – ergeben. Demgegenüber setzen die entscheidungstheoretischen Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie an den Handlungs- undEntscheidungsprozessen der Akteure im staatlich-politischen Bereich an.¦80¿ Wiederum bildet der methodologische Individualismus derneoklassischen Wirtschaftstheorie die Basis für diese Art der Analyse von politischen undadministrativen Systemen. Wähler, Lobbyisten, Politiker oder Bürokraten verhalten sich auf dem Markt“genauso wie Konsumenten undInvestoren auf staatlich-politischen „ dem privat-wirtschaftlichen Markt: Sie versuchen ihren Nutzen zu maximieren. Der einzelne Bürger will bei Wahlen seine spezifischen Interessen durchsetzen. Dereinzelne Politiker will möglichst viel Macht, Prestige oder Einkommen erlangen. Dereinzelne Bürokrat will ebenfalls möglichst viel Einfluss undAnsehen gewinnen. Entsprechend denneben demMarkt existierendengesellschaftlichen Koordinierungsverfahren –Wahl, Hierarchie, Verhandökonomilung –haben sich im Rahmen der Neuen Politischen Ökonomie „ sche“ T heorien derDemokratie, derBürokratie undderKollektiventscheidungenentwickelt.¦81¿ ImFolgenden soll beispielhaft eine Theorie derBürokratie vorgestellt werden, weil sie sich unmittelbar auf Entscheidungsprozesse in derVerwaltung bezieht, die denStaat imengeren Sinne ausmacht. Indenbisherigen Ansätzen hing derStaat vonderWirtschaft ab, d.h., die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen bestimmte das Angebot. Jetzt wird 80 Bernholz, Peter/Breyer, Friedrich, Grundlagen derPolitischen Ökonomie, Bd.1:Theorie
derWirtschaftssysteme (1993); Bd.2: Ökonomische Theorie derPolitik, Tübingen 1994.
81 Frey, Bruno/Kirchgässner,
Gebhard, Wirtschaftspolitik,
S. 85 ff.
66
I. Theoretische Grundlagen
untersucht, wiedasAngebot vonöffentlichen Leistungen durch diedaran beteiligten Verwaltungen beeinflusst wird. Die klassische Bürokratietheorie – wie sie insbesondere vonMax Weber (1864–1920) vertreten wird –sieht in derVerwaltung ein zweckrationales Instrument zurErreichung politisch vorgegebener Ziele, eine „maschinenhafte Exekutive“mitdemTypdesn „eutralenBeamten“imZentrum.¦82¿ Demgegenüber geht die moderne Bürokratieforschung undmitihrdieNeuePolitische Ökonomie voneinem Beamtentyp aus, dereigene, durchaus eigennützige Absichten, Ziele undHandlungsstrategien verfolgt.¦83¿ Bei der Analyse des Innenverhältnisses einer Bürokratie wird mit unterschiedlichen Nutzenfunktionen einzelner Amtsträger operiert, während bei derdesAußenverhältnisses inderRegel eine einheitliche Nutzenfunktion derbetreffenden Institution unterstellt wird. Injedem Fall rücken dieEigeninteressen der Verwaltungen, die in derklassischen Bürokratietheorie weitgehend ausgeblendet werden, in den Vordergrund. Die Nutzenfunktion eines Bürokraten umfasst Gehalt, Sondervergütungen, Ansehen, Macht, Protektion etc. Dabei hängen diese Parameter imWesentlichen vomUmfang des BudgetsderVerwaltungseinheit ab,indererarbeitet. Zudengrundlegenden Merkmalen staatlicher Verwaltungen gehört nach diesem Ansatz weiterhin ihre . Sie erlaubt es politischen Auftraggebern“ Monopolstellung gegenüber den„ denBürokraten, ihre Interessen aufeine Art undWeise wahrzunehmen, wie es unter Konkurrenz nicht möglich wäre. Das Fehlen vonEigentumsrechten an einem möglichen Nettonutzen von Verwaltungstätigkeit ist ein weiteres kennzeichnendes Element. Dasalles führt dazu, dass Bürokraten keinInteresse aneinem effizienten Einsatz derRessourcen haben. AlsMaßaller Produktionsleistungen einer Verwaltung wird wiederum das Budget angesehen. Die ökonomische Theorie der Bürokratie geht also davon aus, dass sich Regierung undVerwaltung inderKonstellation desbilateralen Monopols befinden:¦84¿ Die Bürokratie gibt ihre Leistung ausschließlich andieRegierung ab unddiese erhält die von ihr nachgefragten Dienste ausschließlich von der Verwaltung. Im Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Regierenden und Bürokraten steht das Budget. Während die Regierung die Budgethöhe vom Ergebnis derWahlen abhängig macht, versucht die Verwaltung –ausdengenannten Motiven –dasBudget stets zumaximieren. Dies führt zuöffentlichen Haushalten, deren Umfang über demdergesellschaftlichen Nachfrage liegt.
82 83 84
Weber, Max, Wirtschaft undGesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, S. 124 ff. Downs, Anthony, Nichtmarktwirtschaftliche Entscheidungssysteme –Eine Theorie der Bürokratie, in: Widmaier, Hans-Peter (Hg.), Politische Ökonomie desWohlfahrtstaates, Frankfurt a. M. 1974, S. 201 ff.; Downs, Anthony, Inside Bureaucracy, Boston 1967. Niskanen, William A., Nichtmarktwirtschaftliche Entscheidungen. Die eigentümliche Ökonomie der Bürokratie, in: Widmaier, Hans-Peter (Hg.), Politische Ökonomie des Wohlfahrtstaates. Eine kritische Darstellung der Neuen Politischen Ökonomie, Frankfurt a. M. 1974, Niskanen, William A., Bureaucracy andRepresentative Government, Chicago 1974.
2. Kapitel: Staatstheorien
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Diestaatliche Bürokratie wirdalso als Budgetmaximierer angesehen. Sie befindet sich dabei gegenüber derRegierung als Finanzier insofern ineiner starkenStellung, als sie als monopolistische Optionsfixierer auftreten kann. Sie überlässt der Regierung als Optionsempfänger nurdie Möglichkeit, das un–sprich Budget Preis“ teilbare Leistungsangebot zudemvonihrbestimmten „ –anzunehmen oder abzulehnen. Die Regierung wird demgegenüber bemüht sein, dasLeistungsangebot zumöglichst geringen Kosten zuerhalten. Sie wird die Haushalte derVerwaltungen möglichst niedrig ansetzen, ohnejedoch das Leistungsangebot zu beeinträchtigen. Die Strategie der Verwaltung muss es daher sein, ihre Leistungen tatsächlich oder auch nurvorgetäuscht auszuweiten, umeine Budgeterhöhung zuerreichen. DadieRegierung inderRegel die zusätzlichen Kosten fürdiezusätzlichen Leistungen nicht kennt, kannsie auch nicht denzusätzlichen Nutzen –soweit er überhaupt messbar ist –mitdessen Kosten vergleichen undsomit auch nicht dasoptimale Budget ermitteln. Sie wird deshalb daszusätzliche Leistungsangebot gewöhnlich miteinem höheren Budget belohnen. Die Verwaltung erreicht die angestrebte Budgetmaximierung also amehesten durch Überproduktion. Ein wesentliches Defizit der ökonomischen Theorie der Bürokratie besteht darin, dass die behördlichen Außenbeziehungen, insbesondere die zwischen Verwaltung undLobby, kaumproblematisiert werden.¦85¿ Sie können zu engen Beziehungsgeflechten führen, wobei die Verwaltungen ihrerseits wieder vomFachwissen entsprechender Spezialisten bzw. Verbände abhängig werden. Vorallem aber istdieReduzierung derMotive undVerhaltensweisen derBürokraten aufdieVerfolgung eigennütziger Interessen genauso einseitig wiedasBild des neutralen, nurdenvorgegebenen Sachzielen verpflichteten Beamten. Auch wenn die Hypothese der Budgetmaximierung einen erheblichen Erklärungsgehalt fürdas Verhalten vonBürokratien besitzt, so drohen durch ihre Dominanz doch andere Verhaltensweisen zu sehr in den Hintergrund zutreten. ImÜbrigen können Bürokraten ihrStreben nach Macht, Prestige oder Einkommen auch ohne Budgeterhöhung verwirklichen, indem sie ihren Einfluss über denAusbau deröffentlichen Regulierungskompetenz erweitern. Generell drückt sich die Ausweitung derStaatstätigkeit nicht allein in derErhöhung deröffentlichen Haushalte aus.
85 Peters, Rudolf, Wirtschaftspolitik, S. 143 ff.
II. Empirische Entwicklungen 3. Kapitel: Wirtschaftsordnung 3.1 Wirtschaftsverfassungen Keine Verfassung hat jemals eine Wirtschafts- undSozialordnung in ihrer Gesamtheit festgelegt; durch sie können aber zentrale Elemente bestimmt werden. Eine Verfassung ist wiederum Ausdruck der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, in denen sie entsteht, undsie wandelt sich mit ihnen. ImFolgenden gehtes umdenverfassungsrechtlichen Kerneiner Wirtschaftsordnung. Dadie Entwicklung derWirtschaftsverfassung in ihrer Gesamtheit wegen ihrer Komplexität über einen längeren Zeitraum kaum differenziert dargestellt werden kann –neben deneigentlichen Verfassungstexten müsste die Vielzahl derEinzelgesetze undGerichtsurteile berücksichtigt werden, die , soll beispielhaft vorgegangen die Verfassung imengeren Sinne ausfüllen – werden. Ineinem ersten Schritt wird dieGewerbeverfassung als Teil dergesamten Wirtschaftsverfassung in einem Längsschnitt behandelt, umlangfristige Entwicklungslinien aufzuzeigen. Dabei werden auch wichtige Gesetze unterhalb deseigentlichen Verfassungsrechts berücksichtigt, die konstitutive Bedeutung fürdie Entwicklung dieser Teilverfassung hatten. Es geht also um dieWirtschaftsverfassung imweiteren Sinne, wennauchaufeinen Teilsaspekt begrenzt. Ineinem zweiten Schritt werden danndrei Wirtschaftsverfassungen im engeren Sinne dargestellt, die kurhessische von 1831, die Weimarer von 1919 unddie bundesdeutsche von 1949. Hierbei geht es eher umeinen historischen Querschnitt. Insgesamt beschränkt sich die folgende Darstellung auf die wirtschaftsverfassungsrelevanten Bestimmungen undvernachlässigt den wirtschafts-, sozial- undpolitikhistorischen Hintergrund. Es geht mehrumdie Verfassungsnorm undweniger umdie Verfassungswirklichkeit.
a. Teilverfassungen Als Beispiel für die Entwicklung einer Teilverfassung wurde die Geschichte der Gewerbeverfassung deshalb ausgewählt, weil die Gewerbeordnung im Zentrum des Übergangs vom feudalen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem stand unddamit –imGegensatz zuanderen Elementen derWirtschaftsordnung –sehr früh eine rechtliche Kodifikation erfuhr.¦86¿ Daes Staatsverfas-
86 Vgl. Kaufhold, Karl Heinrich, Gewerbefreiheit undgewerbliche Entwicklung inDeutschland im 19.Jahrhundert, in: Blätter fürdeutsche Landesgeschichte 118 (1982), S. 73 ff.;
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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sungen immodernen Sinne erst seit demEnde des 18.Jahrhunderts gibt, konnten wirtschaftsrelevante Verfassungsnormen in kodifizierter Form erst seit dieser Zeit entstehen. Billigt manaber auch zentralen Gesetzen undVerordnungen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Charakter zu, so setzte die verfassungsrechtliche Konstituierung derGewerbeordnung schon früher ein. Durchwegging es dabei umdie Frage, inwieweit dasGewerbe frei sein sollte. Ge-
werbefreiheit
in ihrer
idealtypischen Ausprägung bedeutet, dass jeder
inje-
dem Gewerbe, in beliebigem Umfang, mitjeder Technik überall undohne staatliche oder sonstige Einschränkungen aktiv werden kann. Sie zielt aufden Zugang zumGewerbe, nicht auf dessen Ausübung. Die Gewerbeverfassung regelte in der Frühen Neuzeit die Ordnung des Handwerks unddes Handels. Später traten die Industrie undneben demHandel andere Dienstleistungen hinzu. So wie es innerhalb der feudalen Zunftverfassung eine Vielzahl von Sonderregelungen gab, wurden solche auchinnerhalb derliberalen Marktverfassung für neue, besonders sensible Wirtschaftszweige erlassen: für Eisenbahnen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, für Versicherungen amAnfang des 20. Jahrhunderts oder fürdas Handwerk, die sogenannten freien Berufe, Energieversorgungsunternehmen, Banken undNahverkehrsunternehmen seit den 1930er Jahren. Hier soll es umdie allgemeinen Bestimmungen der Gewerbeverfassung unter besonderer Berücksichtigung des Handwerks gehen. Diezünftige Abschließung desHandwerks, diedenfreien Zugang zuden verschiedenen Gewerben seit dem 13. Jahrhundert zunehmend beseitigte, wurde eigentlich erst seit dem15. Jahrhundert konsequent gehandhabt. Aber bereits vondaab begann eine vorsichtige Unterwanderung derspätmittelalterlichen Zunftordnung. Durch eine Vielzahl von einzelterritorialen und Reichspolizeiverordnungen wurden tendenziell immer mehr Handwerke mit immer weniger Einschränkungen zugelassen unddie Autonomie der Zünfte zumindest de jure eingeschränkt.¦87¿ Von Gewerbefreiheit konnte allerdings keine Rede sein; die fastjede freie Initiative behindernden zünftigen Regulierungen blieben im Wesentlichen bestehen.¦88¿ Manche Wirtschaftshistoriker lassen die Geschichte derGewerbefreiheit mitdersogenannten Reichszunftordnung vom 16.8.1731 beginnen, demletzten größeren gesetzgeberischen AktdesHeiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.¦89¿Mitihrwurde energischer als bis dahin versucht, die Abschließungspolitik derZünfte aufzubre-
87
88 89
Reuter, HansGeorg, DieEntwicklung derGewerbefreiheit inDeutschland von1731bis 1897, in: Delhaes, Karl von(Hg.), Dimensionen des Wettbewerbs. Seine Rolle in der Entstehung undAusgestaltung vonWirtschaftsordnungen, Stuttgart 1997, S.429 ff. Vgl. Bergius, Johann Heinrich Ludwig. Sammlung auserlesener teutscher Landesgesetze welche dasPolicey- undCameralwesen zumGegenstand haben, Frankfurt 1781. Schmoller, Gustav von, Umrisse undUntersuchungen zurVerfassungs-, VerwaltungsundWirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898. Hofmann, Hans Huber (Hg.), Quellen zumVerfassungsorganismus desHeiligen Römi1815, Darmstadt 1976, S. 302 ff. schen Reiches Deutscher Nation 1495–
70
II. Empirische Entwicklungen
chen, umdemWettbewerb mehrRaumzuverschaffen. Daaberdieeinzelnen
Territorien diese neue Ordnung durchsetzen mussten, waren die konkreten Folgen unterschiedlich. In der Praxis gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Städten zwar keine Gewerbefreiheit, aber wirklich geschlossene Zünfte gabes nurnoch wenige.¦90¿ AufdemLande wardieGewerbeausübung dagegen noch stark eingeschränkt. Allerdings wurden auch hier immer mehr Handwerksberufe unddasGroßgewerbe zugelassen. Dabei ging es imRahmen derpolitisch-ökonomischen Verfassung des merkantilistischabsolutistischen Staates aber weder darum, individuelle ökonomische Freiheitsrechte durchzusetzen, nochdarum, Privilegien undZünfte generell abzuschaffen. Vielmehr sollten alle ständischen Rechte allein vomHerrscher gewährt undwieder entzogen werden. Die intermediären Gewalten wieZünfte wurden also geschwächt, umden absolutistischen Machtanspruch durchzusetzen.¦91¿
Brandenburg-Preußen bietet eingutes undwichtiges Beispiel fürdieweitere Entwicklung. DerKurfürst vonBrandenburg wollte dieZünfte schon 1669 auflösen. 1718 versuchte König Friedrich Wilhelm I. ebenfalls vergeblich, die Zünfte in dengroßen Städten abzuschaffen, umdas Handwerk der Aufsicht desStaates zuunterwerfen. InderaufderGrundlage derReichszunftordnung erlassenen Handwerksordnung fürOstpreußen von 1733 oder indenGeneral-
Innungsprivilegien der Kurmark undNeumark von 1734/35 behielt sich der Staat weitgehende Eingriffs- undKontrollrechte gegenüber denZünften vor, ohne deren gewerbliche Befugnisse aber tatsächlich anzutasten. Das Allgemeine Landrecht von 1794 änderte daran wenig; immerhin wurden die Zugangsbeschränkungen weiter gelockert. Werdie vomStaat gesetzten Bedingungen erfüllte, musste in die Zünfte aufgenommen werden undkonnte damit seinen erlernten Beruf ausüben. Nirgendwo ging derpreußische Staat im 18. Jahrhundert aber so weit wie inderGrafschaft Mark. Die Akziseordnung fürdiese Provinz von 1791 bestimmte, dass füreinen jährlichen Betrag „ das platte Land ... auf immer die völlige Consumtions-, Handlungs- und Gewerbefreyheit ohne städtische Accise- undGilde-Zwang“erhielt.¦92¿ Diese Gesetze undVerordnungen hatten sicherlich wirtschaftsverfassungsrechtlichen Charakter. Darüber darf allerdings nicht das konkrete Verwaltungshandeln vergessen werden, dasebenfalls immer stärker durch liberale Grundsätze geprägt wurde undunterhalb dergesetzlichen Ebene füreine Aufweichung der überkommenen Zunftverfassung sorgte.
90 91
92
Kaufhold, Karl Heinrich, Gewerbefreiheit, S. 78 ff. . ZurGeVermögens-Gesellschaft“ Klippel, Diethelm, „ Libertas commerciorum“und„ schichte ökonomischer Freiheitsrechte in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Birtsch, Günther (Hg.), Grund- undFreiheitsrechte imWandel vonGesellschaft undGeschichte. Beiträge zurGeschichte derGrund- undFreiheitsrechte vomAusgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 319 f. Hofmann, Hans, Quellen, S. 75 ff.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
Preußen warder erste deutsche Staat,
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der aus eigenem Entschluss und
ohne direkten französischen Druck dieGewerbefreiheit inumfassender Form einführte.¦93¿ Das Edikt über die Agrarreform vom9.10.1807 (Oktoberedikt) Jeder Edelmann ist, ohne allen Nachteil seines Standes, bestimmte in § 2: „ befugt, bürgerliche Gewerbe zutreiben; undjeder Bürger oder Bauer ist berechtigt, ausdemBauern- indenBürger- undausdemBürger- indenBauern¦94¿ Damit wurde die Begrenzung desGewerbes aufdieStädte stand zutreten.“
undderen Bürger beseitigt, dieeine derGrundlagen derbisherigen Wirtschaftsordnung gewesen war. DieBehinderungen bei derGründung eines Gewerbebetriebes, inerster Linie derZunftzwang, waren damit allerdings noch nicht abgeschafft. Dies geschah durch das Gewerbesteuer-Edikt vom 18.10.1810, in dessen Präambel derZweck desGesetzes, die Erhöhung derStaatseinnahmen, erläutert wurde: „Unter denMitteln zudiesem Zweck hatUnsdie Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer für Unsere getreuen Unterthanen weniger lästig geschienen, besonders daWirdamit die Befreiung derGewerbe vonihren drückendsten Fesseln verbinden, Unseren Unterthanen dieihnen beim Anfange derReorganisation des Staats zugesicherte vollkommene Gewerbe-Freiheit gewähren unddasGesammtwohl derselben aufeine wirksame Weise fördern können.“¦95¿Im Gewerbepolizeigesetz vom 7.9.1811 wurden dann die Bedingungen konkretisiert undbereits wieder gewisse Einschränkungen formuliert. Parallel zudiesem Gesetz erschien einEdikt, dasdenMühlenzwang unddenGetränkezwang aufhob, also weit verbreitete Beschränkungen desWettbewerbs derNachfrager. In den von Frankreich okkupierten linksrheinischen Gebieten war die Gewerbefreiheit bereits 1798 undeinige Jahre später auch imneugegründetenKönigreich Westphalen undimGroßherzogtum Berg eingeführt worden.¦96¿ DerCode Civil wurde hier 1804 ebenso übernommen wiedasliberale Handels- undGewerberecht des Code de Commerce 1807. Andere Rheinbundstaaten folgten den liberalen Vorreitern nurzögernd. In Bayern führte man nicht dieallgemeine Gewerbefreiheit, sondern lediglich einGewerbekonzessionssystem mit modifizierter Zunftverfassung ein. In Baden schränkte die Regierung die Vergabe vonMonopolrechten nurschrittweise ein.¦97¿ AuchwenninPreußen dasOktoberedikt dieentscheidende Bresche indie vorindustrielle Korporationsverfassung schlug, blieben die rechtlichen und 93 Vogel, Barbara, Allgemeine Gewerbefreiheit. DieReformpolitik despreußischen Staats94
95 96 97
kanzlers Hardenberg (1810–1820), Göttingen 1983. Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1967, S. 41 ff. Huber, Ernst, Dokumente, S. 47. Demel, Walter, Vomaufgeklärten Reformstaat zumbürokratischen Staatsabsolutismus, München 1993. Dipper, Christof, Wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidungen inSüddeutschland, in: Ullmann, Hans-Peter (Hg.), Restaurationssystem undReformpolitik. Süddeutschland und Preußen imVergleich, München 1996, S. 139 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
tatsächlichen Verhältnisse unklar; zuunterschiedlich waren die Regelungen indeneinzelnen preußischen Landesteilen, zustark derWiderstand desstädtischen Zunfthandwerks –nicht selten unterstützt vondenkommunalen Behörden unddemalten Stadtbürgertum –unddes ländlichen Großgrundbesitzes gegen dieGewerbefreiheit. Die Auseinandersetzungen umdieendgültige Gestaltung despreußischen Gewerberechts dauerte nocheinmal überdreiJahrzehnte, bis schließlich die Allgemeine Gewerbeordnung am 17.1.1845 erlassenwurde. DerGesamtstaat zerfiel während dieser Zeit in drei Zonen unterschiedlichen Gewerberechts: IndenOstprovinzen waren dieEdikte von 1810/ 11 gültig. InderProvinz Sachsen blieb die alte Zunftverfassung in Kraft. Im Westen galt dasfranzösische bzw. dasrheinische undwestfälische Recht mit weitgehender Gewerbefreiheit. Selbst wenn ein relativ breiter Konsens darüber bestand, dass die Gewerbefreiheit gesichert und in allen Landesteilen durchgesetzt werden sollte, konnte in Bezug aufdasHandwerk, umdases in der öffentlichen Diskussion fast ausschließlich ging, voneiner breiten gewerbefreiheitlichen Strömung keine Rede sein.¦98¿ Die Gewerbeordnung wardenn auch ein Kompromiss. Zwar wurde die §. Gewerbefreiheit durch dieersten beiden Paragraphen eindeutig bestimmt: „ 1. Dasin einzelnen Landestheilen mitGewerbeberechtigung noch verbundene Recht, Anderen denBetrieb eines Gewerbes zuuntersagen oder sie darin zu beschränken (ausschließliche Gewerbeberechtigung) wird hierdurch aufgehoben, ohne Unterschied, obdieBerechtigung aneinem Grundstück haftet oder nicht. §. 2. Ferner werden aufgehoben alle Berechtigungen, Konzessionenzugewerblichen Anlagen oder zumBetrieb vonGewerben zuertheilen.“ Diebestehenden Zünfte wurden aber nicht angetastet –dasGesetz verwendete für sie denBegriff Innungen. Es konnten sogar neue gebildet werden, wobei sie allerdings keine Zwangsrechte undkeinen Beitrittszwang mehrbesaßen. Immerhin benachteiligte das Gesetz die Nichtmitglieder, da in den 43 wichtigsten Handwerken nurderMeister Lehrlinge ausbilden durfte, der Innungsmitglied waroder die für die Innungsaufnahme vorgeschriebene Prüfung, denBefähigungsnachweis, abgelegt hatte. Vier Jahre später führte eine Verordnung vom 9.2.1849 für die 70 wichtigsten Handwerke eine Prüfung zurErlangung desBefähigungsnachweises ein, dermindestens drei Lehr- und Die Gewerbefreiheit wardadurch, drei Gesellenjahre vorangehen mussten. „ obwohl formal nicht berührt, materiell in einem wichtigen Punkt beeinträchtigt worden. ... Diese Zweigleisigkeit –Gewerbefreiheit im Grundsatz und Pflege desInnungswesens alsspezieller Handwerksschutz –warvondaanbis zurAufhebung derGewerbefreiheit 1935 fürdiepreußische undspäter fürdie deutsche Handwerkerpolitik charakteristisch“.¦99¿ In die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 wurde die Gewerbefreiheit nicht aufgenommen. Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, als ob die 98 Kaufhold, Karl, Gewerbefreiheit, S. 92. 99 Ebenda, S. 95.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
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11 unddie Gewerbeordnung von 1845 indiReformgesetzgebung von 1807– viduelle Freiheitsrechte minderen Ranges geschaffen hätte. Letztlich nähertensichGewerbe- undNiederlassungsfreiheit inihrer Wirkung demRangvon Grundrechten an.¦100¿ Zurverfassungsrechtlichen Normimeigentlichen Sinn wurde dieGewerbefreiheit zumersten Mal in Europa durch Artikel 17derfranzösischen Verfassung vom24.6.1793. Schon zuvor hatte ein Dekret vom 17.3.1791 dieZünfte aufgehoben. In die deutschen Verfassungstexte wurde die Gewerbefreiheit dagegen nicht aufgenommen, womit vor allem die süddeutschen Staaten an dertraditionellen Gewerbeordnung festhielten, dennPreußen hatte ja immerhinineinem konstitutiven Edikt die Gewerbefreiheit proklamiert. Einige Verfassungen gewährleisteten die Freiheit der Berufswahl, die aber nicht identisch war mit der Freiheit der Berufsausübung. Andere fassten eine eingeschränkte Niederlassungsfreiheit zumindest ins Auge. So legte § 27 derVerEinem Jeden ohne Unterschied fassung vonKurhessen vom5.1.1831 fest: „ stehet die Wahl des Berufes unddie Erlernung eines Gewerbes frei.“In § 36 hießesdann: „Ausschließliche Handels- undGewerbe-Privilegien sollen ohne Zustimmung derLandstände nicht mehr ertheilt werden. Die Aufhebung der bestehenden Monopole, sowie derBann- oderZwangsrechte, istdurch besonderes Gesetz zubewirken.“¦101¿ In der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 dominierten wirtschaftsliberale Auffassungen.¦102¿ DasPlenum beauftragte denVolkswirtschaftlichen Ausschuss, denEntwurf einer Gewerbeordnung vorzulegen. DerMehrheitsentwurf dieses Ausschusses, der allerdings dann im Plenum nicht mehr beraten wurde, sah die umfassende Gewerbefreiheit vor undließ Innungen nurnoch als Vereinigungen mitfreiwilliger Mitgliedschaft undohne öffentlichrechtliche Befugnisse zu. Immerhin verlangte er einen Befähigungsnachweis. Außerdem hieß es imGrundrechtskatalog zurSicherung derindividuellenFreiheitsrechte, deram27.12.1848 noch vorderVerabschiedung dergesamten Verfassung gesondert als Gesetz verkündet wurde, in Artikel I § 3: „ Jeder Deutsche hatdasRecht anjedem Orte desReichsgebietes seinen Aufenthalt undWohnsitz zunehmen, Liegenschaften jeder Art zuerwerben und darüber zu verfügen, jeden Nahrungszweig zu betreiben, das Gemeindebürgerrecht zugewinnen.“Als Grundrecht imEntwurf derReichsverfassung von 1848/49 erreichte die Gewerbefreiheit mit ihren individuellen Rechten der freien Berufsausbildung, der Freizügigkeit und des unbeschränkten Betrei100 Krug, Günter E., DieEntwicklung ökonomischer Freiheitsrechte inDeutschland imWandelvonStaat, Wirtschaft undGesellschaft vomAncién Regime bis zurReichsgründung (1776–1871), Frankfurt a. M. 1995, S. 612. 101 Fischer, Erich (Hg.), Verfassungen deutscher Länder undStaaten. Von 1816 bis zur Gegenwart, Berlin-Ost 1989, S. 133 ff. 102 Best, Heinrich, Interessenpolitik undnationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte imfrühindustrialisierten Deutschland, Göttingen 1980
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II. Empirische Entwicklungen
bens eines Betriebes die „höchste Stufe ihres Rechtscharakters“ .¦103¿ Der Widerstand gegen diese umfassende Gewerbefreiheit warallerdings sostark, dass
die wirtschaftsliberalen Rechte bis zur Regelung im Rahmen einer eigenen
Gewerbeordnung praktisch aufgehoben wurden. Trotz anhaltenden Widerstandes durch handwerkliche Interessenverbände schuf in den 1860er Jahren ein Staat nach demanderen eine liberale Gewerbeverfassung: Österreich 1859– 67, Nassau 1860, Bremen undOldenburg 1861, Baden, Sachsen, Württemberg 1862, die Thüringischen Staaten 1863, Braunschweig undFrankfurt am Main 1864, Hamburg 1865, Bayern 1868. Diese Entwicklung mündete indieGewerbeordnung desNorddeutschen Bundes vom 21.6.1869, die ab 1871 als Reichsgesetz fortbestand, so dass von da abmitderReichsgewerbeordnung eineinheitliches Gewerberecht fürdasgesamte Deutsche Reich galt. Sie bestimmte indenersten Paragraphen Folgen§. 1. Der Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, soweit nicht des: „ durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind... §. 2. Die Unterscheidung zwischen Stadt undLand in BezugaufdenGewerbebetrieb unddieAusdehnung desselben hört auf. §. 3. Der gleichzeitige Betrieb verschiedener Gewerbe, sowie desselben Gewerbes in mehreren Betriebs- oder Verkaufsstätten ist gestattet. Eine Beschränkung der Handwerker aufdenVerkauf derselbstverfertigten Waaren findet nicht statt. §. 4. DenZünften undkaufmännischen Korporationen steht dasRecht, Ande¦ 104¿Zwar wurden bestehende re von demBetrieb auszuschließen, nicht zu.“ Zünfte undkaufmännische Korporationen nicht angetastet unddieGründung neuer Innungen zugelassen, eswaren aberprivatrechtliche Vereinigungen ohne jeden Zwangscharakter. Die Reichsverfassung selbst äußerte sich zurGewerbefreiheit nicht.¦105¿ Paragraph 1 der Gewerbeordnung, der den Kern einer liberalen Wirtschaftsordnung bildete, beinhaltete eine doppelte Garantie fürdie Gewerbefreiheit: Landesrechtliche Beschränkungen schloss er aus, reichsgesetzliche waren nurzulässig, wenn sie entweder in derGewerbeordnung selbst enthalten waren oder in späteren Reichsgesetzen vorgenommen wurden.¦106¿ Solche Beschränkungen waren anfangs selten. Nursehr wenige Betriebe undBerufsarten wurden vonderGeltung derGewerbeordnung ganz ausgenommen. Nur einige Gewerbe wurden von staatlicher Konzession abhängig gemacht. Bei anderen behielt sich der Staat für denFall dererwiesenen Unzuverlässigkeit desGewerbetreibenden dieMöglichkeit desKonzessionsentzugs vor. Fürdie Ausführung dieser Regelungen waren grundsätzlich dieallgemeinen Verwal-
103 Krug, Günter, Entwicklung, S. 329. 104 Bundes-Gesetzesblatt des Norddeutschen Bundes, Nr. 26 vom 1. Juli 1869, S. 245 ff. 105 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. u.a. (Hg.), Deutschen Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zumEnde derMonarchie, Stuttgart 1984,
S. 71 ff.
106 Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, S. 532 ff.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
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tungs- bzw. Polizeibehörden zuständig; aufeine eigene Gewerbeverwaltung wurde verzichtet. Hierin drückte sich derliberale Zeitgeist aus, nachdemsich die staatliche Verwaltung grundsätzlich ausdemwirtschaftlichen Leben heraushalten undnurdann eingreifen sollte, wenndie öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet war. Damit war der Höhepunkt des Liberalismus in Deutschland erreicht. Er hatte zwar dasmonopolistische Verbändewesen des 17. und18.Jahrhunderts zerstört, aber selbst indieser Phase wardieGewerbefreiheit nicht so liberal angelegt wieimwestlichen Ausland. Angesichts dervielfältigen Probleme, die die fortschreitende Industrialisierung mitsich brachte, wurde dieGewerbefreiheit recht bald wieder eingeschränkt.¦107¿ 1881erhielten Innungen als fachliche und1897 Handwerkskammern als räumliche Selbstverwaltungskörperschaften einen öffentlichrechtdie nähere Regelung des Lehrlichen Status. Ihnen wurden obligatorisch „ Bildung von Prüfungsausschüssen zur Abnahme der lingswesens“unddie „ Gesellenprüfung“zugestanden. Es gelang demorganisierten Handwerk somit ansatzweise, denöffentlichrechtlichen Charakter seiner Korporationen wiederherzustellen. Es gelang ihmallerdings nicht, das Hauptprivileg alter Zunftverfassungen zurückzugewinnen: dieBeschränkung selbständiger Berufsausübung auf Meister, wobei die Meisterwürde nurdurch einen ‚Befähigungsnachweis‘ erlangt werden konnte, der ausschließlich von den korporativen Selbstverwaltungsorganen vergeben wurde. Immerhin wurde 1908 mit dem ‚Kleinen Befähigungsnachweis‘ einweiteres Element derliberalen Gewerbeverfassung zurückgenommen. Von nun an war erneut eine Meisterprüfung notwendig, umimeigenen Betrieb Lehrlinge ausbilden zukönnen. Außerdem konnten aufAntrag derMehrheit derbetroffenen Gewerbetreibenden Zwangsinnungen eingerichtet werden, die allerdings nicht das Recht hatten, Preise festzusetzen oderdie Annahme vonKunden zubeschränken. Die gesamte Gesetzgebung zurhandwerklichen Gewerbeverfassung lief aufeinen freien Marktzutritt hinaus, nicht aberaufeinen freien Wettbewerb.¦108¿ Korporationsbildung unddamit zumindest die partielle Aufhebung desWettbewerbs warwährend desgesamten 19.Jahrhunderts möglich. Dieses fürdas Handwerk geltende Wettbewerbsrecht wurde durch verschiedene Kartellurteile desReichsgerichts inden 1890er Jahren aufdie gesamte Wirtschaft ausgedehnt.¦109¿
Auch bei den innerbetrieblichen Verhältnissen ging die ausgesprochen liberale Phase schon nach relativ kurzer Zeit wieder zuEnde. Paragraph 105 derReichsgewerbeordnung bestimmte, dass die „Festsetzung derVerhältnis107 Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4: Struktur undKrisen des Kaiserreichs, Stuttgart 1969, S. 973 ff. 1914, in: Jeserich, Kurt G. A. 108 Kaufhold, Karl Heinrich, Wirtschaftsverwaltung 1867– (Hg.). Deutsche Verwaltungsgeschichte seit 1798, 5 Bde., Bd. 3: Das Deutsche Reich 250, S. 215 ff. bis zumEnde derMonarchie, S. 201– 109 Reuter, Hans, Entwicklung, S. 445 f.
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II. Empirische Entwicklungen
se zwischen denselbständigen Gewerbetreibenden undihren Gesellen, Gehilfen undLehrlingen ... Gegenstand freier Übereinkunft“ist, d.h. tatsächlich frei, ohne staatliche Einmischung. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung wurden aber die Mängel einer solch extrem liberalen Verfassung immeroffensichtlicher, so dass auf verschiedenen Feldern der Staat undseine Verwaltungen zuintervenieren begannen: Arbeitsnachweise, Gewerbegerichte, Arbeitsschutz undGewerbeaufsicht waren u.a. die Elemente, die in die Gewerbeverfassung eingebaut wurden und die deutlich machten, dass die Gesellschaft nicht länger bereit war, die Wirtschaft sich selbst zu überlassen.¦110¿
Die Weimarer Verfassung vom15.8.1919 besaß als letzten Abschnitt einenbesonderen Teil zum„Wirtschaftsleben“. Art.151 forderte imersten Satz nurvage, dass die „Ordnung des Wirtschaftslebens ... denGrundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“müsse. Gleich im zweiten Satz hieß es dann In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zusiaber: „ Die Freiheit des Handels undGewerbes wird nach chern.“Abs.3 lautete: „ Maßgabe derReichsgesetze gewährleistet.“Die in Art.111verbürgte Freizügigkeit garantierte zugleich die „ Freiheit derBerufswahl“ . Die Reichsgewerbeordnung von 1871blieb nach 1918 inKraft. Damit wurde dieliberale Wirtschafts- undGewerbeverfassung des Kaiserreichs fortgeführt, demStaat aber die Möglichkeit eröffnet, stärker in die Gewerbefreiheit einzugreifen. In bestimmten Bereiche machte er davon auch Gebrauch –z.B. im Rahmen der Arbeitsmarktordnung. Bei der besonderen Regulierung des Handwerks hielt er sich dagegen zurück. Trotz massiver Interessenpolitik gelang es derHandwerksbewegung nicht, eine eigene Handwerksordnung durchzusetzen.¦111¿ Immerhin wurde mit einer Novelle zur Gewerbeordnung ab dem 1.4.1929 die Handwerksrolle als öffentliches Register aller Handwerker, dieeinGewerbe angemeldet hatten, eingeführt. Zudem bestand vonjetzt abfürjuristische Personen die Innungspflicht.¦112¿ Aber noch die Reichstagsenquête von 1930 bescheinigte demHandwerk seine Überlebensfähigkeit auch unter denBedingungen fortgeschrittener Industrialisierung undzwar ohne staatliche Protektion. Sie sah für eine Beschränkung der Anzahl selbständiger Handwerker durch die Einführung einer obligatorischen Meisterprüfung jedenfalls keine Veranlassung. Noch stärker als bei anderen Wirtschaftsordnungen muss bei der Wirtschaftsordnung desNationalsozialismus zwischen Verfassungsnorm undVer110 Frerich, Johannes/Frey, Martin, Handbuch derGeschichte derSozialpolitik in Deutschland, Bd.1: Vonder vorindustriellen Zeit bis zumEnde des Dritten Reiches, München 1996, S. 128 ff. 111 Huber, Ernst Rudolf ‚Deutsche Verfassungsgeschichte 1867–1914, Bd. 4: Die WeimarerReichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 1025 ff. 112 Wernet, Wilhelm (Hg.), Handwerk im Widerstreit der Lehrmeinungen, Münster 1960, S. 74 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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fassungswirklichkeit unterschieden werden. So galt die liberale Gewerbeordnungnach 1932 grundsätzlich weiter unddamit auchdieGewerbefreiheit. Sie wurde in derPraxis aber immer mehr ausgehöhlt. Immer massiver griff der Staat indie Errichtung, Führung undSchließung vonBetrieben unddie freie Berufswahl ein, so dass am Ende der 1930er Jahre die Gewerbefreiheit in weiten Bereichen aufgehoben war,d.h. dierechtliche Normkeine Bedeutung mehr besaß.¦113¿
Trotz Ideologie, Programmatik undentsprechendem Gesetz blieb derständische Aufbau der gewerblichen Wirtschaft in den Anfängen stecken. Es ging demnationalsozialistischen Regime nicht darum, ihre Selbstverwaltung im ständischen Sinne zu stärken, sondern umeine möglichst reibungslose LenkungderWirtschaft mitdemZiel derAufrüstung. DieGrenzen zwischen staatlicher Verwaltung undSelbstverwaltungsorganisation verwischten sich immermehr. Bereits Ende 1934 verlor dasHandwerk dengerade erst erworbenenStatus eines eigenen ‚Standes‘undwurde als ‚Reichsgruppe‘ in die im Entstehen begriffene Neuorganisation der gewerblichen Wirtschaft integriert.¦114¿ Allerdings erreichte das Handwerk nach jahrzehntelanger Lobbyarbeitdurch das‚Gesetz überdenvorläufigen Aufbau desdeutschen Handwerks‘ vom29.11.1933 endlich sein wichtigstes Ziel: Wie auch andere mittelständische Berufe wurden die handwerklichen ausdemGewerberecht herausgelöst undneuorganisiert. Es entstand eineigenes Handwerksrecht. Die Pflichtinnung wurde ebenso wie der ‚Große Befähigungsnachweis‘ eingeführt. Das neue Regime wollte das Handwerk für sich gewinnen undes gleichzeitig in denkorporatistischen Zwangsstaat einbauen. Insofern hatte der antiliberale Zeitgeist doch Folgen. 1939 wurde einzelnen Handwerken sogar die Bedürfnisprüfung gewährt. NurdemWunsch, Mindestpreise verbindlich einzuführen, wurde nicht entsprochen.¦115¿ DasGrundgesetz derBundesrepublik Deutschland von 1949 besitzt zwar keinen eigenen Abschnitt überwirtschaftliche Tatbestände; es formuliert aber in Art.12 Abs. 1: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetze geregelt werden.“ Dieoffizielle Interpretation lieferte dasBundesverfassungsgericht zehn Jahre später, indem es folgende Grundsätze bestimmte:¦116¿ 1. Art. 12 proklamiert nicht die Berufs- unddamit die Gewerbefreiheit als objek113 Ambrosius, Gerold, Von Kriegswirtschaft zuKriegswirtschaft (1914–1945), in: North, Michael (Hg.), Tausend Jahre deutsche Wirtschaft. Eine Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zurGegenwart, München 2000, S. 273 ff. 114 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, in:Jeserich, KurtG. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: DasReich als Republik undin derZeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 66 ff. 115 Habermann, Gerd, Diedeutsche Handwerksordnung als Relikt derGewerbebindung, in: Ordo 41 (1990), S. 175 f. 116 Mirbach, Horst, Das Recht aufselbständige Arbeit. Unternehmensgründung undHandwerksrecht, Bonn 21989, S. 236 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
tives Prinzip derGesellschafts- undWirtschaftsordnung, sondern gewährleistet demEinzelnen einGrundrecht, jede erlaubte Tätigkeit alsBeruf zuergreifen. 2. Die in ihmenthaltene Regelungsbefugnis erstreckt sich aufBerufsausübung undBerufswahl inunterschiedlicher Intensität. Eine gesetzliche Regelung ist ausdrücklich in Bezug auf die Berufsausübung vorgesehen. Deshalb darf nurunter diesem Gesichtspunkt indieFreiheit derBerufswahl eingegriffenwerden. 3. Dashier als Grundrecht verstandene Recht derBerufswahl soll die individuelle Freiheit schützen. Der Regelungsvorbehalt zielt auf die Sicherstellung eines ausreichenden Schutzes derGemeinschaftsinteressen. Dabei wirddie Freiheit derBerufsausübung durch dasGrundgesetz nurinsofern geschützt, alses umdie Abwehr vonübermäßig belastenden undnicht zumutbaren Auflagen geht. Die Freiheit der Berufswahl darf dagegen nur eingeschränkt werden, wenn der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter dies zwingend erfordert. Hätte derVerfassungsgeber mitArt.12Grundgesetz nur das Prinzip der Gewerbefreiheit festlegen wollen, dann hätte es –nach Auffassung desBundesverfassungsgerichts –nahe gelegen, dieses Prinzip wie inderWeimarer Verfassung nur„nach Maßgabe desGesetzes“zu gewährleisten. Das hätte demGesetzgeber stärkere Einschränkungen der Gewerbefreiheit im Rahmen derallgemeinen Wirtschaftspolitik ermöglicht. Art. 12 stelle jedoch ein echtes Grundrecht dar, weshalb der Ermessungsspielraum des Gesetzgebers viel enger sei. Die Bedürfnisprüfung wurde daher auch Ende der 1950er Jahre verboten, weil sie nach Auffassung derobersten Gerichte letztlich die Freiheit der Berufswahl hinfällig mache unddamit denWesensgehalt des Grundrechtes nach Art. 12 in Frage stelle.¦117¿ Angesichts dieser konsequenten Interpretation derGewerbe- undBerufsfreiheit erstaunt es, dass das Verfassungsgericht die Handwerksordnung vom 17.9.1953 fürverfassungskonform erklärte. Sie reguliert dieBerufszulassung, dieBerufsausübung unddieBerufsbildung sowie dieAufgaben derhandwerklichen Organisationen.¦118¿ Nach § 1 ist der selbständige Betrieb eines Handwerks nureiner natürlichen oderjuristischen Person gestattet, dieinderHandwerksrolle eingetragen ist. Als Handwerksbetrieb gilt nurder, der zueinem der93 Gewerbe (mit 125 Berufen) gehört, die inderHandwerksordnung aufgeführt sind. Voraussetzung zur Eintragung in die Handwerksrolle ist eine bestandene Meisterprüfung. Zulassungsvoraussetzung fürdiese Prüfung sind eine Gesellenprüfung unddiemehrjährige Tätigkeit als Geselle. MitdemBestehen einer Meisterprüfung ist ein Handwerker nicht nurzumselbständigen Betrieb eines Handwerks, sondern auch zur Lehrlingsausbildung berechtigt. Mit dem ‚Großen Befähigungsnachweis‘ wird für den Inhaber eines HandJunktim“zwischen demRecht aufGewerbeausübung werkbetriebes sogar ein„ undder Pflicht zur Lehrlingsausbildung hergestellt. In begrenztem Umfang 117 Habermann, Gerd, Handwerksordnung, S. 177. 118 Hartwich, Hans-Hermann, Sozialstaatpostulat undgesellschaftlicher Status quo, Opladen 1977, S. 121 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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ist nach denNovellen von 1994 und1998 die Betätigung eines Handwerksmeisters inTeilbereichen anderer Handwerke zulässig, fürdie er nicht indie Handwerksrolle eingetragen ist. In Ausnahmefällen kann eine Eintragung in die Handwerksrolle auchohne abgelegte Meisterprüfung erfolgen. Wie stark die Handwerksordnung selbst in sprachlicher Hinsicht in altständischer Tradition steht, kommt zumBeispiel in§ 24 zumAusdruck: „ DerLehrling istder väterlichen Obhut des Lehrherrn anvertraut unddemLehrherrn ... zurFolgsamkeit, Fleiß undanständigem Betragen verpflichtet. Körperliche Züchtigung sowie jede die Gesundheit desLehrlings gefährdende Behandlung sind verboten.“ Die Handwerkskammern mit Zwangszugehörigkeit wurden durch die Handwerksordnung bestätigt. Während die Kammern die überfachliche regionale Organisation bilden, sinddieeinzelnen Handwerke bundeseinheitlich inInnungen organisiert, dieebenfalls Körperschaften desöffentlichen Rechts darstellen, allerdings auf der Basis freiwilliger Mitgliedschaft. Den Handwerkskammern obliegt nach § 84 der Handwerksordnung die Führung der Handwerksrolle, die Regelung derBerufsausbildung, derErlass vonGesellen- undMeisterprüfungsordnungen, die Errichtung von Prüfungsausschüssenetc. Außerdem führen sie die Aufsicht über die Innungen imSinne einer mittelbaren Staatsaufsicht.¦119¿ Die Fortführung derprotektionistischen Handwerksverfassung nachdem Krieg unddie Beibehaltung desStatus Quobis heute stützt sich imwesentlichen auf drei Argumente:¦120¿ 1. Der Große Befähigungsnachweis stellt die Qualität vonHandwerksleistungen sicher unddient somit demVerbraucherschutz. 2. Durch die Regulierung wird das Handwerk vor ruinöser Konkurrenz geschützt undsomit ein Bestandsschutz gewährt. 3. Der Große Befähigungsnachweis ist Qualitätsgarantie undVoraussetzung für die Ausbildung vonNachwuchskräften, die –wegen derüber deneigenen Bedarf hinausgehenden Ausbildungsleistungen –auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegt. Selbst wenndiesen Argumenten nicht jede Berechtigung abgesprochen werden kann, sosindsie dochinerster Linie Ausdruck traditionellen Bewusstseins undmassiver Gruppeninteressen. Der ursprünglich freiheitliche Charakter der Gewerbeverfassung von 1869/71 wurde somit imLaufe derZeit durch zahlreiche Novellierungen immermehreingeschränkt. Charakteristisch waren dabei nicht nurdie Abänderungen, Erweiterungen undStreichungen vonTatbeständen, sondern vor allemdie Herausnahme bestimmter Bereiche ausdergenerellen Gewerbeordnung. DasHandwerksrecht wurde wieauchdasRecht einiger anderer Gewer119 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, in:Jeserich, KurtG. A.(Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5: Die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, S. 349 ff. 120 Deregulierungskommission (Hg.), Marktöffnung undWettbewerb, Berichte 1990 und 1991, Stuttgart 1991, S. 117 ff.; Monopolkommission (Hg.), Monopolgutachten 1996/ 97, Stuttgart 1997, S. 49 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
bezweige und‚Freier Berufe‘Ausnahmerecht. Während derLiberalismus des 19. Jahrhunderts den ‚monopolistischen Verbandspluralismus‘ des 17. und 18. Jahrhunderts zerstörte, führten ihndie Berufsordnungen des20. Jahrhunderts teilweise wieder ein. Wichtige Gewerbezweige, darunter dasHandwerk, konnten weder in denliberalen Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland noch in der Phase der neoliberalen Renaissance amEnde des 20. Jahrhunderts dereguliert werden. Ähnlich detailliert könnten dieEntwicklungen deranderen Teilverfassungen beschrieben werden –der Betriebsverfassung, der Arbeitsmarktverfassung, der Geldverfassung, der Finanzverfassung u.s.w. Dies ist hier nicht möglich. Selbst die Entwicklung derGewerbeverfassung wurde nicht umfassend rekonstruiert, sondern nurmanche dervielfältigen Aspekte. Dabei ist zu berücksichtigen, dassWirtschaftsverfassungen inihrer Gesamtheit zwardurchweg konsistente Gebilde darstellen, dass Teilverfassungen aber auch ein gewisses Eigenleben führen können. Nicht immer sind sie spannungs- oder widerspruchsfrei miteinander verklammert. Wirtschaftsverfassungen sinddynamische Gebilde, die sich permanent verändern. Dabei wandeln sich weniger ihre verfassungsrechtlichen Elemente imengeren Sinne als vielmehr Tatbestände, die durch einfache Gesetze undVerordnungen unddurch Gerichtsurteile konstituiert werden. Nicht selten eilten Teilverfassungen der allgemeinen Entwicklung voraus, wenn gesellschaftliche Kräfte auf eine Änderung drängten; andere blieben länger intraditionellen Bahnen verhaftet. Wirtschaftsverfassungen in ihrer Gesamtheit waren nie Entwürfe auseinem Guss.
b. Gesamtverfassungen
im vorangegangenen Abschnitt die Entwicklung einer Teilverfassung seit dem 17. Jahrhundert im Längsschnitt dargestellt wurde, sollen nun drei Gesamtverfassungen imQuerschnitt behandelt werden. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf die eigentlichen Verfassungstexte, weil die Berücksichtigung dereinfachen Gesetzgebung odersogar derRechtsprechung zusehr Während
ins Einzelne führen würde.¦121¿ Verfassungs-Urkunde vonKurhessen 1831
Fürdasfrühe 19. Jahrhundert, indemmanche Staaten noch garkeine Verfassung besaßen, wurde mehr oder weniger willkürlich die Verfassungs-Urkun121 Überblicke bei Grimm, Dieter, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866. Vom Beginndesmodernen Verfassungsstaates bis zurAuflösung desDeutschen Bundes, Frankfurt a. M. 1988; Zippelius, Reinhold, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte. Vomfrühen Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1998; Frotscher, Werner/Pieroth, Bodo, Verfassungsgeschichte, München 1987.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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devonKurhessen vom5.1.1831 ausgewählt.¦122¿ Umeinen Eindruck vomgesamten Aufbau derVerfassung zuvermitteln, werden zunächst die verschiedenen Abschnitte aufgezählt: Erster Abschnitt. Von demStaatsgebiete, der 9); Zweiter AbRegierungsform, Regierungsfolge undRegentenschaft (§§ 1–
schnitt. Von demLandesfürsten undden Gliedern des Fürstenhauses (§§ 10– 18); Dritter Abschnitt. Vondenallgemeinen Rechten undPflichten der Un41); Vierter Abschnitt. Von denGemeinden undvonden terthanen (§§ 19– 48); Fünfter Abschnitt. VondenStandesherren etc. und 42 – (§§ Bezirksräten 50); Sechster Abschnitt. Vonden denritterschaftlichen Körperschaften (§§49– 62); Siebter Abschnitt. VondenLandständen (§§ 63– Staatsdienern (§§ 51– 111); Neun105); Achter Abschnitt. Vondenobersten Staatsbehörden (§§ 106– 131); Zehnter Abschnitt. Von ter Abschnitt. Von der Rechtspflege (§§ 112– denKirchen, denUnterrichts-Anstalten unddenmilden Stiftungen (§§ 132– 152); Zwölfter Ab138); Elfter Abschnitt. VondemStaatshaushalte (§§ 139– 160). schnitt. Allgemeine Bestimmungen (§§ 153– FürdieWirtschaftsverfassung waren folgende Paragraphen relevant, aus denen jeweils die markantesten Sätze zitiert werden: § 25: Die Leibeigenschaft ist undbleibt aufgehoben ... § 27: Einem Jeden „ ohne Unterschied stehet die Wahl des Berufes unddie Erlernung eines Gewerbes frei ... § 31: Die Freiheit der Person unddes Eigenthums unterliegt keiner anderen Beschränkung, als welche dasRecht unddieGesetze bestimmen. § 32: DasEigenthum oder sonstige Rechte undGerechtsame können für Zwecke desStaates odereiner Gemeinde, odersolcher Personen, welche Rechte derselben ausüben, nurin dendurch die Gesetze bestimmten Fällen und Formen gegen vorgängige volle Entschädigung in Anspruch genommen werden... § 33: Die Jagd-, Waldkultur- undTeich-Dienste nebst denWildpretsundFisch-Fuhren oderdergleichen Traggängen zurFrohne, sollen überall nicht mehr Statt finden, unddiePrivatberechtigten, welche hierdurch einen Verlust erleiden, nach dessen Ermittelung aufdenGrund derdeshalb zuertheilenden gesetzlichen Vorschriften, vom Staate entschädigt werden. Gleichfalls werden die dem Staate zu leistenden Fruchtmagazins-Fuhren undHanddienste auf denFruchtböden gänzlich aufgehoben. Die übrigen ungemessenen Hof-, Kameral- undgutsherrlichen Frohnen sollen ingemessene umgewandelt werden. Alle gemessenen Frohnen sindablösbar ... § 34: Alle Grundzinsen, Zehntenundübrigen gutsherrlichen Natural- undGeldleistungen, auchandere RealLasten sind ablösbar ... § 36: Ausschliesliche Handels- undGewerbs-Privilegien sollen ohne Zustimmung derLandstände nicht mehrertheilt werden. Die Aufhebung derbestehenden Monopole, sowie der Bann- oder Zwangsrechte, istdurch einbesonderes Gesetz zubewirken. Patente fürErfindungen können von der Regierung auf bestimmte Zeit jedoch nicht länger, als auf zehn Jahre 122 Fischer, Erich, Verfassungen, S. 133 ff.; Spreitkamp, Winfried, Restauration als Trans1830, formation. Untersuchungen zurkurhessischen Verfassungsgeschichte 1813– Darmstadt 1986.
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II. Empirische Entwicklungen
ertheilt werden § 138: Alle Stiftungen ohne Ausnahme, sie mögen für den Kultus, den Unterricht oder die Wohltätigkeit bestimmt seyn, stehen unter dem besonderen Schutze des Staates, unddas Vermögen oder Einkommen derselben darf unter keinem Vorwande zumStaatsvermögen eingezogen oder fürandere, alsdie stiftungsmäsigen, Zwecke verwendet werden.. § 139: Zum Staatsvermögen gehören vornehmlich diebisher bei denFinanz- undanderen Staatsbehörden verwalteten oder nach erfolgter Feststellung dieses Vermögens zur Staatsverwaltung übergehenden Gebäude, Domanial- (Kammer-) Güter undGefälle, Forste, Jagden, Fischereien, Berg-, Hütten- undSalzwerke, auch Fabriken, nutzbaren Regalien undRechte, Kapitalien undsonstige Werthgegenstände, welche, ihrer Natur undBestimmung nach, als Staatsgut zu betrachten sind, oder aus Mitteln des Staates oder zum Staatsvermögen erworben seyn werden. § 140: DasStaatsvermögen soll vollständig verzeichnet, undhierbei sowie bei dessen näherer Feststellung der Inhalt derjenigen Vereinbarungen mitzumGrunde gelegt werden, welche hinsichtlich derSonderung desStaatsvermögens vomFideikommiß-Vermögen deskurfürstlichen Hauses, sowie hinsichtlich des Bedarfes für den kurfürstlichen Hof, mit den dermal versammelten Landständen getroffen sind, und hiermit unter den Schutz dieser Verfassung gestellt werden. § 142: DasStaatsvermögen iststets in seinen wesentlichen Bestandtheilen zuerhalten, undkanndaher ohne Einwilligung derStände weder durch Veräußerung vermindert, noch mit Schuldenoder sonst einer bleibenden Last beschwert werden ... Auch die künftig heimfallenden Lehen werden zumStaatsgut gehören § 143: Die Stände haben die Aufbringung des ordentlichen undauserordentlichen Staatsbedarfs, soweit die übrigen Hülfsmittel zu dessen Deckung nicht hinreichen, durch Verwilligung vonAbgaben zusorgen. Ohne landständige Bewilligung kann vomJahre 1831anweder in Kriegs- noch inFriedens-Zeiten eine direkte oder indirekte Steuer, so wenig, als irgend eine sonstige Landes-Abgabe, sie habe Namen, welche sie wolle, ausgeschrieben oder erhoben werden § 144: Die Verwilligung desordentlichen Staatsbedarfes erfolgt inderRegel fürdienächsten drei Jahre. Es ist zudiesem Zwecke derStändeversammlung derVoranschlag, welcher dieEinnahmen undAusgaben fürdiese Jahre mitthunlichster Vollständigkeit undGenauigkeit enthalten muß, zeitig vorzulegen § 145: Ueber die möglich beste Art der Aufbringung undVertheilung der, für den ermittelten Staatsbedarf neben denübrigen Einnahmequellen nocherforderlichen, Abgabenbeträge haben die Landstände, nach vorgängiger Prüfung des deshalb vonderStaatsregierung geschehenen oder nach Befinden weiter zu begehrenden Vorschläge, diegeeigneten Beschlüsse zunehmen. § 149: DieGüter derKirchen undPfarreien, deröffentlichen Unterrichts-Anstalten unddermilden Stiftungen bleiben, so lange sie sich in deren Eigenthumbefinden, vonSteuern befreit ... § 151: Die gesetzlich in Rücksicht ihres dermaligen Besitzes steuerfreien Grundstücke verlieren diese Eigenschaft, sobald sie inPrivat-Eigenthum übergehen.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
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§ 152: Bei der, im § 144 erwähnten,
Vorlegung des Voranschlages für die nächsten drei Jahre mußzugleich die Verwendung desStaats-Einkommens zu den bestimmten Zwecken für die seit Anfang des Jahres 1831 verflossenen einzelnen Rechnungsjahre, soweit sie noch nicht ihre volle Erledigung bei demLandtage erhalten haben, nachgewiesen werden.“
Diewirtschaftsrelevanten Tatbestände derkurhessischen Verfassung konzentrierten sich somit auf folgende Bereiche: 1. Eigentumsverfassung: endgültiger Bruch mitdenfeudalrechtlichen Abhängigkeits- undBesitzverhältnissen undGewährleistung desvollen Privateigentums; 2. Marktverfassung: tendenzielle Sicherung der Gewerbefreiheit unddamit Abschaffung ständischer, staatlicher, zünftiger und sonstiger Beschränkungen; 3. Finanzverfassung: Übertragung der finanzpolitischen Kompetenz auf die Ständeversammlung undSchaffung eines geordneten Finanzwesens. Die Verfassung drückte damitrecht klar denÜbergang voneiner ständisch-personalistischen Feudalgesellschaft zueiner bürgerlich-autonomen Eigentümergesellschaft aus.¦123¿ Die Individualisierung derEigentumsrechte betraf nicht nurdievielfältigen Dienste, Naturalleistungen, Geldzahlungen undandere Lasten gegenüber denprivaten Grundherren unddemStaat, die endgültig abgelöst werden sollten. Sie umfasste auch das Erbrecht undden Schutz des geistigen Eigentums. Zum Eigentumsschutz gehörte ebenfalls die Sicherung gegen willkürliche Enteignung, selbst wenneine Entschädigung gezahlt wurde. Andie Stelle derfeudal- bzw. quasi öffentlichrechtlichen Herrschaftsverhältnisse, die weit über diewirtschaftlichen Abhängigkeiten hinausreichten, traten privat- bzw.schuldrechtliche Beziehungen, die sich nur noch auf wirtschaftliche Tatbestände bezogen. Die inihrer Vielfalt kaumzuüberschauenden Verfügungs- undNutzungsrechte wurden von vollen Eigentumsrechten abgelöst, ohne dass zwischen beweglichem undGrundbesitz, Finanz- undSachvermögen, KonsumundProduktionsgütern oder agrarischem undgewerblichem Eigentum unterschieden wurde. ZurKonstituierung derneuen Eigentumsverfassung gehörte auchdieklare Trennung vonPrivat- undStaatsvermögen, diegenaue Bestimmung des letzteren unddie Ab- undEingrenzung des Vermögens des kurfürstlichen Hauses. Die uneingeschränkte Gewerbefreiheit sicherte die Verfassung zwar nicht, aber tendenziell sollte eine liberale Marktverfassung, eine auf freiem Wettbewerb gegründete Wirtschaftsordnung angestrebt werden. Zumindest wollte mandie staatlichen undzünftigen Privilegien, Monopole, Zugangsbeschränkungen, Bann- undZwangsrechte abschaffen. Die Gewerbe, „fürderen Ausübung auspolizeilichen oderstaatswirthschaftlichen Rücksichten eine Konzession erforderlich“war, sollten durch einGesetz näher bestimmt werden. In den umfangreichen Regelungen zur Finanzverfassung drückte sich ebenfalls dergrundlegende Wandel dergesellschaftlichen Ver123 Vierhaus, Rudolf (Hg.), Eigentum undVerfassung. ZurEigentumsdiskussion imausgehenden 18. Jahrhundert, Göttingen 1972.
84
II. Empirische Entwicklungen
hältnisse aus. DasPrivileg, Steuern undsonstige Abgaben zuerheben, lagnun ausschließlich beim Parlament. Der Grundsatz der Steuerpflicht der Staatsbürger wurde festgeschrieben; eine wirkliche Modernisierung derSteuerwesens wardamit aber noch nicht verbunden. Mit der vollständigen Erfassung des Staatseigentums unddessen grundsätzlicher Unveräußerlichkeit –die Veräußerung warnurmitausdrücklicher Genehmigung derStändeversammlung möglich –sollte verhindert werden, dass sich die Regierung amParlament vorbei Einnahmen verschaffte.¦124¿
Verfassung des Deutschen Reiches
von 1919 (Weimarer Reichsverfassung)
Auch die Weimarer Verfassung soll zunächst in ihren übergreifenden Abschnitten dargestellt werden:¦125¿ Erster Hauptteil: Aufbau und Aufgaben des 19); Zweiter Abschnitt. Reichs: Erster Abschnitt. Reich und Länder (Art. 1– 40); Dritter Abschnitt. Der Reichspräsident unddie Der Reichtag (Art.20– 59); Vierter Abschnitt. Der Reichrat (Art.60– 67); Reichsregierung (Art.41– 77); Sechster Abschnitt. Fünfter Abschnitt. Die Reichsgesetzgebung Art.68– Die Reichsverwaltung (Art.78–101); Siebenter Abschnitt. Die Rechtspflege (Art. 102– 108). Zweiter Hauptteil: Grundrechte undGrundpflichten derDeut118); Zweiter Abschnitt. schen: Erster Abschnitt. Die Einzelperson (Art. 109– 134); Dritter Abschnitt. Religion undReDas Gemeinschaftsleben (Art. 119– ligionsgesellschaften; Vierter Abschnitt. Bildung und Schule (Art. 135– 141); 165). Übergangs- und Fünfter Abschnitt. Das Wirtschaftsleben (Art. 151– Schlussbestimmungen (Art. 166– 165). Wirtschaftsverfassungsrechtlich relevant waren eine ganze Reihe von Artikeln, vondenen hier nurdie wichtigsten wörtlich zitiert werden. In den
bis 11wurde dieGesetzgebungskompetenz desReiches bestimmt, wonach es u.a. folgende Sachgebiete regeln konnte: Münz-, Zoll-, Post- undTe-
Art.6
legraphenwesen, „ Vergesellschaftung vonNaturschätzen undwirtschaftlichen Unternehmen sowie die Erzeugung, Herstellung, Verteilung undPreisgestaltung wirtschaftlicher Güter für die Gemeinschaft“ den Handel, das Maß,„ undGewichtswesen, die Ausgabe vonPapiergeld, das Bankwesen sowie das Börsenwesen“ , dasVersicherungswesen, die See- undBinnenschifffahrt, die außenwirtschaftlichen Beziehungen. Nach Art.82 bildete Deutschland „ ein Zoll- undHandelsgebiet, umgeben von einer gemeinschaftlichen Zollgrenze“ , wobei grundsätzlich Handelsfreiheit gewährt werden sollte. Die Art.85 – 87 regelten die Haushaltsführung des Reiches mitjährlichem Haushaltsplan als Gesetz, jährlicher Rechnungsprüfung undBeschränkung der Kreditauf. DieArt.89 – nahme „ inderRegel nuraufAusgaben zuwerbenden Zwecken“ 100 beschäftigten sich mit den Eisenbahnen, die von den Ländern auf das 124 Müller, Erika, Gesetzgebung im historischen Vergleich. Ein Beitrag zur Empirie der Staatsausgaben, Pfaffenweiler 1989.
125 Huber, Ernst, Dokumente, S. 417 ff.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
85
Reich übertragen werden sollten, deren Verwaltung undderderWasserstraßen. Obdiese Artikel Teil derWirtschaftsverfassung waren, seidahingestellt, sicherlich aber Art.111: „ Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hatdasRecht, sich anbeliebigem Orte desReichs aufzuhalten undniederzulassen, Grundstücke zuerwerben undjeden Nahrungszweig zu betreiben. Einschränkungen bedürfen eines Reichsgesetzes.“Auch Art.124
beinhaltete eine wirtschaftsverfassungrechtliche Norm: „ Alle Deutschen habendasRecht, zuZwecken, diedenStrafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Verei. . zubilden neoder.Gesellschaften “ Dieentscheidenen Artikel befinden sich aber imletzten Abschnitt: „ Art.151: DieOrdnung desWirtschaftslebens mussdenGrundsätzen derGerechtigkeit mit demZiele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit desEinzelnen zusichern ... DieFreiheit desHandels undGewerbes wirdnachMaßgabe derReichgesetze
gewährleistet. Art.152: Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze ... Art.153: Das Eigentum wird vonder Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt undseine Schranken ergeben sich ausdenGesetzen. Eine Enteignung kannnurzumWohle derAllgemeinheit undaufgesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädi-
gung ... Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste. Art.154: Das Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechtes gewährleistet ... Art.155: Die Verteilung undNutzung des Bodens wird vonStaats wegen in einer Weise überwacht, die Missbrauch verhütet unddemZiele zustrebt, jedemDeutschen eine gesunde Wohnung undallen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zusichern ... Art.156: Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmen inGemeineigentum überführen ... DasReich kann ferner imFalle dringender Bedürfnisse zumZwecke derGemeinwirtschaft durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen undVerbände aufderGrundlage derSelbstverwaltung zusammenschließen mitdemZiele, die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber undArbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein- undAusfuhr derWirtschaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zuregeln ... Art. 157: Die Arbeitskraft steht unter dembesonderen Schutz desReichs.
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II. Empirische Entwicklungen
DasReich schafft eineinheitliches Arbeitsrecht. Art. 158: Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder undder Künstler genießt denSchutz unddie Fürsorge desReichs ... Art.159: Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung undFörderung der ArbeitsundWirtschaftsbedingungen ist fürjedermann undfüralle Berufe gewährleistet. Alle Abreden undMaßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zubehindern suchen, sind rechtswidrig. Art. 161: Zur Erhaltung der Gesundheit undArbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft undzur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfälle des Lebens schafft das Reich ein umfassendes
Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung derVersicherten. Art.163: Jeder Deutsche hatunbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen undkörperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es dasWohl derGesamtheit erfordert. Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zuerwerben. Soweit ihmangemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wirdfürseinen notwendigen Unterhalt gesorgt ... Art.164: Derselbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe undHandel ist in Gesetzgebung undVerwaltung zu fördern undgegen Überlastung undAufsaugung zuschützen. Art.165: Die Arbeiter undAngestellten sinddazuberufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mitdenUnternehmern anderRegelung derLohn- undArbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen undVereinbarungen werden anerkannt. Die Arbeiter undAngestellten erhalten zurWahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten undin einem Reichsarbeiterrat. Die Bezirksarbeiterräte undderReichsarbeiterrat treten zurErfüllung dergesamten wirtschaftlichen Aufgaben undzur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mitdenVertretungen der Unternehmer undsonst beteiligter Volkskreise zuBezirkswirtschaftsräten undzueinem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte undderReichswirtschaftsrat sind so zugestalten, daßalle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen undsozialen Bedeutung darin vertreten sind ...“
Dass die Weimarer Wirtschaftsverfassung eine liberale Wirtschaftsordnung schaffen wollte, zeigt sich an der grundsätzlichen Garantie des privaten Ei-
gentums, an derZusicherung einer angemessenen Entschädigung (Art. 153), anderSicherung desErbrechtes (Art. 154), anderGewährleistung derRechte ausgeistiger Arbeit, insbesondere derUrheber- undErfinderrechte (Art. 158). VergesellschafZugleich waraber die Möglichkeit derEnteignung undder„
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
87
tung“vorgesehen (Art. 153, 156). Neben derEigentumsverfassung warauch die Marktverfassung prinzipiell liberal angelegt. Sie sicherte die allgemeine wirtschaftliche Freiheit desEinzelnen unddiezurErrichtung undzumBetrieb selbständiger Unternehmen (Art. 151), die Vertragsfreiheit als Mittel desfreienWirtschaftsverkehrs (Art. 152) unddieVereinigungsfreiheit (Art. 124, 159). Wiederum wurden gleichzeitig Staatsinterventionen ermöglicht (Art. 156) und der Aufbau korporativer Regulierungsformen zugelassen (Art. 165). Die Betriebs- bzw. Unternehmensverfassung orientierte sich ebenfalls einerseits an liberaler Unternehmerfreiheit undandererseits an sozialpartnerschaftlicher Mitbestimmung aufbetrieblicher Ebene undankorporativer Zusammenarbeit aufüberbetrieblicher Ebene (Art. 165). DieSozialverfassung wurde durch sehr allgemeine Postulate geprägt (Art. 151, 157, 163), aberauchdurch diespeziellenAufforderungen zurSchaffung eines einheitliches Arbeitsrechts (Art. 157) undeines „umfassendes Versicherungswesens“(Art.161). Die Finanzverfassunglegte eine geordnete Finanzwirtschaft fest, konzentrierte dieEinnahmenkompetenz beim Reich, regelte aber zugleich die Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder. Keines der wirtschaftlichen Freiheitsrechte warsomit unbeschränkt. Die Reichsverfassung gab der Staatsgewalt drei verfassungsrechtliche Möglichkeiten, die freiheitsbegrenzend wirken konnten: den allgemeinen Gesetzesvorbehalt, denVorbehalt desGemeinwohls undden„ sozialen Vorbehalt“.¦126¿ Dabei durfte der Gesetzesvorbehalt nicht zu einer völligen Aushöhlung der verfassungsrechtlich geschützten Grundrechte führen, sondern nurinhaltlich modifizierend wirken. Die Gemeinwohlklausel, die ebenfalls in einer Reihe vonArtikeln die ökonomische Freiheit begrenzte –z.B. warEnteignung nur , schränkte dengesetzgeberischen zumWohle derAllgemeinheit“möglich – „ Eingriff über denallgemeinen Gesetzesvorbehalt hinaus ein. Sie ließ ihnnur dort zu, wo er aus Gründen des allgemeinen Wohls unabdingbar erschien. Dagegen forderte dasSozialstaatpostulat, dasdie Reichsverfassung enthielt, zurunmittelbaren staatlichen Intervention auf. DerWirtschaftsabschnitt der Verfassung wurde mitderGeneralklausel eingeleitet, dass die „Ordnung des Wirtschaftslebens ... den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit demZiel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins füralle entsprechen“müsse (Art. 151). Diezahlreichen „sozialen Vorbehalte“hatten nicht nurdeklamatorischen Charakter, sondern formulierten einkonkretes sozialstaatliches Anliegen, begründeten Eingriffsmöglichkeiten fürdenGesetzgeber, Pflichten für den Eigentümer undSchutzrechte für densozial Schwächeren. Das Sozialsoziastaatpostulat vollzog damit denverfassungsrechtlichen Übergang zum„ Die Wirtschaftsordlen Rechtsstaat“–so derTerminus derdamaligen Zeit. „ nung verwandelte sich durch die Sozialnormen der Reichsverfassung in ein Rechtssystem, indemdie wettbewerbswirtschaftlichen Garantien unddie so126 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 1028 ff.
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II. Empirische
Entwicklungen
zialen Vorbehalte nebeneinander wesensbestimmend waren. Allerdings stan-
dendiese beiden Momente nicht inabsolutem Gleichgewicht. Vielmehr galten die freiheitlichen Momente als Grundsatz, die sozialen Momente als einschränkender Vorbehalt. DieWeimarer Wirtschaftsverfassung zielte nicht auf einen marktwirtschaftlich modifizierten Sozialismus, sondern aufeine sozialstaatlich modifizierte Marktwirtschaft“ .¦127¿ Diese Auffassung ist die am häufigsten vertretene. Es gabdamals allerdings auch Interpretationen, fürdiedie liberalen undsozialstaatlichen Prinzipien gleichberechtigt nebeneinander standenunddie sozialen Bestimmungen einen „Verfassungsauftrag“zumständigenAusbau wohlfahrtstaatlicher Elemente bedeuteten. Grundgesetz
derBundesrepublik Deutschland von 1949
Alsletztes Beispiel einer Wirtschaftsverfassung sollen diewirtschaftsrelevantenNormen desGrundgesetzes vom23.5.1949 zusammengefasst werden, das sich nach demdamaligen Aufbau in folgende Abschnitte gliederte:¦128¿I.Die 37), III. Der 9), II. Der Bund unddie Länder (Art.20– Grundrechte (Art. 1– 53), V. Der Bundespräsi49), IV. Der Bundesrat (Art.50– Bundestag (Art.38– 61), VII. DieGesetzgebung desBundent, VI. Die Bundesregierung (Art.54– 69), VIII. Die Ausführung der Bundesgesetze unddie Bundesdes (Art.62– 104), X. Das Fi91), IX. Die Rechtsprechung (Art.92– verwaltung (Art.70– 115), XI. Übergangs- und Schlussbestimmungen nanzwesen (Art. 105– (Art. 116– 146). Einen eigenen Abschnitt über die Wirtschaft –wie die Weimarer Reichsverfassung oder die Verfassungen der Bundesländer –enthält dasGrundgesetz also nicht, aber einen über dasFinanzwesen. Folgende Artikel sindwirtschaftsverfassungsrechtlich besonders relevant,
ausdenen wiederum nurdieentscheidenden Passagen zitiert werden: „ Art.2: (1) Jeder hatdasRecht aufdiefreie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt undnicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oderdasSittengesetz verstößt ... Art.8: ( 1) Alle Deutsche haben dasRecht, sich ohne Anmeldung oderErlaubnis friedlich undohne Waffen zuversammeln ... Art.9: (1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine undGesellschaften zu bilden ... (3) Das Recht, zurWahrung undFörderung derArbeits- undWirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist fürjedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, diedieses Recht einschränken oderzubehindern suchen, sind nichtig ... Art.11: ( 1) Alle Deutsche genießen Freizügigkeit imganzen Bundesgebiet ... Art.12: Alle Deutsche haben dasRecht, Beruf, Arbeitsplatz undAusbildungsstätte frei zuwählen. DieBerufsausbildung kanndurch Gesetz oderaufGrund eines Gesetzes geregelt werden. 127 Ebenda, S. 1032. 128 Beck-Texte, Grundgesetz, München 1968.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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(2) Niemand darf zueiner bestimmten
Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nurbei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Art.14: (1) DasEigentum unddasErbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch dieGesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. SeinGebrauch soll zugleich demWohle derAllgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zumWohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nurdurch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art undAusmaßderEntschädigung regelt ... Art.15: Grund undBoden, Naturschätze undProduktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch eine Gesetz, das Art undAusmaß der Entschädigung regelt, inGemeineigentum oderinandere Formen derGemeinwirtschaft überführt werden ... Art.20: Die Bundesrepublik Deutschland ist eindemokratischer undsozialer Bundesstaat ... Art.73: Der Bund hatdie ausschließliche Gesetzgebung über: ... 4. das Währungs-, Geld- undMünzwesen, Maße undGewichte sowie die Zeitbestimmung, 5. die Einheit desZoll- undHandelsgebietes, die Handels- undSchifffahrtsverträge, dieFreizügigkeit desWarenverkehrs unddenWaren- undZahlungsverkehr mitdemAuslande einschließlich desZoll- undGrenzschutzes ... Art.87: Inbundeseigener Verwaltung miteigenem Verwaltungsunterbau werdengeführt ... dieBundesfinanzverwaltung, dieBundeseisenbahnen, dieBundespost ... Art.88: DerBunderrichtet eine Währungs- undNotenbank als Bundesbank.“ In denArtikeln 105 ff. werden dann ausführlich die Gesetzgebungskompetenz beiderSteuererhebung, dieVerteilung derSteuern, derFinanzausgleich, die Finanzverwaltung, die Aufstellung desEtats undandere Dinge eines geordneten, demokratisch kontrollierten Finanzwesens geregelt.
Insgesamt sind imVergleich zurWeimarer Verfassung –mitAusnahme der finanzwirtschaftlichen Bestimmungen –die wirtschaftsrelevanten Tatbestände im Allgemeinen unddie sozialen Rechte imBesonderen im Grundgesetz vager formuliert. Das gilt auch für den Vorbehalt vonVerfassungsnormen durch einfache Gesetze. Damit ist dasGrundgesetz offener für verschiedene Interpretationen, die sich in erster Linie auf Auslegungen der Grundrechte unddesArtikels 20 konzentrieren. Es gibt mindestens drei generelle Positionen, die sich mehroder weniger klar voneinander trennen lassen.¦129¿ Amverbreitesten ist wohldieThese vonderordnungspolitischen Neutralität desGrundgesetzes, dasunterschiedliche Wirtschafts- undSozialordnun129 Hartwich, Sozialstaatpostulat, S. 281 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
genzulässt undallenfalls andenPolen desordnungspolitischen Spektrums – demvöllig ungezügelten Kapitalismus undderprivateigentumslosen Zentralverwaltungswirtschaft –verfassungsrechtliche Bedenken aufkommen lässt. Diese Auffassung wurde schon 1954 vom Bundesverfassungsgericht vertreten: „ Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- undGesetzgebungsgewalt noch eine nurmit marktkonformen Mitteln zu steuernde ‚soziale Marktwirtschaft‘. Die ‚wirtschaftspolitische Neutralität‘desGrundgesetzes besteht lediglich darin, dass sich derVerfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber, die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet. Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche“.¦130¿ Diese Aufpassung wurde dann im Urteil zur betrieblichen Mitbestimmung von 1979 noch einmal bestätigt. Das Verfassungsgericht trat damit Meinungen entgegen –der zweiten , dieinderInterdependenz wirtschaftsrelevanter Normen derGrundPosition – rechte Ansätze eines wirtschaftsverfassungsrechtlichen Systems erblicken und dasGrundgesetz aufdiebestehende Ordnung dersogenannten Sozialen Marktwirtschaft festlegen wollen. Sie laufen imExtremfall aufeinen Antagonismus zwischen ‚Rechtsstaat‘und‚Sozialstaat‘hinaus, fast immer aberaufeinSpannungsverhältnis zwischen beiden, wobei demRechtsstaatsprinzip in derTradition derklassischen Freiheitsrechte Verfassungsrang eingeräumt wird, dem Sozialstaatsprinzip dagegen nicht. Es stellt Recht minderen Ranges dar.¦131¿ DerRechtsstaat ist demnach gefährdet, wennSozialstaatlichkeit anders interpretiert wird als minimale, unbedingt notwendige Korrekturen andenErgebnissen derfreien Marktwirtschaft. Sozialstaatlichkeit reduziert sich damit auf die traditionelle Sozial- oder Sozialversicherungspolitik. Art.2 Abs.1 wird dahingehend gedeutet, dass er ein „Hauptfreiheitsrecht“formuliert, das die allgemeine Handlungsfreiheit auchimwirtschaftlichen Leben gewährleistet.¦132¿ Damit wirdzugleich dieumfassende Gewerbe- undUnternehmensfreiheit, die Wettbewerbsfreiheit, die Vertragsfreiheit, die Konsumfreiheit etc. bestimmt. Gegenüber diesen Freiheiten hatdasSozialstaatsprinzip zwareine verbindliche undbindende Korrekturfunktion, es basiert aber in erster Linie auf der Freiwilligkeit. Staatliche Interventionen dürfen dasindividuelle Recht derfreien Entfaltung derPersönlichkeit nurdanneinschränken, wennes umübergeordnete Interessen der Allgemeinheit geht undder individuelle Gestaltungs130 Zitiert nach Steindorff, Ernst, Einführung in das Wirtschaftsrecht der Bundesrepublik
Deutschland, Darmstadt 1985, S. 21. 131 Forsthoff, Ernst, DerStaat derIndustriegesellschaft, dargestellt amBeispiel derBundesrepublik Deutschland, München 1971.
132 Nipperdey, Hans-Carl, Die soziale Marktwirtschaft undGrundgesetz, Köln/München 1961.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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spielraum nicht oder nurgeringfügig berührt wird. Die staatliche Steuerungskompetenz wird meist auf die Schaffung der infrastrukturellen Grundlagen des marktwirtschaftlichen Systems undauf wenige punktuelle, reaktive und korrigierende Maßnahmen begrenzt. Vertreter einer dritten Position akzeptieren zwar grundsätzlich das Neutralitätsgebot desGrundgesetzes gegenüber derWirtschaftsverfassung, legen das Sozialstaatsgebot aber offensiver aus. Art. 20 stellt ihrer Meinung nach ein „Strukturprinzip der verfassungsrechtlichen Ordnung“dar, das die drei gedanklichen Elemente –demokratisch, sozial undrechtsstaatlich –zueiner Einheit verbindet unddamit das überkommene Gedankengut des liberalen Rechtsstaates umgestaltet.¦133¿ Daraus lässt sich allerdings kein eindeutiger Imperativ fürbestimmtes staatliches Handeln ableiten; Art.20 lässt verschiedene Optionen zu. Dennoch ist das Sozialstaatsprinzip keine beliebig interpretierbare Leerformel, sondern einAuftrag andiePolitik, aktiv diesozioökonomische Realität imSinne sozialer Gerechtigkeit zugestalten. Demnach eröffnet dasGrundgesetz einen breiten Spielraum fürSozial-, Beschäftigungs-, Konjunktur- oder Strukturpolitiken, der von der Legislative undExekutive aufdenverschiedenen gebietskörperschaftlichen Ebenen genutzt werden soll. Umgekehrt wird in einer offensichtlich unsozialen Politik, in der Akzeptanz hoher Arbeitslosigkeit oder in einer unausgeglichenen Strukturentwicklung einWiderspruch zumSozialstaatspostulat gesehen. Der‚soziale Rechtsstaat‘ wird als Staat weitreichender sozialer Korrekturen undder aktiven sozialen Integration verstanden.¦134¿
3.2 Wirtschaftsordnungen
WiebeidenWirtschaftsverfassungen soll zunächst ineinem chronologischen Längsschnitt beispielhaft eine Teilordnung dargestellt werden, umdifferenziert ihre Entwicklung verfolgen zukönnen: dieGeld- undWährungsordnung. Dann folgt derÜberblick übereinige Wirtschaftsordnungen in ihrer Gesamtheit.
a. Teilordnungen
Bei derGeld- undWährungsordnung gehtes vornehmlich umdasGeldwesen im Inneren eines Landes, umdasVerhältnis der Binnenwährung zuanderen Währungen, d.h.umdie internationale Währungsordnung, undumdieInstitu133 Abendroth, Wolfgang, ZumBegriff desdemokratischen undsozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Abendroth, Wolfgang, Antagonistische Gesellschaft undpolitische Demokratie, Neuwied u.a. 1972, S. 109 ff. 134 Hartwich, Sozialstaatpostulat, S. 281ff.
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II. Empirische Entwicklungen
tionen, diedie Kompetenz zurMünzprägung undNotenausgabe besitzen. Man könnte auchdenAufbau desBankwesens unddieOrganisation desGeld- und Kapitalmarktes hinzuzählen, die imFolgenden aber nicht berücksichtigt werden. Geld dient dem privaten Wirtschaftssubjekt vornehmlich als Recheneinheit undWertmaßstab, Tauschmittel undWertaufbewahrungsmittel.¦135¿ Frühe Neuzeit: DenKern derGeldordnung während dergesamten vorindustriellen Zeit bildeten die Edelmetalle Gold undSilber; daneben wurden andere Metalle wieKupfer verwandt.¦136¿ Geldhatte somit Warencharakter. Da dasGeld fast ausschließlich ausMünzen bestand, bestimmten diejenigen die Geldordnung, die das Münzrecht oder -regal besaßen, d.h. das Monopol auf die Münzprägung unddie Münzstätten. Sie konnten denMünzfuß festlegen, derbestimmte, wieviel Münzen auseiner Gewichtseinheit Metall hergestellt wurde, wiehochdasGesamtgewicht derMünze undderEdelmetallanteil war. Grundsätzlich sollte derNennwert einer Münze inetwa ihrem Metallwert entsprechen bzw. ihnnurumdenBetrag übersteigen, derdie Kosten derMünzproduktion ausmachte. Probleme für den Wert der Münzen entstanden auf verschiedene Weise. Zumeinen konnte zuviel Edelmetall vorhanden sein, so dass sein Wert unddamit derderMünzen fiel, wasallerdings in derFrühen Neuzeit nurselten vorkam. Zumweiteren konnten die Münzherren dasFeingewicht derMünzen manipulieren, ihren Edelmetallgehalt bei gleichbleibendemNennwert verringern –die sogenannte Heckenmünzerei. Neben dieser quasi offiziellen Verschlechterung der Münzen gab es die Falschmünzerei, die bei derverwirrenden Vielfalt vonMünzen häufig vorkam. Die systematische Münzverschlechterung kann als ein Ordnungselement des Geldwesens derFrühen Neuzeit angesehen werden. DieFunktion alsWertaufbewahrungsmittel konnten Münzen ineiner Zeit regelmäßiger Münzverschlechterung nur bedingt erfüllen. Das Münzregal lag seit 1356 bei den Kurfürsten undging 1648 an die übrigen Reichsstände über: Territorialherren und Städte. Formal blieb das Münzwesen bis zumEnde des Alten Reiches 1806 unter derOberhoheit des Kaisers. Eine funktionierende Münzordnung gabes allerdings nicht.¦137¿ Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der zu chaotischen Währungsverhältnissen geführt hatte, warzwardieReichsmünzordnung von 1559 formell nochinKraft, ihre Bestimmungen hinsichtlich desMünzfußes wurden aber immer mehrausgehöhlt. Regionale Abkommen traten anihre Stelle, wobei diezwischen Sachsen undBrandenburg von 1667 und 1690 vonbesonderer Bedeutung waren. Ihnen schlossen sich auch süddeutsche Münzherren an, das Reich aber erst 1738. ZweiJahre später führte Österreich einen neuen Münzfuß ein, derdurch 135 Zumfolgenden North, Michael, Das Geld undseine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1994.
136 Witthöft, H. Die Münzordnungen unddasGrundgewicht im Deutschen Reich vom 16. Jahrhundert bis 1871/72, in: Schremmer, Eckhart (Hg.), Geld undWährung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, S. 45 ff. 137 North, Michael, Geld, S. 97 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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die Konvention mit Bayern 1753 zum „Konventionsfuß“weiterentwickelt wurde. Er wurde 1763 vonden meisten deutschen Reichsfürsten übernommen, allerdings schon sehr bald verändert. Preußen begegnete demwachsendenEinfluss Österreichs auf währungspolitischem Gebiet, indem es 1750 einenneuen Silbertaler einführte. Außerdem wurden eingoldener Friedrichsdor undseine Teilstücke geschaffen. Die wichtigste Handelsmünze Süd- und Westdeutschlands warim 18. Jahrhundert allerdings der französische Louis d’argent. Daneben gab es eine kaum zu überschauende Vielfalt von Kleinmünzen.
Zwar wurden schon im 17. Jahrhundert vereinzelt reine Kupfermünzen ausgeprägt, ingrößerem Umfang aber erst im 18.Jahrhundert in Umlauf gebracht. Obwohl Silbermangel herrschte, wurden auchüberschwere Silbermünzenhergestellt, die allerdings weniger als Kurs-, sondern mehr als Hortungsgeld, d.h. als Metallreserve merkantilistischer Währungspolitik, dienten. Neben Münzen gab es vereinzelt schon Banknoten von privaten Notenbanken undauch erste Versuche mitBuchgeld wurden unternommen. Letztlich blieben Noten undBuchgeld für die gesamte Geldmenge aber von untergeordne-
ter Bedeutung.¦138¿ Die Königliche Bank inBerlin wardieeinzige öffentliche Notenbank des 18. Jahrhunderts. Aber auch sie hatte nicht die Stellung undAufgabe einer Zentralbank imheutigen Verständnis, d.h. Kontrolle undSteuerung derGeldmenge unddesgesamten Zahlungsverkehrs, sondern diente vornehmlich der Finanzierung des Staatshaushalts. AlsOrdnungselemente desGeldwesens im 17. und18.Jahrhundert ergeben sich also folgende: (1) Metallwährung, (2) Vielzahl unterschiedlicher Währungen undMünzsysteme bzw. funktionsunfähige Reichsmünzordnung, (3) regionale Leitwährungen, (4) Hecken- undFalschmünzerei, (5) keine Zentralbank mit geld- undwährungspolitischen Aufgaben, (6) untergeordnete Bedeutung vonBanknoten undBuchgeld. Andiesen Ordnungselementen änderte sich im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung 1871 wenig.¦139¿ Allerdings ging das Münzregal endgültig auf die Staaten über, die sich –insbesondere im Zusammenhang mit derGründungdesDeutschen Zollvereins 1834 –umeine Vereinheitlichung bemühten. Staatspapiergeld wurde ingrößerem Umfang ausgegeben undseit den 1830er Jahren wurden private undöffentliche Notenbanken gegründet. Damit nahm zwar die Bedeutung der Noten unddes Buchgeldes an der gesamten Geldmenge zu, insgesamt spielten sie aber weiterhin nureine geringe Rolle (siehe II.3.2.b).¦140¿
Zettel“zumgesetzlichen Zah138 Born. Karl Erich, Die Entwicklung der Banknote vom„ lungsmittel, Mainz 1972.
139 Sprenger, Bernd, Währungswesen undWährungspolitik in Deutschland von 1834 bis 1875, Köln 1981. 140 North. Michael, a.a.O., S. 143 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
Kaiserreich: Ein wichtiger Schritt auf demWeg zu einem einheitlichen Währungsgebiet stellte die Währungsklausel in Art.4 der Reichsverfassung von 1871 dar, nachder„ dieOrdnung desMaß-, Münz- undGewichtswesens nebst Feststellung derGrundsätze überdieEmission vonfundiertem undnicht fundiertem Papiergeld unddieallgemeinen Bestimmungen überdasBankwesenderBeaufsichtigung seitens desReichs undderGesetzgebung desselben unterliegen“ .¦141¿ Bei derEntscheidung füreine Goldwährung spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, u.a. dasimVergleich zumSilber geringere Gewicht bei gleichem Wert, dieGoldfunde in Kalifornien unddieReparationszahlungenFrankreichs, diedirekt inGold, vorallem aber inWechseln geleistet wurden, die wiederum inGoldeingelöst werden konnten. Injedem Fall wurde im Unterschied zuanderen Staaten mitdenGesetzen vom4.12.1871 und9.7.1873 nicht nureine Goldkernwährung eingeführt, sondern eine Goldumlaufwährung, bei der tatsächlich Goldmünzen –5-, 10- und20-Mark-Stücke –als Zahlungsmittel dienten.¦142¿ Daneben gabes natürlich dieunterwertigen Scheidemünzen fürdenalltäglichen Zahlungsverkehr undbis 1907 außerdem noch Silbermünzen, weil manwegen desgroßen Bestandes anTalern undanderen Silbermünzen darauf verzichtete, diese ausdemVerkehr zuziehen. DieMark befand sich ineiner festen Relation zumGold undBanknoten konnten jederzeit in Gold umgetauscht werden. Die umlaufenden Banknoten mussten von
den Kreditinstituten, die sie herausgaben, zu einem Drittel in Gold (Primärdeckung)und zuzwei Drittel in diskontfähigen Wechseln (Sekundärdeckung) gedeckt sein. Umdie Akzeptanz dergrößten Goldmünze, die auf zwanzig Mark lautete, nicht zugefährden, wurden bis 1906 nurBanknoten miteinem Wert vonüber 100Markausgegeben, dieimalltäglichen Zahlungsverkehr kaum verwendet werden konnten. Als die Reichsbank dann später versuchte, dieBevölkerung andieBanknote zugewöhnen, stieß sie auferhebliches Misstrauen. Zum gesetzlichen Zahlungsmittel mit Annahmezwang wurde sie erst 1909 erklärt. Trotz derZunahme des Papiergeldvolumens um fast zwei Drittel ging sein Anteil andergesamten Geldmenge imLaufe des Kaiserreichs von 23,4% auf 13,5% zurück, der der Münzen von 42,4% auf 18,3%, während derdesBuchgeldes von34,2% auf68,2% anstieg. DerAnteil derNoten andergesamten Bargeldmenge, zuderauchsogenannte Reichskassenscheine gehörten, betrug durchschnittlich 30%. Das Deutsche Reich besaß imJahre 1875 noch 33 private Notenbanken, aber drei Viertel derumlaufenden Banknoten wurden allein vonder Preußischen Bank herausgegeben. Die Gründung einer zentralen Reichsbank stieß 141 Sprenger, Bernd, Die Währungsunion desDeutschen Reiches 1871/76: Vorbild fürdie Europäische Währungsunion?, in: Schulz, Günther (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher undgesellschaftlicher Wandel im 19. und20. Jahrhundert, Paderborn 1996, S. 133 ff. 142 Borchardt, Knut, Währung undWirtschaft, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Währung 1975, Frankfurt a. M. 1975, S. 3 ff. undWirtschaft in Deutschland 1876–
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
95
aufWiderstand, dadieprivaten Notenbanken umihrEmissionsgeschäft fürchteten, undden Staaten mit demStaatspapiergeld eine günstige Möglichkeit der Haushaltsfinanzierung verloren gehen würde. Die Reichsbank, die am 14.3.1875 als Rechtsnachfolgerin derPreußischen Bank gegründet wurde, erreichte ihr Notenausgabemonopol daher nurmittelbar, indem sie die Notenkontingente deranderen öffentlichen undprivaten Notenbanken übernahm.¦143¿ Diemeisten vonihnen wurden imLaufe derZeit geschlossen, sodasses 1914 neben der Reichsbank nurnoch vier staatlich privilegierte private Notenbanken gab: die Sächsische, Badische, Württembergische undBayerische Bank. DasNotenprivileg dieser Banken erlosch erst am31.12.1935. DieReichsbank selbst warmerkwürdig konstruiert: Sie wareine kapitalisierte öffentliche Anstalt, deren Kapital vonprivaten Unternehmern undEinzelpersonen gehalten wurde. Die Eigentümer der Anteilsscheine (Aktien) – 1876 8.177, 1913 18.799 –hafteten nicht fürdie Verbindlichkeiten derReichsbank. Sie stand damit zwischen einer Staatsbank undeiner Privatbank. Das einverfassungsmäßiges Organ, einInstitut desReiReichsgericht nannte sie„ ches, zu dessen öffentlich rechtlichen Zwecken sie besteht undbetrieben wird“.¦144¿ Mit dieser Konstruktion wurde die ordnungspolitische Kontinuität gewahrt, waren doch auch die Notenbanken in denEpochen zuvor private Banken gewesen. Nach § 12 des Bankgesetzes sollte die Reichsbank „unter derAufsicht undLeitung desReiches“stehen; sie waralso nicht unabhängig, sondern einweisungsabhängiges Organ derReichsregierung bzw.desReichsdenGeldumlauf im kanzlers. Ihre Aufgaben waren –ebenfalls nach § 12 –„ gesamten Reichsgebiet zuregeln, dieZahlungsausgleichungen (mit demAusland, G.A.) zuerleichtern undfürdieNutzbarmachung verfügbaren Kapitals . Diese Aufgaben waren also gesamtwirtschaftlich ausgerichtet und zusorgen“ typisch füreine Zentralbank immodernen Verständnis. § 13zählte die wichtigsten Einzelaufgaben auf, zudenen dieBank befugt, aber nicht verpflichtet war: u.a. An- undVerkauf vonGold undSilber, vonHandelswechseln, Gewährung vonDarlehen gegen bewegliche Pfänder (Lombard), An- undVerkauf vonWertpapieren. Eine überragende Bedeutung gewann derAnkauf von Wechseln, d.h. die Diskontpolitik. Damit ist zugleich das wichtigste InstrumentderReichsbank genannt, umdieSchwankungen desGeldbedarfs auszugleichen undjederzeit die Einlösung der Banknoten in Gold zu sichern. Das Lombardgeschäft spielte eine wesentlich geringere Rolle. Eine weitere wichtige Aufgabe war außerdem die einer Hausbank für das Reich, wobei die Reichsbank aber erst allmählich zudessen Zentralkasse wurde. Die Gewährung von Krediten an das Reich oder an einen Bundesstaat war zwar stark eingeschränkt. Allerdings durfte dieReichsbank kurzfristige Schatzanweisun143 James, Harold, DieReichsbank 1876 bis 1945, in: Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 29 ff. 1918, in:Jeserich, KurtG. A. (Hg.), Deutsche 144 Hettlage, Karl M., Die Reichsbank 1876– Verwaltungsgeschichte, Bd. 3, S. 266 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
gendesReiches annehmen unddafür einen Kredit geben, d.h.GeldzurVerfügung stellen. Da in dieser Zeit die meisten entwickelten Länder die Goldkernwährung einführten, wurde damit automatisch auch ein internationales Währungssystem geschaffen –derGoldstandard.¦145¿ Seine Ordnungselemente waren folgende: (1) ungehinderte Konvertibilität vonGeld inGold undumgekehrt, (2) ungehinderte Ein- undAusfuhr von Gold, (3) feste Relation zwischen der umlaufenden Geldmenge unddenGoldreserven derZentralbank eines Landes, (4) Diskontpolitik alszentralbankpolitisches Instrumentarium zurAnpassungderGeldmenge andieGoldreserven. Dadurch, dassdienationalen Währungen in einer festen Menge Gold definiert waren, wurde ein Mechanismus installiert, derzurelativ festen Wechselkursen führte. Hätten sich dieZentralbanken an die Regeln der Goldwährung gehalten, bei Goldabfluss über Zinserhöhungen aufeine Einschränkung desNotenumlaufs hinzuwirken oder bei Goldzufluss über Zinssenkungen eine Ausdehnung des Notenumlaufs anzustreben, hätten die Zahlungsbilanzen automatisch zumAusgleich tendiert. Tatsächlich funktionierte dieser Goldautomatismus abernurbedingt, weil sich die Zentralbanken nicht immer an diese Regeln hielten. Wenn dennoch der Goldstandard das internationale Währungs- undWirtschaftssystem recht erfolgreich stabilisierte, so lag dasanverschiedenen Faktoren, u.a. daran, dass dasVertrauen indie Konvertibilität nieernsthaft in Frage gestellt wurde. Erster Weltkrieg undInflation: FürdieJahre zwischen 1914 und1923/24 kann man durchaus von einer eigenen Geld- undWährungsordnung sprechen.¦146¿ Die deutsche Regierung warhinsichtlich der Finanzierung auf den Krieg nicht vorbereitet. Grundsätzlich rechnete manim Rückblick auf den von 1870/71 miteiner kurzen Dauer, so dass die Ausgaben über Kredite finanziert werden konnten, die nach einem Sieg ausden Kriegsentschädigungender Feindstaaten zurückgezahlt werden sollten. Zunächst ging es für die Reichsregierung bzw. Reichsbank aber darum, dieerwartete Ausweitung der Geldmenge zu bewältigen, ohne zumindest formal gegen gesetzliche Vorschriften zuverstoßen. Nureinen TagnachderMobilisierung undderKriegserklärung an Rußland am 1. August 1914 wurde der aus Gold bestehende Reichskriegsschatz an die Reichsbank überwiesen, umderen Goldvorrat zu stärken. Am4. August wurde danndieGoldeinlösepflicht aufgehoben. Daes der Reichsbank in derFolgezeit außerdem gelang, dengrößten Teil derumlaufenden Goldmünzen undeinen Teil derprivaten Goldbestände aufzukau-
fen, konnte diePrimärdeckung biszumHerbst 1916 aufrechterhalten werden.
145 Schwarzer, Oskar, Goldwährungssysteme undinternationaler Zahlungsverkehr zwischen 1870 und1914, in: Schremmer, Eckart (Hg.), Geld undWährung vom 16. Jahrhundert 227, S. 191ff. his zurGegenwart, Stuttgart 1993, S. 191– 1923, Berlin 1980; Pfleiderer, 146 Holtfrerich, Carl-Ludwig, Die deutsche Inflation 1914– Otto, Die Reichsbank in der Zeit dergroßen Inflation, die Stabilisierung der Mark und die Aufwertung von Kapitalanforderungen, in: Deutsche Bundesbank (Hg.) Währung 1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 182 ff. undWirtschaft in Deutschland 1876–
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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Ebenfalls am4. August wurden die Kreditbegrenzung gegenüber demReich beseitigt unddessen kurzfristige Schuldverschreibungen alsSekundärdeckung des Notenumlaufs zugelassen unddenprivaten Handelswechseln gleichgestellt. Außerdem wurden per Gesetz sogenannte Darlehenskassen errichtet, die gegen Hinterlegung vonWertpapieren, insbesondere auch Reichsanleihen, Kredite gewährten. Diese wurden zwar nicht in Reichsbankgeld ausgezahlt, sondern in ‚Darlehenskassenscheinen‘, die aber wiederum wiegesetzliche Zahlungsmittel behandelt wurden. Damit schuf mandie Möglichkeit, in Reichsanleihen langfristig angelegtes Geld kurzfristig verfügbar zumachen. Außerdem durfte die Reichsbank die Darlehenskassenscheine als Mittel der Primärdeckung nutzen, wasEnde 1916 erstmals geschah. Obwohl mitdenAnleihen undSteuern Liquidität abgeschöpft wurde, stieg
der Geldumlauf infolge der zunehmenden kurzfristigen Staatsverschuldung erheblich an. Das Geldvolumen –einschließlich des Buchgeldes, das sich auf denGirokonten befand –nahm in denvier Kriegsjahren von 13 auf60 Mrd. Markzu,während sichdaszivile Güterangebot umeinDrittel verringerte. Die dadurch entstehende Lücke zwischen nomineller Nachfrage undrealem Angebot musste inflationäre Prozesse auslösen. Immer mehrPreise wurden staatlich festgelegt undimmer mehrGüter waren nurnoch über Bezugsschein zu bekommen, d.h., dasGeldverlor allmählich seine Funktion alsRecheneinheit undTauschmittel. Dies änderte sich nach demKrieg zwar kurzzeitig, dadas inflationäre Potential durch eine veränderte Politik aber nicht aufgefangen wurde, ging dieschleichende ineine gallopierende Inflation über. Spätestens ab Herbst 1922 konnte die Mark keine der grundlegenden Funktionen des Geldes mehrerfüllen. Dasvöllige Chaos imGeldwesen brach 1923 aus,alses neben 500 Trillionen MarkBuchgeld, 500 Trillionen MarkReichsbanknoten –Münzen spielten keine Rolle mehr–undetwa 200 Trillionen Mark Notgeld vonGemeinden, Unternehmen etc. gab. AnderKonstruktion derReichsbank änderte sich indieser Phase vorerst nichts. Sie blieb dasweisungsabhängige Organ der Reichsregierung underfüllte imundnach demKrieg widerstandslos die Bedürfnisse derRegierung nach Krediten, indem sieweiterhin alle Schatzanweisungen desReiches übernahm. Zwischen Reichsbank undReichsregierung gabes kaumunterschiedliche Auffassungen über diese Art der Haushaltsfinanzierung undGeldpolitik. Daran änderte sich auch nichts, als der Bank auf Druck der Alliierten durch das Gesetz vom 26.5.1922 die formale Autonomie verliehen wurde. Vonnunanwarsie derRegierung gegenüber nicht mehrweisungsgebunden. Stabilisierung undKrise während derWeimarer Republik: MitderStabilisierung 1924 kames zu einer neuen Geld- undWährungsordnung.¦147¿ Die Konstruktion der Reichsbank änderte sich mit dem Bankgesetz vom 147 Hardach, Gerd, Weltmarktorientierung undrelative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 1914– 1931, Berlin 1976; Flaskamp, Jürgen, Aufgaben undWirkungen der Reichsbank inderZeit desDawes-Planes, Köln 1986.
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II. Empirische Entwicklungen
11.10.1924 insofern, als ihre Unabhängigkeit vonderReichsregierung bestätigt undgestärkt wurde. Sie blieb eine Persönlichkeit desöffentlichen Rechts mit privaten Anteilseignern. Auch die Aufgaben wandelten sich kaum. Die
derReichsbank ininternationale, völkerrechtliche Verträge drückte sich in demwichtigen Gremium eines Generalrates aus, derje zurHälfte ausDeutschen undAusländern besetzt sein sollte. Einbesonderer „Kommissar fürdie Notenausgabe“musste ebenfalls Ausländer sein. Die Kreditvergabe andasReich wurde engbegrenzt. AuchdieRückkehr zumGold(devisen)standard wurde denDeutschen von denAlliierten befohlen. DerDawes-Plan von 1924, derdieReparationen neu regelte, sahdies vor. Sie wurde mitderUmstellung derWährung am30.8.1924 vollzogen. Andie Stelle derMark bzw. Rentenmark, die kurzfristig ausgegeben worden war, trat die ‚Reichsmark‘ als Geldeinheit. Die neue Währung warzwar formal wieder eine Goldwährung: 40% derumlaufenden Banknoten daswarneu–inDevisen gehalten werden. Allerdings mussten inGoldund– liefen keine Goldmünzen mehr umundeine Eintauschpflicht bestand auch nicht mehr. Insofern wardie Reichsmark letztlich schon eine Papierwährung, Einbindung
wobei man aus stabilitätspolitischen oder -psychologischen Gründen glaubte
–besonders auch dieAlliierten imAusblick aufdieReparationszahlungen – , nicht aufdasReservemedium Goldverzichten zukönnen. DemGolddevisenstandard warallerdings nurein kurzes Leben beschieden; zusehr hatte sich dieWelt verändert. Zumeinen wardieWeltwirtschaft seit demKrieg äußerst instabil. Zumanderen waren die Regierungen/Zentralbanken noch weniger bereit, ihre Binnenwirtschaftspolitik an währungspolitischen Vorgaben auszurichten, als vor demKrieg. Demfast vollständigen Zusammenbruch der Weltwirtschaft seit 1929 wardasneue Währungssystem jedenfalls nicht gewachsen. Großbritannien machte 1931denAnfang, indem es die Goldparität aufgab undabwertete, andere Länder folgten. Das Deutsche Reich, dasnicht nurimRahmen internationaler Abkommen zurEinführung desGolddevisenstandards (Dawes-Plan), sondern auch zur Stabilität der Währung (YoungPlan) gezwungen worden war, wertete zwar nicht ab, führte 1932 aber die Devisenbewirtschaftung ein. ImÜbrigen kannauchdiese eingeschränkte Souveränität derReichsregierung als ein Ordnungselement desGeld- undWährungssystems derzweiten Hälfte der20er Jahre angesehen werden. Nationalsozialismus: ImNationalsozialismus diente die Geld- undWährungsordnung vornehmlich den rüstungswirtschaftlichen Anstrengungen.¦148¿ DasGeld verlor imLaufe derJahre indemMaße seine Funktionen als Wertmesser, Tauschmittel undRecheneinheit, in demimmer mehr Güter bewirtschaftet undPreise manipuliert wurden. Die enorme Ausweitung derGeldmenge führte zu einem inflationären Potential, dessen offener Ausbruch ein allgemeiner Preisstopp verhinderte. Auchdie Wechselkurse gegenüber ande1953, Tübingen 1953. 148 Stucken, Rudolf, Deutsche Geld- undKreditpolitik 1914–
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
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renWährungen verloren ihre Bedeutung, dasie ebenfalls willkürlich imRahmen von bilateralen Verrechnungsabkommen nach politischen undmilitärstrategischen Überlegungen staatlich festgelegt wurden undkeine Aussagekraft mehr fürdietatsächliche Kaufkraftrelationen besaßen. Stellung undFunktion der Reichsbank wurden ebenso an die neuen Bedingungen angepasst.¦149¿ Dieerneute Aushöhlung ihrer gerade erst gewonnenen Autonomie setzte mit demGesetz vom27.10.1933 ein, das die Ernennung und Abberufung des Reichsbankpräsidenten sowie der Direktoriumsmitglieder allein demReichskanzler übertrug unddenGeneralrat abschaffte. Außerdem wurde die Offenmarktpolitik unddie Basis derNotendeckung erweitert. Den nächsten Schritt bildete das Gesetz vom 10.2.1937, das das Führer undReichskanzler unmittelbar“unterReichsbankdirektorium dem„ stellte. Derletzte Schritt zurvölligen Aufhebung derAutonomie erfolgte mit demGesetz vom 15.6.1939, wonach die Deutsche Reichsbank ausdrücklich „ der Verwirklichung der durch die nationalsozialistische Staatsführung gesetzten Ziele imRahmen desihranvertrauten Aufgabenbereichs“(Präambel) nachdenWeisungen dienen sollte. Dazuwurde sie vonnunanauchoffiziell „ undunter der Aufsicht des Führers undReichskanzlers ... geleitet undverwaltet“(§ 3). Damit waren in organisationsrechtlicher Hinsicht wieder die Verhältnisse hergestellt, die zwischen 1875 und 1922 bestanden hatten. Die Reichsbank warerneut zueiner weisungsgebundenen Reichsbehörde, zueinemwillkürlichen Finanzierungsinstrument geworden. Damit sie tatsächlich als „Reichshauptkasse“dienen konnte, wurden die Deckungsvorschriften geändert, d.h. die Notendeckung erleichtert. Bundesrepublik Deutschland: Mit der Währungsreform im Juni 1948 wurde die Reichsmark vonder Deutschen Mark als neue Geldeinheit abgelöst.¦150¿ Damit wareine dramatische Verringerung derGeldmenge verbunden, dieineinem Verhältnis von100zu6,5 zusammengestrichen wurde. DasRecht derMünzprägung erhielt nachdemGesetz überdieAusprägung derScheidemünzen vom8.7.1950 die Regierung, d.h. derBund. Die Münzen waren –im Gegensatz zuBanknoten undSichteinlagen –beschränktes gesetzliches Zahlungsmittel, d.h., Pfennige brauchten nurbis zueinem Betrag von5 DMund Mark nurbis zu20 DMangenommen werden. DerUmtausch derMünzen in Banknoten als demeigentlichen Währungsgeld durch Banken undSparkassenwurde aber gesetzlich in unbeschränkter Höhe verbürgt. Insgesamt hatte zu machen“–keine große das Münzregal des Bundes –sein Recht Geld „ Bedeutung, da Münzen nureinen kleinen Teil desumlaufenden Notengeldes undeinen nochkleineren desgesamten Geldvolumens ausmachten. DasInter149 Caesar, Rolf/Hansmeyer, Karl-Heinrich, Reichsbank undöffentliche Kreditinstitute, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.4: DasReich als Republik undin derZeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 873 ff. 150 Stern, Klaus, Die Notenbank imStaatsgefüge, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, München 1998, S. 141ff.
II. Empirische
100
Entwicklungen
esse derRegierung amRecht derMünzprägung erklärt sich wiein denJahrhunderten zuvor ausdemmöglichen Münzgewinn. DasMünzgesetz sahnämlich voneiner Festlegung derGeldeinheit ab,enthielt also keine Vorschriften über die Gestalt, dasGewicht unddie Zusammensetzung derLegierung. Da
die Kosten der Münzprägung niedriger waren als derMünzwert, waren die Münzen unterwertig. Derdaraus sichergebende Münzgewinn machte imLaufe derJahrzehnte zwar viele Milliarden aus, für denGesamthaushalt derBundesregierung spielte er aber nureine ganz untergeordnete Rolle. Das für die Geldordnung wichtigste Gesetz wardas über die Deutsche Bundesbank vom 26.7.1957. Die Bundesbank trat die Nachfolge der Bank deutscher Länder an, die auf der rechtlichen Grundlage amerikanisch-britischer Verordnungen zum1.3.1948 ihre Arbeit aufgenommen hatte.¦151¿ Sie war eine bundesunmittelbare Person desöffentlichen Rechts. Nach § 14desGesetzes besaß die Bundesbank das ausschließliche Recht Banknoten auszugemitHilfe derwährungspolitischen Befugnisse, die ben. Nach § 3 regelte sie „ ihrnach diesem Gesetz zustehen, denGeldumlauf unddie Kreditversorgung derWirtschaft mitdemZiel, dieWährung zusichern, undsorgt fürdie bank. mäßige Abwicklung desZahlungsverkehrs imInland undmitdemAusland“ verpflichtet unter Wahrung ihrer Aufgabe die allgeDabei warsie nach § 12„ , wobei sie meine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu unterstützen“ vondenWeisungen derBundesregierung unabhängig“war. Die Autonomie „ derBundesbank, insbesondere gegenüber derRegierung, ergab sichauchdaraus, dass die Höhe der Kassenkredite an denBund –einschließlich der gekauften Schatzwechsel –streng begrenzt wurde. Ihr Instrumentarium umfasste imWesentlichen die klassische Diskontpolitik, die Festlegung qualitativer Standards bei der Gewährung von Krediten an die Banken undvon Rediskontkontingenten, die Mindestreservepolitik unddie Offenmarktpolitik.¦152¿ Keine Rolle spielte mehrdasGold als Sicherheit fürdieumlaufenden Noten. Insofern wurde mit der Bundesrepublik derendgültige Übergang zurreinen Plastikgeld“in Form der Kreditkarte einPapierwährung vollzogen –vom „ malabgesehen. Damit sind die wesentlichen Elemente derbundesdeutschen Geldordnung beschrieben, die sich übervier Jahrzehnte praktisch nicht veränderte.
DieWährungsordnung wandelte sich dagegen erheblich. MitdemÜber-
gang zurKonvertibilität am27.12.1958 wurde die Bundesrepublik in das sogenannte Währungssystem vonBretton Woods einbezogen.¦153¿ Es beruhte auf 151 Caesar, Rolf/Hansmeyer, Karl-Heinrich, Die Deutsche Bundesbank, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5: Die Bundesrepublik Deutschland, S. 954 ff. 152 Emminger, Otmar, Deutsche Geld- undWährungspolitik im Spannungsfeld zwischen 1975), in: Deutsche Bundesbank (Hg.), innerem undäußerem Gleichgewicht (1948– 1975, Frankfurt a. M., S. 485 ff. Währung undWirtschaft 1876– 153 Eltz, Karl, Das Versagen des Währungssystems vonBretton Woods unddie Entwicklungslinien einer künftigen Weltwährungsordnung, Frankfurt a. M. 1981.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
101
grundsätzlich festen Wechselkursen beifreiem Umtausch, dienurimFall fundamentaler Ungleichgewichte zwischen den Währungen verändert werden durften. UmLänder, die vorübergehend Probleme mit ihrer Zahlungsbilanz hatten, vordenharten Folgen einer binnenwirtschaftlichen Deflationspolitik zuschützen, wurde ein Internationaler Währungsfond eingerichtet, dersolchenLändern temporäre Kredite indengewünschten Währungen –insbesonzurVerfügung stellen konnte. Goldspielte alsinternatiodere inUS-Dollars – nales Reservemedium neben demDollar zwar noch eine gewisse Rolle, aber seine Bedeutung nahmab.Insofern kannmanvomGold-Dollar-Standard sprechen. In Folge weltwirtschaftlicher Veränderungen begann sich dasBrettonWoods-System amEnde der60er Jahre aufzulösen, bis schließlich imFrühjahr 1973 dieeuropäischen Währungen ihre bis dahin festen, wennauch von Zeit zuZeit veränderten Wechselkurse gegenüber demDollar aufgaben und frei schwanken ließen.¦154¿ Imweltwirtschaftlichen Maßstab gibt es seither keine offizielle Währungsordnung mehr. Dennoch kannmanfolgende Ordnungselemente erkennen: (1) grundsätzlich frei schwankende Wechselkurse bei (2) gleichzeitiger Existenz vonregionalen Währungsräumen mitfesten Paritäten, (3) Dominanz desDollars als weltweiter Leitwährung bei (4) Existenz vonregionalen Leitwährun-
gen.
Daviele nachwievorvomVorteil fester Wechselkurse überzeugt waren, versuchte eine Reihe europäischer Staaten mit der sogenannten Währungsschlange seit 1972 unddann seit 1979 mitdemEuropäischen Währungssystem (EWS) eine Zone stabiler Wechselkurse zuerrichten. Die Ordnungselemente des EWS waren folgende: (1) feste Paritäten untereinander mit einer Schwankungsbreite von2,25% nach oben undunten, (2) frei schwankende Wechselkurse gegenüber Drittwährungen, (3) Mechanismus zur Anpassung derWechselkurse, (4) ECU(European Currency Unit) alsVerrechnungs- und Reserveeinheit der Zentralbanken, (5) Währungsfonds. Falls die Schwankungsbreiten überschritten wurden, mussten die Notenbanken intervenieren, wobei die Länder mit starken Währungen die mit schwachen unterstützten. DasSystem funktionierte nacheiner schwierigen Anlaufphase insofern nicht schlecht, als übereine ganze Reihe vonJahren die Kurse stabil blieben. Aufgrund realwirtschaftlicher Unterschiede zwischen den Ländern, die sich in einem System fester Wechselkurse kumulieren mussten, brach das EWS allerdings 1993 zusammen; dieWechselkurse einer Reihe vonWährungen mussten frei gegeben werden.¦155¿ Europäische Währungsunion: Diewohldramatischste Veränderung inder europäischen Währungsgeschichte stellte dieEinrichtung einer Europäischen 154 Czada, Peter/Tolksdorf, Michael/Yenal, Alparslan, Internationale Währungsprobleme. ZurGeschichte, Funktion undKrise desinternationalen Währungssystems, Berlin 1988. 155 Smeets, Hans-Dieter/Möller, Martin, ZurKrise desEuropäischen Währungssystems, in: List-Forum fürWirtschafts- undFinanzpolitik 20 (1994), S. 226 ff.
102
II. Empirische Entwicklungen
Währungsunion zum 1.1.1999 dar, mit der der Euro als gemeinsame Währungseinheit geschaffen wurde, derab 2002 die nationalen Währungen auch imalltäglichen Zahlungsverkehr ablösen wird.¦156¿ Andenzentralen Ordnungselementen änderte sich damit eigentlich wenig, nurdasseben ausverschiedenen Währungen, deren Wechselkurse allerdings schon zuvor fixiert worden waren, eine gemeinsame Währung wurde. Die Deutsche Bundesbank verlor ihre Eigenständigkeit undwurde indasSystem dereuropäischen Zentralbanken integriert, an dessen Spitze die Europäische Zentralbank steht, die –zudiegleichen Ziele, diegleimindest nachdenBestimmungen desVertrages – chen Instrumente unddiegleiche Unabhängigkeit besitzt wiezuvor dieBundesbank auf nationaler Ebene. Sie ist neben demEuropäischen Gerichtshof diezweite supranationale Institution aufdemWegderschrittweisen Verlagerung nationaler Politikkompetenzen aufeuropäische Organe. Anhand derGeld- undWährungsordnung sollte beispielhaft gezeigt werden, wiesicheine Teilordnung überlängere Zeiträume entwickelte. Umeinen mehroderweniger vollständigen Überblick überdieEntwicklung dergesamtenWirtschaftsordnung zubekommen, müssten auchdieanderen Teilordnungen dargestellt werden: die Eigentums- oder Betriebsordnung, die Wettbewerbs- oderArbeitsmarktordnung, dieFinanzordnung u.s.w. Dies isthiernicht möglich. Selbst die Darstellung derGeld- undWährungsordnung beschränkt sich auf das Notwendigste undvernachlässigt viele Aspekte. Wie bei den Verfassungen soll darauf hingewiesen werden, dassWirtschaftsordnungen nie homogene, statische Gebilde sind. Sie verändern sich vielmehr permanent, manche Teilordnungen früher, manche später.
b. Gesamtordnungen Wirtschaftsordnung in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutschen Bund(vornehmlich amBeispiel Preußens)
bis zumNord-
Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich keine einheitliche ‚deutsche‘Wirtschaftsordnung beschreiben. MitderHerausbildung bzw. Konsolidierung vongrößeren Staaten unddemErlass vonVerfassungen entstanden zwar die Grundzüge moderner Wirtschaftordnungen; sie prägten sich aber unterschiedlich aus. Betrachtet mansie differenzierter, sounterschied sichdie Wirtschaftsordnung inPreußen vonderin Sachsen, dievonBayern vonderin Baden. Im Übrigen warin dieser Phase, die mehr als ein halbes Jahrhundert umfasst, so viel in Bewegung, dass es selbst für nureinen Staat nicht ganz leicht fällt, stabile ordnungsprägende Elemente fürdengesamten Zeitraum zu bestimmen. Insofern ist diefolgende Darstellung bis zueinem gewissen Grad idealtypisch. 156 Bofinger, Peter (Hg.), DerWegzurWirtschafts- undWährungsunion in Europa, Wiesbaden 1990.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
103
Produktionsordnung: Impreußischen Finanzedikt vom27.10.1810 wurde dasZiel derneuzuschaffenden Eigentumsordnung relativ eindeutig bestimmt: Wir wollen ... demTheile Unserer Untertanen, welcher sich bisher keines „ Eigenthums seiner Besitzungen erfreute, dieses ertheilen und sichern ...“ ¦157¿ Was hier angestrebt undin Preußen wie in anderen Ländern verwirklicht wurde, war –unter Rückgriff auf den individualrechtlichen, aus dem dieSchafSachenrecht stammenden Eigentumsbegriff römischer Provenienz – fungeindeutiger Eigentumsverhältnisse.¦158¿ DieAgrar- undGewerbereformen, die Säkularisierung undMediatisierung, die Trennung von staatlichem und landesherrschaftlichem Besitz führten zueiner Individualisierung derEigentumsrechte undbeseitigten die kaum zuüberschauende herrschafts-, besitz-, eigentums- undnutzrechtliche Vielfalt dermittelalterlichen undfrühneuzeitlichen Wirtschaftsordnung. Inallen Landesverfassungen derersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurde dasPrivateigentum ausdrücklich anerkannt, meist aber Gemeizugleich einer abstrakten Sozialbindung unterworfen; es sollte dem„ nen Besten“dienen. Mit den Agrarreformen undden neuen Verfassungen wurde einjahrzehntelanger Prozess dereigentumsrechtlichen „ Entflechtung“ ausgelöst, derinmanchen Staaten erst weit inderzweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts seinen Abschluss fand.
Neue privatrechtliche Eigentumsformen in Gestalt vonanonymem, haftungsbeschränktem Aktienkapital entstanden dagegen nur zögernd.¦159¿ Im Rheinland erleichterte zwarbereits derCodedeCommerce von1807 dieGründungvonAktiengesellschaften, in Preußen wurde eine solche Gründung aber erst ab 1843 durch ein kodifiziertes Aktienrecht ermöglicht unddie Konzessionsvergabe in derFolgezeit ausgesprochen restriktiv gehandhabt.¦160¿ In der ÄradesNorddeutschen Bundes wurde dann das Aktienrecht liberalisiert, indemdie Zulassungspflicht bei derGründung vonAktiengesellschaften aufgehoben wurde. ZurEigentumsordnung im weitesten Sinne könnte manauch dieAllgemeine Deutsche Wechselordnung von 1849 zählen, mitderin Preußen das Prinzip der Wechselfähigkeit eingeführt wurde. Auch die Konkursordnung vom8.5.1855 soll erwähnt werden, diedieBestimmungen desPreußischen Landrechtes unddesCode deCommerce neuregelte. Im Verhältnis vonprivatem undöffentlichem Eigentum trat amAnfang des Jahrhunderts in manchen Staaten eine dramatische Veränderung ein.¦161¿ DasausdenDomänen undRegalien derLandesherrn hervorgegangene Staats157 Huber, Ernst, Dokumente, S. 45. 158 Wehler, Hans-Ullrich, Gesellschaftsgeschichte, Bd. I, S. 397 ff. 159 Martin, Paul, Entstehung, S. 153 ff. 160 Fehrenbach, Elisabeth, Traditionelle Gesellschaft undrevolutionäres Recht. DieEinführungdesCode Napoleon indenRheinbundstaaten, Göttingen 1983; Wischermann, Clemens, Preußischer Staat undwestfälische Unternehmer zwischen Spätmerkantilismus undLiberalismus, Köln 1992. 161 Dipper, Christof, Probleme, S. 123 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
eigentum an wirtschaftlichen Unternehmen –Land- undForstwirtschaften, Salinen, Berg- undHüttenwerke, Manufakturen aller Art–wurde imZugeder Staats- undwirtschaftspolitischen Neuordnung konsequent privatisiert.¦162¿ Im Zeitalter des Deutschen Bundes spielte die staatliche Eigenwirtschaft daher nurnocheine untergeordnete Rolle. Allerdings begannen sichschon baldnach dieser Privatisierungswelle einige Staaten imVerkehrswesen, besonders beim Eisenbahnbau, erneut zuengagieren. Umgekehrt beendete Preußen auf dem Höhepunkt derliberalen Ärainden1850er Jahren seine bisdahin betriebene schleichenden“Verstaatlichung durch denAnkauf vonEisenbahnPolitik der„ aktien. Der liberale Zeitgeist prägte auch die Betriebsordnung.¦163¿ Eine Einengungunternehmerischer Entscheidungsfreiheit durch Gesetze undVerordnungen gab es praktisch nicht. Erst unter demEindruck verstärkter Kinder- und Frauenarbeit, denimmer schlechteren Musterungsergebnissen derArmee und den negativen sozialen Auswirkungen der sich ausbreitenden Fabrik- und Verlagsarbeit kames zuersten Ansätzen eines gewerblichen Arbeitsschutzes. Mit dem‚Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken‘vom9.3.1839 griff derpreußische Staat erstmals in derneuen liberalen Äradirekt in die Ausgestaltung derArbeitsverhältnisse ein. Die regelmäßige Arbeit in Fabriken vonKindern unter 9 Jahren wurde verboten, die vonJugendlichen unter 16 Jahren anbestimmte Bedingungen geknüpft. Außerdem wurden die Sonn- undFeiertagsarbeit, dieNachtarbeit unddieArbeitspausen geregelt. In derPraxis blieb das Regulativ relativ bedeutungslos, weil kaum Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten bestanden. In den anderen Staaten wurde ebenfalls nurzögernd mitdemSchutz vonKindern undJugendlichen begonnen. DerSchutz erwachsener Arbeitnehmer wurde nochdilatorischer gehandhabt. § 134 derpreußischen Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 bestätigte diePraxis dervorangegangenen Jahrzehnte: DieFestsetzung derArbeitsverhältnisse warzunächst einmal eine freie Übereinkunft zwischen Arbeitgeber und-nehmer. Nursehr allgemeine Vorschriften innerhalb derGewerbeordnung forderten, aufGesundheit undSittlichkeit Rücksicht zunehmen. Einen geringen Fortschritt brachte die ‚Verordnung betr. die Errichtung von Gewerberäten usw.‘vom9.2.1849, dieinArt.49 erstmals bestimmte, dass zu Arbeiten anSonn- undFeiertagen grundsätzlich niemand gezwungen werden konnte. Zugleich wurden gewisse Anhörungsrechte derGesellen festgelegt, wennes umdie Regelung derArbeitszeit fürdieverschiedenen HandwerksundFabrikzweige imZuständigkeitsbereich desentsprechenden Gewerberates ging. Letztlich erlangten aber auchdieGewerberäte kaumpraktische Bedeutung. Erst mit demAbänderungsgesetz zumRegulativ von 1839 vom 16.5.1853, mitdemfakultative Fabrikinspektionen eingeführt wurden, began162 Ullmann, Hans-Peter, Interessenverbände, S. 56 ff. 163 Frerich, Johannes/Frey, Martin, Handbuch, S. 42 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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nendiedarin enthaltenen verschärften Vorschriften allmählich zugreifen. In den übrigen Staaten wurden entweder ähnlich rudimentäre Ansätze zumArbeitsschutz oder garkeine unternommen. Bei derOrganisation derwirtschaftlichen Selbstverwaltung kames dagegen zuerheblichen Veränderungen.¦164¿ Die alte Zunftordnung warzwar seit dem 18. Jahrhundert –wenn nicht rechtlich so doch faktisch –in Auflösung begriffen, endgültig wurde derEinfluss derZünfte aber erst mitderEinführung derGewerbefreiheit zurückgedrängt. AndieStelle derZünfte oderdort, wosie weiter bestanden, parallel zuihnen traten einerseits Kammern als regionale und Innungen als fachliche Organisationen. Die Handelskammern entwickelten sichzuerst indenfranzösisch besetzten Gebieten, inMainz 1802 oder Köln 1803, inKrefeld, Aachen oderTrier. InPreußen blieben nach 1815 die in dernapoleonischen Zeit gebildeten Handelskammern bestehen. Einerseits unterstützen sie als Selbstverwaltungsorgane die in ihnen vereinigten Wirtschaftszweige durch Berichte, Gutachten oderdieGründung vonBörsen undHandelsschulen. Andererseits nahmen sie durch die ihnen übertragenen Aufsichts- undLenkungsfunktionen anderstaatlichen Wirtschaftsverwaltung teil. Sie waren Körperschaften desöffentlichen Rechts, wobei ihnen deröffentlichrechtliche Status nicht ausdrücklich kraft Gesetz verliehen wurde, aber ausdenihnen übertragenen Aufgaben abgeleitet werden konnte. Trotz gewisser Unterschiede in denverschiedenen preußischen Provinzen bestand praktisch überall Beitrittszwang. Eine rechtlich einheitliche Regelung für ganz Preußen erfolgte erstdurch dasKammergesetz von1848. Indenübrigen deutschen Staaten entstanden Handelskammern teilweise auf derGrundlage des französischen Rechts, teilweise aufdervoneigenen Gesetzen undVerordnungen–z.B. in Bayern 1842, Württemberg 1843, Sachsen 1861. Zueiner Vereinheitlichung derKammergesetze kames bis zurGründung desDeutschen Reiches zwar nicht, 1861wurde allerdings derDeutsche Handelstag alsSpitzenorganisation derHandelskammern undGesamtvertretung desHandels- und Fabrikantenstandes ins Leben gerufen. Außerdem bildeten sich inPreußen undinanderen Staaten nachderAufhebung der Zunftordnung freie Handwerker-Innungen. Die preußische Gewerbeordnung erkannte sie ausdrücklich als legitime Vertretung des Handwerks an, sagte ihnen staatliche Förderung zu, verbot aber einen Beitrittszwang. Innungen, diebei Bestätigung ihrer Statuten die Rechte einer Korporation erlangten, wurden unter staatliche Aufsicht gestellt. Zweck derInnungenwaren –neben derFörderung dergemeinsamen wirtschaftlichen Interessen–vorallem dieBeaufsichtigung desLehrlingswesens, dieVerwaltung der innungsinternen Unterstützungskassen sowie dieFürsorge fürdieWitwen und Waisen vonInnungsmitgliedern. BeiderLehrlingsausbildung räumte diepreußische Gewerbeordnung ihnen sogar ein Vorrecht ein. 164 Fischer, Wolfram, Unternehmerschaft.
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II. Empirische Entwicklungen
Neben denhalböffentlichen Kammern unddenstaatlicherseits anerkannten Innungen entwickelten sich rein private Interessenverbände: regionale ‚Handels- undGewerbevereine‘undBranchenverbände.¦165¿ Auch sie entstanden bereits in der frühliberalen Phase, so z.B. der 1819 gegründete Verein deutscher Kaufleute undFabrikanten. Dererste Interessenverband derSchwerindustrie warder ‚Zollvereinsländische Eisenhütten- undBergwerksverein‘, der 1852 in Halle gegründet wurde. Marktordnung: Auf die schwierige undlangwierige Einführung der Gewerbefreiheit – alsdemersten Element einer liberalen Marktordnung –braucht andieser Stelle nurhingewiesen werden, dasie bereits ausführlich behandelt worden ist (II.3. 1.a). Inderpreußischen Gewerbeordnung von 1845 erreichte die Gewerbefreiheit ihren Höhepunkt; noch bestehende Konzessionsbefugnisse, Zwangs- undBannrechte sowie örtliche Beschränkungen einzelner Gewerbe wurden aufgehoben.¦166¿ Fürdie Ausübung bestimmter Berufe mussten allerdings weiterhin gewisse sachliche oderpersönliche Voraussetzungen gegeben sein–Befähigungsnachweise oderNachweise derpersönlichen Zuverlässigkeit. Mitderzögernden Durchsetzung derGewerbefreiheit konnte auch dieWettbewerbsfreiheit –alsdemzweiten Element einer liberalen Marktordnung–nurganz allmählich verwirklicht werden. Die Vielzahl derweiter bestehenden lokalen undregionalen Beschränkungen erschwerte nicht nurden Eintritt inein Gewerbe, sondern auch die Ausübung unter wettbewerblichen Marktbedingungen. Voneiner zunft-, kommunal- undstaatsfreien Marktordnung konnte in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedenfalls keine Rede sein, auchnicht imwirtschaftsliberalen Preußen. Dasdritte Element stellt der freie Güterverkehr undHandel dar.¦167¿ Dieersten tiefergreifenden Liberalisierungen desZollwesens wurden in denMittelstaaten des Rheinbundes durchgeführt, in Bayern 1807, Württemberg 1808 undBaden 1812. Sie gaben sich neue Zollordnungen ohne Binnenzölle und mit einheitlichen Außenzöllen. Ähnliche Reformen erfolgten in Berg 1807 undWestphalen 1811. Wie unsi-
cher die handelspolitische Entwicklung dennoch blieb, zeigt die Zollpolitik derfolgenden Jahre, die ineinigen Staaten zuerneutem Protektionismus führte. In Preußen leitete dasZollgesetz vom26.5.1818 denÜbergang zumFreihandel ein. Mitihmwurde daspreußische Staatsgebiet zueinem einheitlichen Zollraum zusammengefasst. Gleichzeitig fielen die Behinderungen des Binnenhandels weg, die sich noch unmittelbar zuvor allein in denostelbischen Gebieten in57 verschiedenen Zoll- undAkzisetarifen ausgedrückt hatten. Die
Liberalisierung des Außen- undBinnenhandels wurde mitderGründung des Deutschen Zollvereins durch denVertrag vom22.3.1833 fortgesetzt, derdie inneren Zölle abschaffte undnach außen –trotz einer zeitweiligen Erhöhung 165 Ullmann, Hans-Peter, Interessenverbände, S. 123 ff. 166 Krug, Günter, Entwicklung, S. 165 ff. 167 Jäger, Hans, Geschichte, S. 61 ff.
3. Kapitel:
107
Wirtschaftsordnung
der Zollsätze –eine liberale Außenhandelspolitik
betrieb.¦168¿
Mit dem Ab-
schluss despreußisch-französischen Handelsvertrags vom29.3.1862 wurden die deutschen Staaten endgültig in das europäische Freihandelssystem integriert. Wie langwierig dieser Liberalisierungsprozess war, zeigt auchdieTatsache, dasssichdieAnliegerstaaten desRheins erst 1831inderMainzer Rheinschiffahrtsakte darauf einigten, alle Abgaben undStapelrechte abzuschaffen. Eine entsprechende Vereinbarung für die Donau wurde sogar erst 1851 geschlossen. In derVerfassung desDeutschen Reiches von 1871 wurden dann alle Abgaben aufdeutschen Gewässern endgültig beseitigt. An dieser Stelle muss außerdem das preußische ‚Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch‘ vom 1.3.1862 erwähnt werden, dasin fast allen Staaten des Deutschen Bundes eingeführt unddann vomNorddeutschen Bund und Deutschen Reich übernommen wurde. Damit wurde dasNeben- undGegeneinander vonhandelsrechtlichen Bestimmungen desAllgemeinen Landrechtes, desCode deCommerce undspäterer Teilkodifikationen mitunterschiedlichen Geltungsbereichen in denpreußischen Provinzen beseitigt. DasHandelsrecht erfüllte gleichzeitig Aufgaben eines erst amEnde des 19. Jahrhunderts verabschiedeten Bürgerlichen Rechts, d.h.desSchuld- undSachenrechts. Da es fürjedes Handelsgeschäft die Pflicht zurBuchführung, zur Aufbewahrung aller Geschäftspapiere undAbschriften vorschrieb unddiejährliche Erstellung des Inventars undeiner Bilanz verlangte, wares vonentscheidender Bedeutung fürdie Herausbildung einer modernen Unternehmensführung. Derzögernde Übergang zueiner liberalen Wirtschaftsordnung bedeutete, dass eine Vielzahl von produktions- undhandelsregulierenden Institutionen wie Stapel-, Hütten- und Hammerordnungen, Berg- oder Leggeordnungen, polizeiliche Preisfestsetzungen – vorallem beiGrundnahrungsmitteln – , zünftige Produktionskontrollen im handwerklichen Bereich, staatliche DirektionenimBergbau usw. indenersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts bestehen blieben. Zünfte, Kammern, Kommunen undStaaten intervenierten, lenkten undregulierten weiterhin intensiv. Selbst indieser Phase dergrundsätzlichen Deregulierung wurden bereits neue Vorschriften eingeführt. So unterwarfen z.B. daspreußische Reglement vom 12.12.1838 oder die bayerische Verordnung vom30.1.1843 die neuentstehenden Sparkassen einer Genehmigungspflicht undmachten Vorgaben fürihre Statute. DasGeschäftsgebaren ansich wurde allerdings nochnicht reguliert. Daswarbeim 1835 einsetzenden Eisenbahnbau anders.¦169¿Private Eisenbahnen wurden inPreußen nachdem‚Gesetz über die Eisenbahnen-Unternehmen‘ vom3.11.1838 derAufsicht desStaates unterstellt. DasGesetz verlangte eine staatliche Konzession, dieerst nach einer Bedürfnisprüfung unddiversen Auflagen erteilt wurde. Von Bedeutung waren außerdem dieRegelungen zurKapitalbeschaffung, Enteignung, Festlegung von Sicherheitsstandards, zur Überwachung undzumSchadensersatz,
168 Hahn, Hans-Werner, Geschichte, S. 68 ff. 169 Ziegler, Dieter, Eisenbahnen, S. 50 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
zur Eisenbahnabgabe, zumVerstaatlichungsvorbehalt oder zur Einsetzung eines Staatskommissars. Das Gesetz gewährte Schutz vor Streckenkonkurrenz, verlieh aber nicht das Monopol auf die Betriebsführung. Grundsätzlich sollte die Möglichkeit des Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen Betriebsgesellschaften aufeinem Streckennetz bestehen. Bahngeld undTarife wurden staatlich kontrolliert undbedurften derGenehmigung. Mit der realisierten oder in Aussicht gestellten Gewerbefreiheit wurde noch nicht die Koalitionsfreiheit auf demArbeitsmarkt gewährt.¦170¿ In Preußenhatte dasAllgemeine Landrecht von 1794 zwardie Vereinsfreiheit erweitert, indem Zusammenschlüsse, deren Zweck undTätigkeit deröffentlichen Sicherheit undOrdnung nicht zuwiderliefen, nunmehr auch ohne Genehmigungerlaubt waren. Es verbot denGesellen aber weiterhin, die Arbeit niederzulegen odereigenmächtig Versammlungen abzuhalten. Auchalssich inPreußenmitderEinführung derGewerbefreiheit dasRecht desfreien Arbeitsvertrages durchsetzte, bestand dasKoalitionsverbot fort. Indieser Phase desvon klassisch-liberalen Vorstellungen beherrschten Frühkapitalismus galten Koalitionen als Verletzung derindividuellen Vertragsfreiheit. Dennoch entstandeninderersten Hälfte des 19. Jahrhunderts locker gefügte, sektoral undregional begrenzte Gewerk- undArbeitervereine, die allerdings nicht mit den späteren straff organisierten Großverbänden derGewerkschaften verglichen werden können. Die preußische Gewerbeordnung von 1845 bestätigte das Koalitionsverbot in § 181 noch einmal ausdrücklich –nicht nurfür Verbindungen von Arbeitnehmern, sondern auch von Arbeitgebern. Sogar in der württembergischen Gewerbeordnung vom 12.2.1862 wurde die Verabredung zur Arbeitseinstellung noch mit einer Arreststrafe bis zu vier Wochen oder einer Geldstrafe bis zu30 Gulden bedroht. In derPraxis wandten die unteren Verwaltungsinstanzen seit der40er Jahren dieGesetze aber kaumnoch an, so dass sich in wachsendem Umfang Zusammenschlüsse derArbeiter bildeten. Auf nationaler Ebene entstanden 1863 der von Ferdinand Lasalle geführte Allgemeine Deutsche Arbeiterverein undder vonAugust Bebel beeinflusste Verband Deutscher Arbeitervereine. Kennzeichnend war, dass dashochindustrialisierte Sachsen neben Baden als erster Staat in seiner Gewerbeordnung vom20.9.1862 aufdieBeschränkungen derKoalitionsfreiheit verzichtete. Eine erhebliche Lockerung oder sogar Aufhebung der Koalitionsverbote in den anderen deutschen Staaten brachte die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom21.6.1869. Geld- undWährungsordnung: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten Metallwährungen, wobei neben Silbermünzen auchGoldmünzen –allerdings in kleinerem Umfang –undScheidemünzen, d.h. unterwertige Münzen mitkeinem oder geringem Edelmetallgehalt, umliefen (siehe vorangegangenen Abschnitt). Der Staat besaß das Monopol der Münzprägung. In Norddeutschland herrschte dersilberne Taler vor, derallerdings indeneinzel170 Frerich, Johannes/Frey, Martin, Handbuch, S. 79 ff.
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Wirtschaftsordnung
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nen Staaten einen leicht unterschiedlichen Wert besaß. In Süddeutschland vorallem mitdemebenfalls silbernen Gulden gerechnet. Eine gewisse Vereinheitlichung erreichte man mit dem Süddeutschen Münzverein vom August 1837, demein Jahr später der Dresdener Münzvertrag zwischen den Staaten des Deutschen Zollvereins folgte, der gleichzeitig eine gemeinsame Basis zwischen dennord- unddensüddeutschen Staaten schuf: Es wurde ein überstaatlicher Taler eingeführt (= 2 preußische Taler oder 3,5 süddeutschen Gulden), derallerdings impraktischen Zahlungsverkehr kaumeine Rolle spielte. Die beiden Verträge führten nur noch Silbermünzen an, so dass in den meisten deutschen Staaten abden30er Jahren einSilberwährung bestand. Die Dresdner Konvention wurde 1857 durch denDeutschen Münzverein ersetzt, derÖsterreich vorübergehend miteinbezog. Neben denMünzen existierte Papiergeld –entweder in Form vonNoten, die von öffentlichen undprivaten Banken herausgegeben wurden, oder als Staatspapiergeld, dasvondenRegierungen inUmlauf gebracht wurde. InPreußengab die Königliche Giro- undLehnBanco, später Königliche Bank, seit 1798 Noten undKassenscheine aus. Daneben erhielten einige wenige Privatbanken vorübergehend die Konzession zurNotenausgabe, soderKaufmännische Cassenverein zuBerlin unddieRitterschaftliche Privatbank inStettin ab 1824. In anderen Staaten wurden erst seit den30er Jahren private Notenbankenzugelassen. Ihre Noten stellten kein gesetzliches Zahlungsmittel dar, d.h., sie brauchten nicht angenommen werden. DieGründung vonNotenbanken in der Form einer Aktiengesellschaft wurde in Preußen mit der Bankordnung von 1846 möglich, allerdings vergab die Regierung wiederum nur wenige wurde
Konzessionen. Staatspapiergeld
–sogenannte
Staatskassen- oderTresorschei-
ne –wurden ab 1806 emittiert, dann aber bis 1825 wieder eingezogen oder durch Kassenanweisungen ersetzt. Dasgesamte 19.Jahrhundert hindurch bestand eine strenge Metallbindung desPapiergeldes, dasseinen Wert erst dadurch erhielt, dass es in Edelmetall eingelöst werden konnte. Generell spielte Papiergeld im Vergleich zuanderen europäischen Ländern in dendeutschen Staaten anfangs eine untergeordnete Rolle. DasVertrauen derBevölkerung in Papiergeld war gering unddie Wirtschaft verwendete eher Wechsel zur Durchführung vonZahlungsvorgängen. AuchdasBuchgeld besaß nochkeine größere Bedeutung. Dies änderte sich allmählich mit schärferen Bankvorschriften seit den40er Jahren, diedie Sicherheit vonEinlagen erhöhten. Banknoten wurden allmählich akzeptiert undauch die Bedeutung des Buchgeldes nahm zu. Dennoch dürfte in den60er Jahren noch über die Hälfte der Geldmenge –Münzen, Papiergeld, Einlagen –ausMünzen bestanden haben. Eine Zentralbank im modernen Sinne, die eine gesamtwirtschaftliche Verantwortung fürdasGeldwesen übernommen hätte, entstand zudieser Zeit noch nicht. Immerhin erhielt in Preußen die Königliche Bank bei ihrer 1846 erfolgten Umwandlung in die Preußische Bank nicht nurdie Aufgabe, ihren eigenen Geldumlauf zu fördern undprivates Kapital für sich nutzbar zumachen, sondern auch die, Handel undGewerbe zuunterstützen undeiner über-
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II. Empirische Entwicklungen
mäßigen Steigerung desZinsfußes vorzubeugen. Daswaraber eine Ausnahme. 1871gabes schließlich 33 private Notenbanken, dieihre Aufgaben darin sahen, durch dieEmission vonNoten Gewinne zuerzielen. Außerdem wurde von20 Bundesstaaten Staatspapiergeld herausgegeben, umdie Finanzen der öffentliche Haushalte aufzubessern. Steuer- undFinanzordnung: Es fällt auf, dass indenmeisten frühen Verfassungen zwarderGrundsatz derSteuerpflicht derStaatsbürger festgeschriebenwar, dass abereine Modernisierung desSteuersystems zunächst nicht gelang.¦171¿ Preußen machte insofern eine Ausnahme, als hier relativ früh miteinertiefergreifenden Reform begonnen wurde. DasZollgesetz von1818 beseitigte diesteuerähnlichen Binnenzölle undliberalisierte denAußenzoll.¦172¿ 1819/ 20 wurden wichtige Verbrauchssteuern erhöht. Die nach denZöllen einträglichste indirekte Steuer wardabei die Stempelsteuer, die bei derAusstellung vonUrkunden, aberauchaufZeitungen oderSpielkarten erhoben wurde. Das System derdirekten Steuern beruhte inPreußen imWesentlichen aufderKlassensteuer, aus der sich später die Einkommensteuer entwickelte, aus der Grundsteuer undderGewerbesteuer.¦173¿ Anderunterschiedlichen Besteuerung vonStadt undLand änderte sich vorerst nichts. AufdemLand wurde eine nachdemEinkommen gestaffelte Personensteuer erhoben, indenStädten eine Mahl- undSchlachtsteuer. Dieschon 1810 eingeführte Gewerbesteuer galt für die Städte wie fürdasLand. Erst 1851 kames zueiner neuen Steuerreform, die das Steuersystem aber nicht grundlegend veränderte, immerhin aber die Vorform einer progressiven Besteuerung destatsächlichen Einkommens einführte. Daskennzeichnende Ordnungselement desSteuersystems dieser Zeit blieb aberderzunehmende Anteil derindirekten Steuern andenStaatseinnahmen,einschließlich derAußenzölle, unddersinkende Anteil derdirekten. Die preußischen Besteuerungsformen wurden vonanderen Staaten übernommen, wobei sich allerdings die süddeutschen zunächst weiterhin auf die Ertragssteuern aufGrund undBoden undaufGewerbebetriebe stützten. Geht mandavon aus, dass die Grundlage einer geordneten Finanzwirtschaft ihre Verrechtlichung ist, sowaren dieVerhältnisse indieser Hinsicht in denersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts sehrunterschiedlich.¦174¿ Während es z.B. in Sachsen zukeiner Kodifikation desEtatrechts imhier behandelten Zeitraum kam, wurde sie inBayern 1808 schon früh vollzogen; Württemberg undPreußen folgten einige Zeit später. Tendenziell, wenn auch miterheblichen zeitlichen undinhaltlichen Unterschieden, wurde eine solche Verrechtlichung abervonallen Staaten inAngriff genommen, wobei allerdings dieent171 Wehler, Hans-Ullrich, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 369 ff. 172 Ohnishi, Takeo, Zolltarifpolitik Preußens bis zurGründung desdeutschen Zollvereins. EinBeitrag zurFinanz- undAußenpolitik Preußens, Göttingen 1973. 173 Jüngling, Michael, Staatseinnahmen insäkularer Sicht. Eine kritische Studie, Göttingen 1991.
174 Müller, Erika, Gesetzgebung.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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sprechenden Gesetze, Verordnungen, Edikte oderInstruktionen teilweise recht vage gefasst waren. Mit Ausnahme Württembergs kannte keine Verfassung eines größeren deutschen Staates dasvolle Budgetrecht desLandtages, wobei aberauchhier dieRegierung dasparlamentarische Bewilligungsrecht nurunter Vorbehalt anerkannte. Die alte absolutistische Behördenorganisation mit Kabinettsregierungen, Geheimen Räten undgemischt regional-fachlichen Behörden waren denadministrativen Anforderungen dessich parlamentarisierenden undwirtschaftlich entwickelnden Territorialstaates nicht mehr gewachsen (siehe Abschnitt II.4.3). Über die süddeutschen Rheinbundstaaten breitete sich das französische System derRessortministerien seit 1808 aus.Zuden„klassischen“Ministerien gehörte auchdasFinanzministerium, obwohl es alseigene Behörde in manchen Staaten erst in den 1830er Jahren eingerichtet wurde. Die Verwaltung derStaatsschulden warineinigen Ländern schon im 18.Jahrhundert aus der Verwaltung des Staatshaushalts unddes Staatsvermögens ausgegliedert undeiner selbständigen Behörde übertragen worden. Diese administrative Tradition wurde im 19.Jahrhundert beibehalten. Die praktische Haushaltsführung wurde vondenrechtlichen Normen nur in begrenztem Maße beeinflusst. Konfrontiert mansie mit Anforderungen, dieheute andieHaushaltspolitik gestellt werden, solassen sich folgende Ordnungselemente festhalten: Tendenziell wurde die Budgetöffentlichkeit zwar erweitert, allerdings wurden die Etats oftmals nurin groben Überblicken gedruckt. Es gabNebenhaushalte unddie Einnahmen wurden meist zuniedrig angesetzt. Verschiedene Fonds wurden offiziell garnicht erfasst. Dieformelle Einteilung derBudgets warinallen Staaten unterschiedlich. Überall herrschte allerdings ein unübersichtliches Brutto-Netto-Mischsystem. Die Etatplanung warunflexibel undrudimentär. Trotz dieser Mängel wardieTendenz inRichtung einer geordneten Haushaltführung unverkennbar: Die Etats wurden immerregelmäßiger, immer systematischer undimmer vollständiger aufgestellt unddas parlamentarische Mitentscheidungs- undKontrollrecht immer mehr erweitert. Insgesamt hates ‚die‘Wirtschaftsordnung indendeutschen Staaten während derersten Hälfte des 19.Jahrhunderts nicht gegeben. Es gabnoch nicht einmal ‚die‘Wirtschaftsordnung eines Einzelstaates überdengesamten Zeitraum. Dazu warviel zuviel in Bewegung, mischten sich Elemente derüberkommenen feudal-ständischen mitdenen dersich entwickelnden liberal-bürgerlichen Ordnung, wurden sprunghafte Reformen vonrestaurativen Rückschritten abgelöst. Gerade hierin kannaber einOrdnungselement dieser Umbruchphase gesehen werden, indersehr Altes neben sehr Neuem existierte, in derderWegzueiner liberalen Marktgesellschaft zwar vorgezeichnet war, in der sich die damit verbundene ordnungspolitische „Revolution“aber über mehrere Jahrzehnte hinzog. Erst umdieMitte desJahrhunderts wardieLandwirtschaft mehroderweniger umfassend indieliberale Eigentümergesellschaft einbezogen, erstjetzt warin vollem Umfang eine wettbewerbliche Marktord-
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II. Empirische
Entwicklungen
nungentstanden. Die 1850/60er Jahre stellten denHöhepunkt desklassischen Liberalismus dar. Dabei bildete sich die neue Ordnung weniger spontan heraus, sondern wurde bewusst gestaltet. Regierungen undBürokratien trugen entscheidend dazubei, die Verhältnisse zuverändern, umdie sozioökonomische Organisation derfeudal-merkantilistischen Ständegesellschaft durch die der liberal-bürgerlichen Marktgesellschaft zu ersetzen. Wirtschaftsordnung des Kaiserreichs 1871 –1914
Die Wirtschaftsverfassung des Deutschen Reiches wurde zwar durch eine Reihe zentraler Gesetze konstituiert, die allerdings keinen formalen Verfassungsrang besaßen. Insofern wares möglich, sie unddamit die Wirtschaftsordnung durch einfache Reichsgesetze zu modifizieren. Gleichzeitig konnte sich durch Veränderungen innerhalb derWirtschaft –z.B. durch Konzentraeinpartieller tionsprozesse oder durch Entstehen neuer Interessenverbände – Wandel der Ordnung auch ohne legislative Eingriffe vollziehen. Im Folgendensoll daher sowohl dieWirtschaftsordnung der 1870er Jahre alsauchderen spätere Umgestaltung beschrieben werden. Immerhin umfasste dieZeit zwischen dem Norddeutschen Bund unddemErsten Weltkrieg fast ein halbes Jahrhundert. Produktionsordnung: DasKaiserreich besaß eine ausgesprochen liberale Wirtschaftsordnung. Dasprivate Eigentum wurde zwarnicht durch dieReichsverfassung, aber durch dieLänderverfassungen explizit gesichert. Die Verfügungüber Eigentum warfast unbeschränkt, die soziale Bindung äußerst vage unddiestaatliche Reglementierung sehrbegrenzt. Durch einGesetz zurLiberalisierung des Aktienrechts vom 11.6.1870 wurden neue Möglichkeiten für haftungsbeschränktes Eigentum, d.h. für Kapitalgesellschaften, geschaffen.¦175¿ Die Unzulänglichkeiten dieser Unternehmensform führten zueiner erneuten Novelle desAktienrechts vom 18.7.1884, die zumindest einige derOrganisaGesellschaft mitbeschränkter tionsfehler beseitigte. Mit derEinführung der ‚ Haftung‘durch einGesetz vom20.4.1892 entstand einzweiter Typhaftungsbeschränkter Unternehmen. Beide Rechtsformen, die mehroder weniger anonyme Kapitalbeteiligungen ermöglichten, waren vonzentraler Bedeutung für einen dynamischen Industrialisierungsprozess, in demin strategischen Branchen der klassische Eigentümerunternehmer immer mehr an Bedeutung verlor unddie notwendigen großen Kapitalmengen nurnoch über solche Eigentumsformen bereit gestellt werden konnten. Nach derReichsgründung blieben die meisten dernoch vorhandenen öfBundesstaaten“ , wiedieGliedstaaten in fentlichen Betriebe imEigentum der„ der Reichsverfassung genannt wurden: die land- und forstwirtschaftlichen Besitzungen, Bergwerke oderWaffen- undMunitionsfabriken.¦176¿ Dazutraten 175 Henning, Friedrich-Wilhelm, Grundlinien, S. 52 ff. 176 Ambrosius, Gerold, Staat, S. 22 ff.
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Eisenbahnen. Das Bismarcksche Projekt einer Reichseisenbahn scheiterte zwar, aber mitdemersten Verstaatlichungsgesetz vom20.12.1879 –weitere Gesetze folgten –begann man in Preußen die Eisenbahnen in öffentliches Eigentum zu überführen. Vielfältige Gründe waren ausschlaggebend: von militärischen über struktur- bzw. verkehrspolitischen bis hinzufiskalischen. Dabei waren die Verstaatlichungsgesetze keine eigentlichen Sozialisierungsgesetze. Sie verzichteten aufZwang undermächtigten dieRegierung lediglich zumKauf derAktien derprivaten Eisenbahngesellschaften undzurÜbernahmeder noch schwebenden Eisenbahnanleihen. Bis 1890 konnte der preußische Staat dengrößten Teil derPrivatbahnen aufkaufen undandere deutsche Staaten folgten diesem Beispiel. DasReich schuf mitderReichspost einriesiges Unternehmen, übernahm die Eisenbahnen desneuen Reichslandes ElsaßLothringen, gründete Werften, Militärwerkstätten, die Reichsdruckerei und dieReichsbank, dieallerdings formal keine öffentliche Gesellschaft war,weil sich dasAktienkapital in privater Handbefand. Fürdie meisten öffentlichen Unternehmen galt weniger derGrundsatz derGewinnmaximierung, sondern mehr derderGemeinwirtschaftlichkeit. Dieses Ordnungsprinzip schloss beispielweise raumordnungspolitische Ziele beim Ausbau desNachrichten- und Verkehrsnetzes, soziale Tarifierung oderBeförderungspflicht ein. Nochwichtiger fürdas sich verändernde Verhältnis vonprivatem undöffentlichem Eigentum wardie expandierende Gemeindewirtschaft. DerAufbau dermodernen Infrastruktur –Gas, Wasser, Elektrizität, Nahverkehr –wurde anfangs zwar noch überwiegend durch private Unternehmen getragen. Abden 1870er Jahren liefen dann aber die ersten, langfristig abgeschlossenen Konzessionsverträge zwischen Kommunen undprivaten Versorgungsunternehmen aus.Sie wurden häufig nicht verlängert, sondern die Gas- oder Wasserwerke wurden in kommunaler Regie weitergeführt. Das gleiche vollzog sich amEnde des alten undzuBeginn desneuen Jahrhunderts bei Elektrizität undStraßenbahnen. Gleichzeitig gründeten die Gemeinden selbst in verschiedenen Wirtschaftszweigen eigene Betriebe. In zunehmendem Maße trat deshalb neben das private, auf Gewinnmaximierung zielende Eigentum, das das zentrale Ordnungselement blieb, dasöffentliche, gemeinwirtschaftlich orientierte. Anden innerbetrieblichen Verhältnissen änderte sich wenig, aber doch Die etwas.¦177¿ Grundsätzlich bestimmte § 105 der Reichsgewerbeordnung: „ Festsetzung derVerhältnisse zwischen denselbständigen Gewerbetreibenden undihren Gesellen, Gehilfen undLehrlingen ist Gegenstand freier Überein. DieNovelle derGewerbeordnung vom1.6.1891 unddesBerggesetzes kunft“ vom24.6.1892 über die obligatorischen Arbeitsordnungen unddie fakultativenArbeiterausschüsse –im Bergbau ab 1905 obligatorisch –kann manals „ dieersten Ansätze eines sozialstaatlichens Betriebsverfassungsrechts“interpretieren.¦178¿ VonMitbestimmung konnte allerdings noch keine Rede sein, al177 Frerich, Johannes/Frey, Martin, Handbuch, S. 128 ff. 178 Huber, Ernst, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 1221.
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II. Empirische Entwicklungen
lenfalls deutete sich eine eng begrenzte soziale Mitwirkung an. Das „Ordnungsprinzip“des Paternalismus, des „Herr im Haus“oder der Alleinherrschaft des Eigentümers in seinem Betrieb galt insofern weiter, auch wenn es erste Risse zeigte: Vonnunanmussten vordemErlass vonArbeitsordnungen die Beschäftigten gehört unddie Gemeindebehörde umGenehmigung gebetenwerden. Die Arbeiterausschüsse –ursprünglich als Mittel zurBefriedung der Arbeiterschaft gedacht –entwickelten sich zueinem, wenn auch schwachen Instrument ihrer Emanzipation; u.a. fiel ihnen die Aufgabe zu, über die Erfüllung der tarifvertraglichen Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene zu wachen.¦179¿ Gleichzeitig wurde derArbeitsschutz verbessert unddie Gewerbeaufsicht erweitert. Die Kinderarbeit schränkte mannochstärker ein. 1871gabes imBereich dergewerblichen Wirtschaft indenmeisten Bundesstaaten funktionierende Organisationen der Selbstverwaltung, mit denen die Regierungen seit langem zusammenarbeiteten.¦180¿ Die „Handwerkerverei, die „Handwerkerbünde“undInnungen wurden ne“und „Gewerbevereine“ nachderReichsgründung weiter ausgebaut, zuLandesverbänden zusammengefasst undim Reichsverband Deutscher Gewerbevereine bzw. im InnungsundHandwerkertag vereinigt. Die Errichtung selbständiger Handwerkskammern als rechtlich abgesicherte öffentliche Institutionen aufReichsebene erfolgte erst mitderNovelle zurGewerbeordnung vom26.6.1897. Sie schrieb denLandesregierungen den Aufbau vonHandwerkskammern alsöffentlichrechtliche Körperschaften vor. 1900/01 entstanden imDeutschen Reich 63 Handwerkskammern; die bereits bestehenden Gewerbekammern wurden umgewandelt. Ihnen wurden neben der allgemeinen Beratung, Berichterstattung undGutachtertätigkeit u.a. die Organisation undÜberwachung der Ausbildung der Meister, Gesellen und Lehrlinge übertragen. Mit der Errichtung vonGesellenausschüssen bei den Handwerkskammern undInnungen entstand zumersten Maleinmitsubstantiellen Mitbestimmungsrechten ausgestattetes öffentlichrechtliches Arbeitnehmerorgan. Schon vor 1871 waren Handelskammern gegründet worden. Durch ein eigenes Gesetz über die Handelskammern vom24.2.1870 –wurde dann die Vertretung des „ Gesamtinteresses vonHandel undGewerbe“(§ 1) auch gesetzlich verankert. AlsRepräsentationsorgane vonHandel undIndustrie übernahmen dieHandelskammern öffentliche Funktionen. Bismarck versuchte mit dem„Disziplinarerlaß“vom30.11.1881 vergeblich, die Handelskammern einer stärkeren staatlichen Aufsicht zuunterstellen. Letztlich wurde durch die Novelle zumpreußischen Kammergesetz vom 19.8.1897 ihre Unabhängig-
179 Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte, S. 165 ff. 180 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, Bd.3: DasDeutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte seit 1798, S.71 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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keit als Körperschaften desöffentlichen Rechts miterweiterten Selbstverwaltungsbefugnissen sogar gestärkt. Parallel zumöffentlichrechtlichen Kammerwesen entwickelten sich rein private Interessenverbände vonHandel undIndustrie.¦181¿ Ihr Ausbau vollzog sich innerhalb derBranchen wieaufgesamtwirtschaftlicher Ebene. Wirklich neuwaren dieReichsverbände wiederCentralverband deutscher Industrieller (1876) undder Bund der Industriellen (1895). Die Bildung eines vertikalen und horizontalen, vielfach gegliederten Systems von Interessenorganisationen warein kennzeichnendes Element der Wirtschaftsordnung des Kaiserreichs. Während inderZeit desweitestgehenden Wirtschaftsliberalismus der 50/60er Jahre nurKammern undInnungen eine indirekte staatliche Anerkennung fanden, behandelte der Staat seit der 80er Jahre auch die freien, rein privaten Verbände als legitime Sachwalter derWirtschaft; sie wurden zueinemwichtigen Bestandteil kollektiver Interessenvertretung. AuchinderLandwirtschaft entstand ein duales System mitdenLandwirtschaftskammern als öffentlichrechtliche Vertretungskörperschaften desgesamten landwirtschaftlichen Berufsstandes auf dereinen undprivaten Interessenorganisationen – mit demBund der Landwirte (1893) an der Spitze –auf der anderen Seite. Auch hier versuchten sich Staatsregierungen undReichsregierung mit Hilfe vonKammern alsstaatskorporatistische Organisationsformen zuentlasten und gleichzeitig die private Lobby zuunterlaufen. Marktordnung: Die Gewerbefreiheit wurde zumeinen durch das Gesetz über die Freizügigkeit vom 1.11.1867 gewährleistet, indem es jedem Bundes(Reichs)angehörigen das Recht derwirtschaftlichen Niederlassungsfreiheit, das Recht zumGrunderwerb unddasRecht zurgewerblichen Tätigkeit imganzen Bundes(Reichs)gebiet zusicherte. DieGewerbeordnung vom 21.6.1869 bestimmte dann nicht nur die Gewerbefreiheit für das ganze Bundes(Reichs)gebiet, sondern weitete sie gegenüber denmeisten bis dahin gültigen landesrechtlichen Regelungen noch aus. Sie bildete das „ Grundgesetz deswerdenden deutschen Industriestaates“.¦182¿ Allerdings wurde dieGewerbefreiheit im Bereich des Handwerks durch die Handwerksnovellen von 1881, 1897 und1908 bereits wieder eingeschränkt (siehe II.3.1.a). Daserstarkende Innungswesen mitteilweiser Zwangsmitgliedschaft, derkleine Befähigungsnachweis undderdamit verknüpfte Lehrzwang schlossen zwar potentielle Gewerbetreibende von der Errichtung undAusübung handwerklicher Betriebe nicht aus, sie wurden aber so sehr benachteiligt, dass sie fürdie Betriebe vonHandwerksmeistern keine ernsthafte Konkurrenz darstellten. Die Gewerbefreiheit schloss die Wettbewerbsfreiheit beim Erlass der Gewerbeordnung mitein, denndasRecht zurErrichtung undAusübung eines Gewerbebetriebes beinhaltet grundsätzlich auchdasRecht unddie reale Möglichkeit desMarktzugangs. Insofern bedeutete dieGewerbefreiheit eine insti181 Ullmann, Hans-Peter, Interessenverbände, S. 117 ff. 182 Huber, Ernst, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 979.
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II. Empirische
Entwicklungen
Derstaatlichen Gewährung der tutionelle Garantie derWettbewerbsordnung. „ Gewerbefreiheit war die Gewährleistung der Wettbewerbsfreiheit immanent“.¦183¿ DieMarktordnung desKaiserreichs wurde nicht nuramAnfang, sondern auch in denfolgenden Jahrzehnten durch denWettbewerb geprägt; der Wettbewerb blieb das dominante Ordnungsprinzip. Allerdings begann sich dieWirtschaft inzunehmendem Maßezuorganisieren. Kartelle undSyndikate höhlten in einigen Branchen durch Abmachungen über einheitliche Preise oder Geschäftsbedingungen, über die Aufteilung der Produktion oder des Absatzgebietes denWettbewerb aus. Selbständige Unternehmen fusionierten oderentwickelten sichdurch eigenes Wachstum zuGroßkonzernen. DasPhänomen der Kapitalkonzentration in seinen verschiedenen Ausprägungen gewannimVergleich zurvorangegangenen Epoche eine neue Qualität, so dass das Ordnungsprinzip derAbsprache dasdes Wettbewerbs in Teilen der Wirtschaft zuunterwandern begann.¦184¿ DemStreben, denWettbewerb auszuschalten, setzten Exekutive undLegislative kaumetwas entgegen. Diewettbewerbliche Marktordnung blieb somit ungeschützt. Mitseinen Urteilen räumte das Reichsgericht zudem die rechtlichen Bedenken gegen eine weitere Kartellierung aus; Kartellvereinbarungen waren seiner Meinung nach kein Verstoß gegen dieWettbewerbsfreiheit. Gewerbefreiheit undWettbewerbsfreiheit gerieten damit in ein Spannungsverhältnis.¦185¿ Die Auffassung, dass sich dieWettbewerbsfreiheit quasi automatisch aus derGewerbefreiheit ergebe, kamz.B. inderEntscheidung desReichsgerichts vom30.11.1880 zumAusdruck: Aufgrund derGewerbefreiheit sei imWettbewerb alles erlaubt, wasnicht durch einbesonderes Gesetz verboten werde. Als regelungsbedürftig angesehene Tatbestände mussten also in besonderen Gesetzen behandelt werden. Dasbetraf denBereich desgewerblichen Rechtsschutzes, d.h. zumeinen dasPatentwesen unddenMarken- undMusterschutz. Das Reichspatentgesetz vom25.5.1877 gewährte Patente fürneue Erfindungen, diegewerblich verwertbar waren, fürlängstens 15Jahre. DieNeufassung vom7.4.1891 stärkte vorallem die Rechte desPatentinhabers, derin derersten Fassung nureine schwache Position besessen hatte. 1877 wurde ein Patentamt errichtet. AuchMarken undMuster wurden durch einReihe vonGesetzen geschützt. Die lange Geschichte vomFabrikzeichenschutz zumMarkenrecht mündete 1874 indasMarkenschutzgesetz und1894 indasWarenbezeichnungsgesetz.¦186¿
183 Ebenda, S. 980. 184 Hentschel, Volker, Wirtschaft undWirtschaftspolitik imwilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus undInterventionsstaat, Stuttgart 1978, S. 99 ff. 185 Blaich, Fritz, Kartell- undMonopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973; Huber, Ernst, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 1105 ff.; Pohl, Hans (Hg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis undRechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zurGegenwart, Stuttgart 1985. 186 Wadle, Elmar, Fabrikzeichenschutz undMarkenrecht. Geschichte undGestalt desdeutschen Markenschutzes im 19.Jahrhundert, Berlin 1988.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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ZumWeiteren wurde dasVerhalten imWettbewerb imHinblick auf den Einsatz unlauterer Mittel durch ein Sondergesetz geregelt. Nach der EinführungderGewerbefreiheit wardieAufsicht durch dieKorporationen derHandwerker undKaufleute im älteren Gewerberecht weggefallen unddemMissbrauch derGewerbefreiheit durch vorsätzliche Täuschung damit kein Riegel mehr vorgeschoben. Dies änderte sich mitdemGesetz zurBekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom27.5.1896, das zunächst jedoch nur einzelne, besonders schwerwiegende Tatbestände unter Strafe stellte:¦187¿ z.B. irreführende oderunwahre Werbung, Herabsetzung derKonkurrenten, falsche Mengenangaben oder Verrat von Geschäftsgeheimnissen. Die Novelle vom 7.6.1909 enthielt dann eine Generalklausel, nach der auf Unterlassung und
Schadensersatz geklagt werden konnte, wennesimgeschäftlichen Verkehr zu Handlungen kam, die ganz allgemein gegen die guten Sitten verstießen. In sintflutartigen Entwickdieser Fassung wardasGesetz derAnstoß zueiner „ lung“von Rechtsstreitigkeiten.¦188¿ DerAußenhandel wurde nach derGründung desNorddeutschen Bundes zunächst weiter liberalisiert. Durch denneuen Tarif des Deutschen Zollvereins von 1868 beseitigte undermäßigte maneine ganze Reihe nochbestehenderZölle. Diese liberale Außenhandelspolitik änderte sich, als die deutsche Landwirtschaft in den 1870er Jahren zunehmend unter denDruck europäischer undaußereuropäischer Agrarproduzenten geriet. Mit der Reform der Zolltarife vom15.7.1879 wurde zwarnicht derÜbergang zueinem umfassenden Schutzzollsystem vollzogen, aber doch die bisherige Freihandelspolitik aufgegeben. DasOrdnungselement desProtektionismus kehrte nach derliberalen Phase in die Gestaltung der außenwirtschaftlichen Beziehungen zurück.¦189¿
Diebesondere staatliche Aufsicht einzelner Branchen warbegrenzt. Die ersten Regulierungsansätze imVerkehrs-, Banken- undVersicherungswesen undinderderEnergiewirtschaft blieben rudimentär. DieRegulierungsstruktur warsubsidiär angelegt, d.h., die Regulierungskompetenz lag bei denLändern, Landkreisen undGemeinden. Bei denEisenbahnen blieben dieRegulierungsgesetze derLänder in Kraft.¦190¿ Gleichwohl griff die Reichsverfassung (Art.41– 47) indasEisenbahnwesen ein, indem sie dieLänder zueinem koordinierten Ausbau undBetrieb ihrer Eisenbahnen verpflichtete. Das Reich erhielt die Aufsicht über dasTarifwesen, die durch dasGesetz vom27.6.1873 einem Reichseisenbahnamt übertragen wurde, dassich allerdings gegen die Eisenbahnverwaltungen derLänder kaumdurchsetzen konnte. Insofern blieb es letztlich bei derRegulierung durch die Landesaufsichtsbehörden imHin187 Hubmann, Heinrich, Gewerblicher Rechtsschutz, München 1974. 188 Steindorff, Ernst, Einführung indasWirtschaftsrecht derBundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1985, S.91. 189 Hentschel, Volker, Wirtschaft, S. 174 ff. 190 Ziegler, Eisenbahnen, S. 232 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
blick auf Konzession, Bau undBetrieb, Konditionen des Personen- undGüterverkehrs usw. Immerhin wurden einige „ Reglements“bezüglich Signalordnung, Bahnpolizei oderBetrieb vomBundesrat fürdasganze Reichsgebiet erlassen. Für Kleinbahnen galt –abgesehen von den reichsgesetzlichen Bestimmungen im Handelsgesetzbuch, im Haftpflichtgesetz oder in der Gewerbeordnung, denen auch die Eisenbahnen unterworfen waren –Landesrecht, das sichindeneinzelnen Bundesstaaten nicht einheitlich entwickelte.¦191¿ Dies hing einerseits damit zusammen, dass manche Staaten zwischen den verschiedenenTypen von Bahnen nicht unterschieden. Manche grenzten zwar NebenundKleinbahnen vondenHauptbahnen ab, sahen beide jedoch als EisenbahnenimSinne derReichsverfassung unddersonstigen Eisenbahngesetze an.In anderen fielen die Kleinbahnen gar nicht unter die Eisenbahngesetzgebung. VonBedeutung warandererseits diegrundsätzliche Stellung derStaaten zum Eisenbahnwesen in derVergangenheit. Dort, wodie staatlichen Eisenbahnen dominierten, engagierten sich dieRegierungen auch imlokalen Verkehr stärker als dort, woHaupt- undNebenlinien zueinem nicht unerheblichen Teil Privaten überlassen worden waren. am Preußen erließ –imVergleich zuanderen Bundesstaaten relativ spät– 28.7.1892 eineigenes „ Gesetz über Kleinbahnen undPrivatanschlußbahnen“ . DasGesetz hatte dasZiel, denBauvonKleinbahnen zufördern, weshalb es keinen Konzessionszwang wie bei den Vollbahnen vorsah, sondern nurein vereinfachtes polizeiliches Genehmigungsverfahren. In der Ausführungsanweisung wurde aufdenbesonderen Zweck desGesetzes hingewiesen, dasmit Rücksicht auf die verkehrsmäßige Bedeutung der Kleinbahnen „ die EinwirkungderOrgane desStaates bei derGenehmigung ..., sowie bei derAufsicht ... aufdasgeringste Maßdessen, wasfürdie Sicherung dervonihnen wahrzunehmenden öffentlichen Interessen notwendig ist, (beschränken) undden Unternehmen innerhalb derhiernach gezogenen Grenzen volle Bewegungsfreiheit“gewähren sollte. Die Regulierung sollte auf der Ebene derunteren Gebietskörperschaften erfolgen. Das Kleinbahngesetz war ein staatlicher Regulierungsansatz in milder Form –mild imHinblick aufdie nurindirekte Beteiligung zentralstaatlicher Behörden beim Konzessionsverfahren unddie inhaltlichen Bestimmungen. Letztlich konnte jeder, derbestimmte persönliche Kriterien erfüllte undsich mitdenöffentlichen oder privaten Eigentümern an Straßen undWegen bzw. Grund undBoden arrangierte, Klein- oder Straßenbahnen bauen undbetreiben. Injeder Form konnten sich die Eigentumsverhältnisse mischen. Grundsätzlich stand auch Konkurrenzstrecken nichts imWege. Grundsätzlich war 191 Ambrosius, Gerold, Zurück zudenAnfängen? Die institutionelle Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs bis zumZweiten Weltkrieg unter derPerspektive deraktuellen Regionalisierung, in: Püttner, Günter (Hg.), Derregionalisierte Nahverkehr, Baden-Baden 1997, S. 11 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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auch Wettbewerb zwischen verschiedenen Betreibergesellschaften auf dem gleichen Fahrweg möglich. Es wardie Intention desGesetzes, keinen starren Regulierungsrahmen zu schaffen, sondern den Kleinbahnbau dadurch anzuregen, sodassdie Initiatoren möglichst flexibel agieren undaufdiejeweiligen Verhältnisse reagieren konnten. Nachdem das Reichspostgesetz vom28.10.1871 die gewerbliche Personenbeförderung aufderStraße freigegeben hatte, wurde diese vonnunanvornehmlich durch dieReichspost undprivate wiekommunale Unternehmer bestritten. Der innerörtliche Straßenpersonenverkehr blieb nach der Reichsgewerbeordnung allerdings derGenehmigung durch dieörtlichen Behörden unterstellt. Der gewerbliche Überlandverkehr unterlag dagegen grundsätzlich keiner öffentlichen Regulierung. Allerdings waren in der Praxis –als Folge derdamaligen Rechtsprechung –auch fürihndieOrtspolizeibehörden zuständig,d.h., erwarebenfalls genehmigungspflichtig. Insgesamt blieb dergewerbliche Straßenpersonen- und-güterverkehr damit weitgehend unreguliert. Im internationalen Verkehr wurde sogar dereguliert. So fielen mit der Mannheimer Rheinschiffahrtsakte von 1868 die kapazitätsbeschränkenden Marktzugangsvorschriften weg. Administrative Hemmnisse im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr wurden ebenfalls beseitigt. 1879 wurde eine reichsgesetzliche Regulierung desVersicherungswesens angekündigt, die die landesrechtlichen Bestimmungen ablösen sollte. Begründet wurde die angestrebte staatliche Aufsicht mit derFürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern. Sie sollten vorunseriösen Geschäftspraktiken geschützt werden. Das Reichsgesetz über die privaten Versicherungsunternehmen wurde dann allerdings erst am 12.5.1901 erlassen. Private Versicherungen unterlagen vonnunanderKonzessionspflicht unddertariflichen Aufsicht. Alsoberste Reichsbehörde wurde einKaiserliches Aufsichtsamt fürPrivatversicherung geschaffen, dessen Kontrolle sich aufalle wichtigen Aspekte derGeschäftstätigkeit erstreckte. Bereits 1902 wurden z.B. genaue Vorschriftenfürdie Rechnungslegung erlassen. ImKreditgewerbe unterwarf dasReichshypothekengesetz vom13.7.1899 die Hypothekenbanken, die nurin der Rechtsform derAktiengesellschaft oder derKommanditgesellschaft aufAktien zulässig waren, derKonzessionspflicht mit vorheriger Bedürfnisprüfung undder laufenden Beaufsichtigung durch Landesbehörden. DasGesetz begrenzte diegeschäftlichen Möglichkeiten durch Beleihungsgrenzen undDeckungsregeln. Die Pfandbriefinhaber sollten weitgehenden Schutz genießen, u.a.durch staatlich bestellte Treuhänder, diederen Interessen wahrzunehmen hatten. Konkurse miterheblichen Verlusten konntendennoch nicht verhindert werden. Deregulierende Wirkungen hatte demgegenüber das Scheckgesetz vom 11.3.1908 fürdie Sparkassen. Sie konnten vonnunanGirokonten führen undsichamKontokorrentgeschäft beteiligen.¦192¿ 1914, Frankfurt a. M. 192 Ashauer, Günter (Hg.), Deutsche Bankengeschichte, Bd. 2: 1806– 1982.
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II. Empirische Entwicklungen
Eine Deregulierung fand auch im Bergbau statt. Mit demAllgemeinen Berggesetz fürdie Preußischen Staaten vom 1.10.1865 wurde endgültig das Direktionsprinzip aufgehoben.¦193¿ Das Gesetz beschränkte die Aufgaben der Bergbehörden auf die Aufsicht, d.h. auf hoheitliche Aufgaben, und entließ denBergwerkseigentümer in die unternehmerische Freiheit. Bis 1910 wurde es mitmehroder weniger großen Abweichungen vonpraktisch allen Bundesstaaten übernommen. Die mit derBergbaufreiheit entstehende Monopolstellung einzelner Zechen undSyndikate veranlasste denStaat allerdings zuBeginn des neuen Jahrhunderts, die unternehmerische Freiheit erneut einzuschränken. In Preußen wurde durch die Berggesetznovelle vom5.7.1905 bei Kohle undKali eine Mutungssperre undmitdemGesetz vom 18.6.1907 ein unechter Staatsvorbehalt eingeführt, so dass nurnoch derStaat selbst Bergwerkeigentum erlangen konnte, wenner dasRecht nicht Dritten überließ. Auch diese Wende zurReregulierung machten die meisten Bundesstaaten mit. Ein weiteres Beispiel für Deregulierung waren die bis dahin üblichen Preisbindungen, vorallem bei Grundnahrungsmitteln. Sie wurden durch § 72 der Reichsgewerbeordnung von 1871 aufgehoben. Die Ortspolizeibehörden mussten sie spätestens innerhalb eines Jahres beseitigen. Ausnahmen gab es fürbestimmte Gewerbe, denen eine monopolähnliche Stellung eigen oder zu denen derZugang beschränkt war. Auf demArbeitsmarkt wurde nach 1860 das Koalitionsverbot zunächst durch Landesgesetze, dann allgemein durch § 152 derGewerbeordnung von 1869 aufgehoben. Manreagierte damit aufdiesich trotz desVerbots entwikkelnde Arbeiter- undGewerkschaftsbewegung. Gewerbefreiheit undKoalitionsfreiheit galten nicht länger als unvereinbar; es setzte sich vielmehr die Auffassung durch, dass sie sich entsprachen. Arbeiter durften sich vereinigen undstreiken, umgemeinsam für günstigere Lohn- undArbeitsbedingungen , nicht aberein zukämpfen. Allerdings wurde ihnen nurdie„formale Freiheit“ wirksames Recht“zurKoalition gewährt.¦194¿ Ein solches Recht hätte bedeu„ tet, dass der Gebrauch der Koalitionsfreiheit undder sich aus den Arbeitskämpfen ergebende Erfolg für die Arbeiterschaft staatlich geschützt worden wäre. Dies waraber nicht derFall. Kollektive Abmachungen zwischen Unternehmern undArbeitern begründeten kein rechtskräftiges Vertragsverhältnis. Individuelle Arbeitsverträge konnten die abgeschlossenen Tarifverträge weiterhin unterlaufen. Vorallem aberverbot § 153unter Androhung vonGefängnisschon denVersuch, andere dazuzubringen, anKoalitionen –inderPraxis Streiks –teilzunehmen oder davon abzuhalten, vonKoalitionen zurückzutreten. Soreduzierte sichdieReform derGewerbeordnung indiesem Punkt letzt193 Kroker, Evelyn, Bergverwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: DasDeutsche Reich bis zumEndederMonarchie, Stuttgart 1984, S. 514 ff. 194 Hentschel, Volker, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880–1980, Frankfurt a. M. 1983, S. 31 f.
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lich darauf, das Koalitionsverbot auf dem Arbeitsmarkt abzuschaffen, um gleichzeitig Koalitionen zuverhindern. DieAusbreitung vonTarifverträgen konnte dennoch nicht verhindert werden.¦195¿ Mitdem‚Nationalen Buchdruckertarif‘ von 1873 kamdererste überregionale Tarifvertrag zustande; weitere Verträge folgten. Nach einer Phase derStagnation nahm ihre Zahl dann ab derJahrhundertwende rasch zu. Ihre Ausbreitung blieb dennoch begrenzt, daes sich meist umBetriebsverträge in Wirtschaftszweigen mit kleingewerblichen Strukturen handelte. Rechtlich abgesichert wurde der Tarifvertrag mit demUrteil des Reichsgerichts vom 20.1.1910, das Tarifverträge wie alle privatrechtlichen Verträge nach dem BGB für schuldrechtlich einklagbar erklärte. Der kollektive Arbeitsvertrag wurde damit als Rechtsgut anerkannt undals Ordnungsprinzip des Arbeitsmarktes verankert. Gleichzeitig gestand mandenGewerkschaften endgültig das Recht zu, im Namen derArbeiterschaft gleichberechtigt mitdenArbeitgebern zuverhandeln. Arbeitgeber undRegierung brauchten nocheinige Jahre,umdiese Tatsache zuakzeptieren. Unter staatsrechtlicher Perspektive wird die Durchsetzung des kollektiven Arbeitsvertrages folgendermaßen beurSolange nur Koalitionsfreiheit undArbeitskampffreiheit bestehen, teilt:¦196¿ „ ist die industrielle Arbeitsverfassung noch nicht in dasstaatliche Ganze integriert. Erst mitderDurchsetzung desTarifvertrages wird die soziale Gestaltungsmacht der Berufsverbände zur rechtlichen Regelungsmacht unddamit zueinem Moment derStaatlichkeit. Indiesem Sinn hatsich mitdemSieg des Tarifvertragswesens zwischen 1900 und 1914 die Fortbildung des bürgerlichen Verfassungsstaates zummodernen Sozialstaat anderkritischen Durchbruchsstelle vollzogen.“ Geld- undWährungsordnung: NachArt.4 derVerfassung desNorddeutschen Bundes von 1867 bzw. der Reichsverfassung von 1871 unterlag der „ Beaufsichtigung Seitens desReichs undderGesetzgebung desselben ... 3) dieOrdnung desMaaß-, Münz- undGewichtssystems, nebst Feststellung der Grundsätze überdieEmission vonfundirtem undunfundirtem Papiergelde; 4) dieallgemeinen Bestimmungen über dasBankwesen...“ . Durch Gesetz vom 16.6.1870 hatte der Norddeutsche Bund seinen Mitgliedstaaten bereits die weitere Ausgabe von Papiergeld verboten. Mit verschiedenen Gesetzen im Zeitraum 1870/75 wurde dann eine Goldumlaufwährung eingeführt unddamiteine einheitliche Geldordnung fürdasgesamte Deutsche Reich geschaffen(siehe II.3.2.a). Die neue Geldeinheit hieß Mark undwurde miteiner festenGoldparität vonO,3584g Feingold versehen. Goldmünzen waren imVerkehr; Silber- undKupfermünzen liefen weiter um.Die vonder Reichsbank ausgegebenen Banknoten mussten zueinem Drittel inGoldundzuzwei Drit195 Ullmann, Hans-Peter, Tarifverträge undTarifpolitik in Deutschland bis 1914. Entstehung undEntwicklung, interessenpolitische Bedingungen undBedeutung desTarifwesens fürdie sozialistischen Gewerkschaften, Frankfurt a. M. 1977. 196 Huber, Ernst, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 1256.
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II. Empirische Entwicklungen
teln inHandelswechseln gedeckt sein. Erst 1910 wurden dieReichsbanknoten gesetzliches Zahlungsmittel, d.h., ein Gläubiger konnte die Annahme nicht mehr verweigern undGoldmünzen verlangen. DieWechselkurse gegenüber anderen Währungen bewegten sich frei. Da aber diewichtigsten Länder amEnde des 19.Jahrhunderts ebenfalls zurGoldwährung übergingen, d.h. ihrGeld in ein festes Verhältnis zumGold brachten, waren auchdieWährungen untereinander über dasGoldengverbunden. Die Schwankungsbreiten auf den Devisenmärkten waren daher äußerst begrenzt. Sobald die Paritäten densog. Goldexport- oder Goldimportpunkt überschritten, lohnte es sich, daseigene Geld inGoldumzutauschen, dies ins Ausland zu transportieren unddann wiederum in die dort herrschende Währung
zukonvertieren.
Mit dem Reichsbankgesetz vom 14.3.1875 wurde die Deutsche Reichsbank durch Umwandlung der Preußischen Bank gegründet. Nach § 12 des
Bankgesetzes sollte sie „unter derAufsicht undLeitung des Reiches“stehen, d.h., sie warvonderReichsregierung nicht nurabhängig, sondern wurde vom Reichkanzler direkt geleitet. Dennoch warsie keine reine Staatsbank, sondern eine kapitalisierte öffentliche Anstalt mitprivaten Anteilseignern, die mitöffentlichrechtlichen Kompetenzen ausgestattet undzu öffentlichrechtlichen Zwecken betrieben wurde. Sie hatte die Aufgabe, die Wirtschaft ausreichend mitGeld zuversorgen undgleichzeitig die Preisstabilität zusichern, die Einlösung ihrer Banknoten gegen Gold zugewährleisten, denaußenwirtschaftlichen Zahlungsverkehr abzuwickeln undals Hausbank desReiches zudienen. Sie verfügte überdasInstrument derDiskontpolitik undallenfalls inAnsätzen über das der Offenmarktpolitik. Finanzordnung: Die Reichsverfassung von 1871 (Art.70) ließ die einzelstaatliche Finanzhoheit im Wesentlichen unangetastet. Die direkten Steuern verblieben bei den Staaten, die meisten indirekten Verbrauchssteuern, die Verkehrssteuern unddie Zölle erhielt das Reich.¦197¿ Die wichtigsten direkten Steuern waren die Einkommen-, die Ertrag- unddie Erbschaftsteuer, wobei einige Staaten bis zumEnde desKaiserreichs keine allgemeine Einkommensteuer kannten. Die wichtigsten indirekten Steuern waren die auf Salz, Zukker, Bier, Branntwein, Tabak undSpielkarten. Andiesem System änderte sich während des Kaiserreichs grundsätzlich nichts. Das Reich trat insofern als ‚Kostgänger‘ der Bundesstaaten auf –so ein Ausdruck der damaligen Zeit –, als diese im Falle des Defizits des Reichshaushalts sogenannte ‚Matrikularbeiträge‘zahlen mussten. Immerhin stieg derAnteil desReiches andenGesamteinnahmen aller Gebietskörperschaften kontinuierlich an. 1885 machten die Einnahmeanteile von Reich, Ländern undGemeinden 17,5%, 57,1 und 25,4% aus, 1913 30,0%, 30,6 und39,4%. Insgesamt drückt sich in diesen 197 Henning, Friedrich-Wilhelm, Handbuch der Wirtschafts- undSozialgeschichte, Bd. 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996, S. 1080 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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Zahlen aberderstark föderative Charakter desSteuer- bzw.Einnahmensystems des Kaiserreichs aus. Die Struktur derEinnahmen derEinzelstaaten änderte sich imLaufe der Zeit erheblich.¦198¿ Die ausdendirekten Steuern wurden bald wichtiger als die ausdenindirekten. Gleichzeitig ging derAnteil derObjektsteuern zugunsten der Subjektsteuern zurück. Ein wichtiger finanzpolitischer Tatbestand war außerdem der hohe Anteil der Erwerbseinkünfte an den Gesamteinnahmen der Einzelstaaten undKommunen. Bei denStaaten waren es vor allem die Eisenbahnen, die gute Gewinne erwirtschafteten, bei denKommunen die expandierenden Versorgungsbetriebe. Was die Finanzverwaltung anbelangt, so waren die Steuergesetzgebung unddieFinanzverwaltung zwischen demReich unddenBundesstaaten aufgeteilt.¦199¿ Obwohl nach derReichsverfassung die Gesetzgebungskompetenz für dieZölle undbestimmte Verbrauchssteuern –Salz, Tabak, Branntwein, Bier undZucker –demReich zustand, lagderen Verwaltung beidenEinzelstaaten. Allerdings überwachten Reichsbeamte dieEinhaltung derreichsgesetzlichen Vorschriften. Auch die Verwaltungsvorschriften über das Erhebungsverfahren undüber die Behördenorganisation waren für alle Gliedstaaten einheitlich. FürZölle undVerbrauchssteuern gabes somit eine gemeinsame Finanzgesetzgebung, aber keine einheitliche Finanzverwaltung undFinanzgerichtsbarkeit. Als eigenständige Reichsfinanzverwaltung wurde 1879 das Reichsschatzamt errichtet –eine im Vergleich zu heute winzige Behörde mit zunächst 45 undamEndedesErsten Weltkrieges 145Beamten. Daneben gabes eine Reichsschuldenkommission undeinen Reichsrechnungshof. Vondiesen Ausnahmen abgesehen befanden sich die Finanzverwaltungen indenHänden der Bundesstaaten, wobei sie im Hinblick auf die Organisation dereigenen Einnahmen recht unterschiedlich organisiert waren. AmAblauf der staatlichen Haushaltswirtschaft auf der Grundlage der Haushaltsordnungen undderjährlichen Haushaltsgesetze änderte sich gegenüber derZeit vor 1871 nichts Grundsätzliches. Es sei daher aufdenvorangegangenen Abschnitt über die Wirtschaftsordnung in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwiesen. Insgesamt spiegelte die Wirtschafts- undSozialordnung des Kaiserreichs denÜbergang vonderliberalen Ärades 19. zurinterventionistischen des20. Jahrhunderts wider. Es warzwareine ausgesprochen liberale Ordnung, indie aber imLaufe derZeit immer mehr interventionistische Elemente eingebaut wurden: Der Staat verstärkte seine wirtschafts- undsozialpolitische Steuerung undRegulierung derWirtschaft, die Unternehmenskonzentration führte in bestimmten Bereichen zu einer privatadministrativen Lenkung ehemals 198 Jüngling, Michael, Staatseinnahmen, S. 161ff. 199 Hettlage, Karl M., Die Finanzverwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: DasReich als Republik undinderZeit desNationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 250 ff.
II. Empirische Entwicklungen
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wettbewerblicher Märkte. Esentstand eine Ordnung, diemanals ‚OrganisiertenKapitalismus‘bezeichnen kann.¦200¿Sie wurde gleichzeitig durch überkommene Traditionen undmodernisierende Veränderungen geprägt. Sie privilegierte ebenso agrarische Interessen wie sie industriellen Interessen entgegen kam. Letztlich spiegelt sich inihrdaswirtschaftliche Entwicklungsniveau einesLandes wider, dasdieFrühphase kapitalistischer Industrialisierung hinter sich hatte undnunden Übergang zur Reife vollzog. In der Auseinandersetzung umdenzukünftigen Wegdes Deutschen Reiches vom‚Agrarstaat‘zum ‚Industriestaat‘warsienicht einseitig aufeine Option festgelegt. Sie verschloss sichdurchaus nicht zukünftigen Entwicklungen, brach aberauchnicht radikal mitderVergangenheit. Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik 1918 –1932
Schon dienormative Wirtschaftsverfassung stellte, wiedargelegt, keine Kondar(II.3.1.b). Sie spiegelte vielmehr dieextrem diauseinem Guß“ zeption „ vergierenden politischen Kräfte wider, die nach derRevolution die zukünftigenVerhältnisse gestalten wollten undderen Auseinandersetzungen denVerfassungsentwurf prägten: Auseinandersetzungen zwischen konservativen, liberalen undsozialistischen Parteien, zwischen Parlament undRegierung, Ländern undReich, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden undanderen Interessengruppen, einzelnen Personen etc. Aber nicht nurdie normative Wirtschaftsverfassung bzw.-ordnung, sondern auchdiereale, diedurch diepräjudizierenden Regelungen der unmittelbaren Nachkriegszeit bestimmt wurde unddurch diegesetzliche Ausfüllung dereinzelnen Verfassungsartikel inden folgenden Jahren unddurch denWandel verschiedener Institutionen bis zum EndederWeimarer Republik, istzufriedenstellend nurdannzuerklären, wenn derwirtschaftliche, soziale undpolitische Hintergrund indieBetrachtung einbezogen wird. Dies kann, wieschon inAbschnitten zuvor, imFolgenden nicht geschehen.¦201¿
Produktionsordnung: Andergrundlegenden Struktur derProduktionsordnung änderte sich –je nach Erwartung und Perspektive –zugleich wenig und viel. DasPrivateigentum, einschließlich desErbrechtes, blieb erhalten, allerdings wurde es durch die Verfassung einer abstrakten Bindung an das Gemeinwohl unterworfen. Außerdem ließ die Verfassung Enteignungen zu.Die konkreten Sozialisierungsgesetze, die 1919 erlassen wurden, beschränkten sich allerdings auf die Kohle- undKaliwirtschaft. Es wurden außerdem keine öffentlichen Unternehmen geschaffen, sondern lediglich öffentliche Körperschaften, die als Zwangssyndikate die weiterhin privaten Erzeuger undVer-
200 Winkler, Heinrich August (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen undAnfänge, Göttingen 1974. Dieter, Die deutsche Wirtschaft in derZwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977; 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Winkler, Heinrich August, Weimar 1918– Demokratie, München 1993.
201 Petzina,
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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teiler zusammenfassten undunter staatliche Aufsicht stellten. Die Idee einer wirklichen Sozialisierung scheiterte. Obwohl die Wirtschaft in den 1920er Jahren eine Kampagne gegen die ‚kalte Sozialisierung‘ startete, womit der Ausbau vorallem derkommunalen Unternehmen gemeint war, änderte sich das Verhältnis vonöffentlicher undprivater Wirtschaft nachdemErsten Weltkrieg nicht mehr grundsätzlich.¦202¿ Dieinnerbetrieblichen Strukturen wurden vompolitisch-sozialen Wandel stärker berührt. DieVerfassung bestimmte denAufbau vonBetriebsräten und derReichstag erließ 1920 dasentsprechende Gesetz. EssahfürBetriebe von5 bis 19 Beschäftigten einen Betriebsobmann undab20 einen Betriebsrat vor; außerdem konnten Betriebsräte als vollberechtigte Mitglieder indieAufsichtsräte vonKapitalgesellschaften entsandt werden. Gleich in § 1 desBetriebsräWahrnehmung ... desgemeinsamen wirttegesetz wurde derBetriebsrat zur„ schaftlichen Interesses derArbeitnehmer ... demArbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitsgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke“ verpflichtet. Es sollte also keine Mitbestimmung bei derwirtschaftlichen Unternehmensführung geschaffen werden, sondern lediglich eine Mitwirkung bei sozialen Belangen. Statt eines wirtschaftsdemokratischen Eingriffs indie Betriebsverfassung kames zueiner sozialreformerischen Korrektur bestimmter Betriebsabläufe. ImÜbrigen wurde dasGesetz in derPraxis nurin größeren Unternehmen durchgesetzt, daderstaatliche Druck, es voll zurealisieren, sehr bald nachließ unddie Rechtsprechung derneugeschaffenen Arbeitsgerichte eher bremsend als fördernd wirkte.¦203¿ Auch die Organisation derwirtschaftlichen Selbstverwaltung wurde neu gestaltet. Art.165 Weimarer Verfassung sahnicht nurBetriebsräte, sondern auch Bezirksarbeiterräte undeinen Reichswirtschaftsrat vor, wobei in letzteren „alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung“vertreten seinsollten. Diese Räte waren alsDiskussionsforen gedacht, die die Regierung bei der Gesetzgebung beraten undselbst Gesetzesvorlagen einbringen konnten. Bis aufdieBetriebsräte wurde Art.165 nicht umgesetzt, so dass das korporative Ordnungselement, das sich darin widerspiegelte, fürdieWeimarer Wirtschaftsordnung keine Bedeutung erlangte. Es wurde lediglich ein Vorläufiger Reichswirtschaftsrat eingerichtet, der denStatus derVorläufigkeit bis zuseiner Auflösung 1934 behielt. Dagegen blieb das traditionelle System der Handels- undHandwerkskammern erhalten.¦204¿
202 Ambrosius, Gerold, Dieöffentliche Wirtschaft inderWeimarer Republik. Kommunale Versorgungsunternehmen als Instrumente derWirtschaftspolitik, Baden-Baden 1984. 203 Plumpe, Werner, Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zumRuhrbergbau undzurchemischen Industrie, München 1999. 204 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, Bd. 4, S. 66 ff.; Feldman, Gerald D., Derdeutsche organisierte Kapitalismus während derKriegs- undInflationsjahre, in: Winkler, Heinrich August (Hg.), Organisierter Kapitalismus undAnfänge, Göttingen 1974, S. 150 ff.
126
II. Empirische
Entwicklungen
Marktordnung: Nach der Verfassung wardie Weimarer Wirtschaftsordnung eine liberale Marktwirtschaft. Die Gewerbeordnung von 1869 blieb gültig unddamit auch die Gewerbefreiheit, die Unternehmensfreiheit unddie Vertragsfreiheit (Art. 151 und 152). Der Wettbewerb stellte das konstitutive Prinzip derMarktordnung dar. Allerdings setzte sich der Konzentrationsprozess imundnach demKrieg nicht nurfort, sondern beschleunigte sich sogar. Absprachen zwischen Unternehmen in Form vonKartellen undSyndikaten, Fusionen vonUnternehmen undeigenständiges Konzernwachstum unterhöhltendasWettbewerbsprinzip immer stärker. Ein wirtschaftspolitisches Instrument zurVerteidigung desWettbewerbs wurde auch inderWeimarer Republik nicht geschaffen. Mit der Kartellverordnung vom2.11.1923 machte die Regierung zwar einen zaghaften Anfang, allerdings enthielt die Verordnung keingenerelles Kartellverbot, sondern nureine staatliche Missbrauchsaufsicht; es sollten nurdann Maßnahmen ergriffen werden, wenneinMissbrauch wirtschaftlicher Macht drohte. InderPraxis blieb ihre Wirkung begrenzt. Immerhin wurde das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb weiter ausgebaut. Im Vergleich zudiesen wettbewerbsschützenden waren die wettbewerbsschwächenden Aktivitäten desStaates deutlich ausgeprägter. Es entstanden, wieerwähnt, zwei staatlich initiierte Lenkungskartelle in derKohle- undKaliwirtschaft, außerdem Krisen- bzw. Stützungskartelle in derZündwaren-, Mais-, Zucker- undMilchwirtschaft undinderBinnenschifffahrt. DieimKrieg stark soweit sie überhaupt imWettbeausgeweitete öffentliche Wirtschaft agierte – werb stand –alles andere als wettbewerbsfördernd. Die Arbeitsmarktbeziehungen veränderten sich tiefgreifend.¦205¿ ImHilfsdienstgesetz vomDezember 1916 waren dieGewerkschaften erstmals als legale Interessenorganisationen anerkannt worden. Die im§ 152derGewerbeordnung des Kaiserreichs nur formal anerkannte Koalitionsfreiheit wurde durch Art.159 der Weimarer Reichsverfassung endgültig zueinem staatlich geschützten Recht und§ 153 ausderGewerbeordnung gestrichen (siehe vorangegangener Abschnitt). Art.165 erkannte die Organisationen von Arbeitnehmern und-gebern ausdrücklich an. Schließlich sahdie Tarifverordnung vom23.10.1918 eine staatlich legitimierte undgeschützte, letztlich aberautonome undpartnerschaftliche Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch Gewerkschaften undArbeitgeberverbände vor. Sie bestätigte denkollektiven Tarifvertrag als zentrales Ordnungsprinzip mit Rechtsqualität undstellte seine Unabdingbarkeit nach unten fest, d.h., individuelle Arbeitsverträge durften nurnoch dann vondentariflichen Vereinbarungen abweichen, wennderArbeitnehmer besser gestellt wurde. DerStaat unterstrich dieBedeutung derautonomen Tarifverträge auch dadurch, dass er einerseits bereit war, sie auf
205 Bähr, Johannes W., Staatliche Schlichtung inderWeimarer Republik. Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation undDeflation, Berlin 1989; Hartwich, Hans-Hermann (Hg.), Arbeitsmarkt, Verbände undStaat. Dieöffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen inderWeimarer Republik, Berlin 1967.
3. Kapitel:
Wirtschaftsordnung
127
Antrag durch amtliches Recht fürallgemeinverbindlich zuerklären, andererseits aber auf das Recht verzichtete, eigene Vorstellungen in den Tarifverhandlungen durchzusetzen. Es kennzeichnet die Realität des Wirtschaftssystems derWeimarer Republik, dass sehr balddieFähigkeit zumKompromiss zwischen Gewerkschaften undArbeitgeberverbänden abnahm, undderStaat mitdemMittel derZwangsschlichtung, dieaufgrund einer Schlichtungsverordnung vom30.10.1923 möglich wurde, immer stärker indie Tarifverhandlungen eingriff. Die Tarifautonomie als ein zentrales Ordnungsprinzip des Arbeitsmarktes verlor ihre Funktionsfähigkeit undwurde durch dasneue Ordnungsprinzip derZwangsschlichtung inderzweiten Hälfte der20er Jahre ergänzt. Dies isteinweiteres Beispiel dafür, dassOrdnungsnorm undOrdnungswirklichkeit auseinander klafften, dass sich die Ordnungselemente in kurzer
Zeit veränderten. Geld- undWährungsordnung: Eine neue Geld- undWährungsordnung entstand erst mitundnach derWährungsreform von 1923/24 (siehe II.3.2.a). ImGrunde wollte manzuralten Goldwährung derVorkriegszeit zurückkehren, verzichtete aber aufentscheidende Ordnungselemente: ImGegensatz zur Zeit vor 1914 bestand keine Goldeintauschpflicht der Reichsbank mehr. Es handelte sich auch nicht umeine Goldumlaufwährung; Goldmünzen wurden
ausdemVerkehr gezogen. Die ausgegebenen Reichsbanknoten mussten zu 40%mitGoldundDevisen gedeckt werden. Geldbesaß somit keinen Warencharakter mehr; es handelte sich vonjetzt abumeine Kaufkraftwährung. Dadie Reichsbank Mitte der20er Jahre über genügend Gold- undDevisenvorräte verfügte, wardie Konvertierbarkeit der Reichsmark, die in einer festen Relation zumGold stand, bei freien Wechselkursen gesichert.¦206¿ Dieserrevidierte Golddevisenstandard existierte allerdings nurwenige Jahre; bereits 1931 brach er zusammen; Devisenbewirtschaftung löste die freie Konvertibilität abunddieMindestnotendeckung inGoldundDevisen konnte nicht
aufrechterhalten werden. Nachdem die Reichsbank bereits mitdemGesetz vom26.5.1922 gegenüber der Reichsregierung an Selbständigkeit gewonnen hatte –die oberste Leitung der Reichsbank lag nicht mehr beim Reichskanzler, sondern beim , erhielt sie mitdemBankgesetz vom30.8.1924 die Reichsbankdirektorium – volle Autonomie.¦207¿ Allerdings ernannte ein international besetzter GeneralratdenReichsbankpräsidenten unddieDirektoriumsmitglieder undberief sie gegebenenfalls auchab. Die Rechtskonstruktion derReichsbank änderte sich nicht; sie blieb eine Persönlichkeit des öffentliches Rechts mit privaten Anteilseignern. Ihre Aufgaben waren weiterhin die Regelung des Geldumlaufs, die Erleichterung des Zahlungsverkehrs und die Förderung der Wirtschaft
206 Hardach, Gerd, Weltmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in 1931, Berlin 1976. Deutschland 1914– 1918, in: Jeserich, Kurt G. A., Deutsche Ver207 Hettlage, Karl M., Die Reichsbank 1876– waltungsgeschichte, Bd. 4, S. 201 ff.
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II. Empirische Entwicklungen
durch entsprechende Kreditpolitik. Fürdie Stabilität derneuen Währung war besonders wichtig, dassdieVergabe vonKrediten andieReichsregierung stark eingeschränkt wurde. Finanzordnung: Art.8 derVerfassung hatte demReich „ dieGesetzgebung über die Abgaben undsonstigen Einnahmen, soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in Anspruch genommen“wurden, zugestanden.¦208¿ Die Reform von 1919/20 modernisierte dann das gesamte Finanzsystem. Wichtige Steuern wiedieEinkommen-, Körperschaft- oder Umsatzsteuer erhielten ihre auch heute noch gültige Gestalt. Zugleich wurden sie zu sogenannten Überweisungssteuern erklärt –in der heutigen Terminologie Gemeinschaftssteu, d.h., sie flossen denGebietskörperschaften gemeinsam zuundmussten ern– nacheinem auszuhandelnden Schlüssel verteilt werden. Außerdem nutzte das Reich seine Gesetzgebungskompetenz dazu, mit der Umsatz-, Erbschaft-, Grunderwerb-, Kraftfahrzeug- undRennwettsteuer weitere Überweisungssteuern einzuführen undauf diese Weise seinen Anteil an denSteuereinnahmen zuerhöhen. MitderKonzentration derwichtigsten Steuern beimReich wurde das alte Trennsystem, das denGebietskörperschaften verschiedene Steuern zugewiesen hatte, beseitigt undein Steuerverbund undFinanzausgleich geschaffen (Landessteuergesetz vom30.3.1920). Die Beseitigung derFinanzhoheit derLänder warmitdemAufbau einer zentralen Reichsfinanzverwaltung miteiner dreistufigen Behördenorganisation verbunden (Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung vom 10.9.1919; Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919). Die Verwaltung von Zöllen und Verbrauchssteuern wurde demReich durch Art.83 Abs.1derVerfassung übertragen. Die Zentralisierung in derpolitischen Verfassung spiegelte sich also auch in derFinanzordnung wider.¦209¿ Das Haushaltsrecht wurde entsprechend denAnsprüchen demokratischparlamentarischer Willensbildungs- undEntscheidungsprozesse modernisiert unddie Finanzkontrolle unddie Rechnungsprüfung ausgebaut (Reichshaushaltsordnung vom 14.12.1922). Noch vor Ende des Krieges war mit dem Reichsfinanzhof eine eigenständige Finanzgerichtsbarkeit geschaffen worden (Gesetz über die Errichtung desReichsfinanzhofes vom26.7.1918). Die Abgabenordnung bedeutete zugleich denBeginn eines gesonderten Steuerrechts. Das Reich zogdamit auch in derRechtsprechung die Kompetenzen an sich. Insgesamt wardie Wirtschaftsordnung derWeimarer Republik durch politischen Kompromiss undhistorischen Übergang gekennzeichnet. Zweifellos brachte dieZeit nach demErsten Weltkrieg einen Modernisierungsschub. Die Arbeitsmarktordnung wurde aufeine neue Grundlage gestellt, die Finanzordnung den Strukturen eines demokratischen Rechtsstaates auf föderativer Grundlage mit starker Zentralregierung angepasst. Die Eigentumsordnung wurde stärker an sozialen Grundsätzen orientiert unddie Betriebsordnung in 208 Hentschel, Volker, Steuersystem, S. 256 ff. 209 Hettlage, Karl M., Die Finanzverwaltung, Bd. 4, S. 177 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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ersten Ansätzen einer Mitwirkung derArbeitnehmer geöffnet. Im Vergleich zumKaiserreich bedeuteten diese Veränderungen zwareinen gewissen, aber keinen tiefgreifenden Wandel derOrdnungsstrukturen. Auch bei derMarktordnung wollte mannicht zudenVerhältnissen derZeit vor 1914 zurückkehren, konnte sich aber auch nicht zueinem wirksamen Schutz der bedrohten Wettbewerbsordnung entschließen. BeiderGeld- undWährungsordnung sollte dagegen die Vorkriegskonstruktion übernommen werden, wasallerdings nicht vollständig gelang. Teilweise stand hinter den Veränderungen ein bewusst gestaltender Wille, wobei ein Konsens angesichts derextrem divergierenden Kräfte kaum zuerreichen war; teilweise legalisierte manauch nurdie neue soziale undökonomische Realität. Im Übrigen veränderte sich selbst in der kurzen Epoche derWeimarer Republik dieWirtschaftsordnung zwarnicht in ihrer Grundstruktur, aber doch in Teilbereichen. Die Weimarer Wirtschaftsordnung steht somit fürdenÜbergang vomspätliberalen System desletzten Drittels des 19.Jahrhunderts zuminterventionistischen derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wirtschaftsordnung
dernationalsozialistischen Diktatur 1933 –1939
Fast noch schwieriger als bei anderen Wirtschaftssystemen ist es, die Wirtschaftsordnung dernationalsozialistischen Diktatur zubestimmen. Einerseits waren es –lässt mandie Besonderheiten der Kriegsjahre außer Acht –nur sieben oder acht Jahre, in denen sich eine andere, neue Wirtschaftsordnung herausbilden konnte. Viele Veränderungen mussten
inAnsätzen stecken blei-
ben, zumal eine spezifisch nationalsozialistische Wirtschaftslehre allenfalls in rudimentärer Form vorhanden war; ein geschlossenes ordnungspolitisches
Konzept gabesjedenfalls nicht. Dieordnungsverändernden Eingriffe erfolgtenmeist punktuell je nach Bedarf undOpportunität. Zugleich besaß dieAufrüstung gegenüber einem grundlegenden Wandel derOrdnung absolute Priorität. Diemeisten derergriffenen Maßnahmen hatten insofern eherprozesspolitischen Charakter, obwohl sie gleichzeitig die Ordnung veränderten. Andererseits ging die neue Reichsregierung sofort nach derMachtübernahme Anfang 1933 mitenormer Dynamik daran, deninstitutionell-politischen Rahmen zuverändern. Dabei kamvieles überdasStadium derVorläufigkeit nicht hinaus undwar 1939 bei Kriegsausbruch noch im Fluss, so dass zwar dasordnungsverändernde Gesetz, die wirtschaftsverfassungsrechtliche Normbereits bestand, dieUmsetzung aber noch nicht vollzogen worden war. Tatsache war aber, dass dievielen verschiedenen Eingriffe indasmarktwirtschaftliche System, die vor allem dazu dienten, die Aufrüstung in Gang zu setzen, in bestimmte Bahnen zu lenken undin verschiedener Hinsicht abzusichern, am Ende der 30er Jahre eine andere Wirtschaftsordnung geschaffen hatten. Die Frage, obes sich dabei umdauerhafte Elemente einer neuen, spezifisch natio-
nalsozialistischen handelte, bleibt dabei offen.¦210¿ 210 Blaich, Fritz, Wirtschaftspolitik desNationalsozialismus inDeutschland, in:Cassel, Die-
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II. Empirische
Entwicklungen
Produktionsordnung: Dass der nationalsozialistischen Ordnungspolitik keine in sich geschlossene Konzeption zugrunde lag, zeigt bereits die Eigentumsordnung. Das private Eigentum blieb erhalten, die freie Verfügung darüber wurde aber –wie weiter unten dargestellt wird –durch lenkungswirtschaftliche Eingriffe immer mehreingeschränkt. InderLandwirtschaft wurde zudem mitdemReichserbhofgesetz vom29.9.1933 dasbürgerliche VertragsundErbrecht außer Kraft gesetzt undeingroßer Teil deragrarischen Nutzfläche in „unveräußerliches undunbelastbares Sippenerbe“umgewandelt. Tatsächlich enteignete mandasgewerkschaftliche undjüdische Vermögen. Die öffentliche Wirtschaft wurde stark ausgebaut. MitdenHermann-Göring-Werken entstand ein gewaltiger staatseigener Rüstungskonzern, aber auch die NSDAP, die SS undandere parteinahe Organisationen gründeten Unternehmen. Gleichzeitig wurden die Aktien der Großbanken, die die republikanische Reichsregierung inderWeltwirtschaftskrise übernommen hatte, umden Zusammenbruch der Banken zu verhindern, wieder verkauft. Grundsätzlich blieb das Privateigentum das dominierende Ordnungselement im nationalsozialistischen Wirtschaftssystem. Die Betriebsordnung wurde dagegen weitgehend umgestaltet.¦211¿ Nachdembereits 1933 Gewerkschaften undArbeitgeberverbände zerschlagen und Arbeitnehmer undArbeitgeber in der Deutschen Arbeitsfront zwangsweise zusammengefasst worden waren, setzte dasGesetz zurOrdnung dernationalen Arbeit vom20.1.1934 das Betriebsrätegesetz von 1920 außer Kraft und führte dasFührer-Gefolgschafts-Prinzip als neues Ordnungselement ein. Der Unternehmer als ‚Führer‘unddieArbeitnehmer als ‚Gefolgschaft‘sollten eine zurFörderung derBetriebszwecke undzum ‚Betriebsgemeinschaft‘bilden –„ gemeinen Nutzen vonVolk undStaat“ . Der ‚Vertrauensrat‘, derandie Stelle des Betriebsrates trat, warkeine wirkliche Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft, sondern dazuda,dieLeistungsbereitschaft zufördern undden Betriebsfrieden zusichern. Die Stellung des Unternehmers wurde mitdiesen Veränderungen gestärkt, wobei gleichzeitig der staatliche Einfluss auf die Betriebe ausgebaut wurde. Durch dasGesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien vom 30.1.1937 erhielten zudem die Vorstände mehr Rechte.
ter(Hg.), Wirtschaftspolitik imSystemvergleich. Konzeption undPraxis derWirtschaftspolitik in kapitalistischen undsozialistischen Wirtschaftssystemen, München 1984, S. 105 ff.; Barkai, Avraham, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, 1945, Frankfurt a. M. 1988. Theorie, Politik 1933– . Deutsche Arbeitsfront, Unterneh211 Frese, Matthias, Betriebspolitik im „Dritten Reich“ 1939, Paderborn menundStaatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933– . Untersuchungen zuden 1991; Hachtmann, Rüdiger, Industriearbeit im„Dritten Reich“ 1945, Göttingen 1989; Wahsner, Lohn- undArbeitsbedingungen in Deutschland 1933– Roderich, Arbeitsrecht unterm Hakenkreuz. Instrument des faschistischen Terrors und derLegitimation vonUnternehmenswillkür, Frankfurt a. M. 1994.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
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Die Landwirtschaft warderSektor, derals erster nach ständischen Vorstellungen neuorganisiert wurde.¦212¿ Schon Anfang 1933 wurde versucht, eine „ Reichsführergemeinschaft“als Dachorganisation der landwirtschaftlichen Verbände miteinem „ Reichsbauernführer“anderSpitze zuschaffen. Einige Monate später entstand dannderReichsnährstand (Gesetz über denvorläufigenAufbau des Reichsnährstandes undMaßnahmen zurMarkt- undPreisregelung für landwirtschaftliche Erzeugnisse vom 13.9.1933). Er vereinigte zwangsweise alle Erzeuger, Verarbeiter undHändler landwirtschaftlicher Produkte in sogenannten Marktverbänden. Diese setzten die Preise fest, regelten denTransport unddenAbsatz derlandwirtschaftlichen Erzeugnisse undbestimmten die Preis- bzw. Handelsspannen fürjeden Verarbeitungsgang und fürjede Handelsstufe. Fürmanche Produkte –später fürdie meisten –legten sie außerdem jedem Landwirt feste Ablieferungskontingente auf. DieVerordnungzurSicherung derLandbewirtschaftung vom23.3.1937 ermächtigte den Reichsnährstand überdies, die Art undNutzung einer landwirtschaftlichen Anforderungen zurSiFläche zudiktieren, wennderEigentümer nicht den„ cherung derVolksernährung“nachkam. Esentstanden also umfassende Marktordnungen, allerdings nicht auf der Basis vonSelbstverwaltung, sondern auf dervonstaatlicher Reglementierung. DerReichsnährstand wurde zumInstrument staatlicher Lenkungswirtschaft. In der gewerblichen Wirtschaft wurde die Neuordnung nicht so konsequent vollzogen, amdurchgreifendsten noch im Handwerk.¦213¿ Der ‚Reichsstand‘für Handel undHandwerk, derebenfalls bereits 1933 geschaffen wurde, blieb organisatorisch allerdings in den Anfängen stecken. Statt dessen schaltete mandie traditionellen Verbände, Innungen undKammern gleich. Durch dasGesetz überdenvorläufigen Aufbau desdeutschen Handwerks vom 29.11.1933 –unddie entsprechenden Durchführungsverordnungen –sollten dieOrganisationen desHandwerks nachdemFührerprinzip ganz neuorganisiert werden. Neben den fachlichen ‚Reichsinnungsverbänden‘ wurden bezirkliche ‚Kreishandwerkerschaften‘ ins Leben gerufen. Die traditionellen Handwerkskammern blieben unabhängig davon alsSelbstverwaltungskörperschaften bestehen. Sie besaßen das Aufsichtsrecht über die neuen Innungen undHandwerkerschaften. ImNovember 1934 verlor dasHandwerk allerdings bereits wieder denStatus eines eigenen ‚Standes‘undwurde als ‚Reichsgruppe‘in die im Entstehen begriffene Neuorganisation der gesamten gewerblichen Wirtschaft überführt. Die Interessenorganisationen der Industrie wurden weniger konsequent gleichgeschaltet als die der Landwirtschaft und die des Handwerks. Der am 19.6.1933 selbstproklamierte Reichsstand der Deutschen Industrie gewann 212 Fahle, Günter,
Nazis undBauern. ZurAgrarpolitik desdeutschen Faschismus 1933 bis 1945, Köln 1986; Corni, Gustavo/Gies, Horst, Blut undBoden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staate Hitlers, Idstein 1994. 213 Eyll, Klara van, Berufsständische Selbstverwaltung, S. 682 ff.
132
II. Empirische Entwicklungen
keine Konturen. Die traditionellen Institutionen konnten ihre Eigenständigkeit unter gewissen Konzessionen selbst indenneuen Organisationen dergewerblichen Wirtschaft bis in die Kriegswirtschaft hinein wahren. 1934 entstand zwar eine „ organische“V erbindung von Unternehmerverbänden und Industrie- undHandelskammern, allerdings kein ständischer Aufbau. Es setzte sich nicht nurdie Ideologie desStändestaates als neues Ordnungselement nicht durch, die traditionellen Selbstverwaltungsorgane wurden durch die Zwangsmitgliedschaft sogar noch gestärkt. MitdemGesetz zurVorbereitung desorganischen Aufbaus derWirtschaft vom27.2.1934 unddenentsprechenden Ausführungsverordnungen war die Ermächtigung für den Reichwirtschaftsminister verbunden, Wirtschaftsverbände aufzulösen, neuzusammenzulegen, ihre Satzungen zuändern, dasFührerprinzip unddie Pflichtmitgliedschaft einzuführen.¦214¿ Der spontane Wildwuchs anständischen Neuordnungsansätzen wurde beschnitten undingeordnetere Bahnen gelenkt, d.h. die Wirtschaft in sieben Reichsgruppen zusammengefasst: Industrie, Handel, Banken, Versicherungen, Energiewirtschaft, Fremdenverkehr. Diese wurden wieder inWirtschaftsgruppen, sowie bei Bedarf auf unteren Ebenen in Fach- undFachuntergruppen untergliedert. Das Handwerk war, wiegezeigt, schon vorher neuorganisiert worden. Neben dieser fachlichen bestand eine regionale Gliederung nach Wirtschaftsbezirken, indenen (Bezirks/Gau)Wirtschaftskammern eingerichtet wurden. DiegemeinsameSpitze bildete eine Reichswirtschaftskammer, diewiederum demReichswirtschaftsminister direkt unterstellt war. Der bisherige Deutsche IndustrieundHandelstag wurde als Arbeitsgemeinschaft der Industrie- undHandelskammern indie Reichswirtschaftskammer überführt. Die noch selbständigen Wirtschaftsverbände wurden ebenfalls indieneue Organisation integriert und zu fachlichen ‚Gruppen‘ auf verschiedenen Ebenen umgebildet. Die Leiter derGruppen wurden nicht vondiesen selbst gewählt, sondern bei denReichs‚Haupt- undWirtschaftsgruppen vomReichwirtschaftsminister eingesetzt. Die Leiter der unteren Organe wurden vondenen der Reichsgruppen bestimmt. DasAusschließlichkeits-, dasZwangsmitgliedschafts- unddasFührerprinzip kennzeichneten auch diese Neuorganisation. Das Aufbaugesetz bildete die Grundlage fürdie staatliche Reglementierung der klein- undmittelständischen Wirtschaft unter der Vorherrschaft der Großindustrie. Trotz der erwähnten Eigenständigkeit der traditionellen Interessenverbände innerhalb der neuen Organisation konnten auch diese sich demstaatlichen Einfluss nicht entziehen. Die Grenzen zwischen staatlicher Administration undderSelbstverwaltungverwischten sich immer mehr. Kammern undGruppen entwickelten sich zumindest ansatzweise zustaatlichen Lenkungsinstrumenten. Miteiner ständischen, d.h. weitgehend selbstverwalteten Organisation hatte derneue Aufbaujedenfalls wenig zutun: Erstens wurden nurdie alten Unternehmerver1945. Interna des Reichswirtschafts214 Boelcke, Willi A., Die deutsche Wirtschaft 1930– ministeriums, Düsseldorf 1983.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
133
bände umorganisiert, ohneberufsständische Vereinigungen vonUnternehmern undArbeitnehmern zuschaffen. Zweitens warderEinfluss derneuen Organi-
sation auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen stark eingeschränkt. Drittens besaßen sie keine Handlungsfreiheit bei derPreisbildung undAbsatzpolitik. DieHerausnahme desArbeitsrechts ausderGewerbeordnung warfürdie Weimarer Republik kennzeichnend, diedermittelständischen Berufe fürdas nationalsozialistische Regime.¦215¿ Diebesondere Protektion desselbständigen Mittelstandes führte zueiner Vermischung vontraditioneller Berufsordnung, spezieller Förderung undnationalsozialistischem Gedankengut. Neben dem Handwerk wurden Handels- undandere freie Berufe einer staatlichen Beaufsichtigung unterworfen, ohne die Kompetenzen ihrer Standesorganisationen hinsichtlich der Ausbildung undBerufsausübung grundsätzlich in Frage zu stellen. Marktordnung: Die Gewerbeordnung galt weiter unddamit auch dieGewerbefreiheit. Wiesehr sieaberausgehöhlt wurde, zeigen diezahlreiche Maßnahmen, mit denen der marktliche Wettbewerb vonstaatlicher Seite immer mehreingeschränkt wurde. Generell verlor derwettbewerblich gebildete oder durch Kartelle privat administrierte Preis imLaufe der30er Jahre seine Lenkungsfunktion; anseine Stelle trat derstaatlich bzw.gemischt staatlich-privat festgesetzte. Die mehr oder weniger dezentralisierte Marktrationalität wurde durch die mehroder weniger zentralisierte Planrationalität alsOrdnungsprinzipabgelöst. Zwarwarbereits imDezember 1931dieStelle eines Reichskommissar für die Preisüberwachung geschaffen worden, aber erst mitder Verkündung des Vierjahresplans 1936 wurde sie indieeines Reichskommissars fürdie Preisbildung umbenannt unddessen Kompetenzen wesentlich erweiBestellung eines Reichstert (Gesetz zurDurchführung desVierjahresplans – kommissars für die Preisbildung vom29.10.1936).¦216¿ Unmittelbar danach wurde mit der Verordnung über das Verbot von Preiserhöhungen vom 26.11.1936 eingenereller Preis- undLohnstopp verfügt unddieVerkaufspreise auf denStand vom 17.10.1936 eingefroren. Dadurch, dass derMarktmechanismus überdenPreis immer mehraußer Kraft gesetzt wurde, musste bald zur unmittelbaren Bewirtschaftung übergegangen werden. Am 23.2.1937 wurde die Kontingentierung für Eisen und Stahl eingeführt, die das Modell für die gesamte güterwirtschaftliche Lenkung bildete, die durch zahlreiche Verordnungen immer mehrausgeweitet wurde. Alsunmittelbar vorKriegsbeginn durch die Verordnung über den Warenverkehr vom 18.8.1939 –dem „ Grundgesetz der Warenbewirtschaftung“¦217¿–undder Verordnung zur vor-
215 Hartwich, Hans-Hermann, Sozialstaatspostulat, S. 128ff. 216 Lampert, Heinz, Wirtschafts- undSozialpolitik, S. 100 ff.; Petzina, Dieter, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968; Blaich, Fritz, Wirtschaft, S. 285 ff. 217 Boelcke, Willi A., Wirtschaftsverwaltung, in: Jeserich, Kurt G. A. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: DasReich als Republik undinderZeit desNationalsozialis793, S. 790. mus, S. 774–
134
II. Empirische Entwicklungen
läufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des Volkes vom 27.8. 1939 alle wichtigen Rohstoffe, Produktionsmittel undKonsumgüter derstaatlichen Preis- undMengenbewirtschaftung unterworfen wurden, warderÜbergangvonderschon stark eingeschränkten Marktwirtschaft zurLenkungswirtschaft endgültig vollzogen. Eine Zentralverwaltungswirtschaft wardasallerdings nicht. Es handelte sich vielmehr umeinSystem derEngpassplanung mit stark provisorischem Charakter, dasauchinderPhase derBlitzkriege bis 1942 beibehalten wurde. Diese immer intensivere Lenkung erforderte den Aufbau eines entsprechenden Verwaltungsapparates, derschon inderzweiten Hälfte der30er Jahrezueiner ganzen Reihe verschiedener Verwaltungsorganisationen führte, die mit- aber auch gegeneinander arbeiteten. Das dadurch entstehende Kompetenzgeflecht warnurnoch schwer zudurchschauen: Die traditionelle staatliche Wirtschaftsverwaltung wurde ausgebaut. Ab 1936 entstand im Rahmen der Vierjahresplan-Organisation ein eigener Behördenapparat. Das Militär weitete seine Wirtschaftsadministration ausundschließlich entstanden beiden verschiedenen NS-Organisationen wirtschaftsbürokratische Institutionen. DerWettbewerb wurde weiterhin durch verschiedene Einzelmaßnahmen eingeschränkt. Miteiner Verordnung überWettbewerb vom21.12.1934 wolltemanwirtschaftspolitisch unerwünschte Preisentwicklungen verhindern, die diePreisstabilität hätten gefährden können. DieKartellbildung wurde mitdem Gesetz über die Änderung der Kartellverordnung unddemGesetz über die Errichtung von Zwangskartellen vom 15.7.1933 bewusst gefördert; sie verfügten denZusammenschluss einer Reihe von,durch dieWeltwirtschaftskrise besonders hart getroffenen, Industriezweigen.¦218¿ Die Kartellführer konnten die abgelaufenen Verträge zwangsweise erneuern, Außenseiter auch gegen deren Willen anschließen undunerwünschte Investitionen verbieten. DieVerordnung hatte damit investitionslenkende Konsequenzen. Im Rahmen des Vierjahresplans wurde danndiedirekte staatliche Investitionskontrolle eingeführt. MitderÄnderung derWeimarer Kartellverordnung wurden die marktregelnden Verbände selbst zumSchutzobjekt desKartellrechts undnicht mehr wie bis dahin undentsprechend dereigentlich Intention derursprünglichen Verordnung die Verbraucher unddie Außenseiter. Die Kartellgesetzgebung legalisierte die wirtschaftliche Macht desorganisierten Kapitals undförderte zunächst dieTeilung derWirtschaftsordnung ineinen Bereich deroligopolistisch organisierten industriellen Produktion undineinen deswettbewerblich organisierten Handwerks undHandels, bissichdanninderzweiten Hälfte der 30er Jahre dasPrinzip derAbsprache, Kontrolle undLenkung auch imkleingewerblichen Bereich durchsetzte.
218 Swatek, Dieter, Unternehmenskonzentration als Ergebnis undMittel nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik, Berlin 1972; Feldenkirchen, Wilfried, Das Zwangskartellgesetz von 1933. Seine wirtschaftliche Bedeutung undseine politischen Folgen, in: Pohl, Hans (Hg.), Kartelle undKartellgesetzgebung in Praxis undRechtssprechung vom 19. Jahrhundert bis zurGegenwart, Stuttgart 1985, S. 145 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
135
Durch diebeiden Gesetze überdieBildung eines Anleihestocks bei Kapitalgesellschaften vom29.3.1934 undüber die Gewinnverteilung bei Kapitalgesellschaften vom4.12.1934 sollte erreicht werden, dass die Gewinne, die eine höhere Dividende als 6% ermöglichten, in öffentlichen Anleihen angelegt wurden. Außerdem wurde die Ausgabe privater Schuldverschreibungen undAktien verboten bzw. unter staatliche Kontrolle gestellt. Gleichzeitig wurde mitdemGesetz überZinsermäßigungen beiöffentlichen Anleihen vom 27.2.1935 die Zinsbelastung fürdenStaat erleichtert. All diese Maßnahmen schränkten denWettbewerb auf denGeld- undKapitalmärkten ein, umder staatlichen Rüstung mehr Finanzmitteln zugeringeren Kosten zusichern.¦219¿ Eswurde bereits dargelegt, dass inderLandwirtschaft schneller alsinder gewerblichen Wirtschaft die wettbewerbliche Marktordnung beseitigt und durch eine gesteuerte ersetzt wurde. Daneben wares dieAußenwirtschaft, die schon frühadministrativ gelenkt wurde. Am22.3.1934 erging dasGesetz über denVerkehr mitindustriellen Rohstoffen undHalbfabrikaten, dasdenReichswirtschaftsminister ermächtigte, erstens „ denVerkehr mitindustriellen Rohstoffen undHalbfabrikaten, insbesondere deren Beschaffung, Verteilung, Lagerung, Absatz undVerbrauch zu überwachen undzu regeln“undzweitens „ zudiesem Zweck besondere Überwachungsstellen fürbestimmte Warenarten (zu) errichten“ . Diese generelle Vollmacht wurde zunächst nurauf den Außenhandel angewandt. Als im Herbst 1934 mit demsogenannten Neuen Plan die totale Devisenbewirtschaftung eingeführt wurde (Verordnungen zur Änderung der Verordnung über die Devisenbewirtschaftung vom 11. und 29.9.1934), bestanden 25 Überwachungsstellen, diedieAußenwirtschaft lükkenlos kontrollierten. DerNeue Plan ersetzte dasOrdnungsprinzip desfreien, multilateralen Waren- undKapitalverkehrs durch dasdergelenkten, bilateralenHandels- undVerrechnungsabkommen. Mit den sogenannten Regulierungsgesetzen der Jahre 1934/35 wurden ebenfalls lenkende Elemente in die Wirtschaftsordnung eingebaut, die allerdings wenig mitdenspezifischen Zielen derRüstungswirtschaft zutunhatten; deshalb überdauerten sieauchdenSystemwechsel 1945/48. Eine Regulierung der Energie-, Verkehrs- und Kreditwirtschaft gab es schon im 19. Jahrhundert, siewurde aberwährend derWeltwirtschaftskrise deutlich ausgebaut. Dem Gesetz überdieBeförderung vonPersonen zuLande (Personenbeförderungsgesetz) vom 4.12.1934 –1935 folgte das über den Güterfernverkehr – , mit
219 Boelcke, Willi A., Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung undfinanzielles 1948, Paderborn 1985; Albers, Willi, Finanzpolitik in Kriegserbe inDeutschland, 1933– der Depression undin der Vollbeschäftigung, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Währung 365, S. 331 ff.; undWirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 331– Boelcke, Willi A., Die Finanzpolitik desDritten Reiches. Eine Darstellung inGrundzü1945. Neue Studien zurnatiogen, in: Bracher, Karl Dietrich (Hg.), Deutschland 1933– nalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 1992, S. 95 ff.; Lehmann, Karin, Wandlungen der Industriefinanzierung mit Anleihen in Deutschland (1923/24–1938/39), Stuttgart 1996.
136
II. Empirische
Entwicklungen
demüber das Kreditwesen (Kreditwesengesetz) vom5.12.1934 unddemzur Förderung derEnergiewirtschaft (Energiewirtschaftsgesetz) vom 13.12.1935 wurde derMarktzugang beschränkt undderWettbewerb dadurch geschwächt, dass Preise, Mengen, Konditionen etc. staatlich genehmigt werden mussten. Für diese Sektoren entstanden eigene Aufsichtsämter. Jedes dieser Gesetze hatte eine spezifische Vorgeschichte, gemeinsam warihnen aber, dass durch sie volkswirtschaftlich besonders wichtige Bereiche ausderwettbewerblichen Marktordnung ausgegliedert undeiner staatlichen Regulierung unterworfen wurden. Schon 1931 waren die Kompetenzen des Aufsichtsamtes für Versicherungen ausgeweitet worden (Gesetz überdieBeaufsichtigung derprivaten Versicherungsunternehmen vom6.6.1931). Wiedie Landwirtschaft unddenAußenhandel brachte dasnationalsozialistische Regime auch den Arbeitsmarkt sehr schnell unter staatliche Kontrolle. Zwar hatte schon die Regierung Brüning die freien Lohnvereinbarungen durch einen zwangsweisen Lohnabbau ersetzt, aber dieArbeitsmarktparteien bestanden weiter. Am2.5.1933 wurden dann als erste –ohnejede (formal)rechtliche Grundlage –die sozialistischen, kurze Zeit später die anderen Gewerkschaften zerschlagen. Die Arbeitgeberverbände mussten sich am 30.11.1933 selbst auflösen. DieKoalitionsfreiheiten entsprechend Art.159der Weimarer Reichsverfassung wurden aufgehoben undArbeitnehmer undArbeitgeber gezwungen, deram 10.5.1933 gegründeten Deutschen Arbeitsfront beizutreten. Sie wareine Organisation der NSDAP, in der der Konflikt von Arbeit undKapital entsprechend ständisch-organischer Vorstellungen in ei-
ner „echten Volks- undLeistungsgemeinschaft“beseitigt werden sollte.¦220¿ Letztlich blieb die Deutsche Arbeitsfront für die konkrete Ausgestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen aber bedeutungslos, weil gleichzeitig am 19.5.1933 dasGesetz über die Treuhänder der Arbeit erlassen wurde, das in § 2 Abs.1 bestimmte: „ Bis zur Neuordnung der Sozialverfassung regeln die Treuhänder an Stelle der Vereinigungen von Arbeitnehmern, einzelnen Arbeitgebern oder Vereinigungen vonArbeitgebern für beteiligte Personen die Bedingungen für denAbschluß vonArbeitsverträgen.“P rivate Tarifverträge wurden damit verboten. Mit demGesetz zurOrdnung dernationalen Arbeit, das nicht nurdas Betriebsrätegesetz, sondern auch die Tarifvertragsordnung von 1920 unddie Schlichtungsordnung von 1923 ausdrücklich außer Kraft setzte, wurde dann dasTarifwesen endgültig neugeregelt. Die „ Treuhänder , die wiederum der derArbeit“führten die Aufsicht über die „Betriebsführer“ „ Gefolgschaft“vorstanden. Fürjeden dervierzehn Gaue derPartei wurde einer ernannt, der demReichsarbeitsministerium unterstand undweisungsgebunden war. Die Arbeitsbedingungen wurden vonnunanweitgehend durch sie geregelt. Endgültig trat das staatliche Lohndiktat andie Stelle derfreien, tarifvertraglichen Lohnverhandlungen durch die Verordnung über Lohngestaltung vom25.6.1938. Es gibt allerdings auchdieAuffassung, dassdieTreu220 Frese, Matthias, Betriebspolitik, S. 176 ff.
3. Kapitel: Wirtschaftsordnung
137
händer sich nicht anstaatlichen Vorgaben orientierten, sondern betriebsbezogene Lohnpolitik betrieben. Dashätte bedeutet, dass manwieder zurvortarif-
vertraglichen, individuell-betrieblichen Lohnfindung des 19.Jahrhunderts zu-
rückgekehrt wäre.¦221¿
Auchdieanderen wirtschaftlichen Grundfreiheiten –Freizügigkeit, freie wurden nachundnachabgeschafft. Arbeitsplatzwahl, Arbeitsvertragsfreiheit – Zunächst untersagte ein Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 15.5.1934 dieEinstellung vonLandarbeitern inGroßstädten bzw. machte ihn voneiner behördlichen Genehmigung abhängig. Die dennoch entstehenden regionalen undsektoralen Ungleichgewichte auf demArbeitsmarkt führten , das Arbeitsbuches“ durch dasGesetz vom26.2.1935 zurEinführung eines „ denBehörden eine ständige Überwachung derArbeitnehmer ermöglichte. Es folgten zahlreiche Arbeitseinsatzverordnungen, die alle darauf hinausliefen, denfreien Arbeitsmarkt abzuschaffen. Am22.6.1938 wurde mitderVerordnungzurSicherstellung desArbeitskräftebedarfs fürAufgaben vonbesondererstaatspolitischer Bedeutung dieDienstpflicht eingeführt, d.h., jeder konnte vondaab gezwungen werden, füreinen begrenzten Zeitraum einen Arbeitsplatz zubesetzen, denihmderStaat zugewiesen hatte. Schließlich wurde mit derVerordnung vom13.2.1939 dieunbeschränkte Dienstverpflichtung eingeführt. Die völlige Aufhebung derFreizügigkeit undderFreiheit derArbeitsplatzwahl erfolgte durch dieUmstellung aufdie Kriegswirtschaft. Diealseine der ersten Kriegsmaßnahmen verfügte Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1.9.1939 führte zur allgemeinen Arbeitskräftelenkung. Geld- undWährungsordnung: Auch die Geld- undWährungsordnung wurde den rüstungswirtschaftlichen Notwendigkeiten angepasst (siehe II.3.2.a). DasGeldverlor imLaufe derJahre indemMaße seine eigentlichen Funktionen als Recheneinheit, Wertmesser undTauschmittel, in demimmer mehrGüter bewirtschaftet undPreise manipuliert wurden. Die Wechselkurse gegenüber anderen Währungen wurden imRahmen vonbilateralen Verrechnungsabkommen nachpolitischen undmilitärstrategischen Überlegungen festgelegt undbesaßen keine Aussagekraft mehr für die tatsächliche Kaufkraftrelationen. Stellung undFunktion derReichsbank wurden ebenfalls denveränderten Bedingungen angepasst. Dieerneute Aushöhlung ihrer gerade erst gewonnenen Autonomie setzte mit demGesetz vom27.10.1933 ein; dadurch wurde die Ernennung undAbberufung desReichsbankpräsidenten sowie derDirektoriumsmitglieder allein demReichskanzler übertragen. DerGeneralrat wurdeabgeschafft. Außerdem wurden dieOffenmarktpolitik gestärkt unddieBasis der Notendeckung erweitert. Den nächsten Schritt bildete das Gesetz vom 10.2.1937, das das Reichsbankdirektorium dem „Führer undReichskanzler unmittelbar“unterstellte. Dievöllige Aufhebung derAutonomie erfolgte dann 221 Hentschel, Volker, Steuersystem, S. 91 ff.
138
II. Empirische Entwicklungen
mitdemGesetz vom 15.6.1939, wonach die Deutsche Reichsbank ausdrücklich „ der Verwirklichung der durch die nationalsozialistische Staatsführung gesetzten Ziele
imRahmen desihranvertrauten
Aufgabenbereichs“(Präam-
bel) dienen sollte. Vonnunanwurde sie auch offiziell „nach denWeisungen undunter der Aufsicht des Führers undReichskanzlers ... geleitet undverwaltet“(§ 3). Damit waren in organisationsrechtlicher Hinsicht wieder die Verhältnisse hergestellt, die zwischen 1875 und 1922 bestanden hatten. Die Reichsbank warerneut zueiner weisungsgebundenen Reichsbehörde, zueinemwillkürlichen Finanzierungsinstrument der Reichsregierung geworden. Damit sie tatsächlich als „ Reichshauptkasse“dienen konnte, wurden die Dekkungsvorschriften geändert. ZurNotendeckung konnten jetzt neben Handelswechseln, Schecks, Reichsschatzwechsel, kurzfristige Reichsschatzanweisungen, amtlich notierte Wertpapiere, Lombarddarlehen undGeld- undDevisenbestände dienen. Finanzordnung: DieMachtkonzentration desnationalsozialistischen Herrschaftssystems erfasste ebenfalls dieFinanzordnung.¦222¿ DieSteuerhoheit ging weitgehend aufdasReich über, derFinanzausgleich wurde einseitig vomReich bestimmt, dieFinanzverwaltung nochstärker hierarchisch organisiert. Steuerpolitisch wardie Steuerreform vom 16.10.1934 von besonderer Bedeutung. Mit ihr sollten die „Grundsätze nationalsozialistischer Steuerpolitik“gesetzlich verankert, Steuergesetze „nach nationalsozialistischer Weltanschauung“ gestaltet werden. Sie brachte die Ehegattenbesteuerung, Kinder- undHaushaltsfreibeträge sowie dieAbschreibungsmöglichkeit außergewöhnlicher Belastungen undBausparkassenbeiträge. Vondenzahlreichen Steueränderungsgesetzen waren vorallem dieAusdehnung desKreises derKörperschaftssteuerpflichtigen 1934, die Erhöhung derEinkommens- undKörperschaftssteuer 1939 unddie Einführung einer Wehrsteuer 1937 von Bedeutung. Zwangsspenden undBeiträge anzahlreiche nationalsozialistische Organisationen hattenebenfalls steuerähnlichen Charakter.¦223¿ Eine spezifisch nationalsozialistische Komponente schlug sich allerdings nurindenrassisch motivierten Diskriminierungen im Steuerrecht nieder. Letztlich ging es darum, die Aufrüstung zufinanzieren, unddazuwarjedes Mittel recht. DieZentralisierung der Finanzverwaltung bedeutete vorallem einen Machtzuwachs derReichskanzlei, denn dasReichsfinanzministerium wurde zueiner reinen Auftragsbehördedegradiert. Generell wurde auch im Bereich der Staatsfinanzen die Macht vonder Legislative auf die Exekutive verlagert. Aufgrund des Ermächtigungsgesetzes von24.3.1933 unddes Änderungsgesetzes zurReichshaushaltsordnung
222 Caesar, Rolf/Hansmeyer, Karl-Heinrich, Reichsbank undöffentliche Kreditinstitute, in: Jeserich, Kurt G. A.(Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.4: DasReich alsRepublik undin derZeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 873 ff. 223 Voß, Reiner, Steuern im Dritten Reich. VomRecht zumUnrecht unter der Herrschaft desNationalsozialismus, München 1995.
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
desStaates
139
vom13.12.1933 wurden dieReichshaushaltspläne nicht mehrvomParlament verabschiedet, sondern nur noch von der Reichsregierung genehmigt. Eine Vielzahl vonaußerordentlichen Haushalten miteigenen Fondsmitteln entstand neben demeigentlichen Reichshaushalt. Die Finanzkontrolle löste manauf allen Ebenen auf–derLegislative, derJudikative undderÖffentlichkeit. Eine politische Kontrolle durch dasParlament gabes bald nicht mehr. Reichsrechnungshof undReichsfinanzhof verloren ihre Funktionen. Finanzgerichte wurdenganz abgeschafft. Die Finanzordnung wurde damit so umgebaut, dass sie den totalitären Machtansprüchen undden rüstungsfinanziellen AnforderungendesRegimes entsprach. DasPrinzip einer geordneten, jahresbezogenen, demokratisch legitimierten undunabhängig kontrollierten Haushaltsführung wurde abgelöst durch daseiner unklaren, fließenden, autoritär manipulierten undvöllig unkontrollierten Rechnungslegung. Insgesamt verzichteten dieNationalsozialisten darauf, dasprivatkapitalistische, marktwirtschaftlich gesteuerte System konsequent ineine andere, leitbild-orientierte Wirtschaftsordnung umzuwandeln. Es gab zwar zahlreiche ordnungsverändernde Eingriffe, dieaber meist aufhalben Wege stecken blieben. Es waren vornehmlich punktuelle Interventionen, die situationsbedingt inerster Linie prozesspolitischen Charakter besaßen. Die Aufrüstung inproduktions- undfinanzwirtschaftlicher Hinsicht dominierte fast alle Entscheidungen. Dennoch veränderte sich unter der Vielzahl dereinzelnen Gesetze undVerordnungen unddurch denAufbau zahlreicher WirtschaftsverwaltungendieWirtschaftsordnung. AmEnde der30er Jahre wareine Lenkungswirtschaft entstanden, die nurnoch wenig gemein hatte mitderMarktwirtschaft am Ende der20er Jahre. In der Gemengelage von Ideologie undPragmatismus, vonbewusstem Gestalten undImprovisation, vonparteipolitischer Einflussnahme und staatlicher Eigenständigkeit, von Markt und Plan, von betrieblicher Autonomie undbürokratischer Lenkung, vonoffensivem Profitinteresse undopportunistischer Anpassung erreichten dienationalsozialistischen Machthaber letztlich das, was sie wollten: die rüstungswirtschaftlichen Voraussetzungen füreinen Krieg zuschaffen.
4. Kapitel: Historische Ausprägungen desStaates 4.1 Allgemeine Entwicklung des Staates Zunächst wird ein allgemeiner Überblick über die Staatsentwicklung im deutschsprachigen Raum seit dem 17. Jahrhundert gegeben. Es geht dabei – vorallem umdie„herrschenentsprechend demGeneralthema dieses Bandes – politisch-administrativen Institutionen, umdie Legislative, die Judikatiden“ veundbesonders umdieExekutive. Alsheuristischer Ausgangspunkt soll das Modell desNationalstaates des 19. Jahrhunderts zugrunde gelegt werden. Es sieht folgende Elemente als konstitutiv füreinstaatliches Gebilde an:einge-
II. Empirische
140
Entwicklungen
schlossenes Staatsgebiet, ein historisch undkulturell identifizierbares Staatsvolk undeine einheitliche, zentrale Staatsgewalt.¦224¿ Erstens gehört ausdieser Perspektive zueinem Staat also ein mehr oder weniger geschlossenes Gebiet. Tatsächlich gewannen die Staatsgrenzen im Laufe derNeuzeit immer mehr an Bedeutung. Die Voraussetzungen zurBildungvoneinheitlichen Räumen waren indendeutschen Territorien allerdings recht unterschiedlich. Altbayern, Österreich undTeile Preußens bildeten schon früh mehroder weniger geschlossene Territorien. Dagegen waren große Teile Südwest- undWestdeutschlands völlig zersplittert, wobei eine kaumzuüberschauende Vielzahl vonHerrschaftseinheiten mitganzunterschiedlichen Souveränitäten bestand. Zunehmend waren die größeren Staaten allerdings bemüht, sich zumindest die eingelagerten Gebiete einzuverleiben und so das eigene Territorium zu komplettieren. Die Säkularisierung kirchlicher Herrschaften imZusammenhang mitderReformation seit derMitte des 16. Jahrhunderts erleichterte diese Bestrebungen.¦225¿ Erst derReichsdeputationshauptschluss von 1803, mit dem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation endgültig undformell aufgelöst wurde, schuf dann aber im gesamten deutschen Raum den modernen Flächenstaat mit geschlossenem Territorium: Durch die erneute Säkularisierung –die konfiskatorische Aneignung des kirchlichen Vermögens unddieÜbernahme dergeistlichen Gebiete durch dieweltlichen Staaten –unddie Mediatisierung –die Auflösung der reichsunmittelbaren Städte undRitterschaften undihre Eingliederung in die größeren Staaten –wurde die politische Landkarte auf dramatische Weise „bereinigt“.¦226¿ Im Deutschen Bund von 1815 gabes nicht mehr wiezuvor 1800 Herrschaftseinheiten, sondern nurnoch 30, vorallem Österreich, Preußen, Bayern, Sachsen, Hannover undWürttemberg underst in zweiter Linie gutzwei Dutzend Herzog- undFürstentümer undvier Freie Hansestädte. Vondaab sollte noch einmal mehralseinhalbes Jahrhundert vergehen, bisdasDeutsche Reich 1871 als locker gefügter Bundesstaat entstand, unddann wiederum fast ein halbes Jahrhundert, bis dieser 1919 in einen straff organisierten Zentralstaat umgewandelt wurde.¦227¿ Zweitens gehört zu einem Staat ein Volk. Die Herausbildung einer Art Staatsangehörigkeit wurde imLaufe derNeuzeit vorallem durch denBesitzoder zumindest Besteuerungsanspruch, durch das Streben nach ungeteilter Herrschaft über die einzelnen Untertanen undspäter durch das Postulat der Gleichheit derUntertanen geprägt, wasdie Unmittelbarkeit derBeziehungen zwischen Staat undBürger voraussetzte. Der moderne Staat konnte erst ent224 Küchenhoff, Günter/Küchenhoff, Erich, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1977, S? 225 Angermeier, Heinz, Reichsreform und Reformation, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), S. 529– 604; Brauneder, Wilhelm (Hg.), Heiliges Römisches Reich undmoderne Staatlichkeit, Frankfurt a. M. 1993; Neuhaus, Helmut, DasReich inderFrühen Neuzeit, München 1997.
1871, Göttingen 1984. 226 Rürup, Reinhard, Deutschland im 19.Jahrhundert 1815– 227 Schulze, Hagen, Staat undNation indereuropäischen Geschichte, München 1994.
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen
desStaates
141
stehen, nachdem die Zwischenherrschaft derGrundherren –daskonstitutive beseitigt worden war.¦228¿Dies vollElement derständefeudalen Gesellschaft – zog sich in einem Jahrhunderte dauernden Prozess. DemBestreben der zentralen Gewalt, die Untertanen zu mediatisieren, d.h. ein unmittelbares Verhältnis zwischen Untertan undHerrscher zuentwickeln, widersetzten sichdie intermediären Gewalten lange Zeit erfolgreich. Adelige undPatrizier konnten es letztlich zwar nicht verhindern, aber auchder„Staatsbürger“des 18.Jahrhunderts war in erster Linie noch Angehöriger einer Grund- oder Gutswirtschaft, einer Provinz, eines Klosters oder einer Stadt.¦229¿ Für den Adel, den Grund- oder Gutsherrn bedeutete die Übertragung des vollen Eigentums am Boden, diesogenannte Allodifizierung –inPreußen amAnfang des 18.Jahr, eine wichtige Etappe auf demWeg zu einer neuen Beziehung hunderts – zwischen Ständen undLandesherrn. Der einzelne Adelige blieb zwar „ Vasall“des Herrschers, allerdings beruhte die Treuepflicht nicht mehr auf der Leistung eines unmittelbaren (Kriegs-)Dienstes, sondern es entstand eineher staatsbürgerliches Verhältnis. Der Staatsuntertan bildete sich erst im 19. Jahrhundert heraus; erst jetzt brachte der zentralistische Staatsverband eine einheitliche Staatsbürgerschaft hervor. Aufdie Komplexität derNationenbildung sei andieser Stelle nurhingewiesen.¦230¿ ImGegensatz zumstaatszentrierten Nationentyp –der ‚Staatsnation‘– wardie nationale Identifikation dort, wodermoderne Staat sich erst spät entwickelte, nicht an das Staatsvolk in seiner politisch-rechtlichen Verfasstheit gebunden, sondern ruhte stattdessen aufsprachlichen undethnischen Kulturnation‘. Verbindungen, aufeiner gemeinsamen kulturellen Basis –der ‚ Dies galt fürDeutschland, indemsich dasBewusstsein fürkulturelle, soziale undsprachliche Gemeinsamkeiten in demAugenblick verstärkte, als die Expansionspolitik desrevolutionären Frankreichs die Deutschen vonaußen bedrohte.¦231¿ Allerdings wurde die nationale Einheit erst viele Jahrzehnte später 1871 –wiederum nach einer militärischen Auseinandersetzung mit FrankDeutschen“nicht nur Deutsche, reich –erreicht und auch jetzt waren die „ sondern gleichzeitig Badener, Sachsen oder Bayern. Das Deutsche Kaiserreich warjedenfalls auch in dieser Hinsicht zumindest anfangs noch ein ausgeprägt föderales Gebilde.
228 Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1. Bd.: VomFeudalismus des Alten Reiches bis zurdefensiven Modernisierung derReformära 1700 –1815, München 1987, S. 218 ff. 229 Weinacht, Paul-Ludwig, „Staatsbürger“–ZurGeschichte undKritik eines politischen Begriffes, in: Der Staat 18 (1969), S. 41 ff. 230 Dann, Otto, Nation undNationalismus inDeutschland 1770–1990 München 1996; Schieder, Theodor, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, Göttingen 1991. Hans-Huber (Hg.), Die Entstehung
231 Hofmann, 1967.
des modernen souveränen Staates, Köln
142
II. Empirische
Entwicklungen
Drittens gehört zueinem Staat eine einheitliche, organisierte undinstitutionalisierte Staatsgewalt – derfürdiesen Bandwichtigste Aspekt.¦232¿ ImHeiligen Römischen Reich gabes in derFrühen Neuzeit eine Vielfalt vonständisch mitregierten Landesfürstentümern, theokratischen Herrschaften mitgeburtsaristokratischen Leitungsgremien –Abteien undBistümern – , halbautonomen Städten mitpatrizischen Geschlechteroligarchien, Adelsitzen mitfast privatwirtschaftlichem Charakter undals Zwergobrigkeiten die Ritterschaften.¦233¿ Bis zumEnde des 18.Jahrhunderts, Anfang des 19.Jahrhunderts blieb inweiten Teilen desdeutschsprachigen Raumes derTrialismus vonständischaristokratischer, städtisch-patrizischer undlandesherrlich-fürstlicher Gewalt bestehen. Esdominierten feudalständische Verhältnisse mitihren unterschiedlichen grundherrschaftlichen, personenrechtlichen undgerichtsherrlichen Abhängigkeiten desgrößten Teils derLandbevölkerung denadeligen Grundherrengegenüber, diealsMittelinstanz zwischen Bevölkerung undLandesherren eine Schlüsselstellung einnahmen.¦234¿ Das Feudalwesen undmit ihmdie Grundherrschaft wareben nicht nur eine Wirtschafts- undSozialordnung, sondern auch eine Gesellschafts- und Staatsordnung, in dersich die adeligen Grundherren undder fürstliche Landesherr die Herrschaft teilten. Die Auseinandersetzungen zwischen den auf einheitliche Zentralgewalt drängenden Fürsten unddenaufständische Selbstverwaltung pochenden Adeligen, zwischen dualistischem Ständestaat und absolutistischer Monarchie prägten die politischen Verhältnisse der Frühen Neuzeit.¦235¿ Der Übergang von den traditionellen grundherrlichen Abgaben und Leistungen zu den modernen staatlichen Steuern, vom regionalen und selbstverwalteten Finanzwesen der Stände zumzentralen Budget derdemokratischen Parlamente warmühsam undlangwierig undführte in dendeutschen Territorien zuunterschiedlichen Entwicklungen. Überall galt aber, dass erst dasGewalt- undMachtmonopol desmodernen Zentralstaates dasstaatliche Steuermonopol ermöglichte undlegitimierte, das seinerseits wiederum die für die Ausübung der hoheitlichen Aufgaben unddie Systemstabilität notwendigen finanziellen Mittel bereitstellte. Selbst wenn die Zentralgewalt des geschlossenen Territorialstaates den traditionellen Pluralismus mehr oder weniger selbständiger Herrschaftsträger auflokaler undregionaler Ebene letztlich verdrängte, blieben manche ständische Sonderrechte bisweit ins 19.Jahrhundert, einige sogar bis 1918 bestehen.¦236¿
232 Zuderen Legitimation siehe Lenk,
Kurt, Staatsgewalt undGesellschaftstheorie, Mün-
chen 1980
233 Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2. Bd., S. 227 ff. 234 Mann, Michael, Geschichte derMacht, 3. Bd.: Die Entstehung vonKlassen undNationalstaaten, Frankfurt 1995.
1790. Dualismus undAufgeklärter Absolu235 Erbe, Michael, Deutsche Geschichte 1713– tismus, Stuttgart 1985.
236 Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd.: Von der „Deutschen Doppelrevolution“bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914, München 1995.
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
desStaates
143
Dabei wirkten dieZentralisierungstendenzen durchaus nicht nureinseitig
indemSinne, dass die lokalen undregionalen Gewalten sukzessive vonden zentralstaatlichen abgelöst wurden. Derexpandierende Staatsinterventionis-
muswar vielmehr verstärkt auf lokale undregionale Funktionsträger angewiesen. Bäuerliche Dorfvorsteher waren unentbehrlich beiderPublikation wie bei derDurchsetzung deranschwellenden Verordnungsflut, mitdersich der -Staat seit dem17.Jahrhundert indasWirtschafts- und Policy“ entwickelnde „ Sozialleben einschaltete. Andere Institutionen auflokaler undregionaler Ebene konnten ihre Kompetenzen ebenfalls erweitern. Insofern stärkte die Entwicklung zur einheitlichen Herrschaft nicht nur die Zentralgewalt, sondern auch die lokalen, vielleicht sogar zentrifugalen Kräfte.¦237¿ Einweiteres Kennzeichen desWandels vom‚traditionellen‘zum‚modernen‘Staat wardiezunehmende Bindung staatlicher Herrschaft angeschriebeneNormen. Diesdrückte sich indengroßen Rechtskodifikationen des 18.und 19.Jahrhunderts aus. Obrigkeitliche Eingriffe lösten sichdamit vonderschwer kalkulierbaren Entscheidungswillkür des absolutistischen Herrschers und wurden durch dieOrientierung anpublizierten Gesetzen regelgebundener und damit berechenbarer.¦238¿ Während frühneuzeitliche Verträge undGesetze eine legitime Staatsgewalt voraussetzten, wurde durch geschriebene Verfassungen legitime Staatsgewalt überhaupt erst begründet. Während sie dieStaatsgewalt nurpartiell anübergeordnete Normen banden, erhoben die Verfassungen den Anspruch, dies umfassend zutun. Während die älteren normativen Bindungen in ihrer vertraglichen Form nur zwischen den Vertragsparteien galten, erstreckte sich dieGeltung derVerfassungen aufalle Staatsbürger. Der‚Verfassungsstaat‘beanspruchte umfassende Legitimität. Ausdruck undInstrument der Staatsgewalt ist die Verwaltung oder, um mitMaxWeber zusprechen, Herrschaft äußert sich undfunktioniert als Verwaltung.¦239¿ Ihre Entstehung, Zentralisierung undBürokratisierung begleitetendie Entwicklung desstaatlichen Herrschaftsmonopols. Mitdemabsolutistischen Anspruch, dass nurderLandesherr Konflikte schlichten, Recht sprechen oder Steuern erheben durfte, entstanden die dafür notwendigen Institutionen: Kabinette, Kollegien, Kommissariate oder Inspektorate –alle miteinemanfangs kleinen, aber sich vergrößernden Mitarbeiterstab (siehe II.4.3).¦240¿ 237 238
North, Michael, Vonder atlantischen Handelsexpansion bis zudenAgrarreformen, in: 191. North, Michael (Hg.), EinJahrtausend deutsche Wirtschaft, München 2000, S. 107– 1871, München 1992; Fehrenbach, Elisabeth, Verfassungsstaat undNationsbildung 1815– Wahl, Rainer, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates, in: Isensee, Josef (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.1, Heidelberg 1987, S. 3 ff.; Dilcher, Gerhard, Vomständischen Herrschaftsvertrag zumVerfassungsgesetz, in: DerStaat 27 (1988), S.
161 ff. 239 Vgl. zurEntwicklung der Verwaltung allgemein: Jeserich, Kurt G. A., Deutsche Verwaltungsgeschichte, 5 Bde., Stuttgart 1983 ff 240 Facius, Friedrich, Wirtschaft undStaat. DieEntwicklung desstaatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17.Jahrhundert bis 1945, Boppard amRhein 1959.
144
II. Empirische Entwicklungen
Bis weit ins 18.Jahrhundert hinein wurden Justiz undVerwaltung vondenen betrieben, die vorOrtdenHerrscher in all seinen Funktionen repräsentierten und/oder sich mit ihmdie Herrschaft teilten. Die lokalen Verwaltungen handelten ausTradition undGewohnheit undwaren nurbedingt in derLage, auf Veränderungen derUmwelt unddemsich daraus ergebenden Aufgabenwandel zureagieren. Sie waren nicht strikt vondenherrschaftlichen getrennt; es gab delegierte Aufgaben, Informationsaustausch undwechselseitige Einwirkung. Mit der Zentralisierung der Verwaltung änderte sich daran zunächst wenig. Die institutionalisierte Staatsgewalt blieb stark personalisiert, d.h. auf denin seiner absolutistischen Position unangreifbaren Landesherrn bezogen. Wie im Feudalismus ging es im Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts bei derBürokratisierung undVerrechtlichung derMachtausübung mehr um patrimoniale undweniger umlegale Herrschaft. Letztere in derForm rationaler Bürokratie bildete sich erst im 19. Jahrhundert heraus undbedeutete eine institutionelle Verselbständigung derHerrschaftsbefugnisse.¦241¿ Die Staatsbürokratie zogihre Legitimation zunehmend auseinem abstrakten StaatsgedanDer Monarch selber wurde schließlich durch den modernen Anstaltsken. „ staat expropriiert, gemäß derLehre vomGesellschaftsvertrag zueinem seiner Organe degradiert, zuletzt, im 20. Jahrhundert, fast überall abgestoßen und durch einen gewählten Repräsentanten ersetzt: Auf dieser Stufe verschlang derStaatsbildungsprozess einen seiner Initiatoren“.¦242¿ Wardie Administration –bezogen aufdasWirtschaftssystem –während derersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts noch vornehmlich Ordnungsverwaltung, diedeninstitutionellen Rahmen derneuen liberal-kapitalistischen Ordnung schaffen undüberwachen sollte, sowandelte siesich imletzten Drittel allmählich ineine Eingriffs- undLeistungsverwaltung.¦243¿ Immer mehrwirtschaftsrelevante Gesetze undVerordnungen wurden erlassen. Die Regulierung nahm ebenso zu wie die direkte Steuerung. Der sich amEnde des 19. Jahrhunderts abzeichnende Interventionsstaat fand seinen administrativen Ausdruck ineinem zweiten Bürokratisierungsschub, dernicht nureine bedeutende Ausweitung des öffentlichen Dienstes mit sich brachte, sondern eine noch stärkere Hierarchisierung undFormalisierung. Für das voll entfaltete kapitalistische System wareine gutfunktionierende rationale Bürokratie konstitutiv. Einerseits war damit ein weiterer Machtzuwachs der Verwaltung – basierend auf ihrer fachlichen Kompetenz –verbunden, andererseits konnte sie seit demAufkommen politischer Parteien undwirtschaftlicher Interessenorganisationen ihre monopolähnliche Stellung impolitischen Entscheidungsprozess, die sie am Anfang des Jahrhunderts besessen hatte, nicht mehr be241 Ellwein, Thomas, DerStaat alsZufall undalsNotwendigkeit. Diejüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland amBeispiel Ostwestfalen-Lippe, Opladen 1997.
242 Wehler, Hans-Ullrich, Bd. 1 Feudalismus, S. 223. 243 Ellwein, Thomas, Entwicklungstendenzen der deutschen Verwaltung im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987), S. 13 ff.
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen
desStaates
145
haupten. Dennoch behielt sie imRahmen dessich funktional ausdifferenzierenden Aufgaben- undKompetenzzuwachses des Staates eine Schlüsselposition.¦244¿
‚Einheit‘spielt imStaatsmodell des 19. Jahrhunderts, dasdenbisherigen Bemerkungen zugrunde liegt, eine besondere Rolle. In einem einheitlichen Staat soll ein einheitliches Recht durch ein einheitliches Machtmonopol mit Hilfe einer einheitlichen Verwaltung durchgesetzt werden. Diese Einheitlichkeit war in der Frühen Neuzeit nicht vorhanden underst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es möglich, denMachtanspruch derHerrschaftszentrale, des ‚Staates‘, auch regional undlokal umfassend durchzusetzen. Dennoch spielten die Länder unddie kommunale Selbstverwaltung im föderalen Bundesstaat desKaiserreiches nach 1871weiterhin eine wichtige Rolle imstaatsorganisatorischen Gefüge.¦245¿
Die Rationalisierung undBürokratisierung vonHerrschaft warmit ihrer Demokratisierung verbunden, die zueinem allmählichen Übergang vonEntscheidungsbefugnissen auf repräsentative Organe undzueiner Erweiterung desWahlrechts im 19.Jahrhundert undzuBeginn des20. Jahrhunderts führte. Allerdings begann die administrative Rationalisierung, wieerwähnt, wesentlich früher. Auch demokratische Willensbildungs- undEntscheidungsprozesse existierten in verschiedenen Formen lange vorderparlamentarisch-repräsentativen Demokratie, diesich imBereich derdeutschen Territorien mitBeginn des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann. In einem Prozess, derdas ganze 19. Jahrhundert umfasste underst mit der Weimarer Republik seinen Abschluss fand, wurden Kompetenzen ausderHandderLandesherren –später im Rahmen eines konstitutionellen Systems –auf die Parlamente verlagert.¦246¿
Legt mantrotz derdamit verbundenen Schwierigkeiten auch fürdas 20. dasStaatsmodell des 19.Jahrhunderts alsReferenzmodell zugrunde, so ergaben sich tiefgreifende Veränderungen.¦247¿ Hinsichtlich des Staatsgebietes kann manzwischen drei Zeitabschnitten unterscheiden, wobei die kurze Expansion während dernationalsozialistischen Diktatur außer Acht gelassen wird. Dieerste Zäsur erfolgte mitdemEnde desErsten Weltkrieges, als Jahrhundert
dasDeutsche Reich anseinen Rändern 13%seiner Gesamtfläche verlor. Die zweite warmit demEnde desZweiten Weltkrieges verbunden, als Deutschland dreigeteilt wurde. Die östlichen Gebiete fielen anPolen unddie Sowjet244
Wunder, Bernd, Geschichte
der Bürokratie in Deutschland,
Frankfurt
a. M. 1986, S.
60 ff.
245 Breuer, Stefan, DerStaat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek bei Hamburg 1998.
246
247
1866. Bürgerwelt und starker Staat, Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800– München 1991. Ellwein, Thomas, Staatlichkeit im Wandel. Das Staatsmodell des 19. Jahrhunderts als Verständnisbarriere, in: Kohler-Koch, Beate (Hg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 47 ff.
146
II. Empirische Entwicklungen
union, derübrige Teil wurde inzweieigenständige Staaten aufgegliedert. Der dritte Zeitabschnitt begann 1990 als diese beiden Staaten wieder vereint wur-
den, indem die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland beitrat. ImZuge dereuropäischen Integration wurde aber immer offensichtlicher, dass die Vorstellung vomgeschlossenen Territorium allmählich wieder aufgegeben werden musste. Imwirtschaftlichen Großraum Westeuropas, derin derzweiten Hälfte des20. Jahrhunderts entstand, spielten nationale Grenzen eine immer geringere Rolle; grenzüberschreitende regionale Räume entstanden undwuchsen zusammen. Die weltweite Globalisierung tat ein Übriges, umdas „Ende der Territorien“einzuleiten. Die räumliche Geschlossenheit des Nationalstaates löste sich zunehmend auf.¦248¿ Auch das Staatsvolk waramEnde des 20. Jahrhunderts nicht mehr das, wases amEnde des 19. Jahrhunderts gewesen war. Die Gründe für das Nationalbewusstsein unddenNationalismus sind zahlreich unddasEntstehen einer kapitalistischen Weltwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dernicht nureinzelne Individuen, sondern Nationen undihre politisch-administrativen Systeme miteinander konkurrierten, ist nur einer von vielen. In jedem Fall erlebte Deutschland eine Phase desNationalismus umdieJahrhundertwende, dieim‚imperialen Nationalstaat‘ihren Ausdruck fand. Ihmschloss sich der ‚totale Nationalstaat‘ mitseinen nationalistisch-rassistischen Exzes-
sen während des Nationalsozialismus an.¦249¿ Danach wardas Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalen Identität lange Zeit gestört. Wie schwierig es war, ein nationales Zusammengehörigkeitgefühl zu entwickeln, zeigte sich erneut nach 1990. Wenige Jahre später wardeutlich geworden, dass ihrerneutes Zusammenwachsen Aufgabe mindestens einer Generation sein sollte. Dabei wurde die Vorstellung von der Einheit des Staatsvolkes noch von anderer Seite in Frage gestellt. Westeuropa entwickelte sich nach der Jahrhundertmitte nicht nurzueinem wirtschaftlichen, sondern auch –zumindest in Ansätzen –zueinem gesellschaftlichen Raum. Selbst wenneine imrechtlichen Sinne relevante europäische Staatsbürgerschaft noch nicht entstand, so trat die exklusive nationale doch allmählich in den Hintergrund. Allerdings sichert auch amAnfang des21. Jahrhunderts nochderNationalstaat diewichtigsten zivilen Bürgerrechte. Er ist es, derjenes Maßan Rechtssicherheit garantiert, ohne daseine internationalisierte Wirtschaft nicht auskommt. Er gewährleistet denterritorialen Sozialschutz, derebenfalls eine wichtige Voraussetzung für die wirtschaftliche Öffnung der Grenzen darstellt. Schließlich schafft er über Bildungseinrichtungen unddieFörderung vonForschung und Entwicklung überhaupt erst die infrastrukturellen Grundlagen für eine entgrenzte Wirtschaft.¦250¿
248 Albrow, Martin, Abschied vomNationalstaat: Staat undGesellschaft imGlobalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 1998. 249 Schulze, Hagen, Staat undNation, S. 39 ff. 250 Ambrosius, Gerold, Wirtschaftsraum Europa. VomEnde derNationalökonomien, Frankfurt a. M. 1996.
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen
desStaates
147
Auch die Staatsgewalt war im 20. Jahrhundert tiefgreifenden Veränderungen unterworfen.¦251¿ Erinnert sei daran, dass derneuzeitliche Staatsbegriff dieSouveränität nach außen unddiehierarchische Überordnung derStaatsgewaltüberalle gesellschaftlichen Kräfte nachinnen beinhaltete. Ihre Ableitung ausder Volkssouveränität ergänzte zwar diese Prämisse, verdrängte sie aber nicht. Im Gegenteil, die Idee undRealität derdemokratischen Selbstbestimmungverlieh demSouveränitätsanspruch sogar zusätzliche Legitimation. Auf die –andemokratischen Kriterien gemessene –Perversion derStaatsgewalt unter denBedingungen dernationalsozialistischen Diktatur sei andieser Stelle lediglich hingewiesen. Zunächst betraf dersäkulare Wandel dieAufgabenabgrenzung entsprechend demklassischen Schema derGewaltenteilung. Die wichtigste Funktion derParlamente indemokratischen Systemen –dieGesetzesinitiative –spielte in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine immer geringere Rolle. Sie ging weitgehend andie Exekutive über. Dagegen dehnte die rechtsprechende Gewalt ihre Kompetenzen aus, so dass wichtige politische Entscheidungen, die eigentlich legislativ oder exekutiv hätten getroffen werden müssen, immer häufiger vondenGerichten, insbesondere vomBundesverfassungsgericht, gefällt wurden.¦252¿ WasdenAufgabenwandel anbelangt, so bildete sich seit demEnde des 19.Jahrhunderts derSozialstaat heraus, dersowohl infrastrukturelle Daseinsvorsorge betrieb als auch über soziale Sicherungssysteme die Lebensverhältnisse in der kapitalistischen Wirtschaft verbesserte. Seit dem Ersten Weltkrieg übernahm derStaat zusätzlich unmittelbare Verantwortung fürdie wirtschaftliche Entwicklung, die konjunkturellen Wechsellagen unddie Wachstumsbedingungen. Ein dritter zentraler Aufgabenbereich wurde ihmüberantwortet, als in den 1970er Jahren die Einsicht wuchs, dass die industrielle, aber auch die dienstleistende Gesellschaft in immer größerem Ausmaß ihre eigenennatürlichen Grundlagen zerstörte. Der‚ökologische Staat‘versuchte, durch rechtliche Auflagen undpolitisch-administrative Eingriffe die Zerstörung der Umwelt einzugrenzen unddie zahlreichen anderen Risiken einer hochzivilisierten Gesellschaft zu mindern.¦253¿ Es ist die Frage, ob sich der Staat bei all diesen Aktivitäten nur komplementär undreaktiv auf Ausgleichs- undKorrekturmaßnahmen gegenüber demseiner eigenen Logik folgenden marktwirtschaftlichen System beschränkte oder ober aktiv gestaltend dieEntwicklung dieses System beeinflusste. Injedem Fall waren dieFunktionsimperative ausgeprägt undes spricht einiges dafür, dass derStaat mehr Objekt undweniger Subjekt der wirtschaftlichen Prozesse war. Am Ende des 20. Jahrhunderts 251 Singer, Alex, 252 253
Nationalstaat undSouveränität. ZumWandel des europäischen Staatensystems, Frankfurt a. M. 1993. Hartwich, Hans-Hermann (Hg.), Regieren inderBundesrepublik, 5 Bde., Opladen 1990– 1993. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. AufdemWegineine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.
148
II. Empirische Entwicklungen
wurde zudem deutlicher, dass er mitdiesen vielfältigen Aufgaben überlastet war, daßschon ausfinanziellen Gründen derprivat-gesellschaftlichen Selbststeuerung wieder eine größere Bedeutung zukommen musste.¦254¿ Diezweite Hälfte des20. Jahrhunderts erlebte eine Aushöhlung derhierarchischen Dominanz desStaates überdie sich zunehmend ausdifferenzierende Gesellschaft. Politische Entscheidungen wurden immer ausgeprägter in
„etzwerken“diskutiert und korporatistischen Verbänden undpluralistischen N entschieden, bevor die hoheitlichen Instanzen darüber befinden konnten. Der ‚polizentrische‘Staat warimausgehenden 20. Jahrhundert in ein immer verzweigteres undein immer dichteres Geflecht vongesellschaftlichen Abhängigkeiten undBeziehungen eingebunden.¦255¿ Einerseits wurde staatliches Handeln in der Verhandlungs- undKonsensdemokratie –Verhältniswahlrecht, fragmentierte Wählerschaft, Mehrparteiensystem –komplizierter, u.a. weil die Ansprüche andemokratische Legitimation undAkzeptanz stiegen. Andererseits wurden Regierungen undVerwaltungen durch diese neuen korporatistischen, klientelistischen undpluralistischen Beziehungen, durch Bürgerinitiativen undandere nicht-staatliche Organisationen entlastet. Besonders im sogenannten Dritten Sektor nahm der Staat zunehmend Formen gesellschaftlich-autonomer Selbststeuerung hin. Der ‚kooperative Staat‘sollte in dererstarkten ‚zivilen Bürgergesellschaft‘eine neue Rolle finden.¦256¿ Wasdie Bürokratie anbelangt, wird manzunächst davon ausgehen können, dass sich bürokratische Organisationsformen angesichts der steigenden Komplexität politischer Sachverhalte weiter ausbreiteten. Zumindest nahm der Anteil deröffentlichen anallen Beschäftigten noch zu. Erst amEnde des 20. Jahrhunderts stagnierte diese Expansion (siehe II.4.2). ZwarsankdieSteuerungskapazität derpolitischen Instanzen, insbesondere derParlamente, während sich derGestaltungsspielraum derVerwaltungen ausdehnte. Allerdings waren letztere nicht mehr jene zentralistisch-monistischen Gebilde, die sie vielleicht einmal im 19.Jahrhundert –wahrscheinlich mehrinderTheorie als inderPraxis –gewesen waren. Voneinem hierarchisch-administrativen Zentralismus konnte jedenfalls immer weniger die Rede sein. Stattdessen sprach manvonder Erschöpfung der Hierarchie als gesellschaftlichem Organisationsprinzip. Der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität begegnete die Verwaltung mit Delegation und Dezentralisierung, mit der Nutzung außerbürokratischer Sachkompetenz undauch mit Deregulierung, umsich auf die-
254 Willke, Helmut, Prinzipien politischer Supervision, in: Bußhoff, Heinrich (Hg.), Politische Steuerung. Steuerbarkeit undSteuerungsfähigkeit. Beiträge zurGrundlagendiskussion, Baden-Baden 1992, S. 51 ff. 255 Willke, Helmut, Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik undRiskanz mo-
256
derner gesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim 1993; Willke, Helmut, Supervision des Staates, Frankfurt a. M. 1997. Brink, Bert vanden(Hg.), Bürgergesellschaft, Recht undDemokratie, Frankfurt 1994; Alemann, Ullrich von(Hg.), Bürgergesellschaft undGemeinwohl. Analyse, Diskussion, Praxis, Opladen 1999.
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
desStaates
149
se Weise zuentlasten. Einen harten Antagonismus zwischen Staat undWirtschaft gab es wohl nie, aber doch zwei relativ deutlich voneinander abgegrenzte öffentliche undprivate Sphären. Diese Grenze verwischte am Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend. Es bildete sich eine die Distanz zwischen
öffentlicher Verwaltung undprivater Wirtschaft überbrückende ‚Kooperationsverwaltung‘ heraus, die nicht mehr wie die hoheitliche Eingriffsverwaltung vorgegebene Entscheidungen exekutierte, sondern nachVorverhandlungenundinformellen Konsensbildungen unter bewusstem Verzicht aufansich mögliche Sanktionen Problemlösungen mitdenBeteiligten zuerreichen versuchte.¦257¿ Als sogenannte ‚Public Private Partnerships‘übernahmen öffentlicheundprivate Hände gemeinsam Aufgaben. Schließlich wurden traditionell öffentliche Funktionen inzunehmendem Maßeganzprivatisiert. Generell ging derTrend dahin, dass derStaat bestimmte Leistungen fürdieWirtschaft und denBürger nurnochgewährleistete –unabhängig vonderorganisationsrechtlichen Form, inderdieLeistungserfüllung erfolgte. DieEntwicklung seit dem 19.Jahrhundert kannalso auchalsdievomOrdnungs- überdenRegulierungsundInterventions- zumGewährleistungs- undVerhandlungsstaat charakterisiert werden. Die Frage, ob daraus ein genereller Kompetenzverlust der Administration folgte, ist kaum zu beantworten. Die traditionelle Verwaltung musste zwar ihr Verhalten undihr Instrumentarium ändern; sie besaß aber nach wievorein ausgeprägtes Steuerungspotential.¦258¿ EinKompetenzverlust drohte demNationalstaat allerdings durch dieGlobalisierung derWirtschaft unddieTransnationalisierung derWirtschaftspolitik.¦259¿ Umdie Wettbewerbsfähigkeit dernationalen Wirtschaft angesichts der zunehmenden Verflechtung derProduktmärkte unddersteigenden Mobilität derProduktionsfaktoren zusichern, warer gezwungen, eine Politik zubetreiben, dieihmvonaußen, überdieWeltmärkte, aufgezwungen wurde. DieIntegration imRahmen derEuropäischen Union machte zudem deutlich, dass die Kongruenz von politischer Herrschaft, Rechtsordnung, Wirtschaftssystem – vielleicht sogar sozio-kultureller Identität –undTerritorialität verloren zugehenbegann. Mit deneuropäischen Institutionen, insbesondere mitder Kommission unddemGerichtshof, bildete sicheintransnationales Gebilde eigener Art heraus, das zwar kein Gewaltmonopol und auch kein Staatsvolk besaß, dasaberdennoch Kompetenzen übernahm, diebisdahin derNationalstaat für sich beansprucht hatte.¦260¿ DasEuroparecht begann nationales Recht zuüber-
257
Naschold, Frieder, Modernisierung
desStaates. ZurOrdnungs- undInnovationspolitik
des öffentlichen Sektors, Berlin 1993.
258 Heritier, Adrienne (Hg.), Policy-Analyse, Opladen 1993. 259 Zürn, Michael, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung undDenationalisierung als Chance, Frankfurt a. M. 1993; Scharpf, Fritz W., Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), S. 41 ff. 260 Breuer, Stefan, Staat, S. 283 ff.
II. Empirische
150
Entwicklungen
lagern. Manche glaubten schon dieGrundzüge einer europäischen Verfassung
zuerkennen. Es gab einen Europäischen Gerichtshof, derunmittelbar Recht sprach. Es entwickelte sich eine Exekutive, die direkt in die Kompetenz der nationalen Verwaltungen eingriff. Amaugenfälligsten wurde der nationale Souveränitätsverlust vielleicht bei der Gründung der Europäischen Zentralbank, mitderdie Mitgliedstaaten einwichtiges Element ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz aneine supranationale Institution abtraten. Aufdiese Wiese kristallisierte sicheineuropäischer Quasi-Staat heraus, derganzandere Strukturmerkmale aufwies als dertraditionelle Nationalstaat. Letzterer drohte zwischen der Supranationalitätder europäischen Zentralorgane und der Infranationalität der regionalen Gebietskörperschaften zerrieben zu werden. Die territoriale Entgrenzung staatlicher Politik warjedenfalls offensichtlich. Es gibt allerdings auch die radikal andere Aufpassung, nach der der Nationalstaat
gerade durch die europäischen Institutionen seine Handlungsfähigkeit nicht nurwahrte, sondern sogar erweiterte. Injedem Fall warer immer stärker in einpolyzentrisches System, inein variables Geflecht öffentlicher Handlungsebenen ohne hierarchische Spitze eingebettet. Er musste Souveränität teilen, umHandlungsfähigkeit zurückzugewinnen.
4.2 Makroökonomische Indikatoren derStaatstätigkeit
Es istausgesprochen schwierig, dieökonomische Bedeutung desStaates quantitativ zu erfassen.¦261¿ Die folgenden Indikatoren können daher nureinen ersten Eindruck vermitteln. Es handelt sich dabei umdiejenigen, die üblicherweise angeführt werden, wennes darum geht, denUmfang desöffentlichen Sektors innerhalb derWirtschaft zudokumentieren: derAnteil derStaatsausgaben und-einnahmen amSozialprodukt, der Anteil deröffentlich Beschäftigten anderGesamtbeschäftigung, derAnteil deröffentlichen Investitionen andenGesamtinvestitionen. Staatsquoten
DerStaat musssich alspolitisch-administrative Institution undalswirtschaftsundsozialpolitischer Akteur finanzieren. Dazuschöpft er Mittel ausdemwirtschaftlichen Kreislauf ab,ermöglicht mitihnen dieEigenproduktion vonGüternundDiensten, verteilt sie umundlässt sie wieder indenKreislauf zurückfließen. Setzt mandieEinnahmen undAusgaben inRelation zumGesamtwert derGüter undDienstleistungen, dievoneiner Volkswirtschaft imLaufe eines Jahres erstellt werden – , soerhält mansogenannte StaatsdemSozialprodukt – 261 Vgl. Littmann, Konrad, Definition undEntwicklung derStaatsquote –Abgrenzung, Aussagekraft undAnwendungsbereiche unterschiedlicher Typen vonStaatsquoten, Göttingen 1975.
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen des Staates
151
quoten. Sie werden häufig als ‚der‘makroökonomische Ausdruck desStaates angesehen. Vor einer Überinterpretation muss allerdings gewarnt werden. Abgesehen davon, dass die Berechnung von Staatsquoten auf nicht wenige methodische und–besonders unter langfristiger historischer Perspektive – statistische Probleme stößt, aufdiehier nicht eingegangen werden kann, müssenStaatsquoten differenziert analysiert werden, umzutragfähigen Aussagen überdasVerhältnis vonStaat undWirtschaft zugelangen. AusderHöheeinzelner Anteilswerte können nurbedingt Schlussfolgerungen gezogen werden; erst ihre Entwicklung macht sinnvolle Aussagen möglich.¦262¿ Staatsausgaben: Die gebräuchlichste Messziffer zurErfassung der staatlichen Aktivitäten ist wohl die Gesamtausgabenquote. Alle Ausgaben des öffentlichen Sektors werden ins Verhältnis zumBruttosozialprodukt zuMarktpreisen gesetzt. Die Staatsausgaben bestehen ausfolgenden Positionen:
Staatliche Käufe vonGütern und Dienstleistungen (=Sachausgaben) + Zinsen, Löhne, Gehälter, Bezüge (=Faktorentgelte)
= Realausgaben desStaates + Transfers anprivate Haushalte + Subventionen anprivate Unternehmer
= Gesamtausgaben desStaates Die Gesamtausgabenquote soll anzeigen, in welchem Umfang derStaat mittels seiner Ausgaben in denWirtschaftskreislauf eingreift undüber dasBrut-
große“Staatsquote ist allerdings keine echte tosozialprodukt verfügt. Diese „ Quote, dadieTransferzahlungen, z.B. Renten, kein Bestandteil desBruttosozialproduktes sind. DadieTransferzahlungen abergleichzeitig Ausgaben des Staates undEinnahmen der Privaten sind undvonletzteren wieder ausgegebenwerden, übersteigt die Summe ausstaatlichen undprivaten Ausgaben das Sozialprodukt, wasdefinitionsgemäß eigentlich nicht möglich ist. Die Gesamtausgabenquote lag in den 1820er Jahren –bis zurGründung des Deutschen Reiches auf Preußen bezogen –wegen des hohen kriegsbedingten Schuldendienstes bei 13 bis 15%, sank dann bis in die 1840er Jahre auf knapp unter 10%, umbis in die 1870er Jahre erneut auf etwa 13% anzusteigen.¦263¿ Von einer Kontraktion der öffentlichen Haushalte in dieser Anlauf- und Durchbruchsphase der Industrialisierung kann also nicht gesprochen werden. ImGegenteil, dieöffentlichen Ausgaben folgten nicht nurdem sich in dieser Zeit beschleunigenden Wachstum des Sozialprodukts, sie stie-
262 Blankart, Charles Beate, Neuere Ansätze zurErklärung desWachstums derStaatsausgaben, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- undGesellschaftspolitik 22 (1977), S. 73 ff. 263 Zumfolgenden Leineweber, Norbert, Dassäkulare Wachstum derStaatsausgaben. Eine kritische Analyse, Göttingen 1988, S. 237 ff.
Quelle: Gerold Ambrosius, Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 1990, S. 59
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II. Empirische Entwicklungen
4. Kapitel: Historische Ausprägungen des Staates
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gen sogar noch schneller an. Die zivilen Ausgaben nahmen bis zur Reichsgründung zwar nicht stärker zuals dasSozialprodukt, dasAngebot öffentlicher Güter verbesserte sich aber dennoch. Besonders expandierten die staatlichen Leistungen imBildungswesen –Erweiterung derallgemeinen Volksschulpflicht, Ausbau derUniversitäten undtechnischen Hochschulen – , was Bildungsoffensive“bezeichnet werden kann. DieAusgaben der durchaus als„ Allgemeinen Verwaltung, diedenwichtigsten Teil derzivilen Ausgaben ausmachten, nahmen dagegen unterdurchschnittlich zu; im halben Jahrhundert zwischen den 1820er und 1870er Jahren ging ihr Anteil am Sozialprodukt zurück. Dasdeutet daraufhin, dass dieadministrativen Infrastrukturen derInneren Verwaltung, desFinanz- undSteuerwesens, derÖffentlichen Sicherheit und des Gerichtswesens zumindest teilweise aus der Vorperiode übernommenwurden. Auch die relative Bedeutung der Ausgaben zur Förderung der wirtschaftlichen Infrastruktur nahmab. DiefürdasSozial- undGesundheitswesen veränderte sichzwarwenig, d.h., dieindiesem Bereich getätigten Ausgaben expandierten absolut so stark wie die Gesamtausgaben, ihr Anteil an diesen betrug aber nurzwischen gutdrei undknapp fünf Prozent. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Bis zurReichsgründung konzentrierten sich zwischen zweiDrittel unddrei Viertel aller Staatsausgaben aufdieFunktionalbereiche Allgemeine Verwaltung undMilitär. ImKaiserreich verlief dieEntwicklung relativ stetig. Zunächst veränderte sich dieAusgabenquote kaum, umdannseitden1890er Jahren biszumErsten Weltkrieg vonca. 13 auf 17% anzusteigen. Wie vor 1871 expandierten die Ausgaben fürdasSchul- undBildungswesen undnunauchdie fürdasSozialundGesundheitswesen relativ stark. DerAnteil derAllgemeinen Verwaltung andenGesamtausgaben warweiterhin rückläufig. FürdenZeitraum von 1913 bis 1924 fehlen exakte Angaben; Krieg und Inflation ließen keine genaue Erfassung zu.Die Entwicklung setzte Mitte der 20er Jahre nicht nurauf einem im Vergleich zurVorkriegszeit höheren Niveau ein, die Quote stieg auch –unterbrochen voneinem Rückgang in der Weltwirtschaftskrise –deutlich schneller an. AmEnde der30er Jahre lag sie bei knapp 40%. Die Niveauverschiebung undder schnellere Anstieg hatten ihre Ursachen während derWeimarer Republik inderExpansion desSozialundGesundheitswesens, während dernationalsozialistischen Diktatur in den rasant zunehmenden Rüstungsausgaben. Der Anteil der Ausgaben für das Sozial- undGesundheitswesen an den Gesamtausgaben lag 1926 bei 30%, 1937 bei 20%, derderMilitärausgaben bei 15% bzw. knapp 30%. NachdemZweiten Weltkrieg nahmdieStaatsquote in denersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik zwar schneller zu als im Kaiserreich, aber nicht so schnell wieinderZwischenkriegszeit. Diese Zunahme beschleunigte sich in derersten Hälfte der70er Jahre, stagnierte undverwandelte sich in eine Abnahme während der80er Jahre. DieVereinigung derbeiden deutschen Staaten ließ die Quote erneut aufdenHöchststand der70er Jahre mitknapp 50% springen; während der 90er Jahre nahm sie erneut leicht ab. Zunächst
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II. Empirische Entwicklungen
waren es wiederum die Bildungs- undSozialausgaben, diediese Entwicklung prägten. Seit den70er Jahren weitete sich dannderAnteil derSchuldenfinanzierung an den Gesamtausgaben deutlich aus. Der Ausgabenanstieg im Zusammenhang mitderdeutschen Vereinigung hatte vorallem mitdemAusbau derökonomischen undadministrativen Infrastruktur inOstdeutschland zutun. Ein Vergleich der Gesamtausgabenquote mit undohne Sozialversicherung macht deutlich, wie sehr der Anstieg derAusgabenquote im20. Jahrhundert durch dieTransfers derSozialversicherung bewirkt wurde. Eine „ echtere“Quote bildet das Verhältnis zwischen den Realausgaben unddemSozialprodukt, weil sie eben nicht die Transfers undSubventionen beinhaltet. Die Realausgabenquote zeigt, welchen Anteil der Staat an der volkswirtschaftlichen Produktion besitzt, d.h., welcher Anteil nicht über den Markt verteilt wird. Während sie sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg etwa parallel zur Gesamtausgabenquote entwickelte, in den 20er Jahren sogar hinter ihr zurückblieb, stieg sie im Zuge der nationalsozialistischen Aufrüstung in den30er Jahren steil an. Sie nahmauch nach demZweitenWeltkrieg bis indie 1970er Jahre deutlich zu.Lässt mandie nationalsozialistische Zeit außer Acht, so expandierte sie im20. Jahrhundert bis Mitte der 70er Jahre relativ gleichmäßig vonca. 10% auf gut 20%. Danach stagnierte sie oderging sogar leicht zurück. Aufdiebesondere Entwicklung imZugeder deutschen Vereinigung sei lediglich hingewiesen. Die zentrale These zur langfristigen Entwicklung der Realausgaben lautet: Die Transformation des alten merkantilistischen in dasneue liberale System seit demEnde des 18. Jahrhunderts erforderte zunächst die Schaffung einer entsprechenden institutionellen undökonomischen Infrastruktur; die Realausgaben wurden durch die Produktions- oder Angebotsseite der Wirtschaft bestimmt. Danach, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trat immer mehrdiekollektive Nachfrage nachProdukten dersozialen Infrastruktur in den Vordergrund. Tatsächlich nahm der Anteil der Ausgaben für die institutionelle Infrastruktur in FormderAllgemeinen Verwaltung, derRechtsprechung undder Inneren Sicherheit an den öffentlichen Gesamtausgaben seit demzweiten Drittel des 19.Jahrhunderts ab. DerRückgang setzte sich in derZwischen- undNachkriegszeit weiter fort, stagnierte inden 1960er Jahren undkehrte sich in einen leichten Anstieg um. Der Ausgabenanteil für den klassischen Bereich der wirtschaftlichen Infrastruktur –Verkehr undKommunikation, Ver- undEntsorgung –ging vomEnde des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit hinein ebenfalls zurück, stieg nach demZweiten Weltkrieg abererneut an.InderÜbergangsphase zurvoll entwickelten Industriegesellschaft mit ausgebautem Sozialsystem während derZwischen- und Nachkriegszeit expandierte zunächst der Ausgabenanteil der sozialen Infrastruktur –Sozial- undGesundheitswesen (ohne Transfers derSozialversiche, seit den 1960er Jahren dannerneut auch der fürdas Ausbildungsrungen) – wesen. Es existieren Entwicklungen, die nicht oder nur bedingt in das Bild vonderwechselnden Dominanz zunächst produktiver unddann konsumpti-
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Historische Ausprägungen
desStaates
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veröffentlicher Güter passen, zumal es keine klare Trennung zwischen produktiver undkonsumptiver Nutzung gibt. Dennoch zeigt diefunktionale Gliederung der Realausgaben für das 19. und20. Jahrhundert eine Wellenbewegung: Handelte es sich bei denöffentlichen Gütern undDienstleistungen in derAufbauphase derkapitalistischen Wirtschaft mehr umproduktions-, d.h. angebotsorientierte Basis- undZwischenprodukte, so wurde die öffentliche Produktion im Folgenden verstärkt durch die Bereitstellung konsumptiver Endprodukte geprägt. Diese Entwicklung kehrte sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wieder um,weil öffentliche Ausgaben zurBewältigung der technisch-wissenschaftlichen Umwälzungen undderökologischen Folgekosten derindustriellen Produktion anBedeutung gewannen. Die Zunahme derRealausgabenquote muss nicht bedeuten, dass derAnteil dervomStaat bereitgestellten Güter undDienste amSozialprodukt „real“ gestiegen ist. Es kommt vielmehr darauf an, wiesich die Preise fürdie Güter, die derStaat vonUnternehmen kauft, unddie Produktions- undinsbesondere die Personalkosten imöffentlichen Dienst im Vergleich zudenen in derGesamtwirtschaft verändern. Dazumindest indenletzten Jahrzehnten diePreise, die der Staat für die von Unternehmen erworbenen Güter zahlte, schneller stiegen als der Preisindex des Bruttosozialprodukts, fällt bei realer BetrachtungderAnstieg desAngebots öffentlicher Güter undDienstleistungen geringer aus als bei nominaler. Dies gilt auch fürdie Personalkosten des öffentlichen Dienstes, die zwar nicht als Folge vonLohn- undGehaltserhöhungen, aberals Folge desveränderten Stellenkegels stärker stiegen alsdiedergesamtenWirtschaft. DerAnteil derrealen staatlichen Wertschöpfung wies daher in den letzten Jahrzehnten nicht eine steigende, sondern im Gegenteil eine fallende Tendenz auf. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass solche Dereale“Welt führen. flationierungen in eine fiktive, nicht existierende „ Staatseinnahmen: DerStaat mussseine Ausgaben durch Einnahmen finanzieren, die sich grundsätzlich wie folgt zusammensetzen:
Steuern i.e.S.
+ Beiträge (incl. zurSozialversicherung) + Gebühren = Steuern i.w.S. (Abgaben) + Erwerbseinkünfte + Zinseinkünfte
= Einnahmen ohne Kreditaufnahme + Kredite = Gesamteinnahmen DieSteuer- oderAbgabenquote macht deutlich, inwelchem Umfang derStaat das Sozialprodukt vereinnahmt. Die Steuerquote setzt die Steuern i.e.S. ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt, die Abgabenquote die Steuern i.w.S.
Quelle: Gerold Ambrosius, Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 1990, S. 61
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II. Empirische Entwicklungen
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
des Staates
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Angesichts mangelhafter Daten ist es nicht möglich, Abgaben- undSteuerquoten fürdieersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts zuberechnen.¦264¿ Sie dürften aber in etwa so hoch gelegen haben wie im Kaiserreich. In denJahrzehnten vor demErsten Weltkrieg entwickelten sich beide Quoten parallel zueinander auf gleichbleibend niedrigem Niveau von 4 bis 5%. Nach dem Krieg stiegen sie sprunghaft anundnahmen inden20er und30er Jahren weiter zu, so dass sie 1937 23 bzw. 26% ausmachten. Bereits 1950 hatten die Quoten dieses Niveau wieder erreicht. ImGegensatz zurZwischenkriegszeit blieb der Anteil des Sozialproduktes, dervomStaat als Steuern abgeschöpft wurde, vonnunanmit23 bis 25% inetwa konstant. DieSozialversicherungsbeiträge undsonstigen Sozialabgaben nahmen dagegen weiter zu,so dass die Abgabenquote bis Anfang der 70er Jahre expandierte. Erst seit der zweiten Hälfte der70er Jahre stagnierte sie. Der Solidaritätszuschlag imZusammenhang mit der deutschen Vereinigung hatte dann einen nochmaligen Anstieg zurFolge. ImGroßen undGanzen entwickelten sich beide Quoten imletzten Viertel des20. Jahrhunderts wieeinJahrhundert zuvor wieder parallel. Während allerdings die Differenz zwischen ihnen amEnde des 19. Jahrhunderts 2 bis 3 Prozentpunkte ausmachte, betrug sie am Ende des 20. Jahrhunderts 17bis 18Prozentpunkte.
Öffentlich Beschäftigte
Im Hinblick auf die Zahl der öffentlich Beschäftigten liegen für die Zeit vor 1800 entweder mehroderweniger fragwürdige globale Schätzungen oderaber detaillierte Angaben nurfüreinzelne Verwaltungsbereiche und-bezirke vor.¦265¿ Auchfürdieersten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts sinddiestatistischen Angaben noch sehr lückenhaft. Einem Vergleich mit den genaueren Angaben seit demKaiserreich stehen aber nochandere Probleme imWege. Diegesamte ständische, kommunale undadelige Selbstverwaltung, die vor 1800 aufder lokalen Verwaltungsebene vorherrschend war, ist nicht erfasst. Darunter fiel auchdergrößte Teil derpersonalintensiven Finanzverwaltung aufderunteren undmittleren Ebene, diezudem nicht selten in Form derSteuerpacht privatisiert war. Die ständische Verwaltung wurde größtenteils ehrenamtlich als adelige oder patrizische Nebentätigkeit undnicht hauptberuflich vonBeamten erledigt. Generell wurden weite Bereiche desgesellschaftlichen Lebens nicht vomStaat imengen Sinne, sondern vonselbständigen Korporationen organisiert. Die Grenzen zwischen demöffentlichen, einschließlich desstaatlichen, unddem privaten Sektor waren fließend. Das Bildungswesen, die Armen-, Kranken-, Alten- undWaisenfürsorge blieben denKirchen, Kommunen und 264 Jüngling, Michael, Staatseinnahmen insäkularer Sicht. Eine kritische Studie, Göttingen 1991.
265 Wunder, Bernd, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, 44 ff.
Frankfurt
a. M. 1986, S.
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II. Empirische Entwicklungen
entsprechenden Stiftungen überlassen. Des Weiteren wurden Arbeiter und Subalterne, dieimTagelohn beschäftigt wurden, nicht zurBeamtenschaft gezählt undauch nicht alsöffentlich Beschäftigte erfasst. Manmussbis weit ins 19. Jahrhundert hinein zwischen der sehr kleinen Gruppe der Beamten im heutigen Sinne undderdeutlich größeren Zahlderinverschiedener Form und Position im „ öffentlichen“Sektor Beschäftigten unterscheiden.¦266¿ Eine außerordentlich vage Schätzung kommt zu demErgebnis, dass in Preußen um 1800 –ohne dasJustizwesen, die adelige Patrimonialherrschaft, das Bildungswesen, die Geistlichkeit und nebenamtliche Tätigkeiten –ca. 50.000 Personen imZivildienst inderHoheitsverwaltung auflokaler, provinzieller undstaatlicher Ebene beschäftigt waren. Bei einer Einwohnerzahl von knapp neun Millionen wären das etwa 6 öffentlich Bedienstete/Beamte auf 1000 Einwohner gewesen. Die Zahl der höheren Berufsbeamten im strengen Sinne dürfte dagegen mitca. 1.400, einschließlich derSubalternbeamten knapp 5.000, wesentlich kleiner gewesen sein. InWürttemberg betrug diese Relation in den 1820er Jahren einschließlich desBildungswesens etwa 7 undin Baden ebenfalls etwa 7. In diesen Jahrzehnten wurde zwar die Zahl der hauptberuflich Bediensteten erhöht, d.h. die Verwaltung professionalisiert, dieGesamtzahl der in der Verwaltung Beschäftigten aber nur bedingt verändert, so dass sich amVerhältnis zurBevölkerungszahl kaumetwas änderte. Bei aller Fragwürdigkeit des Vergleichs sollen doch die entsprechenden Relationszahlen fürdasKaiserreich unddie Bundesrepublik genannt werden. In den 1870er Jahren machte die Zahl der öffentlich Bediensteten an 1.000 Einwohnern ohne Militär etwa 12 aus, vierzig Jahre später vor demErsten Weltkrieg etwa23. Absolut verdreifachte sichdieZahl deröffentlich Beschäftigten indieser Zeit. Die Zunahme ging wesentlich aufdie Expansion deröffentlichen Verkehrsbetriebe –BahnundNahverkehr –sowie desPostwesens zurück. Außerdem wurden aufkommunaler Ebene auchdieanderen Bereiche dermodernen Daseinsvorsorge ausgebaut. Indereigentlichen Verwaltung und im Bildungswesen verdoppelte sich die Zahl der Beschäftigten.¦267¿ In den folgenden sieben Jahrzehnten biszumEnde deralten Bundesrepublik 1990 nahm die Zahl deröffentlich Bediensteten pro 1.000 Einwohner mit54 noch einmal ummehr als 100% zu. Dabei blieb der Anteil der Verwaltung im engeren Sinne –oberster Staatsapparat, Innen- undFinanzverwaltung, Rechtswesen – fast unverändert, während vorallem dasSozial-, Gesundheits- undBildungswesen expandierte. DerAnteil derPersonalausgaben andenöffentlichen Gesamtausgaben nahmbei allen Gebietskörperschaften stark zu.¦268¿
266 Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1. Bd., S. 254 ff. 267 Schmidt, Günther/Treiber, Hubert, Bürokratie undPolitik. Zur Struktur und Funktion derMinisterialbürokratie inderBundesrepublik Deutschland, München 1985, S. 83 ff. 268 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hg.), verschiedene Jahresgutachten, Wiesbaden, verschiedene Jahrgänge.
4. Kapitel: Historische Ausprägungen des Staates
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Öffentliche Investitionen
DerStaat nimmt nicht nureinen Teil derArbeitskräfte fürseine Produktion in Anspruch, sondern auch einen Teil des Kapitals. Wiederum ist es nicht einfach, adäquate Koeffizienten zu erstellen, hängt es doch davon ab, wie der Staat bzw. deröffentliche Sektor definiert wird. Dereinzige Anteilswert, der sich mehroder weniger durchlaufend vom19.Jahrhundert bis zurGegenwart berechnen lässt, isteine Nettoinvestitionsquote.¦269¿ Sie stellt dieNettoinvestitionen deröffentlichen Gebäude unddesöffentlichen Tiefbaus indasVerhältnis zu den gesamten volkswirtschaftlichen Nettoinvestitionen. Diese Quote bildet dengeringsten Anteil deröffentlichen anallen Investitionen, dasie nur Real-, nicht aber Finanzinvestitionen erfasst unddie Investitionen öffentlicher Unternehmen –z.B. die der Eisenbahnen –ebenfalls nicht berücksichtigt. DerAnteilswert ansich besitzt also nurbedingt Aussagekraft; es kommt aufseine Entwicklung an.Fürdie zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg ergibt sich ein relativ gleichmäßiger Anteil, der um 10% schwankt. FürdieZwischenzeit liegt er deutlich höher. Die Lücke indenJahren 1931 und 1932 kommt dadurch zustande, dass in dieser Zeit die gesamtwirtschaftlichen Nettoinvestitionen nicht einmal durch die Ersatzinvestitionenausgeglichen wurden. In den50er Jahren fiel derAnteil wieder auf den Wert derZeit des Kaiserreichs zurück. Fürdie Bundesrepublik ist die Quote derNettoinvestitionen praktisch identisch mitderderBruttoanlageinvestitionen, sodass nurletztere verwendet wurde. Inden60er Jahren stieg deröffentliche Investitionsanteil erneut an, umin den80er Jahren mitgut 10% inetwa wieder sohochzuliegen wievordemErsten Weltkrieg. Würde manalle Investitionen öffentlicher Verwaltungen undöffentlicher Unternehmen zugrunde legen, läge die Quote teilweise deutlich höher.
4.3 Organisation derStaatsverwaltung Die organisatorische Entwicklung der staatlichen Administration im Allgemeinen soll hier amBeispiel derWirtschaftsverwaltung imBesonderen dargestellt werden. Sie bildet die administrative Nahtstelle zwischen Staat und Wirtschaft.¦270¿
269 Hoffmann, Walther, Das Wachstum derdeutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19.Jahrhunderts, Berlin 1965; Littmann, Konrad, Definition Definition undEntwicklung der Staatsquote: Abgrenzung, Aussagekraft und Anwendungsbereiche unterschiedlicher Typen vonStaatsquoten. 270 Zumfolgenden Facius, Friedrich, Wirtschaft undStaat. Die Entwicklung derstaatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17.Jahrhundert bis 1945, Boppard amRhein 1959; Hubatsch, Walter, Entstehung undEntwicklung des Reichswirtschaftsministeri1933. EinBeitrag zurVerwaltungsgeschichte derReichsministerien. Darstelums1880– lung und Dokumentation, Berlin 1978; Jeserich, Kurt G.A. (Hg.), Deutsche Verwal1988. tungsgeschichte, 5 Bde., Stuttgart 1983–
Quellen: W.G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a., 1965; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten.
0 6 1
II. Empirische Entwicklungen
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
desStaates
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Territoriale Wirtschaftsverwaltung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Bis in das späte 18. Jahrhundert hinein
wurde im Fürstenstaat patrimoniale Herrschaft ausgeübt, d.h., der Fürst organisierte seine politische Macht über das staatliche Gebiet wie der patriarchalische „Hausvater“die Grund- und Leibherrschaft überdieUnfreien. Patrimoniale Ämter stellten delegierte Pfründedar, diederpersönlichen Bereicherung dienten. Dennoch fanden gleichzeitig eine bürokratische Verselbständigung undfunktionale undorganisatorische Differenzierung statt. In langwierigen Auseinandersetzungen mit den Ständen wurden zunächst die landesherrliche Finanz- undVermögensverwaltung von der übrigen Administration getrennt, dann organisatorisch undinhaltlich zwischen Verwaltung undJustiz unterschieden undspäter dieweitere funktionale Differenzierung vorangetrieben. Dabei entwickelte sicheinWechselverhältnis zwischen Organisation und Aufgaben; ein Aufgabenwandel brachte nicht nurneue Organisationen mit sich, sondern ein Organisationswandel brachte oftmals auch neue Aufgaben. DerHofrat oderdie Hof- oderRentkammer waren bis indiezweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein die Organe, in denen Wirtschaftspolitik, insbesondere die Verwaltung der Domänen undRegalien, betrieben wurde. Vor allem die Kammer als oberste Finanzbehörde erledigte gleichzeitig Aufgaben, die auch Handel undGewerbe betrafen. Diese ersten rudimentären Ansätze einer eigenständigen Wirtschaftsverwaltung genügten nicht mehr, als im merkantilistischen Zeitalter seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts derabsolutistische Territorialstaat inzunehmendem Maße indenAufbau und denAblauf derWirtschaft einzugreifen begann. Neben derKameral- entstand eine eigene Kommerzialverwaltung, zuerst undals Vorbild für die anderen deutschen Staaten das Kommerzkollegium in Wien imJahre 1666. Die Aufgaben dieser neuen Behörden waren folgende: Überwachung des gesamten Handels-, Gewerbe- undZollwesens, d.h. unter anderem derdiversen Privilegien, Patente undLizenzen; Gründung, Förderung undInspektion vonKompagnien undManufakturen, vonMärkten undMessen, Kauf- undLagerhäusern; Berichterstattung über die wirtschaftlichen Verhältnisse im Ausland. AuchVerkehrsangelegenheiten wiederAusbau derStraßen- undSchifffahrtswege, die Flussregulierung undder Hafen- undKanalbau konnten zumAufgabenbereich gehören. Feste Behördenorganisationen entstanden anfangs nicht, sondern lediglich locker gefügte, kommissarische Institutionen, in denen sich Beamte aus anderen Behörden für bestimmte Zwecke auf Zeit zusammenfanden. Neuwar, dass ihnen auch nichtbeamtete Vertreter des Kaufmanns- undHandelsstandes angehörten. Sie trugen wesentlich dazu bei, den Kommerzialbehörden zunächst den Charakter bloßer Beiräte zu geben. Für kleine Territorien bildeten sie schon aus finanziellen Gründen die einzige Möglichkeit, beiwirtschaftlichen Angelegenheiten administrativ tätig zuwerden. Aber auch diegroßen Staaten bedienten sich solcher „Wirtschaftsbehör: In Brandenburg regelte das 1685 eingerichtete „Französische den auf Zeit“
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II. Empirische
Entwicklungen
Kommissariat“die Integration hugenottischer Flüchtlinge. In Sachsen plante die 1762 ins Leben gerufene ‚Restaurationskommission‘ denWiederaufbau derimSiebenjährigen Krieg verwüsteten Wirtschaft; diekonkrete Durchführung der Pläne übernahm dann die später konstituierte ‚Landes-OeconomieManufactur- undCommercien-Deputation‘. Die 1768 inderPfalz gegründete Kommerzienkammer warzwaraufDauer angelegt, erhielt aber eine fest umrissene, begrenzte Aufgabe; siesollte diewirtschaftliche Entwicklung derdrittenkurpfälzischen Hauptstadt Frankenthal vorantreiben. Es lassen sichdreiEntwicklungsphasen beideradministrativen Institutionalisierung der Wirtschaftspolitik ausmachen: Denfrühen Gründungen entsprechender Organe imletzten Drittel des 17. Jahrhunderts warausnahmslos keine lange Lebensdauer beschieden. Um1700 spalteten sich dieersten Sonderverwaltungen fürdasMünz- undBankwesen, dasZoll-, Post- undStraßenwesen, vereinzelt auchfürdasBerg- undForstwesen ausderKammerverwaltung ab, ohne aber ganz aus dessen Oberaufsicht entlassen zu werden. Im ersten Drittel des 18.Jahrhunderts kames dannzueiner zweiten Gründungswelle, dieindeneinzelnen Territorien bereits zumehroderweniger dauerhaften Einrichtungen führte. Erst die Neu- undWiedergründungen gegen Mitte des 18. Jahrhunderts ließen dann in einer dritten Phase feste Verwaltungen entstehen, die bis zumAnfang des 19.Jahrhunderts keine tiefgreifenden Veränderungen mehr erfuhren. Seit derMitte des 18. Jahrhunderts wurde außerdem deren Aufgabenbereich erweitert, zumindest dort, wo nicht besondere Behörden fürdieLandwirtschaft, dieForstwirtschaft, denBergbau undande-
re Bereiche geschaffen wurden. Handelsministerien
im 19.Jahrhundert
Die Reorganisation derVerwaltung wurde notwendig, nachdem diefranzösische Besatzung, die Befreiungskriege unddas Ende des Alten Reiches – schließlich derWiener Kongress –diepolitische Landkarte Deutschlands dramatisch verändert hatten. Viele selbständige Territorien verschwanden, eini-
ge wurden neugeschaffen undmanche konnten ihre Fläche erheblich vergrößern. Die verbliebenen Staaten wurden infolgedessen mit ganz neuen RahauchimHinblick aufdieliberalen Doktrinen, menbedingungen konfrontiert – die einen Wandel im Verhältnis vonStaat undWirtschaft verlangten. Trotz des anbrechenden liberalen Zeitalters musste derStaat vielfältige Aufgaben übernehmen, die er – je mehr sich der moderne Verfassungsstaat herausbildete –imRahmen deskonstitutionellen Regierungssystems zubewältigen versuchte, waseine Neubestimmung derStellung undFunktion derVerwaltung notwendig machte. Dasalte absolutistische Behördensystem wardenneuen Aufgaben jedenfalls nicht mehrgewachsen. Überdiegrößeren süddeutschen Rheinbundstaaten breitete sich daher das französische System derFachministerien auch in denanderen Staaten aus. Da‚die‘Wirtschaft immer nochnicht alseineinheit-
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen
desStaates
163
licher Gegenstand staatlicher Steuerung aufgefasst wurde, verteilte mandie anfallenden Aufgaben auf verschiedene Ressorts. Für denHandel, das Gewerbe, die Manufakturen undFabriken sowie die Landwirtschaft kamen das neue Innenministerium als Nachfolger deralten „Landesregierung“unddas Finanzministerium als Nachfolger dereinstigen Rentkammer inFrage. Beide Optionen wurden indendeutschen Staaten gewählt, amhäufigsten dasInnenressort. Wie stark dennoch die kameralistische Tradition nachwirkte, zeigte sich daran, dass anfänglich fast überall dieVerwaltung derstaatlichen DomänenundForsten, des Bergbaus unddesZollwesens demFinanzministerium zugeschlagen wurde. Mit der Auflösung des königlichen ‚Kabinetts‘ im Jahre 1808 undder Spaltung des Generaldirektoriums –Organisationsedikt vom24. November 1808 –als einziger Zentralbehörde endete in Preußen das friderizianische Regierungssystem. DieAufbau- undAblauforganisation derZentralregierung wurde Bestandteil der Staatsverfassung. Die neue ministerielle Verantwortlichkeit bestand nicht mehr nurgegenüber demKönig als Person, sondern gegenüber demKönig als Staatsoberhaupt. Neben denMinisterien fürdasInnere, dasAuswärtige, dasKriegs- undJustizwesen entstand –wie in denfolgenden Jahren auch indenanderen deutschen Staaten – einFinanzministerium.Es gliederte sich indrei Sektionen: fürdasGeneralkassen-, Bank-, Seehandlungs- undLotteriewesen, fürdieDomänen undForsten, fürdiedirekten undindirekten Abgaben. ImMinisterium desInneren gabes sechs Sektionen, vondenen eine Sektion dieGewerbeaufsicht bildete undeine weitere fürden Bergbau, das Münzwesen, die Salzfabrikation unddie Porzellanmanufaktur verantwortlich war. Außerdem wurden besondere Abteilungen fürdenHandel, dasGewerbe unddasPostwesen eingerichtet. Nach verschiedenen orgazwischen 1817 und1825 gabes kurzfristig ein nisatorischen Veränderungen – ‚Ministerium fürHandel, Gewerbe undBauwesen‘–wurde 1848 eineigenes ‚Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit‘ gegründet. Ihm wurden dasSalz-, Berg- undHüttenwesen, dasHandels-, Fabriken- undBauwesen sowie Teile derGewerbeaufsicht zugeordnet. Dieses Ministerium wurdedann 1878 aufgeteilt indas ‚Ministerium fürHandel undGewerbe‘sowie in das für ‚öffentliche Arbeiten‘. Letzteres warab 1890 noch fürdie Verwaltung der staatlichen unddie Aufsicht über die privaten Eisenbahnen, für die Staatsbauverwaltung undfür sonstige bauliche Angelegenheiten zuständig. Jede Verwaltungstätigkeit erhielt ihre „polizeiliche Seite“zur Durchsetzung dergetroffenen Anordnungen: dieBau-, Eisenbahn- undBergpolizei, die Hafen- undSchifffahrtspolizei, dieGewerbepolizei oder die Fischerei- undVeterinärpolizei. In den meisten deutschen Staaten entstanden Fachministerien für Wirtschaft erst imZusammenhang mitderRevolution von 1848. Zuvor verlief die Organisation der Wirtschaftsverwaltung ähnlich unstet wie in Preußen mit stark experimentellen Zügen, wobei dieabsolutistischen Ämter, Kammern und
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II. Empirische Entwicklungen
Deputationen selbst dort nurallmählich verschwanden, womanrelativ früh die Ministerialorganisation übernahm. ImLaufe des 19.Jahrhunderts wurden indengrößeren deutschen Staaten zudem selbständige Landwirtschaftsministerien gebildet. So wurde beispielsweise dasPreußische Ministerium fürLandwirtschaft als ursprüngliches Landes-Ökonomie-Kollegium 1848 ausdemHandels- unddemInnenministerium ausgegliedert undals selbständiges Ressort geführt. mänen undForsten übertrug manihmerst 1878.
Die Verwaltung der Do-
Reichswirtschaftsverwaltung 1871 bis 1918 Innerhalb des 1871 geschaffenen Deutschen Reiches stand dem ‚Reich‘als oberster Gebietskörperschaft die Gesetzgebung und Verwaltung wichtiger Bereiche der ‚Wirtschaft‘ zu. Seine legislative Zuständigkeit erstreckte sich auf Handel, Gewerbe, Zölle, Versicherungs- undBankwesen, Maß-, MünzundGewichtssysteme, Patentwesen, Seeschifffahrt undAußenhandel, Eisenbahn-, Post- undTelegraphenwesen. Damit übernahm es vielfältige wirtschaftspolitische Aufgaben, nach zeitgenössischer Auffassung alle wesentlichen. Dennoch wurden eigenständige Wirtschaftsbehörden auf Reichsebene zunächst nicht geschaffen. Bei derDurchsetzung seiner Gesetze wardasReich daher auf die Wirtschaftsverwaltung derBundesstaaten undauch auf die der Kommunen angewiesen. InderReichsregierung koordinierte dasReichskanzleramt die Wirtschaftspolitik, dasBismarck –nach seinen eigenen Worten – wieein „kombiniertes Handels- undFinanzministerium“leitete. Dadas Amtdie wachsenden Aufgaben aber auf Dauer nicht bewältigen konnte, wurden mitderZeit immer mehrAufgabenbereiche ausgegliedert und neuen Reichsämtern übertragen: fürEisenbahnen (1873), Post (1876), Justiz (1877) undFinanzen (Reichsschatzamt 1879). Letztlich führte dies zurAuflösung desReichskanzleramtes durch Kompetenzentzug. Unmittelbar nach der Übernahme despreußischen Handelsministeriums durch Bismarck 1880 wurdeeine Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten imReichsamt des Inneren gegründet, die mitdemGewerbe-, Aktien- undGenossenschaftswesen, den Sparkassen undVersicherungen undder neuen Sozialversicherung befasst war. Bis 1889 kamen andere, diesozialpolitische Ausrichtung noch stärkerbetonende Sachgebiete wieArbeitsverhältnisse, Armenwesen oderArbeitsschutz hinzu. Handel undBankwesen fielen indieZuständigkeit derebenfalls neugeschaffenen Zentralabteilung des Reichsamtes des Inneren. Klare wirtschaftspolitische Abgrenzungen scheinen auf diese Weise nicht geschaffen worden zusein. Vielmehr dürfte diestarke Konzentration aufsozialpolitische Aufgaben den Aufbau einer zentralstaatlichen Wirtschaftsverwaltung eher verhindert haben. DasReichsamt desInneren blieb die fürdie Wirtschaftspolitik entscheidende Behörde. Seit 1894 verfügte es über eine III. Abteilung, die sich speziell mit wirtschaftspolitischen Fragen befasste. Von ihr wurde 1900 dieIV. Abteilung fürHandelsangelegenheiten sowie Bank- undBörsen-
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Historische Ausprägungen
desStaates
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wesen abgetrennt. Außerdem wurde ein 30-köpfiger Beirat gebildet, derals ‚Wirtschaftspolitischer Ausschuss zur Vorbereitung undBegutachtung handelspolitischer Maßnahmen‘einen neuen Zolltarif erarbeiten sollte. Ineinem langwierigen Organisationsprozess warsomit imReichsamt desInneren eine reine Wirtschaftsabteilung entstanden. DieWirtschaftspolitik ausdemInnenressort herauszulösen undeinem selbständigen Reichsamt zuübertragen gelang allerdings nicht. Vielmehr wurden weitere Unterabteilungen geschaffen –u.a. für Ackerbau undIndustrie, Statistik, Kaliwirtschaft, Binnen- undAu, so dass sich im Reichsamt des Inneren selbst die wirtschaftsßenhandel – politische Kompetenz beständig erweiterte. Dennoch fehlte demReich jene unmittelbare Verbindung zwischen Wirtschaft undVerwaltung, über die die größeren Bundesstaaten durch nachgeordnete wirtschaftliche Fachorganisationen unddieBerichterstattung derwirtschaftlichen Selbstverwaltung –vorallem derHandelskammern –andie zuständigen Behörden verfügten. Ansätze, einen solchen Unterbau zuschaffen, gabes zwar, sie blieben aberrudimentär undauftechnische Angelegenheiten beschränkt; so entstand ein Kanalamt, einStatistisches Amtodereine StändigeKommission fürMobilmachungsfragen. Bis 1914 wurde somit aufReichsebene keine dem sich neu formierenden Interventionsstaat adäquate Wirtschaftsverwaltung gebildet. Administrativ reagierte derZentralstaat recht zögernd aufdie neuen wirtschaftpolitischen Herausforderungen: DerLiberalismusprägte denZeitgeist undineinem sostark föderalistisch geprägten GebildewiedemKaiserreich lagdiewirtschaftspolitische Kompetenz letztlich bei denBundesstaaten. Die Ministerien der Länder entwickelten sich unterschiedlich. Einige wurden zwar zugunsten derReichsbehörden aufgelöst, sodasbayerische und württembergische Handelsministerium 1871 bzw. 1881. Andere konnten sich dagegen nicht nurbehaupten, sondern erlangten sogar eine zentrale Stellung im wirtschaftsbürokratischen Gefüge des neuen Reiches. So stand die ‚Wirtschaftspolitische Abteilung‘imReichsamt desInneren letztlich durchgängig imSchatten desPreußischen Handelsministeriums. Denentscheidenden Anstoß zumAusbau derWirtschaftsverwaltung auf Reichsebene gabderErste Weltkrieg. Die Sicherung derErnährung derBevölkerung erzwang eine neue, zentrale Lenkung, dennschon baldzeigte sich, dass das Reichsamt des Inneren damit überfordert war. Im Mai 1916 wurde ein selbständiges Kriegsernährungsamt gegründet, in das alle bis dahin geschaffenen Reichsstellen derErnährungswirtschaft integriert wurden. ZurSicherung der Rohstoffversorgung wurde bereits im August 1914 eine Kriegsrohstoffabteilung beim Preußischen Kriegsministerium eingerichtet, die sich zueinem gewaltigen Behördenapparat mitUnterbehörden, Dienststellen und mehr oder weniger selbstständige handelsrechtliche Gesellschaften entwikkelte. Nicht zuletzt aufDrängen derWirtschaft wurde dannzum1.9.1917 ein eigenständiges Reichswirtschaftsamt geschaffen, nachdem bereits 1916 ein Reichskommissar für die Übergangswirtschaft und 1917 einer für Ein- und
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II. Empirische Entwicklungen
Ausfuhrbewilligungen eingesetzt worden war.DasneueReichsamt hatte eine Wirtschafts- undeine Sozialpolitische Hauptabteilung, wobei sicherstere wiederum in drei Abteilungen gliederte: Handels- undWirtschaftspolitik (einschließlich Land- undForstwirtschaft), Schifffahrts- undsonstige Verkehrsfragen (einschließlich Fischerei, Wasser- undEnergiewirtschaft), Wirtschaftliches Nachrichten- undInformationswesen (einschließlich Außenhandelsförderung undStatistik). Ein Jahr später imOktober 1918 wurde dann auch die jahrzehntelange Forderung nach einer eigenständigen Reichsbehörde für Arbeit undSoziales umgesetzt, indem die Sozialpolitische Hauptabteilung des Reichswirtschaftsamtes in einem Reichsarbeitsamt verselbständigt wurde. Dies wardie letzte Gründung einer obersten Reichsbehörde imKaiserreich.
Reichswirtschaftsministerium während derWeimarer Republik 1919 bis 1932
Durch denunitaristischen Charakter derneuen republikanischen Verfassung von 1919 wurde die Reichskompetenz auch auf demGebiet der Wirtschaft gestärkt. Exekutiv-bürokratisch drückte sich dies in einem Reichswirtschaftsministerium aus. Die Demokratisierung undParlamentarisierung hatte nicht nurzurFolge, dass derbisherige Staatssekretär des Reichswirtschaftsamtes alsMinister eine veränderte, demParlament gegenüber verantwortlichere Stellungeinnahm, sondern dassauchseine Behörde ausderBindung andieReichskanzlei gelöst undzueinem selbständigen Reichsministerium wurde. Bis zur Umbenennung des Reichswirtschaftsamtes in Reichswirtschaftsministerium imMärz 1919 gabeseine kurze Episode, inderneben demReichswirtschaftsamt noch ein Reichsamt für die wirtschaftliche Demobilmachung existierte (November 1918 bis April 1919), dasdie schwierige Aufgabe hatte, denÜbergang vonder Kriegs- auf die Friedenswirtschaft zuorganisieren. Lässt man einmal die auch in verwaltungsorganisatorischer Hinsicht verwirrende Nachkriegszeit außer Acht, so blieben neben demWirtschaftsministerium als wirtschaftsrelevante Ressorts dasFinanzministerium, dasMinisterium fürErnährung undLandwirtschaft, das Arbeitsministerium, das Postministerium. Die vielfältigen Pläne zurKonzentration derverschiedenen wirtschaftspolitischen Aufgaben in einem Superministerium scheiterten. DerWandel derinneren Organisation desReichswirtschaftsministeriums während der Weimarer Republik stellte wie in denJahrzehnten zuvor einen Reflex aufsich verändernde wirtschaftliche undwirtschaftspolitische Verhältnisse dar. In den schwierigen Nachkriegsjahren mit zahlreichen KabinettsundMinisterwechseln wardieAufgabenverteilung undOrganisationsstruktur erheblichen Veränderungen unterworfen. DerGeschäftsbereich wurde häufig durch Abgabe oderÜbernahme vonAufgaben verändert. Ab 1924 stabilisierte sich dann für einige Jahre Aufbau- undAblauforganisation: Die I. Abteilung war für allgemeine Wirtschaftsfragen, Kredit- undGeldwesen, Preispolitik sowie Wirtschaftsfragen imZusammenhang mitdemFriedensvertrag zuständig, die II. Abteilung für Außenhandel, Zollpolitik, Industrie undSee-
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Ausprägungen
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schifffahrt einschließlich derdafür notwendigen Länderreferate. 1926 fielen die Aufgaben derSeeschifffahrt an das Verkehrsministerium. 1929 wurden die Sachgebiete Mittelstand, Handwerk, Einzelhandel undGewerbe zueiner neuen III. Abteilung zusammengefasst. Zwar entzog die Reichsverfassung den Ländern wirtschaftspolitische
Kompetenzen, es blieben abergenügend Aufgaben, umihre weitere Existenz zurechtfertigen. ImÜbrigen hatten dieLänder weiterhin inwesentlich größeremUmfang wirtschaftsverwaltende Aufgaben imeigentlichen Sinne zuerfüllen, während sich das Reichswirtschaftsministerium auf die Wirtschaftspolitik imAllgemeinen konzentrierte. AlsFolge derveränderten VorstellungenüberdasVerhältnis vonStaat undWirtschaft übernahm es Aufgaben, die bisher nicht oder zumindest nicht in dieser Form auf derTagesordnung gestanden hatten unddiedieRegulierung undLenkung derWirtschaft auseiner
gesamtwirtschaftlichen Perspektive heraus betrafen. Reichswirtschaftsministerium undexpandierende Wirtschaftsverwaltung imNationalsozialismus 1933 bis 1945
Die Reichswirtschaftsverwaltung wurde nach 1933 imZuge dersich ausbreitenden Planungs- undLenkungswirtschaft in einem geradezu atemberaubendemTempo ausgebaut. Esentwickelte sicheine verwirrende Vielfalt vonStäben, Sonderverwaltungen, Generalbevollmächtigten, Ämtern, Kommissariatenetc., die kaumzuüberschauen war, zumal sich die Bürokratien in einem permanenten Wandel befanden undoftmals nurprovisorischen Charakter besaßen. DieDinge wurden nochkomplizierter, weil Organisationen derNSDAP eigene Verwaltungen aufbauten unddieverschiedenen militärischen Planungsstellen zunehmend indiezivile Wirtschaft eingriffen. DieGrenzen zwischen Staats-, Partei- undMilitärverwaltungen verwischten immer mehr. Auf diese Organisationsvielfalt kann hier nicht im Einzelnen eingegangenwerden. Es sollen aber zumindest einige Etappen inderEntwicklung der Wirtschaftsverwaltung aufgezeigt werden. Mit demReichsverteidigungsgesetz von 1935 wurde ein‚Generalbevollmächtigter fürdieWirtschaft (Kriegswirtschaft)‘ ernannt, der unmittelbar Hitler unterstand, mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet wurde undgrundsätzlich allen angesamtwirtschaftlichen Aufgaben beteiligten Reichsministerien übergeordnet war.Ersollte die militärische undzivile Kriegsvorbereitung der Wirtschaft koordinieren. Administrative Folgen hatte diese Position u.a. deshalb kaum, weil Hjalmar Schacht zumGeneralbevollmächtigten ernannt wurde, derbereits Reichswirtschaftsminister undReichsbankpräsident war. Dassich imZuge derbeschleunigten Aufrüstung verschärfende Problem der Rohstoffbeschaffung erzwang dannaberdocheine tiefgreifende Umorganisation derWirtschaftsverwaltung. Umdieses Problem in denGriff zubekommen, wurde im Herbst 1936 von kriegsHitler ein Plan verkündet, der die deutsche Wirtschaft in vier Jahren „ . Dazu wurde unter der Leitung – der Vierjahresplan ‘ ‚ sollte machen fähig“
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II. Empirische Entwicklungen
vonHermann Göring als ‚Beauftragter fürdenVierjahresplan‘eine neue Behörde geschaffen, die zunächst nurauf demPapier stand, aber in kurzer Zeit mehrere Tausend Mitarbeiter umfasste undindenfolgenden Jahren diewichtigste Lenkungsverwaltung bildete. Göring wurde ermächtigt, Rechtsverordnungen undallgemeine Verwaltungsvorschriften zuerlassen undallen obersten Reichsbehörden Weisungen inseinem Kompetenzbereich zuerteilen. Es entstanden zahlreiche Unterbeauftragte miteigenen Dienststellen, vondenen der ‚Reichskommissar für die Preisbildung‘vonbesonderer Bedeutung war. DerKompetenzzuwachs aufdereinen Seite hatte einen Kompetenzverlust auf der anderen, der der traditionellen Wirtschaftsverwaltung zurFolge. Vor allemdasReichswirtschaftsministerium wardavon betroffen. DerKonflikt mit demReichswirtschaftsminister undGeneralbevollmächtigten fürdie Kriegswirtschaft führte dazu, dass Göring Ende 1937 für einige Monate auch noch diese Ämter übernahm, nachdem Schacht zurückgetreten war. Selbst die Ernennung eines neuen Wirtschaftsministers undGeneralbevollmächtigten änderte nichts daran, dass das Ministerium immer mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zurVierjahresplan-Behörde geriet. NachBeginn desKrieges wurde offensichtlich, dass dasbisdahin praktizierte Improvisieren undGegeneinander derverschiedenen Lenkungsbehördendie wirtschaftliche Basis derzunehmenden militärischen Anstrengungen nicht sichern konnte. Nachverschiedenen Anläufen wurde daher imMärz 1940 –ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn –ein ‚Reichsministerium für BewaffnungundMunition‘geschaffen. Abererst Albert Speer gelang es, imRahmen dieses neuen Ministeriums ab Sommer 1942 tatsächlich so etwas wie eine zentrale Planverwaltung zuorganisieren. Er fasste die Rüstungsaufgaben der drei Wehrmachtsteile in seinem Ministerium zusammen undfügte im September 1943 auchdieübrigen, demReichswirtschaftsministerium nochzustehenden Kompetenzen hinzu. Er konnte sogar bestimmte Aufgabenbereiche aus derVierjahresplan-Behörde herauslösen, weil er gleichzeitig Generalbevollmächtigter fürRüstungsaufgaben imVierjahresplan war. Andere Kompetenzen aus anderen Verwaltungen kamen hinzu, die alle im Herbst 1943 zu einem riesigen ‚Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion‘ zusammengefasst wurden, mitdemnunendlich eine zentrale, diegesamte Wirtschaft erfassende Lenkungsbehörde entstand. Eine Zentralverwaltungswirtschaft wardies allerdings immer noch nicht, sollte es auch nicht sein. Die Organisation des Reichswirtschaftsministeriums musste diesen dramatischen Veränderungen angepasst werden. Zunächst wurden imJanuar 1934 dieHoheitsrechte derLänder zugunsten desReiches beseitigt. FürdasReichswirtschaftsministerium ergaben sich daraus weitreichende Konsequenzen, da es mitdempreußischen ‚Ministerium fürWirtschaft undArbeit‘vereint wurde. Auseiner kleinen, überschaubaren Behörde mit knapp 400 Mitarbeitern wurde eine große Bürokratie. Indenübrigen Ländern blieben dieWirtschaftsministerien oder entsprechende Abteilungen anderer Ministerien einschließlich ihrer nachgeordneten Behörden undEinrichtungen zwarbestehen, sieführ-
4. Kapitel: Historische
Ausprägungen
desStaates
169
tenihre Geschäfte abernurnochals Außenstellen desReichswirtschaftsministeriums unter dessen Aufsicht. Damit verfügte dasMinisterium endlich über denseit langem angestrebten regionalen Unterbau. Intern wares in acht Abteilungen aufgeteilt: die Zentralabteilung für Verwaltungs-, Personal- und Haushaltsaufgaben, Abteilung I fürGeld-, Bank- undBörsenwesen undVersicherungen, Abteilung II für den Außenhandel unddie innere Wirtschaft, Abteilung III für das Berg-, Hütten- undSchienenwesen, Abteilung IV für Energiewirtschaft undWirtschaftsorganisation, Abteilung V für Handwerk, Handel undGewerbe, Abteilung VI für die Devisenbewirtschaftung unddie Abteilung E für die Ausfuhr. Neben kleineren Organisationsveränderungen trat 1937 vorallem dieAbteilung WAfürwehrwirtschaftliche Angelegenheiten neu hinzu. Sie stellte den Versuch Schachts dar, seinem Auftrag als Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft administrativ gerecht zu werden. MitdemAufbau derkonkurrierenden Vierjahresplan-Organisation erfolgte eine komplette Umstrukturierung desMinisteriums in 6 Hauptabteilungen mit 17 Abteilungen undeiner Vielzahl vonReferaten: Hauptabteilung I war fürdie wichtigen industriellen Branchen zuständig, d.h. fürdie Produktionslenkung undRohstoffverteilung, II fürBergbau, Eisen- undEnergiewirtschaft, III für Fragen derWirtschaftsordnung, des Handels unddes Handwerks, IV fürdasGeld- undKreditwesen, V fürAußenhandel, Devisenbewirtschaftung undExportförderung. AnderSpitze stand unverändert die Zentralabteilung. In fast alle wichtigen Positionen rückten Offiziere undMitarbeiter Görings ausderVierjahresplan-Behörde undausderDeutschen Arbeitsfront ein. Weitere organisatorische Umgestaltungen spiegelten diesich wandelnden Problemeder Rüstungswirtschaft wider. So wurde 1939 eine Sonderabteilung für Grundsatzfragen der Rohstoffbewirtschaftung undMarktpolitik geschaffen unddie Vierjahresplan-Organisation trat dasAufgabengebiet ‚Leistungssteigerung undProduktionsförderung‘ andasMinisterium ab. Insgesamt ging es bei diesen Umorganisationen darum, Kompetenzüberschneidungen mit der Vierjahresplan-Behörde zu beseitigen unddas Ministerium auf die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Einerseits schien es so, als ob Göring das Reichswirtschaftsministerium zueiner nachgeordneten Behörde desVierjahresplans degradieren wollte, andererseits wurde seine Stellung durchaus gestärkt. Beide Entwicklungen verliefen parallel undder darin enthaltene Widerspruch verlor sich im administrativen Dickicht desnationalsozialistischen Organisationsdschungels. Zwischen 1939 und 1941 erreichte das Ministerium seine größte geschäftliche Ausdehnung indenGrenzen, die ihmGöring undseine Vierjahresplan-Organisation setzten. Danach wurden ihmwichtige Aufgabenbereiche genommen, nicht zuletzt durch das neugeschaffene System der ‚Industriellen Selbstverwaltung‘, dasehemals hoheitliche Aufgaben aufdieindustriellen Wirtschaftsgruppen als Selbstverwaltungskörperschaften übertrug. Vor allem aber entzogdas Speer-Ministerium ihmab 1943 zunehmend Kompetenzen. Die dem
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II. Empirische Entwicklungen
Wirtschaftsministerium verbliebenen Aufgaben umfassten neben derProduktionsverteilung für den Zivilbedarf noch die allgemeine Wirtschaftspolitik, das Handels- undGewerbewesen, die Außenwirtschaft, denBergbau sowie Fragen der Wirtschaftsfinanzierung. Auf der Grundlage dieses geschrumpften Aufgabenbereichs erfolgte Ende 1943 nochmals eine Umorganisation – dieletzte desReichswirtschaftsministeriums, dasinsgesamt nurknapp 28Jahre existierte. Bundeswirtschaftsministerium undWirtschaftsministerien der Länder
nach 1949
MitderGründung derBundesrepublik Deutschland alseinem demokratischen undsozialen Rechtsstaat begann fürdieWirtschaftsverwaltung eine neueEpoche. Die politischen undrechtlichen Rahmenbedingungen änderten sich radikal. Generell wurden imVergleich zumKaiserreich undzurWeimarer Republik –erst recht natürlich zurnationalsozialistischen Diktatur –dieparlamentarischen Kompetenzen aufBundes-, Länder- undGemeindeebene gegenüber derVerwaltung gestärkt. AuchdieRechtsprechung, insbesondere diedesBundesverfassungsgerichtes, korrigierte stärker als bisher nicht nurdieGesetzgebung, sondern auch das Verwaltungshandeln. Generell wurden die legislativenundjudikativen Kontrollmöglichkeiten derBürokratie erweitert. HinsichtlichdesAufgabenbereichs derWirtschaftsverwaltung fandmitdemÜbergang vomPlanungs- undBewirtschaftungssystem der Kriegs- undunmittelbaren Nachkriegszeit zur liberalen Marktwirtschaft ein radikaler Abbau konkreter Lenkungsmöglichkeiten statt. Gleichzeitig brachte die Entwicklung zummodernen Interventionsstaat im Vergleich zumKaiserreich oder zurWeimarer Republik aber deutlich erweiterte Kompetenzen. Die Wirtschaftsverwaltung warzwar auch in die Ordnungspolitik eingebunden, in demsie die entsprechenden Gesetze undVerordnungen vorbereitete. Letztlich handelte es sich hierbei aber umlegislative Aktivitäten unddie Überwachung derEinhaltung derdadurch geschaffenen Regeln lagvorallem bei denGerichten. In zunehmendem Maße übernahm die Wirtschaftsverwaltungaber Aufgaben imRahmen derregionalen undsektoralen Strukturpolitik undderProzesspolitik. Je höher dieAnsprüche aneingesteuertes ausgewogenesWirtschaftswachstum waren, umso intensiver griff derStaat indie Disposition der einzelnen Haushalte undUnternehmen, in die Entwicklung von Wirtschaftszweigen und Regionen und in gesamtwirtschaftliche Aggregate ein. Er entwickelte ein vielfältiges Instrumentarium der Verteilungs- und Strukturpolitik, der Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, der Fiskal- und Geldpolitik oder der Agrar- undIndustriepolitik, das ein erhebliches Steuerungspotential schuf undderVerwaltung umfangreiche Interventionsmöglichkeiten bot. Die Organisation des Bundeswirtschaftsministeriums entsprach diesen neuen Aufgaben. AmAnfang der 1950er Jahre gabes neben derZentralabtei-
4. Kapitel:
Historische Ausprägungen
desStaates
171
lung fünf Abteilungen: I. Wirtschaftspolitik (Wirtschaftspolitische Grundsatzfragen, Preise, Kartelle, Monopole, Steuern), II. Wirtschaftsordnung, III. Bergbau, Mineralöl, Energiewirtschaft, IV. Gewerbliche Wirtschaft, V. Außenwirtschaft. In dieser Zeit standen noch nicht direkte Eingriffe, sondern die Vorbereitung von Gesetzentwürfen im Mittelpunkt der Arbeit des Ministeriums. Daran änderte sich auch später grundsätzlich nichts, aber die ständig steigende Zahl der Mitarbeiter deutet dennoch daraufhin, dass nicht nurdie Tatbestände, die durch Gesetze undVerordnungen geregelt werden sollten, immer komplizierter wurden, sondern auch die zunehmend direkten Steuerungsaufgaben. Die Organisation des Ministeriums wandelte sich im Laufe derZeit. Inden80er Jahren gabes außer derZentralabteilung folgende Abteilungen: E. Europapolitik, I. Wirtschaftspolitik, II. Mittelstandspolitik, Verbraucherpolitik, Handwerk, Handel, III. Energiepolitik, mineralische Rohstoffe, IV. Gewerbliche Wirtschaft, Wirtschaftsförderung, Berlin, V. Außenwirtschaftspolitik, Entwicklungshilfe. Wie zuvor wurden wichtige wirtschaftspolitische Aufgaben außerdem vonanderen Ministerien wahrgenommen. Zu dennachgeordneten Behörden des Bundeswirtschaftsministeriums gehörten u.a. das Bundeskartellamt, das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft, die Bundesanstalt für Materialprüfung, die Bundesanstalt fürBodenforschung, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, dasBundesaufsichtsamt fürdasVersicherungs- undBausparwesen. In den90er Jahren wurden dannimZuge der Liberalisierung dasVerkehrs- undPostministerium aufgelöst unddurch sogenannte Regulierungsbehörden ersetzt. MitderGründung derEuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 musstediebundesdeutsche Wirtschaftsverwaltung einen allmählichen Kompetenzentzug hinnehmen. Die zentralen Gremien derGemeinschaft zogen fortwährend Kompetenzen an sich, deren Ausübung ganze Funktionsbereiche der mitgliedstaatlichen Administrationen einschränken oder sogar obsolet werdenließ. Waren es inden60erJahren dieAußenwirtschafts-, insbesondere die Zollpolitik oder die Wettbewerbspolitik, die zumindest partiell an die EWG abgetreten wurden, so waren es seit den80er Jahren bestimmte Bereiche der Umwelt- oder Verbraucherpolitik. Die nationalen Verwaltungen wurden in diesen spezifischen Politik- undVerwaltungsfeldern zunachgeordneten StellenderBrüsseler Bürokratie, die sich allerdings die Folgebereitschaft dernationalen Behörden dadurch sicherte, dass sie sowohl inderVorbereitungs- als auchinderImplementationsphase ihre Beschlüsse engmitdennationalen Stellen abstimmte. Es fand ansatzweise eine bürokratische Integration zwischen deneuropäischen undnationalen Institutionen statt. Damit entstand eine transnationale ‚Fusionsbürokratie‘, deren Willensbildungs- undEntscheidungsprozesse sich noch weniger als zuvor nach demIdealtypus rationaler Bürokratie vollzogen. Bei denWirtschaftsministerien derLänder fandeinvergleichsweise starkerWandel derZuständigkeit statt. Sie übernahmen imLaufe derZeit wichtigeAufgaben imBereich derregionalen undsektoralen Strukturpolitik undder
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II. Empirische Entwicklungen
Wirtschaftsförderung undwaren stärker alsdasBundeswirtschaftsministerium mitdendamit zusammenhängenden administrativen Maßnahmen beschäftigt. Daraus ergab sich auch eine enge Zusammenarbeit mitderVerkehrsverwaltung, weil derAusbau derInfrastruktur eine wichtige Voraussetzung füreine bessere Wirtschaftsentwicklung darstellte. ImZuge derVerlangsamung des Wirtschaftswachstums seit den 70er Jahren wurden die Landesministerien noch aktiver, weil sich die Konkurrenz zwischen denLändern bzw. Regionen undauch zwischen denKommunen verschärfte. Fürdie Sicherung derGewerbefreiheit in denverschiedenen Zweigen derWirtschaft waren ebenfalls vor allem die Landeswirtschaftsverwaltungen zuständig, die ihrerseits wiederum diegesetzlichen Voraussetzungen fürdieAufgabenerfüllung durch die Gemeinden schufen unddiese überwachten.
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte Diefolgenden Beispiele, andenen derZusammenhang vonTheorie undEmpirie aufgezeigt werden soll, sind mehroder weniger willkürlich ausgesucht. Allenfalls handelt es sich umhistorische Ereignisse, dieinderForschung auf besonderes Interesse gestoßen unddeshalb ausführlicher analysiert worden sind. Es geht aber –umdies andieser Stelle noch einmal zubetonen –nicht umdieDarstellung desEinzelfalls, sondern umdieArt undWeise desmethodischen Zugriffs. Dietheoretischen Ansätze, dieverwendet werden, sindzwar ineinem groben Zugriff bereits imKapitel I dargestellt worden. Falls dies für eineeingehendere Analyse abernicht ausreicht, werden sieimFolgenden noch einmal aufgegriffen undimHinblick auf dashistorische Fallbeispiel soweit wienötig differenzierter formuliert.
5. Kapitel: Fallbeispiele zur Entwicklung vonWirtschaftsordnungen 5.1 Klassifikatorische Ordnungstheorie –Vergleich der Wirtschaftsordnungen derBundesrepublik Deutschland undder Deutschen Demokratischen Republik
Im Kapitel I wurde der ordnungstheoretische Ansatz dargelegt, so dass an dieser Stelle nurdaran erinnert werden braucht, dass er als entscheidende Merkmale einer Wirtschaftsordnung Planung bzw.Koordinierung undEigentumsform bzw. Verfügungsrechte ansieht. Indem Wirtschaftsordnungen als rechtliche undsittliche Gebilde betrachtet werden, können aber auch andere Elemente als Charakterisierungs- undUnterscheidungsmerkmale dienen. Erinnert sei außerdem daran, dasses ordnungstheoretischen Ansätzen nicht darumgeht, dasreale System naturgetreu abzubilden, sondern zentrale Ordnungselemente herauszuarbeiten, wobei imFolgenden dietatsächliche Ausprägung der Wirtschaftssysteme nicht ganz vernachlässigt wird. Die Wirtschaftsordnungen der Deutschen Demokratischen als auch die der Bundesrepublik Deutschland wandelten sich imLaufe derZeit, diederBRDweniger unddie derDDRmehr. Selbst wennsie ihre Grundstrukturen als ‚sozialistische‘und ‚kapitalistische‘Ordnungen nicht veränderten, so wurden dochTeilelemente derjeweils anderen übernommen. In den 1960er Jahren warsogar voneiner Systemkonvergenz die Rede. Derfolgende Vergleich beschränkt sich aufdie 50er und60er Jahre, wobei nicht alle ordnungspolitischen Veränderungen erfasst werden.¦271¿ 271 ZurWirtschaftsgeschichte derDDRundBRD indiesen Jahren siehe Roesler, Jörg, Die
174
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
Die Wirtschaftsordnung derBRDwarindieser Zeit –sie ist es natürlich auch heute noch–durch privates Eigentum anProduktionsmitteln undprivate Verfügung über Produktion undVerteilung gekennzeichnet.¦272¿ Das Prinzip
derVerfügungsfreiheit schloss die Unternehmerfreiheit, dieVertragsfreiheit, die Gewerbefreiheit unddie Konsumfreiheit ein. Allerdings waren die privaten Eigentums- undVerfügungsrechte nicht unbeschränkt. In Ausnahmefällen–ausGründen desAllgemeinwohls undunter bestimmten Bedingungen – ermöglichte das Grundgesetz die Enteignung vonProduktionsmitteln sowie Grund undBoden. DasBetriebsverfassungsgesetz unddasMitbestimmungsgesetz –letzteres galt nur für die Montanindustrie –schränkten zudem die Unternehmerfreiheit etwas, aber nicht prinzipiell ein. Generell wurde diefreie Verfügungsgewalt über Produktionsmittel dort begrenzt, wo das Leben und die Gesundheit vonMenschen bedroht war. Gewerberechtliche Auflagen sowie besondere Regulierungen sorgten dafür, dass ihr Einsatz nicht beliebig erfolgte. Auch die erwirtschafteten Erträge undihre Verteilung wurden vom Staat durch Steuern undAbgaben beeinflusst. Eine Gleichverteilung vonEinkommen undVermögen wurde damit aber nicht angestrebt. Das dominante Ordnungsprinzip ‚Privateigentum‘wurde ebenfalls durch dieöffentliche Wirtschaft eingeschränkt. Schließlich müssen die privatwirtschaftlichen Konzentrationstendenzen –z.B. durch Kartelle undUnternehmenswachstum –erwähnt werden, die unabhängig vonstaatlichen Eingriffen diefreie Verfügung über Produktionsmittel behinderten. Die möglichst exklusive Ausgestaltung privater Eigentums- undVerfügungsrechte in einer liberal-marktwirtschaftlichen Ordnung wirddamit begründet, dasserst durch siederMensch zuhoher Leistungsbereitschaft undzurproduktivsten Verwendung seiner Ressourcen angeregt wird –indirekt zum Wohle aller.¦273¿ ImGegensatz zurwestdeutschen wardieostdeutsche Wirtschaftsordnung durch die zentrale Verfügungsgewalt über Produktion undVerteilung geprägt. Unter denverschiedenen Eigentumsformen stand dasStaatseigentum –auch Volkseigentum genannt –anerster Stelle. Es verkörperte ein unteilbares gesellschaftliches Eigentum am Produktionsvermögen. Da die Gesamtgesellschaft als Summe aller Mitglieder nicht diekonkrete Verfügungsgewalt über die volkseigenen Produktionsmittel ausüben konnte, waren die LeitungsbeHerausbildung dersozialistischen Planwirtschaft inderDDR. Aufgaben, Methoden und Ergebnisse derWirtschaftsplanung inderzentralgeleiteten volkseigenen Industrie währendderÜbergangsphase vomKapitalismus zumSozialismus, Berlin-Ost 1978; Welteke, Marianne, Theorie undPraxis derSozialen Marktwirtschaft. Einführung indiepolitische Ökonomie der BRD, Frankfurt a.M. 1976; Dietz, Raimund, Die Wirtschaft der
1974, Wien 1976. DDR 1950– 272 Zumfolgenden vgl. Leipold, Helmut, Wirtschafts- undGesellschaftssysteme im Vergleich. Grundzüge einer Theorie derWirtschaftssysteme, Stuttgart 1988; Peters, HansRudolf, Einführung indie Theorie derWirtschaftssysteme, München 1993. 273 Vgl. Pilz, Frank, Das System der Sozialen Marktwirtschaft. Politisch-ökonomische Grundlegung der Konzepte, Prinzipien undStrategien, München 1981.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
175
fugnisse dem Staat bzw. der SED als Staatspartei übertragen worden.¦274¿ Er besaß die entscheidenden Verfügungsrechte, die er über die entsprechenden Leitungsorgane undLeiter derVolkseigenen Betriebe ausübte. Indersozialistischen Wirtschaftsordnung derDDRfielen dasEigentum anunddieVerfügung über Produktionsmittel somit auseinander. Auch dasGenossenschaftseigentum als zweite Eigentumsform, dasvornehmlich in derLandwirtschaft undimHandwerk vorkam, unddasingeringem Umfang vorhandene Privateigentum an Produktionsmitteln –fast ausschließlich im dienstleistenden standen unter staatlicher Aufsicht. Die Handwerk undinderLandwirtschaft – individuelle Disposition überdieProduktionsmittel warnicht nurdeshalb begrenzt, weil die Volkseigenen Betriebe diese Produktionsmittel nur für die ihnen auferlegten Planaufgaben verwenden durften, sondern auchdeshalb, weil derGrundsatz derUnantastbarkeit desVolkseigentums galt: Produktionsmittel durften weder verpfändet noch belastet werden; sie mussten in ihrer Substanz erhalten bleiben. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer – der‚Werktätigen‘–waren begrenzt undwurden auch dadurch nicht verbesdemokratische“ sert, dass dasSystem derzentralen Planung imPrinzip die „ Rückkoppelung der zentral gefällten Entscheidungen von unten nach oben vorsah. InderPraxis liefen dieEntscheidungsprozesse vornehmlich vonoben nachunten. Die„Vergesellschaftung“derProduktionsmittel wurde vorallem damit begründet, dass die Ausbeutung desNicht-Eigentümers durch denEigentümer derProduktionsmittel nicht mehr möglich sei; in einem sozialistischen System sollen dieWerktätigen zugleich Eigentümer undArbeiter sein– zumindest in derTheorie. Außerdem kann nach sozialistischer Auffassung jeder erst unter diesen Eigentumsverhältnissen nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen eingesetzt werden unddamit sein volles Leistungspotential entfalten –direkt zumWohle aller.¦275¿ Im liberal-marktwirtschaftlichen System derBundesrepublik stellen die privaten Eigentums- undVerfügungsrechte die Grundlage der dezentralen Planung undKoordinierung dar. DieWirtschaftspläne werden vondeneinzelnenUnternehmen undHaushalten separat undautonom erstellt, die dazu einenIndikator benötigen, dersie über die Knappheitsverhältnisse vonGütern undDiensten informiert.¦276¿ Ein solcher Knappheitsindikator ist der wettbewerblich gebildete Marktpreis. Er warimhier betrachteten Zeitabschnitt ausgesprochen funktionsfähig: Es herrschte weitgehende Preisstabilität, d.h., die Relationen zwischen den verschiedenen Güterpreisen wurden nicht durch unterschiedliche Preissteigerungen verzerrt. Zwargabes auchstaatlich und–durch Absprachen in Kartellen–privat administrierte Preise, insgesamt dominierten aberdiewettbewerb-
274 Kiera, Hans-Georg, Partei undStaat imPlanungssystem der DDR. Die Planung in der ÄraUlbricht, Düsseldorf 1975. 275 Autorenkollektiv, Grundfragen dersozialistischen Wirtschaftsführung, Berlin-Ost 1985. 276 Gutmann, Gernot, Wirtschaftsverfassung, S. 32 ff.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
lichen Märkte mit freier Preisbildung. Diese preislichen Informationen der Märkte unddasGewinnstreben derUnternehmen bzw.dasStreben derHaushalte nach möglichst hohen Einkommen reichten prinzipiell aus, die Produktionsfaktoren indienachfragerelevantesten undallokationseffizientesten Verwendungen zulenken. DerPreismechanismus erfüllte neben denInformations-, Knappheits- undSignalfunktionen auchKoordinierungsaufgaben, indem er tendenziell Angebot undNachfrage zumAusgleich brachte. Da wettbewerbliche Märkte durch Konzentrationstendenzen zur Selbstaufhebung neigen, bedarf eseines staatlichen Schutzes desWettbewerbs. 1957 wurde dieser ansatzweise mitdemGesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen installiert. Natürlich gabes neben diesem Marktmechanismus noch andere Koordinationsformen: DerVerhandlungsmechanismus dominierte aufdemArbeitsmarkt, auf demTarifautonomie herrschte undsich in einem Duopol die beidenTarifparteien Gewerkschaften undArbeitgeberverbände gegenüber standen. Des Weiteren wurden die Nachfrage unddasAngebot vonöffentlichen oder kollektiven Gütern durch denWahlmechanismus bestimmt. Ihre Produkwurde überadministrative Lenkung undKontrolle durch Verwaltungen, parlamentarische Gremien oderRechnungshöfe gesteuert, dieman als Anweisungsmechanismus bezeichnen kann.¦277¿ Die ostdeutsche Wirtschaftsordnung war demgegenüber durch zentrale Planung undKoordinierung gekennzeichnet, die wiederum aufderzentralen Verfügungsgewalt überProduktion undVerteilung basierte. Esexistierten drei Planungsebenen:¦278¿ Auf der zentralen gab es die demMinisterrat als höchstem Regierungsorgan zugeordnete Staatliche Planungskommission unddie Ministerien. Gemäß ihrer gesellschaftspolitischen Führungsrolle legte dieSED als Staatspartei die Hauptziele derwirtschaftlichen Entwicklung fest, die der staatliche Planungsapparat danninpolitisch-ökonomische Direktiven inForm konkreter Handlungsanweisungen umsetzen musste. Auf der mittleren Planungsebene waren die Vereinigungen Volkseigener Betriebe unddie Volkseigenen Kombinate angesiedelt, die denIndustrieministerien unterstellt waren. Sie stellten Wirtschaftsverbünde dar, die gleiche oder ähnliche Produkte herstellten oder technologisch miteinander kooperierten. Sie hatten die Aufgabe, die ihnen zugeordneten Volkseigenen Betriebe anzuleiten undzubeaufsichtigen. Die untere Planungsebene bestand aus den Volkseigenen Betrie-
tion wiederum
ben.¦279¿
In vertikaler Hinsicht verlief derPlanungsprozess zunächst vonobennach unten, indem diejeweils höhere Instanz denniedrigeren Instanzen Ziele und Aufgaben vorgab. Sodann fand vonunten nach oben eine Informationsprozess statt, dereventuell zu Korrekturen derPlanvorgaben führte. Schließlich 277 Kolb, Gerhard, 278 279
Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Eine wissenschafts- undordnungstheoretische Einführung, München 1991. Peters, Hans-Rudolf, Wirtschaftssysteme, S. 183 ff. Mitzscherling Peter, System undEntwicklung derDDR-Wirtschaft, Berlin 1974.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen wurde
177
aufzentraler Ebene derVolkswirtschaftsplan erstellt, deralsGesetz für
alle Ebenen diePlanziele verbindlich festlegte. ZumZweck derKontrolle und desÜberblicks überdenStand derPlanerfüllung waren dieBetriebe, Kombinate etc. verpflichtet, inregelmäßigen Abständen überdieProduktionsergebnisse unddieErfüllung desPlansolls zuberichten. DerInformationsfluss zwi-
schen denverschiedenen Planungsebenen wurde mit Hilfe vonKennziffern und Normativen bewerkstelligt. In horizontaler Hinsicht bestanden Wirtschaftsräte undPlanungskommissionen indenBezirken, diezurmittleren Planungsebene gehörten unddie fürdie räumliche Dimension derPlanung verantwortlich waren. Inzeitlicher Hinsicht waren diekonkreten Einjahrespläne
in strategische
Fünfjahrespläne eingebunden, denen wiederum perspektivi-
sche Langzeitpläne zugrunde lagen.
Nicht der Markt mit dem Preis als Indikator war somit der zentrale Koordinationsmechanismus, sondern deradministrative Anweisungs- bzw.der Bilanzierungsmechanismus. Demhierarchischen Aufbau deszentral-administrativen Plansystems entsprach derpyramidenförmige Aufbau desBilanzsystems. Es wurden etwa 5000 Bilanzen zentral ausgearbeitet. Daeine zentrale undbisinsDetail abgestimmte Wirtschaftsplanung –eine Zentralverwaltungswirtschaft im idealtypischen Sinne –in der Realität nicht möglich ist, beschränkten sich die obersten Planungsgremien aufdie Bilanzierung globaler Aggregate besonders wichtiger Güter. Es blieben also Planungsspielräume, dievondenunteren Instanzen ausgefüllt werden mussten. Diestaatliche Preissetzung sollte dazu dienen, die –auf derGrundlage derfürdie Planperiode relative Knappheit derbetreffenden Güter zubestimaufgestellten Planziele – men, wasallerdings mehr schlecht als recht funktionierte. Andere marktwirtschaftliche Elemente oder monetäre Größen wie Gewinn undRentabilität wurden indasSystem eingebaut, umdieBetriebe zueiner bedarfsgerechteren undproduktivitätsorientierteren Fertigung zuveranlassen. Diese in den60er Jahren durchgeführten Reformen deszentral-administrativen Planungssystems bedeuteten dieEinleitung derTransformation ineinSystem dezentraler Lenkung, dieaber 1970 schon wieder abgebrochen wurde. Neben demoffiziellen Plansystem entwickelte sich außerdem ein informelles Versorgungssystem, dasebenfalls eine marktwirtschaftliche Ergänzung bedeutete, wennauchhäu-
fig aufderBasis desNaturaltausches.¦280¿ Dieostdeutsche Wirtschaftsordnung kamsomit nicht ohne Geld aus. Allerdings waren seine Funktionen als Recheneinheit, Tauschmittel undWertaufbewahrungsmittel eingeschränkt undnurbedingt mitdenen ineiner marktwirtschaftlichen Ordnung vergleichbar.¦281¿ DiePreise folgten nicht denMarkt-
Günter, Wirtschaftspolitik undÖkonomie. Wandel der Konzeptionen im Rahmen der Wirtschaftsreform (1963–1971), Erlangen 1980; Melzer, Manfred, DDR: Reformpolitik miterkennbaren Erfolgen, Köln 1984. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Handbuch DDR-Wirtschaft, Reinbekbei Hamburg 1985.
280 Lauterbach,
281
178
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
gesetzen vonAngebot undNachfrage unddie Zinsen wurden ebenfalls nach anderen als nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten festgelegt. Immerhin wurde aber die güterwirtschaftliche Planung anhand naturaler Größen durch die finanzielle anhand monetärer ergänzt.¦282¿ Die über das Bankmonopol verfügende Staatsbank hatte –wiedie Bundesbank in derwestdeutschen Marktwirtschaft –die Aufgabe, die Geldversorgung der Volkswirtschaft sicherzustellen sowie –anders als die Bundesbank –die Geldmenge undden Geldumlauf imEinklang mitdenZielen des Volkswirtschaftsplanes zusteuern. Der Versuch, die monetäre Nachfrage, densogenannten Kauffonds, im Gleichgewicht mitdemrealen Güterangebot, demsogenannten Warenfonds, zuhalten, gelang allerdings nurunvollkommen. Dadie Preise administrativ festgelegt wurden, somit als flexibler Knappheitsindikator ausfielen, kames jedoch nicht zur Inflation oder Deflation, sondern zu Warteschlangen. Stärker als bei derwestdeutschen Marktwirtschaft klaffte bei derostdeutschen Planwirtschaft eine Lücke zwischen Anspruch undWirklichkeit, zwischen idealer undrealer Wirtschaftsordnung. Die Plananarchie übertraf die Marktunvollkommenheit, was sich an immer wieder auftretenden Produktionsengpässen undMangelerscheinungen, anFehlentwicklungen undunzureichenden Innovationen zeigte. Es handelte sich hierbei umordnungsimmanente Defizite, selbst wennauch kapitalistische Betriebe oftmals durch mangelnde Innovationsbereitschaft gekennzeichnet waren undErhaltungssubventionenzuStrukturverzerrungen und-erstarrungen führten. MitdemEigentum bzw.derVerfügung undderPlanung bzw.derKoordinierung haben diebeiden zentralen Ordnungsprinzipien desklassifikatorischen Ansatzes der bisherigen Betrachtung zugrunde gelegen. Es ist aber bereits mehrfach daraufhin gewiesen worden, dass weitere Merkmale zurKennzeichnung undzum Vergleich von Wirtschaftsordnungen herangezogen werden sittliche Gebilde“auf, geht es können. Fasst manWirtschaftsordnungen als „ auch umVerhaltensweisen, Normen oder Werte. Die Marktwirtschaft setzt aufdenEigennutz alsTriebkraft desmenschlichen Handelns, allerdings nicht aufdenungezügelten Egoismus. Zwarsollte inerster Linie derwettbewerbliche Markt fürdenNutzenausgleich sorgen, abergerade die50/60er Jahre zeigten, dass daneben auch andere Prinzipien eine Rolle spielten: Indertheoretischen Diskussion wurde die große Bedeutung ethisch verantwortlichen Handelns inderliberalen Marktwirtschaft betont. Inderpraktischen Politik wurde dassoziale Netz immer enger geknüpft unddiePrinzipien dessozialen Schutzesunddersozialen Solidarität inderWirtschafts- undSozialordnung verankert.¦283¿ Dennoch blieb die kapitalistische Ordnung Westdeutschlands durch ein Wertesystem geprägt, in demdereigenverantwortliche, seinen persönli-
282 Melzer, Manfred, Preissystem undPreispolitik, in: Bundesministerium für innerdeut1044, S. 845 ff sche Beziehungen (Hg.), DDR-Handbuch Bd. 2, Bonn 1979, S. 1032– 283 Nicholls, Anthony J., Freedom with Responsibility. The Social Market Economy inGer1963, Oxford 1994. many 1918–
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
179
chen Vorteil suchende Mensch im Mittelpunkt stand. Obparallel dazu in der
sozialistischen Ordnung Ostdeutschlands ein neues Wertesystem aufgebaut werden konnte, das durch einen gesellschaftsverantwortlichen, solidarischen undgleichzeitig leistungsbereiten Menschen geprägt wurde, erscheint zweifelhaft.¦284¿ Auch dort musste mandie Menschen nicht nurdurch Lob, Orden undTitel zuhöherer Leistung anhalten, sondern auchdurch materielle Anreize. Auchdort gabes Sanktionsmechanismen bei ungenügender Leistung wie Maßregelungen, Versetzungen auf schlechtere Posten oder Einkommensschmälerungen. Wie sehr sich die Wertesysteme, Mentalitäten undVerhaltensweisen innerhalb derbeiden Ordnungen im Laufe derZeit dennoch auseinander entwickelten, wurde erst nach 1990 deutlich, als sich die Ostdeutschen imwestdeutschen System neuorientieren mussten. DerVergleich zwischen denWirtschaftsordnungen eines kapitalistischen undeines sozialistischen Landes ist natürlich ein dankbares Beispiel für die Anwendung der klassifikatorischen Ordnungstheorie, hatten ihre Vertreter doch die große ordnungspolitische Dichotomie des 20. Jahrhunderts vor Augen, als sie diesen Ansatz entwickelten. Bei derGegenüberstellung deröstlichenPlanwirtschaften undderwestlichen Marktwirtschaften macht diestarke Betonung der Merkmale ‚Eigentum‘ und ‚Planung‘ sicherlich Sinn. In der modernen Wirtschaftsgeschichte geht es aber meist umdie Kennzeichnung unddenVergleich grundsätzlich liberaler Ordnungen, beidenen diese Kriterien nicht zuso klaren Abgrenzungen führen. Selbst die Wirtschaftsordnungen desständisch-feudalen Zeitalters undderbürgerlich-liberalen Epoche werden sich mitihrer Hilfe nicht soeindeutig voneinander unterscheiden lassen. Hier ist es notwendig, zusätzliche Ordnungselemente zurCharakterisierung heranzuziehen. Es sei andieser Stelle nocheinmal andaseigentliche Anliegen derklassifikatorischen Ordnungstheorie erinnert. Es geht ihr nicht nurdarum, anhand bestimmter Kriterien Wirtschaftsordnungen inihrer Grundstruktur zubestimmenundvoneinander zuunterscheiden, sondern auchdarum, aufdieser Basis aufbestimmte Verhaltensweisen derWirtschaftssubjekte zuschließen. Es sollenallgemeine Aussagen überdenVerlauf derWirtschaftsprozesse innerhalb dieser Ordnungen nach folgendem Muster möglich werden: Wenn die Ordnungsbedingungen XYZ gegeben sind, dannsind die Abläufe undErgebnisse ABC zuerwarten. Wäre es nicht möglich, solche generalisierenden Ordnungenauskonkreten Systemen abzuleiten, wären auch verallgemeinernde Aussagen über Verhaltensweisen nicht möglich; es bliebe bei der Beschreibung vonEinzelfällen.
284 Bahro, Rudolf, DieAlternative. ZurKritik desreal existierenden Sozialismus, Köln 1977.
180
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
5.2 Neue Institutionenökonomik (Property Rights) –Übergang vonder merkantilistischen zurmarktwirtschaftlichen Ordnung amAnfang des 19. Jahrhunderts Sieht maneinmal vonderEinführung desplanwirtschaftlichen Systems um die Mitte undvondessen Zusammenbruch amEnde des20. Jahrhunderts ab, so bedeutete derÜbergang vomfeudalen zumkapitalistischen Wirtschaftssystem in derersten Hälfte des 19.Jahrhunderts sicherlich dentiefgreifendsten Wandel derWirtschaftsordnung in Deutschland während derNeuzeit. Er veränderte nicht nurdiewirtschaftlichen, sondern auchdiesozialen, letztlich gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend. Der damit verbundene Institutionenwandel drückte sich indenAgrar- undGewerbereformen, indenBildungsund Kommunalreformen, in den Verwaltungs- und Heeresreformen, in den Veränderungen des Finanzwesens unddes Patentrechts, in neuen unterneh-
merischen Organisationsformen, vielleicht auch in einem neuen „kapitalistischen Geist“u.s.w. aus. Es kann nicht verwundern, dass er das besondere Interesse derInstitutionenökonomen gefunden hat. Entsprechend demAnliegendieses Ansatzes werden dabei also nicht mehrOrdnungen statisch miteinander verglichen, sondern nach denUrsachen ihres Wandels gefragt; die Betrachtung wird dynamisiert. Das folgende Beispiel für die Anwendung des Property-Rights-Ansatzes beschränkt sich aufdie Agrar- undGewerbereformensowie die Erneuerung desPatentrechtes, also aufeinen Teil deräußeren Institutionen, wobei die Entwicklung in Preußen im Mittelpunkt steht. Zur Einführung indeninstitutionenökonomischen Ansatz siehe Kapitel I.1.3.c. ImZentrum dieses umfassenden Institutionenwandels stand dieLandwirtschaft, in derundvonderum 1800 etwa zwei Drittel derMenschen lebten. DenKulminationspunkt dieser Veränderungen bildeten zwar die Reformgesetze am Anfang des 19. Jahrhunderts, aber schon im 18. Jahrhundert hatte sich die Erosion des alten feudal-ständischen Institutionengefüges beschleunigt.¦285¿ Die Reform der agrarischen Produktionsverhältnisse verlief in fünf Schritten, die zeitlich undinhaltlich nicht klar voneinander getrennt werden können.¦286¿ In wirtschaftsverfassungsrechtlicher Hinsicht begann sie in Preußen 1807 mitdemsogenannten Oktoberedikt, dasdie persönlichen Bindungendesabhängigen Bauern vonseinem Grundherrn endgültig aufhob.¦287¿ Die Erbuntertänigkeit mit ihren verschiedenen Freiheitsbeschränkungen wurde abgeschafft. Alszweites folgte mitdemRegulierungsedikt von1811bzw.der 285 Vgl. Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1. Bd.: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987.
286 Vgl. Henning, Friedrich-Wilhelm, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd.2: Deutsche Wirtschafts- undSozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996.
1820, Königstein/Ts. 1980. 287 Vogel (Hg.), Barbara, Preußische Reformen 1807–
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
181
Ablösungsverordnung von1821dieUmwandlung derDienste undNaturalabgaben, die in derfeudal-ständischen Ordnung derBauer an denGrundherrn soweit dies nicht schon im 18.Jahrhundert leisten musste, inGeldzahlungen – geschehen war. Noch schwieriger wardrittens die Verleihung desvollen Eigentums an Grund undBoden, an denGebäuden undamInventar der landwirtschaftlichen Betriebe andie Bauern. Sie erfolgte ebenfalls durch dasRegulierungsedikt von1811, durch dieDeklaration dazuvon 1816 unddurch die Ablösungsverordnung von1821. Je nachdenbisherigen Besitz- undNutzungsrechten wurden unterschiedliche Ablösesummen berechnet, dieüberJahrzehnte verzinst undgetilgt werden mussten. Längst nicht alle Bauern wurden in reguliert“ dieser ersten Reformphase „ . Eine endgültige Lösung erfolgte erst mitdemAblösungs- undRegulierungsgesetz von 1850. Denvierten Schritt stellte dieAuflösung derAllmenden undderGemengelagen durch dasGesetz überdieGemeinheitsteilung von1821dar.Erhingzwarnicht unmittelbar mit dereigentlichen Agrarreform zusammen, waraberdennoch vonzentraler Bedeutung. Zumeinen wurden dadurch die kollektiven Nutzungsrechte an bestimmten Flächen beseitigt. Zumanderen wurden diezumTeil winzigen Flächen, dieoftmals weit auseinander lagen, zusammengefasst; dieBodenaufteilung wurde bereinigt. Fünftens könnte mannoch die Abschaffung dergrundInsgesamt ging es also darherrlichen Patrimonialgerichtsbarkeit erwähnen. „ um,die gerichts-, leib- undschutzherrlichen Bindungen derüberkommenen feudalrechtlichen personalistischen Herrschaftsstruktur mitihren vielfältigen Einschränkungen derwirtschaftlichen undrechtlichen Verfügungsgewalt aufzulösen undanihre Stelle diepersonen-, sachen- undschuldrechtlich undefi¦288¿ nierte neue Ordnung einer autonomen Eigentümergesellschaft zusetzen.“ Voneiner „revolutionären Bauernbefreiung“kannangesichts dervielfältigen neuen Belastungen undAbhängigkeiten derBauern unddesjahrzehntelangen Prozesses also keine Rede sein.¦289¿ Auch in denunter französischem Einfluss stehenden Staaten wurden die Agrarreformen wenig nachdrücklich eingeleitet undnurzögernd durchgeführt. Allein westlich des Rheins in den zuFrankreich gehörenden Gebieten kames zuentschädigungslosen AblösungenderGrundrenten. In denRheinbundstaaten wurden zwar dienoch bestehenden Leibeigenschaften aufgehoben und neue Gesetze erlassen, die die Modalitäten derGrundentlastung regelten. In derPraxis wurden die Bestimmungen allerdings restriktiv ausgelegt undführten nurbedingt zuKonsequenzen. Selbst die napoleonischen Musterstaaten Westphalen undBerg wurden der ihnen zugedachten Rolle als Bahnbrecher der liberalen Reformen nicht gerecht. Ebenso wiebei derLandwirtschaft lagen beim Gewerbe die Anfänge der Liberalisierung weit im 18.Jahrhundert. Bereits die Reichszunftordnung von 1731 beinhaltete einige liberalisierende Elemente (siehe II.3.1.a). Generell
288 Wehler, Hans-Ullrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2. Bd., S. 378. 289 Dipper, Christof, Die Bauernbefreiung in Deutschland, Stuttgart 1980.
182
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
waren die absolutistischen Landesherrn bemüht, denEinfluss derZünfte einzuschränken, indem sie u.a. außerhalb derStädte unzünftiges Handwerk zuließen. Die Akziseordnung des westpreußischen Berg im ausgehenden 18. Jahrhundert, mitderfürdas ‚platte Land‘grundsätzlich Gewerbefreiheit eingeführt wurde, blieb allerdings fürPreußen eine Ausnahme. Es wardasOktoberedikt von 1807, dasdiegenerelle Gewerbefreiheit aussprach.¦290¿ Die linksrheinischen, in denfranzösischen Staat integrierten Gebiete hatten sie bereits einige Jahre früher eingeführt. Dies bedeutete aber keinesfalls, dass eine umfassende Liberalisierung undDeregulierung erfolgte, d.h. die zünftigen und sonstigen Beschränkungen komplett aufgehoben wurden. In nicht wenigen Staaten wurde der Zugang zu bestimmten Handwerken weiterhin von den Zünften kontrolliert. Staatliche undkommunale Stellen vergaben weiterhin Konzessionen undentschieden darüber, ob Gewerbebetriebe eröffnet werden durften. Bei bestimmten Berufen wurde dieZulassung weiterhin vonbestimmten Qualifikationen abhängig gemacht. In Preußen herrschten 30 Jahre lang bis zurGewerbeordnung von 1845 drei verschiedene Gewerbeverfassungen, imWesten, imOsten undinSachsen. Grundsätzlich wurde die Gewerbefreiheit hier aber relativ liberal interpretiert. Das Gewerbesteueredikt von 1810 machte die Eröffnung eines Gewerbebetriebes prinzipiell nur noch von der Lösung eines Steuerscheines abhängig.¦291¿ InderReform desPatentwesens drückte sich ebenfalls derinstitutionelle Wandel aus. Nach demPreußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 sollte die Erteilung eines ‚Privilegs‘aufeine Erfindung eine Ausnahme darstellen. Sie konnte nurvomKönig selbst vorgenommen werden. Voraussetzung für eine solche Verleihung war, dass das„gemeinschaftliche Wohl“nicht beeinträchtigt wurde.¦292¿ Die Invention bzw. Innovation musste ‚nützlich‘sein; sie musste der Allgemeinheit zumNutzen gereichen. In der rechtstheoretischen Diskussion derdamaligen Zeit wurde die Auffassung, dass eine Idee undderenpraktische Umsetzung einEigentumsrecht begründen, nurvoneiner Minderheit vertreten. DemLandrecht warderGedanke des‚geistigen Eigentums‘ jedenfalls noch fremd. DasPrivileg stellte vielmehr eine Belohnung dar, die sich meist in einer mehrjährigen Steuerbefreiung undeinem Verkaufsmonopolvondrei- bis sechsjähriger Dauer ausdrückte. DieZahl derPatente wurde bewusst klein gehalten, umeine Monopolbildung zuverhindern. DerGedanke,geistiges Eigentum zuschützen, blieb zwarauchinderFolgezeit unterentwickelt. Manerkannte aber, dass es notwendig war, denPatentschutz auszubauen, wasin Preußen mitdem‚Publikandum über die Erteilung derPatente‘
290 Vogel, Barbara, Allgemeine Gewerbefreiheit. DieReformpolitik despreußischen Staats-
1820), Göttingen 1983. kanzlers Hardenberg (1810– 291 Kaufhold, Karl, Gewerbefreiheit, S. 73 ff.; Reuter, Entwicklung, S. 429 ff. 292 Heggen, Alfred, Erfindungsschutz undIndustrialisierung in Preußen 1793–1877, Göttingen 1975; Wadle, Elmar, Geistiges Eigentum. Bausteine zurRechtsgeschichte, Weinheim 1996.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
183
von 1815 geschah. Vonnunanwaren neue Erfindungen, Verbesserungen der ursprünglichen Inventionen undausdemAusland eingeführte Innovationen patentwürdig. Die Höchstdauer eines Patents betrug 15 Jahre; meist wurden aberkürzere Fristen gesetzt. DerErfinder hatte spätestens einhalbes Jahr nach der Erteilung des Patents einen Ausführungsnachweis zu erbringen. Damit sollte sichergestellt werden, dass dieErfindung tatsächlich umgesetzt wurde. Ausdiesem Grund schaffte manspäter die sogenannten Einführu ngspatente wieder ab; dieVerbreitung vonInventionen undInnovationen sollte möglichst wenig behindert werden. Bevor aufdie institutionenökonomische Erklärung derUrsachen undder Folgen desWandels derWirtschaftsordnung eingegangen wird, soll nocheinmalkurz andie Grundgedanken desProperty-Rights-Ansatzes erinnert werden.¦293¿ Es geht zumeinen darum, dass die Reduktion der Eigentums- und Verfügungsrechte auf das eindeutig definierte, klar spezifizierte undkostenlosdurchsetzbare Privateigentum indertraditionellen neoklassischen Theorie extrem unrealistisch ist. Eigentums- undVerfügungsrechte können indenselteneren Fällen auf diese Form desEigentums komprimiert werden, schon gar nicht beieiner historischen Betrachtung. Gerade unter feudalen Verhältnissen waren sie ausgesprochen diffus unddifferenziert. Zweitens wirddavon ausgegangen, dass Menschen umso leistungsbereiter sind, je klarer undexklusiver diese Rechte bestimmt werden. Wirtschaftssubjekte setzen ihre Ressourcen umsoeffizienter, produktiver undpfleglicher ein,je uneingeschränkter ihnen die daraus erwirtschafteten Erträge zufließen. Unklarheiten darüber, werwelche Rechte an den Ressourcen besitzt, können dazu führen, dass sich auch solche Wirtschaftssubjekte Erträge aneignen, die keine eigene Leistung erbringen. Unspezifizierte Property Rights mindern die individuelle Leistungsbereitschaft. Drittens schließlich erhöhen unklar definierte Verfügungsrechte die Transaktionskosten. Je eindeutiger sie bestimmt sind unddurchgesetzt werden können, umsofriktionsloser, kostengünstiger vollziehen sichdieWirtschaftsprozesse. Die Transaktionskosten stellen ein weiteres Element derInstitutionenökonomik dar,mitdemsichzusammen mitanderen Bausteinen eine Theorie des institutionellen Wandels entwickeln lässt.¦294¿ Derletzte Punkt führt unmittelbar zurErklärung derzentralen Ursachen der Reformen: In der feudal-ständischen Wirtschafts- undGesellschaftsordnung waren die Eigentums- undVerfügungsrechte zu unspezifisch undzu wenig exklusiv ausgestaltet, als dass sie denAnforderungen derFrühen Neu-
293 Richter, Rudolf, Institutionen, S. 10ff.; Erlei, Mathias/Leschke, Martin/Sauerland, Dirk, , S. Neue Institutionenökonomik, S. 272 ff; Borchardt, Knut, „Property-Rights-Ansatz“ 140 ff.; Böbel, Ingo, Eigentum, Eigentumsrechte und institutioneller Wandel, Berlin 1988; Wischermann, Clemens, Property-Rights-Ansatz, S. 239 ff.; Hutter, Michael, Die Gestaltung vonProperty Rights als Mittel gesellschaftlich-wirtschaftlicher Allokation,
294
Göttingen 1979. North, Douglas C.,Theorie desinstitutionellen Wandels. Eine neueSicht derWirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988.
184
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
zeit hätten genügen können. Diealte Ordnung warzuuneffizient undzuteuer. Unter diesen Bedingungen musste eine neue, produktivere Wirtschaftsordnunggefunden werden, diedieTransaktionskosten als Folge derklaren Ausgestaltung privater Eigentumsrechte unddesfreien Wettbewerbs inderLandwirtschaft undimGewerbe senkte.¦295¿ Nicht anders analysierten
die preußischen Staatsreformer während und
nachdernapoleonischen ÄradieSituation ihres Landes. DieGeschichtsschreibung spricht in diesem Zusammenhang von„defensiver Modernisierung“.¦296¿ Sie erkannten, dass die feudal-ständische Gesellschaftsordnung Altpreußens
demdynamischen Potential derenglischen undfranzösischen nicht gewachsenwar,dassPreußen alsStaat nurdanneine Chance hatte, weiterhin inEuropaeine gewichtige Rolle zuspielen, wennes sichvonseinen feudalen Fesseln befreite unddenliberalen Marktkräften mehrRaumließ. DieReformbürokraten umvonHardenberg undvomStein versuchten über einen kontrollierten Prozess derLiberalisierung undDeregulierung dassozioökonomische System zudynamisieren, ohne daspolitische grundsätzlich in Frage zustellen. Letztlich ging es für sie darum, die nicht zuüberschauende Vielfalt der feudalen
Herrschafts-, Besitz- oderNutzungsrechte inkapitalistische Eigentumsrechte anlandwirtschaftlichem Grund undBoden umzuwandeln, dieFreiheit aufden agrarischen undgewerblichen Arbeitsmärkten herzustellen unddiekorporatistischen undsonstigen Beschränkungen des Berufs- undMarktzugangs aufzuheben.¦297¿
MitderErklärung derUrsachen derReformen ist zugleich auchdie ihrer Folgen angesprochen.¦298¿ Dieproduktivitäts- undproduktionssteigernden Wirkungen, die kein Historiker bestreitet, werden vomProperty Rights-Ansatz natürlich aufdie leistungssteigernden Effekte derdadurch bewirkten Individualisierung derEigentums- undVerfügungsrechte zurückgeführt: DerBauer besaß nunendlich dasvolle Eigentum andemGrund undBoden, dener bearbeitete. Höhere Leistung undProduktivität kamen ihmunmittelbar unduneingeschränkt zugute. Die Beseitigung derGemengelage unddes Flurzwangs machte dieindividuelle Verfügung überdieRessourcen möglich. Er warnicht 295 Ebd., S. 163 ff. 296 Wehler, Feudalismus. 297 Vgl. Koselleck, Reinhardt, Preußen zwischen Reform undRevolution,
298
Stuttgart
1967;
Schissler, Hanna, Preußische Agrargesellschaft imWandel. Wirtschaftliche, gesellschaft1847, Göttingen 1978; Deliche undpolitische Transformationenprozesse von 1763– mel, Walter, Vomaufgeklärten Reformstaat zumbürokratischen Staatsabsolutismus, München 1993. Harnisch, Hartmut, Kapitalistische Agrarreform undindustrielle Revolution. Agrarhistorische Untersuchungen überdasostelbische Preußen zwischen Spätfeudalismus und bürgerlich-demokratischer Revolution von 1848/49 unter besonderer Berücksichtigung derProvinz Brandenburg, Weimar 1984; Henning, Friedrich-Wilhelm, Die Einführung derGewerbefreiheit undihre Auswirkungen aufdasHandwerk inDeutschland, in:Abel, Wilhelm (Hg.), Handwerksgeschichte inneuer Sicht, Göttingen 1970, S. 142 ff.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
185
nurpersönlich frei, sondern auch unabhängig in seinen Entscheidungen, die Felder je nach Markt- undWetterlage zubestellen undzuernten. Die Auflösung derGemeinheiten beendete deren unproduktive Nutzung. Ähnlich wird bei derGewerbereform argumentiert. Die Lösung derzünftigen Fesseln und damit die Möglichkeit, die Produktionsmittel flexibel einzusetzen, regten die unternehmerische Risikobereitschaft an undführt zu leistungssteigerndem Wettbewerb. Schließlich stimulierte die Privatisierung ‚geistiger Produkte‘ denInventions- undInnovationsprozess. Die Kreativität desErfinders wurde ebenso gefördert wiedie Investitionsbereitschaft desUnternehmers, weil ihnen die potentiellen Erträge zumindest für eine gewisse Zeit ausschließlich zuflossen. WiebeiderAgrar- undderGewerbereform resultierte dersichdaraus ergebende wirtschaftliche Erfolg –die dynamische Industrialisierung – aus derSpezifizierung undder verbesserten Durchsetzung derindividuellen Eigentums- undVerfügungsrechte.¦299¿ Besonders die Allmende hat Eingang in die neuere wirtschaftswissenschaftliche Literatur gefunden undistzueinem festen Begriff fürdasProblem geworden, Ressourcen ohne spezifizierte undexklusive Eigentums- undVerfügungsrechte gemeinsam zunutzen.¦300¿DasAllmendeproblem prägt sichzwar unterschiedlich aus, letztlich geht es aber umfolgende Verhaltensannahme: Individuelle Rationalität führt zurunbeschränkten Nutzung allgemein zugänglicher Ressourcen zumeigenen Vorteil. Kollektive Rationalität verlangt den kontrollierten, eingeschränkten Zugang, umderen vollständige Ausbeutung zuverhindern. Ohne einen gemeinsamen Beschluss derBeteiligten ist dieser Konflikt nicht zulösen. DasStandardbeispiel, mitdemdasAllmendeproblem in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur häufig illustriert wird, ist der Fischfang auf offener See.¦301¿ Hier können keine durchsetzbaren Eigentums–vonderNutzung der rechte geschaffen werden; keiner kannvom„Konsum“ Fischschwärme –ausgeschlossen werden. Jeder fischt, solange es sich lohnt, ohne Rücksicht aufdieNutzungskosten, diedadurch entstehen, dassderRessourcenbestand füralle reduziert wird. Dassystematische Allmendeproblem wird nicht selten recht leichtfertig aufdashistorische übertragen, umzubeweisen, dassfehlende odernicht durchsetzbare Eigentumsrechte nicht nurdazu führten, dass erneuerbare Ressourcen inzerstörerischer Weise unddamit gesamtwirtschaftlich unproduktiv genutzt wurden, sondern sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen umderen Konsum führten. In derhistorischen Realität derfrühneuzeitlichen Dorfgemeinschaft wardiekollektive Rationali299 North, Douglas C./Thomas, Robert Paul, TheRise of theWestern World. A NewEconomic History, Cambridge, Mass. 1973; North, Douglas C./Thomas, Robert Paul, The Rise andthe Fall of the Manorial System. A Theoretical Model, in: Journal of Economic History 31 (1971), S. 777 ff. 300 Ostrom, Elinor, Die Verfassung derAllmende. Jenseits vonStaat undMarkt, Tübingen 1999.
301 Weimann, Joachim, Wirtschaftspolitik. 1996, S. 128 ff.
Allokation undkollektive Entscheidung, Berlin
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
tat aber vorhanden, d.h., derZugang zudenGemeinheiten bzw. Allmenden wargeregelt; dieVerfügungsrechte waren insofern spezifiziert.¦302¿ Eine andere Frage ist, ob die kollektive Nutzung auch die produktivste war, ob eine Separierung undindividuelle Zuordnung nicht zu wirtschaftlicheren Ergebnissen geführt hätte. Aus der Perspektive des Property Rights-Ansatzes wird mansie sicherlich positiv beantworten. Alseine Theorierichtung innerhalb derInstitutionenökonomik hängen die Überlegungen zudenProperty Rights engmitdenen zudenTransaktionskostenzusammen. Grundsätzlich lässt sichdieSenkung derTransaktionskosten, die durch die Reformen eventuell eingetreten ist, nicht genau bestimmen. Abgesehen vondenkaumzubewältigenden statistischen Problemen sind die methodischen enorm. Zubeantworten wäre beispielsweise dieFrage, wasdie Organisation derZünfte kostete undwasdurch ihre Abschaffung gespart wurde.Welche Kosten ergaben sich ausderBeschränkung desMarktzugangs und ausderentsprechenden Verknappung handwerklicher Leistungen undwelche Kostensenkung fand indieser Hinsicht imZusammenhang mitderDurchsetzung derGewerbefreiheit statt? Wie ist in dieser Hinsicht die Auflösung des genossenschaftlichen Eigentums, derAllmende, zubeurteilen? Auchdie Einführung derVertragsfreiheit hateventuell dieTransaktionskosten gesenkt. In der frühneuzeitlichen Feudalgesellschaft wurde sie –als ein weiterer Ausdruck eingeschränkter Verfügungsrechte –für praktisch jeden Stand in der einen oder anderen Weise behindert; bestimmte Property Rights konnten von denAngehörigen dieser Stände nicht übertragen werden. So durften Adelige teilweise keinen Handel treiben. Bauern durften keine Gewerbeprodukte verkaufen. Juden wares verboten, Landzuerwerben. Diese eingeschränkte Vertragsfreiheit minderte die Gelegenheiten zubeiderseitig gewinnbringendem Tausch von Waren und Dienstleistungen und führte eventuell zu höheren Kosten bei bestimmten Transaktionen. Abernicht nurdieVertragsfreiheit als solche, die mitdenReformen amAnfang desJahrhunderts endgültig durchgesetzt wurde, wirkte ausderSicht derInstitutionenökonomik kostenmindernd unddamit wachstumsfördernd, sondern auch die Institutionen undRegeln, die in derFolgezeit eingeführt wurden unddafür sorgten, dass Vereinbarungenleichter getroffen werden konnten undVerträge besser eingehalten wurden: Gesetze, Gerichte undVerwaltungen. Abschließend muss betont werden, dass die hier geführte Erklärung der institutionellen Reformen amAnfang des 19.Jahrhunderts begrenzt ist. Kein Institutionenökonom würde ernsthaft behaupten, dass er damit die Ursachen für die Reformen undden dynamischen Industrialisierungsprozess danach vollständig erfasst hätte. Er wird aber überzeugt sein, mitderAusgestaltung der Property Rights einen geschichtsmächtigen Wirkungsfaktor erkannt zu 302 Henning, Friedrich-Wilhelm, Handbuch derWirtschafts- undSozialgeschichte Deutschlands, Bd.1: Deutsche Wirtschafts- undSozialgeschichte im Mittelalter und in der frühenNeuzeit, Paderborn 1992.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
187
haben. Er sieht in derSuche nach immer effizienteren Wirtschaftsordnungen dietreibende Kraft fürdiewirtschaftliche Entwicklung unddensozialen Wandel. Effizient ist für ihn eine Ordnung, die die Transaktionskosten minimiert bzw.denindividuellen unddensozialen Ertrag vonwirtschaftlichen Aktivitäten zur Deckung bringt. Der soziale Ertrag einer wirtschaftlichen Aktivität stellt die Summe dar, die sich aus demindividuellen Ertrag desjenigen, der aktiv wird, unddemNettoeffekt derVor- undNachteile fürandere Wirtschaftssubjekte bzw. die Gemeinschaft ergibt. Die Initiatoren wirtschaftlicher Aktivitäten werden nur solange leistungsbereit sein, solange der private Ertrag mindestens so hoch ist wiedersoziale. Umdasvorangegangene nocheinmal aufzugreifen: Solange ein Erfinder die Kosten seiner Inventionen allein tragen muss, der Nutzen daraus jedoch allen zufließt, weil sie allen sofort zugänglich gemacht wird, wirder kaum bereit sein, aktiv zuwerden. Erst wenn ein Patentrecht dasgeistige Eigentum schützt, wirddie Kreativität desErfinders unddamit dertechnische Fortschritt angeregt. Wodie exklusive ZuordnungderErträge ausklardefinierten Eigentums- undVerfügungsrechten fehlt, kannwegen mangelnder Anreize auch keine wirtschaftliche Initiative erwartet werden. Damit stellt sich die Entwicklung vonWirtschaftsordnungen wie folgt dar: Auf der Suche nach effizienteren Institutionengefügen kames zu einer zunehmenden Spezifizierung derEigentums- undVerfügungsrechte und einer Verbesserung ihrer Durchsetzung, umauf diese Weise den privaten Nutzen wirtschaftlicher Aktivitäten enger andensozialen zukoppeln.¦303¿
5.3 Neue Institutionenökonomik (Transaktionskosten) –Entwicklung vom Verlag zurFabrik im 19. Jahrhundert
Bei diesem Beispiel soll es nicht mehrwieimvorangegangenen umdenWandeleiner gesamten Wirtschaftsordnung gehen, sondern nurumdieTransformation einer bestimmten Teilordnung: umdie einer betrieblichen Produktionsorganisation. Wiederum wird der institutionenökonomische Ansatz zugrunde gelegt, diesmal in seiner transaktionskostentheoretischen Variante.¦304¿ Im Laufe der Frühen Neuzeit übernahm der Verlag einen zunehmenden Anteil der vormals handwerklich organisierten gewerblichen Fertigung, besonders bei derTextilherstellung. AmEnde des 18. Jahrhunderts warfast die Hälfte aller im sekundären Sektor Beschäftigten in Verlagen tätig.¦305¿ Als Ver-
303 Zurgrundsätzlichen Kritik anderInstitutionenökonomik siehe Abschnitt I.1.3.c. 304 Vgl. Nieberding, Anne/Wischermann, Clemens, Unternehmensgeschichte iminstitutionellen Paradigma, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43 (1998), S. 35 ff.; Wischermann, Clemens, Frühindustrielle Unternehmensgeschichte in institutioneller Perspektive, in: Geschichte undGesellschaft 19 (1993), S. 453 ff.; siehe I.1.3.c. 305 Henning, Friedrich-Wilhelm, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Paderborn 1993, S.20.
188
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
lagbezeichnet maneine Produktionsform, inderein Kaufmann –derVerleger –demin eigenen Räumen produzierenden Hand- oder Heimwerker auf der Basis eines Vertrages meist Rohstoffe undmanchmal auch Produktions, denVerkauf derWaren dannaber vorlegte“ „ – mittel zurVerfügung stellte – selbst, häufig für überregionale Märkte, übernahm.¦306¿ Der Heimarbeiter behielt seine rechtliche Selbständigkeit, verlor inderRegel aberseine wirtschaftliche. Diese ArtderProduktionsorganisation breitete sich seit dem 16. Jahrhundert auf demLande vor allem in Realteilungsgebieten aus, in denen die bäuerliche Stelle zurSicherung derExistenz nicht mehr ausreichte unddie Menschen auf Nebenerwerb angewiesen waren.¦307¿ Während derIndustrialisierung wurde derVerlag imLaufe des 19.Jahrhunderts dannzunehmend von derFabrik verdrängt. Sie bildete diewichtigste Form derProduktionsorganisation desneuen Wirtschaftssystems. Als zentralisierter Großbetrieb warsie durch einen im Vergleich zur Heimarbeit –undauch zum handwerklichen Betrieb –hohen Anteil anKapital, weitergehender Arbeitsteilung, großer unternehmerischer Autonomie, Lohnarbeit undProduktion fürdenüberregionalenMarkt gekennzeichnet.¦308¿ Dietraditionelle Erklärung dieser Entwicklung konzentriert sich aufden technischen Fortschritt: Die Dampfmaschine machte als Antriebsquelle eine zentrale Aufstellung dervonihrbetriebenen Maschinen unabdingbar.¦309¿ Erst diese Substitution vonArbeit durch Kapital führte zujenen enormen Produktivitätssteigerungen undKostensenkungen, dieeinzentrales Kennzeichen der Industrialisierung waren. „Kritische“Historiker betonen zugleich die Möglichkeit derschärferen Ausbeutung desimVergleich zumHeimarbeiter nun auch rechtlich abhängigen Lohnarbeiters durch denUnternehmer.¦310¿ O.E. Williamson –einer derprofiliertesten Institutionenökonomen –hält diese Erklärungen fürunzureichend.¦311¿ Fürihnist die Senkung derTransaktionskosten dieentscheidende Ursache fürdenWandel vonbetrieblichen Produktionsorganisationen. Umdaszubeweisen, prüft undvergleicht er dieEffiHandwerk undIndustrie 1800–1850, in: Aubin, Hermann/ Zorn, Wolfgang (Hg.), Handbuch derdeutschen Wirtschafts- undSozialgeschichte, Bd.2, Stuttgart 1976, S.321 ff. 307 Vgl. Kriedte, Peter, Industrialisierung vorder Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion aufdemLand inderFormationsperiode desKapitalismus, Göttingen 1978. 308 Kocka, Jürgen, Unternehmer inderdeutschen Industrialisierung, Göttingen 1975. 309 Landes, David S., Derentfesselte Prometheus. Technologischer Wandel undindustrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, München 1983; Berthold, Rudolf (Hg.) Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870, Bd. 1, Berlin-Ost 1990. 310 Mottek, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. EinGrundriß, Bd. 2: VonderZeit derFranzösischen Revolution bis zurZeit derBismarckschen Reichsgründung, BerlinOst 1978. 311 Williamson, Oliver E., The Organization of Work. A Comparative Institutional Assessment, in: Journal of Economic Behaviour andOrganization 4 (1980), S. 5 ff.; Williamson, Oliver E., Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 1990.
306 Kaufhold, Karl-Heinrich,
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
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zienz sechs verschiedener Formen –u.a. auch die des Verlags unddie der erelf Kriterien, diesichdrei übergeordneten Kategorien zuordnen lassen: a. derProduktionsfluss: 1. Sind die Kosten des Transports zwischen denArbeitsstationen hoch? 2. Isteine umfangreiche Lagerhaltung erforderlich? 3. Sind Materialverlust beim Transport zwischen denArbeitsstationen wahrscheinlich?; b. dieZuordnung vonArbeitern zueinzelnen Stellen: 4. Können Arbeiter sodeneinzelnen Stellen zugewiesen werden, dass eine weitgehende Entsprechung vonQualifikation undAufgabe gewährleistet ist? 5. Entsteht fürdie Hierarchie einhoher Koordinierungsaufwand? 6. KönnenbeimEinsatz vonhochqualifizierten Spezialisten Kostenvorteile realisiert werden?; c. die Motivation: 7. Gibt die jeweilige Organisationsform einen Anreiz für eine hohe Arbeitsintensität? 8. Führt sie zu einem pfleglichen z.B. Umgang mitdenMaschinen? 9. Kannsie flexibel auflokale Störungen – bei einem Maschinenausfall –reagieren? 10.Motiviert sie zurVerbesserung derArbeitsprozesse? 11. Kannsiedurch Änderungen desProduktionssystems, des Produktionsprogramms oder derOrganisationsstruktur flexibel auf Umweltveränderungen reagieren? Bei der Beurteilung der verschiedenen Organisationsformen verzichtet Williamson aufeine historische Analyse undargumentiert weitgehend transaktionskostentheoretisch, weil fürihndieZusammenhänge eindeutig sind.¦313¿ Vor allem die negative Bewertung des Produktionsflusses führt seiner Meinungnachdazu, dassderVerlag eine geringere Gesamteffizienz erzielt alsdie Fabrik: ImVerlag mussten Rohmaterialien und‚Output‘derHeimarbeiter oft über weite Entfernungen transportiert werden. Es mussten große Lager an Rohstoffen angelegt werden, umein kontinuierliches Arbeiten zu ermöglichen. Zudem wurden Rohstoffe gestohlen; es wurde getäuscht undbetrogen. In derFabrik konnte dagegen dieWartung derMaschinen durch denEinsatz vonSpezialisten effizienter organisiert werden. Bei Störungen warderUnternehmer in der Lage, flexibler zu reagieren; er konnte defekte Maschinen schneller reparieren, erkrankte Arbeiter sofort ersetzen, veraltete Produktionssysteme und-programme rascher denveränderten Marktbedingungen anpassenetc. Andere Institutionenökonomen bringen außerdem dasArgument vor, dass die Kosten der Qualitätskontrolle bei denProdukten undProduktionsprozessen fürdenHändler undProduzenten beiderFabrik niedriger waren als beimVerlag.¦314¿ ImRahmen derfabrikmäßigen Organisation konnte während des gesamten Produktionsvorgangs die Qualität laufend überwacht werden, Fabrik.¦312¿ Dazubenutzt
312 Zumfolgenden Kieser, Alfred, Erklären dieTheorie derVerfügungsrechte undderTransaktionskostenansatz historischen Wandel vonInstitutionen?, in: Budäus, D. u. a. (Hg.) Betriebswirtschaftslehre undTheorie der Verfügungsrechte, Frankfurt a. M. 1988, S. 300 ff. 313 Zumgenerellen Problem derTransaktionskosten inderWirtschaftsgeschichte siehe Pollard, Sidney, Transaction Costs, Institutions andEconomic History, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 140 (1984), S. 18 f. 314 North, Douglas C., Theorie, S. 172 ff.
190
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
wasbeim Verlag nicht möglich war. Diegenerelle These, diedaraus abgeleitet wird, lautet: Dort, wodie Kontrolle der Produkt- undProduktionsqualität teuer war, wurden Marktbeziehungen (Verlag) in derRegel durch hierarchische Organisationen (Fabrik) ersetzt. Vorteile gegenüber derFabrik sieht Williamson beim Verlag nurhinsicht-
lich lokaler Innovation undArbeitsintensität: Als quasi selbständiger Unternehmer warderHeimarbeiter aneinem guten Arbeitsergebnis undanderbeständigen Steigerung der Produktivität seiner Maschinen durch kleine Verbesserungen interessiert, während derFabrikarbeiter nicht nurkeinerlei Interesse anderVerbesserung derProduktionsabläufe hatte, sondern imGegenteil jede Gelegenheit nutzte, um innerhalb der eigentlichen Arbeitszeit möglichst wenig zutun. Insgesamt gibt es für Williamson aber keinen Zweifel daran, dass es letztlich die niedrigeren Transaktionskosten waren, die dazu führten, dass derVerlag durch die Fabrik verdrängt wurde.¦315¿ Diese letztlich unhistorische Analyse deshistorischen Wandels einer Produktionsorganisation löste natürlich Kritik aus, die sich auf folgende Punkte konzentriert:¦316¿ Zumeinen lässt sich die von Williamson genutzte Ceterisparibus-Annahme beiderAnalyse historischer Entwicklungen nicht aufrechterhalten. Nach Williamson setzen sich die Organisationsformen durch, die ceteris paribus, d.h. unter ansonsten gleichen Bedingungen, mitdenniedrigeren Transaktionskosten produzieren. Die Bedingungen, unter denen zumindest der frühe Verlag unddie spätere Fabrik arbeiteten, waren aber in mancherlei Hinsicht sehr unterschiedlich, sodasseinVergleich nurmitEinschränkung möglich ist. Dem Verleger stand ein großes Reservoir ländlicher Arbeitskräfte zur Verfügung, die oftmals zu Löhnen amoder sogar unter dem Existenzminimum arbeiteten, zudem im Familienverbund mit unbezahlten Kindern. Außerdem gabes weitere Möglichkeiten fürdenVerleger, dieLohnkosten niedrig zu halten. Demgegenüber musste der Fabrikant, selbst wenn ihmanfangs ebenfalls billige Kinderarbeit zurVerfügung stand, Arbeitskräfte mitentsprechenden Löhnen indieFabrik locken. ZumZweiten ist dasBewertungsverfahren von Williamson recht grob undes ist zu bezweifeln, ob ein Urteil über die Gesamteffizienz der beiden Organisationsformen überhaupt zulässig ist. ZumDritten stimmt die Bewertung derEffizienz mitdenhistorischen Fakten letztlich nicht überein. In Williamsons Analyse sind es vor allem die höheren Transport- und Lagerkosten sowie der Materialverlust beim Transport, die den Verlag zum Verlierer der Industrialisierung machten.¦317¿ Tatsächlich fielen diese Kosten aber kaum insGewicht. Sie wurden zueinem großen Teil aufdie Heimarbeiterabgewälzt. Außerdem konnte derVerleger diese Kosten durch ‚Zwischen315 Williamson, Oliver E., Organisation, S. 29. 316 Vgl. z.B. Jones, Seymour R. H.,The Organization of Work. A Historical Dimension, in: Journal of Economic Behaviour anOrganization 4 (1982), S. 117 ff. 317 Kieser, Alfed, Erklären die Theorie, S. 312 f.
5. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung vonWirtschaftsordnungen
191
meister‘, diedasMaterial zudenHeimarbeitern brachten unddiefertigen Produkte einsammelten, erheblich reduzieren. Verlage mussten zwar relativ großeLager unterhalten, umdieräumlich verstreuten Heimproduzenten mitausreichenden Rohstoffen kontinuierlich versorgen zukönnen. Dieser Nachteil konnte aber durch geringere Endproduktbestände mehralsausgeglichen werden. In einer Rezession konnte der Verleger die Produktion ohne weiteres zurückschrauben, indem ermitdenHeimarbeitern keine neuen Verträge mehr abschloss, während die Fabrikanten, die ihre qualifizierten Arbeiter halten wollten, ihre Produktion nicht so leicht drosseln konnten. DieUnterschlagung vonRohmaterial scheint gewissermaßen Vertragsbestandteil gewesen zusein. Auch die Annahme, dass die Fabrik eine höhere Systemflexibilität aufwies, entsprach nicht der Realität. Der Verlag konnte sich durch die Rekrutierung weiterer Heimarbeiter sehr flexibel anNachfrageschwankungen anpassen. Die anderen Faktoren der Systemflexibilität –Änderung der Produktionsverfahrenund-programme –hatten im 18. und19. Jahrhundert nurgeringe Bedeutung. Letztlich besaß derVerlag imVergleich zurFabrik mindestens diegleiche, wohleher die höhere Transaktionskosteneffizienz, so dass derÜbergang vomVerlag zurFabrik in erster Linie durch die höhere Produktivität derMaschinenarbeit, d.h. durch technischen Fortschritt zuerklären ist.¦318¿ Warum aber wurde die Organisationsform des Verlages nicht innerhalb derFabrik beibehalten? DieUnternehmer hätten Arbeiter imPrinzip auchauf derBasis vonWerkverträgen in ihren Fabriken beschäftigen können.¦319¿ Tatsächlich waren zuBeginn derIndustrialisierung in vielen Fabriken noch Subunternehmer tätig. AusderSicht derTransaktionskostentheorie waraber angesichts derbenötigten Qualifikationen, die eine entsprechende Ausbildung, d.h. Anlernphase, aufKosten desUnternehmers voraussetzten, angesichts der begrenzten technischen Kompetenz einer noch weitgehend bäuerlichen Bevölkerung unddesOpportunismus derAkteure derArbeitsvertrag kostengünstiger als der Werk- oder Kaufvertrag.¦320¿ Wenn die Arbeiter schon in die Fabrik kommen mussten, wares billiger, nicht vonFall zuFall mitihnen Verträgeüberdiezuerbringenden Arbeitsleistungen auszuhandeln, sondern sieendgültig vertraglich zubinden unddann flexibel einzusetzen. Die rudimentäre oder nicht vorhandene Sozialgesetzgebung stand einer sofortigen Entlassung –auswelchen Gründen auch immer –nicht im Wege. Subunternehmer, die alsteuer galten undvondenen angeblich schädliche Einflüsse aufdieArbeitsmoral undDisziplin derArbeiter ausgingen, wurden daher nurfürsolche Aufgaben angeworben, die eine hohe, auf demArbeitsmarkt nurschwer erhältliche fachliche Qualifikation erforderten. Die Fabrikanten versuchten vonih318 Jones, Seymour R. H., Organization, S. 136. 319 Zumgenerellen Problem Bössmann, Eva, Weshalb gibt es Unternehmen?, Der Erklärungsansatz vonCoase, Ronald H.in: Zeitschrift fürdiegesamte Staatswissenschaft 137 (1981), S. 667 ff. 320 Kieser, Alfred, Erklären die Theorie, S. 314.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
nenmöglichst unabhängig zusein, indem sie dieArbeitsprozesse einfach gestalteten und/oder die Qualifikation dereigenen Arbeiter verbesserten. Trotz dieser Argumente trägt die Transaktionskostentheorie insgesamt nur wenig zurErklärung desWandels vomVerlag zurFabrik bei.
6. Kapitel: Fallbeispiele zur Entwicklung desStaates 6.1 Faktoranalytische Staatstheorie –Entwicklung derStaatsquote im 20. Jahrhundert Ausgangspunkt dieses Ansatzes sind die Staatsausgaben¦321¿ als ein besonders markanter undzudem quantitativ messbarer Ausdruck derStaatstätigkeit allgemein. Sie werden entweder als absolute Größe betrachtet, meist aber in Beziehung zumSozialprodukt gesetzt, umaufdiese Weise dieBedeutung des Staates in deroder für die Wirtschaft auszudrücken.¦322¿ Die Relation vonöffentlichen Gesamtausgaben, einschließlich derAusgaben derSozialversicherungen, undSozialprodukt –‚die‘Staatsquote –dient häufig sogar als zahlenmäßiger Ausdruck der gesellschaftlichen Bedeutung des Staates. Sicherlich istdies eine Überinterpretation, dennoch istes gerade fürdiehistorische Analyse staatlicher Aktivitäten vonInteresse herauszufinden, welche Faktoren in welchem Ausmaß dieEntwicklung derStaatsausgaben beeinflusst haben. Sie stellen somit die abhängige Variable dar, die in einem funktionalen Zusammenhang zu unabhängigen Variablen steht. Die vorliegenden Untersuchungenlassen sich danach unterscheiden, obvoneiner oder mehreren unabhängigenVariablen ausgegangen wird undaufwelche Weise diese gegebenenfalls miteinander verknüpft werden. Vondenverschiedenen Arten derEinflussfaktoren geht es imFolgenden nurumdie ökonomisch-technischen undumdie demographischen. Sie können wiederum auf drei Arten auf die Staatsausgabeneinwirken: über die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen, über ihre Finanzierung undüberihrAngebot. Auchhiererfolgt insofern eine Einschränkung, als nurdie Nachfrageseite berücksichtigt wird.¦323¿ DieEntwicklung derStaatsquote wurde bereits dargestellt.¦324¿ Danach wies sie im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit einem Niveau von gut 10% eine gleichbleibende oder leicht sinkende Tendenz auf und nahm dann im Kaiserreich biszumErsten Weltkrieg etwas zu.DerKrieg bewirkte eine schubartige Erhöhung auf über 20%. In der Zwischenkriegszeit stieg sie steil auf
321 Wie in II.2.2. bereits ausgeführt. 322 Vgl. Musgrave, Richard A./Musgrave, Peggy B./Kullmer, Lore, Dieöffentlichen Finanzen in Theorie undPraxis, Bd. 1,Tübingen 1984. 323 Leineweber, Norbert, Dassäkulare Wachstum, S. 25 ff. 324 II.4.2; Vgl. Littmann, Konrad, Definition undEntwicklung der Staatsquote –Abgrenzung, Aussagekraft undAnwendungsbereiche unterschiedlicher Typen vonStaatsquoten, Göttingen 1975.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
193
fast 40% an. Nach demZweiten Weltkrieg kletterte sie bis Mitte der 1970er Jahre vongut30% auf fast 50%, umbis 1990 wieder aufetwa 46% zusinken. Die Staatsquote nahm also in säkularer Perspektive erheblich zu, allerdings gabes auch Phasen, in denen sie stagnierte oder zurückging. Zunächst soll geprüft werden, obeseinen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wohlstand undStaatsausgaben gibt. Diegenerelle These lautet, dassdieStaatsausgaben imZuge derWohlstandssteigerung seit dem19.Jahrhundert überproportional zunahmen, d.h. ein enger positiver Zusammenhang zwischen derEntwicklung des Volkseinkommens –als Indikator desWohltheoretische“ standes –undderStaatsquote besteht. Die, wennmanso will, „ Begründung geht dahin, dass es bestimmte Güter undDienstleistungen gibt, deren Einkommenselastizität der Nachfrage größer als 1 ist: Wenn das Einkommen umeine Einheit steigt, nimmt dieNachfrage nach ihnen ummehrals eine Einheit zu.Zudiesen Gütern, insbesondere Dienstleistungen, zählen vor allem die des Gesundheits-, Erziehungs- undBildungswesens, der sozialen Wohlfahrt undderUmweltpflege.¦325¿ Aufeinem Entwicklungsniveau, beidem es denMenschen umdie bloße Sicherung der Existenz geht, umErnährung, Kleidung undWohnen, ist die Nachfrage nach diesen Dienstleistungen klein. Sie steigt aber überproportional, je wohlhabender die Menschen werden. Da sie–zumindest imeuropäischen Kontext –alsöffentliche odersuperiore Güter angeboten werden, ist mit der überproportionalen Nachfrage auch eine überproportionale Zunahme der Staatsausgaben verbunden.¦326¿ Schon diese Begründung fürdiemitsteigendem Einkommen überproportional zunehmenden Staatsausgaben hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.¦327¿ Letztlich dürften dieBedürfnisse nach solchen Leistungen unabhängig vonderHöhe des Einkommens sein, so dass sie nicht mit wachsendem Einkommen zunehmen. Es steigen allerdings dieMöglichkeiten sie zubefriedigen. Außerdem brauchen sie durchaus nicht kollektiv angeboten werden. Diemitihnen angestrebte Reduzierung oderAbsicherung bestimmter Risiken kannauchüberdenMarkt erfolgen, wennauchsicherlich nicht nachgleichen sozialen undsolidarischen Maßstäben. Man könnte sogar postulieren, dass gerade die Menschen mithöheren Einkommen in die Lage versetzt werden, eine private Risikovorsorge zubetreiben. Eine eindeutige kausale Beziehung zwischen Einkommenshöhe undöffentlichen Leistungen gibt es nicht. Beimempirischen Test ist zunächst zuberücksichtigen, dass dersteigendeWohlstand imSozialprodukt seinen Ausdruck finden soll unddass die demographische Entwicklung insofern berücksichtigt wird, als das Pro-Kopf325
326
327
Gesetze“ihrer langfristigen EntwickLittmann, Konrad, Ausgaben, öffentliche, II: Die„ lung, in: Albers, Willi (Hg.), Handwörterbuch derWirtschaftswissenschaften, Bd.1,Stutt363, S. 349 ff. gart 1977, S. 349– Blankart, Charles, Neuere Ansätze, S. 73 ff.; Timm, Herbert, DasGesetz derwachsendenStaatsausgaben, in: Finanzarchiv, N.F. 21 (1961), S. 201 ff. Leineweber, Norbert, Dassäkulare Wachstum, S. 36 ff.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
Sozialprodukt als Indikator dient.¦328¿Zunächst kannfestgehalten werden, dass dasPro-Kopf-Sozialprodukt amEnde des20. Jahrhunderts wesentlich höher warals umdie Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Staatsquote stieg in diesem Zeitraum umdasVier- bisFünffache. Unterteilt mannunaberdiese 150Jahre in verschiedene Unterabschnitte, so löst sich der generelle Zusammenhang zwischen demsteigenden Sozialprodukt unddersteigenden Staatsquote auf. Imzweiten Drittel des 19.Jahrhunderts wardasPro-Kopf-Sozialprodukt rückläufig bzw. stagnierte, die Staatsquote ebenfalls. ImKaiserreich bis zumErsten Weltkrieg stieg das Pro-Kopf-Sozialprodukt stark, die Staatsquote aber nur leicht an. In der Zwischenkriegszeit stand einem fast gleichbleibenden Pro-Kopf-Sozialprodukt einsteiler Anstieg derStaatsquote gegenüber. Inder Phase desBooms nachdemZweiten Weltkrieg nahmen beide Größen kräftig zu. Während dann seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre das Pro-KopfSozialprodukt nurnoch sehr langsam expandierte, ging die Staatsquote seit den 1980er tendenziell zurück, stieg allerdings ab 1990 imZusammenhang mitderVereinigung derbeiden deutschen Staaten nocheinmal sprunghaft an. Berechnet mandieEinkommenselastizitäten derNachfrage nachöffentlichen Gütern undDiensten für die verschiedenen Perioden, zeigt sich, wie unterschiedlich diese aufdieVeränderung desWohlstandes reagierte. Dieentsprechenden Korrelationskoeffizienten liegen relativ niedrig bzw. sind negativ. DerZusammenhang vonPro-Kopf-Sozialprodukt wirdnochvager, wennnicht wiebisher die Ausgaben derSozialversicherungen indenStaatsausgaben mit berücksichtigt werden undals Basisgröße statt desSozialprodukts dasVolkseinkommen bzw. dasPro-Kopf-Einkommen gewählt wird.¦329¿ Stellt mannicht die Gesamtausgaben, sondern spezielle Ausgaben dem Pro-Kopf-Sozialprodukt oder -Einkommen gegenüber, lässt sich ein enger positiver Zusammenhang nurfürdiedesGesundheitswesens feststellen, allerdings nicht mehrfürdasletzte Viertel des20. Jahrhunderts. Bei allen anderen fünfzehn untersuchten Ausgabearten existierten Perioden, indenen entweder eine unterproportionale Zunahme derbetreffenden Ausgaben stattfand oder abereine negative Korrelation bestand. DieErgebnisse fürdasDeutsche Reich bzw.dieBundesrepublik Deutschland werden imÜbrigen durch international vergleichende Untersuchungen bestätigt, die teilweise mit differenzierteren statistischen Methoden arbeiten.¦330¿ Es sei noch einmal hervorgehoben, dass das bloße Messen statistischer Zusammenhänge kaumetwas mittheoretischen, kausalen Erklärungen zutun hat.¦331¿ Allerdings besteht im vorliegenden Fall auch kaum die Versuchung dies zutun, denndieempirischen Daten zeigen ebenkeine signifikanten Korrelationen.
328 Recktenwald, Horst, Umfang undStruktur, S. 713 ff. 329 Ebenda, S. 720 ff. 330 z.B. D. R. Cameron, The Expansion of the Public Economy. A Comparative Analysis, in: The American Political Science Review 72 (1978), S. 1243 ff. 331 Recktenwald, Horst Claus, Umfang undStruktur, S. 724.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
195
Aufdie ArtundWeise, wiedietechnisch-ökonomische Entwicklung auf die Staatsausgaben eingewirkt haben könnten, wurde bereits im Abschnitt II.2.2 hingewiesen.¦332¿ Obwohl es sich nurumknappe Anmerkungen handelt, soll auchhier nicht weiter darauf eingegangen werden. DieZusammenhänge sindrecht komplex undweder theoretisch nochempirisch ausreichend untersucht.
Zurökonomischen Perspektive gehört zudem die Frage, inwieweit die unterschiedliche Preisentwicklung im öffentlichen undprivaten Sektor zur steigenden Staatsquote führte, inwelchem Umfang dieseinnominales Phänomenwar.¦333¿ Deflationiert mandie einzelnen Arten der Staatsausgaben mit jeweils besonderen, angemessen Indizes, solässt sichtatsächlich eine stärkere Inflationierung der Staatsausgaben im Vergleich zu der des Sozialprodukts des privaten Sektors belegen, zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese überproportionale Inflationierung derStaatsausgaben wirdauf zwei Faktoren zurückgeführt, deren relativer Einfluss genauer bestimmt werdenkann: Unter dem„Preiseffekt“wirdeinvondergesamtwirtschaftlichen Inflationsrate abhängiger Preisanstieg derStaatsnachfrage verstanden, wobei der Staat besonders solche Güter (und Dienste) nachfragt, deren Preise im Vergleich zudenen vornehmlich privat nachgefragter Güter schneller steigen. Mitdem„Struktureffekt“ist dagegen gemeint, dass es zueinem überdurchschnittlichen Preisanstieg dervomStaat angebotenen Güter kommt, weil im dienstleistungsintensiven Staatssektor aufgrund dergeringeren Rationalisierungsmöglichkeiten die Produktivitätsfortschritte, die zu relativen Preissenkungen führen, hinter denen des privaten Sektors zurückbleiben. Auch hier muss aber voreiner Überinterpretation gewarnt werden: Weder kann davon ausgegangen werden, dass es sich beim Preis- undbeim Struktureffekt um gleichbleibende Phänomene mit numerisch konstanten Werten handelt, wie es die auf langfristigen Zeitreihen beruhenden Regressionsgleichung suggerieren könnte, noch sind diese Effekte besonders relevant für die Erklärung derEntwicklung derStaatsausgaben.¦334¿ Ganzabgesehen davon, gehören Preissteigerungen zur ‚realen‘Welt unddrücken auch die Tatsache aus, dass die vonihnen besonders betroffenen Güter besonders stark nachgefragt werden. Deflationierungen führen dagegen ineine Scheinwelt. Demographische Veränderungen wirken sichebenfalls aufdieNachfrage nach öffentlichen Gütern undDiensten aus. In erster Linie geht es dabei um die Dichte unddieAltersstruktur derBevölkerung. A. Brecht entwickelte beGesetz“der progressiven Parallelität zwireits in den 1930er Jahren sein „ Klaus, DerBeitrag desöffentlichen Sektors zurEntwicklung derProduktivität, in: Konjunkturpolitik 30 (1984), S. 93 ff. Felderer, Bernd, Reale Staatsquote undPreiseffekt, in: Finanzarchiv, N.F. 36 (1977/78), S. 449 ff.; Felderer, Bernd, Inflation, Wagnersches Gesetz undStagnation, in:Finanzarchiv, N.F. 37 (1979), S. 223 ff. Fehr, Benedikt, Erklärungsansätze zur Entwicklung der Staatsausgaben. Eine methodenkritische Analyse, Freiburg 1984, S. 44 f.
332 Zimmermann, 333
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
schen denöffentlichen Ausgaben derLänder undKommunen undderBevölkerungsagglomeration.¦335¿ Erglaubte, einen statistischen Zusammenhang zwischen derHöhe derPro-Kopf-Ausgaben in Ländern undGemeinden undder Bevölkerungsdichte undderVerstädterung feststellen zukönnen. AlsBegründungführte erdiehöheren Kosten beidenöffentlichen Vor- undVersorgungsleistungen, die steigenden Beamtengehälter unddengrößeren Aufwand für dieinnere Sicherheit an,dieseiner Meinung nachmitzunehmender Bevölkerungsdichte überproportional wuchsen.¦336¿ Letztlich handelt es sich bei dieser Begründung aber wiederum nurumstatistische Vergleiche ohne kausale Erklärung. Immerhin erkannte Brecht, dass steigende Bevölkerungsdichte, Urbanisierung undIndustrialisierung engmiteinander verknüpft sind: Dicht besiedelte Gebiete weisen üblicherweise einen hohen Urbanisierungsgrad auf. Verstädterung ist wiederum Ausdruck fürDeagrarisierung, Industrialisierung undTertiarisierung. Außerdem ändern sich imGefolge derVerstädterung die sozialen Strukturen, z.B. lösen sich ländliche Familienverbände auf undmit ihnen die großfamiliären Sicherungssysteme. Sie müssen durch öffentliche ersetzt werden, was wiederum die kommunalen Ausgaben erhöht. Mit der Größe der Kommunen nehmen gewöhnlich die sogenannten zentralörtlichen Funktionen zu. Die Ämter derAllgemeinen Verwaltung, die Gerichte, Polizeidirektionen, Schulen, Krankenhäuser undkulturellen Einrichtungen konzentrieren sich in dengrößeren Gemeinden, so dass vieles dafür spricht, dass die Ausgaben mit der Größe der Stadt tatsächlich überproportional steigen. Ein kausaler Zusammenhang kann dennoch kaum hergestellt werden, weil gleichzeitig die Einkommen indenKommunen höher sind als auf demLand undin größeren Städten höher als inkleineren. Dieüberproportional steigendenAusgaben könnten also aufeine Einkommenelastizität derNachfrage nach öffentlichen Leistungen zurückgehen, die mit zunehmendem Einkommen steigt.¦337¿ Einkommens- und Urbanisierungseffekt sind auf das Engste verknüpft, so dass es kaummöglich ist, sie sauber zutrennen. Eine Reihe weitererZuordnungs- undAbgrenzungsprobleme führt ebenfalls zumethodischen Fehlern, die bei empirischen Untersuchungen kaum vermieden werden kön-
nen. Lässt mandiese Probleme dennoch außer Achtundakzeptiert die Ergebnisse der historischen Untersuchungen, zeigt sich, dass zwischen Urbanisierung undöffentlichen Ausgaben nurein schwacher Zusammenhang bestand. InAbhängigkeit vonderGröße derGemeinden ergeben sich lineare, regressi335 Brecht, Arnold, Internationaler Vergleich öffentlicher Ausgaben. Grundfragen derinternationalen Politik, Leipzig u.a. 1932.
336 Leineweber, Norbert, säkulare Wachstum, S. 42 ff.; Kaehler, Jürgen, Agglomeration undStaatsausgaben –Brechtsches undWagnersches Gesetz imVergleich, in: Finanzarchiv, N.F. 40 (1982), S. 445 ff. 337 Leineweber, Norbert, säkulare Wachstum, S. 46 ff.; Fehr, Benedikt, Erklärungsansätze. S. 50 ff.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
197
ve, progressive undauch U-förmige Ausgabenentwicklungen, die sich letztlich ausgleichen undeinen annähernd linearen Gesamtkostenverlauf derkommunalen Leistungen mitzunehmender Verstädterung aufweisen.¦338¿Hiermachtesichoffensichtlich dieKostendegression bemerkbar, diedurch dasAngebot wiedurch dieNachfrage ausgelöst wurde. AufderAngebotsseite waren esdie betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten, durch größere Betriebseinheiten die Kosten zusenken, deren Basis auf derNachfrageseite die zunehmende Agglomeration derBevölkerung bildete. Allerdings konnte abeiner bestimmten Stadtgröße offensichtlich dieoptimale Betriebsgröße überschritten werden und die degressive Kostenentwicklung in eine progressive umschlagen. Außerdemkames imZusammenhang mitderZunahme derstädtischen Bevölkerungperiodisch zueiner schubartigen Erhöhung derKosten, wennneueAnlagenerstellt werden mussten. Es gibt allerdings ebenso Untersuchungen, die grundsätzlich einen negativen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte undöffentlichen Ausgaben berechnet haben, dersich erst bei sehr hoher Dichte ins Gegenteil verkehrt. Insgesamt spricht mehrdafür, dass es imZuge der steigenden Bevölkerungsdichte undderUrbanisierung zunächst zueiner Ausgabendegression underst später zu einer allenfalls schwachen Progression kam. Eindeutige Zusammenhänge dürften sich kaumermitteln lassen –weder empirisch noch theoretisch.¦339¿ Ähnlich vage stellen sich dieZusammenhänge zwischen derAltersstrukturderBevölkerung unddenöffentlichen Ausgaben dar.Dabei istderempirische Befund zurEntwicklung derAltersstruktur eindeutig.¦340¿ In derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zumErsten Weltkrieg nahm der Anteil der unter 20-jährigen mitabnehmender Rate zu;seit den1880er Jahren veränderte er sich mitetwa 45% kaumnoch. Die Bevölkerung verjüngte sich also in dieser Zeit. Seither ging dieser Anteil unter Schwankungen zurück, so dass amEnde des 20. Jahrhunderts nurnoch gut20% derBevölkerung jünger als 20 Jahre waren. DieBevölkerung alterte somit im20. Jahrhundert. DerAnteil derüber65-jährigen entwickelte sichentsprechend; amEndedes 19.Jahrhunderts machte er 20% aus, amEnde des20. Jahrhunderts 40%. Fürdasletzte Jahrhundert lassen sich hinsichtlich deröffentlichen Ausgaben also zwei gegenläufige Trends ableiten: DerBevölkerungsanteil, derdasöffentliche Bil-
338 Weitzel, Otto, Die Entwicklung derStaatsausgaben inDeutschland –Eine Analyse der öffentlichen Aktivität in ihrer Abhängigkeit vomwirtschaftlichen Wachstum, Diss. Erlangen-Nürnberg 1967, S. 107ff. 339 Zu neueren Untersuchungen zudenEinflussfaktoren kommunaler Ausgabenentwicklung siehe Hühner, Michael, Kommunalfinanzen, Kommunalunternehmen undKommunalpolitik imDeutschen Kaiserreich Münster 1998; Tilly, Richard H., Investitionen derGemeinden imDeutschen Kaiserreich, in: Kaufhold, Karl Heinrich (Hrsg.), Investitionen derStädte im 19. und20. Jahrhundert, Köln u.a. 1997, S. 39 ff.; Brown, John C.,
340
Reforming theUrban Environment. Sanitation, Housing, andGovernment Intervention in Germany, 1870–1910, Diss. Michigan 1987. Leineweber, Säkulares Wachstum, S. 49 ff.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
dungswesen in Anspruch nahm, ging zurück, derjenige, der das öffentliche Renten- undGesundheitswesen inAnspruch nahm, stieg an.Eindeutige Aussagen über die Entwicklung des gesamten Ausgabenvolumens könnten darausnurabgeleitet werden, wennsichdie Artderangebotenen Leistungen und die anderen Faktoren, die ihre Inanspruchnahme bestimmten, nicht geändert hätten. In der Realität werden aber gerade diese beiden Ausgabenbereiche besonders stark vonpolitischen, ideologischen oder mentalen Einflüssen bestimmt. Sie mischen sich mit dendemographischen undkönnen vondiesen nicht mehrklar getrennt werden. Eine präzise Aussage darüber, ob demographische Faktoren zueinem imVergleich zumSozialprodukt überproportionalenAnstieg derStaatsausgaben geführt haben, kann also nicht gemacht werden, selbst wenn viel dafür spricht, dass die ansich schon immer teurer werdende Versorgung alter Menschen durch die Alterung der Bevölkerung noch weiter indieHöhe getrieben wurde undmaßgeblich zumüberproportionalen Wachstum derGesamtausgaben beitrug.¦341¿ Insgesamt wird manallen Thesen eine Absage erteilen müssen, die die Staatsausgaben vornehmlich durch sozio-ökonomische, auch technisch-ökonomische, Faktoren außerhalb des politischen undadministrativen Systems determiniert sehen. Allerdings darf deren Bedeutung auch nicht vernachlässigt werden. Selbst wennentsprechende Korrelations- undRegressionsanalysenfür längere Zeiträume bei entsprechender Phaseneinteilung keine signifikanten Zusammenhänge aufzeigen, wird mannicht leugnen können, dass sie die Nachfrage unddas Angebot vonöffentlichen Leistungen beeinflusst haben. Nursinddie sozio-ökonomischen Faktoren soengmitanderen Faktoren verknüpft, dass eine Isolierung nicht möglich ist. Ebenso zurückhaltend muss die Bedeutung der Staatsausgaben für die Staatstätigkeit beurteilt werden. Selbstverständlich repräsentieren sie nicht die Staatsaufgaben oder gar ‚den‘ Staat. Sie stellen aber einen wichtigen Ausdruck staatlicher Tätigkeiten dar undsindinihrer Bedeutung fürdieRolle desStaates innerhalb vonWirtschaft undGesellschaft nicht zuunterschätzen.
6.2 Politökonomischer Ansatz: Verhältnis vonStaat undWirtschaft im Nationalsozialismus
Esgibt eine Vielzahl sogenannter Faschismustheorien, vondenen hier nurauf dieeingegangen wird, diesich insbesondere mitdemVerhältnis vonStaat und Wirtschaft beschäftigen.¦342¿ Sie wurden lange vommarxistischen Ansatz ge341 z.B. Schmidt, Manfred G.,Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen undsozialdeein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M. u.a. 1982. mokratischen Regierungen – 342 Zumfolgenden vgl. Saage, Richard, Faschismustheorien. Eine Einführung, München 1976; Wippermann, Wolfgang, Faschismustheorien. kussion, Darmstadt 1989.
ZumStand dergegenwärtigen Dis-
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
199
prägt, aber auch–meist in versteckter Form–vondenjenigen zurGrundlage ihrer historischen Untersuchungen gemacht, die nicht an die Prämissen und die Kernaussagen dermarxschen Theorie glauben. DasVerhältnis vonStaat undWirtschaft hatdurchgängig imZentrum derpolitik- undwirtschaftshistorischen ‚Faschismusforschung‘ gestanden, zunächst seit den60er Jahren auf makrohistorischer Ebene, seit den80er Jahren aufdermikrohistorischen einzelner Unternehmen, Branchen oder Regionen. Vorallem in derersten Phase spielten generalisierende Thesen eine große Rolle, ging es doch darum, das fürdiedeutsche Geschichte, fürdasSelbstverständnis derDeutschen so zentrale Thema der Beziehung vonNationalsozialismus undKapitalismus, von Politik undÖkonomie derNS-Diktatur zuklären. Zunächst sollen einige wichtige Aussagen dermarxistischen Theorie zum Verhältnis vonStaat undWirtschaft zusammengefasst werden (siehe Abschnitt I. 1.3.b. und2.3.b.). Dabei taucht die Schwierigkeit auf, dass Marx selbst keineStaatstheorie entwickelt hatundes verschiedene Interpretationsrichtungen gibt, diefürsichbeanspruchen, eine authentische Weiterentwicklung desmarxschen Ansatzes zu bieten.¦343¿ Ganz abgesehen davon kann manzu sehr ähnlichen Erkenntnissen kommen, wennmannicht dasmarxsche Analyseinstrumentarium zugrunde legt. Die zentrale These lautet:¦344¿ Zwar warbereits der feudale undabsolutistische ‚Staat‘keine außerhalb der Wirtschaft stehende Gewalt, abererst mitderHerausbildung deskapitalistischen Systems imLaufe des 19. Jahrhunderts wurde er immer stärker in die ökonomische Sphäre eingebunden undmusste seither immer mehr Verantwortung fürdasFunktionieren dieses Systems übernehmen. DieZwangsläufigkeit dieser Entwicklung lässt sich ausden–ausmarxistischer Sicht –grundlegenden Widersprüchen derkapitalistischen Ordnung ableiten: vorallem ausdemZwang zurpermanenten Kapitalintensivierung, zurKapitalakkumulation undderdaraus resultierenden Kapitalkonzentration; ausdemtendenziellen Fall derProfitrate; aus demWiderspruch zwischen dereinzelwirtschaftlich geplanten undorganisierten, gesamtwirtschaftlich und-gesellschaftlich aber mehroder weniger ungeplanten undunkoordinierten Produktion, waszuperiodisch auftretenden, sich verschärfenden Krisen führt; ausdemProblem, dass derEntfaltung derProduktivkräfte keine proportionale Entfaltung derKonsumptionskräfte folgt, was letztlich säkulare Stagnation bedeutet; ausdemGegensatz vonLohnarbeit und Kapital, derzumpermanenten, sich ebenfalls verschärfenden Klassenkampf führt. Umdiese Widersprüche zumildern unddasSystem vordemZusammenbruch zu bewahren, ist der Staat –als ausführendes Organ wirtschaftlicher gezwungen, immer intensiver zuintervenieren. AmAnfang musInteressen –
343 Butterwege, Christoph, Probleme dermarxistischen Staatsdiskussion, Köln 1977; Esser, Josef, Einführung indie materialistische Staatsanalyse, Frankfurt a. M. 1975. 344 Vgl. Schleifenstein, Josef, Einführung in das Studium von Marx, Engels undLenin, München 1972.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
ste er lediglich die allgemeinen Produktionsbedingungen derneuen kapitalistischen Ordnung sichern:¦345¿ Gewährleistung des Privateigentums undder Freiheit derMärkte, Garantie freier Lohnarbeit, Schaffung einer administrativen, ökonomischen undsozialen Basisinfrastruktur usw. Dies waren seine Hauptaufgaben im 19.Jahrhundert. Engels sprach vom‚ideellen GesamtkapiSeither musste derStaat zusätzliche Funktionen übernehmen, um talisten‘ denwirtschaftlichen Reproduktionsprozess zusichern: Umverteilung vonEinkommen, direkte undindirekte Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung. Schließlich musste er sogar durch unmittelbare Förderung derForschung und Entwicklung die Innovationskraft der Unternehmen unddamit der gesamten Wirtschaft stärken. Diese Entwicklung führte zu einer immer engeren Verflechtung zwischen dengroßen Unternehmen –denMonopolen –unddem Staatsapparat, wobei sich fürdie marxistische Theorie folgende zentrale Fragenstellen: Agiert derStaat nurimspeziellen Interesse einzelner Monopole oder verfolgt er die Interessen der gesamten Kapitalistenklasse? Bemüht er sich nur um die Profitmöglichkeiten einzelner Großkonzerne oder will er gleichzeitig dasgesamte kapitalistische System sichern? Sie werden auch in demlange Zeitdominanten marxistischen Ansatz des ‚Staatsmonopolistischen Kapitalismus‘nicht eindeutig beantwortet, mitderdiesystematische Struktur wie die historische Entwicklung deskapitalistischen Systems –insbesondere auch diedesStaates –erfasst werden soll.¦347¿ In derhistorisch-empirischen Forschung stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: 1. Wer verhalf Hitler und der NSDAP zur Macht? 2. Wie gestaltete sich dasVerhältnis vonWirtschaft undPolitik bzw. Industrie undStaat nach .¦346¿
1933?
Auf die erste Frage soll hier nicht weiter eingegangen werden, weil es nicht direkt, sondern allenfalls indirekt umdasVerhältnis vonStaat undWirtschaft geht; nochwardieNSDAP keine Staatspartei, nochrepräsentierten ihre Vertreter nicht denStaat. Esseiaberzumindest darauf hingewiesen, dassauch diese erste Frage nicht nurinhaltlich unterschiedlich beantwortet wird, sondern auch methodisch.¦348¿ Zumeinen wird versucht, detailgenau die persönlichen, politischen undfinanziellen Verbindungen zwischen denRepräsentan345 Hirsch, Joachim, Elemente einer materialistischen Staatstheorie, in: Braunmühl, Claudia von, Probleme einer materialistischen Staatstheorie, Frankfurt a. M. 1973, S?, S. 237 f. 346 Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung derWissenschaft, Stuttgart 31894, S. 280. 347 Vgl. Wirth, Margaret, Kapitalismustheorie inderDDR. Entstehung undEntwicklung derTheorie desstaatsmonopolistischen Kapitalismus, Frankfurt a. M.1972; Winkelmann, Rainer, Grundzüge undProbleme derTheorie desstaatmonopolistischen Kapitalismus, in:Ebbighausen, Rolf (Hg.), Monopol undStaat. ZurMarx-Rezeption inderTheorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Frankfurt 1974. Forschungsgeschichte undForschungsprobleme, in: Wippermann, Wolfgang (Hg.), Kontroversen umHitler, Frankfurt a. M. 1986, S. 13 ff.
348 Wippermann, Wolfgang,
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
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ten der Wirtschaft –den Politikern, Industriellen und Bankiers –undder NSDAP nachzuweisen, umauf diese Weise deren Beitrag zumAufstieg des Nationalsozialismus zubestimmen. Zumanderen istmanbemüht, diestrukturellen Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft undPolitik herauszuarbeiten, die hinter denhandelnden Personen liegen, umauf diese Weise die Verbindungen zwischen Kapitalismus undNationalsozialismus aufzudecken.¦349¿ AmAnfang der marxistischen Faschismusforschung nach demZweiten Weltkrieg stand dieeinfache Agententhese.¦350¿ Entsprechend derBehauptung, derAufstieg dernationalsozialistischen Bewegung sei aufdiebesonders konservativen Teile derMonopolbourgeoisie zurückzuführen, galt dermachthabende Nationalsozialismus aus der Perspektive der orthodox-marxistischen offene terroristische Diktatur der ammeisten Geschichtsschreibung als die „ reaktionären, ammeisten chauvinistischen, ammeisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“–so Georgi Dimitroff auf demsiebten Kongress derKommunistischen Internationale 1935.¦351¿ AufderGrundlage dieser Definition entstanden in den 1950er Jahren Untersuchungen, die teilweise in extrem personalistischer Verengung auf einzelne Industrielle undBankiers die Machtergreifung undMachtausübung durch dieNationalsozialisten aufeinen „ monokausalen Kaufakt“reduzieren.¦352¿ Fürorthodox-marxistische Interpretenist klar, dass faschistische Diktatur undbürgerliche Demokratie nurzwei verschiedene Formen despolitischen Überbaus übereinunddieselbe Gesellschaftsformation darstellen –die des Staatsmonopolistischen Kapitalismus. Diese naive Sichtweise, die kaumetwas mitTheorie, aber sehr viel mitpolitischer Polemik zutunhat, wurde zwar bald wieder aufgegeben, es blieb aber bei dergrundlegenden Position, dass dieWirtschaft/das Monopolkapital einseitig die Politik/den Staat dominierte undinstrumentalisierte. Auch die folgende ‚Monopolgruppentheorie‘ ist durch dieses Grundverständnis gekennzeichnet.¦353¿ Danach hatte sich als Ergebnis der wachsenden FinanzKonzentration undMonopolisierung umdie Jahrhundertwende ein „ und Industriekomplex als Führungsgruppe im Oligopol“etabliert, der aber nicht monolithisch war, sondern immer wieder durch Konkurrenzkämpfe zer-
349 z.B. Stegmann, Dirk, ZumVerhältnis vonGroßindustrie undNationalsozialismus 1930– 482, S.399 ff.; Turner, Henry A., 1933, in: Archiv fürSozialgeschichte 13, 1973, S. 399– Faschismus undKapitalismus inDeutschland. Studien zumVerhältnis zwischen Nationalismus undWirtschaft, Göttingen 1972. 350 z. B. Ulbricht, Walter, Der faschistische deutsche Kapitalismus 1933–1945, Berlin-Ost 1956; Opitz, Reinhard, Faschismus undNeofaschismus, Bd.1: Derdeutsche Faschismus bis 1945, Köln 1968. 351 Zitiert nach Saage, Richard, Faschismustheorien, S. 32. 352 Henning, Eike, Industrie undFaschismus. Anmerkungen zur sowjetischen Interpretation, in: Neue Politische Literatur 15 (1970), S. 438. 353 Monopole und Staat in Deutschland 1917–1945, Berlin-Ost 1966; Czichon, Eberhard, Primat derIndustrie imKartell dernationalsozialistischen Macht, in: DasArgument 47 (1968), S. 168 ff.
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III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
rissen wurde. Seit demErsten Weltkrieg standen sich vorallem die moderne Chemie/Elektro-Gruppe unddie traditionelle Kohle/Eisen/Stahl-Gruppe gegenüber. Trotz erheblicher Interessenunterschiede waren sie inderWeltwirtschaftskrise gezwungen gemeinsam vorzugehen undandieStelle derWeimarer Demokratie ein autoritäres Regime zu setzen, ummit neuen politischen Rahmen- auchdiewirtschaftlichen Reproduktionsbedingungen zuverbessern. Nach 1933 kames zwarerneut zuInteressenkonflikten, allerdings waren diese niesotiefgreifend, dass sichdaraus einautonomer Spielraum fürdasnationalsozialistische Regime hätte entwickeln können, schon garnicht einPrimat der Politik gegenüber derÖkonomie. Mit demVierjahresplan 1936 kames lediglich zueinem Führungswechsel imOligopol mitdemZiel, die nationalsozialistische Aufrüstung aufautarker Grundlage zubeschleunigen. Allerdings konstatieren einige DDR-Historiker, dass es unterhalb der beiden großen staatsmonopolistische Gruppierungen“gab, die sich teilMonopolgruppen „ weise zuBündnissen zusammenschlossen, umihre speziellen Interessen innerhalb der Wirtschaft unddes Staatsapparates, der nationalsozialistischen Partei unddes Militärs durchzusetzen.¦354¿ Als wichtigstes Beispiel wird der IG-Farben-Konzern genannt, aufdenderspätere Vierjahresplan zugeschnittenwurde undderaufdasEngste –auchpersonell –mitdemnationalsozialistischen Staat verbunden war. Dergrundlegende Konsens innerhalb desMonopolkapitals wurde aber nie ernsthaft in Frage gestellt. Es waren durchweg diegroßen Monopole, diedenstaatsmonopolistischen Regierungsapparat beherrschten, die Ziele der Rüstungspolitik undder imperialistischen Expansionspolitik bestimmten. Ganz so eindeutig sind die Dinge aber auch fürmarxistische Analytiker nicht. Zumeinen wirddieFrage aufgeworfen, inwieweit die„Produktion auf Bestellung für denStaat“unter derHerrschaft derMonopole eine qualitativ neue Erscheinung innerhalb derkapitalistischen Produktionsverhältnisse daraußerökonomischen Zwang“ stellte, obsienicht alsnotwendiges Korrelat den„ gewaltsame Eingriffe bedurfte. Politische Unterdrückungsmaßnahmen seien „ indieobjektive ökonomische Gesetzmäßigkeit vonAngebot undNachfrage, Eingriffe in das Wertgesetz“.¦355¿ Zumweiteren wird unterschwellig konstatiert, dass dernationalsozialistische Herrschaftsapparat eben doch einen erheblichen Spielraum hatte. Teilweise klingen bonapartistische Überlegungen an, wenn festgestellt wird, dass sich die großen Monopolgruppen in ihrem Einfluss aufdenStaat gegenseitig blockiert undsoFreiräume fürdasRegime geschaffen hätten.¦356¿ Insgesamt muss dieser Art marxistischer Geschichts354
355
Zumpe, Lotte, Wirtschaft und Staat in Deutschland 1933 bis 1945, Berlin-Ost 1980; Eichholtz, Dietrich/Gossweiler, Kurt, Nocheinmal: Politik undWirtschaft 1933–1945, in: DasArgument 47 (1968), S. 210 ff. Sohn-Rethel, Alfred, Ökonomie undKlassenstruktur desdeutschen Faschismus, Frank-
furt a. M. 1973, S. 201. 356 Thalheimer, August, ÜberdenFaschismus, S. 39 ff.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
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schreibung aber ein wissenschaftlicher Charakter abgesprochen werden. Es wird auf dogmatisch-voluntaristische Weise bestätigt, was zuvor behauptet worden ist. Ein Ansatz, derbürgerliche Demokratie undfaschistische Diktaturmonokausal deridentischen staatsmonopolkapitalistischen Gesellschaftsformation zuordnet, kann nicht die theoretische Grundlage differenzierter Geschichtsschreibung sein. So wienichtmarxistische Historiker ab den70er Jahren denNationalsozialismus kaum noch auf der Grundlage der Totalitarismustheorie interpretierten, die alle staatlichen und wirtschaftlichen, letztlich gesellschaftlichen Institutionen im Sinne eines einseitigen ‚Primats der Politik‘den Interessen der nationalsozialistischen Machthaber unterordnete, so wurde auf marxistischer Seite kaumnoch dieeinfache Instrumentalthese vertreten. Unter Rückgriff aufAnalysen, diebereits inden30/40er Jahren entstanden, wirdz.B. die tendienzielle Herausbildung eines ‚Primats derPolitik‘imLaufe der30erJahre in der Perspektive einer „ursprünglichen Akkumulation“rekonstruiert.¦357¿ Danach wuchs die Autonomie derpolitischen Sphäre in demMaße, wieder Kapitalismus auf das Niveau seines Ursprungs zurückgeführt wurde. In der Phase der ursprünglichen Akkumulation wurden die feudalen Produktionsverhältnisse durch offene Gewalt gesprengt unddie Vorbedingungen fürdie kapitalistischen geschaffen. Indem dieser Begriff aufeine Phase desentwikkelten Kapitalismus angewandt wird, soll zumAusdruck gebracht werden, dass die Reproduktion derkapitalistischen Wirtschaft nicht mehr imRahmen der bürgerlich-pluralistischen Gesellschaft möglich war, sondern nur noch durch offenen Terror nach innen undaußen gewährleistet werden konnte.¦358¿ Immer wieder wird dabei das Jahr 1936 erwähnt, in demdie Weltwirtschaftskrise endgültig überwunden und die erste Aufrüstungsphase abgeschlossen war. Außen- undbinnenwirtschaftlich reichte das ökonomische Potential nicht aus, umdenzivilen undmilitärischen Bedarf gleichzeitig zu decken. Institutionell fanddies seinen Ausdruck inderSchaffung derVierjahresplan-Organisation, die sehr bald die traditionelle Wirtschaftsverwaltung zumindest partiell entmachtete.¦359¿ FürT. Mason ist die seiner Meinung nach ab 1936 einsetzende Auflösungstendenz der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates „ einmalig inderganzen Geschichte derbürgerlichen Gesellschaft seit der industriellen Revolution“.¦360¿ Seiner Meinung nach machte sich die nationalsozialistische Staatsführung in derzweiten Hälfte der 30er Jahre zu-
The Structure andPractice of National Socialism 1933– 1944, NewYork 1966. 358 Horkheimer, Max/ Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons: Wirtschaft, Recht undStaat imNa1942, Frankfurt a. M. tionalsozialismus. Analyse desInstituts fürSozialforschung 1939– 1981. 359 Sohn-Rethel, Alfred, Ökonomie, S. 175 ff. 360 Mason, Timothy, Der Primat der Politik –Politik undWirtschaft im Nationalsozialis-
357
Neumann, Franz, Behemoth.
mus, in: DasArgument 47 (1968), S. 139 ff.;
204
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
nehmend unabhängig
vonderökonomisch herrschenden Klasse undverfolgte
eine Politik, die deren Interessen in wesentlichen Punkten zuwiderlief. Wie
die orthodox-marxistische Geschichtsschreibung interpretiert Mason die nationalsozialistische Machtergreifung als bewusste Inszenierung vor allem schwerindustrieller Kreise, die angesichts der wirtschaftliche Probleme und eines politischen Systems, dasnicht mehreinseitig ihre Interessen vertrat, um ihre herrschende Position fürchteten. Trotz unterschiedlicher Fraktionen konnte das Großkapital bis 1936 die soziale, ökonomische undpolitische Entwicklung bestimmen. Mit der Verkündung des Vierjahresplans wurde dann die Schwerindustrie als die bis dahin maßgebliche Gruppe endgültig vonder chemischen Industrie abgelöst. Der Wettbewerb umdie knappen Ressourcen wurde schärfer; er verlagerte sich vonder marktlichen in die bürokratische Sphäre. Dies führte zueiner weiteren Zersplitterung derwirtschaftspolitischen Macht derIndustrie. Daskollektive Interesse derkapitalistischen Klasse löste sich inverschiedene Firmenegoismen auf. ZumInterpreten desgemeinsamen Interesses derWirtschaft wurde derStaat, dersich dadurch verselbständigen konnte. ImGegensatz zurorthodox-marxistischen Interpretation geht Mason davon aus, dass demstaatsmonopolistischen Kapitalismus während des Nationalsozialismus eine Garantie derSelbsterhaltung nicht mehrinnewohnte, sondernangesichts derIrrationalität desnationalsozialistischen Regimes dieGefahr derSelbstzerstörung bestand. DerImperialismus inden30er Jahren und während desZweiten Weltkrieges hatte seiner Meinung nachnichts mehrmit ökonomischer Zweckrationalität zutun; dasRegime waraußer Kontrolle geraten. Angesichts innenpolitischer Legitimitationsprobleme trat es 1939 die „ Flucht nach vorn“an–ohne langfristige wirtschaftliche undpolitische Perspektive. Dieser WegindieZerstörung wurde durch einkapitalistisches Wirtschaftssystem verstärkt, demmitdernationalsozialistischen Terrorherrschaft dermoderne bürgerliche Staat alsdaseigentliche Korrektiv abhanden gekomdienihimenwar,dessen fundamentale Aufgaben nachMason darin besteht, „ listischen Tendenzen privatwirtschaftlicher Kapitalakkumulation undtechnologischer Steuerung einzudämmen“.¦361¿ Der nationalsozialistische Staat war jedenfalls nicht inderLage, denkurzfristigen Profitinteressen, die ohne Rücksicht auf die Sicherung des Gesamtsystems nurnoch aggressiv ihre spezifischen Vorteile suchten, entgegenzuwirken unddie gesamtgesellschaftlichen Im Gegenteil: derperspektivlosen, Reproduktionsbedingungen zu sichern: „ also barbarischen Naturwüchsigkeit der auf diese Weise freigesetzten wirtschaftlichen Entwicklung entsprach die so kurzfristig angelegte Dynamik der nationalsozialistischen Agression“.¦362¿ 361 Mason, Timothy, Innere Krise undAngriffskrieg 1938/39, in: Forstmeier, Friedrich/Volkmannn, Hans-Erich (Hg.), Wirtschaft undRüstung amVorabend desZweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975, S. 188. 362 Ebenda.
6. Kapitel:
Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
205
Während nicht-marxistische Historiker aufderGrundlage eines konflikttheoretisch orientierten Pluralismuskonzepts dieZusammenhänge vonPolitik undWirtschaft dahingehend bestimmen, dass sie in denAuseinandersetzungenderverschiedenen politischen undwirtschaftlichen Fraktionen umMacht undEinfluss einen mehr oder weniger chaotischen Kampf aller gegen alle sehen, bringen marxistische ihn im Rahmen ihres politökonomischen Ansatzesimmer wieder inZusammenhang mitdenReproduktionsbedingungen des kapitalistischen Systems. Eine Annäherung scheint allerdings möglich, sogar zuderanfangs erwähnten Auffassung, die den‚Primat derÖkonomie‘nicht aufgeben will. DieThese vonderpolykratischen Struktur desnationalsozialistaatsmonopolistischen stischen Regimes undderWirtschaft unddievonden ‚ Gruppierungen‘liegen –wennmandentheoretisch-methodischen Ausgangspunkt vernachlässigt –gar nicht soweit auseinander. Andieser Stelle muss auch aus marxistischer Perspektive die Frage gestellt werden, was nach 1933 überhaupt noch als ‚Staat‘bezeichnet werden kann. Inwieweit standen diedurch die Nationalsozialisten okkupierten politischen undadministrativen Institutionen noch in der Tradition des bis dahin gültigen Staatsverständnisses? Repräsentierte die NSDAP undihre Organisationen denStaat? Gehörte z.B. die Lenkungsverwaltung des Vierjahresplans, die sowohl vom ‚Regime‘ als auch von der ‚Wirtschaft‘ beherrscht wurde, noch zur traditionellen Hoheitssphäre? Schon in den 30/40er Jahren hatten kritische Beobachter wie Franz Neumann oder Friedrich Pollock die Auffassung vertreten, dass derFaschismus denbürgerlichen Staat zerstöre unddie nationalsozialistischen Machthaber ihneben nicht mehr repräsentierten.¦363¿ So wie in denvorangegangenen Abschnitten keine kritische Analyse der marxistischen Theorie geleistet werden konnte, so kannandieser Stelle keine Auseinandersetzung mitdenempirischen Untersuchungen aufderBasis dieses Ansatzes erfolgen. Ein generelles Urteil soll dennoch abgegeben werden; es fällt zwiespältig aus. Einerseits haben marxistische Historiker durchaus interessante undfruchtbare Untersuchungen über das Verhältnis vonStaat und Wirtschaft imNationalsozialismus vorgelegt, dieauchdienicht-marxistische Forschung angeregt haben. Andererseits dogmatisieren sie ihre generellen Thesen zumVerhältnis vonFaschismus undKapitalismus. Der marxistische Ansatz besitzt nicht denCharakter einer offenen Theorie, ausderwiderlegbare Hypothesen abgeleitet werden können. Insofern kann er nicht für sich in Anspruch nehmen, eine Theorie im modernen Sinne zu sein –im ‚bürgerlichen‘würden Marxisten sagen undeinen solchen Anspruch als irrelevant ablehnen.
363
Neumann, Franz, Structure; Pollock, Friedrich, Stadien desKapitalismus, München 1975.
206
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
6.3. Neue Politische Ökonomie –Einführung derEisenzölle im Deutschen Zollverein 1844
AufdieArt undWeise, wiedieNeuePolitische Ökonomie politische Willensbildungs- undEntscheidungsprozesse mitHilfe desneoklassischen Instrumentariums analysiert, wurde bereits eingegangen (siehe Abschnitt I.2.3.b). DanachwirddieEinführung eines Schutzzolls alsErgebnis derAuseinandersetzungen zwischen derNachfrage- undAngebotsseite aufdempolitischen Markt fürProtektionismus oderFreihandel betrachtet. ImRahmen derModellierung der Nachfrageseite müssen die beiden folgenden Fragen beantwortet werGewinner“bzw.„ den:¦364¿ Wersind die „ Verlierer“bei derEinführung eines Schutzzolls? Welche dieser Gruppen kannsich sowirksam organisieren, dass sie ihre Interessen durchsetzt? Dabei verläuft die außenhandelspolitische Trennlinie zumeinen zwischen denKonsumenten, diealsFolge zollbedingter Preiserhöhungen Einkommensverluste erleiden, undden Produzenten, die dadurch höhere Gewinne erzielen. In diesem Fall sind die Verlierer undGewinner vonZollerhöhungen relativ schnell auszumachen. Zumanderen verläuft die Trennlinie auf derProduzentenseite zwischen Exporteuren undImporteuren. Umletzteren Konflikt soll es zunächst gehen. Inkurzfristiger Perspektive wirdangenommen, dass nurderProduktionsfaktor Arbeit vollständig mobil ist und ohne Transaktionskosten sowohl im Ex- alsauchimImportsektor eingesetzt werden kann. Dieanderen Faktoren – Kapital undtechnischer Fortschritt –sinddagegen anihren jeweiligen Sektor gebunden, ihr Austausch zwischen denSektoren also mitKosten verbunden. Dies sind die Annahmen dessogenannten Ricardo-Viner-Modells¦365¿. In langfristiger Perspektive wird dagegen die vollständige Mobilität aller Produktionsfaktoren angenommen –das Heckscher-Ohlin-Modell. Ausbeiden Modellen resultieren unterschiedliche Konsequenzen für die Formulierung der Produzenteninteressen. Im Ricardo-Viner-Modell profitiert zunächst einmal derFaktor vomProtektionismus, dessen Einsatz andenImportsektor gebundenist, also das„Kapital“bzw.dieUnternehmer inderImportwirtschaft. Im Exportsektor werden sie dagegen Verluste erleiden, weil einTeil der Kaufkraft im Binnenland für ihre Güter nicht mehr zurVerfügung steht und/oder ausländische Staaten mitderEinführung oderErhöhung vonZöllen reagieren. Während also die sektorgebundenen Faktoren die sektorabhängigen InteressenderExport- oder derImportwirtschaft verfolgen, vertritt dermobile Faktorseine eigenen Interessen. Daallerdings Produktionsfaktoren inderRealität keineswegs völlig mobil sind, verläuft die Interessenlinie bei der Entschei364 Zum folgenden siehe Steinich, Markus, Das Infant-Industry Argument: Mythos oder Realität? Eine ökonomische undpolitisch-ökonomische Untersuchung amBeispiel des Deutschen Zollvereins undTaiwans, Diplomarbeit Konstanz 1993. 365 Vgl. Weck-Hannemann, Hannelore, Politische Ökonomie desProtektionismus. Eine institutionelle undempirische Analyse, Frankfurt a. M. 1992.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
207
dung überSchutzzölle zumindest kurzfristig zwischen demExport- unddem Importsektor.¦366¿
Unter denAnnahmen des Heckscher-Ohlin-Modells kommt es dagegen . EinLandverfügt über und„Kapital“ Arbeit“ zueiner Konfliktlinie zwischen „
komparative Kostenvorteile bei der Produktion von Gütern, die den relativ reichlich vorhandenen Faktor intensiv nutzt (Heckscher-Ohlin-Theorem). Folglich profitiert derin derWirtschaft relativ knapp vorhandene Faktor von derProtektion desSektors, indemerrelativ intensiv eingesetzt wird, während demrelativ reichlich vorhandenen Faktor Nachteile erwachsen (Stolper-Samuelson-Theorem). Ist z.B. einLandrelativ reichlich mitArbeit ausgestattet undexportiert gemäß demHeckscher-Ohlin-Theorem Güter, die relativ arbeitsintensiv produziert werden, wird der Faktor Arbeit für Freihandel, der relativ knappe Faktor Kapital, derrelativ intensiv imImportsektor eingesetzt wird, fürProtektion sein. DieInteressen desFaktors Arbeit sindalso identisch mitdenen derExportwirtschaft, diedesFaktors Kapital mitdenen derImportwirtschaft. Da hierbei von langfristigen Kostenvorteilen durch einen relativ reichlich vorhandenen Faktor ausgegangen wird, scheint aufdenersten Blick dasHeckscher-Ohlin-Modell zumindest inlangfristiger Perspektive plausibel zuargumentieren. DemkannaberFolgendes entgegen gehalten werden: Durch denSchutz gegen ausländische Konkurrenz können sich die Produktionsfaktoren imImportsektor Renten aneignen –die Unternehmer höhere Gewinne, die Arbeitnehmer höhere Löhne. Sowohl Kapital als auch Arbeit in denbetreffenden Wirtschaftszweigen werden daher Eintrittsschranken gegen neue Anbieter aufzubauen versuchen, wasdie Faktormobilität einschränken könnte. Das hinsichtlich der Arbeitsmobilität modifizierte Ricardo-Viner-Modell scheint daher eher geeignet zu sein, die Interessenkonstellation zuerfassen. Die in der Importwirtschaft tätigen Faktoren werden also umProtektion bemühtsein, während dieinderExportwirtschaft tätigen dagegen votieren werden.¦367¿
Wie steht es nunumdie Organisierbarkeit der außenhandelspolitischen Interessen? Sowohl Freihandel als auch Protektion stellen ein ‚öffentliches Gut‘dar.¦368¿ Selbst derjenige, dereinen hohen Nutzen ausderjeweils gewählten Option zieht, braucht sich andenLobbykosten nicht zubeteiligen, daer als „Trittbrettfahrer“injedem Fall profitieren wird. Es wird daher schwierig sein, dienotwendige Unterstützung füreine effektive Durchsetzung derangestrebten Handelspolitik zuerreichen. Wie dargelegt, stehen sich bei derEin366 Steinich, Markus, Infant-Industry, S. 35 ff. 367 Vgl. auch Frey, Bruno S., Internationale Politische Ökonomie, München 1985; Broll, Udo/Gilroy, Bernhard M., Außenwirtschaftstheorie. Einführung undNeuere Ansätze, München/ Wien 1989; Hillman, Ayre L., Political Economy of Protection, Chur u.a. 1989; Gutowski, Armin (Hg.), Derneue Protektionismus, Hamburg 1984. 368 Frey, Bruno S., Internationale Politische Ökonomie, S. 23 ff.; Weck-Hannemann, Hannelore, Politische Ökonomie,
S. 58 f.
208
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
führung vonZöllen dieInteressengruppen derKonsumenten undProduzenten undderExporteure undImporteure gegenüber. Besonders schwer werden es dieKonsumenten haben, ihre Interessen zuorganisieren: DerVerlust derKonsumentenrente durch Zölle wird über eine große Zahl vonVerbrauchern gestreut unddie durch Zölle bedingte Erhöhung der Verbraucherpreise ist oftmals kaumspürbar. Aufgrund derGröße dieser Interessengruppe werden die bei derLobbyarbeit anfallenden Partizipations- undInformationskosten den Nutzengewinn übersteigen. Dasich die Ausgaben der Verbraucher auf eine Vielzahl vonGütern verteilen, istesfürdeneinzelnen Konsumenten durchaus rational, seine politische Aufmerksamkeit nicht auf die Verhinderung von Zöllen füreinzelne Güter zulenken, sondern aufdieStabilisierung oderErhöhungseines Einkommens. DieProduzenten werden dagegen leichter zuorganisieren sein: Importbeschränkungen drücken sich meist in deutlich höheren Gewinnen aus. Die Gruppe der Produzenten ist vergleichsweise klein und überschaubar, so dass das Problem desTrittbrettfahrens u.a. durch gruppen-
spezifischen Druck geringer ausfällt. Entscheidend bei der Auseinandersetzung umSchutzzölle wird es somit sein, obsich dieInteressen derExportwirtschaft oderdiederImportwirtschaft durchsetzen. DieVoraussetzungen füreine –durch geringe Organisationskosten bedingte –effektive Organisation auf der Produzentenseite werden in solchen Wirtschaftsbereichen besonders günstig sein, in denen (a) sich die Produktion auf wenige Anbieter konzentriert, (b) die Produktion regional begrenzt ist (niedrige Kommunikations-, Koordinierungs- undKontrollkosten) und (c) bereits Interessengruppen bestehen. Außerdem spielt (d) die volkswirtschaftliche Bedeutung, ausgedrückt in der Zahl der Beschäftigten, und damit das Wählerpotential, das die Branche repräsentiert, eine Rolle. Man wirddavon ausgehen können, dassjunge Industrien nochnicht übereine institutionalisierte Interessenvertretung verfügen, sodass zunächst erhebliche Organisationskosten auftreten, die –aufdashistorische Beispiel bezogen –den etablierten (landwirtschaftlichen) Exportinteressen nicht mehrentstehen. Dieser Nachteil könnte allerdings durch denzuerwartenden überproportionalen Nutzenzuwachs in FormderProduzentenrente ausgeglichen werden. Grundsätzlich dürfte die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Organisation von Interessen umso größer sein, je höher die erwarteten Einkommenseinbußen ohne Protektion sind. Daraus ergibt sich eine Konjunkturabhängigkeit der Interessenorganisation: Während einer rezessiven Phase mitrelativ hohen Einfuhren werden sich diediesbezüglichen Chancen imImportsektor verbessern. ImÜbrigen dürften dieExportinteressen ebenfalls nicht leicht zumobilisieren sein. DerNutzenverlust derExporteure bei derEinführung eines Importzolls resultiert vornehmlich ausdenGegenmaßnahmen desAuslandes. Derinfolge der Importbeschränkungen erlittene Schaden stellt sich insofern nurindirekt alsentgangene Exportchancen dar. Allerdings können sich die Kosten fürden (landwirtschaftlichen) Exportsektor erhöhen, wenndieLöhne oder dieZinsen
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
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als Folge derverstärkten Nachfrage desImportsektors nach Arbeit undKapital steigen. Bisher ging es umdie Nachfrage auf dempolitischen Markt für Protektion; jetzt soll dasAngebot behandelt werden.¦369¿ Entsprechend derNeuen Politischen Ökonomie wirdes vornehmlich vonParlamenten undVerwaltungen bereit gestellt. Wiederum sind zwei zentrale Fragen zubeantworten: Warum haben Interessengruppen Einfluss auf denEntscheidungsprozess der Angebotsseite? Welche Interessen verfolgen Politiker undBürokraten? Sobald die extrem unrealistischen Bedingungen einer vollkommenen, direkten Demokratie aufgegeben werden undvonpolitischen Systemen ausgegangen wird, die durch repräsentativ-demokratische oderautoritäre Merkmale gekennzeichnet sind, wirdeine politische Lobby zurDurchsetzung vonInteressen unentbehrlich.¦370¿Inderrepräsentativen Demokratie wirdbeiWahlen überMaßnahmenbündel entschieden, indenen dieAußenwirtschaftspolitik fürgewöhnlich eine untergeordnete Rolle spielt. Außerdem verfügen diepolitischen Anbieter von Protektionismus undFreihandel zwischen denWahlen über erhebliche diskretionäre Entscheidungsspielräume. Interessengruppen können sich daher darauf konzentrieren, unmittelbar Einfluss aufParlamente undVerwaltungen zunehmen. Die Basis hierfür bildet ihrInformationsvorsprung über die Auswirkungen von Protektionismus undFreihandel. Zudem besitzen sie Marktmacht, diesie gegen Politiker undRegierungen einsetzen können. Parteispenden,Bestechungsgelder odersonstige Vergünstigungen gehören ebenfalls zum Repertoire der Einflussnahme. Aussagen darüber, inwieweit sich in dieser Hinsicht eher demokratische undeher autoritäre Politiksysteme unterscheiden, lassen sich ausdemModell derNeuen Politischen Ökonomie nurschwer ableiten. BeiderBeantwortung derzweiten Frage tutsichdieNeuePolitische Ökonomie schwer. Einerseits werden Regierungen undVerwaltungen als Anbieter vonProtektionismus nurals willenlose Ausführungsorgane derNachfrager interpretiert. Ein Zoll wird eingeführt, sobald sich die Importinteressen erfolgreich formiert haben undDruck ausüben. Andererseits wird auch das Eigeninteresse derpolitischen Vertretungsorgane undderVerwaltungen gesehen. Wie im Abschnitt I.2.4 dargelegt, werden Verwaltungen nicht mehr nurals ausführende Institutionen betrachtet, sondern als Gruppe von Individuen, die ihren Nutzen –Einkommen, Macht oder Prestige –maximieren wollen. Sie können „ Renten“sowohl imZusammenhang mitZolleinnahmen erzielen als auchals Differenzbetrag zwischen denZuwendungen derProtekBetionslobby –in welcher Form auch immer –unddenAufwendungen zur„ friedigung“der Freihandelsopposition.¦371¿ Wenn die Regierung zudem unter
369 Weck-Hannemann, Hannelore, Politische Ökonomie, S. 64 ff.; Bernholz, Peter/Breyer, Friedrich, Grundlagen derPolitischen Ökonomie, Tübingen 1984, Bd. 2, S. 439 ff. 370 Vgl. Olson, Mancur, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter unddie TheoriederGruppen, Tübingen 1968
371 Rowley, Charles, Rent-Seeking, S. 217 ff.
210
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
Legitimationszwang steht, ihre Existenz voneiner günstigen Wirtschaftsentwicklung abhängt unddiese durch Zollschutz gewährleistet werden kann, wäre es rational, wennsie eine entsprechende Außenhandelspolitik betreiben würde.¦372¿
Diese theoretischen Vorüberlegungen sollen nunaufdashistorische Beispiel angewandt werden.¦373¿ Mit derGründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1834 übernahmen die Mitgliedsstaaten das preußische Zollgesetz von 1818. Diedarin enthaltenen Zölle stellten einnachErzeugnissen undProduktionsstufen differenziertes System dar. Rohstoffe –z.B. Erze undRoheisen – undzumTeil auch Halbwaren konnten in derRegel zollfrei eingeführt werden. Die Zölle auf normale Fertigwaren sollten 10% des Warenwertes nicht überschreiten, während die auf Luxus- undKolonialwaren aus fiskalischen Gründen 30% undmehrbetragen konnten. ImVergleich mitanderen europäischen Staaten wardaspreußische Zollgesetz durchaus liberal angelegt. Eine seiner wesentlichen Intentionen wares, denAgrarexport zusichern undden Import vonbesseren undbilligeren Gewerbeprodukten zuermöglichen.¦374¿ Da dasGesetz aber aufGewichtszöllen beruhte –dieEinfuhr vonStabeisen wurde z.B. mit3,00 Mark proZentner belegt –stieg die wertmäßige Belastung proMengeneinheit imLaufe derZeit an,daangesichts derenormen Produktivitätsfortschritte die Preise derImportgüter imLaufe derZeit erheblich sanken. Auseiner wertmäßigen Belastung vonunter 10%konnte einVierteljahrhundert später eine vonüber50% geworden sein. Aufdiese Weise wurden für einige Fertigwaren dieZollsätze fast prohibitiv. Die Außenhandelsstruktur desDeutschen Zollvereins drückte Anfang der 1840er Jahre sowohl das frühindustrielle Entwicklungsniveau derdeutschen Staaten als auch die Folgen dieses Zollsystems aus: Die Handelsbilanz für Fertigwaren war positiv, weil die Zollvereinsländer mit ihrer traditionellen Fertigungsweise unddemZollschutz international durchaus nochkonkurrenzfähig waren. Die Handelsbilanz für Roh- undHalbwaren wardagegen negativ, weil sich hier die industrielle Überlegenheit Englands besonders deutlich zeigte undkein Zollschutz bestand.¦375¿ Wie andere Gewerbezweige unterlag auch dieEisenproduktion indiesen Jahren einem dramatischen technischen Wandel.¦376¿ Umdie englische Konkurrenz einholen zukönnen, musste sie vonderHolz- aufdieSteinkohlefeuerung, vonderHolzkohlefrischerei aufdasPuddelverfahren undvonderHam-
372 Cohen, Benjamin, ThePolitical Economy of International Trade, in: International Organisation 44 (1990), S. 261 ff. 373 Vgl. Dumke, Rolf H., Deutsche, S. 71 ff.; Hahn, Hans-Werner, Geschichte; Steinich, Marcus, Infanf-Industry, S. 48 ff. 374 Ohnishi, Takeo, Zolltarifpolitik Preußens, S. 117 ff. 375 Dumke, Rolf H., Die wirtschaftlichen Folgen, S. 242 ff. 376 Steinich, Marcus, Infanf-Industry, 50 ff.; Henning, Friedrich-Wilhelm, Handbuch, S. 386 ff.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung des Staates
mer- aufdieWalztechnik umgestellt
werden.¦377¿ Diegeringe Produktivität
211
der
deutschen im Vergleich zurenglischen Eisenproduktion drückte sich u.a. in den Produktionskosten aus: Die deutschen Selbstkosten für einen Zentner Holzkohleroheisen lagen inden 1840er Jahren zwischen 7,10 und4,00 Mark, während dasenglische Roheisen fürca. 2,20 Mark produziert wurde undzuzüglich derTransportkosten für3,40 Mark aufdemdeutschen Mark angebotenwurde. Beim Stabeisen waren die Preisunterschiede nicht ganz so groß. Als Folge des Eisenbahnbaus herrschte grundsätzlich eine günstige Absatzsituation für die Eisenindustrie im Zollverein. Allerdings konnte die inländische Produktion mit der wachsenden Nachfrage nicht Schritt halten. Gleichzeitig drängte dieenglische Eisenindustrie verstärkt aufdendeutschen Markt. Derzollfreie Import vonRoheisen führte zueinem rasch zunehmendenAnteil amGesamtverbrauch von 12% imJahre 1840 auf 42% imJahre 1843; volumenmäßig nahmen die Importe indieser kurzen Zeit ummehr als dasVierfache zu.DerZollschutz fürStabeisen warebenfalls ungenügend; der Importanteil aminländischen Verbrauch nahmimgleichen Zeitraum von21% auf34%zu,waseine Verdoppelung desEinfuhrvolumens bedeutete. Sowohl beim Roh- als auch beim Stabeisen wies der Zollverein eine negative Handelsbilanz auf. Besonders verheerend wirkte sich die überlegene englische, aber auch belgische Konkurrenz auf die noch mitder traditionellen Technik arbeitenden Betriebe in densüddeutschen Ländern aus, während derschlesische Bergamtsbezirk unddasRhein-Ruhr-Gebiet inPreußen die Modernisierung vorantrieben undmitderneuen Situation besser zurecht kamen. Die deutsche Eisenindustrie war der englischen zu dieser Zeit deshalb unterlegen, weil sie nicht überderen moderne Techniken verfügte.¦378¿ DieProduktionsfaktoren Arbeit, Kapital undnatürliche Ressourcen waren in ausreichendem Maße vorhanden. England hatte allerdings komparative Kostenvorteile beiKapital undKohle, einige derdeutschen Staaten dagegen beiArbeitskräften undzwar inquantitativer undqualitativer Hinsicht. Nachfrageseite des politischen Marktes für Protektionismus:¦379¿ Die Intensität, mit der die Schutzzolldebatte zu Beginn der 1840er Jahre geführt wurde, lässt sich nurimHinblick aufdie Situation desdeutschen Bürgertums imVormärz erklären. Dadiestaatliche Repression dieBildung vonVereinen undParteien erschwerte oder sogar verhinderte, übernahm derinderÖffentlichkeit ausgetragene Streit umSchutzzoll oder Freihandel eine Ersatzfunktion für politische Auseinandersetzungen: Die Schutzzolldebatte schloss die
377 Sering, Max, Geschichte. 378 Fremdling, Rainer, Technologischer Wandel undinternationaler 379
Handel im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1986. Best, Heinrich, Interessenpolitik undnationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustrialisierten Deutschland, Göttingen 1980; Hentschel, Volker, Die deutschen Freihändler undder volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975; Schulz, Gerhard, Über Entstehung undFormen, S. 25 ff.
212
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
Probleme der Parlamentarisierung, der nationalen Einheit undder sozialen Frage mit ein. Die Schutzzöller umFriedrich List verbanden ihr Programm mitderForderung nach Parlamentarisierung, mitderPerspektive eines wirtschaftlich unabhängigen, starken Nationalstaates undder Aussicht auf eine beschleunigte, diesozialen Probleme desPauperismus mildernde Industrialisierung.¦380¿ Die Freihändler umJohn Prince-Smith argumentierten dagegen, dass der„absolute Machtstaat“überflüssig werde, wenneinfreier Welthandel geschaffen würde, dass ein Schutzzollsystem eine Arbeiterklasse entstehen lassen würde, die nicht mehr in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse integrierbar wäre. Obwohl beide Seiten denAnspruch erhoben, gesamtgesellschaftliche undkeine partikularen Anliegen zuverfolgen, ging es letztlich doch umwirtschaftliche undpolitische Sonderinteressen. List wurde faktisch zumLobbyisten besonders dessüddeutschen Wirtschaftsbürgertums, was sich u.a. infinanziellen Zuwendungen rheinischer undsüddeutscher IndustriZollvereinsblatt“zumoffieller sowie in derTatsache ausdrückte, dass sein „ Württembergischen Fabrikantenvereins“wurde. Princeziellen Organ des „ Smith vertrat dagegen dieInteressen derKaufleute undReeder derdeutschen Küstenstaaten undderexportorientierten Großagrarier Nordostdeutschlands. Durch dieVerbindung mitaktuellen politischen undsozialen Fragen mobilisierte derStreit umSchutzzoll oder Freihandel eine relativ breite Öffentlichkeit. Dadurch wurde dieerstmalige Gründung vonInteressenorganisationenerleichtert. 1841 entstand die „Konferenz derzollvereinsländischen Rü, der„Verein derBaumwollfabrikanten desZollverbenzuckerindustriellen“ undschließlich 1843 der„Generalverein derEisenindustriellen“ . Neben eins“ diesen Branchenverbänden wurden auch regionale Fabrikantenvereine ins Leben gerufen –z.B. 1841inWürttemberg undBaden, 1843 inHessen-Naus, die sich 1843 zumzollvereinsweiten „Allgemeinen Deutschen Indusau – strieverein“zusammenschlossen. Die Organisationsentwicklung, besonders im Hinblick auf die Eisenindustrie, wardurch folgende Merkmale gekennzeichnet:¦381¿ (1) Die ersten Versuche, interessenpolitische Vereinigungen zu bilden, wurden inIndustriezweigen unternommen, diedurch eine geringe Zahl großer undkapitalintensiver Betriebe gekennzeichnet waren. (2) Erst nachder Gründung regionaler Fabrikantenvereine wurde eine zollvereinsweite Vertretung initiiert. (3) Die Organisationsintensität warinsolchen Industriezweigen besonders hoch, in denen die neuen Verbände aus denbereits bestehenden Handelskammern hervorgingen. (4) Die wirtschaftliche Situation spielte insofern eine Rolle, als die ersten Interessenvertretungen in densüddeutschen Staaten entstanden, diebesonders unter derenglischen Konkurrenz litten. Die
380 List, Friedrich, Das nationale System der politischen Ökonomie (1841), Basel 1959; Henderson, William O., Friedrich List. Eine historische Biographie des Gründers des Deutschen Zollvereins unddes ersten Visionärs eines vereinten Europas, Düsseldorf 1984.
381 Steinich, Markus,
Infant-Industry,
S. 92 ff.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
213
freihändlerische Bewegung konstituierte sich dagegen erst mit dem Aufab 1845. (5) Regionale Interessenunterschiede ließen sichoffensichtlich nurin einer schwierigen wirtschaftlichen Lage überbrücken, unter der alle litten. Der„Gesamtverein derEisenindustriellen“löste sich als Folge regionaler Partikularinteressen unmittelbar nach Erreichen der Zollerhöhung unter günstigeren konjunkturellen Bedingungen wieder auf. (6) Sektorale Interessenkonflikte konnten konsensual bewältigt werden. Da eine Erhöhung derRoheisenzölle die Konkurrenzfähigkeit derweiterverarbeitenden Stabeisenindustrie beeinträchtigt hätte, wurde von den Roheisenproduzenten die Forderung nach stärkerem Zollschutz fürStabeisen mitgetragen. Während es also den Schutzzöllnern gelang, sich vor 1844 wirksam zu organisieren, wardies beidenFreihändlern nicht derFall. Dies hingneben der wirtschaftlichen Lage vondenregional unterschiedlichen Interessen despotentiellen Freihändlerklientels ab. Da die süd- undwestdeutsche Landwirtschaft binnenmarktorientiert unddaher vorallem amSchutz ihrer Absatzgebiete interessiert war, ließ sie sicheherfürschutzzöllnerische Ziele mobilisierenalsdie nord(ost)deutsche, diein großem Umfang Agrarexport betrieb und englische Gegenmaßnahmen bei Agrarprodukten als Antwort auf die deutschen Eisenzölle befürchten musste. Formale Mitwirkungsrechte anderAußenhandelspolitik hatten dieregionalen undnationalen Interessenvereinigungen nicht. Sie konnten aber über eigene Publikationen, Zeitungen, Eingaben andielegislativen undexekutiven Institutionen oder durch Entsendung vonAbordnungen auf die Zollvereinskonferenzen versuchen, Einfluss zunehmen. Dass sie damit erfolgreich waren, zeigt die Tatsache, dass zeitgleich mitder Intensivierung der verbandspolitischen Aktivitäten Schutzzölle eingeführt wurden. Angebotsseite despolitischen Marktes fürProtektion:¦382¿DerAnbieter von Zollschutz warderZollverein. Dessen Exekutivorgan bildete dieeinmal jährlich stattfindende Generalkonferenz, die sich ausdenAbgesandten derMitgliedstaaten zusammensetzte. Jeder Staat, bis auf die Enklaven unddie sehr kleinen Mitglieder, dieihre Stimme delegiert hatten, verfügte übereine Stimme.Jeder Beschluss musste einstimmig gefasst werden. Obwohl Preußen nur eine vonelf Stimmen hatte, besaß es dieVorherrschaft undkannalseigentlicher Anbieter vonzollpolitischen Entscheidungen angesehen werden. Grundsätzlich orientierte sich die preußische Regierung dabei andenBedürfnissen dereigenen Wirtschaft undan ihren machtpolitischen Interessen: Umeinen Zugang zur Nordsee zu bekommen, betrieb es denAnschluss der norddeutschen Küstenstaaten. Dadiese aber exportorientiert waren, undalle Staaten, diedemZollverein neubeitreten wollten, dasjeweils bestehende Tarifsystem übernehmen mussten, sollte deren potentielle Beitrittswilligkeit nicht durch hohe Schutzzölle unterlaufen werden. Auch fürdasVerhältnis zuÖsterreich schwung
382
Hahn, Hans-Werner, Geschichte,
S. 79 ff.
214
III. Theoretische Ansätze undempirische Sachverhalte
als Präsidialmacht imDeutschen Bundwares wichtig, freihändlerisch aufzutreten. Nurim Falle hoher Zölle wäre es demprotektionistisch orientierten Österreich ökonomisch undpolitisch möglich gewesen, demZollverein beizutreten unddamit Preußens Vormacht inFrage zustellen.¦383¿ Neben derpreußischen Regierung wardiepreußische Bürokratie über ihren Einfluss aufden preußischen Staatsrat undauf die Ausführung derZollvereinsbeschlüsse ein maßgeblicher Akteur in der Entscheidungsfindung des Zollvereins. Ihr Ziel wares, einen Ausgleich zwischen demagrarischen Osten unddemsich industrialisierenden Westen zu finden. Dazu wurde ein Mittelweg zwischen der schutzzöllnerischen undderfreihändlerischen Position verfolgt, derihrgleichzeitig denweitesten Handlungsspielraum sicherte. Außerdem übte sie wegen ihrer Effizienz eine Vorbildfunktion fürdie Verwaltungen deranderen Zollvereinsstaaten aus, wasihre Einflussmöglichkeiten noch verstärkte.¦384¿ Nacheinem ersten Versuch 1842 einigten sichdieMitglieder desZollvereins 1844 auf eine Zollerhöhung für Roh- undStabeisen, nachdem die Konkurrenz derenglischen Importe immer schärfer undfüralle spürbar geworden war. Dabei stimmte Preußen demgefundenen Kompromiss nicht mit Rücksicht aufdasgesamtwirtschaftliche Wohl desZollvereins zu,sondern umseinedrohende Spaltung zuverhindern, wasÖsterreich erneut insSpiel gebracht hätte, undumdieeigene Industrie zufördern: Dieweiterverarbeitende Eisenindustrie wurde weniger belastet als indenursprünglich geplanten Tariferhöhungen. Außerdem konnte dieRoheisenindustrie –imGegensatz zudensüddeutschen Staaten –dieenglischen Importe preislich unterbieten. Tatsächlich standen hinter denhandels- undwirtschafts- aber innenpolitische Ziele, ging es dochdarum, miteiner günstigen ökonomischen Entwicklung, diemansich vondiesem Zolltarif erwartete, dieantikonstitutionelle Politik derpreußischen Regierung zukompensieren. Insgesamt kannfestgehalten werden, dass dieWillensbildungs- undEntscheidungsprozesse bei der Einführung bzw. Erhöhung der Zölle 1844 –wie auchbeiderAbschaffung derZölle 1865 –aufderNachfrageseite dentheoretischen Anforderungen aneine Organisierung wirtschaftlicher Interessen im Großen undGanzen entsprachen. Allerdings zeigte sich, dass nicht nurgeringeGruppengröße, regionale Konzentration, dasZurückgreifen aufbereits bestehende Vereinigungen undeine schwierige konjunkturelle Lage eine wirksame Organisation begünstigte. Vielmehr verlor derProtektionismus seinen zumVorteil vonSpezialinteressen, weil er Gut“ Charakter als öffentliches „ eingelagert war in allgemeine gesellschaftspolitische Fragen. Regional und sektoral bedingte Konflikte innerhalb der verschiedenen Interessengruppen 383
Hahn, Hans-Werner, Hegemonie undIntegration. Voraussetzungen undFolgen derpreußischen Führungsrolle imDeutschen Zollverein, in: Berding, Helmut (Hg.), Wirtschaftliche undpolitische Integration in Europa im 19. und20. Jahrhundert, Göttingen 1984,
S.45–70, S. 45 ff. 384 Vgl. auch Henderson, William O., The Zollverein, London 1968.
6. Kapitel: Fallbeispiele zurEntwicklung desStaates
215
ließen sich kompensatorisch überbrücken. Trotz fehlender formaler Mitwirkungsrechte anderEntscheidungsfindung desDeutschen Zollvereins übte die Nachfrageseite des politischen Marktes für Protektionismus/ Freihandel somitEinfluss aus. Fürdie Angebotsseite machte schon derhier verfolgte grobe Zugriff deutlich, dass sie keinen monolithischen Reflektor nachfrageseitiger Interessen darstellte, sondern sich aus verschiedenen Akteuren zusammensetzte –ausderpreußischen Regierung, derpreußische Bürokratie undande, die ren Zollvereinsmitgliedern bzw. ihre Regierungen undBürokratien – durchaus spezifische Ziele verfolgten. Sie müssten entsprechend derökonomischen Theorie der Politik oder Bürokratie wiederum auf die Individualinteressen einzelner Subjekte zurückgeführt werden. Die dazu notwendige mikropolitische Analyse konnte hiernicht geleistet werden. Sie birgt imÜbrigen dieGefahr insich, dass sich eine ursprünglich theoriegeleitete Analyse inder deskriptiven Ereignisgeschichte verliert.
Ausblick: ZurAktualität undRelevanz desThemas Dashier behandelte Thema ist auch außerhalb desengen Bereichs derWirtschaftsgeschichte aktuell undrelevant. Dies gilt sowohl in wissenschaftlicher als auch inpolitischer Hinsicht. Es wäre vielleicht übertrieben voneiner Krise der Wirtschaftswissenschaften zu reden, aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb dieses Faches wirdseit einer ganzen Reihe vonJahren kritisch darüber nachgedacht, inwieweit es Sinn macht, immer abstraktere formallogische Modelle zuentwickeln, die die Wirklichkeit nicht erfassen können und die institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens weitgehend ausblenden. AuchWirtschaftswissenschaftler müssen akzeptieren, dass es keine raumzeitlosen Zusammenhänge gibt unddass neben Marktbeziehungen politisch-administrative Institutionen undkulturelle Normen, Traditionen usw. eine große Bedeutung fürdasWirtschaften haben. Die Denkanstöße, dieseit den 1960er Jahren vonder Neuen Politischen Ökonomie, der Neuen Institutionenökonomik oder der Neuen Wirtschaftsethik gegeben werden, finden zwar zunehmend Resonanz, erzielen aber längst noch keine Breitenwirkung. Eine stärkere Berücksichtigung derGeschichte könnte demFach die ansich notwendige historische Dimension wieder eröffnen undzeigen, wiesehrtheoretische Zusammenhänge in historischer Perspektive relativiert werden müssen, wiesehrsichgerade dasThema Staat undWirtschaftsordnung einem rein ökonomistischen Zugriff widersetzt. Aufderanderen Seite ist eine theoriegeleitete Wirtschaftsgeschichte für die Geschichtswissenschaften relevant. Selbst wenndie Bedeutung sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnismethoden fürdie historische Analyse seit geraumer Zeit generell anerkannt wird, beschränken sich die meisten Historiker doch weiterhin auf den historischen Zugriff. Immer noch fällt es ihnen schwer zuakzeptieren, dass es fürjedes ihrer Spezialgebiete eine systematische Nachbardisziplin gibt, diemitihren Ansätzen dieChance bietet, den historischen Stoff zustrukturieren unddie Analyse zuschärfen. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, werden immer noch zu wenig genutzt. Das gilt auch undganz besonders fürdashier behandelte Thema, sind doch–im Vergleich zurAnalyse rein wirtschaftlicher Tatbestände –die Verbindungen zurpolitischen Geschichte recht eng. Gerade Historiker sollten akzeptieren, dass kaumetwas so praktisch ist wieeine gute Theorie. MitTheorien reduziert mandie überwältigende Komplexität dergeschichtlichen Welt, struktuhistorische Theorien“nureine mittriert, rationalisiert underklärt sie, wobei „ lere Reichweite besitzen. Sie müssen aberwiealle Theorien offen undwiderlegbar sein. Die Gründe dafür, dass dieAusgestaltung vonWirtschaftsordnungen und die Rolle des Staates seit einiger Zeit über den rein akademischen Bereich
Ausblick: ZurAktualität undRelevanz desThemas
217
hinaus Interesse finden undsogar in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden, sind folgende: Zumeinen fandmitderneoliberalen Renaissance seit den70er Jahren als demzweiten wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel imvorangegangenen Jahrhundert eintiefgreifendes Umdenken statt. Diedurch denKeynesianismus geprägte interventionistische Äraging zuEnde undder Glaube andie Marktkräfte breitete sich erneut aus. Mehr Markt undweniger Staat, mehrLiberalisierung undweniger Regulierung sindseither dieParolen. Es finden ordnungspolitische Veränderungen statt, die viele noch kurze Zeit zuvor nicht für möglich gehalten haben. Die Sensibilität für denWandel des wirtschaftlichen undsozialen Systems ist auch deshalb gewachsen, weil dieserunmittelbar dasalltägliche Leben derMenschen beeinflusst. Dabei hatdas Umdenken inTheorie undPolitik einen sehr realen Hintergrund. Die verhalteneWirtschaftsentwicklung dereuropäischen Volkswirtschaften seitden70er Jahren brachten denSozial- undInterventionsstaat westeuropäischen Typs in finanzielle Schwierigkeiten; er wurde zunehmend unbezahlbar. Dieimmer weiter fortschreitende Internationalisierung derNationalökonomien –seit den 80er Jahren Globalisierung genannt –setzt die Volkswirtschaften auch institutionell einem schärferen Wettbewerb aus. Wirtschaftsordnungen stehen zur Disposition, sogar hinsichtlich ihrer Werte undNormen. Zumindest wares denEuropäern bis vorkurzem nicht bewusst, dass dasjapanische oder das singapurische Wirtschaftssystem angeblich schon deshalb wettbewerbsfähiger sein soll, weil es in asiatische Gesellschaften undWertegemeinschaften eingelagert ist. Wahrscheinlich hatnochniemals zuvor dernordamerikanische Kapitalismus so unmittelbar undpraktisch als Vorbild dereuropäischen Wirtschaftsordnungen gedient wie heute. Einerseits findet ein institutioneller Nivellierungsprozess im Sinne marktkonsequenter Liberalisierung statt, andererseits ist der institutionelle Wettbewerb intensiviert worden. Das Bewusstsein dafür, dass Wirtschafts- undSozialordnungen komplexe gesellschaftliche Gebilde sind, deren institutionelle Ausgestaltung die wirtschaftliche Entwicklung, dasBeschäftigungsniveau unddamit denöffentlichen wie privaten Wohlstand bestimmen, ist geschärft worden. Das Thema Staat und Wirtschaftsordnung ist auch deshalb aktuell, weil die europäischen Nationalstaaten im Zuge der europäischen Integration zunehmend Kompetenzen antransnationale Institutionen abtreten. Zwar unterscheiden sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Wirtschafts- undSozialordnungen noch voneinander, ausdemIntegrationsprozess resultiert aber ein erheblicher ordnungspolitischer Druck, demsich kein Land entziehen kann. EinBlick in die Geschichte könnte zumbesseren Verständnis institutioneller Integrationsprozesse beitragen. Schließlich werden alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gezwungen, mitinstitutionellen Traditionen zubrechen, ordnungspolitische Elemente vonanderen zu übernehmen undneue institutionelle Arrangements zu finden. ImÜbrigen genügt ein Blick nachOsteuropa, umdie besondere Aktualität ordnungspolitischer Fragen undProbleme zuerkennen. In densogenann-
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Ausblick: ZurAktualität undRelevanz desThemas
tenTransformationsgesellschaften finden sodramatische Veränderungen statt, wie sie selbst in derGeschichte nurselten vorkamen. Wirtschaftsordnungen müssen neuaufgebaut, dieAufgaben desStaates neudefiniert undneueWerte undVerhaltensweisen entwickelt werden. Dabei orientieren sich die meisten Staaten anwestlichen Marktwirtschaften, greifen zugleich aber aufordnungspolitische Traditionen des eigenen Landes zurück, die nach 1945 verloren gegangen sind. Auch im Westen hatdas Ende der sowjetisch beherrschten, sozialistischen Weltdazubeigetragen, dassinstitutionellen Fragen wieder stärwird. Offensichtlich hatdie große ordnungspolitische Dichotomie zwischen Plan- undMarktwirtschaft, die das 20. Jahrhundert prägte, eine subtilere Analyse unterschiedlicher liberaler Ordnungen verhindert. So wie diejenigen, die die Geschichtsschreibung als historische Sozialwissenschaft begreifen, ihr Interesse an systematischen Fragestellungen ausrichten sollten, so sollten diejenige, die die historische Dimension der angewandten Wirtschaftswissenschaften akzeptieren, die geschichtliche Perspektive systematischer Fragen berücksichtigen. Dabei gehtes nicht darum, direkt , sondern darum, das gesellschaftspolitische „ aus der Geschichte zu lernen“ und-historische Umfeld jedes institutionellen Wandels imAuge zubehalten unddieArt undWeise zuverstehen, wieinderGeschichte mitordnungspolitischen Veränderungen umgegangen wurde.
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