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German Pages 338 Year 2015
Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen
Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Universität Paderborn.
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INHALT
Ökonomien des Medialen oder: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch folgende Einleitung gelesen RALF ADELMANN, JAN-OTMAR HESSE, JUDITH KEILBACH, MARKUS STAUFF, MATTHIAS THIELE 9
MODELLE UND IHRE GRENZEN Die Medienwirtschaft in der Neuheitsspirale MICHAEL HUTTER 27
Netzbildung durch antagonistisches Handeln. Bietet die Ökonomie ein Modell für ein Verständnis der Medien? HARTMUT WINKLER 47
Replacement. Wie ökonomische Theorie Medienwelten ›verortet‹ ANDREA GRISOLD 63
Das politische Tier und seine Medien LEANDER SCHOLZ 85
HISTORISCHE TRANSFORMATIONEN Information und Wissen in der ökonomischen Theorie. Überlegungen zum Zusammenhang von Mediengeschichte und Geschichte der Wirtschaftswissenschaft JAN-OTMAR HESSE 103
Schutz oder Monopolisierung von Ideen? Die Anfänge der deutschen Diskussion um das »geistige Eigentum« MARGRIT SECKELMANN 127
Notieren, Aufzeichnen, Vervielfältigen. Medientechnische Umbrüche von Musik im Urheberrecht MONIKA DOMMANN 149
The Product that Never Dies. Die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films VINZENZ HEDIGER 167
MEDIALE REFLEXIONEN DES ÖKONOMISCHEN Quiz Show. Wissen, Geld, Zeit und die Ökonomie der Wette LORENZ ENGELL 185
Kreisen, Fühlen, Unterbrechen. Eine Anti/Zirkulations-Kampagne ULRIKE BERGERMANN 207
Medien und Krise. Oder: Kommt die Denormalisierung nicht ›auf Sendung‹? JÜRGEN LINK 229
PRODUKTION VON REZEPTION »Monster returns in shocker that will attract where audiences like thrills and chills.« Produkt und Publikum in der Genreproduktion Hollywoods PATRICK VONDERAU 247
›The Best of Both Worlds‹. Film und Tourismus als Industrien des Begehrens am Beispiel von Indien und Deutschland ALEXANDRA SCHNEIDER 265
Schwarm oder Masse? Selbststrukturierung der Medienrezeption RALF ADELMANN 283
Zahl und Sinn. Zur Effektivität und Affektivität der Fernsehquoten MATTHIAS THIELE 305
ÖKONOMIEN
DES
MEDIALEN
ODER:
KUNDEN,
BUCH GEKAUFT HABEN, FOLGENDE EINLEITUNG GELESEN
DIE DIESES
HABEN AUCH
In der öffentlichen Diskussion ist die ökonomische Verfasstheit der Medien längst zum dauerpräsenten Thema geworden. Gemeinsam mit Fragen nach ihren ›schädlichen Wirkungen‹ ist das Ökonomische sicherlich der Aspekt, unter dem die Medien am häufigsten zur Sprache kommen. Konzepte wie Konzentration und Monopolisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung, Meinungsvielfalt versus Meinungsmacht dominieren die Diskussionen über die Medienlandschaft und ihre beschleunigten Transformationen. Die Versteigerung von UMTS-Lizenzen, drohende Fusionen von Presseimperien und Fernsehunternehmen, die Übertragungsrechte für Sportereignisse oder die Frage, ob Medikamente oder Zahnbehandlungen über ebay verkauft werden dürfen, prägen immer wieder für geraume Zeit die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen. Der Zusammenhang zwischen Medien und Ökonomie scheint offensichtlich und unabweisbar. Der für den vorliegenden Sammelband gewählte Titel, Ökonomien des Medialen, knüpft bewusst an diese scheinbar evidente Übermacht des Ökonomischen an. Zugleich sollen aber aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive die Erklärungskonzepte einer etablierten Medienökonomie und nicht zuletzt auch der Begriff des Ökonomischen selbst hinterfragt werden. ›Tausch‹, ›Wert‹ und ›Zirkulation‹ stehen hier exemplarisch für zentrale Konzepte der Ökonomie, die medienwissenschaftlich produktiv gemacht und damit gleichzeitig verändert werden. Dem Band liegt somit eine bewusst ambivalente Haltung gegenüber der Ausweitung und Aufwertung des Ökonomischen zugrunde, die sich nun schon seit längerem auf zwei unterschiedlichen, aber nicht voneinander zu trennenden Ebenen zeigt. Eine Aufwertung des Ökonomischen lässt sich zum einen in den Diskussionen beobachten, die (mit durchaus unterschiedlicher Bewertung) eine zunehmende Dominanz des Ökonomischen in der Gesellschaft im Ganzen und somit auch im Feld der Medien diagnostizieren. Schlagworte sind hierbei u.a. die ›Kommerzialisierung‹ der Medien oder noch allge9
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meiner die ›Ökonomisierung des Sozialen‹. Unter Ökonomie wird meist in einem eher engen Sinne der Zusammenhang von privatwirtschaftlichen Besitzverhältnissen, Mehrwertproduktion, Warentausch, Geldökonomie und unternehmerischem Handeln verstanden. In diesem Zusammenhang werden die Medien als arbeitsteilig organisierte Produktionsund Distributionsunternehmen konzipiert, deren Organisations- und Handlungsstrukturen auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Die Medien sind dann – in Analogie zu anderen Wirtschaftszweigen – ein Anwendungsfeld allgemeingültiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Zum anderen zeichnet sich parallel dazu in der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung eine Aufwertung des Ökonomischen ab, die nach unserer Meinung mehr ist als eine bloße Reaktion auf die tatsächliche Bedeutungszunahme ökonomischer Allokationsmechanismen im Medienbereich, wie sie in den letzten Jahren nicht zuletzt durch politische Deregulierungskonzepte ausgelöst wurden. Ganz unabhängig von einem solchen sozio-ökonomischen Strukturwandel wurde der Begriff in den Kultur- und Medienwissenschaften ausgeweitet und für die Beschreibung kultureller, medialer und gesellschaftlicher Phänomene produktiv gemacht. Dabei hat er eine Aufwertung erfahren, die sich nach unserer Einschätzung den weit reichenden analytischen Potenzialen des Begriffs der Ökonomie verdankt, die eine engere wirtschaftswissenschaftliche Fassung sprengen. Für die theoretische und analytische Auseinandersetzung mit Fragen von Kultur, Gesellschaft oder Medien ist der Begriff attraktiv, insofern er eine Reihe von heterogenen Prozessen umschließt, ohne dass diese nach der Vorgabe der Wirtschaftswissenschaft zwingend auf eine gemeinsame und einheitliche Logik verpflichtet werden müssen: Verknappung und Reproduktion, Zirkulation, Wert, Tausch sowie andere Konzepte aus dem Feld des Ökonomischen werden für die Modellierung von auf den ersten Blick nicht-ökonomischen Sachverhalten genutzt. Der Begriff des Ökonomischen trägt so zur Bestimmung von gesellschaftlich umfassenden und abstrakten Zusammenhängen bei: ob Ökonomie stärker durch die Bewältigung von Knappheiten oder durch Verschwendung, stärker durch eigennützliches Handeln oder durch abstrakte Vergemeinschaftung, durch Wettbewerb oder alternative Aushandlungsprozesse sich auszeichnet, ist somit keineswegs von vornherein geklärt. Der vorliegende Band will an diese doppelte Aufwertung von Ökonomie als gesellschaftlichem Strukturierungsprinzip und als analytischer Kategorie anknüpfen. Die Dominanz des Ökonomischen soll dabei nicht schlicht nachvollzogen werden; genauso wenig soll allerdings von vornherein ein schützenswerter Bereich des Nicht-Ökonomischen postuliert werden. Eine solche Dichotomie prägt sowohl affirmative Positionen, die eine Ökonomisierung von gesellschaftlichen Praxisbereichen (der Medi-
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en, der Universität etc.) fordern, weil sie sich davon eine Funktionsoptimierung erwarten, als auch kritische Positionen, die fordern, ›sensible Bereiche‹ (etwa die öffentliche Meinung oder Bildung) vor ökonomischen Mechanismen zu schützen. Demgegenüber können die hier versammelten Beiträge schon aufgrund ihrer thematischen Bandbreite vielleicht dazu führen, mit dem Blick auf die »Ökonomien des Medialen« an einigen Selbstverständlichkeiten ökonomischen Denkens zu rütteln. Dies scheint uns nicht nur wissenschaftlich interessanter, sondern auch politisch produktiver als ein Bekenntnis für oder gegen ›die Ökonomie‹. Die adäquate Antwort auf die doppelte Aufwertung des Ökonomischen sehen wir daher in dessen Heterogenisierung und Vervielfältigung: Tatsächlich ist die Ökonomie überall, sie ist kaum zu vermeiden; deshalb ist es sicherlich notwendig (vielleicht stärker – oder wieder stärker – als in den Kultur- und Medienwissenschaften üblich), die ökonomischen Sachverhalte zum Gegenstand der Untersuchung zu machen und Medien auf ihre ökonomische Konstitution und ihre Konstituierung des Ökonomischen hin zu untersuchen. Zugleich allerdings kann dies nur realisiert werden, wenn man bereit ist zuzugestehen, dass es ›das Ökonomische‹ nicht gibt – zumindest nicht im Sinne eines universellen Prinzips, das allen Formen von Produktion und Austausch zugrunde liegt: Die Ökonomie, mit ihren Konkurrenzen und Märkten, ihren Unternehmern und Konsumenten, muss stets hervorgebracht werden (u.a. durch Medien); und sie wird aller Orten – aber in sehr unterschiedlicher Weise – verfertigt. Bereits vor über einem halben Jahrhundert beschäftigte sich Karl Polanyi ([1944] 1995) mit der »Großen Transformation«, die erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts den Markt und die Wettbewerbswirtschaft hervorbrachte, während zuvor Produktions-, Konsumtions- und Tauschprozesse stets in soziale Relationen »eingebettet« waren. Der Markt und die auf ihn bezogenen »ökonomischen Gesetze« sind eben – so Polanyi und im Anschluss an ihn die rege Forschung der »heterodox economics« sowie der amerikanischen Evolutionsökonomie – historische Produkte. Und erst kürzlich hat Josef Vogl aus kulturhistorischer Perspektive in seiner »Poetik des Kalküls« (2004) noch einmal eindringlich vor Augen geführt, dass das Ökonomische als ein distinkter gesellschaftlicher Teilbereich mit ganz eigenen Regeln ebenso eine spezifisch historische ›Erfindung‹ ist, wie der »ökonomische Mensch«, der sein Leben an Rationalitäten des Warentauschs und der Kapitalakkumulation ausrichtet. Erst wenn sich dieser konsistente Teilbereich mit seinen spezialisierten Wissensformen, Institutionen und Praktiken ausdifferenziert hat, kann er als Maßstab an andere Praxisbereiche – die Politik, die Kultur, die Liebe, die Medien – herangetragen werden, die nur dann sinnvoll als ökonomische
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verstanden werden können und deren Ökonomisierung erst dann gefordert werden kann. Die für diesen Sammelband gewählte ambivalente Haltung gegenüber der doppelten Aufwertung des Ökonomischen zielt damit notwendigerweise auf eine Vermittlung und engere Verschränkung der wirtschaftlichen Strukturen von Medien auf der einen Seite mit weiteren und im umfassenderen Sinne ökonomischen Aspekten auf der anderen Seite. Entgegen der hier vorgeschlagenen heterogenen Sicht auf die Ökonomie vertritt die etablierte universitäre Wirtschaftswissenschaft zumeist die Meinung, es könne nur eine einzige Ökonomie geben. »Ökonomien«, im Sinne von unterschiedlichen Regelhaftigkeiten der Güterallokation, die je nach gesellschaftlichem Funktionssystem (und vielleicht auch je nach medialen Regelhaftigkeiten) wandelbar sind, schließt diese Perspektive aus. »Medienökonomie« existiert daher in der akademischen Wirtschaftswissenschaft seit einigen Jahrzehnten als eine inhaltliche Ausdifferenzierung des Faches, die sich auf Medien konzentriert, insofern diese Bestandteil ökonomischen Ressourcenverbrauchs sind. Jürgen Heinrich definiert beispielsweise: »Medien und Kommunikation sind Gegenstand ökonomischer Analyse, weil Produktion, Distribution und Konsum der massenmedial erstellten Güter Information, Bildung, Unterhaltung, Werbung […] die knappen gesellschaftlichen Ressourcen Arbeit, Kapital und Natur verbraucht. Die Medienproduktion konkurriert also mit anderen Verwendungsmöglichkeiten der knappen Ressourcen und vor diesen Alternativen müssen sich die Kosten der Medienproduktion legitimieren.« (Heinrich 2002: 48f.)
Damit wird den Medien der Medienökonomie implizit unterstellt, dass sie auch intern nach den üblichen »ökonomischen Gesetzmäßigkeiten« strukturiert sind. Die im Mediensektor sich in den letzten Jahrzehnten vollziehenden gewaltigen Veränderungen, die die gesamte wirtschaftliche Produktionsstruktur im Kern betrafen, gingen – zumindest nach Meinung der Autoren eines internationalen Standard-Textbooks – nicht mit einer Veränderung der ökonomischen Grundprinzipien einher: »Technology changes. Economic laws do not.« (Shapiro/Varian 1999: 1f.) Die Medienökonomie trachtet also weniger danach, neue »ökonomische Gesetzmäßigkeiten« (oder Logiken – wie wir neutraler formulieren wollen) und damit das von den Medien ausgehende Veränderungspotential im Strukturbereich des Ökonomischen zu entdecken. Weiterhin ergibt sich aus der engen Selbstdefinition notwendigerweise das Problem, dass andere Aspekte von Medien wie Meinungsvielfalt, Realitätsbezug, Öffentlichkeit usw. als gänzlich nicht-ökonomische definiert wer-
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den, weil sie nicht dem individuellen Kosten-Nutzen-Kalkül zugänglich seien (Heinrich 2002: 53). Viele der für uns interessanten Querverbindungen zwischen dem Ökonomischen und dem Medialen werden auf diese Weise nicht als Forschungsgegenstände gesehen. Wissenschaftliche Untersuchungen aus dem Feld der Medienökonomie sind häufig damit beschäftigt, die Beschreibung der ökonomischen ›Gesetzmäßigkeiten‹ gleichsam nachzuliefern, die im Medienbereich bald zu diesem bald zu jenem ›Ergebnis‹ führen, welches mit dem herkömmlichen ökonomischen Wissen unplausibel erscheinen müsste: Womit verdient Google Geld? Warum kann es Medienprodukte (wie z.B. Wikipedia) geben, die kostenlos sind? Und warum existieren eigentlich Medienprodukte (etwa Handyklingeltöne), die faktisch keine Produktionskosten haben und trotzdem teuer bezahlt werden? Wie lässt sich das Paradoxon auflösen, dass Fernsehzuschauer gleichzeitig Konsumenten und Produkte sind (vgl. Smythe 1981)? Ein Großteil der von dieser Perspektive angetriebenen medienökonomischen Forschung versteht es als ihre Aufgabe, solche Paradoxien in eine ökonomische Logik zu überführen und intelligente Regulierungskonzepte zu formulieren, aufgrund derer diese Paradoxien dann beseitigt werden können (z.B. Kiefer 2001). Die spezifischen ›Ineffizienzen‹ der Medien (beispielsweise technische oder institutionelle Beschränkungen, geringe ›Qualität‹ des Fernsehprogramms oder zu hohe Preise auf dem Büchermarkt) können auf diese Weise »reguliert« werden. Untersuchungen der letzten Jahren, die an diese medienökonomische Perspektive anschließen, haben zahlreiche interessante Ergebnisse hervorgebracht und können keineswegs ignoriert werden, wenn man die »Ökonomien des Medialen« diskutieren möchte; will man allerdings die Heterogenitäten, Vervielfältigungen und emergenten Effekte des Medialen sowie die des Ökonomischen erfassen, so sind Ergänzungen und Perspektivverschiebungen notwendig. Entsprechend scheint es uns sinnvoll, nicht von der Dominanz der einen Ökonomie auszugehen, sondern von vornherein verschiedene Ökonomien in Betracht zu ziehen – unter anderem eben auch die ›des Medialen‹, d.h. die zahlreichen Konkretisierungsformen innerhalb des Bereiches der Medien. Es wäre voreilig, die Ausweitung und Ausdifferenzierung der ökonomischen Begrifflichkeit als bloß metaphorische zu markieren. Schließlich herrscht auch in der Ökonomie – i. S. der Wirtschaftswissenschaften – selbst keineswegs Konsens darüber, was das Ökonomische ausmacht. Vor allem aber verdankt sich der Begriff der Ökonomie selbst höchst heterogenen Entwicklungslinien, wurde damit (in der Tradition des griechischen Begriffs oikos) doch zunächst die richtige Verwaltung des Hauses und der Familie verstanden, wobei die Richtigkeit dieser Verwaltung
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eben keineswegs an Reichtum und Wohlstand orientiert sein musste (Brunner 1956). Als der Begriff dann im Zuge der »Großen Transformation« auf den Gegenstandsbereich der Marktwirtschaft mit ihren spezifischen Regelsystemen zwischen Angebot, Nachfrage und Eigennutzstreben übertragen wurde, blieb die disparate Verwendungsweise und die logische Unschärfe durchaus erhalten. Nicht zuletzt eine solche Unschärfe spiegelt die Vielzahl seiner gegenwärtigen Anwendungen in den Medienund Kulturwissenschaften. Vor diesem Hintergrund könnte ein erster Schritt hin zur Pluralisierung des Ökonomischen und damit zur kritischen Indienstnahme des Begriffs darin liegen, ökonomische Mechanismen (durchaus im engeren Sinn von Wertetausch und Kapitalakkumulation) gerade auch dort aufzuspüren, wo die Wirtschaftswissenschaften sie nicht vermuten und wo sie deshalb vielleicht auch anderen Regeln der ›Tauschbarkeit‹ und der ›Akkumulierbarkeit‹ gehorchen. Pierre Bourdieu hat dies in soziologischer Perspektive für Erziehung, Schulbildung und soziale Netzwerke im Detail nachvollzogen und dabei ganz explizit den Begriff der Ökonomie gegenüber einem homogenen Modell des Ökonomismus ausgeweitet und verschoben (Bourdieu 1992). Die Ethnologie hat ebenfalls auf andere Ökonomien verwiesen, am prominentesten wohl Marcel Mauss, der den Begriff des Gabentauschs prägte, um Tauschprozesse in Wirtschaftssystemen zu beschreiben, die nicht auf das allgemeine Äquivalent des Geldes zurückgreifen (Mauss [1924] 1990). In letzter Zeit wird dies gelegentlich für den Medienbereich produktiv gemacht, um die nicht-monetären Transaktionen etwa im Internet zu beschreiben. Dabei können Überlegungen, die sich diesen Begriff zunutze machen, sowohl als Alternative zum dominanten kapitalistischen Modus wie auch als Perfektionierung einer neoliberalen Wirtschaftstheorie auftreten (vgl. Mirowski 2001). In den Medien- und Kulturwissenschaften hat darüber hinaus die Frage nach den Ökonomien von (zumindest vordergründig) nicht-ökonomischen Praktiken und Sachverhalten gute Tradition. Schon klassisch sind die Modellierungen einer »Triebökonomie« durch Sigmund Freud. In der psychoanalytischen Ausrichtung der Medien- und Kulturwissenschaft ist von der Trieb- oder libidinösen Ökonomie bzw. von der vom Imaginären und vom Symbloischen ausgehenden Ökonomie des Begehrens (Jacques Lacan) die Rede. In Bezug auf Freuds energetisches Konzept des psychischen Apparats geht es um das ständige Drängen der Triebe und die unbewusste Verarbeitung der Erregungen, die in den Subjekten eigene Zirkulationen, Verteilungen, Dynamiken, Ladungen und Symptome ausbilden, die Verhältnisse zu den Dingen und Waren überformen (man denke an die Objekte des Fetischismus) und die ökonomische Rationalität im engen Sinne unterlaufen. Seit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
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werden psychoanalytische Erklärungsmuster immer wieder mit Phänomenen der »Kulturindustrie« in Bezug gesetzt und auch die Auseinandersetzung mit der Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, dem Verlust der Aura, der zerstreuten Rezeption, der Mobilisierung der Masse und den Traumbildern der Warenwelt bei Walter Benjamin stehen in diesem Zusammenhang. Demgegenüber sehr viel spezifischer ist die Vorstellung von der Ökonomie (oder Ökonomisierbarkeit) bestimmter ästhetischer Verfahren. Wenn Literatur und Film mit möglichst geringem Aufwand höchst effektive und affektive Geschichten erzählen, folgen sie einem Prinzip, das als ›Erzählökonomie‹ bezeichnet wird. Gleichzeitig können sie an spezifischen Genreregeln orientiert sein, die das erzählökonomische Prinzip unterlaufen (oder differenzieren) und Elemente von Spannung, Exzess oder Emotion einführen, die wiederum eigensinnigen, wenn nicht gar auf den ersten Blick widersinnigen ›Effizienzkriterien‹ folgen. Und nicht zuletzt werden diese kulturellen Texte von einer ›Ökonomie des Begehrens‹ hervorgebracht, die sie selbst überschüssig ›reproduzieren‹ und anstoßen. In den letzten Jahren häufen sich zudem die Vorschläge, entlang der gesellschaftlichen und vor allem der medientechnischen Veränderungen neue ökonomische Prozesse und Strukturen auszubuchstabieren, die die etablierte Ökonomie ergänzen oder sogar ersetzen. Während etwa Jeremy Rifkin (2000) eine ›Ökonomie des Zugriffs‹ (anstelle der des Besitzens) postuliert, hat Georg Franck (neben anderen) die Regelhaftigkeiten einer ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ skizziert, die Prestige, Prominenz und noch zu erwartende Karrieren zu zentralen Faktoren der Akkumulation und des Tausches werden lässt (Franck 1998). Die Regelhaftigkeiten, die Hartmut Winkler als ökonomisches Prinzip beschreibt, betreffen wiederum die Zirkulation und Verknappung von Zeichen in den Medien. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »inneren Ökonomie der Medien«, die er auf ihre Parallelen und Analogien mit der Zirkulation von Waren befragt (Winkler 2004). Dabei interessiert er sich – ähnlich wie Jürgen Link (1983) im Anschluss an Marx – insbesondere auch für eine zyklologische Modellierung medialer Reproduktionsprozesse. Hier und in den Beiträgen des vorliegenden Bandes soll allerdings nicht eine distinkte Ökonomie der Medien herausgearbeitet werden; die Beiträge sind keiner der aufgeführten Perspektiven verpflichtet. In ihrer Zusammenstellung ermöglichen sie vielmehr, so hoffen wir, die »Ökonomien des Medialen« so zu reflektieren, dass die Frage nach den Gegenständen und Prinzipien, den Voraussetzungen und Wirkungen des Ökonomischen selbst zur Diskussion steht.
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Z u r Gl i e de r un g Insofern der Band die Ökonomie im engeren Sinne – die kapitalistische Warenzirkulation, Reichtumsakkumulation und industrielle Produktion – bei allen Ausweitungen des Begriffs thematisieren möchte, wäre eine Sortierung der Beiträge nach den Besoldungsgruppen der AutorInnen nicht nur eine Regel gewesen, die effizient ein Knappheitsproblem löst, sondern sie hätte überdies eine weitere Ebene der medialen Produktionsstruktur abgebildet. Wir haben auf eine solche Sortierung zugunsten einer inhaltlichen Gruppierung verzichtet, die uns die Transaktionskosten der Rezipienten zu verringern scheint, also nicht keiner, sondern wiederum nur einer verschobenen Ökonomie und Sinnhaftigkeit folgt. Der Band gliedert sich nach vier exemplarischen Fragestellungen, die am Schnittpunkt von medienwissenschaftlichen Perspektiven und ökonomischen Kategorien auftauchen. In den Beiträgen des ersten Abschnitts »Modelle und ihre Grenzen« werden, sowohl aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaft als auch aus der Perspektive der Medienwissenschaft, die Potenziale und die Grenzen einer durchaus modellhaften Verschaltung von Medien und Ökonomie, von medienwissenschaftlichen und ökonomischen Konzepten diskutiert. Der zweite Abschnitt »Historische Transformationen« thematisiert die gemeinsame Geschichte von Ökonomien und Medien und verdeutlicht damit die wechselseitig konstitutive Bedeutung beider Gegenstandbereiche. Der dritte Abschnitt »Mediale Reflexionen des Ökonomischen« propagiert Medien als Orte der Reflexion und Modifikation von Ökonomie und versucht damit, die Schnittmengen zwischen medialen und ökonomischen Sphären in einzelnen Medien jeweils spezifisch zu bestimmen. Der den Band beschließende vierte Abschnitt »Produktion von Rezeption« widmet sich den in Medien und ihren Produkten vermittelten Bezügen zwischen Herstellung und Konsumtion. Dieses Verhältnis erweist sich als ein ökonomisches, das sich weder auf Tausch noch auf Nachfrage reduzieren lässt.
1. Modelle und ihre Grenzen Das Interesse an den »Ökonomien des Medialen« zielt zunächst auf neue, auf andere oder zumindest auf spezifische Modellierungen sowohl ökonomischer wie auch medienwissenschaftlicher Kategorien. Dies muss keineswegs bedeuten, dass ›die Medien‹ als ein homogenes Feld konzipiert werden, das ganz bestimmte (und von anderen Objekten streng unterschiedene) ökonomische Gesetzmäßigkeiten aufweist. Im Gegenteil stellt, wie viele der hier versammelten Beiträge zeigen, gerade ein Blick 16
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auf die Schnittstellen von Medien/Ökonomie die Vorannahme von Gesetzmäßigkeiten (seien es mediale, seien es ökonomische) in Frage. Die Beiträge im ersten Abschnitt des Bandes nehmen deshalb die wechselseitige Durchdringung von Medien/Ökonomie zum Anlass für eine auch begriffliche Reflexion darauf, was das Ökonomische der Ökonomie und das Mediale der Medien ist. Gleichzeitig konturieren sie das Feld und fragen danach, was das Ökonomische für die Medien und das Mediale für die Ökonomie bedeutet. »Ökonomien des Medialen« können dabei anhand der spezifischen Produktformen, die das Fernsehen hervorbringt (Grisold), oder anhand der (gerade nicht marktförmig organisierten) »Arenen«, in denen Neuheit definiert wird (Hutter), ebenso entdeckt und formuliert werden wie anhand der strukturellen Antagonismen, die medialen und ökonomischen Austausch gleichermaßen prägen (Winkler), oder anhand philosophischpolitischer Abgrenzungen des Nicht-Ökonomischen (Scholz). Entscheidend scheint uns, dass diese Modellbildungen von vornherein die Grenzen der jeweiligen Sichtweisen aus Wirtschaftswissenschaft und Ökonomie mit reflektieren. Weder können (oder sollen) das Ökonomische und das Mediale in einer Art interdisziplinärem Reflex zur Deckung gebracht werden, noch sollen diese als entscheidende oder fundamentale Begriffe herausgestellt werden, die alternativen Beschreibungsformen vorzuziehen sind. In ganz unterschiedlicher Weise ist so etwa die institutionelle Politik (bei Grisold) oder auch sehr viel allgemeiner das Politische (bei Scholz) als ein Bereich aufgerufen, der sich in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Artikulationen von Medien und Ökonomie ausbildet, in keinem Fall aber verschwindet oder auch nur davon dominiert wird. Ebenso ist das Ökonomische in der notwendigen Konstitution von (verkaufbaren) Neuheiten auf Arenen angewiesen, die selbst nicht marktförmig strukturiert sind (Hutter). Bei der Auslotung der Grenzen der jeweiligen Modelle werden gerade die ›Grenzüberschreitungen‹ produktiv. Wenn die friedensstiftende Wirkung medialer und ökonomischer Tauschprozesse angezweifelt wird (Winkler), dann eröffnen sich neue Felder, die sowohl analytisch und historisch im Hinblick auf Konflikte, Widersprüche, Fremdheiten usw. bearbeitet werden müssen. Ähnlich produktiv ist die Annahme, dass die Bereiche des Nicht-Ökonomischen für die Sphäre des Ökonomischen konstitutiv sind (Scholz). Gerade aus dem historischen Wandel der Bestimmung des Nicht-Ökonomischen lassen sich im Umkehrschluss Argumente für eine Pluralisierung der Ökonomien gewinnen. Die in den Beiträgen vorliegenden Befunde zur Modellbildung in Wirtschafts- und Medienwissenschaft tragen demnach zur Entwicklung
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von Perspektiven für eine weitere Intensivierung der theoretischen Arbeit an den »Ökonomien des Medialen« bei.
2. Historische Transformationen Wenn mit diesen Modellbildungen das Feld »medialer Ökonomien« begrifflich und theoretisch aufgefächert (keineswegs aber umfassend kartiert) wird, so ist damit zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit historischer Differenzierungen des Ökonomischen, aber auch der Ökonomien des Medialen vor Augen geführt. Diese Modellbildungen bedürfen demnach einer historischen Klärung, insofern mit der Mediengeschichte »Transformationen der Ökonomie« in allen ihren Dimensionen (ihren Begriffen usw.) verbunden sind. Zwei Beiträge (Seckelmann, Dommann) thematisieren mit der historischen Aufarbeitung des ›geistigen Eigentums‹ bzw. copyright ein ›Schlachtfeld‹, das auch gegenwärtig umkämpft ist, auf dem mediale und ökonomische Regelhaftigkeiten aufeinanderprallen. Im historischen Wandel der juristischen Fassungen vom ›geistigem Eigentum‹ und Urheberrecht (Seckelmann) zeigt sich zum einen die immer wieder in den Vordergrund rückende Problematik der Ökonomie mit immateriellen Waren und ihrer künstlichen Verknappung. Zum anderen wird die Einflussnahme von regulativ-juristischen Interventionen im Zusammenspiel mit den Ökonomien des Medialen deutlich. Aktuell wird diese Perspektive im Nachklang der Dotcom-Krise und der Digitalisierung aller medialen Bereiche noch einmal virulent. Gerade aus der historischen Perspektive der Entstehung einer Musikindustrie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Dommann) lässt sich die aktuell postulierte ökonomische Krise durch digitale Vervielfältigung von Musikstücken als ein weiterer Schritt im Konflikt zwischen Verbreitungstechnologien (Phonographen, Radio, Internet) und der ökonomischen Verwertung von ›Inhalten‹ beschreiben. Dass dieser Konflikt durchaus eine ökonomisch produktive Seite hat, zeigt sich in der Mehrfachverwertung von Filmen im Fernsehen, als DVD-Editionen oder künftig in Internet-Videotheken. Damit wird das Verwertungs- und Differenzkriterium der ›Neuheit‹ kultureller Produkte durch die Nutzung der Filmarchive unterlaufen oder zumindest selbst neu definiert (Hediger). Der mediale und ökonomische Wandel von der Kino- zur Copyrightindustrie zeitigt ebenso Effekte auf die Beschaffenheit des kulturellen Gedächtnisses wie umgekehrt die inhaltlichen Redundanzen im Medienkonsum aufgrund sich wandelnder soziokultureller Bedarfe ermöglicht werden. Nicht nur geben technische Innovationen im Bereich der Musik, des Films und des Buchdrucks Anlass für die Veränderung der jeweils auf sie
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bezogenen Beschreibungsdiskurse des Rechts und der Unternehmensführung. Unter Umständen verändern Medien die komplette Vorstellung, die sich historische Akteure modellhaft vom wirtschaftlichen Ablauf machen. Untersucht man die ökonomische Theoriebildung jeweils in den Phasen raschen Medienwandels, zum Beispiel deren Reflex auf die Verlegung des ersten Transatlantik-Telegraphenkabels, auf die Organisationsprobleme der entstehenden Großunternehmen in der Zwischenkriegszeit und während der weltwirtschaftlichen Verwerfungen der 1970er Jahre (Hesse), so lässt sich in einer solchen langfristigen Perspektive die Beeinflussung der Wirtschaftswissenschaft durch die mediale Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft nachzeichnen, es zeigt sich somit die Medialität der Ökonomie.
3. Mediale Reflexionen des Ökonomischen Ökonomie setzt Medien nicht nur voraus, sondern findet in diesen zugleich einen Ort ihrer Definition und Reflexion. Dies zeigt sich zunächst am schnellen Einbezug von Übertragungs-, Kommunikations-, Notations- und Speichermedien aller Art in die Ökonomie, deren Gesamtentwicklung ohne das revolutionäre Potential zum Beispiel von Telegrafie, Telefon oder Computer weder denkbar noch beschreibbar ist. Die Funktion und Effizienz der Medien reduziert sich dabei nicht allein auf die Überwindung von Raum und Zeit oder auf die Verarbeitung massenhafter Kommunikation und riesiger Datenmengen. Einzelne Medien steigen auch stets zu symbolischen Kernelementen ökonomischer Wunsch- und Leitbilder auf. So gehören das Mobiltelefon, der Organizer und das Laptop unabdingbar zum öffentlichen Bild des dynamischen Managers oder flexibilisierten Dienstleisters. Zur Selbstreproduktion des ökonomischen Systems gehört ebenfalls die massenmediale Verbreitung und Zirkulation von spezifischer Information, die sowohl quer zu den Sparten und Rubriken der Massenmedien verläuft, als auch eigene spezialisierte Ressorts und Formate ausgebildet hat wie die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen oder die Börsen- und Wirtschaftsmagazine an Kiosken oder im Fernsehen. Die Medien beobachten und machen Ökonomie täglich aufs Neue sichtbar, verhelfen ihr zu Evidenz und konstituieren ihre gesellschaftliche Relevanz, wobei die Massenmedien aufgrund ihrer ausgeprägten Reflexivität im Bezug auf die eigenen Möglichkeiten auch stets Position zu ihrer eigenen inneren Ökonomie beziehen und dies oftmals sogar in eigenen Formaten. Insofern stellen die Medien eine Möglichkeit dar, nicht nur Ökonomie, sondern diverse Ökonomien erfahrbar und denkbar zu machen. Hollywood
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zelebriert seit es den DVD-Zweitverwertungsmarkt gibt im Filmgenre des »Making of…« seine Ökonomie der Verschwendung, indem es Einblick in den logistischen Aufwand bzw. Exzess der Filmproduktion gibt. Das Fernsehen macht seine Ökonomie insbesondere in Form der Quiz Show sichtbar, in der Konzepte von Wissen, Zeit und Geld zu ökonomischen Argumentationen verknüpft werden, wobei die Formen des ökonomischen und symbolischen Tausches für die Kandidaten und Zuschauer in das ökonomische und kommunikative Kalkül der Wette transferiert werden (Engell). In ihren Verarbeitungs- und Vermittlungsprozessen stoßen die Medien aber auch an die Grenzen ihrer Sagbarkeit und Sichtbarkeit. Beispielsweise müssen hoch abstrakte Prozesse in der Regel in konkrete Bilder und populäre Anschaulichkeit übersetzt werden, so dass die innere Ökonomie der Medien zu Bildern der Ökonomie führt, die Wirtschaftswissenschaftler – sofern sie sich dafür interessieren – sicherlich als inadäquat, nichtökonomisch oder auch als ideologisch bewerten würden. Zum strukturellen Unvermögen der Massenmedien gehört es, ökonomische Krisen nicht als ernstere mit möglichem katastrophischem Ausgang zu diskursivieren, da sie (aus Gründen ihrer Selbstreproduktion) Ökonomie durch das narrative Grundschema von Normalität, Denormalisierung und sich anschließender Renormalisierung perspektivieren (Link). Ein besonderer Ort medialer Reflexion auf Ökonomien findet sich schließlich in Form der Werbung – schließlich fungieren die Massenmedien von den Printmedien über das Radio bis hin zum Internet nicht nur als Übertragungsmedien, sondern auch als Steuerungsmedien der Warenzirkulation und Konsumtion. In den intermedialen Formen des Marketing und Branding, vor allem aber in den ebenso intermedialen Praktiken der Konsumkritik werden ökonomische und semiotische Ökonomien auf ihre Grenzen und ihre Artikulationsfähigkeit getestet. Notwendigerweise verbindet sich damit auch die Definition von anderen Ökonomien mit eigenen Zeichen und eigenen Zeitlichkeiten (Bergermann).
4. Produktion von Rezeption Eine Verschiebung des Ökonomischen lässt sich schließlich sehr konkret im Wechselspiel von Produktion und Rezeption der Medien nachvollziehen. Dabei lässt sich die Komplexität dieses Zusammenspiels nicht in ein ökonomisches Modell überführen, indem Produktion und Konsumtion als zwei von einander getrennte Sphären allein durch Angebot und Nachfrage vermittelt werden. Karl Marx hatte bereits betont, dass Produktion immer schon Konsumtion und Konsumtion unmittelbar Produktion sei
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(Marx [1859] 1971: 236). Entsprechend hat man es mit wechselseitigen Verzahnungen und Durchdringungen zu tun. Die Formulierung »Produktion von Rezeption« zielt also zugleich auf zwei gegenläufige und miteinander verflochtene Bewegungen: es geht sowohl um die Herstellung, Sicherung, Strukturierung und Kontrolle von Publika durch Medien als auch um die bestätigenden oder eigensinnigen Aneignungspraktiken und die kalkulierten wie unkalkulierbaren Subjekt- wie massendynamischen Effekte der Rezeption. Bezüglich ihrer institutionellen Selbstreproduktion stehen Massenmedien immer vor dem Problem, dass sie sich ihres Publikums oder ihrer Zuschauer nie gewiss sein können. Daher bilden sich innerhalb oder neben der Film- und Fernsehindustrie Branchen aus, die sich auf Werbung oder Markt- und Konsumforschung spezialisieren, um entweder Nachfrage zu produzieren oder eben nachfrageorientierte Produktion zu ermöglichen. Gerade damit aber vervielfältigen sich die Verschränkungen von Rezeption und Produktion. Die Filmindustrie bildete gestützt auf ihre Genreproduktion bereits ab den 1920er Jahren frühe Formen der Marktanalyse aus, um die Publikumsnachfrage zu ermitteln und ihre Produktion sowie Werbung effizienter an spezifischen Publikumssegmenten auszurichten (Vonderau). Das Fernsehen ist durch die kontinuierliche Zuschauer- bzw. Quotenmessung jeden Tag aufs Neue mit seinen statistisch quantifizierten Leistungen verschaltet, so dass das Medium und sein Programm ohne Quote gar nicht mehr denkbar und schon gar nicht reproduzierbar ist (Thiele). Darüber hinaus erweist sich die Quote nicht nur als ein operationales Maß zur Kontrolle der Zuschauer und Rentabilität, vielmehr ist der Quotendiskurs selbst eine Produktionsinstanz, die auf Seiten der Produktion wie der Rezeption gleichermaßen Affekte und populäre Vorstellungen bezüglich des Fernsehens als Ökonomie hervorbringt. Mit dem Internet bilden sich wiederum neue Durchdringungen und Verzahnungen von Produktion und Rezeption aus. Hat man es bei den klassischen Massenmedien trotz aller Offenheit und Unvorhersagbarkeit der Rezeption stets mit einem hohen Grad an (Vor-)Strukturierung zu tun, ist das Mediendispositiv Internet durch eine Selbststrukturierung der Rezeption gekennzeichnet, die sich vor allem als massendynamischer Effekt von Ordnungs- und Wissensstrukturen der Populärkultur beschreiben lässt (Adelmann). Die Reproduktionszyklen von Produktion, Übertragung, Rezeption und Applikation greifen dabei immer über die Ökonomie eines Mediums hinaus. Stets hat man es auf allen Ebenen – und insbesondere hinsichtlich der Produktion von Rezeption – mit Kopplungsprozessen zwischen der Ökonomie eines Mediums und anderen Ökonomien zu tun. So zielt etwa der kommerzielle Film immer auch gewollt oder nicht gewollt auf die Produktion, Übertragung, Rezeption und
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Applikation von Moden, Waren, Lebensstilen und konsumistischen Praktiken. Dies kann eindrucksvoll vor Augen geführt werden anhand der strukturellen Affinität der Bildwelten von Kino und Tourismusbranche und der funktionellen Verschränkung von Film- und Reiseindustrie, in der die ZuschauerInnen zunehmenden zu Reisenden werden und sich die realen Orte mit den imaginären Räumen des Films vermischen (Schneider). Wenn die Rezeption somit eine Produktion ist und produziert wird, so kann dies wiederum keineswegs mit schlichtem Ökonomismus beantwortet werden, der überall die eine Ökonomie am Werke sieht. Auch in der Verschaltung von Rezeption und Produktion vervielfältigen und verschieben sich (wie in den Reflexionsprozessen und den historischen Transformationen der Medien) die medialen Ökonomien. * Der Sammelband geht auf zwei Tagungen zurück, die im Januar 2005 am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn, und im Januar 2006 im DGB Bildungszentrum in Hattingen stattfanden. Ein ganz herzlicher Dank geht an die Universität Paderborn, namentlich Hartmut Winkler, für die unkomplizierte Bewältigung unserer eigenen medialen Ökonomien als Herausgeber, vulgo: für die großzügige Finanzierung der Druckkosten. Ralf Adelmann Jan-Otmar Hesse Judith Keilbach Markus Stauff Matthias Thiele
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MODELLE
UND IHRE
GRENZEN
D IE M EDIENWIRTSCHAFT
IN DER
N EUHEITSSPIRA LE ∗
MICHAEL HUTTER 1 . K o m mu ni k a t i o n un d Me di e nw i r t s ch a ft Kommunikation ist der Stoff aus dem Gesellschaft besteht. Sie ist eine Textur, eine vielfach ineinander verwobene Abfolge von Ereignissen zwischen den Individuen, die an Gesellschaft kommunizierend teilnehmen. Sie ist ein improvisiertes, immer unvollständiges Spiel von Frage und Antwort, das sich endlos, durch immer neue Ereignisse, die an frühere Kommunikationen anschließen und ihrerseits zum Ausgangspunkt weiterer Kommunikationen werden, fortsetzt. Jede Familie, jeder Clan, jede Stadt und jede Kultur hat ihren eigenen Kommunikationsstrom produziert und prozessiert, lange bevor irgendjemand auf die Idee kam, mit der Beförderung von Mitteilungen oder mit der Herstellung eigener Mitteilungen Geld zu verdienen. Kommunikation ist überlebensnotwendig. Sie hilft uns, gegenwärtige und zukünftige Situationen zu verstehen und zu bewältigen. Erst durch Kommunikation entsteht so etwas wie soziale Ordnung: Jedes Individuum signalisiert seine Position in der Gesellschaft durch Kommunikation und registriert sehr genau, welche Signale andere über deren eigenen Positionen, Fähigkeiten und Werturteile abgeben. Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen, dass wir in einer Umwelt von Kommunikation leben, die für uns ebenso überlebensnotwendig ist wie die Umwelt von Wasser, Luft und anderer Materie. Die Wirtschaftstheorie hat traditionell Situationen untersucht, in denen Kommunikation im Wesentlichen überflüssig ist. Mit dem Stichwort »vollkommene Information« wird eine Situation bezeichnet, in der die Wettbewerber sich gegenseitig kennen, und die zu verkaufenden Güter längst bekannt sind. Jede relevante neue Information, die auftaucht, wird sofort als solche erkannt und führt zu raschen Anpassungsreaktionen aller Beteiligten. Nur wenige Parameter der Entscheidung werden
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Dieser Text basiert auf Teilen der Kapitel 1, 3 und 9 in Hutter (2006).
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variiert, vorzugsweise der Preis, das »optimale Informationskonzentrat« (Heinrich 2001). In jüngerer Zeit ist dieser Teil der traditionellen Modellkonstruktion deutlich weiterentwickelt worden. Modelle mit »asymmetrischer Information« und »Reputationssignalen« sind konstruiert und sogar nobelpreiswürdig geworden (Stiglitz 2000). Die Raffinesse dieser Vorschläge besteht darin, den Auswirkungen kommunikativer Verknüpfung auf die Spur zu kommen, ohne den Boden einer sozialwissenschaftlichen Theorie zu verlassen, deren Grundelemente die Handlungen von Menschen sind. Die Akteure verhalten sich weiterhin rational optimierend, sie haben jetzt aber ein Gedächtnis und die Fähigkeit zum Senden und zum Empfangen von Signalen bekommen. Im Folgenden werden demgegenüber Kommunikationsereignisse als Grundelemente der Theorie verwendet. Die Analyse verlässt den »Boden der Handlungstheorie«.
Eine kommunikationstheoretische Sicht der Medienmärkte Wenn es darum geht, die Entwicklung eines Wirtschaftssektors zu verstehen, dessen Produkte aus Informationsinhalten und ihren Medien bestehen, dann genügt es nicht, Kommunikation als Anomalie am Rande der Theorie zuzulassen. Stattdessen können wir uns einer anderen, in vieler Hinsicht komplementären Theorie bedienen. Diese Theorie ist explizit als Kommunikationstheorie konzipiert. Sie ermöglicht es uns, Operationen, die Information als Inhalt haben, zum zentralen Gegenstand der Beobachtung zu machen. Dabei genügt es, Teile dieser Theorie der »Evolution sozialer Systeme«, auf unseren Untersuchungsgegenstand anzuwenden, und damit der ökonomischen Analyse eine neue Perspektive zu geben. Wie sich die ökonomische und die kommunikationssoziologische Erklärungswelt zueinander verhalten, werden wir klären, wenn wir den ersten Durchlauf einer Beobachtung mit dieser erst in den letzten zwanzig Jahren entstandenen Theorie (Luhmann 1997) hinter uns haben. Ausgangspunkt der hier verwendeten Theorie der Kommunikation ist eine neue Interpretation von Information: Information ist kein Ding, sondern Information besteht aus Unterscheidungen. Sie ist, um die grundlegende Formulierung von Gregory Bateson zu verwenden, »ein Unterschied, der einen Unterschied macht« (Bateson 1942). Eine so genannte »Information« begegnet uns in der Regel als eine lange Kette solcher Unterschiede, wie sie etwa jeder Satz enthält. Sie wird mit einer neuen, ähn28
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lichen Folge von Unterschiedsketten beantwortet. In letzter Konsequenz können alle diese Informationsketten in ja-nein-Unterscheidungen aufgelöst werden. Sie sind dann »digitalisiert«. Die Umwandlung in eine computerlesbare Form verweist auf die fundamentale Struktur von Informationen. Die Information einer »Antwort« besteht nicht darin, einen Informations-»austausch« abzuschließen. Um eine solche Fortsetzung wahrscheinlich zu machen, werden Informationen in bestimmte Mitteilungsformen gekleidet, etwa in Reden, Agenturmeldungen, Photos oder Konzerte. So können sie von den Adressaten leichter erkannt werden – etwa so wie eine Information, die in einem Umschlag steckt, als Brief erkannt wird. In der Welt der Unterhaltungsmitteilungen sind Formate die häufigste Variante, in der Welt der Wissenschaft sind es Aufsätze und Bücher. Es gibt Fälle, in denen Informationen in unerwarteten Mitteilungsformen auftauchen, etwa wenn ein Nachrichtensprecher in einer Comedy Show auftritt. Aber selbst dann kann dieser Effekt Teil der intendierten Kommunikation sein: die Nachrichten sind komisch, weil der Zuschauer weiß, dass sie im falschen Mitteilungs-Umschlag übertragen werden. Theoretisch formuliert: Kommunikation entsteht durch die Unterscheidung von Information und Mitteilung. Diese Unterscheidung wird erfahren als »Verstehen« (Luhmann 1997: 60–78). Informationen werden, einmal in Mitteilungen verpackt, in materielle oder elektronische Trägermedien transformiert. Die Begriffe »Transformation« und »Medien« können nun präzise definiert werden: Medien bestehen aus Elementen, die sich in einem Zustand variierbarer Verbindung (lose Kopplung) befinden. Formen bestehen aus Elementen in einem Zustand nicht variierbarer Verbindung (feste Kopplung) (Luhmann 1997: 190–202). Medien sind demnach etwa die Druckerschwärze, die zu Buchstaben geformt wird. Allerdings sind die Buchstaben wieder Medium, das zu Worten geformt wird, die Worte sind Medium für Satzformen, und so weiter. In ähnlicher Weise werden im Medium der Funkwellen Bild- und Tonaufnahmen in Signale transformiert, die ihrerseits im Medium des Lautsprechers wieder in bestimmte Klänge und Worte transformiert werden. Das Ziel der Medienunternehmen besteht also darin, die Komplementarität von Formen und physischen Medien kommerziell zu nutzen. Sie stellen neue Formen her, die über die technologisch verfügbaren Medien verteilt und verkauft werden können. Man könnte auch eine andere als die physische Medienunterscheidung ins Auge fassen: die Gattungen Literatur, Musik und Bildgestaltung unterscheiden etwa nach den Medien, mit denen Informationen von den menschlichen Wahrnehmungsorganen aufgenommen werden.
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Es ist festzuhalten, dass die so entwickelte Definition der Medien sich von derjenigen unterscheidet, die in der traditionellen medienökonomischen Literatur verwendet wird. Wenn dort von den »Medien« die Rede ist, wird in der Regel auf die handelnden Unternehmen Bezug genommen (Picard 1989). Aus kommunikationstheoretischer Sicht sind Medien die Elemente, in denen Informationsinhalte ausgedrückt, gespeichert und vervielfältigt werden können. Für die Unternehmen bilden physische Medien den peripheren, leichter austauschbaren Bestandteil der Produkte, während die Informationen den zentralen Bestandteil, das Kerngeschäft bilden. Ein Film ist beispielsweise eine Inhaltsform, die sowohl auf Zelluloidrollen als auch auf DVDs gespeichert und transportiert werden kann. Erst eine Kette von physischen Medien, vom Zelluloid bis zur Leinwand oder zum Bildschirm, macht Informationsinhalte oder -formen zum wirtschaftlich relevanten »content«. Deshalb wird im Folgenden auch der Begriff der Informationsmedienprodukte verwendet. Der Medienbegriff kann auch in einer Weise fruchtbar gemacht werden, die die Sphäre der Information nicht verlässt: wenn Mitteilungen mit gleichem Format in regelmäßigen Abständen geschickt und gesendet werden, dann bilden die seriellen Bestandteile des Formats die lose gekoppelten Elemente des Mediums, in die dann die jeweiligen Folgen einer Serie eingeprägt werden. Die Konsequenzen daraus, dass in Medien der Signalübertragung das Medium der Serialität eingebaut wird, sind unabsehbar. Die Serie gibt die Taktung des täglichen Comics oder des wöchentlichen Fernseh-Krimis oder des jährlichen Cornwall-Krimis vor. Im Rahmen der Gesetzmäßigkeiten, die der Leser und Betrachter über die Redundanz der Wiederholungen kennen gelernt hat, ändern und entwickeln sich Figuren, die die Illusion nutzen, ihr fiktives Leben setze sich in der Zeitspanne, die zwischen den Übertragungen liegt, fort. Im Rahmen solcher Gesetzmäßigkeiten werden Parallelwelten weitaus effektiver inszeniert als im Rahmen der Regelwerke, die durch ein einziges musikales, literarisches oder visuelles Werk bei seiner einmaligen oder unregelmäßig wiederholten Aufführung mitgeschaffen werden müssen.
Wie kommt die Neuheit in den Verwender? Wir wenden nun unsere Aufmerksamkeit von den Produkten, die Informationsinhalt und -medium kombinieren, ab und richten sie auf den Vorgang der Informationsaufnahme durch die Individuen. Diejenigen, die an Kommunikation teilnehmen, nehmen Informationen mit ihren Sinnesorganen auf und untersuchen sie auf ihre Bedeutung. Dieser Vorgang ist zum einen kognitiv, d.h. er wird durch das Zentralnervensystem prozes-
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siert. Das Verstehen eines Informationsinhalts findet aber nicht allein als organisch gesteuerter Prozess statt. Gleichzeitig findet ein mentaler Vorgang statt, in dem die einmal wahrgenommene Information verstanden und bewertet wird. Dieser Punkt ist wichtig genug, um noch einmal betont zu werden: Ein Informationsinhalt ist keine Übertragung an einen Empfänger, so, wie ein Container befördert oder ein Brief zugeschickt wird und dann beim Empfänger verbleibt. Vielmehr löst die Information eine Resonanz im Empfänger selbst aus. Die Resonanz führt zur Reproduktion der Information im Informationsbestand des Empfängers, der nun zum Verwender geworden ist. Die Reproduktion ist eine Kopie, die mit den Unterscheidungskategorien erfolgt, über die das Bewusstsein des Verwenders verfügt. Die Unterscheidungskategorien stammen aus früheren Kommunikationen mit anderen Teilnehmern an Kommunikation, etwa an der Interaktion der eigenen Familie, der eines Betriebs oder einer Lifestyle-Szene. Dadurch sind bestimmte Erkennungsmuster vorhanden, in deren weitem Rahmen sich das Verständnis und die Erinnerung an eine Mitteilung und ihren Informationsinhalt vollzieht. Es gibt Fälle, in denen der Verwender den Inhalt exakt wiedergeben kann, etwa, wenn er einen Text abschreibt und als Buch druckt. In anderen Fällen besteht die Reproduktion lediglich in einer vagen Erinnerung, die diesen Text etwa Hermann Hesse zuordnet, und die diese Erinnerung in einem Gespräch wiedergibt. Im Folgenden wird dort vom »Verwender« oder vom »User« die Rede sein, wo in traditionellen Modellen der »Verbraucher« oder »Konsument« auftritt. In beiden Fällen sind die Käufer der Endprodukte gemeint. Aber die Rede von der »Verwendung« hält fest, dass der Käufer das Produkt nicht auflöst, so wie ein Abendessen aufgelöst wird, oder eine physische Dienstleistung wie Haareschneiden erschöpft wird. Der Käufer wendet, im Wortsinne, den gekauften Inhalt selbst an, gleichgültig, ob die Anwendung auf indirekten kommerziellen, oder auf direkten persönlichen Nutzen zielt. Neue Information ist nicht nur andere, bisher nie da gewesene Information. Zu dieser Menge würde auch ein Text gehören, dem zwei Tippfehler hinzugefügt worden sind oder ein Bild, bei dem eine Farbe fehlte. Derjenige, der die Information versteht, erkennt nicht nur die Differenz zum Bekannten, sondern auch den Zusammenhang mit ihm schon bekanntem Wissen. Groys hat das so formuliert: „Das Neue ist nicht bloß das andere, sondern es ist das wertvolle Andere – das als wertvoll genug befunden worden war, um aufbewahrt, erforscht, kommentiert und kritisiert zu werden, um nicht im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden. Die Differenzen, die sich aus dem Fluss der Zeit, aus
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN der ständigen, zeitlichen Verschiebung des Sinns ergeben, bedeuten noch nicht das Neue.“ (Groys 1992:43)
Neuheit erfordert also, dass die Information gleichzeitig als vergleichbar mit vorhandener Information erkannt wird, und als unvergleichbar, weil ein Element des Unterschieds »zum wertvollen Anderen« hinzugefügt worden ist. Dabei ist offen, ob das Verwender-Bewusstsein die andersartige Information als bekannt, neu oder unverständlich einordnet. Die Zuordnung des erkannten Unterschieds als Neuheit erfolgt erst dann, wenn die Verwender die Information beschreibend wiedergeben oder sie sogar wiederholen können. Dann hat die neue Information die Chance, eine zeitlang Bestandteil der Kommunikation zu sein – wie etwa im Fall von Moden – oder gar zu einem festen, kanonischen Bestandteil des Kommunikationssystems zu werden. Neuigkeiten werden von den Verwendern, die »damit etwas anfangen« können, wiederholt. Sie verwenden sie, indem sie in ihrer eigenen Kommunikation Bezug darauf nehmen. Das geschieht am einfachsten durch die Thematisierung in Kommentaren. Weitaus anspruchsvoller ist die Wiederholung des neuen Mitteilungsinhalts. Wirklich fortgesetzt wird eine Neuheit allerdings nur in Werken, die zwar auf den früher einmal neuen Inhalt Bezug nehmen, gleichwohl aber ihrerseits neue Unterscheidungen platzieren. Beispielsweise zitiert ein TV-Serien-Autor wie Josh Weeldon in BUFFY – THE VAMPIRE SLAYER die Werke von Filmregisseuren wie Quentin Tarantino und Howard Hawks, erfindet aber seinerseits völlig neue Handlungsstränge und Darstellungsweisen. Derartige Inhalte werden dann von Teenagern und von Feuilletonkritikern in ihren eigenen Äußerungen kommentierend und wertend verwendet. Die Neuheit oder Neuigkeit wird, je nach ihrer Mitteilungsform, unterschiedlich zu einem Inhalt komponiert. Informationsinhalte zu aktuellen Ereignissen in der natürlichen oder gesellschaftlichen Umwelt heißen Nachrichten (oder news). Informationsinhalte, die ihren eigenen Unterschied durch den Aufbau von Spannung und Komik erzeugen, sind beispielsweise Krimis, Fußballspiele und game-shows. Sachbücher und Dokumentarfilme sind Inhalte, die eine neue Erkenntnis oder neues, überprüftes Wissen mitteilen. In jedem Fall ist Neuheit das entscheidende Wertungskriterium für das Interesse der Verwender. Wie kommen die Verwender zu einer Einschätzung der vielen Informationen, die sie täglich erreichen? Neue Information bedeutet Vorteile im Kampf mit der Konkurrenz, gleichgültig in welchem Bereich. Außerdem füllt sie Zeit wirkungsvoll, weil Neugier befriedigt wird. Damit sind zwei Gründe genannt, die Menschen dazu bringen, einen Großteil der täglichen Aufmerksamkeit auf das Aufnehmen und Bearbeiten von Infor-
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mationen zu richten (Franck 1998). Mitteilungen werden regelrecht abgesucht nach Unterschieden, die die vorhandenen Erwartungen bestätigen, von ihnen abweichen und sie vielleicht sogar verändern. Bei komplexen Informationen, etwa einem Spielfilm wie FROM DUSK TILL DAWN, bleibt auch bei einer Wiederholung noch genug Unbemerktes, das dann für den Verwender neu ist. Er kann seine Entdeckung dann, um beim Beispiel zu bleiben, professionell in einer Filmkritik verwerten oder er kann seine an Tarantino interessierten Freunde darauf hinweisen.
2 . D i e S pi r a l e d e r W e rt s c h ö pf u n g Die Herausforderung für die Medienökonomik liegt also darin, Neuheit in der Medienwirtschaft angemessen zu modellieren. Die Wertschöpfung in der Medienwirtschaft wird, wie in anderen Sektoren der Wirtschaft, in eine Abfolge von Phasen untergliedert (Zerdick et al. 1999; Wirtz 2005). Auf dem Weg vom Rohstoff zum verpackten Produkt am point of sale lässt sich der zunehmende Marktwert der Content-Produkte beobachten. Der Verlauf der Wertschöpfung passiert nämlich Schnittstellen, an denen die Verfügung über die entstehenden Produkte den Besitzer wechselt. Durch die gleichzeitige Zahlung wird der in der vorhergehenden Phase geschöpfte »Mehrwert« markiert. Im Fall der Informationsgüter unterscheiden wir vier Phasen der Wertschöpfung. Phase 1: Inhalten erfinden und darstellen Phase 2: Inhalte herstellen Phase 3: Inhalte verteilen Phase 4: Inhalte verwenden Entsprechend lassen sich im Verlauf der Wertschöpfung Urheber, Hersteller und Verteiler unterscheiden, bis der Verkauf an die Verwender ihren monetären Endwert offenlegt. Dazu kommen zwei weitere wertschöpfende Aktivitäten, die nicht in das Phasenschema passen, weil sie gleichzeitig damit auftreten. Die erste davon besteht darin, Inhalte zu bewerben. Die Wirkung der Werbebotschaften entsteht gerade aus der simultanen Kopplung mit Inhalten, die neu genug sind, um verlässlich Aufmerksamkeit zu finden. Auch die Werbeinhalte sind über eine Marktschnittstelle mit der Wertschöpfungskette verbunden. In manchen Fällen, etwa bei Zeitschriften, bündeln schon die Hersteller die beiden Inhaltetypen, in anderen Fällen, etwa bei Free-TV-Programmen, sorgen erst die Verteiler für die Kombination. Beide, die Inhaltehersteller und die Inhalteverteiler, agieren nicht nur als Anbieter, sondern auch als Nachfrager von Werbung. Die Medi-
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enbranche ist in den meisten Industrieländern führend beim Volumen der Werbeausgaben. Die zweite Aktivität besteht im technischen Vorgang des Kopierens und Übertragens der Originalwerke. Über Maschinen und Sender werden die Unterscheidungen des Originals vervielfältigt oder in eine Form gebracht, der den »Empfang« über viele Geräte ermöglicht. Diese Leistungen werden von den Verteilern der Informationsinhalte dazugekauft. Sie betreffen die Kanäle, nicht die Inhalte der Information. Sie spielten bis vor kurzem im Verlagssektor, dessen Druck- und Vertriebsverfahren über lange Zeit relativ stabil geblieben waren, keine besondere Rolle. In allen anderen Medien haben die neuen Möglichkeiten, die ihrerseits auf neuen Erkenntnissen in den kommunikationsrelevanten Technologien basieren, zu umfangreichen Märkten für neue Leistungen geführt.
Abb. 1: Die Spirale der Wertschöpfung durch neue Inhalte
Abbildung 1 ist der Versuch, die Abfolge der vier Phasen, die zwei Kopplungen und die Schnittstellen zwischen den Phasen und Kopplungen grafisch darzustellen. Die Schnittstellen oder »Arenen«, in denen der Wert der Inhalte bestimmt wird, bevor diese dann weiterbehandelt oder – verwendet werden, sind in der Grafik durch konzentrische Formen symbolisiert. Fünf dieser Arenen sind als Märkte organisiert. Das sind die Ovale, in denen diejenigen im Publikum der Arena, die die angebotenen Güter oder Lei(s)tungen bekommen wollen, denen, die sie im Spielfeld der Arena anbieten, Geld dafür zahlen. Die sechste, wegen ihrer An-
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dersartigkeit als abgerundetes Rechteck oder »Stadion« symbolisiert. Die Gemeinsamkeit der Marktarenen entsteht durch die Wertung mit dem selben Medium, nämlich »Bankgeld«. Die sechste Arena, die zwischen der Verwendung und der Neuerfindung von Inhalten, ist nicht als Wettbewerb um Geldmittel, sondern als Wettbewerb um »Qualität« organisiert. In dieser Arena wird die Wertschöpfungskette zur Wertschöpfungsspirale. Deshalb werden wir uns mit dieser sechsten Arena genauer befassen.
3 . W e t t be w e r b i n » Q ua l i t ä t s a re ne n« Von der Kette zur Spirale Wenn Zeitungen gelesen, CDs angehört, Filme angesehen und virtuelle Drachen erschlagen sind, dann verschwinden sie nicht aus dem Kreislauf der Ressourcen. Sie werden erwähnt, zitiert und besprochen. Sie bleiben Information und bilden die Voraussetzung für weitere Informationsinhalte. Die Zeitung von morgen bezieht sich auf die Zeitung von gestern, die Hits von heute verwenden die Tonerfindungen des vergangenen Jahres, und die Spielesoftware wird durch eine neue Version erweitert. Solche Folgekommunikationen finden nicht irgendwo statt. Wäre das der Fall, dann müssten wir tatsächlich annehmen, dass Neuheiten entweder völlig zufällig auftauchen oder im unergründlichen Genie einiger Individuen entstehen, die daraufhin als Urheber identifizierbar sind. Tatsächlich finden wir historisch gewachsene institutionelle Formen von Öffentlichkeit, in denen ständiger Wettbewerb um die bessere Wertung der Inhalte, die zur Selektion vorgeschlagen werden, herrscht. Bis zur Verbreitung von Büchern war die physische Anwesenheit des Publikums bei solchen Wettbewerben eine notwendige Voraussetzung. Mit dem Medium des Buches, vor allem aber mit dem Medium der Zeitung, gelang es, Arenen zu konstituieren, die nur mehr das Lesen der Werke voraussetzen. In den audiovisuellen Medien haben sich neben den Arenen für Musik-, Tanz- und Opernaufführungen neue, über Radio und Fernsehen verknüpfte Arenen für Musikeinspielungen und Filmproduktionen gebildet. Diese virtuellen Arenen sind heute die vorherrschende Form von Öffentlichkeit. Sie werden nur noch ergänzt durch physische Arenen, in denen sich die Zuschauer von der biologischen Existenz der Akteure und der Authentizität der Leistung überzeugen können. Seit der Aufführung im Internet hat die Arenenbildung eine neue Dimension gewonnen. Jetzt können die Zuschauer sowohl in Echtzeit wie auch zeit-
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versetzt auf Inhalte reagieren, ohne bei deren Aufführung physisch anwesend zu sein. In diesen Arenen treffen die späteren Urheber von scripts and skills auf Verwender, die ihre Bewertungen zur Qualität von Inhalten, seien sie hörbar, sichtbar oder lesbar, abgeben. Genau genommen sind die Urheber ehemalige Verwender, die aus den Neuheiten früherer Urheber eigene Neuheiten schufen. Die Arenen, in denen Verwender und Urheber aufeinander treffen, bilden im Entstehungsprozess von Inhalten eine weitere Schnittstelle, an der Wertung stattfindet. Die Arenen haben einige Ähnlichkeiten mit Märkten, in denen ständiger Wettbewerb um monetäre Wertung herrscht. Wir werden auf diese Ähnlichkeiten unten zurückkommen. Aber dennoch ist die Wertung von Qualität nicht als Markt organisiert, wie im Fall der fünf Schnittstellen, die wir in den vorhergehenden Abschnitten angesprochen haben. Die »sechste Schnittstelle« ist kein weiteres Glied in einer linear verlaufenden Wertschöpfungskette, denn in den entsprechenden Arenen taucht eine Gruppe von Akteuren, die Urheber, zum zweiten Mal auf. Während sie beim ersten Mal, in den scripts and skills-Märkten, auf der Anbieterseite der Schnittstelle waren, sind sie beim zweiten Mal, in den Arenen, diejenigen, die die Wertung des Publikums nachfragen. Die Zuordnung der Akteure scheint zirkulär, wäre da nicht die Dimension der Zeit: in den Arenen treffen die Verwender der gegenwärtigen Periode auf die Urheber der Folgeperiode. Ein probates Verfahren, um die zeitliche Abfolge gleicher Konfigurationen visuell darzustellen, verwendet die Figur der Spirale: Aus der Kreisform wird, durch Hinzufügen einer dritten räumlichen Dimension, die den Fortgang der Zeit repräsentiert, eine Spirale. Diese Darstellungsform ist in Abb. 1 verwendet worden. Eine weitere Dimension wäre nötig, um die Verbreitung eines Originalinhalts in seiner Öffentlichkeit darzustellen: die Verbreitung läuft als kreisförmige Welle nach außen, während im Zentrum der Arena schon der nächste Inhalt aufgeführt wird. Dessen Wirkungswelle folgt dann ihrer Vorgängerin wie ein einbeschriebener Kreis. Aber wir werden auf eine nähere Untersuchung von Verbreitungsprozessen verzichten. Es genügt, wenn wir ein genaueres Verständnis des Aufbaus von und des Ablaufs in Qualitätsarenen erreichen.
Struktur und Prozess der Arenen Qualitätsarenen bekommen ihren Namen von Spielarenen, die seit der Antike gebaut worden sind: rund um das Spielfeld, in der Regel geformt
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als sandbedeckter Kreis oder als Rechteck, befindet sich eine weitere abgeschlossene Form, häufig als Kreis oder Oval gestaltet, in der sich die Zuschauer aufhalten. Der konkrete Ort heißt dann Colosseum, später Hollywood Bowl oder Allianz-Arena. Die Struktur aus Wettbewerbsfeld und umgebendem Publikumsfeld bleibt immer die gleiche. Sie bleibt auch dann gleich, wenn die Wertungsprozesse keinen physischen Ort haben, sondern in einer virtuellen Öffentlichkeit ablaufen. Die technische Möglichkeit, nicht nur Kopien von Texten, sondern auch Kopien von Aufführungen zu verbreiten, die auf Bühnen oder in Studios stattgefunden haben, hat die Dichte und Ausdehnung von Öffentlichkeiten gewaltig wachsen lassen. Gerade wenn der Kreis der gesamten Öffentlichkeit sehr groß ist, muss eine Arena mit Publikum geschaffen werden, in der der eigentliche Wettbewerb stattfindet. Tatsächliche, einmalige Events wie Konzerte oder Erstausstrahlungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Die Arenen sind vielschichtiger, sie setzen sich aus einer Serie von Events zusammen, an denen die wichtigsten Akteure auf Seiten der Urheber, Experten und Produzenten teilnehmen, gefolgt von Meldungen in den Printmedien, die überhaupt erst bei ihren Lesern das Bild des Wettbewerbs der Urheber und der Inhalte um Ränge in Hitparaden oder um Vergleichbarkeit mit klassischen Referenzwerken entstehen lassen. Obwohl in virtuellen Arenen die klare Grenze fehlt, so wird doch meistens ziemlich genau zwischen Teilnehmern am Publikum und Teilnehmern einer breiteren Öffentlichkeit unterschieden. Der Prozess des Wertens in einer Qualitätsarena weist drei konstituierende Merkmale auf: 1. In der Aufführung findet ein Wettkampf oder Wettbewerb statt. Der Wettkampf wird nicht durch eine Regel für Sieg oder Niederlage entschieden, sondern durch eine Wertung des Publikums. Die Reaktionen der Zuschauer entscheiden, welcher Inhalt im Wettbewerb vergleichbarer Aufführungsinhalte »gewinnt«. Sie erreichen solche Entscheidungen nicht allein durch eine spezifische kommunikative Interaktion, bei der sie ein Urteil über das Werk ausdrücken. Wir werden darauf im nächsten Abschnitt näher eingehen. 2. Durch eine Abfolge von Wettkämpfen kann eine Rangfolge der aufgeführten Inhalte ermittelt werden. Bei Wettbewerben stehen Aufführungen miteinander in Konkurrenz, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben, und die vom Publikum durch seine Wertungsäußerungen verglichen und dadurch in eine Rangfolge gebracht werden. 3. Im Verlauf einer Aufführung bleibt die Grenze zwischen Zuschauern und Aufführenden gewahrt, auch wenn die Wertungsinformationen der zuschauenden »Verwender« die aufführenden »Urheber« errei-
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chen. Im Verlauf einer Folge von Aufführungen können aber die Zuschauer auf die Seite der Aufführenden kreuzen, und Aufführende kehren auf die Seite der Zuschauer zurück. Ebenso verlassen Zuschauer im Verlauf der Zeit ihren Platz im physischen oder virtuellen Publikum, und neue Verwender beteiligen sich am Wertungsprozess in einer Arena. Die grundlegende Bedeutung der Entstehung derartiger Arenen muss hervorgehoben werden. Dort werden notwendige Voraussetzungen für gesellschaftliche Entwicklung geschaffen. In stationären Gesellschaften war die Kontingenz zukünftiger Ereignisse allein durch die Naturgewalten und durch feindliche Aggression gegeben. Durch Wettkämpfe und Wettbewerbe wird ein größerer Horizont der Zukunftsgestaltung aufgespannt. Der Horizont ist nicht mehr draußen, bestimmt durch äußere Kräfte, sondern innerhalb der Gesellschaft, bestimmt durch die Fähigkeit, derartige Wettkämpfe zu inszenieren und zu werten (Huizinga [1939] 1987).
Die Wertung in Arenen Die Entscheidung darüber, wer Sieger wird, folgt bei Sportereignissen vorgegebenen, objektiv messbaren Regeln. Bei Ereignissen, in denen Inhalte aufgeführt werden, fehlt diese Eindeutigkeit. Dennoch ist die Eigenart oder »Qualität« der Wertungen durch das Publikum über verschiedene Aufführungen hinweg stabil genug, um Rangfolgen zu erstellen. Wir werden im Folgenden diese Wertung, die offenbar anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als die Wertung über Geldzahlungen, genauer untersuchen. Wertung beruht auf Vergleich. Zwei Ereignisse oder Werke werden miteinander verglichen und dann hierarchisch geordnet. Das eine Ereignis oder Werk ist in irgendeinem Sinn »besser« als das andere, ist ihm also übergeordnet. Was sind nun die »Qualitäten«, die den Unterschied zwischen zwei Werken ausmachen? Die Qualitäten eines Inhalts müssen im Inhalt selbst festgemacht werden können. Nur so können Aufführungen anhand ihrer Inhalte, nicht anhand der äußeren Umstände, unter denen sie stattfinden, verglichen werden. Das bedeutet, dass innerhalb einer Gemeinschaft, in der ein bestimmter Inhalt – eine Klaviersonate oder ein Breakdance oder ein Leitartikel – ein Vergleichsmaßstab entsteht, der sich allein auf Verweise zwischen Inhalten des gleichen Stils stützt. Der Stil fungiert dabei als Medium: aus lose gekoppelten Klang-, Choreographie- oder Rhetorikele-
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menten werden die konkreten Inhalte geformt, die dann – in einer Kommunikation über Kommunikation – miteinander verglichen und in eine Rangordnung gebracht werden. Insofern können die Wertungen anderer beobachtet werden, sie können verstanden und selbst ausgeführt werden, ohne dass es notwendig wäre, die dabei eingesetzten Maßstäbe verbindlich zu benennen. Besonders beobachtet werden die Wertungen sogenannter »Experten«. Experten sind Teilnehmer am Publikum, deren Urteil besonderes Gewicht hat. Die Experten erreichen ihre Position durch zutreffende Aussagen über Ähnlichkeiten von Kriterien und Vorhersagen von Wertungsentwicklungen: sie können beispielsweise überzeugend begründen, warum der neue Roman eines jungen Autors »besser« ist als bestimmte bereits geschriebene Romane und deshalb Teil einer literarischen Tradition werden wird. Sie sind regelmäßig in den ersten Reihen der ersten Aufführungen der wichtigsten physischen Arenen, so dass sie mit den Aufführenden und ihren Agenten interagieren können, und sie sind in der Lage, ihre von den periodischen Medien verteilten Wertungen so zu artikulieren, dass sie auch von den Teilnehmern der interessierten Öffentlichkeit verstanden werden, die nicht beim Wettbewerb anwesend waren. Erwartungsgemäß bemühen sich die Experten, durch geeignete Interventionen die selbsterfüllende Kraft ihrer Vorhersagen zu unterstützen. Die Experten einer bestimmten Kultur- oder Medienszene bewerten »Qualitäten«, die ein Werk in höherem Maß aufweist als ein anderes. Qualitäten werden zwar gelegentlich, wiederum von den Experten, durch benennbare Kriterien umschrieben, etwa wenn ein Kritiker den »geschmeidigen Ton« eines Symphonieorchesters lobt, aber solche Kriterien wechseln mit den Werken und sind außerdem in einer Metaphorik verfasst, die genug Raum für fallbezogene Interpretationen erlaubt. Eigentlich täuschen die Kriterien eine Definierbarkeit vor, die nicht gegeben ist: eine Wertung muss von dem, der sie beobachtet, nachvollzogen werden. Dabei kann man sich nicht auf Merkmale verlassen, die von anderen Beobachtern geäußert wurden. Deshalb bleibt nichts anderes als vage von einer »Eigenqualität« zu sprechen, wenn von Werten, die in einer Qualitätsarena entstanden sind, die Rede ist. Die Eigenqualitäten, die in Wertungsarenen entstehen, sind für diejenigen, die die Qualitäten in der Verwendung der Inhalte erleben, also die Teilnehmer des jeweiligen Publikums, nicht einfach eine weitere Ware oder eine Dienstleistung, die so vollständig verschwindet wie eine Massage. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten ist identitätsstiftend. Dieser Zusammenhang gilt weit über die Medienwirtschaft hinaus. Familien, die sich über Generationen hinweg beobachten, weisen historisch stabile Wertungen auf, die expliziter Bestandteil der familiären Erzie-
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hung werden. Erst durch den Bezug auf diese ihr eigenen Wertungen versteht sich eine Familiengemeinschaft, eine Wissenschaftsdisziplin oder eine Kunstszene als Einheit. Immer sind es solche Wertungen, die excellence oder Außergewöhnlichkeit erfassen, und die einer Gruppe oder einem verstreuten Publikum den Eindruck und damit das Gefühl einer Einheit verschaffen. Um überhaupt in den Wertungskategorien der Arena einer bestimmten physischen oder durch Medien vermittelten Öffentlichkeit aufzutauchen, muss ein Werk bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllen, die zeitlicher, sachlicher und sozialer Art sind: 1. Die Werke sind zeitlicher Bestandteil einer historischen Werktradition. Die Werktradition liefert den Referenzmaßstab, mittels dessen Abweichungen registriert werden. 2. Die Werke erfüllen sachliche Kriterien der Exzellenz im Umgang mit (a) dem technischen Medium, etwa einer Geige oder einer Fotografie, (b) ihrem unmittelbaren sinnlichen Ausdruck, etwa im Gesang oder im Wortgebrauch, und (c) mit den spezifischen Beschränkungen des Formats, etwa dem des Trickfilms oder dem der Opernaufführung. 3. Die Werke erreichen die soziale Wertschätzung eines Publikums, das sich bereits eine Reputation für die Qualität des eigenen Urteils erworben hat. Nur wenn ein neues Werk alle drei Dimensionen zufrieden stellend erfüllt, hat es eine Chance, Sieger im Wettbewerb einer Wertungsarena zu werden. Die Kombination von Traditionsbezug, Virtuosität und Ausdruckskraft, die das Werk erzeugt, macht seine Wirkung aus. Eindeutige Bedingungen für Sieg und Niederlage sind allerdings nur bei sportlichen Wettkämpfen gegeben. Bei Content-Wettbewerben mit breiter und langdauernder Beteiligung tritt an die Stelle dieser harten Unterscheidung die weichere, aber dennoch real beobachtbare Unterscheidung zwischen Werken (und ihren Urhebern), die zur »A-List«, und denjenigen, die zur »B-List« gehören (Caves 2000). Auch zur Art und Weise der Wertung in einer Arena lässt sich Genaueres sagen. In einer physischen Arena zählt erst einmal der Applaus, also die unmittelbaren Beifalls- und Zustimmungsäußerungen der Anwesenden. Die Unmittelbarkeit, mit der das Publikum sein Gefühl der Anerkennung oder der Ablehnung zum Ausdruck bringt, gibt dem Applaus Glaubwürdigkeit. Die zweite Wertungsform, bei der verbal ein Urteil geäußert wird, wird von denjenigen, die es beobachten, bereits mit der Wertungsreputation der Urteilenden gewichtet. Solche Wertungen sind heute in der Regel verschriftlicht und erscheinen in Zeitungen und Zeit-
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schriften, oder sie werden in Radio- und Fernsehkritiksendungen aufgeführt und so für die Zuhörer beobachtbar. Virtuelle Arenen haben die Eigenart, dass sie nie öffnen oder schließen. Wertungen zu Medieninhalten werden ständig gefällt. Die Wertung dieses ständig vorhandenen Publikums wird routinisiert durch Geschmacksurteile, die auf die Inhalte eines bestimmten Wettbewerbs – etwa der Filmszene, oder der Szene für Barockmusik, oder der Szene für Manga-Comics-Hefte – angewendet werden. Geschmack bietet stabile Routinen der Über- und Unterordnung, die sich durch wiederholte Verwendung einschleifen. Die Wiederholungen führen zu bestimmten Regeln der Aufführungspraxis (state of the art) und zu Routinen des Geschmacksurteils, die von Urhebern, Experten und allen übrigen Verwendern mit unterschiedlichen Graden der Virtuosität eingesetzt werden. Auf der Basis dieser Präzisierungen sind die Merkmale der »sechsten Schnittstelle« jetzt besser erkennbar. Die Verwender, geordnet nach ihrer eigenen Wertungsreputation, werten als unmittelbares Publikum, oder sie beobachten die Reaktionen des Publikums und der Experten von außen. Die Urheber führen ihre Inhalte in der Arena vor, entweder in unmittelbarer Konkurrenz, wie zwischen den Gemälden des traditionellen Pariser Kunstsalons, oder in mittelbarer Konkurrenz, wie zwischen den Konzerten von Country-Music-Bands, die von ihrem Publikum verglichen werden (Negus 1999). Die Urheber brauchen die Wertung des Publikums, sonst fehlt ihnen der Vergleichsmaßstab. Das Erlebnis, etwas über die Wertung der eigenen Fähigkeiten und Werke zu erfahren, ist attraktiv genug, um immer wieder Verwender zu Urhebern werden zu lassen. In einer Gesellschaft, die dauernd neue Information zur Verarbeitung braucht, ist die Fähigkeit bestimmter Akteure, verlässlich neue Werke hoher »Qualität« erzeugen zu können, sehr geschätzt. Die Werke, die dann später auf den Beschaffungsmärkten als scripts oder skills auftauchen, sind zuvor in den Wettbewerben der Arenen erprobt und hervorgehoben worden. Die Wirkung der Qualitätsurteile durch die Verwender reicht übrigens in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit. Das liegt daran, dass einerseits die Urheber auf dem Hintergrund des Experten- und Publikumsurteils ihre eigenen zukünftigen Inhalte selektieren und koppeln, und dass andererseits die Verwender ihre Erfahrung aus den Qualitätsarenen mit dem Kauf von Produkten koppeln, die dazu passen, die aber schon in der Vergangenheit entstanden sein müssen.
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Märkte als Wertungsarenen Wertungen tauchen in allen Bereichen der Gesellschaft auf. Die Gesellschaft ist voll von Öffentlichkeiten, in denen wirtschaftliche, politische, rechtliche oder wissenschaftliche Leistungen gewertet werden. In all diesen Öffentlichkeiten operieren Arenen. Können dann auch Marktplätze als Wertungsarenen interpretiert werden? Anders gefragt: worin liegt der Unterschied zwischen einer Qualitätsarena für Country-Music-Aufführungen und dem Produktmarkt für Country-Music-CDs? Der Unterschied liegt in den grundlegend verschiedenen Funktionen des gesellschaftlichen Überlebens, die die beiden Arenen erfüllen. In den Qualitätsarenen geht es um Ausdrucksformen. Alte Inhalte werden wiederholt, neue werden ausprobiert. Im Publikum wird darüber kommuniziert, welche Formen verstanden werden, welche mit Bedeutung aufgeladen werden können und welche nicht mehr als angemessener Ausdruck wahrgenommen werden. Im ständigen Spiel mit der Unterscheidung zwischen der Form des Inhalts und dessen Medium entstehen neue Formerfindungen. Formerfindung, also der Ausdruck selbst, erhält einen Eigenwert. Der ist am deutlichsten ausgeprägt und artikuliert in den Arenen der Kunstgattungen. Aber die gleiche Verhaltenskompetenz der Ausdruckswertung wird in jeder Arena erwartet, in der Lebensäußerungen durch Beobachtung, Wiederholung, Kommentierung, Karikierung oder irgendeine andere Methode »künstlich« gemacht werden. Das gilt für den gesamten Bereich der sogenannten »Kulturaktivitäten«, einschließlich der Arenen der Medienformate. In einem sehr weiten, aber durchaus zwingenden Sinn operieren auch die oberflächlichsten reality-show-Formate mit künstlerischen Mitteln. Hier wie dort wird die »Ausdrucksinformation« des aufgeführten Werkes geliefert und die »Eindrucksinformation« der Publikumswertung nachgefragt. Wirtschaft ist eine besondere Form der Kommunikation, die einer Gesellschaft dabei hilft ihr Problem der Versorgung mit natürlichen und künstlichen Gütern zu lösen. Wann immer die Menge des erwünschten Zugriffs auf eine Ressource oder eine Leistung größer ist als die vorhandene Menge, liefern Märkte Knappheitssignale, die die Zuteilung der Güter an diejenigen, die sie am höchsten bewerten, koordinieren. In der Arena eines Marktes ist der Wettbewerb so organisiert, dass dem Publikum der Käufer die Verkäufer im Spielfeld des Wettbewerbs gegenüberstehen. Die Wertung erfolgt nicht mehr durch Klatschen oder durch Qualitätsurteile, sondern ausschließlich durch das hochspezifische, in einem mehrstufigen Bankennetzwerk abgesicherte Medium des Geldes. Die Knappheit der Geldmittel, im Markttausch angewandt auf die Knappheit der Güter, repräsentiert den »Eigenwert« der Sachen oder Inhalte, die im
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Markt zum Gegenstand des Tausches werden. Der Geldwert ist derjenige Wert, der die besondere Qualität gekaufter Güter ausmacht und sie dadurch vom Rest der Kommunikation unterscheidet. So, wie die Wertung durch Qualitätsurteile in den Kunst- und Medienarenen die einzig akzeptierte Wertung ist, so ist in den Wettbewerbsarenen der Märkte die Geldzahlung die einzig akzeptierte und sinnvolle Wertung. Wirtschaft ist demnach eine besondere Form der Kommunikation, die einer Gesellschaft dabei hilft, ihr Problem der Versorgung mit natürlichen und künstlichen Gütern zu lösen. Sie ist eine besondere, in langer zivilisatorischer Evolution entstandene Öffentlichkeit, in der es gelingt, derartige Wertungen zu etablieren und dadurch dafür zu sorgen, dass über die Kaufkraft, also die Verteilung der Geldmittel, die Verteilung der vorhandenen Güter und ihrer Verwendungsmöglichkeiten gesteuert wird. Qualitätsarenen und Marktarenen sind beide Wertungsarenen. Sie konstituieren Öffentlichkeiten, die sich gegenüber dem Rest der Gesellschaft ausgrenzen, um bestimmte Problemlagen präziser kommunizieren zu können. Aber der innere Zirkel, die Wechselwirkung zwischen den beiden Seiten der Binnenunterscheidung, ist deutlich unterschieden. Im Fall der Kunst- und Medienarenen erfolgt der Austausch der Wertungen als sich abwechselnde Interaktion. Im Fall der Marktarenen wird die Wertschätzung durch den konkreten Tausch von Verfügungsrechten in die eine und Geldwerteinheiten in die andere Richtung vollzogen. Daraus resultiert die Oszillation zwischen marktmäßiger und kultureller Wertung, die die Wertschöpfung insbesondere der Medienwirtschaft vorantreibt. Wenn Märkte als alternative Wertungsarenen interpretiert werden, dann ist auch verständlich, warum es methodisch schwierig ist, beide Wertungsprozesse gleichzeitig zu verfolgen. Das Geschehen in Qualitätsarenen wird massiv verändert, wenn die Werke, die in ihnen konkurrieren, über ihre Kopien auch Gegenstand von Markttransaktionen werden. Das »äußere Publikum«, das ansonsten nur passiv über die jeweiligen Gewinner der Geschmackskonkurrenzen informiert wird, kann nun seine eigenen Signale zur Wertung beitragen. Die Anzahl der verkauften Kopien teilt etwas mit über die Wertschätzung durch die vielen Amateurexperten, die nicht über das Forum eines Zeitungsfeuilletons verfügen. Sicherlich sind deren Kaufentscheidungen vorgeprägt von den Experten des »inneren Publikums«, aber im Verlauf von Wochen und Monaten werden Urteile über meist mündliche Netzwerke ausgetauscht. Word of mouth oder Mundpropaganda gilt immer noch als eine der wirksamsten Techniken der Verbreitung von Werturteilen in großen Öffentlichkeiten. Die so gebildeten Meinungen über Romane, Fernsehserien oder Stra-
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tegiespiele können dann Wellen an Kaufentscheidungen auslösen, die die interne Wertung der jeweiligen Qualitätsarenen massiv irritieren.
Zusammenfassung Wenn Neuheit und ihre Wirkungen in der Medienwirtschaft zum Fokus der Beobachtung wird, dann geraten die hier eher skizzenhaft dargestellten Strukturen und Prozesse ins Blickfeld. Neuheit umfasst dabei alle Dimensionen der Kommunikation (Luhmann 1997), wird also nicht nur sachlich – als ein identifizierbarer Unterschied – interpretiert, sondern auch zeitlich – als Unterschied in einem späteren Ereignis – und sozial – als Unterschied für ein Bewusstsein, das eine Neuigkeit versteht und von ihrer Neuheit überrascht wird. In Teil 1 wurde die kommunikations- oder unterscheidungstheoretische Konstruktion erst einmal grundsätzlich entwickelt. Die Betonung lag auf dem individuellen Prozess des Verstehens von Neuheit, und auf den sachlichen Varianten von neuen Inhalten, die in Medien gefasst und an Öffentlichkeiten verteilt werden, sei es in privater, kommerzieller oder staatlich veranlasster Organisation. In Teil 2 traten die soziale und die zeitliche Dimension in den Vordergrund. In den hochgradig differenzierten Prozessen kommerziell produzierter Inhalte lässt sich eine Abfolge informationsgestaltender Gruppen identifizieren. Informationsgestaltung heißt dabei für alle Selektion und Kopplung von Informationsunterschieden. Hersteller kombinieren selektierte scripts and skills, Verteiler kombinieren selektierte Originale, Verwender sammeln selektierte Produkte und Ereignisse, und Urheber kombinieren Stilelemente, die sie aus dem Werk früherer Urheber ausgewählt haben. Diese Wertschöpfungsabfolge findet nicht zeitlos, sondern in historischer, irreversibler Zeit statt. Sie folgt einem Muster, das nicht linear und nicht zyklisch, sondern spiralförmig ist. Die Urheber schöpfen neue Inhalte an der Schnittstelle der Kommunikation mit anderen Urhebern und Verwendern und setzen so in immer gleicher Weise immer neue Wertschöpfungssequenzen in Gang. Die Unterschiedseigenschaft der Information hat durch die Kopplungen an Werbung und an Technik die erfolgreiche Kommerzialisierung von aktuellen, spannenden und lehrreichen Inhalten überhaupt erst ermöglicht. Zum einen kann Information, die für große Öffentlichkeiten wertvoll ist, an Informationsformate gekoppelt werden, die für private Unternehmen wertvoll sind. Werbung, die den zukünftigen Kauf bestimmter Produkte zum Ziel hat, finanziert die Herstellung und die Ver-
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teilung von Inhalten. Gleichzeitig ermöglicht sie es den Inhalteverteilern überhaupt erst, Öffentlichkeiten auf noch unbekannte neue Inhalte vorzubereiten. Zum zweiten hängt die Verbreitung von Informationsinhalten entscheidend davon ab, mit welchen Medienkanälen sie gekoppelt werden können. Die technologische Entwicklung von den dinglichen Trägermedien über die Nutzung von elektromagnetischen Wellen bis zur Umformung in elektronische Impulse hat die weltweite Expansion der Medienwirtschaft zuerst ermöglicht und dann die Produkte so billig gemacht, dass Verwender aller Alters- und Gesellschaftsgruppen dafür bezahlen können. Teil 3 geht auf eine spezifische Phase der Neuheitsspirale ein: während die kommerzielle Wertschöpfung sich der Geldbewertung in Märkten bedient, findet die wertende Interaktion zwischen Verwendern und Urhebern in anderen Arenen statt. Dort wird Wertung durch Qualitätsurteile ausgedrückt. Die genauere Beobachtung der Interaktion zwischen den auftretenden Wettbewerbern und ihrem Publikum zeigt, dass auch Märkte den Charakter von Arenen haben, allerdings mit einem an anderen Zielen orientierten Wertungsmedium. Erst die Kombination der Wertung in kommerziellen und in kulturellen Arenen hat die Entwicklung und das Wachstum der Medienwirtschaft ermöglicht.
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N ETZBILDUNG DURCH ANTAGONISTISCHES H ANDELN BIETET DIE ÖKONOMIE EIN MODELL FÜR EIN VERSTÄNDNIS DER MEDIEN? HARTMUT WINKLER 1 . I nt r o Unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, ist eine faszinierende, eine schillernde, eine bewunderungswürdige Maschine. Er hat sich nicht nur als vitaler erwiesen, als die marxistische Prognose jemals gedacht hätte, sein prognostiziertes Ende überlebt und nahezu alle seine historischen Alternativen zur Seite gedrängt, er hat es auch verstanden, sich eine Massenloyalität zu sichern, die, zumindest wenn man die westlichen Industriegesellschaften betrachtet, auch Phasen eines längeren wirtschaftlichen Niedergangs übersteht. Der folgende Text will dieser Vitalität nachforschen. Und die zentrale These ist einigermaßen schlicht. Ich möchte zeigen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem seine Vitalität daraus bezieht, dass es antagonistische Handlungsrollen miteinander verknüpft. Ich möchte ein Netzwerk zeigen, das gerade nicht von einem Modell der freundlichen Kontaktaufnahme ausgeht, von ›Kommunikation‹ als Relationierung, oder vom Modell einer vernetzenden Infrastruktur, sondern das den Konflikt, den Widerspruch einander widerstrebender Interessen zu seiner Grundlage macht. Es scheint mir eine andere Logik der Vernetzung zu sein, die sich hier abzeichnet. In einem zweiten Schritt will ich dann fragen, was dies außerhalb ökonomischer Fragestellungen für eine Theorie der Medien bedeutet. Wenn mir der vorgeschlagene Weg vielversprechend erscheint, dann, weil die meisten Medientheorien anders ansetzen. ›Kommunikation‹ und Vernetzung werden fast durchgängig als friedfertig modelliert. »Communication theory«, schreibt Briankle Chang in einer kritischen Rekonstruktion, »willingly promotes social cooperation at the expense of social difference and conflicting interests.« (Chang 1996: 175) 47
ÖKONOMIEN DES MEDIALEN »A blindness that [...] causes communication theorists to reify understanding as the ideal, the telos, and the norm of communicative activities. Under this view, to communicate is − principally − to achieve understanding, and instances of misunderstanding, of equivocation, of ambiguity, of nonsense, can be viewed only negatively, that is, as lack, aberration, or dysfunction.« (Chang 1996: 174) »And the build-in goal, the telos, of communicative events is always − at least for those who are involved − to arrive at a better mutual understanding or greater feeling of certainty and security toward one another, in short, the achievement of commonwealth that reflects the triumph of sociality over individuality, of collective identity over individual difference.« (Chang 1996: xi) »Why is the problem of communication so readily translatable into an issue of mediation?« (Chang 1996: 45)
Die so umrissene Vorstellung von Kommunikation ist ebenso unauffällig-allgegenwärtig wie tatsächlich dominant. Ob McLuhan auf Teilhardts Utopie zurückgreift, ein den Globus umspannendes Netzwerk umfassender Kommunikation werde den Globus umfassend befrieden, oder Habermas seine ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ auf den Konsens zentriert; oder selbst bei Luhmann, berühmt für eine eher amoralisch-funktionalistische Analyse, Kommunikation mit gesellschaftlicher Synthese, ›Konsens‹, ›Vereinheitlichung‹ und ›Integration‹ weitgehend in eins fällt1 − einig mit dem Alltagsbewusstsein würde Kommunikation als ein Netzwerk des Ausgleichs, als Verbindung, und als etwas freundlich Positives beschrieben. Kommunikation ist in erstaunlichem Maß positiv konnotiert. Kommunikation ist vor allem Verzicht auf Gewalt − ›Solange geredet wird, wird nicht geschossen‹. Und an die technischen Medien wird, aller Medienschelte zum Trotz, hiervon etwas vererbt. In der Wirtschaft, die im Folgenden als Vergleichspunkt fungieren soll, wird ebenfalls nicht geschossen. Das gigantische Tauschsystem, das uns mit dem Notwendigen (und dem Überflüssigen) versorgt, das unsere Arbeit aufsaugt und uns die Produkte fremder Arbeit zugänglich macht, ist unter den verschiedenen Netzwerken, die die Gesellschaft konstituieren, sicher dasjenige, das am wenigsten wegzudenken ist. Und dieses Netz ist in sich äußerst komplex.2 Idealtypisch reduziert besteht es aus einzelnen Akten des Tauschs und des Austauschs, die die 1 2
Siehe z.B.: Luhmann (1975) S. 14 und 21 (Abstimmung, Konsens), S. 21 (Vereinheitlichung), S. 17 und 29 (kommunikative Integration). Theorieabhängig lassen sich innerhalb des Netzes selbst die unterschiedlichsten Layers unterscheiden: Produktion und Konsumption sind verbunden
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Maschen des Netzes und seine strukturelle Basis bilden. Und diese Tauschakte lassen sich relativ präzise beschreiben. Für sie ist kennzeichnend, dass sie voneinander unabhängig sind, eine Bindung über den einzelnen Tauschakt hinaus also nicht voraussetzen.3 Weiterhin, dass sie freiwillig zustande kommen.4 Plattform ist ein Vertragsverhältnis, das die rechtliche Gleichheit beider Tauschpartner unterstellt. Eine zweite Ausgangsannahme ist, dass im Tausch grundsätzlich Äquivalente getauscht werden.5 Dies ist wichtig, weil Äquivalenz eine Art Äquivalent von Gerechtigkeit ist. Gewaltverzicht, Freiwilligkeit, Massenteilhabe und eine auf Äquivalenz gefußte Gerechtigkeit sind die Grundlage dafür, dass das Modell des Tauschs in ganze Gesellschaftsutopien wie diejenige der ›Marktwirtschaft‹ hinein sich verlängert. So betrachtet haben wir auch von den Tauschakten der Ökonomie zunächst ein sehr freundliches Bild. Dem allerdings stehen sehr exponierte Formulierungen entgegen, die diese Freundlichkeit grundsätzlich bestreiten. Max Weber etwa hat hervorgehoben, dass »der Markt ursprünglich eine Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden, ist« (Weber [1922] 1976: 385).6 Inwiefern aber ›Feinde‹? Unbestreitbar ist, dass im Tauschakt zwei widerstrebende Interessen sich kreuzen: Während der Verkäufer daran interessiert ist, einen möglichst hohen Preis zu erzielen, verfolgt der Käufer das Gegenteil. Zudem hat Marx gezeigt, dass dies nur die Äußerungsform eines tiefer liegenden Antagonismus ist, der die gesamte Warenwirtschaft bestimmt und in der Substanz der Ware − bis hinein in ihre materiellen Eigenschaften und die Muster ihrer Zirkulation − sich niederschlägt. Während der Käufer am Gebrauchswert der Ware interessiert ist, Voraussetzung dafür, die Ware in seine Alltagsvollzüge zu integrieren, ist der Verkäufer an diesem Gebrauchswert vollständig desinteressiert. ›Die Möbel müssen halten, bis sie beim Verbraucher sind‹, und Tomaten müssen in etwa wie Tomaten aussehen. Ist der Tauschakt vollzogen und das Äquivalent realisiert, ist der Zyklus für den Verkäufer abgeschlossen; für den Käufer beginnt der Gebrauch, und dies möglicherweise als Lei-
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durch das Netz des Handels, Infrastrukturen für den Transport, Infrastrukturen für Kommunikation, Produktinformationen, Werbung, PR und Logistik, Infrastrukturen speziell für Vermarktung und Geldverkehr usf. »Soziologisch betrachtet, stellt der Markt ein Mit- und Nacheinander rationaler Vergesellschaftungen dar, deren jede insofern spezifisch ephemer ist, als sie mit der Übergabe der Tauschgüter erlischt [...]. Der realisierte Tausch konstituiert eine Vergesellschaftung nur mit dem Tauschgegner.« (Weber [1922] 1976: 382). Der Slogan »Kaufen – Marsch, Marsch«, mit dem der Mediamarkt 2005 geworben hat, bezieht seine Ironie daraus, dass der Kaufakt gerade nicht angeordnet werden kann. Empirisch gilt diese Äquivalenz nur statistisch. Diese Stelle ist bei Bolz (siehe unten) zitiert.
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densgeschichte. Dieser grundsätzliche Unterschied schafft ein Problem des Vertrauens, auf das der Tauschakt gleichzeitig angewiesen ist; die theatralische Seriosität des hanseatischen Kaufmanns, Garantiefristen oder die Kontinuierung durch Markenzeichen sind eher äußerliche Wege, diesem basalen Problem zu begegnen. Der Klassenantagonismus, den der Marxismus politisch in den Mittelpunkt rückt, geht auf dieselbe Wurzel zurück. Hier ist es der Verkauf der Ware Arbeitskraft – Ware unter Waren und gleichzeitig eine sehr besondere Ware –, der den gesellschaftlichen Raum in zwei radikal unterschiedliche Perspektiven spaltet. Die Konkurrenz der verschiedenen Warenanbieter untereinander wäre als ein weiterer, möglicherweise untergeordneter Antagonismus zu nennen; auch hier geht es ›um die Existenz‹; Ökonomie, dies macht die besondere Dramatik dieser Sphäre aus, ist immer bezogen auf die Not. Güter, die nicht knapp sind, können nicht zum Gegenstand der Ökonomie werden, und als Mängelwesen hängen wir am Tropf eines Tauschsystems, das wir, abgeschnitten von jeder Selbstversorgung, selbst für kurze Zeit nicht entbehren können.
2 . M a l i no w s k i Dass der Tausch ein Moment von Feindschaft enthält, wird auf besondere Weise deutlich, sobald man die Gegenwart verlässt und Tauschmodelle traditionaler Stammesgesellschaften betrachtet; und als Beispiel wähle ich das Kula-System der Trobriander, von Malinowski 1922 beschrieben (Malinowski [1922] 1979), und innerhalb der Kulturwissenschaften inzwischen ein Topos, fast selbst ein magischer Ort. Das Buch ist methodisch, in seiner Materialbehandlung und seinem Sprachgebrauch aus heutiger Sicht nicht unproblematisch, und die geschilderten Tatbestände sind auf die Gegenwart sicher nicht einfach zu übertragen. Eher metaphorisch-illustrativ und in keiner Weise belegend möchte ich deshalb nur vier Punkte hervorheben, die das Moment von Feindschaft besonders klar exponieren. Beim Kula handelt es sich um ein rituelles Tauschsystem, das große geographische Distanzen überbrückt. In dem weit verzweigten Inselreich, das sie besiedeln, müssen die Trobriander für den Kula eine Seefahrt unternehmen, die reale Gefahren für Leib und Leben mit sich bringt; gleichzeitig werden diese Gefahren in Erzählungen und Berichten mythisch überhöht:
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NETZBILDUNG DURCH ANTAGONISTISCHES HANDELN »›Der Dobu-Mann ist nicht gut wie wir. Er ist wild, er ist ein Menschenfresser! Wenn wir nach Dobu kommen, fürchten wir ihn, er könnte uns töten. Aber seht! Ich spucke verzauberte Ingwerwurzel, und ihr Sinn wandelt sich. Sie legen ihre Speere nieder, sie empfangen uns gut‹.« (Malinowski [1922] 1979: 381f.) »Vom rationalen Standpunkt aus«, schreibt Malinowski, »scheint es absurd, daß die Eingeborenen, die wissen, daß sie erwartet werden, und die ja eingeladen worden sind zu kommen, dennoch am guten Willen ihrer Partner zweifeln, mit denen sie oft Handel getrieben haben [...]. Die Grundeinstellung eines Eingeborenen« − Malinowski verallgemeinert im Kollektivsingular − »zu anderen, fremden Gruppen [aber] ist Feindseligkeit und Mißtrauen. Die Tatsache, daß für einen Eingeborenen jeder Fremde ein Feind ist, stellt ein ethnographisches Merkmal dar, das aus allen Teilen der Welt berichtet wird. Der Trobriander bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme, und jenseits seines eigenen, engen sozialen Horizonts trennt eine Mauer von Argwohn, Unverständnis und Feindschaft ihn selbst von seinen nahen Nachbarn.« (Malinowski [1922] 1979: 381)
Und Malinowski hebt hervor, dass das Verhalten der Dobu und ihrer Besucher während des Tauschs dieses Misstrauen unmittelbar spiegelt. Es ist Brauch, dass die Trobriander zuerst mit einer Zurschaustellung von Feindseligkeit und Wildheit empfangen und fast wie Eindringlinge behandelt werden (Malinowski [1922] 1979: 381). Dem Moment von Gefahr, von Scheu und Furcht, und dies ist der zweite Punkt, kann begegnet werden nur mit den Mitteln einer Sicherheitsmagie. Bereits die Vorbereitung des Tauschs und jeder Schritt der Reise ist begleitet von magischen Praktiken, die das Boot, alle Ausrüstungsgegenstände und vor allem die Körper der Beteiligten vor den Gefahren schützen; umfangreiche Zauberformeln und symbolische Praktiken sind gefordert, und daneben Rituale der Reinigung und der Präparation; in den Zauberformeln selbst werden Tauschobjekte und Ausrüstung, aber auch Körperteile ausführlich behandelt (Malinowski [1922] 1979: 138ff. und 238ff.). Die besondere Aufmerksamkeit für den eigenen Körper ist bemerkenswert, da hier die Sicherheitsmagie übergeht in eine zweite, die die Macht hat, die genuine Fremdheit und Feindschaft des Tauschpartners zu überwinden. »›Betelnuß, Betelnuß, weibliche Betelnuß; Betelnuß, Betelnuß, männliche Betelnuß; Betelnuß des zeremoniellen Spuckens!‹ [...]
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN ›Ich werde den Berg mit dem Fuß treten, der Berg bewegt sich, der Berg stürzt zusammen, der Berg beginnt mit seinen Zeremonien, der Berg spendet Beifall, der Berg fällt hin, der Berg liegt darnieder! Mein Zauberspruch soll zur Spitze des Berges von Dobu gehen, mein Spruch wird das Innere meines Kanus durchdringen. Der Rumpf meines Kanus wird sinken; der Ausleger meines Kanus wird unter Wasser tauchen. Mein Ruf ist wie Donner, mein Auftreten wie das Brausen der fliegenden Hexen‹.« (Malinowski [1922] 1979: 238) »›Schwebender Geist von Nikiniki! [...] Es geht zurück, es läßt nach! Deine Wut geht zurück, sie läßt nach, oh Mann von Dobu! Deine Kriegsbemalung geht zurück, sie läßt nach, oh Mann von Dobu! Dein Zorn geht zurück, er läßt nach, oh Mann von Dobu! Dein Wunsch, uns wegzujagen, geht zurück, er läßt nach, oh Mann von Dobu!‹ [...] ›Wer kommt an der Spitze des Kinana hervor? Ich [...] komme an der Spitze des Kinana hervor.‹ [...] ›Deine Wut, oh Mann von Dobu, ist, als wenn der Hund schnüffelt‹.« (Malinowski [1922] 1979: 383)
Der Tausch also ist keineswegs garantiert, sondern der Tauschpartner muss zum Tausch erst bewegt werden. »›Hier sind wir häßlich; wir essen schlechten Fisch, schlechte Lebensmittel; unsere Gesichter bleiben häßlich. Wir möchten nach Dobu segeln; wir halten Tabus ein, wir essen keine schlechten Lebensmittel. Wir fahren nach Sarubwoyna; wir waschen uns; wir verzaubern die silasila-Blätter; wir verzaubern die Kokosnuß; wir putuma (wir salben uns selbst); wir machen unsere rote Farbe und schwarze Farbe; wir stecken unser wohlriechendes vana hinein (Kräuterschmuck in die Armbänder); wir kommen schön aussehend auf Dobu an. Unser Partner betrachtet uns, sieht, daß unsere Gesichter schön sind; er wirft uns die vaygu’a zu‹.« (Malinowski [1922] 1979: 372)
Die Feindschaft wird überwunden durch eine Verführung mit deutlich sexuellen Konnotationen. Reinigung und Diät, die Ästhetisierung des Körpers, Schminke und Parfümierung sind Teil einer Liebesmagie, durch die die Tauschenden attraktiv und unwiderstehlich werden, einer Magie, die gewinnend sein will, und dabei doch eine Überwältigung ist: »›Mein Kopf, er flackert auf, er blitzt auf; meine rote Farbe, sie flackert auf, sie blitzt auf. Meine Gesichtsschwärze, sie flackert auf, sie blitzt auf;
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NETZBILDUNG DURCH ANTAGONISTISCHES HANDELN Meine wohlriechende Farbe, sie flackert auf, sie blitzt auf.‹ [...] ›Mein Kopf leuchtet auf, mein Gesicht blitzt auf. Ich habe eine schöne Gestalt erhalten wie die eines Häuptlings; ich habe eine Gestalt erhalten, die gut ist. Ich bin der einzige; mein Ruf ist ohnegleichen.‹ ›Ich werde den Berg mit dem Fuß treten, der Berg bewegt sich, der Berg stürzt zusammen‹« (Malinowski [1922] 1979: 375f. und 238).
Dass das Moment von Feindschaft auch im gelingenden Tausch nicht einfach verschwindet, wird an zwei weiteren Zügen in Malinowskis Darstellung deutlich. So ist der Tausch verbunden mit einer tief greifenden und andauernden Erregung. Diese betrifft zunächst das Begehren, das der Motor des Tausches ist − »den psychophysischen Theorien der Eingeborenen zufolge sind die Augen der Sitz der Bewunderung, des Wunsches und des sexuellen Verlangens, der Gier auf Eßbares und auf materiellen Besitz« (Malinowski [1922] 1979: 376) − und allgemeiner die Hochstimmung der Fest- und Ausnahmesituation, die der Tausch für die Trobriander bedeutet. »[Es ist ein] Zustand der Erregung [...], die einen Partner ergreift und veranlaßt, großzügige Kula-Gaben herzugeben. [...] ›Ein Zustand der Erregung ergreift seinen Hund, seinen Gürtel, sein gwara (Tabu der Kokosmüsse und Betelnüsse), seine bagido’u-Halskette, seine bagiriku-Halskette, seine bagidudu-Halskette usw.‹« (Malinowski [1922] 1979: 377)
Verbunden ist diese Erregung mit einem deutlichen Moment von Aggression: »›Ich werde Kula treiben, ich werde mein Kula rauben; ich werde mein Kula stehlen; ich werde mein Kula stibitzen. Ich werde so Kula treiben, daß mein Kanu zum Sinken gebracht wird‹.« (Malinowski [1922] 1979: 377)
Auf der Ebene des Gestischen wird die Erregung zurückgenommen, und die Aggression findet eine eigene Form: »Der Ausdruck der Eingeborenen, eine Wertsache zu ›werfen‹, beschreibt das Wesen dieser Handlung zutreffend. Denn, obwohl der Wertgegenstand vom Gebenden ausgehändigt werden muß, nimmt der Empfänger kaum Notiz von ihm und erhält ihn selten tatsächlich in die Hand. Die Etikette der Transaktion erfordert, daß die Gabe in einer spontanen, schroffen, fast ärgerlichen Art und Weise übergeben und mit entsprechender Gleichgültigkeit und Geringschätzung empfangen werden soll.« (Malinowski [1922] 1979: 387)
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Es sind dies, zugegeben, äußerst knappe Ausschnitte des Malinowskischen Gesamtarguments. Will man dennoch summieren, so ist es keineswegs so, dass der Tausch einfach an die Stelle des Krieges tritt; der Tausch selbst vielmehr enthält in sich Momente der Aggression, in denen der Abgrund deutlich wird, den der Tausch überbrückt; negativ in den Zügen von Angst und Furcht, positiv im Zwang, gewinnend zu sein und den Tauschpartner, der als widerstrebend halluziniert wird, zum Tausch überhaupt zu bewegen. Malinowskis Text ist vor allem deshalb erhellend, weil die gegenwärtige Wirtschaft, das gegenwärtige Tauschsystem, diese emotional values eher verbirgt als enthüllt. An der Börse wie an der Supermarktkasse ist der Tausch soweit abgekühlt, dass das Moment von Feindschaft, Fremdheit und Aggression in direkter Form nicht mehr ans Tageslicht tritt.
3. Bolz Auf der Ebene der soziologischen Analyse, ich habe es gesagt, wäre der Antagonismus kaum strittig. Und einen weit vorgeschobenen Posten hierzu hat Norbert Bolz 2002 mit seinem ›konsumistischen Manifest‹ markiert. Der milde kalauernde Titel nimmt das Projekt vorweg: »Max Weber hat sehr schön gezeigt, daß ›der Markt ursprünglich eine Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden, ist‹. Liebe deine Feinde − das war und bleibt à la lettre genommen zwar ein unerfüllbarer Anspruch. Doch die List der Wirtschaftsvernunft hat eine Entparadoxierung dieser Zumutung gefunden: Tausche mit Deinen Feinden! ›Exchang[e]7 is the fundamental human act.‹ Gesellschaftliche Vernunft, Friede und − immerhin: formale − Freiheit8 entstehen also gerade aus dem Gegensatz gegen die persönliche Verbrüderung. Der Tausch mit den Feinden emanzipiert die Menschen aus den traditionalen Strukturformen sozialer Beziehungen. Man könnte also von einer Menschwerdung des Menschen auf dem Markt sprechen.« (Bolz 2002: 59)
Bolz geht es darum, die These der Feindschaft aufzunehmen, sie zu wenden und in eine Theorie friedlicher Vergesellschaftung − auf dem Terrain und mit den Mitteln des Marktes − zu überführen. Das Kernargument findet er bei Weber, und Weber in einer verzweigten Theorietradition, die von Smith ausgeht und an der auch Marx Anteil hat:
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Im Original fehlerhaft: Exchanging. …es fehlt nur die Freude und der Eierkuchen…
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NETZBILDUNG DURCH ANTAGONISTISCHES HANDELN »Die Marktgemeinschaft als solche ist die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können. [...] Eine solche absolute Versachlichung widerstrebt [...] allen urwüchsigen Strukturformen menschlicher Beziehungen. [...] Der Markt ist in vollem Gegensatz zu allen anderen Vergemeinschaftungen, die immer persönliche Verbrüderung und meist Blutsverwandtschaften voraussetzen, jeder Verbrüderung in der Wurzel fremd.« (Weber [1922] 1976: 382f.)
Das Webersche Kernargument also hätte man durchaus auch skeptisch lesen können; Bolz aber geht unvermittelt in Jubel über: »Das ist Klartext. Der Markt ist ursprünglich kein Schauplatz der Brüderlichkeit, sondern eine Vergesellschaftung mit Feinden.« »Und eben das ist Zivilisation [Herv. H.W.]: Der Feind wird zum Konkurrenten, und die Brüderlichkeit löst sich in ›Kundschaftsverhältnisse‹ auf.« (Bolz 2002: 60 und 59)
Es sind vor allem zwei argumentative Pfeiler, auf die sich diese Umdeutung stützt. Da ist zunächst das Motiv der Entlastung.9 Während traditionale Gesellschaften Integration mit den Mitteln der Semantik gewährleisten müssen, und das heißt für die längste Zeit der Geschichte mit den Mitteln der Religion, stellt der Markt von Schuld auf Schulden (Bolz 2002: 72),10 und von Moral auf Zahlungskraft um. Eine Entlastung ist dies, weil ein komplexes System, das nahezu alle gesellschaftlichen Register umfasst, ersetzt wird durch ein kühl-funktionales, das zudem den Vorteil hat, strukturell relativ schlicht zu sein. Die Subjekte werden nicht mehr involviert, sie werden organisiert. Und der zweite Pfeiler des Arguments ist eine bestimmte Sicht auf das Geld. »Geld«, sagt Bolz, »ist eine Macht ohne Eigenschaften.« (Bolz 2002: 74) »Wo Geld die Welt regiert, herrschen eben nicht: fanatische Ideologie11 und blutige Gewalt. Die monetarisierte Habsucht zähmt die anderen Leidenschaften. Auf die Liebe zum Geld ist Verlaß − hier entfaltet sich ein ruhiges Begeh9
›Ersparnis‹ und ›Entlastung‹ sind häufig gebrauchte Begriffe in Bolz’ Text (siehe etwa Bolz 2002: 76, 80, 85 usw.). 10 »It provides a technical normalization of ›guilt‹ or ›sin‹ by converting a religious psychology of ›retribution‹ or ›penance‹ into a commercialist psychology of ›ambition‹.« (Kenneth Burke zit.n. Bolz 2002: 73). 11 Bolz macht sein Buch auf mit einer Darstellung ›des Terrors‹ (Bolz 2002: 19ff.), wie sie perspektivischer, ethnozentrischer und ideologisch-identifizierter kaum gedacht werden kann. Der Terror selbst ist aus aktuellem Anlass selbstredend ein islamistisch-fundamentalistischer; strahlend, liberal und ›offen‹ hebt sich das westliche System hiervon ab…
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN ren nach Reichtum. Das autonome Kreisen des Geldes entlastet uns in verschiedenster Weise. Es funktioniert wie ein Medium. [...] Und nur weil unsere Wirtschaft von einer eigenschaftslosen Macht geprägt wird, kann sie sich als offenes System entwickeln.« (Bolz 2002: 74)
Wer das Geld eine Macht ohne Eigenschaften nennt, sollte genug davon haben; und muss zudem leugnen, dass fanatische Ideologie und blutige Gewalt auch die Geldverhältnisse zumindest auf ihrer Nachtseite empirisch begleiten.12 Wie aber kann es zu solch einer, für sich genommen skandalösen, Aussage kommen? Ich denke, dass hier die semantische Eigenschaftslosigkeit des Geldes, eine Eigenschaft, die auch Hörisch hervorhebt (Hörisch 1996: 66, 200), gleichgesetzt wird mit der Behauptung seiner Neutralität als gesellschaftliches Organisationsmittel; einer Neutralität, die das Geld − als Kapital eigengesetzlich-strukturbildend, verschwistert mit der Not und asymmetrisch-repressiv − eben keineswegs hat. Naiv oder böswillig, in jedem Fall aber mit jenem zutiefst ideologischen Effekt, den die Rede von einem ›Ende der Ideologie‹ (und zugleich der Gewalt) häufig hat. Die Neutralität des Geldes ist keine. Und wer in unserer Wirtschaft ein ›offenes System‹ sieht, muss sie wahrscheinlich auch ›unsere‹ nennen.
4 . Al t e rn a t i v de ut u ng Welche Alternative aber, so wird man fragen müssen, gibt es zu dieser entschlossen neoliberalistischen Deutung? Es wäre dies, denke ich, eine Sicht, die zwar ebenfalls vom Tausch als Feindschaft ausgeht, dennoch aber nicht umstandslos beim Tausch als Befriedung ankommt.13 Und der 12 Auf Seiten der Ideologie denke man an den aggressiven Antikommunismus des ›Kalten Krieges‹, der den politischen Rahmen der neoliberalistischen Wirtschaftspolitik bildete, oder an den christlichen Fundamentalismus der gegenwärtigen Bush-Administration. Bei der blutigen Gewalt an die vielfältigen tatsächlich geführten Kriege, an die Investments in der Dritten Welt, die häufig von paramilitärischen Aktionen flankiert werden, oder an den Krieg gegen die Umwelt, wie ihn z.B. Shell in Nigeria führt. 13 Geht es Bolz um Befriedung? Auf der Oberfläche sicherlich nicht, würde er doch das Fortdauern einer gewissen Aggressivität etwa in der Konkurrenz zu den inneren Antrieben der gegenwärtigen Gesellschaft zählen; ›gezähmt‹ kommen ›die Leidenschaften‹ der Gesellschaft zugute, zuverlässig blockiert wäre allenfalls der Rückfall in offene Gewalt. Auf den zweiten Blick ist dies anders: Es erweist sich, dass der Tausch tatsächlich an die Stelle der gesellschaftlichen Synthesis tritt. Der Tausch kann nur dann traditionale Formen semantischer Konsensbildung substituieren, wenn er die volle Last dieser Synthesis übernimmt; zudem beinhaltet die Festschreibung auf den Warentausch eine gewisse Calmierung; die Wünsche müssen kanalisiert und gesellschaftlich durchgeformt werden, ehe sich die Subjekte andere als warenförmige Ziele nicht mehr vorstellen können. In gewisser Weise ist dies eine
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entscheidende Hinweis wäre schon bei Malinowski gegeben: In der These nämlich, dass die Feindschaft nicht verschwindet, sich auflöst, sondern als ein konstitutiver und strukturierender Bestandteil in den Tausch selbst eingeht. Vielleicht ist dies am deutlichsten, wo der Tausch die genuine Fremdheit der Tauschenden überwinden muss, um überhaupt stattzufinden − wo er sie gleichzeitig aber eben völlig unberührt als Fremdheit weiter bestehen lässt. Dass der Markt hier ein strukturelles Problem hat, zeigt sich etwa im hysterischen Bemühen der Werbung, gerade nicht feindselig, sondern gewinnend, erotisch und unwiderstehlich zu sein. Denn erinnern die diätierten, ästhetisierten und duftenden Trobrianderkörper nicht unmittelbar an die innere Logik der Werbefotografie? Die immanente Aggression des Tauschakts, der Antagonismus, erscheint hier weniger verkleistert/verdeckt als invertiert und ins Positive gewendet; nach der psychoanalytischen Regel, dass Affirmation Aggression anzeigen, dass ein Affekt also das Vorzeichen wechseln kann, ohne dass der Gehalt, die Konstellation, die den Affekt trägt, dadurch berührt werden muss. Werbung ist aggressiv; sie ist aggressiv in der Überschreitung von Grenzen und der Überwindung von Widerstand; aggressiv, insofern sie eindringlich und eindringend ist und die Umworbenen in den seltensten Fällen fragt; die Aggression selbst wird ästhetisiert und zum Bestandteil der Botschaft.14 Und von dort aus allgemeiner: Im Licht des Kula-Systems erscheint die gegenwärtige Wirtschaft als nur scheinhaft abgekühlt und befriedet. Kann es verwundern, dass sich in der Sprache des Managements Kriegsmetaphern häufen? Man fragt, wie man ›international aufgestellt‹ ist, spricht von strategischem Management, von strategischen Allianzen und von Marktpenetration. Die Alternativdeutung, die ich vorschlagen will, also ist, dass Fremdheit, Angst und Aggression quasi eingebacken sind in die Grundlogik der kapitalistischen Wirtschaft, insofern diese eine strikt instrumentalistische und damit äußerst reduzierte ist. Fremdheit, Angst und Aggression, die dem Tausch eingeschrieben sind, sind Struktur geworden; nach dem Muster der strukturellen Gewalt, die die manifeste von Körperstrafen, Folter und Drill historisch erübrigt oder besser: abgelöst hat. Die Alternativdeutung also wäre die einer ›strukturellen Gewalt‹ auch im Tausch.15 Brave-New-World-Perspektive; die Subjekte zombi-artig festgelegt auf die Affirmation und entsprechend guter Stimmung; der Theoretiker illusionslos-kalten Blicks, gleichfalls affirmativ und ebenso rätselhaft guter Laune. 14 Beispiel sei noch einmal der Mediamarkt-Slogan »Kaufen – Marsch, Marsch«. 15 Was ist ›strukturelle Gewalt‹? Sehr verkürzt will der Begriff fassen, dass moderne Gesellschaften Mechanismen der Selbststabilisierung ausbilden, die auf
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5 . S ym b o l i s c he S ys t e me / Me di e n Ich komme nun auf die ursprüngliche Frage zurück, was dies für die Sphäre des Symbolischen und der Medien bedeutet. Und da mir eine konzise Antwort mehr als schwierig erscheint, möchte ich vier Richtungen zeigen, in die möglicherweise weiter zu denken wäre. Wenn die dargelegte Deutung plausibel ist, dass die Wirtschaft ein besonderes Modell der Netzkonstitution ist und der einzelne Tauschakt das Atom, aus dem das Netzwerk sich aufbaut, und weiter, dass der Tauschakt ein System von Antagonismen organisiert, so wirft dies ein eigentümliches Licht auch auf die ›Kommunikation‹; wenn dem Tausch ein Moment struktureller Gewalt innewohnt, wäre immerhin denkbar, dass dies im Fall der Kommunikation nicht grundsätzlich anders ist. Meine Überlegung nähert sich hier Modellen an, die im Anschluss an die poststrukturalistischen Philosophien das traditionelle, naiv-freundliche Kommunikationskonzept angegriffen und zumindest auf dem Level der Theorie einigermaßen in die Schwebe gebracht haben; hier wäre der bereits zitierte Chang zu nennen, der der »Communication before Deconstruction« ihre impliziten Grundannahmen vorrechnet, um dann zu einer »(Im)Possibility of Communication«16 zu kommen. Ähnlich João Natali, der den Skandal des Missverstehens in den Mittelpunkt stellt (Natali 1986), die idealistische Abstraktion des Sender-Empfänger-Modells demontiert und darauf besteht, von gesellschaftlich different situierten, in Machtkomplexe eingebundenen und begehrenden Subjekten auszugehen, die dadurch zumindest im traditionellen Sinne keine mehr sind (Natali 1986: 27). Kommunikation kann in dieser Perspektive nicht mehr schlicht eine Sphäre des Ausgleichs sein. Hintergrund − selbstverständlich − ist die Neubewertung der Differenz, die so differente Denker wie Derrida und Lyotard durchgesetzt haben. Diese Neubewertung, inzwischen eine Art Theorie-Klischee, war tatsächlich radikal: Es erwies sich als äußerst schwierig, eine Differenz die Ausübung offener Gewalt und Repression weitgehend verzichten. Im Wesentlichen sind es zwei Dinge, die an die Stelle der Repression treten: die Subjekte bilden Mechanismen der ›Selbstbeherrschung‹ aus; d.h. die Interventionen der Macht werden introjiziert und in den Raum des Individuell-Psychischen verlagert. Zum zweiten bilden sich Institutionen, die den Stempel der Macht nicht mehr auf der Oberfläche tragen: Hier wären etwa die Massenmedien zu nennen, die gesellschaftliche Integration gerade nicht über Imperative, Druck und Verzicht, sondern über ›Unterhaltung‹, Genuss, letztlich also Massenzustimmung bewirken. These ist, dass die Gewalt von der Oberfläche verschwindet und in die Tiefenstruktur der Gesellschaft wie der Subjekte übergeht. Auf dieser sehr grob skizzierten Linie würden sehr unterschiedliche Theorieprojekte sich treffen: Foucaults Untersuchung der ›Disziplinen‹, Norbert Elias’ ›Zivilisationstheorie‹ und Horkheimer/Adornos These zur Kulturindustrie. 16 Kapitelüberschriften in Chang (1996: 33 und 171).
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zu denken, die nicht von vornherein auf Schlichtung abzielt; eine Bewegung, die nicht zur Ruhe kommt, und entsprechend eine Kommunikation, die nicht im Konsens, wie kontrafaktisch auch immer, ihr Regulativ und ihr Telos hat. Lyotard etwa will im ›Widerstreit‹ einer Gegenwart gerecht werden, die in einem Nebeneinander äußerst heterogener Diskursgenres, Wissensarten und Lebensformen sich entfaltet. »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.« (Lyotard [1983] 1987: 9)
Die Anerkennung des Widerstreits hat ihr deskriptives Moment darin, dass in einer komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft gesellschaftliche Synthesis über Konsens – etwa im Feld der Semantik – offensichtlich nicht mehr hergestellt werden kann. Die Erfahrung der Totalitarismen der 30er Jahre mündet in den Verdacht, dass der Konsens mehr oder minder gewaltförmige Züge annimmt, und, pointiert gesagt, den Terror strukturell in sich trägt. Der Widerstreit, entsprechend, enthält den Appell, die prinzipielle Offenheit und Unentscheidbarkeit zu akzeptieren. Im Widerstreit macht Lyotard einen Antagonismus auf, der – lokalisiert im Feld des Symbolischen – vielleicht noch tiefgreifender ist als derjenige, der im Tausch seine Form findet.17 Mein zweiter Ansatz wäre, den ›Widerstreit‹ zu ermäßigen, und Substitute des Antagonismus’ und der Aggression zunächst in Alltagsformen der Kommunikation aufzufinden. Dass man die Werbung als eine invertierte Aggression betrachten kann, wurde gesagt; und allgemeiner wäre vielleicht eine Kommunikationstheorie denkbar, die den Disput, den Widerstreit der Meinungen, ebenso ernst nimmt wie die Tatsache, dass Kommunikation, will sie Kommunikation bleiben, auf gewaltsame Mittel verzichtet. Der Appell, der die Kommunikation überhaupt erst zu Stande 17 Bolz schließt hier in gewisser Weise an. Nur weil er die Sphäre des Symbolischen als rettungslos zerfallen betrachtet, und den Streit der Weltsichten/ Ideologien unter die schlichte Überschrift ›Terror‹ fasst, kann er die Vergesellschaftung über das Geld als eine friedliche und erfolgreiche Variante gesellschaftlicher Synthesis feiern. Der Preis wäre, dass diese Vergesellschaftung sich ›blind‹, also im Rücken der beteiligten Subjekte vollzieht. Dies sieht Bolz genau: »Preise [haben] die Funktion, Anzeichen von Veränderungen zu sein, die der einzelne zwar nicht kennen kann, an die er aber seine Pläne anpassen muß. [...] Die Beobachtung der Preise ermöglicht einen Blindflug durchs Chaos der Wirtschaft. [...] Prinzipiell produzieren Zahlungen und Preise enorme Informations- und Kontextverluste – es ist egal, wer warum zahlt« (Bolz 2002 83f.); Entlastung durch Informationsverlust.
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kommen lässt, wäre ebenso einzubeziehen wie die Wirkungsabsicht, die Bindung an Interessen und die Dimension des Performativen. Rede und Widerrede sind sicher basal zumindest für die mündliche Kommunikation; und möglicherweise eben keineswegs an das Telos der Konsensbildung gebunden. Und der Disput, dies hat Hegel gezeigt, verlängert sich hinein in den Binnenraum z.B. schriftlicher Texte, wo Rede und Gegenrede in der Dialektik und im Voranschreiten von These und Antithese ihre Form finden. Hegel allein auf die Synthesis zu verkürzen, ist sicher eine Missdeutung; weit mehr als eine Stillstellung will die Dialektik eine Bewegung beschreiben; und ein Vorandrängen, das den inneren Widerspruch der Dinge nutzt, um zu Unvermutetem, Neuem, notwendig Ausgangspunkt neuerlicher Widersprüche, zu kommen. Mein dritter Deutungsvorschlag betrifft die Massenmedien. Für die Massenmedien, deren überwiegender Anteil monologisch verfährt, fällt der Disput zunächst aus. Dennoch scheint es auch hier Substitute zu geben, die die systematische Stelle zwischen Feindschaft und Synthesis einnehmen. Die Problematik verschiebt sich hier auf die Annahme der Botschaft. Wenn auf der Seite des Angebots kein Mangel mehr herrscht, sondern ganz im Gegenteil die technische Reproduktion in information overflow, eine Überproduktionskrise, mündet, dann wird die Sendung selbst Aggression. Annahme oder Nicht-Annahme entsprechend ist nicht primär Selektion, sondern Abwehr; und die entscheidende Sollbruchstelle, an der die Kommunikation zu scheitern droht, verlagert sich auf die Seite des Rezipienten. Es ist völlig klar: Wenn wir den eindringlichen Appellen der Werbung in jedem Fall folgen würden, wären wir binnen kurzem finanziell ruiniert. Und die Abwehr betrifft bereits die Annahme der Kommunikation selbst;18 Widerstand zumindest in der Form von Indolenz, NichtAffizierbarkeit scheint nötig, um den Hagel der Appelle und Botschaften zumindest einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Mein vierter Vorschlag wäre eine Neubewertung der Nicht-Kommunikation. Wenn Kommunikation eben nicht ausschließlich Ausgleich ist, dann verliert die Verweigerung von Kommunikation ihren kurios-robin18 Luhmann beharrt darauf, zwischen dem Gelingen der Kommunikation (Erreichbarkeit/Kenntnisnahme/Verstehen) und der Annahme bzw. Ablehnung der Botschaft sauber zu trennen, und sicher ist diese Unterscheidung sinnvoll; dennoch wird sie z.B. im Fall der Werbung irritiert durch die Tatsache, dass wir es nicht nur in den meisten Fällen ablehnen, dem Appell tatsächlich Folge zu leisten, sondern uns im Vorfeld dessen bemühen, bereits den Appell selbst so wenig wie möglich zur Kenntnis zu nehmen. Zumutung ist hier bereits die Kommunikation selbst (siehe Luhmann 1993: 193ff., 203ff. und 218ff. sowie Luhmann 1996: 13ff.).
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sonesken Charakter. Nicht erreichbar zu sein, kein cell phone zu haben, ist inzwischen ein Privileg; auch dies deutet auf den implizit aggressiven, übergriffigen Charakter hin, den Kommunikationen und Kommunikationsnetze annehmen können. Wenn der Tausch nicht die Macht hat, das Fremde einfach zu assimilieren, wenn Fremdheit, Angst und Aggression vielmehr eingehen in die Struktur, dann wäre neu nachzudenken über die Funktion von Grenzen, die uns vor Kommunikation und gegen Kommunikation schützen. Mit der Struktur gewordenen Fremdheit zu hadern, heißt keineswegs, ein Hohelied auf Nähe und Vertrautheit zu singen, oder gar jene ›Nähe zu sich selbst‹, die wie Derrida gezeigt hat, selbst ein Medieneffekt ist. Aufzuzeigen wäre vielmehr, dass die ›Vergesellschaftung mit Feinden‹ ein historisch sehr spezifischer Typus von Vergesellschaftung ist, der die Subjekte keineswegs nur ›entlastet‹. Der furor communicationis, der über uns hereingebrochen ist, parallel zur ›entlastenden‹ Geldökonomie, deutet in eine andere Richtung.
6 . S c hl u s s /Ne t z e Und schließlich: Gibt es Folgerungen auch für eine grundsätzliche Logik der Netze? Es dürfte, denke ich, deutlich geworden sein, dass weder ein Blick auf die technische Infrastruktur die Frage ausschöpfen kann, noch der Blick auf die Akte der Übertragung, in denen die Vernetzung jeweils aktuell sich vollzieht. Tausch und ›Kommunikation‹ wären so adäquat nicht zu beschreiben. Was ich hervorheben will ist, dass sowohl der Tausch, als auch möglicherweise die Kommunikation neben der Synthesis, die das Netz impliziert, immer auch eine Dimension des Widerspruchs in sich birgt; als ein Vorwärtsdrängen, ein Antrieb, ein Movens einerseits, und andererseits eingebacken in die Struktur, ›geliert‹ und implementiert in der Struktur selbst. Widerspruch/Fremdheit/Feindschaft und Syntheseleistung wären systematisch zusammen zu denken. Ohne das Konzept einer strukturellen Gewalt, einer Gewalt, die Struktur geworden ist – die in die Struktur eingeht und der Struktur selbst ihre Form gibt –, müsste die gegenwärtige Gesellschaft als von der Gewalt befreit, als in der Substanz befriedet erscheinen. Foucault, Adorno und andere haben einigen Aufwand darauf verwendet, diesen freundlichen Schein zu zerstreuen. In der Gegenwart ist die Illusion auf die ›Netze‹ übergegangen. Die Netze und die Kommunikation sonnen sich im Licht einer fast uneingeschränkt hoffnungsvollen Bewertung. Der
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Blick auf die im Tausch stillgestellte Aggression scheint mir hier ein notwendiges Korrektiv.
Literatur Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest, München: Fink. Chang, Briankle G. (1996): Deconstructing Communication. Representation, Subject, and Economies of Exchange, Minneapolis u.a.: Univ. of Minnesota Press. Hörisch, Jochen (1996): Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1975): »Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien«. In: Oskar Schatz (Hg.), Die elektronische Revolution. Wie gefährlich sind die Massenmedien? Graz u.a.: Styria, S. 13–30. Luhmann, Niklas (1993): Soziale Systeme, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Luhmann. Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag. Lyotard, Jean-François ([1983] 1987): Der Widerstreit, München: Fink. Malinowski, Bronislaw ([1922] 1979): Argonauten des westlichen Pazifik, Frankfurt/M.: Syndicat. Natali, João (1986): »Communication: A Semiotic of Misunderstanding«. The Journal of Communication Inquiry 10, 3, S. 22–31. Weber, Max ([1922] 1976): Wirtschaft und Gesellschaft (5. revidierte Auflage, 1. Halbband). Tübingen: Mohr.
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REPLACEMENT WIE ÖKONOMISCHE T HEORIE M EDIENWELTEN ›VERORTET‹ ANDREA GRISOLD Replacement ist der auf den ersten Blick zeitgeistig neudeutsch anmutende Titel meines Beitrages, daher sei dies zuallererst erklärt. In zweifachem Sinne verstehe ich das Wort in unserem Bedeutungszusammenhang: Einerseits sollen die Ergebnisse einer ökonomischen Auseinandersetzung mit Medien – die oft die Darstellungsform einer Kosten-NutzenAnalyse annehmen und in ein Plädoyer für ein Mehr an marktlichen Mechanismen münden – angesprochen und die zuweilen damit etwas unglücklich geratenen ›Platzierungen‹ thematisiert werden. Andererseits – und damit nicht unverknüpft – ist es mir ein Anliegen, jenes Bild, das die Ökonomie gerne von sich selbst zeichnet – nämlich das einer präzisen Wissenschaft – kontextbezogen ein wenig differenzierter zu verorten. Wenn ich hier von ökonomischer Theorie sprechen werde, so rekurriere ich auf die derzeitige Mainstream-Theorie, auf die Neoklassik (oder Neoklassische Synthese). Die oftmals vorgenommene Gleichsetzung mit neoliberaler Politik lehnen die Neoklassiker ab, wenn auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht oftmals Überschneidungen zu finden sind. Jedenfalls hat die primär ökonomische Herangehensweise an gesellschaftliche und/oder kulturelle Themen, verstärkt wohl auch durch den Zusammenbruch des Kommunismus, eine beinahe hegemonial zu nennende Eigenmächtigkeit erhalten, die bei genauerer Betrachtung in vielen Bereichen radikal verkürzt erscheint, wobei ›Geiz ist geil‹ neben der ›IchAktie‹ noch als nachgerade milder Ausdruck erscheint. Replacements passieren aber, nicht zuletzt auch im wissenschaftlichen Bereich, durchaus unterschiedlich und kontroversiell: Jede Disziplin rückt ein bisschen am Forschungsobjekt oder -subjekt und modelliert diese ein wenig, damit sie ins forschungsideologische Weltbild eingepasst werden können. So scheint die Frage legitim, ob mit den dementsprechenden Verortungen nicht zu viel ›verrückt‹ wird, ob nicht – ab einem gewissen Punkt – ein zu Viel an Neuverortung letztlich zu einer Verkehrung in der Positionierung des Sub-Objektes führt. Womit ich bei 63
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dem vom Untertitel dieses Beitrages bezeichneten Problemfeld angelangt wäre. Die Medien, das Mediale insgesamt ist mir – vielleicht doch zu sehr Ökonomin – in sich zu heterogen, eine zu unterschiedliche Sammlung an divergenten Produkten, Produktionsbedingungen, Konsummustern, als dass ich mir zutrauen würde, sie in ihrer Gesamtheit zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Ich werde mich daher auf ein Medium beschränken, das gerne als das Massenmedium des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird: auf das Fernsehen. Warum ich mich speziell für den TV-Sektor entschieden habe, dafür gibt es zwei Begründungsebenen. Die erste hat mit der Intensität der Nutzung zu tun: zwischen 2,5 und 3 Stunden sehen Menschen im Durchschnitt pro Tag fern; auch wenn diese Nutzung nicht immer aktive Nutzung ist: Fernsehen ist aus unser aller Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr (vielleicht auch: noch nicht) wegzudenken. Eine weitere Grundlage dafür, gerade die TV-Industrie zu untersuchen, bot das ›kontrollierte Experiment‹, das die Geschichte der De-(oder Re-)Regulierung der letzten 20 Jahre für mich bereitgehalten hat. Im vorliegenden Fall ist es das der ›Liberalisierung‹ des Rundfunkmarktes, wie es forciert durch die Politik der EU seit den 1980er Jahren durchgeführt wird. ›Experiment‹ deswegen, weil die Vorteile der Marktwirtschaft in dieser Industrie getestet werden konnten, und ›kontrolliert‹, weil es mit einer Änderung, nicht Aufhebung, des bis dato in Funktion befindlichen Regulationsregimes einherging. Deutlich können daran folgende Fragestellungen festgemacht werden: Welche Funktionen kann der Markt erfüllen, und welche Veränderungen der Produkte, der Inhalte der Kulturindustrie Fernsehen gehen damit einher, wenn sie vorwiegend oder ausschließlich über ›marktliche‹ Kanäle bereitgestellt werden? Massenmedien (sowie die Kulturindustrien und unser eigentlicher Forschungsgegenstand, das Fernsehen) sind im Spannungsfeld von Ökonomie und Kultur, Freiheit und Zwang, Sinnproduktion und Interessensabhängigkeit positioniert und definiert. Dies vorausgesetzt, nimmt der vorliegende Beitrag die taxative Auflistung einiger wesentlicher Bestimmungsmerkmale – immer aus Sicht der Ökonomin – zum Ausgangspunkt, die Auswirkungen der Ökonomie (genauer, der ökonomischen Bedingtheiten) auf das Massenmedium Fernsehen darzustellen, um danach – vice versa – die Wirkungen, die Fernsehen auf die Ökonomie hat bzw. haben kann, zu thematisieren. Welche Folgewirkungen, ja Replacements dies für die Kulturindustrie Fernsehen zeitigt, wird in einem abschließenden Kapitel erörtert.
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1 . Ö k o n o mi e w i r kt a u f F e r ns e he n Das Massenmedium Fernsehen wird über ökonomische Erfordernisse und Bedingungen bestimmt, beeinflusst aber ebenso sehr aus sich heraus die Ökonomie, greift gemäß seiner Eigenlogik in wichtige Bestimmungsfaktoren der Ökonomie via Veränderung und Gestaltung von Konsumund Rezeptionsgewohnheiten ein. Anders ausgedrückt, kommt ihm wesentlich auch die Funktion zu, bestimmte (hegemoniale) Werte und Werthaltungen in gesellschaftliche Praxen umzusetzen und damit eben auch ganz bestimmte, nicht zuletzt ökonomische Denkweisen oder Dispositionen zu konfigurieren und zu affirmieren. In diesem Sinn hat Bourdieu davon gesprochen, dass eine immer größere Anzahl von Fernsehanstalten, getrieben von der Konkurrenz um Marktanteile, vor allem politische Leere produzieren würde (Bourdieu 1998, 72). Darüber hinaus sind es aber noch handfeste ökonomische Besonderheiten, die das Medium Fernsehen wesentlich mitbestimmen, und zwar oftmals keineswegs in der von der ökonomischen Mainstream-Theorie vorhergesagten Weise.
Kosten- und Marktstrukturen Wenn wir die Kostenseite einer Analyse unterziehen, so wirkt in einer Mikrosicht Ökonomie als Restriktion: Jeder kaufmännische Direktor einer Fernsehstation – ich habe einige davon interviewt – muss seinen Produzenten immer wieder klar machen, warum nicht annähernd so viel Budget für ihre Produktionen zur Verfügung steht, wie von ihnen gefordert. Neben diesem vielleicht simplen Faktum sind es aber die spezifischen Kostenstrukturen der Kulturindustrie Fernsehen, die zu ganz bestimmten Marktformen führen. In komprimierter Form angeführt gilt grundsätzlich, dass der TV-Sektor durch massiven Kapitalbedarf wie einen sehr bedeutenden Anteil an irreversiblen Kosten gekennzeichnet ist, weiters – sowohl was den Produktions- als auch den Distributionsbereich betrifft – durch hohe Fixkosten und »sunk costs« (Kiefer 2005: 168f.; Heinrich 1999: 20f.). Jedes Kulturprodukt (somit auch die Produkte des kulturindustriellen Massenmediums Fernsehen) ist ein Prototyp, somit fallen, verglichen mit den Kosten der Vervielfältigung und der Distribution, first copy costs in entsprechender Höhe an. Aufgrund der großen Elastizität der Nachfrage1 – die sich dem simplen Umstand schuldet, dass Erfolg oder Misserfolg von Produktionen nicht im Voraus festgelegt wer1
Hier also nicht im mikroökonomischen Sinne als ›Preiselastizität der Nachfrage‹ gebraucht.
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den können – versuchen die Unternehmen, über unterschiedliches Angebot Risiko zu streuen (Grisold 2004: 88). Dies wiederum befördert die Tendenz zur Formierung und Etablierung großer Unternehmen, da kleinere Unternehmenseinheiten eben dieses unterschiedliche Angebot nicht bereitzustellen imstande sind. Aufgrund solcher Kostensituationen werden Gewinne schließlich nicht vorrangig im Bereich der Produktion, sondern im hochkonzentrierten Bereich der Distribution und des Programmhandels erzielt. Viele dieser Kostenspezifika sind natürlich kein Spezifikum der TVIndustrie alleine, sondern auch in einer Reihe von anderen Industrie- oder Dienstleistungsbranchen vorzufinden (z.B. in der Pharmaindustrie und im Pflegebereich). Was aber folgt daraus – und besonders aus dem Faktum, dass die konkreten Kostenstrukturen in offensichtlich eklatanter Weise nicht den für optimale Marktbedingungen notwendigen entsprechen? Wir haben es mit Formen von Unternehmenskonzentration zu tun, die sehr stabil sind; auch wenn es Insolvenzen gibt, so führt das, wie der Fall Kirch gezeigt hat, nur zu einer Neuaufteilung seitens und innerhalb der großen Player. Ein weiterer, die Kostensituation unmittelbar betreffender Effekt ergibt sich aus der Vermehrung der TV-Stationen: Mit erhöhter Nachfrage nach Programmen wird der Ankauf dieser Programme teurer. Zum einen ist der Handel mit Kaufprogrammen hochkonzentriert; zum anderen können diese aufgrund des Nichtverbrauchs beim Konsum wieder verwendet werden. Insbesondere bei den Erstausstrahlungsrechten für Spitzenereignisse, deren Zahl nicht beliebig vermehrbar ist, hat dies zu dynamischen Preissteigerungen geführt, aber auch bei ehedem billigen Kaufprogrammen ist es zu Programmpreiserhöhungen gekommen, was den TV-Stationen zunehmend Mittel für Eigenproduktionen entzieht.
Produktspezifika Von zentraler Bedeutung ist die Tatsache, dass Medienunternehmen für gewöhnlich auf zwei unterschiedlichen Märkten operieren müssen (Dualer Markt genannt), dem Markt für Werbung auf der einen Seite, dem Markt für Programme (Inhalte) auf der anderen. Auf dem ersten fragt die werbende Wirtschaft Publikum, d.h. Kontakte nach, auf dem zweiten fragen die SeherInnen, HörerInnen, LeserInnen Inhalte der Medienerzeugnisse nach. In der Massenmedienbranche werden nicht nur Information, Meinung und Unterhaltung, sondern die Nachfragenden des einen Marktes als ›Produkt‹ am anderen Markt gehandelt (Bates 1987: 146f.).
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Massenmedienunternehmen2 lukrieren ihre Einnahmen daher von zwei Seiten: von den LeserInnen, HörerInnen und SeherInnen einerseits und von der werbenden Wirtschaft andererseits, wobei der Anteil der Werbeeinnahmen in einer langfristigen historischen Betrachtung im Steigen begriffen ist3 und jenen der Verkaufserlöse (bzw. der Gebühren) oftmals schon übersteigt. Damit werden die Anzeigenkunden zum bestimmenden Nachfragefaktor; bei den KonsumentInnen der Medienprodukte wird um Aufmerksamkeit für Werbung geworben. Die Funktionsmechanismen des Dualen Marktes werfen so die Frage auf, was denn als Produkt gehandelt wird: das Publikum oder die Programme. Die Antwort muss sein: Beides, aber auf unterschiedlichen Teilmärkten. Noch weiter können wir aber den Blickwinkel richten, wenn es um die Problematik geht, was denn die Produkte der Fernsehindustrie sind, was als ›Output‹ des Fernsehens zu sehen ist: Sind es die Programme, oder ist es das Publikum, sind es die generierten Bedeutungen oder die vermittelten dahinter liegenden Wertvorstellungen? Jedenfalls ist eindeutig, dass TV-Programme Öffentliche Güter darstellen aus den beiden Gründen, die sie in der Mikroökonomie klassischerweise als solche definieren: Erstens verbrauchen sich die Güter beim Konsum nicht (sie sind nicht-exklusiv), sie können daher beliebig oft weiter veräußert werden. Zweitens können aufgrund der Nicht-Rivalität im Konsum von Haus aus eine Vielzahl an Konsumenten ohne Zusatzkosten ›bedient‹ werden. Ergebnis dieser öffentlichen Gut-Eigenschaften ist, dass ein Preismechanismus zur Markträumung nicht mehr greift. So gibt es keine klare Preisbestimmung zwischen Publikum und Anbieter, aber sehr wohl zwischen TV-Station und Programmrechteinhaber. Der Preismechanismus führt hier (stärker als in anderen Branchen) nicht zu Wettbewerb, was die Tendenz zu Unternehmenskonzentration verstärkt (Grisold 1998).
Arbeitsbeziehungen: Ökonomische Zensur als unsichtbare Zensur Wenngleich Eigentumsstrukturen immer höher konzentriert werden, wird doch oft argumentiert, dass unter den Bedingungen von Demokratie und 2
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Genauer gesagt: Printmedienunternehmungen, die nicht gratis abgegeben werden, und öffentlich rechtlicher Rundfunk, denn der private Rundfunk finanziert sich mehrheitlich über Werbung. Formen von Pay-TV sind hier außer Acht gelassen. Eine Ausnahme dazu stellen die öffentlich-rechtlichen TV-Stationen in Deutschland dar: Deren Werbeeinnahmen sind in den letzten zwei Dekaden drastisch zurückgegangen.
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Pressefreiheit dies keine negativen Auswirkungen mit sich brächte, seien doch Meinungsfreiheit und Darstellungsfreiheit keineswegs eingeschränkt. Diesem an sich hochlöblichen theoretischen Konstrukt können beispielsweise die konkreten Arbeitsbedingungen von JournalistInnen gegenüber gestellt werden. Arbeitsmarkttheorie ist ein wichtiger Bestandteil der ökonomischen Theorie. Sie nennt Angebots- und Nachfragefaktoren; über den Lohn, den Preis für Arbeit, kommt es zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Über die diese Arbeitsbeziehungen an zentraler Stelle mitkonstituierenden Machtbeziehungen im engeren Sinne wird aber – von mainstream-ökonomischer Seite – wenig bis nicht geforscht, und speziell für den Mediensektor sind sie zur Gänze ausgespart. Es empfiehlt sich für unsere Zwecke daher ein Rückgriff auf andere Sozialwissenschaften, die ihrerseits ökonomische Kategorien mitreflektieren. »Die Journalisten tragen eine spezielle ›Brille‹, mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt.« (Bourdieu 1998: 25)
Bourdieus Argumentation zielt zunächst auf journalistisches Agieren in einem professionellen Umfeld, das in hohem Maß von Konkurrenzverhältnissen bestimmt ist. Daneben gibt es aber auch signifikante, identitäts- und bewusstseinsstiftende Gemeinsamkeiten, »geistige Strukturen, Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien […], die aus ihrer sozialen Herkunft, ihrer Ausbildung (oder Nichtausbildung) resultieren. Fernsehen ist in Wirklichkeit gefesselt« (Bourdieu 1998: 50). Im Journalismus ist die Anpassung an die Nachfrage kein Produkt eines bewussten Arrangements zwischen Produzenten und Konsumenten. Wettbewerb existiert zwischen den Produzenten, und es gibt ein Zusammenspiel von möglichen Positionen und tatsächlich eingenommenen Positionen. Indem die Regeln der objektiven Konkurrenz zwischen sich gegenseitig ausschließenden Positionen innerhalb des Feldes eingehalten werden, tendieren die unterschiedlichen Produzenten dazu, Produkte anzubieten, die den jeweiligen Erwartungen der unterschiedlichen Machtpositionen entsprechen; freilich ohne dies bewusst anzustreben, sondern intuitiv und internalisiert (Bourdieu 1993: 45). Dieser Wettbewerb und die soziale Struktur im journalistischen Feld führen laut Bourdieu – in gänzlich anderer Weise als in der Standardtheorie der Mainstream-Ökonomie proklamiert – zu konformistischem Verhalten und somit inhaltlicher Gleichförmigkeit. »Ebenso unterscheiden sich die Fernseh- und Radionachrichten der meistverbreiteten Pro-
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gramme besten- oder schlimmstenfalls in der Reihenfolge der Meldungen« (Bourdieu 1998: 31). Wie Bourdieu hält auch Luhmann (1996) in Bezug auf Arbeitsbeziehungen im journalistischen Feld fest, dass spezifische soziale Konstellationen und ökonomischer Druck konformistisches Verhalten nach sich ziehen. In der Bourdieuschen Terminologie ist es unsichtbare Zensur, während Luhmann von ›Arbeiten mit Schablonen zur Selektion von Nachrichten‹ spricht. »Noch bevor man sie zur Ordnung rufen muss, beugen sich die Menschen einer bewussten oder unbewussten Selbstzensur«, schreibt Bourdieu, und dies gilt keineswegs nur für das journalistische Arbeitsfeld. Für die ökonomische Verortung von Medien haben Beobachtungen wie diese höchst folgenreiche Konsequenzen: Wettbewerb und die daraus resultierende Konfiguration von sozialer Struktur führen zum – bereits angesprochenen – konformistischen Verhalten, das in weiterer Konsequenz in inhaltliche Gleichförmigkeit mündet. Dies ganz konträr zu den positiven Auswirkungen des Wettbewerbs, wie sie in der Mainstream-Theorie nicht oft genug betont werden können. Damit zu einem letzten Punkt, der das Bestimmungsverhältnis von Ökonomie und Medien beispielhaft verdeutlicht.
Standardisierung der Produkte Die vielfach konstatierte Ironie, dass ein merklicher Anstieg in der Zahl der sendenden Stationen zu einer Verengung, Standardisierung, ja Schematisierung der Programminhalte führt, lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen erklären. Ein Mehr an TV-Stationen bedeutet etwa höhere Konkurrenz am Werbemarkt und somit billigere Werbezeiten. Damit werden die einzelnen Stationen gezwungen, ihre Werbezeiten entweder drastisch auszuweiten oder weniger Werbeeinnahmen zu akzeptieren, was wiederum eine Reduktion disponibler Mittel für die Programmgestaltung bedeutet. Mit der steigenden Anzahl sollte sich das Problem des Ausschlusses von Programmtypen zwar in einem geringeren Ausmaß stellen, das Problem der Kosteneffizienz der Programmduplikation aber bleibt bestehen. Daraus resultiert ein Programmselektionsprozess, der gegen minoritäre Programme gerichtet ist. Am nachhaltigsten ist die Tendenz zu einem »more of the same« bei vermehrtem Angebot an sendenden Stationen von Vertretern der US-amerikanischen ›TV-Economics‹ begründet worden (Owen et al. 1974). Der durch rein kommerzielle Sender geschaffene Anreiz, reichweitenmaximierend ausschließlich massenwirksame und damit auf allen Sendern die immer gleichen Programme anzubieten, ist demgemäß als »lowest common denominator« bezeichnet worden
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und inzwischen keineswegs nur im privatwirtschaftlichen Sektor vorzufinden (Grisold 2004: 291f.). So wird bei den ökonomisch determinierten Begründungen im Falle des Fernsehens oftmals von doppelter Standardisierung gesprochen: die gegebenen Kostenstrukturen fördern ähnliche Inhalte, die Einnahmenseite braucht hohe Einschaltquoten. Zusätzlich ist noch zu konstatieren: Die Wichtigkeit der Erwartungen bzw. Annahmen auf unternehmerischer Entscheidungsebene darüber, was das Publikum interessiere, führt ebenso zu standardisierten Produktionen, wie das Vorhandensein kleiner Produktionsfirmen mit wenigen großen finanzkräftigen TV-Stationen als Auftraggeber eine Risikovermeidungsstrategie nach sich zieht, die Innovationen hemmt (Saundry/Nolan 1998). Die De- bzw. Reregulierung hat in Europa zur Folge, dass die vermehrte Anzahl an TV-Stationen am Markt vermehrt Produkte, Programme, Sendeeinheiten nachfragt. Diese Produkte werden beim Konsum nicht verbraucht, verlieren aber an Wert. Eine Erstausstrahlung ist für das Publikum attraktiver als die dritte Ausstrahlung innerhalb kurzer Zeit, aber die vielfache Ausstrahlung ist ohne nennenswerte Zusatzkosten möglich. Auch ist empirisch zu beobachten, dass das zusätzliche Programmangebot nicht generell dem Ausmaß der Erhöhung der gesendeten Programmzeit entspricht. Es wird, wenn überhaupt, dann vor allem im geringpreisigen Segment hergestellt. Die Gründe für diese Entwicklung sind: – Nichtverbrauch bei Konsum. – Eigenproduktionen sind teurer als Kaufprogramme (bei Spielfilmen und Dokumentationen, nicht bei Billigproduktionen wie GameShows); der Kauf wird in Paketen durchgeführt. – Wichtige Produkte können nicht beliebig vermehrt werden (Sportübertragungen), für diese ist der Preis exorbitant gestiegen, für Stationen mit geringerer Reichweite oder geringerem potentiellen Marktraum daher kaum mehr erschwinglich. Die auch in diesem Beitrag vertretene These, wonach eine Vermehrung der Sendeanstalten keinesfalls (und jedenfalls nicht automatisch oder marktgesetzlich) zu Angebotsstreuung, zu Vielfalt und Differenz im Sende- und Programmangebot führen muss, impliziert im weiteren Sinn Gegenteiliges: »Einfalt statt Vielfalt«, wie es polemisch zugespitzt (und verkürzt) formuliert werden könnte. Damit sind ganz allgemein Fragen der Schematisierung und Standardisierung in der kulturindustriellen Produktion angesprochen. Fragen, wie sie Vertreter der in das US-Exil gedrängten Frankfurter Schule bereits in den 1940er Jahren und in seitdem uner-
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reichter kritischer (und wohl auch polemischer) Schärfe angesprochen haben (Horkheimer/Adorno 1998). Besonders interessant scheint mir in diesem Zusammenhang auch die von anderer, systemtheoretischer Seite argumentierte ›Schließung‹ des Systems (Luhmann 1996): Beobachten wir nicht immer häufiger ein autopoietisches System, indem die Medien sich vorrangig nur auf sich selbst beziehen, jegliche andere Systeme negieren bzw. nur durch ihre Systemschemata betrachten? Zusammenfassend kann festgehalten werden: Während sich die ökonomische Theorie vorrangig mit dem Nachfragebereich innerhalb der Kulturindustrien beschäftigt (evt. noch mit dem Produkt als solchem und mit den Eigentumsstrukturen der Bereitstellung dieser Güter), sind es überwiegend außerökonomische sozialwissenschaftliche Forschungsfelder, die die Angebots- und Produktionsstrukturen der Kulturindustrien detaillierter beleuchten. Um die ökonomischen Beziehungen adäquat analysieren zu können, ist daher ein integrativer Ansatz notwendig.
2 . F e rn s e he n w i r kt a u f d i e Ök o no mi e Sind Medien allgemein, und im Besonderen natürlich auch der TV-Sektor, von ökonomischen Bestimmungsmomenten geprägt und geformt – wenn auch, wie wir gesehen haben, zu einer von den Prognosen und Erwartungen der Mainstream-Ökonomie unterschiedlichen Weise –, so ist die Kehrseite dieses Bestimmungsverhältnisses, die Beeinflussung der Ökonomie durch Kulturindustrien wie das Fernsehen, zumindest für die Ökonomie weitgehend terra incognita. Die drei wesentlichen Aspekte sollen im Folgenden behandelt werden.
Herausbildung und Ausweitung von Massenmärkten Wie Harold Innis überzeugend darlegte, wurden durch moderne Kommunikationsmedien immer weitere Teile der Gesellschaft in ein Marktsystem einbezogen, die Etablierung von Massenmärkten daher erst möglich gemacht (Innis 1991). Dies gilt für das Fernsehen stärker als für andere Medienformen, da die Macht der Bilder additiv zu sehen, als Reichweitenmaximierung mit kommerzieller Nutzung gut vereinbar ist.4
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Im Gegensatz zum Radio, dort ist die kommerzielle Nutzung mit steigender technischer Reichweite geringer, und zum Internet, das Interaktivität benötigt.
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Die historische Entwicklung der Ökonomie kann über die Herausbildung von Netzwerken in Handel, Transport und Kommunikation erklärt werden. War es ursprünglich die Entwicklung der Eisenbahn, die den Prozess der Industrialisierung beschleunigte, so ist es heute die Entwicklung der Telekommunikation und der neuen Medien wie Internet, denen treibende Kraft bei der Veränderung des ökonomischen Feldes zugeschrieben wird (wie dann auch, im Sinne des Zeitgeistes, gerne von einer New Economy gesprochen wird). Für das Fernsehen kann folgender dialektischer Zusammenhang geltend gemacht werden (Innis 1991): Ursprünglicher Effekt der Medien war es, primären Produzenten Zugang zu Marktinformationenn zu eröffnen und zugleich, über den verbesserten Informationsstand, positiv gegenüber Handel wie Händlern zu wirken. Längerfristig halfen und helfen die in diesem Konnex dann ›neuen Medien‹ auch den abgelegensten Produzenten, sich in ein universelles Marktsystem zu integrieren. Damit werden wiederum Agglomerationen geschaffen, von Nationalstaaten und Unternehmenskonzentrationen bis hin zu kulturellen wie ökonomischen Monopolen. Vor allem Massenmärkte brauchen mediale Infrastruktur. Dies nicht nur im klassischen Sinne, um über Werbung Informationen über Produkte zu verbreiten, um Bedürfnisse zu generieren und zu kanalisieren, sondern in viel umfangreicherem Sinne, um ein konsum-freundliches Klima zu schaffen. Somit werden Normen und Werte als konstitutive Elemente ökonomischen Handelns durch Massenmedien mitgeformt, über die jeweils vermittelte Information (respektive Nicht-Information), über propagierte Verhaltensnormen wie Zeitstrukturen. Habituelles Verhalten wird somit entscheidend mitgeprägt. Speziell die symbolische Ebene der Kulturindustrien, besonders aber der Massenmedien ist es, die auf das ökonomische Feld einwirkt.
Konsumentenverhalten: Präferenzen, habituelles Verhalten Konsumpraktiken und Präferenzstrukturen – dies sei hier vorab festgehalten – werden über Massenmedien, und hier nicht zuletzt über das Fernsehen, mitgeformt, Handlungsmuster werden über Massenmedien mitbestimmt. Indem die Kulturindustrie Fernsehen ihre eigene Logik entwickelt, greift sie auch in wichtige Bestimmungsfaktoren der Ökonomie ein, die über Konsum- und Rezeptionsgewohnheiten verändert werden. Medien prägen und wirken so auf Normen und Wertekanons, die ihrerseits in ökonomischem Handeln zum Tragen kommen; damit aber fällt eine wesentliche Vorbedingung für das Konzept der Konsumentensou72
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veränität. Zugleich wird vom Massenmedium Fernsehen häufig konstatiert, dass es in einem affirmativen Sinn wirke, indem es dominante Kulturen/Interessen stütze und Minderheitspositionen wie Minderheiten überhaupt – zumindest der Tendenz nach – marginalisiere. Die ökonomische Forschung hat sich, wie angemerkt, mit ebendiesen Auswirkungen noch kaum auseinandergesetzt. Ein anschauliches Beispiel, dass dies für den Analysebereich der Mikroebene seine Gültigkeit hat, liefern die ausgezeichneten Arbeiten von Bowles und Gintis (z.B. Bowles 1998), die die Endogenität der Präferenzen anhand unterschiedlichster Beispiele aufzeigen5 und in einem breiteren Kontext für unsere Argumentation von entscheidender Relevanz sind. Wenn wir es nämlich mit endogenen Präferenzen zu tun haben, so sind autonome Entscheidungen der Konsumenten nicht möglich, sondern immer auch vom Marktgeschehen determiniert, es ergibt sich daher eine Rückbezüglichkeit: Ökonomische Akteure bestimmen die ökonomische Nachfrage mit, daher kann Marktmacht ausgeübt werden. Die ökonomische Mainstream-Theorie geht von der Exogenität der Präferenzen aus, d.h. dass die Vorlieben der potentiell konsumierenden Menschen exogen, also außerhalb des Ökonomischen, bestimmt werden, und folglich die ökonomische Wissenschaft nicht zu interessieren haben. Wenn aber, wofür gute Begründungen vorliegen, Normen und Werte – wiewohl keineswegs ausschließlich – im Wege der Massenmedien mitgeformt werden, so wird eben dadurch, wie auch durch andere ökonomisch motivierte Handlungen, der Prozess der Formierung von Präferenzen entscheidend beeinflusst und mitbestimmt. Damit wird ein weiteres zentrales Element der Mainstream-Ökonomie hinfällig: die Konsumentensouveränität. Der methodologische Individualismus der Neoklassik baut mit seinem ›de gustibus non est disputandum‹ darauf auf, dass der Konsument als Souverän darüber entscheidet, was er wie in welcher Menge konsumiert (wenn auch nach Maßgabe seiner Budgetrestriktion). Die Problematik wird keineswegs konsensual abgehandelt. Während Kenneth Galbraith (1973) ganz explizit von Produzentensouveränität spricht, legt eine Zusammenschau neuerer Ansätze den Schluss nahe, dass keinerlei Souveränität, weder von Produzenten- noch von Konsumentenseite, zu identifizieren sei, aber beide Seiten Gestaltungsspielräume vorfinden, wobei die Tendenz insgesamt zu größerer Produzentensouveränität weist. Dezidiert ausgeschlossen ist das Konzept der Konsumentensouveränität bei Bourdieu, Horkheimer/Adorno und Luhmann. Bourdieu spricht von der Hegemonie der Definitionsmacht dominanter Gruppen, Luhmann formu5
Dass sie Massenmedien (und in diesem Zusammenhang auch das Fernsehen) nur in einem kleinen Nebensatz erwähnen, sei hier nur am Rande erwähnt, zeigt aber den Umgang vieler Ökonomen mit Massenmedien, der darin besteht, ihnen keinerlei Bedeutung beizumessen.
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liert pointiert: die Annahme der Individualität »schmeichelt trotz ihrer Uniformität dem Individuum, da sie es [als] Herrn seiner eigenen Entschlüsse« (Luhmann 1996: 132) beschreibt. Wenn wir also davon ausgehen, dass es dominante Interessen, dass es Machtstrukturen in der Tat gibt, so schließt dies Konsumentensouveränität als theoretisch-abstraktes Konstrukt und konkretes Konzept aus, vielmehr ist es die Produzentenseite, die in sich nicht verringernder Intensität mitbestimmt, welche Inhalte und Programme letztlich angeboten werden, und wie dies geschieht.6 Insgesamt resultiert dies in einem von der Standardtheorie deutlich divergierenden Menschenbild: Im Gegensatz zum homo oeconomicus, diesem Nutzen maximierenden, souverän agierenden Individuum, steht das pragmatische Menschenbild, als Ergebnis sowohl von erweiterten ökonomischen Zugängen als auch des kulturwissenschaftlichen Diskurses konzipiert und entworfen.7
Sinnzuschreibungen Fernsehen bestimmt über das ihm inhärente symbolische Kapital erstens die Strukturierung von Wahrnehmungsmodi und zweitens die Konstruktion von Realitäten. Als Vermittler sozialer Deutungsmuster fungiert Fernsehen aber auch als eigene sozioökonomische Struktur und somit als Institution, erscheint uns doch eine ›Realität‹ ohne Massenmedien nicht mehr denkbar. Betrachten wir beispielhaft den Bereich der Werbung als Anknüpfungspunkt: Festzustellen ist eine sukzessive Zunahme der Werbung,8 wie im Längsschnitt generell eine Expansion der Käufermärkte auszumachen ist. Mit der Einführung von privatwirtschaftlichen, auf Werbeeinnahmen verwiesenen TV-Stationen wurde eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten von Standardisierung und Unterhaltung getroffen. Damit werden aber auch in einem vermehrten Ausmaß tradierte soziale Muster, kulturelle Wert- und Erwartungshaltungen fortgeschrieben, z.B. jene, dass das ›Haben‹ von Gütern mit dem Zugang zu Glück einhergehe. Gleichzeitig trägt die Fokussierung auf ›Unterhaltung‹ dazu bei, auf (symbolischen wie materiellen) Konsum ausgerichtete Lebensstile zu 6
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Dabei ist keineswegs vergessen, dass von Seite der TV-Stationen über Marktforschung wie Medienanalysen versucht wird, herauszufinden, was ›dem Konsumenten‹ gefällt, denn es werden ja nach Reichweitenstärke Werbetarife gesetzt. Können auch die aktuellen Reichweitedaten ermittelt werden, sind doch trotzdem der Erfassung der Publikumswünsche finanziell wie methodologisch durchaus enge Grenzen gesetzt. Nutzinger und Panther (2005) beschreiben dies als homo culturalis. Wiewohl Werbungsausgaben prozyklisch sind, d.h. in Zeiten schwacher Konjunktur rückläufig.
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propagieren, nimmt also einen nicht unbedeutenden Stellenwert im Rahmen einer neuen, post-industriellen Ökonomie ein, deren wesentliche Merkmale ja die Beschleunigung der Zirkulation von Gütern sowie die Komprimierung von Produktzyklen sind. Gehen wir gemäß Hodgson9 auch in der ökonomischen Forschung von der prinzipiell sozialen Verfasstheit des Individuums aus, dessen Präferenzfunktionen nicht ein für allemal extern fixiert sind, sondern in einem ständigen Fluss der Adaption und des Wechsels kontinuierlich neu konfiguriert werden. Die individuellen Perzeptions- und Aneignungsmechanismen von Wissen sind notwendigerweise gesellschaftlich determiniert und bringen ebenso notwendigerweise soziale Kultur und Praktiken zum Ausdruck. Der Institutionalismus postuliert die gesellschaftliche und kulturelle Bedingtheit von Ökonomie und insistiert auf ein erweitertes, umfassenderes Set an Erklärungsvariablen, als dies üblicherweise in Angebots- und Nachfrageanalysen der Fall ist. Es sind kulturelle Praktiken und Symbolebenen – gesellschaftliche Konventionen ebenso wie tradierte, habituelle Verhaltensweisen – die den ökonomischen Prozess (mit)bestimmen und regulieren. In diesem Sinn war es mit Veblen (1934) einer der Begründer der institutionellen Schule, der erstmals versucht hat, die Sphären des Ökonomischen und des Kommunikatorischen, des Materiellen und des Symbolischen integrativ zusammen zu denken. Dies vorausgesetzt, reicht es für unsere Zwecke also keinesfalls, die jeweiligen Überlagerungen und Überschneidungen der Realitäten ökonomischer (wie sozialer) Sachverhalte mit den eigenlogischen Symbolwelten des kulturellen Feldes zu konstatieren und zu durchleuchten. Es muss um die Frage gehen, wie ökonomisches Verhalten in Abhängigkeit von und in wechselseitiger Bestimmung mit kulturellen Determinanten definiert (und zu erklären) ist. Nun konnte Lury (1992) zu Beginn der 1990er Jahre mit durchaus großer Berechtigung die Feststellung treffen, dass Analysen von Massenmedien und Kultur – trotz der herausragenden Bedeutung, die ihnen in postfordistischen Gesellschaften zukommt – die Sozial- wie die Wirtschaftswissenschaften traditionellerweise vor massive Probleme stellen. Daran hat auch eine sich im letzten Jahrzehnt weiter ausformierende Politische Ökonomie der Medien nichts wesentliches verändert, wenn sie in Teilen auch genau an dem Punkt angesetzt hat, einen – häufig kontrovers debattierten (und somit durchaus diskursiven) – theoretischen Analyserahmen zu entwickeln. Der Brite Nicholas Garnham hat in Bezug auf das Fernsehen mehrfach darauf verwiesen, dass die kulturellen, symbolischen Dimensionen dieses Mediums keineswegs vernachlässigt wer9
Hodgson als ein pointierter Vertreter der Institutionellen Schule, einem Gegenkonzept zur Mainstream-Ökonomie.
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den dürften, gerade weil es eben auch diskursive Strategien und Ideologien produziere. Zugleich könne diese Symbolproduktion nicht ohne Analyse ihrer konkreten politisch-ökonomischen Fundierungen und des sie konstituierenden materiellen Kontextes verstanden und erklärt werden (Garnham 1990b). Kulturelle Praktiken (und ihre politischen Effekte), d.h. die Art und Weise, wie Menschen ihrem Leben Sinn geben und wie sie unter diesen Umständen konkret agieren – können schlüssig analytisch nur erfasst werden, wenn danach gefragt wird, was sowohl die materiellen wie die symbolischen Ressourcen dieser Praktiken sind, wie sie, strukturell determiniert, durch die Institutionen und Kreisläufe der kommodifizierten kulturellen Produktion, Distribution und Konsumption zugänglich (gemacht) werden. Seifenopern, Nachrichten-Shows, Hochkultursendungen etc. sind als kulturelle Praktiken dann nicht zu verstehen, wenn die Institutionen, die sie produzieren und distribuieren, aus der Untersuchung ausgeschlossen werden. Es sind die Veränderungen und Transformationsprozesse in der Ökonomie, die in einem konstitutiven Bezugsverhältnis zu entsprechenden Änderungen in der Politik und im Verhältnis der Politik zu Institutionen der massenmedialen Kommunikation, wie Printmedien oder eben TV-Stationen, stehen. Keinesfalls, so argumentiert Garnham, könne es einer Politischen Ökonomie der Medien darum gehen zu argumentieren, alle kulturellen Praktiken seien von der Produktionsweise des materiellen Lebens determiniert (oder für diese gleichsam funktional). Sehr wohl aber gehe die Disziplin von ganz bestimmten, die kapitalistische Produktionsweise zentral konfigurierenden und gestaltenden strukturellen Merkmalen und Charakteristika aus: (Lohn-)Arbeit und Warentausch sind es nach wie vor und vor allem anderen, die, notwendigerweise und unabdingbar, die Bedingungen menschlicher Existenz konstituieren (Garnham 1990a). Es sind diese Bedingungen, die das Terrain, auf dem sich kulturelle Praktiken entfalten, formen und aufbereiten – das physische Environment, die zur Verfügung stehenden materiellen und symbolischen Ressourcen, die Rhythmen der Zeit und die räumlichen Bezüge; sie bestimmen die kulturelle Agenda.
3 . A us w i r k u ng e n Vor dem Hintergrund des hier skizzierten wechselseitigen Bestimmungsund Bedeutungsverhältnisses von Ökonomie und der Kulturindustrie Fernsehen stellt sich die Frage nach den eingangs angesprochenen Replacements. Dabei werde ich darauf eingehen, wie die ökonomische
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Theorie sie im Bezug auf das Medium Fernsehen vornimmt (das vice versa kann in diesem Beitrag aus Platzgründen weniger interessieren), besonders unter dem Aspekt aktueller Liberalisierungen und Deregulierungen. Was konkret sind die Auswirkungen dieser Dependenzen? Lassen Sie mich aus dem bereits Erwähnten noch einmal die Spezifika des hier zur Erörterung stehenden Untersuchungsgegenstandes zusammenfassen. Sie beziehen sich primär auf: 1. Marktformen; 2. Kosten- und Produktionsseite; 3. homo culturalis aufgrund nicht vorhandener Konsumentensouveränität. Und exakt auf diese Spezifika nehmen jene Replacements Bezug, als Verortungen, die die ökonomische Wissenschaft mit Medienwelten vornimmt, um sie ins Weltbild der ökonomischen Mainstream-Theorie einzupassen.
Replacement 1: Marktformen »Liberalisierung verstärkt den positiven Wettbewerb, das führt zu einer größeren Zahl an Anbietern und somit zu größerer Vielfalt der Programme«. So kann eine Kernaussage der Mainstream-Ökonomie zur aktuellen Medienpolitik zusammengefasst werden. Die dahinter liegende Idee ist, dass Wettbewerb per se positiv sei, zu perfekter Allokation der Ressourcen führe. Ein erhöhtes Angebot an TV-Stationen erhöht somit die Vielfalt der angebotenen Programme, oder, in anderen Worten: Private TVStationen sind effizient, öffentlich rechtliche ineffizient. Was allerdings – noch viele Jahre nach der Liberalisierung des Fernsehsektors, dessen europaweite Durchsetzung mit der Fernsehrichtlinie ›Fernsehen ohne Grenzen‹ 1989 begann (CEC 1989) – als empirischer Befund festzumachen ist, das sind andere Marktstrukturen, nämlich jene des hohen Konzentrationsgrades (CEC 1992; Preston/Grisold 1995; Dörr 1996). Auf der Distributionsseite, innerhalb der TV-Stationen, haben wir es mit ausgeprägten nationalen Oligopolgraden zu tun; wo dies nicht kartellrechtlich unterbunden wird, auch mit transnationalen Großunternehmen. Auf der Produktionsseite stellen einige führende Unternehmen den Löwenanteil an Produktionen (wie Saundry/Nolan 1998 für den Markt in Großbritannien, DIW 1999 für deutsche Fiktion-Produktionen gezeigt haben), kleine ›Independent Producer‹ halten marginale Marktanteile und sind zumeist hochgradig abhängig von einem Auftraggeber (Saundry/Nolan 1998). Darüber hinaus hat in den letzten Jahren auch eine verstärkte
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Integration stattgefunden, was den Konzentrationsgrad noch weiter erhöhte (Jarren/Meier 1999; Bagdikian 2004).
Replacement 2: Kosten und Produktionsseite Zu Kosten- und Produktionsbedingungen vertreten Liberalisierungsbefürworter die These: »Liberalisierung führt über Effizienzsteigerung dazu, dass bessere Güter (=Programme) angeboten werden«. Was in den letzten zwei Jahrzehnten seit der Liberalisierung des Fernsehens aber, die Kosten- und Produktionsseite betreffend, tatsächlich eingetreten? Mit einer gestiegenen Anzahl an TV-Stationen hat eine einzelne Station weniger Einkommen zur Verfügung, die Kosten der Programme aber steigen. Somit ergibt sich die Notwendigkeit der Kostenreduktion in den Fernsehstationen. Billigere Programme (Wiederholungen, Game Shows, gesponsertes Programm) werden gesendet, und es wird auf ›sichere‹ Produktionen rückgegriffen, somit gibt es weniger Innovationsfreudigkeit in der Programmgestaltung. Die Vervielfältigung der Vertriebskanäle hat, wie oben bereits dargelegt, in einer Art ironischer Dialektik die Unelastizität des Angebots nicht aufgehoben (Grisold 2004: 294f.), sind doch die wichtigen und nachgefragten Akteure knapp, die Reichweiten maximierenden »Spitzenereignisse« ebenso, und ist schließlich prinzipiell das Konzept des topevents und des blockbusters per definitionem durch relative Seltenheit ausgewiesen. Mit erhöhter Nachfrage nach Programmen (die sich aus der Vermehrung der TV-Stationen ergibt) wird der Ankauf von Programmen teurer. Erstens aus dem Grund, dass der Handel mit Kaufprogrammen hochkonzentriert ist; zweitens, weil es zu keiner quantitativen Steigerung der Produktion kommen muss, können doch auf Grund des Nichtverbrauchs beim Konsum die Produkte wieder verwendet werden. Besonders wirkt sich diese Preiserhöhung bei Erstausstrahlungsrechten für »Spitzenereignisse« aus, deren Zahl nicht beliebig vermehrbar ist, wenn sich auch z.B. die internationalen Sportverbände nach Kräften bemühten, immer neue Wettbewerbe (sei dies nun im Fußball, in der Formel 1 oder im Skispringen) ins Leben zu rufen. Daraus folgt, dass mehr Ausgaben für den Ankauf von Programmen getätigt werden müssen, sowohl für »Spitzen«-Ereignisse, die hohe Reichweite garantieren, als auch für ehedem billige Kaufprogramme; somit bleibt innerhalb einer TV-Station weniger Geld für eigene Produktionen, die auf Grund ihres kulturellen Bezugs vom Publikum aber gewünscht sind.
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Bei der Betrachtung des dualen Systems als Nebeneinander von privaten und öffentlich rechtlichen Fernsehstationen stellte Herman bereits 1993 fest, dass sich das neue kommerzielle System in Westeuropa zunehmend im »Cream-Skimming« übe; ein möglichst großes Segment des Massenpublikums werde mit minimalen Kosten erreicht, während keinerlei öffentliche Verantwortlichkeit übernommen werde. Für das Konzept externer Effekte betrachtet heißt dies, die neuen kommerziellen Anbieter bringen keine positiven Externalitäten, produzieren aber einiges an negativen externen Effekten. Da sie Publikum von den öffentlichen Rundfunkanstalten abschöpfen, werden zweitere unter finanzielle Schwierigkeiten geraten, die sie mit finanzieller Stringenz und einem erhöhten kommerziellen Finanzierungsanteil beantworten müssen. Damit transformieren sich öffentliche Anbieter zusehends in kommerzielle Rundfunkanbieter. Mehr als eine Dekade später sei es der Leserin/dem Leser überlassen, diese damalige Aussage als verifiziert oder falsifiziert zu betrachten.
Replacement 3: Konsumentensouveränität Zur Rolle der Konsumenten hat der ökonomische Mainstream folgende Kernaussage: »Die Konsumenten bestimmen als Souveräne – über den Preis, den zu zahlen sie bereit sind – welche Güter produziert werden«. Für den Fernsehsektor wird das oft folgendermaßen formuliert: »Das Publikum bekommt das Programm, das es will.« In Zusammenhang mit der Liberalisierung genannt, ist obiges Argument der Nachfragedeterminierung des Programms meist verbunden mit einer Forderung nach stärkerer Bereitstellung von TV-Programmen über privatwirtschaftliche Kanäle, da der Markt ja das beste Allokationssystem darstelle. So der übliche Begründungskanon für privatwirtschaftlich angebotenes Fernsehen, führe doch öffentlich rechtliches Programm zu Bevormundung, privatwirtschaftliches hingegen zu Konsumentensouveränität. Nur privatwirtschaftliches Fernsehen biete die Wünsche der ›Konsumenten‹ an; nur unter den Bestimmungen freier marktwirtschaftlicher Organisation des Mediums ›bekommen die Konsumenten, was sie wollen‹. Diesem Wunschdenken sei entgegengehalten: Gerade beim Medium Fernsehen wirkt der Preismechanismus nicht bzw. sehr eingeschränkt. Die Programmanbieter versuchen über Marktforschung10 zwar, die Wünsche und Präferenzen der Konsumenten zu ergründen, ihre Informationen darüber, was Konsumenten wollen, bleiben aber unvollständig. Es ist zudem nicht unberechtigt, die Frage zu stellen, ob Konsumenten abzuschätzen vermögen, was sie wollen, bevor sie es gesehen haben (Kiefer 2005: 236). Und all dies lässt immer noch die Fra10 Sofern sie über die erforderlichen Mittel dafür verfügen.
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ge danach offen, ob es gesellschaftlich wünschenswert ist, dass der Preis das alleinige Bestimmungskriterium für das angebotene Programm sein soll oder kann. Ist es möglich, eine (demokratische) Öffentlichkeit über das Walten von ›Marktinstrumenten‹ am Massenmediensektor herzustellen, und kann dies unter den Bedingungen der hier kurz dargestellten Defizite der Marktinstrumente überhaupt als erstrebenswerte Zielsetzung formuliert werden?
4 . R e s ü me e Fernsehen als Medium ist zugleich und für sich gesehen ein bedeutender ökonomischer wie auch politischer Akteur. Wir haben es mit Güter produzierenden industriellen und kommerziellen Organisationen von nicht marginaler Größenordnung zu tun. Interdependenzen und wechselseitige Bestimmungszusammenhänge sind gerade in diesem Forschungsfeld von überaus komplexer Natur: Massenmediale Produkte folgen der Logik und den Vorgaben ökonomischer Rationalität und ökonomischen Kalküls, während die Massenmedien ihrerseits auf wesentliche Bestimmungsfaktoren der Ökonomie einwirken: indem sie Konsum- und Rezeptionsformen beeinflussen und verändern, indem sie mit ihrer Berichterstattung über ökonomische und politische Prozesse und Phänomene bestimmte Sichtweisen und Realitätskonstruktionen befördern, also eine ideologische Dimension einbringen. Die ökonomische Betrachtung des Mediums Fernsehen kann helfen, über marktliche Kanäle effizientere Strukturen einsetzen zu können. Somit ist eine Berücksichtigung der ökonomischen Dimension notwendig, aber nicht hinreichend zur Erklärung des Phänomens Fernsehen. Alleine die Privatisierung vordem »gemeinnütziger« Unternehmen hat sich noch nicht als zielführend herausgestellt, ein verstärktes Augenmerk auf die öffentlichen, gemeinnützigen Aufgaben und Ziele innerhalb der ökonomischen Ordnung wäre daher vonnöten. Die beiden gegensätzlichen Pole des semantischen Bedeutungswandels des Begriffs Gemein11 können Ausgangspunkt abschließender Überlegungen dieses Beitrags sein, nicht zuletzt, um weiterführende grundsätzliche Überlegungen zu einer Theorie der Politik für den TV-Sektor anzuregen (Grisold 2004: 303ff.). Dass Fernsehen ein allgemeines Gut darstellt im Sinne eines öffentlichen Gutes, wurde weiter oben bereits dargelegt. Wenn es auch, dem aktuellen neoliberalen Geist der Zeit entsprechend, beinahe Allgemeingut geworden ist, privatwirtschaftlichen 11 Nach dem Grimm’schen Wörterbuch (Grimm 1984), siehe auch Grisold (2004: 24–33).
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Besitz gegenüber öffentlichem Besitz als überlegen zu begreifen, so gilt dies im Falle des Rundfunks nicht. Wie die in diesem Beitrag entwickelten ökonomischen und demokratiepolitischen Überlegungen ausweisen, stellen TV-Produkte auch ökonomisch res publica dar und sollten in diesem Sinne auch wirtschaftspolitisch gestaltet werden. Wie diese wirtschaftspolitischen Konzeptionen konkret aussehen könnten, ist eine ebenso dringend anstehende wie derzeit nur in Ansätzen geführte Diskussion. Da die negativ besetzten – heute allgemein üblichen – Konnotationen des Bedeutungsspektrums ›Gemein‹, nämlich in Menge vorhanden und nichts Besonderes, für Fernsehen in geradezu idealtypischer Weise zutreffen, führt dies auch – über die geringe Bepreisung – zu einer hohen Nutzung ebendieses Mediums. Darin liegt zugleich die wichtige öffentliche Aufgabe und Funktion dieses Mediums, die – wie wir gesehen haben – von marktwirtschaftlicher Seite nur suboptimal erfüllt werden kann. Fasst man die andere Seite des Bedeutungsspektrums, nämlich gemein im Sinn von Allgemein, res publica und Unparteilich, überparteilich, so gilt es, ebendiese für die Kulturindustrie Fernsehen wieder herzustellen. Denn die öffentlichen Funktionen des Fernsehens (Einfluss auf Sinnzuschreibungen, auf Lebensstile, auf habituelles Verhalten, wie vorne argumentiert) können aus ökonomischen ebenso wie aus demokratiepolitischen Gründen nicht ausschließlich über eine vorwiegend marktlich organisierte TV-Industrie wahrgenommen werden.
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UND SEINE
MEDIEN
LEANDER SCHOLZ
»Es ist gewiß«, heißt es in einem ebenso lyrischen wie theoretischen Text von Georges Bataille, »daß die Welt rein parodistisch ist«. (Bataille 1992: 23) Jede Sache, die man betrachtet, zeigt sich als die Parodie einer anderen. Ein Produkt, das nutzlos geworden ist und als Müll erscheint, parodiert den Akt seiner Herstellung. Die Anziehungskraft von Kot parodiert die Anziehungskraft von Gold. Das Lachen der Komödie parodiert den Ernst der Tragödie. Das Sein einer Sache zeigt sich in der Parodie einer anderen Sache als sein eigenes Nichtsein. Der Text trägt den Titel L’Anus solaire, der Sonnen-Anus. In der Welt, die Bataille hier beschreibt, fallen die Gegensätze zusammen. Das Höchste entblößt sich als das Niedrigste. Es gibt keine Vermittlung und keine Synthese. Die Kopula der Sätze, die alles mit allem in Beziehung setzt und das es gibt dieser Beziehung ausspricht, ist eine Parodie der Beziehung, die sie stiftet. Was in den Satz eingeschlossen ist, korrespondiert unmittelbar dem, was die Aussage des Satzes ausschließt. Die Sonne, die das Leben auf der Erde ermöglicht, ist zugleich ein Anus, der Exkremente produziert. Das Subjekt eines Satzes verwandelt sich in sein Objekt, während das Objekt zum Subjekt wird: »So gewahrt man, daß die Erde mit ihrer Umdrehung die Tiere und die Menschen zum Koitieren bringt, und, da das Hervorgehende ebensogut Ursache ist wie das Hervorrufende, daß die Tiere und die Menschen mit ihrem Koitieren die Erde zur Umdrehung bringen.« (Ebd.: 24) Das Kopulieren der Kopula hat unablässig das zur Folge, was Hegel dem spekulativen Karfreitag vorbehalten hat: eine unendliche Beziehung zwischen dem aussagenden Subjekt und dem ausgesagten Objekt. In dem es gibt, das dieses Kopulieren beschreibt, geht die Sphäre der Reproduktion unmittelbar in die Sphäre der Nichtreproduktion über, so dass das Maß des Lebens ausschließlich durch das Maß des Todes bestimmt wird, das dieses Leben produziert. In einer Welt, in der jede Sache die Parodie einer anderen darstellt, ist der Unterschied zwischen Oikos und Polis, der am Beginn der abendländischen Politik steht, ununterscheidbar geworden. 85
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Denn am Beginn der abendländischen Politik stehen zwei Begriffe des Lebens, zwei Formen der Gemeinschaft oder der Art und Weise der menschlichen Reproduktion bzw. Nichtreproduktion, nämlich die des Oikos und die der Polis, die sich gegenseitig bedingen, in Frage stellen und aufzehren. Und mit dieser Unterscheidung, der alle weiteren Fragen nach der guten Verfassung des Staates und seiner Einrichtungen untergeordnet sind, beginnt deshalb auch die Politik des Aristoteles. Gleich zu Beginn warnt Aristoteles solche, die glauben, dass derjenige, der einem Staat vorsteht, im Grunde nur jemand sei, der einen übergroßen Familienhaushalt regiere, vor einem fundamentalen Irrtum. Die Polis leitet sich nicht aus der Sphäre des Oikos ab, in der alles der Notwendigkeit der Reproduktion dient, in der alles dem Gesetz der Arbeit gehorcht und in der es deshalb überhaupt keine Freiheit geben kann. Die Despotie des Familienvaters ist einzig aus dem Grund eine notwendige, weil sie der Notwendigkeit des Lebens und des Überlebens geschuldet ist. In diesem Bereich unterscheidet sich der Mensch in nichts vom Tier. Die Rangordnung der Familie ist unvermeidlich, und das Unglück, in dieser Rangordnung zum Beispiel ein Sklave zu sein, ist keine Frage der Gerechtigkeit, eben weil dieses Unglück dem Bereich der notwendigen Reproduktion angehört. Hier lässt sich die Frage nach der Gerechtigkeit überhaupt nicht stellen. Wäre der Staatsvorsteher nichts anderes als ein großes Familienoberhaupt, dann gäbe es folglich keine Politik und auch keine Freiheit, sondern nur die notwendige Gemeinschaft der Familie und der Verwandtschaft, die Gemeinschaft des Blutes und der Milch, also der Fortpflanzung und der Ernährung. Wenn es keine Politik gäbe, dann wäre der Mensch einzig und allein der Sphäre des Oikos und damit dem Bereich der Reproduktion verpflichtet. Aus genau diesem Grund kann der Staatsvorsteher sich nicht aus dem Vorsteher eines Familienhaushalts ableiten. Für Aristoteles besteht der Staat nicht darin, dass sich mehrere Familien zusammentun, zum Beispiel, um ihre Interessen besser organisieren zu können, um besser zu wirtschaften, um alles in allem erfolgreicher zu sein in der Reproduktion. Das Leben der Polis ist nicht einfach ein gesteigertes Leben des Oikos. Denn wäre das der Fall, dann wäre auch die Polis durch die gleiche Notwendigkeit gekennzeichnet wie der Oikos, dann wäre der Vorsteher der Polis ebenso notwendiger Weise ein Despot. In diesem Fall würde das menschliche Leben ein Leben der Leidenschaften und der Begierden sein, ein ausschließlich von diesen Leidenschaften und Begierden bestimmtes Leben, das Barbaren und Tiere führen, in dem es kein Maß für diese Leidenschaften und Begierden gibt außer dem Maß dieser Leidenschaften und Begierden selbst. Es wäre ein Leben der puren Notwendigkeit und damit zwangsläufig ein unfreies Leben. In diesem Fall wäre der Mensch kein politisches Lebewesen. Die Not und die Not-
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wendigkeit des Oikos und die Kräfte, die in dieser Not und in dieser Notwendigkeit am Werk sind, können für Aristoteles nicht die Quelle der Politik sein. Im Gegenteil, die Polis gehorcht nicht nur grundsätzlich anderen Gesetzen als der Oikos, sie ist ihm sogar entgegengesetzt, sie begrenzt und negiert den Oikos. Zwar ist das Vorhandensein einer Polis durch das Vorhandensein eines Oikos bedingt, denn nur weil es einen Bereich der notwendigen und auch erfüllbaren Arbeit gibt, kann es überhaupt einen Bereich der Freiheit geben. Aber erst dadurch, dass es eine Polis gibt, ist der Mensch dem Bereich des Oikos, der Familie und der Despotie der Familie enthoben. Denn die notwendige Arbeit ist nur aus dem Grund nicht unendlich und kann nur aus dem Grund überhaupt als eine erfüllbare Arbeit erscheinen, weil es umgekehrt einen Bereich der Freiheit gibt. Deswegen lässt sich genauso gut sagen, dass die Polis den Oikos bedingt. Man arbeitet nicht, um anschließend frei zu sein, so dass es auch noch Freiheit gibt, als ein zusätzlicher Luxus, sondern nur weil es Freiheit gibt, ist die unendliche Despotie des Oikos und seiner Gesetze begrenzbar und somit auch beherrschbar. Deswegen stehen die Gesetze der Polis über den Gesetzen des Oikos, auch wenn die letzteren die ersteren erkennbar zu bedingen scheinen. Für Aristoteles ist es daher keine Frage, dass der Staat von Natur aus früher ist als »das Haus und jeder einzelne von uns; denn das Ganze muß früher sein als der Teil« (Aristoteles 1989: 78, 1252b). Wenn die Notwendigkeit des Oikos demnach einerseits nur ein Teil des Ganzen ist und die Polis als dieses Ganze das Haus und den Einzelnen rahmt, aber andererseits das, was gerahmt wird, nämlich das Haus und der Einzelne, zugleich eine Bedingung für die Polis darstellt, dann ist der Staat nichts anderes als die Grenze des Hauses und des Einzelnen. Polis und Oikos beziehen sich aufeinander, indem sie sich voneinander ausschließen. Das Leben des Hauses und des Einzelnen, das Leben der Reproduktion, wird in der Polis nicht zu einem guten Leben, indem ihm noch ein weiteres Attribut hinzugefügt wird, etwa das der Gerechtigkeit, sondern indem das Leben der Reproduktion unterbrochen und negiert wird. Die Steigerung, die zwischen dem bloßen Leben liegt und demjenigen Leben, das Aristoteles das gute Leben nennt, ist keine Verlängerung jenes Lebens, das ebenso den Tieren zukommt. Zwischen den beiden Begriffen des menschlichen Lebens, zwischen dem Menschen als einem biologischen Tier und einem politischen Tier gibt es keine Kontinuität. In dem Moment, in dem der Einzelne aus dem Staat herausfällt, fällt er auch aus dem Oikos heraus, der ohne die Rahmung des Staates nur ein tierischer Ort wäre. Dieser Herausgefallene gehört deshalb weder der Ordnung der Polis an, noch der Ordnung des Oikos, er ist ein »Sippenloser«, ein »Satzungsloser«, einer »ohne Herd«. Und da er weder der einen noch der anderen Ordnung angehört, muss er entweder
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schlechter oder bedeutender sein als der Mensch, entweder ein »wildes Tier« oder aber »gar ein Gott« (ebd.: 77, 1252b). In beiden Fällen nimmt er nicht an der Polis teil, entweder weil er dazu nicht in der Lage ist, oder weil er ihrer nicht bedarf, und zwar aufgrund der Tatsache, dass er sich selbst genug ist. Er bedarf des Staates nicht, weil er das, was den Staat ausmacht, selbst ist. Denn der Staat ist nach Aristoteles wesentlich das Verfügen über eine Grenze, die das Selbst des Staates nicht in der Notwendigkeit der unendlichen Arbeit und der Reproduktion, sondern in der Genügsamkeit seiner selbst begründet: »Doch die aus mehreren Dörfern zusammengesetzte vollkommene Gemeinschaft ist der Staat, der sozusagen bereits über die Grenze der vollen Selbstgenügsamkeit verfügt, der nun zwar des Lebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens willen besteht.« (Ebd.) Der Staat kehrt die Linien seiner Begründung um, er mag vielleicht wegen des Lebens entstanden sein, aber sein Bestehen ist das Gegenteil dessen, warum er entstanden ist. Die beiden Begriffe des Lebens, die am Beginn der abendländischen Politik stehen, unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihres Korrelats oder ihres Gehalts, sondern einzig hinsichtlich der Konsequenz, die aus dem Begreifen des Lebens gezogen wird. Denn der Staat erscheint bei Aristoteles vor allen anderen Bestimmungen als eine Grenze, die dem Leben gesetzt wird, damit dieses überhaupt zu einem guten Leben werden kann. Hannah Arendt, die sich intensiv um die Erinnerung und auch um die Restauration der antiken Unterscheidung von Oikos und Polis bemüht hat, bringt diesen Umstand klar zum Ausdruck, wenn sie darauf hinweist, dass bei Aristoteles nicht das bloße Leben die Quelle der Politik sei, sondern die Transzendenz dieses bloßen Lebens: »Ohne der Lebensnotwendigkeiten im Haushalt Herr geworden zu sein, ist weder Leben noch ›Gut-Leben‹ möglich, aber Politik existiert niemals einfach um des Lebens willen.« (Arendt 2002: 47) Politik bezieht sich nicht auf das Leben, zumindest nicht, insofern dieses Leben ein Leben der Not ist. Darum existiert Politik nicht, sagt Arendt. Aber was steht außerhalb des Lebens und gehört doch diesem Leben an, ohne seiner Not anzugehören? Der antike Mensch, so Arendt, verlässt das Haus, um sich in einer Gemeinschaft der Freien wiederzufinden. In dieser Gemeinschaft muss er sich beweisen, er muss sich vor den anderen als ein Freier und in dieser Freiheit als ein Gleicher zeigen können, indem er sich jederzeit als ein Freier beweist,1 und zwar durch eine Rede oder eine Tat, die auf irgendeine Weise Zeugnis ablegen von dieser Freiheit. Große Reden und große Taten sind keine Zeugnisse der Notwendigkeit. Ihre Parameter sind Mut 1
In der Unmöglichkeit der Reduktion von Freiheit auf Gleichheit und Gleichheit auf Freiheit hat Jacques Derrida daher die Quelle der Frage nach der Demokratie bei Aristoteles gesehen (vgl. Derrida 2004: 37–48).
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und Ruhm. Sie tragen den Menschen an den Rand seiner Sterblichkeit, indem sie ihm Zugang verschaffen zu einer Unsterblichkeit, die ihm ansonsten verwehrt ist. Das politische Leben, das kein Leben der Not ist, hält also Kontakt mit einem Moment des Lebens, der selbst nicht mehr dem Leben angehört. Die Quelle der Freiheit, die zugleich die Quelle der Polis ist, ist nicht das Leben selbst, das Leben um seiner selbst willen, sondern das Leben, das sich selbst aufs Spiel setzt. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zwischen dem Sozialen und dem Politischen, den Hannah Arendt so sehr betont hat. Die Polis gründet sich nicht auf der Beziehung zum anderen, auf der Gemeinschaft des unmittelbar Gemeinsamen, sondern auf der Konfrontation mit dem zukünftigen Tod und auf dem Wagnis dieses Todes: »Den schützenden Bereich von Hof und Haus zu verlassen, ursprünglich wohl, um sich in irgendein Abenteuer oder ein ruhmversprechendes Unternehmen einzulassen, später um sein Leben innerhalb der öffentlichen Angelegenheiten zuzubringen, erforderte Mut, weil man nur innerhalb des Privaten der Sorge um das Leben und das Überleben obliegen konnte. Wer immer sich in den politischen Raum wagte, mußte vorerst auch bereit sein, das eigene Leben zu wagen, und eine allzu große Liebe für das Leben konnte der Freiheit nur im Wege sein, sie galt als sicheres Anzeichen einer sklavischen Seele.« (Ebd.: 46)2
Die Quelle der Freiheit unterhält also dadurch eine Beziehung zum Leben, dass sie der Sorge und der Liebe diesem Leben gegenüber enthoben ist. Nur wem es gelungen ist, Herr zu werden über die Lebensnotwendigkeiten, und zwar bis in den biologischen Lebensprozess hinein, wie Arendt sagt, der kann auch in den Raum des Politischen vordringen. Und das einzige, was dem biologischen Lebensprozess entgegenzustehen vermag, ist das Ereignis eines Todes, der diesem Leben nicht mehr angehört und der in diesem Sinne kein Tod der Natur sein kann. Denn man kann nur dadurch zum Herrn über das Leben werden, dass man ihm etwas entgegensetzt, das schließlich ein Nicht-Leben ist. Giorgio Agamben hat daraus den weitreichenden Schluss gezogen, dass in der abendländischen Politik dem bloßen Leben das einzigartige Privileg zukomme, »das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet« (Agamben 2002: 17). Die Operation, die aus dem Leben der Reproduktion ein politisches Leben macht, muss den Bereich des tierischen Lebens innerhalb des menschlichen Lebens aussondern. Sie muss 2
Dazu dass dieses Teilen der »öffentlichen Angelegenheiten« auch bedeuten konnte, als äußerste Möglichkeit den Bürgerkrieg nicht zu vermeiden, vgl. Loraux 1994: 31–57.
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das Leben der Reproduktion auf einen Tod beziehen, der es ermöglicht, Herr über den biologischen Lebensprozess zu werden. So wie das natürliche Leben nicht die unmittelbare Basis der Polis sein kann, kann daher nur ein Tod die Quelle der Freiheit sein, der kein natürlicher Tod ist, der kein Tod des Menschen als einem Gattungswesen ist. Noch Seneca war daher der Meinung, dass der Mensch sein gesamtes Leben über den anderen gehört, fremdbestimmt wird durch den Bereich des Sozialen und nur im Tod sich ganz und gar selbst gehört und in diesem Sinne frei ist: »Das Leben muß ein jeder auch vor anderen rechtfertigen, den Tod vor sich: Der beste Tod ist, der gefällt.« (Seneca 1984: 11, 70/12) Im modernen Staat hingegen kann es kein Recht auf Selbstmord geben, weil eine Rechtsperson, die ein Recht auf ihren eigenen Tod hätte, außerhalb des Staates stehen würde. Für das 19. Jahrhundert erscheint die Freiheit des Suizids deshalb nur noch in der Gestalt der »Selbstmordrate«, wie bei Emile Durkheim, die eine »Störung im sozialen Gleichgewicht« anzeigt, (Durkheim 1983: 32) der man mit den entsprechenden Sozialtechniken begegnen muss. Die Quelle der Freiheit ist in diesem Sinne zu einer »kollektiven Krankheitserscheinung« des Sozialkörpers geworden, für die die »Selbstmordrate« nur noch ein Symptom darstellt (ebd.: 466). Ein politisches Tier zu sein, heißt jedoch, nicht den anderen zu gehören. Es heißt, nicht dem anzugehören, was einfach nur ist. Es ist das Gegenteil dessen, was Hannah Arendt den Umstand der bloßen Natalität genannt hat, die Tatsache des Geborenseins als ein menschliches Gattungswesen. Dem Geborensein steht jedoch nur eine einzige Wendung gegenüber, die sich nicht aus dieser Tatsache ableitet, nämlich das Sein, das sich auf seinen Tod bezieht. Aus dem gleichen Grund gehört auch die Sprache, in der sich nach Aristoteles das politische Wesen des Menschen zeigt und die ihn vom Tier unterscheidet, nicht dem Bereich der Arbeit, der Reproduktion und der dazu nötigen Werkzeuge an. Die Sprache ist keine gesteigerte Stimme, sie ist nicht bloß ein komplexeres Werkzeug, um etwa das Soziale besser ins Werk zu setzen. Denn so wie der Staat, der um des Lebens willen entstanden ist, aber nicht aus diesem Grund besteht, sondern eine Wendung darstellt, und zwar gegen seine eigenen Entstehungsbedingungen, so ist auch die Differenz von Stimme und Sprache eine Wendung, in der sich die Sprache auf die Stimme bezieht, indem sie diese aus ihrem Wesen ausschließt.3 Denn Aristoteles sagt nicht, dass die Menschen, weil 3
Es geht mir hier nicht um die Differenz zwischen Stimme und Sprache im Sinne einer Differenz zwischen Einzelmedien, die diese Medien dann in besonderer Weise anderen Medien gegenüber privilegieren würde, sondern um die Grenzziehung, die Aristoteles anhand der Wendung von Stimme und Sprache thematisiert. Wer hingegen im Anschluss an die Arbeiten von Harold A. Innis und Marshall McLuhan nach dem Funktionieren von Medien im Sinne einer
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sie im Unterschied zu den Tieren Sprache haben, besser kommunizieren können und infolgedessen die Gemeinschaft des unmittelbar Gemeinsamen um so reibungsloser organisieren können, besser zum Beispiel als die Bienen und jedes Herdentier etwa. Gerade das sagt Aristoteles nicht. Der Staat ist nicht die perfekte Organisation des Sozialen, er ist gerade nicht das, was die Bienen und jedes Herdentier kennzeichnet. Denn das Kommunizieren, das Empfangen und Senden von Botschaften, wie komplex dieser Vorgang auch immer gedacht werden mag, bleibt für Aristoteles dem Bereich der Stimme zugehörig. Die Tiere und in diesem Sinne auch die Menschen haben eine Stimme, um sich das mitzuteilen, was ist, um dem Zustand des Lebens Ausdruck verleihen zu können: »Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, daß sie über Wahrnehmung von Leid und Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können.« (Aristoteles 1989: 78, 1252b) Die Stimme ist eine Stimme des Lebens, sie bringt Wahrnehmungen zum Ausdruck, sie spricht über das, was das Leben als Leid oder als Freude, als Schmerz oder als Genuss, als Angenehmes oder als Unangenehmes jeweils gerade ausmacht. Die Stimme ist jederzeit auf etwas bezogen, was das Leben selbst beinhaltet. Sie ist Teil eines Ganzen und kann daher nichts zum Ausdruck bringen, was nicht dem Reproduktionsprozess des Lebens angehört. Und deshalb kann sie nur diejenigen in Beziehung setzen, die ebenso dieses Leben teilen. Die Stimme ist immer die Stimme des Sozialen, und darin unterscheidet sich der Mensch in nichts vom Tier. Dass der Mensch ein politisches Tier ist und Sprache hat, sind jedoch nicht zwei verschiedene Aspekte des Menschseins, die zusammengenommen das Gattungswesen des Menschen beschreiben, sondern die Sprache stellt den Moment dar, in dem der Mensch aus seinem eigenen Lebensprozess hinaustritt. Aristoteles fährt fort: »Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Doch die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Haus und Staat.« (Ebd.)
»Grammatik« dieser Medien fragt, setzt voraus, dass es eine solche »Grammatik« als Transzendental der medialen Wahrheit gibt, und kommt dementsprechend zu anderen Ergebnissen. Vgl. dazu überschauend Wolfgang Ernst (2005).
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Haus und Staat basieren nicht auf der Gemeinschaft von Blut und Milch, sondern auf der Wahrnehmung von etwas, das nicht da ist, das keinen Moment des Lebens bezeichnet. Und die Gemeinschaft mit dem, was nicht da ist, was nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, schafft Haus und Staat. Nur weil die Sprache Anteil hat am Nicht-Leben, indem sie das unmittelbar Gemeinsame der Kommunikation negiert, kann die Polis auf der Offenbarung dieses Nicht-Lebens beruhen. In der Polis muss gesprochen werden, nicht um sich besser zu verstehen, sondern um Gebrauch machen zu können von einer Erfahrung, die man als Erfahrung des Lebens nicht machen kann. Erst dadurch kann die Frage nach der Gerechtigkeit überhaupt ihren Raum haben. Jacques Rancière hat in der Reihenfolge, in der Aristoteles die Gegensatzpaare nützlich und schädlich sowie gerecht und ungerecht als scheinbar logische Substitutionen aufzählt, ein falsches Gleichgewicht gesehen, das den Ursprung der Politik im Streit zwischen denen, die Sprache haben, und denen, die keine Sprache haben, auf symptomatische Weise verdecke: »Vor dem Logos, der über das Nützliche und Schädliche diskutiert, gibt es den Logos, der befiehlt und Recht gibt zu befehlen. Aber dieser anfängliche Logos ist mit einem anfänglichen Widerspruch behaftet. Es gibt Ordnung, weil die einen befehlen und die anderen gehorchen. Aber um einem Befehl zu gehorchen, bedarf es mindestens zweier Dinge: man muß den Befehl verstehen, und man muß verstehen, daß man ihm gehorchen muß. Und um das zu tun, muß man bereits dem gleich sein, der einen befehligt. Dies ist die Gleichheit, die jede natürliche Ordnung aushöhlt.« (Rancière 2002: 29)
Dem Ursprung der Politik im Unvernehmen, in einem Sprechen, das nicht gehört wird, geht folglich auch für Rancière schon die Erfahrung von Sprache als eine Erfahrung von Freiheit voraus. Denn Streit kann es nur dort geben, wo es die Erfahrung von Freiheit gibt, und die Erfahrung von Freiheit kann es wiederum nur geben, weil sich das Sein in der Sprache auf den Tod bezieht. Der Ursprung der Polis ist folglich unmittelbar an eine Erfahrung gebunden, die nur medial zu machen ist, eine Erfahrung von Medien als einem Ort unaufhebbarer und unverarbeitbarer Kontingenz, die, wie Rancière sagt, jede natürliche Ordnung aushöhlt. Im Unterschied zur Polis muss deshalb im Paradies nicht gesprochen werden. Im Paradies herrscht nur Mitteilung, denn dort kann es keine Medien geben, die eine Erfahrung ermöglichen, die es nicht gibt. Aus diesem Grund beginnt das irdische Paradies der Neuzeit mit der Zurückweisung der aristotelischen Auffassung des Menschen als einem politischen Tier. Am Eingang zu diesem Paradies, in dem der Mensch als so-
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ziales Wesen gefasst wird und deshalb wesentlich als Privatperson agiert, wie Hannah Arendt nachdrücklich herausgestellt hat, muss jeder einzelne seine Beziehung zum Tod abgeben. Der Staat, wie er bei Hobbes als Begründung eines zivilen Miteinanders gedacht ist, verlangt, dass die Menschen gerade nicht mehr als politische Lebewesen handeln. Die Bürger sollen sich um ihre Geschäfte und um ihre Bedürfnisse kümmern, aber sie sollen keine Kontingenzerfahrung machen, die sich nicht im Rahmen des zivilen Miteinanders verarbeiten lässt und die sich somit nicht in die Bedürfnisse und die Geschäfte dieser Bürger übersetzen lässt, sondern das Sosein der gegeben Ordnung in Frage stellen würde. An die Stelle der Frage nach der Gerechtigkeit tritt daher auch die Frage nach dem Recht: der Raum des Politischen soll durch eine Regel geschlossen werden. Der Mensch der Moderne spricht nicht, sondern er kommuniziert. Aus diesem Grund sind Medien bei Hobbes ausschließlich auf das verwiesen, was es tatsächlich gibt, was tatsächlich als Körper existiert, der Bedürfnisse hat und darin der Notwendigkeit seiner Reproduktion gehorcht. Die Wissenschaft vom Sprechen und vom Sehen beginnt bei Hobbes, dem aristotelischen Verständnis entgegengesetzt, als eine Wissenschaft von der Reproduktion der Körper. Denn die »um die Naturwissenschaft bemühten Gelehrten der Antike« konnten das Wesen des Sehens und des Sprechens nicht entdecken, weil sie es in einem immateriellen Prinzip begründeten, für das Hobbes nur die Bezeichnung einer »Dämonologie« übrig hat (Hobbes 1996: 563). Jedes andere Medienverständnis gehört für Hobbes in den Bereich der Magie und der Religion. In dem Moment also, in dem der moderne Staat auf das Verhalten der Bürger als ein Verhalten von Herdentieren setzt, verändert sich auch der Ort der medialen Erfahrung grundsätzlich. Die jeweilige Kultur ist dann nicht mehr der Gebrauch einer unmöglichen Erfahrung, sondern Teil eines historischen Zivilisationsprozesses, der die Kontingenz, die sich in dieser Erfahrung offenbart und diese zwingend zu einer Erfahrung des Politischen macht, in Prozessen des Sozialen verarbeitet. Notwendigkeit und Freiheit werden daher zu Themen, die nicht mehr entgegengesetzte Bereiche des Lebens beschreiben. Die Theorien der Gesellschaft überführen allesamt Kultur in Zivilisation und Freiheit in die Notwendigkeit der Kontingenz. Hegel hat die aristotelische Differenz von Stimme und Sprache als Differenz zweier Lebensbereiche daher auch konsequent in diesem Rahmen interpretiert. Denn auch für Hegel gehört die Stimme dem Bereich des unmittelbar empfindenden Ausdrucks an, in dem sich der Mensch nicht vom Tier unterscheidet. Als ein »geistig gewordener Mechanismus« klingt das Lebendigsein des Animalischen im Unterschied etwa zu toten Körpern »aus sich selbst« (Hegel: Bd. 9, § 351, Zusatz, 433), aber das permanente »Dahinsterben« dieser Stimme, ihr
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Verhallen und ihr Vergehen, ist deshalb genauso wie der Tod dieses Animalischen ein Tod der Natur. Die Stimme kommt nicht weiter als bis zum »Schrei des Schmerzes oder der Freude, und manche Tiere gelangen auch nur in der höchsten Not zu dieser ideellen Äußerung ihrer Innerlichkeit« (ebd.: Bd. 10, § 401, Zusatz, 116, vgl. dazu Scholz 2003). Erst die Sprache ist diesem Tod nicht mehr ausgesetzt. Sie ist ein über den Tod der Natur hinaus Bleibendes, ein »vollkommenes Element«, »worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich als die Äußerlichkeit innerlich ist« (ebd.: Bd. 3, 528).4 Dieses »Absolute« der Sprache, das wie für Aristoteles auch für Hegel im Unterschied zur Stimme nicht aus dem Sinnlichen ableitbar ist, macht die Sprache für den Staatsphilosophen Hegel zum hervorragenden Erziehungsinstrument der Bürger. Die Sprache ist für Hegel nicht mehr die Quelle der Polis im Sinne einer Erfahrung von Freiheit, sondern im Gegenteil die Hineinbildung des Einzelnen in das Allgemeine der Gesellschaft, und das heißt die Überführung der Erfahrung von Freiheit in die Erfahrung von Notwendigkeit. Denn der Sprache und dem Sprechen kommt nach Hegel die »göttliche Natur« zu, die »Meinung unmittelbar zu verkehren« (ebd.: 92; vgl. dazu Agamben 1991: 41–53). Im Unterschied zur Stimme, die sich immer auf einen Zustand bezieht, kann dieser Zustand in der Sprache niemals ausgedrückt werden, sondern wird im Gegenteil vom Sprechen ausgeschlossen. Deswegen muss sich der moderne Staat ganz besonders um die »göttliche Natur« der Sprache kümmern, er muss die Kontrolle über diese Wendung von der Sprache gegen die Stimme erlangen und in diesem Sinne vor allem die Kontrolle darüber haben, was Medien sind und was diese Medien zu erfahren möglich machen. So wie für Aristoteles die Polis und die Sprache auf eine fundamentale Weise aneinander verwiesen sind, gilt das bei Hegel ebenfalls für den Staat und die Sprache. Das Absolute des Staates ist das Absolute der Sprache. Die Erfahrung des Staates als ein »Irdisch-Göttliches« (ebd.: Bd. 7, § 272, Zusatz, 434) ist die Erfahrung der Sprache als eine Wendung, in der sich das Sprechen gegen den Sprechenden wendet und ihn auf diese Weise erzieht. Der moderne Staat ist in diesem grundlegenden Sinne Sprache. Er ist absolut, insofern er die Erfahrung der Freiheit und damit die Erfahrung des Todes vollständig okkupiert. Während für Aristoteles derjenige, der in der Lage ist, den Oikos zu verlassen, um in der Polis eine unteilbare Erfahrung zu teilen, ein politisches Leben führt, ist der Bürger des modernen Staates vom Politischen der politischen Ökonomie gerade ausgeschlossen, insofern er in seinem sozio4
Zwar hat Theodor Bodammer gezeigt, dass es bei Hegel keine »geschlossene philosophische Darstellung der Sprache« gibt, dennoch lässt sich Josef Simon darin zustimmen, dass das Absolute bei Hegel von der Sprache als »Phänomen der Erfahrung des Absoluten« her gedacht wird (vgl. Bodammer 1969: 1–4, u. Simon 1958: 1–15).
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ökonomischen Handeln keine Souveränitätserfahrung machen soll. Marx hat daraus lediglich die Konsequenzen gezogen, wenn er die Geschichte als eine Reproduktionsgeschichte des Menschen als einem Gattungswesen deutet, die erst dann abgeschlossen ist, wenn sich der Einzelne die Eigenschaften dieses Gattungswesens vollständig angeeignet hat und somit ausschließlich in der Sphäre des Oikos lebt. Kommunikation geht daher für Marx ganz in der Frage der Organisation und der Leistung auf, die diese Organisation erbringt. Der intensive Diskurs über »Ideologie« bei Marx lässt sich in dieser Hinsicht auch als ein Diskurs über eine unproduktive Kommunikation verstehen, über eine Leistung, die inadäquat oder ineffektiv geworden ist und daher nichts mehr beitragen kann zum Reproduktionsprozess. Dass es allerdings auch in einer Welt funktionaler Ausdifferenzierung, in der das Politische lediglich als Teilsystem der Verwaltung erscheint, eine Kontingenzerfahrung gibt, die von den sozialen Systemen nicht aufgenommen und nicht verarbeitet werden kann, hat Dirk Baecker dazu veranlasst, im Hinblick auf den universalen Anspruch einer soziologischen Systemtheorie einen Begriff von Kultur auszuarbeiten, der diesen Überschuss an Kontingenz absorbiert. Die Rede von der Kultur kann deshalb für Baecker immer nur ein »Einwand« sein, und zwar gegen die Notwendigkeit der Reproduktion der gegebenen Ordnung, die stets mit dem Zwang zur Distinktion einhergeht und der binären Logik eines Entweder-Oder gehorcht. Gegen den Sachzwang dieses Schemas bringt die Rede von der Kultur nach Baecker noch einmal die Kontingenz dieses Schemas selbst ein, in dem sich alle Entscheidungen darstellen müssen, insofern sie Entscheidungen sein wollen, die sich reproduzieren lassen und damit Anschlüsse gewährleisten sollen. Den Preis, den die Rede von der Kultur als eine Rede darüber, dass alles auch ganz anders sein könnte, zu zahlen hat, ist nach Baecker deshalb der Preis einer Blindheit gegen die eigene Blindheit der Beobachtung: »Es gilt für die Kultur, was für alle Beobachtungsoperationen gilt: Sie hat einen blinden Fleck: Sie sieht nicht, daß sie nicht sieht, was sie nicht sieht.« (Baecker 2000: 109) In dieser doppelten Negation stellt sich die Rede von der Kultur nicht als eine Operation dar, die Freiheit in Notwendigkeit überführen kann. Und das ist für Baecker ihr Preis: Sie hat am Diskurs über die Not und die Notwendigkeit der Reproduktion keinen Anteil. Während Beobachtungsoperationen, die für die Reproduktion zwingend sind, die Kontingenz ihrer Beobachtung bedenken und in die Notwendigkeit ihrer Reproduktion überführen, ist die Rede von der Kultur durch eine doppelte Blindheit geschlagen, die sie zu einer nichtreproduktionsfähigen Rede macht und somit nur zu einer Rede des »Einwands« im Sinne einer Kulturkritik gegen das Sosein der Reproduktion. Die Rede von der Kultur kann für
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Baecker daher nur insofern Anteil am sozialen Reproduktionsprozess haben, als sie einer sekundären Kontingenzabwehr geschuldet ist, nämlich der Kontingenz des Reproduktionsprozesses selbst. Aus diesem Grund fällt für Baecker die Kultur und damit auch die Kulturtheorie als Kandidat für den Thron des Transzendentalen aus. Denn »gegen alle Versuche der Transzendentalisierung von Kultur« meint Baecker festhalten zu müssen, dass sich der Spielraum der Kultur nur »in Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen Spiel« verstehen lässt (ebd.: 111). Kultur ist insofern immer nur das Andere des Sozialen und den grundlegenden Prozessen dieses Sozialen geschuldet. Allerdings übersieht Baecker dabei, dass gerade weil die Rede über Kultur keinen Anteil hat am Diskurs über die Not und die Notwendigkeit der Reproduktion, sich dieses Andere als das Transzendental der Reproduktion auffassen lässt. Denn das Paradox des Transzendentalen, auf das schon Kant gestoßen ist, besteht darin, dass das Transzendentale, wenn es selbst nicht wieder auf eine weitere Ermöglichungsbedingung zurückgeführt werden können soll, selbst unbedingt sein muss. So wie ein Zweck ad infinitum auf einen weiteren Zweck verweist und sich nicht selbst begründen kann, verweist jede endliche Bedingung auf eine weitere endliche Bedingung, die sich selbst wiederum nicht bedingen kann. In diesem Zusammenhang von einem historischen Apriori zu sprechen, löst deshalb das Denken des Transzendentalen letztendlich in Geschichtsphilosophie auf. Kant sah sich daher genötigt, einen End- oder Selbstzweck anzunehmen, der den Regress des Transzendentalen begrenzt. Genau an dieser Stelle setzt bekanntlich die Kulturkritik Nietzsches ein, der im Denken Kants eine tautologische Reduktion gesehen hat, wenn dieser die Ermöglichungsbedingungen des Möglichen auf ein anthropologisches Vermögen zurückführt. Der Einsatz der Rede von der Kultur wendet sich daher gegen diese Reduktion, die sich zunächst auf etwas Nichtreduziertes beziehen muss, um dieses reduzieren und verarbeiten zu können. Vor jeder Transzendentalität als Frage nach den Ermöglichungsbedingungen des Möglichen liegt also die Reduktion des Unmöglichen auf etwas Mögliches, die im kritischen Denken Kants eine zentrale Rolle spielt als Frage nach der Limitation des Möglichen. Um noch einmal in der Terminologie Dirk Baeckers zu sprechen: Es gibt nicht zuerst eine Reproduktionslogik des Entweder-Oder, gegen die dann die Rede von der Kultur einen »Einwand« im Hinblick auf andere Möglichkeiten zu formulieren versucht, sondern umgekehrt, die binäre Logik der Reproduktion ist immer schon ein Ergebnis ausgesonderter Möglichkeiten der Nicht-Reproduktion. Nur weil es das Unmögliche der Nicht-Reproduktion gibt, kann es überhaupt Reproduktion geben, so wie es nur eine logische Differenz des Entweder-Oder geben kann, weil ihr eine vorgängige Beziehung zu einer nicht-logischen Dif-
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ferenz zugrunde liegt, indem diese sich ihr entzieht. Das Transzendentale bestünde folglich nicht bloß in den Bedingungen der Reproduktion, die erfüllt sein müssen, damit es Reproduktion gibt, sondern in einer vorgängigen Grenzziehung zwischen Reproduktion und Nicht-Reproduktion. Die Frage nach der Todeserfahrung nimmt im Denken so unterschiedlicher posthegelianischer Philosophen wie Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger oder Bataille eine derart zentrale Rolle ein, weil die Todeserfahrung, die im Hegelschen System in die Gestalten des Sozialen überführt wird, von diesem Sozialen niemals vollständig verarbeitet bzw. vollständig in der Notwendigkeit der Arbeit der Reproduktion aufgehen kann. Im Unterschied jedoch zu späteren Theoretikern der Gesellschaft war Hegel dieser Umstand noch vollkommen bewusst, so dass er sich eine Gesellschaft nur innerhalb der Rahmung durch den Staat vorstellen konnte. Der historische »Einwand«, den die Kulturtheorie gegen eine Theorie der Gesellschaft formuliert,5 setzt daher an der Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen als Frage nach den Grenzen einer auf das Soziale abstellenden Reproduktion an, mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass sich die Frage nach dem Politischen, und das heißt die Frage nach der Todeserfahrung, bei den genannten Philosophen nicht mehr mit der Frage nach dem Staat deckt, sondern aus dem Raum des Privaten heraus gestellt wird. Wenn Bataille in seiner Theorie der Kommunikation zwischen einer »souveränen« und einer auf Zwecke gerichteten Kommunikation unterscheidet, zwischen einer »heiligen« und einer »profanen« oder einfach zwischen einer »starken« und einer »schwachen« Kommunikation, dann betrifft diese Unterscheidung nicht bloß zwei unterschiedliche Formen des Kommunizierens, sondern die eine Seite dieser Unterscheidungen ist der Grenzfall der anderen. Die souveräne Kommunikation stellt dabei insofern das Transzendental jeder Kommunikation dar, als sie sich an der Grenze ihrer eigenen Reproduktionsfähigkeit bewegt und jederzeit davon bedroht ist, lediglich Schweigen zu sein, also Nicht-Kommunikation.6 5 6
Zum historischen Einsatz der Kulturwissenschaft vgl. Friedrich Kittler 2000: 11–28. Im Anschluss an Bataille lässt sich die Dekonstruktion daher als eine Metatheorie des Transzendentalen verstehen, die nach dem »Ultra-Transzendentalen« fragt, also nach dem, was dem Transzendentalen als Nicht-Ermöglichung voraus liegt. Darin ist sie allen transzendentallogischen Elementen einer Systemtheorie entgegengesetzt (vgl. Menke 1991: 229–237). »[…]; diese souveräne Rede ist kein anderer Diskurs oder eine andere Verkettung, die neben dem bedeutenden Diskurs entwickelt würde. Es gibt nur einen Diskurs, und dieser vermittelt Bedeutungen; hier läßt sich Hegel nicht umgehen. Das Poetische oder Ekstatische ist dasjenige, was in jedem Diskurs dem absoluten Verlust seines Sinns, dem Un-Grund des Heiligen, des Nicht-Sinns, des UnWissens oder des Spiels, und dem Wissensverlust sich erschließen kann, aus denen er mit Hilfe eines Würfelwurfs erwacht.« (Derrida 1976: 395).
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Sie ist, wie Bataille sagt, die »äußerste Möglichkeit« (Bataille 1978: 82), die an die Grenze des Unmöglichen stößt, von der jedoch jede weitere Kommunikation abhängig bleibt und auch lebt. Denn insofern die souveräne Kommunikation die Grenze zur Nicht-Kommunikation beschreibt, begründet sie in der Wendung gegen ihre eigene innerste Möglichkeit erst die Möglichkeit der zweckgerichteten Kommunikation. Sie macht die zweckgerichtete Kommunikation möglich, indem sie deren Grenzfall darstellt. Dieser Grenzfall, den die souveräne Kommunikation ausmacht, ist also kein weiterer, zusätzlicher Fall von Kommunikation, den es neben der zweckgerichteten Kommunikation auch noch gibt. Vor dem, was sich als Kommunikation reproduzieren lässt und was als Kommunikation Anteil hat an der politischen Ökonomie, liegt die Grenzziehung zur Nicht-Reproduktion. So wie für Aristoteles die Grenzziehung der Polis das Leben, das als bloßes Leben Voraussetzung für das Leben in der Polis ist, negiert, verhält sich die souveräne Kommunikation zur zweckgerichteten Kommunikation. Sie stellte eine Wendung gegen ihre eigenen Existenzbedingungen dar. Daher ist dieser Grenzfall keine äußere Limitation der Kommunikation, sondern ein innerer Grenzfall, der als NichtReproduktion Anteil hat an der Reproduktion der Kommunikation. Noch vor dem Haushalt der Diskurse liegt die Grenzziehung dieses Haushalts selbst, die den Diskursen als ihr eigener Nicht-Diskurs innewohnt. Medien sind deshalb nicht nur Ermöglichungsbedingungen von Kommunikation, sondern ebenso deren Verunmöglichungsbedingungen, was vielleicht sogar ihr wichtigerer Aspekt ist. »Wenn eine Kommunikation erfolgt«, so Bataille, »verwandelt sich die Person, an die sie sich richtet, teilweise und für diesen Augenblick selbst in Kommunikation (die Veränderung ist weder vollständig noch dauerhaft, aber sie findet statt, sonst gäbe es keine Kommunikation); jedenfalls ist die Kommunikation das Gegenteil des Dings, das durch seine Isolierbarkeit gekennzeichnet ist« (Bataille 1987: 169). Für einen Augenblick selbst Kommunikation zu werden, heißt weder eine Person, noch ein Ding zu sein, die immer fest umrissene Grenzen haben müssen und daher adressierbar sind. Selbst Kommunikation zu werden, heißt im spiritistischen Sinne ein Medium zu sein. Für Bataille ist diese Erfahrung eine Todeserfahrung, und unabhängig davon, ob man das Pathos bei Bataille in dieser Hinsicht teilt, der entscheidende Punkt ist, dass Medien in diesem Moment keine Kommunikations- oder Verbreitungsmedien sind, sondern Ursprungsmedien, die mit jener absoluten Kontingenz in Kontakt stehen, die stets die Gewaltsamkeit des Todes bedeutet. Dass Medien weder Dinge noch Personen sind, hat Fritz Heider zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass »Mediumvorgänge« nur »Wichtigkeit haben«, wenn sie auch »an etwas Wichtiges gekettet sind«, und ansonsten »für sich selbst« meist »Nichts« sind
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(Haider 1999: 329). Aber genau dieses Tendieren zum »Nichts«, das Medien für sich selbst sind, dass sie also dann sind, wenn sie sich nicht auf anderes beziehen lassen und keinen Anteil an der Not der Reproduktion haben, verweist auf ihre Korrespondenz mit einem Etwas, das ein Nichts ist. Und darin stellen Medien die Anwesenheit eines abwesenden Ursprungs dar, oder, wenn man so will, eine Mimesis von nichts. Kultur wäre dann der Gebrauch, der von dieser Mimesis gemacht wird, die im Unterschied zu der einen Gesellschaft immer nur im Plural gedacht werden kann. Aus diesem Hintergrund heraus lässt sich auch heute noch der Satz des Aristoteles verstehen, nämlich dass der Staat früher ist als das Haus und jeder einzelne von uns, obwohl der einzelne und das Haus den Staat bedingen. Und das vielleicht nur aus einem einzigen Grund, den Herman Burger im ersten Satz seines Tractatus logico-suicidalis nennt: »Es gibt keinen natürlichen Tod« (Burger 1988: 19).
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HISTORISCHE TRANSFORMATIONEN
INFORMATION
WISSEN IN DER ÖKONOMISCHEN THEORIE ÜBERLEGUNGEN ZUM ZUSAMMENHANG VON MEDIENGESCHICHTE UND GESCHICHTE 1 DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT UND
JAN-OTMAR HESSE
Schon seit geraumer Zeit hat die Wirtschaftswissenschaft sich vergleichsweise erfolgreich als »Naturwissenschaft« bezeichnet, d.h. als eine Wissenschaft, die das Auffinden und Beschreiben von Naturgesetzen zum Gegenstand hat. Wirtschaftliche Transaktionen unterliegen danach – so will uns diese Sichtweise nahe legen – immer gleichen, historisch nicht wandelbaren Gesetzmäßigkeiten. Hierbei ist es ganz gleich, ob man diese im Wirken von Angebot und Nachfrage, dem Preis-»Mechanismus«, der Monopolisierung, der Ausbeutung oder im tendenziellen Fall der Profitrate sieht: Ökonomische Gesetzmäßigkeiten sind immer am Werk – bei den Griechen in der Antike genauso wie in der Gegenwart (Helmstädter 2002). Nun ist die Kritik an diesem Ansatz im Grunde ebenso alt wie seine hegemoniale Stellung in der Disziplin: Bereits vor 60 Jahren beschrieb der ungarische Ökonom Karl Polanyi die »Große Transformation«, in deren Verlauf im 17. Jahrhundert all jene ökonomischen Institutionen erst entstehen, die die moderne Wirtschaftswissenschaft heute als Gesetzmäßigkeiten ansehen würde (Polanyi [1944] 1996). Eine solche Kritik am ökonomischen Weltbild ist bis heute nicht verstummt, wenn sie auch kaum über einen kleinen wissenschaftlichen
1
Dieser Text geht auf meinen Vortrag bei der Tagung »Produktion – Information – Emotion. Zur politischen Ökonomie der Medien« vom 27.–29. Januar 2006 in Hattingen zurück, deren Teilnehmern ich für die anregende Diskussion danke. Um den Druck der Beiträge nicht gravierend zu verzögern, wurde der Vortrag nur geringfügig überarbeitet. Der Vortragsstil wurde belassen und ebenso die bewusst für eine Diskussion zugespitzten Formulierungen, die freilich nicht als empirische wirtschaftshistorische Erkenntnisse misszuverstehen sind.
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Zirkel hinausgeht, geschweige denn im Fach irgendeine Relevanz besitzen würde (Garrouste/Ioannides 2001, Hodgson 2001, Mirowski 1994).2 Was hat das ganze mit Medien, mit Information oder Kommunikation zu tun? Das Weltbild der Ökonomie gerät immer dann etwas ins Wanken, wenn die behaupteten »Gesetzmäßigkeiten« für die Beschreibung der täglichen Erfahrung nicht mehr hinreichen, wenn etwas Überraschendes eintritt. Natürlich meine ich damit ökonomische Krisen größeren, überregionalen Ausmaßes, die nicht nur die Wirtschaft selbst, sondern auch die ökonomische Theorie regelmäßig erschüttern. Und während solcher Krisen – so meine ich beobachten zu können – hat die ökonomische Theorie in schöner Regelmäßigkeit ein Erklärungskonzept aus dem Hut gezaubert, das ansonsten (in den konjunkturellen Aufschwungphasen also) kaum eine Rolle spielte: die ökonomische Wirkung von Information und Wissen und damit implizit auch die ökonomische Wirkung von Medien.3 War die ökonomische Theorie seit ihrer modernen Begründung durch Adam Smith und David Ricardo, also seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, im Wesentlichen mit der Produktion, Distribution und Konsumtion von materiellen Gütern beschäftigt, so kamen immaterielle Aspekte immer dann ins Spiel, wenn in jenem Bereich Funktionsstörungen auftraten, die man sich vor dem Hintergrund des vorhandenen Wissens bei gleich bleibender wirtschaftspolitischer Handlungsweise nicht erklären konnte. Die Beschäftigung der ökonomischen Theorie mit Medien und Kommunikation wäre danach ein letztlich nur historisch zu erklärendes Phänomen wirtschaftlicher Krisen. Das ist meine Ausgangsthese, über deren Naivität und Holzschnittartigkeit ich mir freilich vollständig bewusst bin. Holzschnittartig ist sie deshalb, weil ich im Folgenden lediglich historische Konstellationen betrachte, in denen ökonomische Krisen mit Medieninnovationen zusammenfielen. Ob ökonomische Krisen durch Medieninnovationen tatsächlich beeinflusst wurden, wird hier der Einfachheit halber ausgeblendet. Aber selbst die bloße Untersuchung der Thematisie2
3
Vor allem die Arbeiten Mirowskis (1994, 1999) konzedieren dabei nicht einfach die Leerstelle in der Ökonomischen Theorie, sondern untersuchen die zeitlichen, personellen und sprachlichen Querverbindungen zwischen Wirtschaftswissenschaften und Physik im 19. Jahrhundert, die der Ursprung der Koevolution waren. Information und Wissen sind die zentralen Begriffe, mit denen die moderne ökonomische Theorie die Effekte von Medien thematisiert. Der Begriff Medien scheint dagegen stärker konkretistisch verwendet zu werden, für die bestimmten Spezialgebiete des Medienbereiches, der sich erst in jüngster Zeit zu einer eigenständigen »Medienökonomie« oder einer »media economics« ausgewachsen hat. Für den hier zu behandelnden Zeitraum zwischen 1857 und etwa 1975 spielt er jedenfalls keine Rolle; was die Begriffsverschiebung für den Zeitraum danach zu bedeuten hat, wäre erst noch gesondert zu untersuchen.
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rung von Information und Wissen in der ökonomischen Theorie müsste – wollte sie jedenfalls methodisch unanfechtbar sein – vor allem die Phasen zwischen solchen Krisen überprüfen und hier nach den (verborgenen) Vorläufern informationsökonomischer Reflexionen fahnden. Naiv ist diese These zudem, weil sie nur die explizite Beschäftigung mit dem Bereich der Medien in den Blick nimmt, während sie von den impliziten Vorstellungen innerhalb der ökonomischen Theorie abstrahiert.4 Damit fallen aber auch all diejenigen Gedanken unter den Tisch, die sich mit dem Geldaspekt beschäftigen, denn natürlich war es diese Dimension der Wirtschaft, die in der Vorstellung der Ökonomen »Preissignale« auf geheimnisvolle Weise übertrug und die »unsichtbare Hand« zu einem wichtigen Akteur machte. Ich denke aber, dass wir auch auf der Grundlage einer solchen ebenso holzschnittartigen wie naiven These zu diskussionswürdigen Ergebnissen gelangen und von hieraus dann in einem zweiten Schritt an der Notdürftigkeit der Ausgangsannahmen arbeiten können. Ich möchte mich im Folgenden mit drei historischen Konstellationen beschäftigen, in denen wirtschaftliche Krisen und die theoretische Auseinandersetzung mit Medien zusammenfielen. Im ersten Beispiel beschreibe ich die Zeit der so genannten ersten Weltwirtschaftskrise von 1857, das zweite Beispiel ist der Weltwirtschaftskrise gewidmet, die wir zumeist als solche kennen, die Krise von 1929/1931, wobei ich den anzusprechenden Zeitraum etwas weiter auf die »Kranke Wirtschaft« der 1920er Jahre ausdehnen möchte, wie sie Knut Borchardt (1982) einmal genannt hat. Im dritten Beispiel beschäftige ich mich mit den 1970er Jahren, die ebenfalls ungemein krisenhaft waren, auch wenn man die Effekte wohl kaum mit den früheren Krisen vergleichen kann, die für große Teile der Bevölkerung eine massive existenzielle Bedrohung darstellten. Gesamtwirtschaftlich gesehen bedeuteten der Ölpreisschock und der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods freilich einen tiefen Einschnitt. Ich kann bei den Ausführungen zumindest eine kurze Skizze der jeweiligen Krisen nicht ersparen, da dies zum Verständnis wichtig ist, auf welche jeweils spezifische Weise in den historischen Konstellationen Medien, Information usw. in den ökonomischen Theorien eingebaut wurden.
4
Hiermit sind nicht die »impliziten Medientheorien« angesprochen, die Dierk Spreen (1998) in den älteren Texten von Adam Müller usw. aufgefunden hat, worauf mich Markus Stauff dankenswerterweise aufmerksam machte. Durch den am menschlichen Blutkreislauf angelehnten Begriff der »Zirkulation«, wie er von François Quesnay eingeführt wurde, ist eine ökonomische Theorie nicht mehr anders vorstellbar. Mir geht es aber um die explizite Thematisierung, und diese findet sich in Texten, die den Begriff Information, Kommunikation, Wissen usw. benutzen, aber eben auch in der Auseinandersetzung mit dem Geldbereich.
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K a rl K ni e s , d a s A t l a n t i k ka b e l u nd d i e » e rs t e W e l t w i rt s c ha ft s k r i s e « Der amerikanische Historiker Hans Rosenberg bezeichnete die Krise des Jahres 1857 als »erste Weltwirtschaftskrise«, weil hier zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte eine Spekulationskrise, die in den aktiennotierten Eisenbahnunternehmen der USA ihren Ausgang genommen hatte, auf die europäischen Börsen übersprang. Hinzu kam eine Rekordernte von Getreide, die die Preise zum Einsturz brachte und die Eisenbahnunternehmen weiter erschütterte. Da zahlreiche Investoren ihr Kapital aus den Märkten zurückzogen, entstanden Kapitalknappheit, hohe Zinsen und eine Verschärfung der Krise. In der Wirtschaftswelt empfand man den Zusammenhang der weltweiten Aktienmärkte überraschend (Rosenberg 1976). Dass sich ökonomische Krisenphänomene in anderen Teilen der Welt derart rasch und umfassend über den Globus ausbreiten und den internationalen Finanzplatz London in Mitleidenschaft ziehen konnten, war vorher kaum vorstellbar. Die Verlegung des ersten transatlantischen Telegraphenkabels ist deshalb keineswegs eine bloß zufällige Koinzidenz. Das Projekt wurde zwar erheblich früher begonnen. Aber es ist durchaus bezeichnend, dass es ausgerechnet im Jahr der Krise unter großem Aufwand gelungen war, ein Schiff zu bauen, das die Kapazität hatte, eine schwere und riesige Kabeltrommel zu transportieren und diese bei seinem Weg über den Atlantik langsam abzurollen. Schließlich war es auf diesem Telegraphenkabel eines englisch-amerikanischen Privatunternehmens möglich, in wenigen Stunden Nachrichten zwischen den USA und England auszutauschen – wenn auch nur wenige Wochen lang, denn dann zerriss das Kabel und erst seit 1865 verfügen wir über eine dauerhafte transatlantische Kabelverbindung (Headrick 1991). Allein die 1857 unter Beweis gestellte Möglichkeit einer schnellen transatlantischen Nachrichtenvermittlung erregte aber bereits die Phantasie der Nationalökonomen. Einer der Köpfe der so genannten Älteren Historischen Schule der Nationalökonomie, Karl Knies, Professor für Nationalökonomie in Leipzig, veröffentlichte im selben Jahr sein Buch Der Telegraph als Verkehrsmittel, in dem er die Folgen telegraphischer Nachrichtenübermittlung für die Funktionsweise von Märkten beschrieb (Knies 1857). Meiner Meinung nach ist dieses Buch die früheste systematische Auseinandersetzung der Wirtschaftswissenschaft mit dem Einfluss von Medien und zugleich Beleg dafür, dass das Thema Medien und Kommunikation eben nicht erst, wie Phil Mirowski behauptet, nach dem Zweiten Weltkrieg in die volkswirtschaftliche Analyse Einzug hält (Mirowski 2006). Knies beschreibt den Telegraphen und andere Medien 106
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selbstverständlich nicht als »Medium«, sondern mit der damals üblichen Bezeichnung als »Nachrichtenverkehr«, und zeichnet in Analogie zum Güterverkehr die Medien als »Transportkanäle«, auf denen »Nachrichten« wie Güter transportiert werden. Dabei legt er Wert auf den Unterschied zwischen »Transport« und »Verkehr«, insofern letzterer »im weitesten Wurfe alles umfasst, was sich in der Lebensweise der Menschen im Gegensatz zu den Zuständen vollkommener Isolierung der Einzelnen herausbildet« (Knies 1857: 4), während Transport nur die räumliche Bewegung von materiellen Gütern bezeichne. Über einen solchen Begriff des Verkehrs bildet sich auch jenes Verständnis von »Kommunikation«, das die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte und in dem Gütertransport und Nachrichtentransport zusammengefasst ist: »Kommunikation« meinte im 19. Jahrhundert sowohl den Güterverkehr, als auch den Nachrichtenverkehr.5 Wenn damit »Verkehr« oder »Kommunikation« auch bei Knies als Oberbegriff funktioniert, so ist es doch gerade das Interessante an seinem Buch, dass es zwischen Gütertransport und Nachrichtentransport unterscheidet: Der Telegraph sei die am höchsten entwickelte Form des Nachrichtentransports, weil er Schriftlichkeit und damit Geheimhaltung – oder »Konsumausschluss« wie die moderne ökonomische Theorie sagen würde – möglich macht. Die Telegraphie hat die Verbreitungsgeschwindigkeit von Nachrichten erstmals von der Reisegeschwindigkeit von Personen gelöst (Knies 1857: 17). Das ist mit durchaus gravierenden ökonomischen Problemen verbunden, die Knies vor allem in der geringen Massenleistungsfähigkeit sieht: Während beim Briefverkehr noch viele Briefe auf einmal transportiert werden konnten, geht das beim Telegraphen nicht mehr. Der kostenintensive Aufbau von Netzen ist auf die häufige Benutzung, auf die »Frequenz« angewiesen, um rentabel zu wirtschaften (Knies 1857: 15, 175). Was bei Knies besonders gut zum Ausdruck kommt, ist die Tatsache, dass man zeitgenössisch überhaupt keine Vorstellung hatte, welche Kosten diese Nachrichten verursachten und wie diese auf das einzelne Telegramm umzurechnen seien. Damit entdeckt Knies im Betrieb von Telegraphenlinien die Durchbrechung eines Gesetzes, das ansonsten den industriellen Betrieb immer rentabel gemacht hatte, nämlich das Gesetz der »progressiven Verwohlfeilerung«, also die mit zunehmender Produktion sinkenden Durchschnittskosten (Knies 1857: 207). Hiervon ausgehend leitet er die Beobachtung ab, dass eine gemeinschaftliche ökonomische Auswertung (womit vor allem Zeitungen und Nachrichtenagenturen gemeint waren) des einzelnen Telegramms die adäquate Marktform sei: »So weit wir jetzt sehen, bringt der Telegraph 5
Erst am Ende des Jahrhunderts findet die Zweiteilung statt, vgl. z.B. Sax (1885) sowie mit weiteren Belegstellen: Winkler (2004: 71–74).
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dem associierten Consum von Nachrichten seine intensivsten Leistungen dar.« (Knies 1857: 215) Und schließlich betrachtet Knies die Möglichkeit, nun nicht mehr nur durch regionale, sondern durch zeitliche Preisdifferenzen Gewinne zu erwirtschaften als eine der wichtigsten ökonomischen Potenziale des Telegraphen. Preisschwankungen würden sich häufen und mit dem Telegraphen als »Botschafter des Augenblicks« sei es für den einzelnen Produzenten zugleich einfacher, diese Preisschwankungen und kurzen Konjunkturen für sich zu nutzen. Damit ist die vorwiegend regionale Konkurrenzsituation durch eine Entfaltung in der Zeit ausgedehnt (Knies 1857: 234). Zusammengefasst stellen sich die Ausführungen von Karl Knies als Beschreibung eines »großtechnischen Systems« (Thomas P. Hughes) dar, das nach vollkommen anderen ökonomischen Regeln funktioniert als entsprechende schon existierende Systeme und deshalb auch die Ökonomie, in die es eingebettet ist, gravierend verändern wird. Knies sieht das freilich nicht hysterisch, sondern beschreibt es – wie es für die Historische Schule typisch war – nüchtern und fast kalt. Es handelt sich um ein System, das die ökonomischen Tauschvorgänge in der Wirtschaft erheblich beschleunigt, in die Zeit entfaltet und das darüber hinaus nicht nach dem Gesetz der wachsenden Skalenerträge aufgebaut ist, sondern nur über Verbundvorteile mit dem nachgelagerten Absatz erfolgreich sein kann – um die beiden wichtigsten Merkmale zu nennen.6 Er beschreibt hiermit das Mediensystem als Komplex von eigenständigen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, wobei er noch nicht den Schritt unternimmt, diese Gesetzmäßigkeiten auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu entdecken. Als Anhänger der Historischen Schule ist er auch nicht überrascht von solchen Differenzen, weil diese Richtung der ökonomischen Theorie eben nicht von naturnotwendigen Gesetzmäßigkeiten ausging, sondern das Historische als Erfahrungsbereich definierte. Für ihn stellte die ökonomische Ausnahmekonstellation der Telegraphie lediglich ein Argument dar, diesen Bereich staatlich zu betreiben oder zumindest zu kontrollieren. Jedenfalls war damit die Vorstellung von einer ›anderen‹ ökonomischen Funktionsweise des Medienbereichs, oder allgemeiner gesprochen, der ›mediengestützten Vermittlung von ökonomischen Transaktionen‹ in die ökonomische Theoriegeschichte eingeführt.
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Der Begriff Skalenerträge bezeichnet die mit zunehmender Ausbringungsmenge sinkenden Durchschnittskosten für das Produkt. Von Verbundvorteilen spricht man, wenn es billiger ist, zwei Produkte oder Produktionsprozesse (in diesem Fall Produktion und Absatz) in Zusammenhang herzustellen.
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W e l t w i rt s c h a f t s k ri s e , » c a l cul a t i o n de ba t e « u n d di e F o l ge n Leider lässt sich für die Weltwirtschaftskrise keine so wunderbare zeitliche Koinzidenz zwischen ökonomischer Krise und medienhistorischem Fortschritt ausmachen, wie es für das Jahr 1857 möglich ist. Das hat mich aber nicht abgeschreckt, meine These auch für diesen Zeitraum zu exekutieren. Letztlich wird man die Jahre der Weltwirtschaftskrise ausdehnen müssen auf den gesamten Zeitraum der »Zwischenkriegszeit«, einen Zeitraum permanenter ökonomischer Strukturkrisen, in dem selbst der seichte Wirtschaftsaufschwung in den Golden Twenties ausgesprochen labil war. Am Ende der Krise stand die General Theory von John Maynard Keynes, erstmals 1936 publiziert, die zu einer aktiven Konjunktur- und Beschäftigungspolitik führte. Lange Zeit glaubte man, dass man ökonomische Krisen generell auf diese Weise überwinden könnte (Hall 1989). Die ökonomische Krise der 1920er Jahre wurde dabei vor allem aus drei Quellen gespeist: Im ersten Weltkrieg war das Weltwährungssystem zusammengebrochen und vor allem Frankreich, aber auch England hatten sich erheblich bei ihrem Bündnispartner, den USA, verschuldet. Die alliierte Reparationsforderung an Deutschland brachte einen Kreislauf in Gang, in dem Deutschland mit in den USA geliehenem Geld Reparationen an Frankreich bezahlte, die von dort zur Schuldentilgung wieder in die USA zurückflossen. Zu diesem Kreislauf, der die internationalen Finanzmärkte erheblich belastete, kamen die Probleme der Umstellung der Kriegswirtschaften auf zivile Produktion, die in Deutschland durch die Niederlage veranlasst, in den anderen Ländern aus ökonomischen Notwendigkeiten erfolgt war (Ritschl 2001). Im industriellen Sektor der westlichen Länder entstand zugleich die Tendenz, Zollschranken gegenüber dem Weltmarkt aufzubauen, hinter denen durch Fusionen große Industriekonglomerate geschaffen wurden, um durch Größenvorteile und Produktivitätssteigerungen wieder die Gewinnhöhen der Vorkriegszeit zu erreichen.7 Für Deutschland ist der Fall der 1925 entstandenen IG Farbenindustrie und der 1926 entstandenen Vereinigten Stahlwerke relevant (Reckendrees 2000, Plumpe 1990), aber schon die Tatsache, dass diese beiden Riesenkonzerne nicht einmal die größten in der Welt waren, zeigt, dass dieselbe Tendenz auch andernorts wirksam wurde, in den USA etwa mit der Expansion von Dow Chemical bzw. United Steel. Im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre entstand also eine hochgradig kartellierte oder monopolisierte Industriestruktur in nahezu allen westlichen 7
Allgemein Pohl (1985); sowie die Spezialstudien zur IG Farbenindustrie von Gottfried Plumpe (1990) und zu den Vereinigten Stahlwerken von Alfred Reckendrees (2000).
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Industrienationen.8 Nicht zuletzt durch diese ganz offensichtlichen Konzentrationstendenzen der Wirtschaft waren die gesellschaftlichen Diskussionen der 1920er Jahre durch die Kritik an den großen Konzernen und ihren hohen Gewinnen geprägt, die man auf Kosten der Beschäftigten erreicht sah (Stollberg 1982). Die Auseinandersetzungen über die Vor- und Nachteile marktwirtschaftlicher oder sozialistischer Wirtschaftssysteme und die Verstaatlichung von Industrien dominierte aber nicht nur die gesellschaftlichen Debatten und die der Tarifparteien, sondern spielten auch in der Wirtschaftstheorie eine wichtige Rolle – im Übrigen nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen westlichen Industrieländern. In diesem Feld der Auseinandersetzung kam schließlich wieder die Frage der Medien ins Spiel, wenn auch zunächst nur in einem übertragenen Sinn: Ich meine die »calculation debate« oder »Planwirtschaftsdebatte«, die Frage also, ob es möglich ist, dass eine staatliche Bürokratie einen gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess effizient organisieren kann (Lavoie 1985). Bei der Debatte, die durch die Neuauflage des Buchs Die Gemeinwirtschaft des Wiener Erzliberalen Ludwig von Mises 1932 ausgelöst worden war, standen sich Liberale (neben von Mises etwa auch Friedrich August von Hayek) und sozialistische Ökonomen (insbesondere Oskar Lange und Abba Lerner – bis auf von Mises hielten sich alle in den 1930er Jahren in London auf) gegenüber. Zunächst ging es zwar stärker um politische Fragen wie die Freiheit des Individuums und die ökonomische Vorteilhaftigkeit von »Selbstbestimmung«. Da im Verlauf aber immer mehr die technischen Aspekte der wirtschaftlichen Gesamtrechnung und die Wirkungsweise von Preisimpulsen thematisiert wurden, rückte das Informationsproblem in den Mittelpunkt und auf diese Weise wuchs sich die Debatte letztlich zu einer grundlegenden Weichenstellung der Wirtschaftswissenschaft aus (was man freilich erst im Nachhinein feststellte): Ist es möglich – so lautete die zentrale Frage – alle Daten über Bedarf und Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft an einer Stelle zusammenzuführen und von dieser dann die effiziente Bereitstellung von Gütern zu dekretieren? Die Sozialisten Lange und Lerner gründeten ihre affirmative Sicht auf die Begeisterung gegenüber den damals modernen Methoden der mathematischen Wirtschaftsforschung, während die Liberalen ebenso normativ die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und damit die dezentrale Informationsverarbeitung als beste Steuerungsinstanz ansahen. Die Debatte unterschied sich letztlich lediglich darin von den großen ideologischen Kontroversen zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft, die die gesamte Zwischenkriegszeit bestimmten, dass sie die Bedeutung von Informationskosten erkannt hatte. Gegenüber der Analyse, wie sie bei Karl Knies noch im 8
Zur amerikanischen Unternehmensgeschichte klassisch: Chandler (1982).
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Mittelpunkt stand, bedeutete das eine wichtige Akzentverschiebung. Knies hatte auf der einen Seite die Wirkung von Informationstechnologien auf Märkte sowie deren zeitliche und räumliche Veränderung untersucht, aber eben nicht, auf welche Weise sie Preise verändern würden. Auf der anderen Seite galt seine Aufmerksamkeit dem Telegraphenunternehmen als einem Produktionsunternehmen und er stellte Überlegungen über die spezifische Struktur an, die ihn letztlich dazu führten, dass es sich um ein »natürliches Monopol« handele, das sinnvoller Weise in der Hand des Staats zu betreiben sei. Wenn man diese Betrachtungsweise das »Regulierungsparadigma« in der Auseinandersetzung der ökonomischen Theorie mit Medien und Information nennen könnte,9 so würde ich im Gegensatz dazu die Ebene der Auseinandersetzung, die in der calculation debate gewählt wurde, als »Produktionsparadigma« bezeichnen: Im Mittelpunkt der Analyse standen hier Informationskosten, wie sie in allen Produktionsprozessen in einer Markt- und Planwirtschaft anfallen. Dieses Produktionsparadigma entsteht im Grunde in den USA der 1920er Jahre und kann auf das Buch Risk, Uncertainty and Profit des Chicagoer Ökonomen Frank H. Knight zurückgeführt werden, das 1921 erschienen war. Knight fragt hier nach dem Wissenshorizont vor allem von Unternehmern, der für Investitionsentscheidungen zentral sei. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen »Risiken« und »Unsicherheit«. Bei Risiken seien grundsätzlich alle Einflussfaktoren, die nach einer Entscheidung zu Erfolg oder Misserfolg der Handlung beitragen können, bekannt, nur ihre Eintrittswahrscheinlichkeit nicht. Im Gegensatz dazu begreift er eine Entscheidung als unter Unsicherheit getroffen, wenn die auf die Ausführung einer Entscheidung einwirkenden Faktoren grundsätzlich unbekannt seien (Knight 1921; Wessling 1991: 68–72). Mit dieser Thematisierung des Wissenshorizonts von Entscheidungen war selbstverständlich ein ganzer Komplex der Verbesserung der Informationsverarbeitungskapazitäten verbunden, der unsichere Entscheidungen in riskante transformieren könnte – wohlgemerkt auf der Ebene des Unternehmenshandelns. Es entstehen erste Ansätze der Markt- und Konsumforschung und Unternehmensberatungen, deren Aufgabe die systematische Perfektionierung der Informationsverarbeitungsprozesse in Unternehmen ist. Jetzt erst stellt sich die Gewohnheit ein, die Organisationsstrukturen von Großunternehmen mit Organigrammen abzubilden (Kipping 1997). Auf das in Deutschland weitgehend unbekannt gebliebene Buch von Frank H. Knight konnte man sich in der calculation debate berufen. Der entscheidende Beitrag zum Abschluss der Debatte wurde aber von einem 27 Jah9
Auf diese Frage der Regulierung von Medien und der Implikation politischer Vorstellung auf die Medienmärkte rekurriert ein großer Teil der heutigen Literatur zur »Medienökonomie« (vgl. auch Kiefer 2002).
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re alten Studenten an der London School of Economics verfasst und 1937 in der Zeitschrift economica publiziert. Die Rede ist von Ronald H. Coase und seinem Aufsatz über »The Nature of the Firm«, in dem er die Vorstellung von den »Transaktionskosten« entwickelt. Hiermit sind die Kosten gemeint, die über die reinen Produktionskosten eines Gutes hinausgehen und mit der Anbahnung eines ökonomischen Tauschs, mit dem Gütertransport und der vertraglichen Durchsetzung verbunden sind. Coase stellt in seinem Aufsatz die Kosten des Marktsystems den Kosten der Produktion in Unternehmen gegenüber, welche er im Gegensatz zu Märkten als »Hierarchie«, bzw. als hierarchische Organisation der Produktion bezeichnet. Revolutionär an diesem Aufsatz war, dass er erstmals auch für die Aushandlungsprozesse auf Märkten Kosten annahm,10 die freilich geringer seien, als die Produktion innerhalb von Unternehmen. Und die Kosten der Märkte entstanden natürlich im Wesentlichen durch Informationskosten, die allerdings noch vollständig auf das Kalkül des Unternehmens bezogen waren und vor allem hinsichtlich der Überwindung des Raums beschrieben wurden: »Inventions which tend to bring factors of production nearer together, by lessening spational distribution, tend to increase the size of the firm. Changes like the telephone and the telegraph which tend to reduce the cost of organizing spatially will tend to increase the size of the firm.« (Coase [1937] 1996: 48)
Dabei vergisst Coase nicht zu erwähnen, dass solche Innovationen prinzipiell für Märkte und Unternehmen gleichermaßen gültig seien und es nur auf das relative Verhältnis ankomme, in dem Medien zum Einsatz kämen (Coase [1937] 1996: 48, 56). Im Grunde war diese Vorstellung von Medien und Information noch naiv, behandelte sie doch nur eine besondere Art von Informationen, nämlich jene, für die Konsumausschluss möglich war. Erst später wurde der Ansatz zur so genannten Neuen Institutionenökonomie ausgeweitet und damit auch solche »Informationen« einbezogen, die allgemein und immer verfügbar waren, nämlich kulturelle Institutionen wie Vertrauen, Werte, Normen usw., die man später unter dem Begriff des »Wissens« in die ökonomische Analyse einbezog. Zunächst handelte es sich aber um einen reinen Produktionsbegriff, der noch dazu an das Handeln des Einzelnen (und hierbei war vor allem an den Unternehmer gedacht) gebunden, also interaktionistisch war. Er ist hervorgegangen aus dem Problem, während der weltwirtschaftlichen Krise 1929/32 die optimale Unternehmensgröße zu bestimmen und Coase setzte diese in eine unmittelbare Beziehung zum zeitgenössischen Stand 10 »There is a cost of using the price mechanism.« (Coase [1937] 1996: 43)
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der technischen Informationsverarbeitung. Man könnte diesen im Produktionsparadigma verwendeten Informationsbegriff auch als einen »neoliberalen« Informationsbegriff bezeichnen, denn Coase gehörte in der Nachkriegszeit zu den ersten Ökonomen einer jüngeren Generation, die auf Vorschlag von Friedrich August von Hayek in die berühmte Mont Pèlerin-Society einbezogen wurden.11 Er bewegte sich also schon institutionell in den Bahnen des Neoliberalismus. Der Ausgangspunkt und das Ziel seiner Analysen, mit denen der Informationsbegriff unlösbar verknüpft ist, war es, das Marktsystem durch die Integration der Vorstellung von Informations- oder Transaktionskosten effizienter zu machen. Es herrschte hier also niemals die Vorstellung, dass gleichsam in der Natur von Information oder Kommunikation strukturelle Probleme auftreten könnten, die eine ökonomisch effiziente Integration in den Marktprozess verhinderten; diese Überzeugung lag Karl Knies’ Interpretation des Telegraphen zu Grunde, woraus schließlich Staatseingriffe abgeleitet wurden. Auch die Weiterentwicklung dieses Informationsbegriffs durch Friedrich A. von Hayek rechtfertigen eine Titulierung als »neoliberal«: In einem 1945 veröffentlichen Aufsatz mit dem Titel »The Use of Knowledge in Society«, den Hayek später als seinen wichtigsten Beitrag zur Ökonomischen Theorie bezeichnete (Ebenstein 2003: 97), stellte er es geradezu als Kennzeichen der arbeitsteiligen Marktwirtschaft heraus, dass das Wissen der Produktion über eine ganze Gesellschaft verteilt sei und nur hierdurch effizient eingesetzt werden könne.12 Hayek hatte damit den Informationsbegriff von Coase von der Verknüpfung mit den Unternehmerentscheidungen befreit und zur Grundlage wirtschaftlichen Handelns aller Menschen gemacht – mithin genau die Akzentverschiebung zu einer umfassend ökonomisierten Gesellschaft, die Michel Foucault und andere Kritiker später als grundlegend für den Neoliberalismus bezeichneten. Ich zögere aber dennoch, den Informationsbegriff »neoliberal« zu nennen und möchte lieber bei der Bezeichnung »Produktionsparadigma« 11 Die Mont Pèlerin Society war ein 1947 auf Initiative von F.A. v. Hayek und Wilhelm Röpke in der Schweiz gegründeter Zusammenschluss von (neo)liberalen Ökonomen, Journalisten und Unternehmern, die sich seit dem regelmäßig einmal im Jahr trafen und liberale Positionen in den wirtschaftspolitischen Debatten der Nachkriegszeit abstimmten (Hartwell 1995). Da zahlreiche sehr prominente Politiker Mitglied in der MPS waren, wird die Gesellschaft als ausgesprochen einflussreich eingeschätzt, was aber zum Teil zu Verschwörungstheorien führt (Roth 2001; Walpen 2004). Coase wird schon kurz nach seiner Promotion auf Vorschlag von Hayek in den Zirkel aufgenommen. (Proposals concerning new membership, strictley confidential, 11.04.1950, Hoover Institution Archives (Palo Alto, CA), Rep. Mont Pelerin Society, Box 6, Fo. 7). 12 Die Aufsätze »Economics and Knowledge« und »The Use of Knowledge in Society« erschienen in der American Econonomic Review und wurden dann zusammen mit anderen Aufsätzen als »Individualism and Economic Order« publiziert. Das Bändchen wurde 1976 ins Deutsche übersetzt (Hayek 1976), als Hayek bereits seit 14 Jahren wieder in Europa lebte.
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bleiben, weil die calculation debate noch einen anderen Zweig der Beschäftigung der ökonomischen Theorie mit Information und Medien hervorbrachte, welcher von Autoren bestimmt wurde, die sich zumindest in den 1940er Jahren noch als Sozialisten begriffen: In Anknüpfung an seinen Chicagoer Fakultätskollegen Oskar Lange entwickelte der Ökonometriker Jakob Marschak in den 1940er Jahren einen wirtschaftswissenschaftlichen Informationsbegriff, der die gesamte Volkswirtschaft als Produktionsprozess ansah und Informationsweitergabe und -verarbeitung als ein letztlich mathematisch zu lösendes Problem der Effizienz.13 Marschak knüpfte damit an die zeitgleich stattfindende Entwicklung einer mathematischen Informationstheorie an, wie sie in dem bekannten Aufsatz von Claude Shannon und Warren Weaver niedergelegt wurde. Hierzu muss man wissen, dass Weaver zu den Schlüsselfiguren der amerikanischen Großforschungsprojekte gehörte, die während des Zweiten Weltkriegs Wissenschaft und Militär zusammenbrachten. Marschak und zahlreiche andere Ökonomen standen damals ebenfalls im Dienst des Militärs. Ihre Aufgabe war es, die unterschiedlichen Produktionsprozesse der Rüstungsindustrie so aufeinander abzustimmen, dass die Reibungsverluste minimiert wurden. Hierzu hatte sich als eine neue Forschungsrichtung die operations research entwickelt, die diese im Grunde betriebswirtschaftlichen Probleme nun auf der Ebene der gesamten Volkswirtschaft (mathematisch) lösbar machte (Mirowski 2002: 153–200 passim). Wir haben damit im Produktionsparadigma, wie es durch die calculation debate ausgelöst wurde, eben nicht nur einen ›neoliberalen Informationsbegriff‹, der die Informiertheit und das Wissens aller Wirtschaftssubjekte zum Thema macht, um die Vorteilhaftigkeit der Marktwirtschaft zu begründen, sondern auch einen fast ›sozialistischen‹ Informationsbegriff, der produktionstechnisch ist, insofern er die gesamtgesellschaftlichen Resultate als Ergebnis eines effizienten, riesenhaften Produktionsprozesses ansieht.
13 Zur atemberaubenden Biographie Marschaks, der mit kaum 20 Jahren Arbeitsminister der »Terek-Regierung« und Duma-Abgeordneter in der Russischen Revolution war, bevor er über ein Studium in Deutschland und Lehre in England in die USA emigrierte (Hagemann 1997).
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» I nf o r ma t i o ns ö k o no m i e « i n de n 1 9 7 0 e r J a h re n Die wirtschaftswissenschaftlichen Debatten über Information hatten in Bezug auf die globale ökonomische Krise der Jahre 1973/75 einen wesentlich längeren Vorlauf. Im Grunde wurde seit der calculation debate das Informationsproblem insbesondere in der Management-Theorie als Frage der zweckmäßigen Organisation von Unternehmen kontinuierlich thematisiert. In der volkswirtschaftlichen Theorie verschwand es indes wieder und kam erst in den ökonomischen Strukturkrisen seit den 1960er Jahren wieder in die Diskussion. Nach einem beispiellosen ökonomischen Wachstumsprozess in allen westlichen industrialisierten Ländern begann eine zunächst schleichende Strukturkrise der westlichen Ökonomien, die zumeist mit dem Übergang von Industrie- zu Dienstleistungsökonomien erklärt wurde. Mitte der 1970er Jahre kulminierten diese Entwicklungen in einer weltwirtschaftlichen Krise. Diese war auf der einen Seite mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems verbunden, das durch die Festschreibung der internationalen Wechselkurse im so genannten System von Bretton Woods in Deutschland eine exportgestützte Sonderkonjunktur geschaffen hatte. Vor allem für die USA ging das bis 1975 gültige System der festen Wechselkurse indes mit ökonomischen Problemen einher, weil vor allem die chronisch unterbewertete D-Mark permanente Kapitalabflüsse und eine künstliche Verteuerung des eigenen Exports bewirkte (James 1997). Die spätestens seit Mitte der 1960er Jahre virulente Krise des Weltwährungssystems fiel am Beginn der 1970er Jahre mit der Ölpreiskrise und den anschließenden Berichten des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums zusammen. Hatte man zuvor das Wirtschaftswachstum als prinzipiell grenzenlos angesehen und mit einer Wohlfahrtssteigerung ad infinitum gerechnet, so lösten nun Diskussionen über die richtige Steuerung des Wirtschaftssystems und die Verteilung der knappen Ressourcen dieses Wachstumsdenken ab (Bossmann 1995). Dabei waren die ersten Krisenanzeichen in den USA bereits wesentlich früher als in der Bundesrepublik zu spüren: Während in der Bundesrepublik eine leichte Krise 1966/67 zu einem realen Sinken des Volkseinkommens führte und danach zum ersten Mal seit 1958 wieder Arbeitslosigkeit auftrat, hatte dieser Prozess in den USA bereits in den frühen 1960er Jahren begonnen. Da man neben den negativen Effekten des Weltwährungssystems in den USA den Strukturwandel der Wirtschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft für die stagnierenden Wachstumsraten verantwortlich machte, rückten nun die Themen Information,
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Wissen und Medien wieder stärker in das Gesichtsfeld der ökonomischen Theorie.14 Gleichzeitig mit der ökonomischen Krise und dem wirtschaftlichen Strukturwandel lassen sich mehrere vorwiegend technische Innovationen auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik konstatieren: Die technische Ausweitung des terrestrisch übertragbaren Frequenzspektrums, das zur Einführung von neuen Fernsehsendern seit den 1960er Jahren führte, die Verbreitung des Farbfernsehens seit den 1970er Jahren, die gesamte Entwicklung der Mikroelektronik und der damit einhergehenden Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung zunächst im industriellen Bereich und schließlich im Bereich der Telefonvermittlung, was die Schaltung von Telefongesprächen beschleunigte und vor allem verbilligte. All diese Innovationen sind zugleich Ursprung des wirtschaftlichen Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft wie deren Effekt; sie sind Rahmenbedingungen der ökonomischen Krise seit den 1960er Jahren aber auch Impulse für weitergehende wirtschaftstheoretische Überlegungen. Seit den 1970er Jahren entsteht in der Wirtschaftswissenschaft der USA eine regelrechte Mode, die sich zu einer eigenständigen Fachrichtung auswächst und schon kurze Zeit später unter dem Begriff der »Informationsökonomie« zusammengefasst wird (Bössmann 1978). Es ist bezeichnend, dass die Behandlung von Information und Medien in der ökonomischen Theorie der 1960er Jahre zunächst noch im Rahmen des Produktionsdenkens verblieb. Ein langjähriger Freund von Friedrich A. von Hayek – Fritz Machlup, der wie Hayek emigriert war und sich dann in den USA wissenschaftlich vom reinen Liberalismus der Wiener Schule entfernt hatte – schrieb 1962 ein durchaus überraschendes Buch (Haberler 1983; Coser 1984). Machlup versuchte in The Production and Distribution of Knowledge in the United States den gesamten Wirtschaftssektor, der mit der Produktion von Wissen beschäftigt war, gleichsam in einer Branchenstudie zu quantifizieren. Dabei wählte er einen sehr weiten Begriff des »Wissens«, indem er Wissen sowohl als Bestandsgröße als auch als Prozess bezeichnete (Machlup 1962: 13). Dieser Begriff ermöglichte nicht nur Massenmedien und Interaktionsmedien zusammenzufassen, sondern den gesamten Bereich der Wissenschaft und Erziehung hinzuzufügen, was ihn wieder in die Nähe der Überlegungen brachte, die von Karl Knies vorgelegt wurden. Machlup fasste die Schwierigkeiten der Quantifizierung als eine rein technischstatistische auf und veröffentlichte kurz vor seinem Tod noch ein voluminöses Werk mit dem Titel The Knowledge Industry, mit dem er diese 14 In diesem Zusammenhang ist auch das Buch von Daniel Bell über die »Nachindustrielle Gesellschaft« (1970) und die Arbeiten von Baumol über den »services sector« entstanden (Häusermann/Siebel 1995).
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Probleme gelöst zu haben glaubte. Man könnte sagen, Machlups Buch ist der Höhepunkt des Produktionsparadigmas, da er umfassend versuchte, die ökonomischen Leistungen von Informationen zu analysieren. Allerdings scheiterte er an der Schwäche des im Produktionsparadigma verwendeten Informationsbegriffs, der in Analogie zur Unterscheidung von Geld und Kapital, Information und Wissen als »Stromgröße« bzw. »Bestandsgröße« beschrieben wird und somit von der Vorstellung eines Wissensbestands ausgeht, der durch Informationszufluss vergrößert werden kann. Daher ist es im Produktionsparadigma wichtig, Information zu quantifizieren, was man letztlich durch die Messung der Zunahme des Wissensbestands erreicht. Mit dieser Hilfskonstruktion in der Messung der ökonomischen Effekte von »Information« beschäftigt sich nun die gesamte »Informationsökonomie«. Den Auftakt zu dieser Art der ökonomischen Thematisierung von »Information« lieferte der 1961 erschienene Aufsatz von George Stigler, in dem er den Begriff der »Suchkosten« entwickelte. Danach entstünden Unternehmen oder auch Konsumenten Kosten dadurch, dass sie auf einem unübersichtlichen Markt die günstigsten Anbieter eines Gutes herausfinden müssten. Die Kosten für die Informationsbeschaffung würden sich so lange rentieren, wie sie geringer seien als der Preisunterschied. Über die Bewertung von unterschiedlichen Marktpreisen von Gütern lassen sich damit indirekt Rückschlüsse auf die Höhe der »Suchkosten«, also der »Information« ziehen. Die ökonomische Thematisierung von Information war in diesem Fall durch die zielgerichtete Aktivität der Suche eines Konsumenten oder Unternehmers ersetzt worden (Stigler 1961). Erst im Verlauf der 1970er Jahre war die Wirtschaftswissenschaft in der Lage, den meines Erachtens entscheidenden Akzentwechsel vorzunehmen. Eva Bössmann hat in ihrem Artikel im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft 1978 die Betrachtung der Angebotsseite von Informationen hervorgehoben und sich dabei von früheren Ansätze abgegrenzt, die einseitig die Nachfrageseite betont hätten (Bössmann 1978). Ich bin allerdings der Meinung, dass beide Positionen im Rahmen des von mir so genannten »Produktionsparadigmas« verbleiben, insofern die von Bössmann charakterisierten »nachfrageorientierten« ökonomischen Informationstheorien die »Informationsnachfrage« innerhalb von Unternehmen, d.h. ihrer Organisation und ihrer Entscheidungsprozesse, untersuchten. Das galt natürlich gleichsam per definitionem für die nun aufkommenden angebotsorientierten Ansätze. Am bekanntesten dürfte wohl der Ansatz von Kenneth Arrow sein, der sich erstmals in einem Aufsatz von 1962 mit der Ökonomie von Forschung und Entwicklung beschäftigte. Auf der Grundlage der Formulierung von allgemeinen Merkmalen des Wirtschaftsguts Information (so etwa, dass diese keinen »Konsumaus-
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schluss« ermögliche, weil der Konsum des Guts »Nachricht«, wenn sie einmal verbreitet ist, nicht regulierbar und nicht weiter ökonomisierbar ist) leitete er einen geringen Anreiz für die Produktion von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ab. Im Bereich Forschung und Entwicklung herrsche eine Unterinvestitionstendenz. Hierüber wurde im Anschluss an Arrow heftig diskutiert und zwar vor allem, weil man das ins Stocken geratene Wirtschaftswachstum auf die zu geringe Investitionstätigkeit im Bereich der Forschung zurückführen konnte, die Arrow hier erstmals mit einem allgemeinen Gut-Charakter des Wirtschaftsguts »Information« erklärte (Arrow 1962, Bössmann 1978). Wie unsicher die Ökonomie nun aber mit dieser Thematik umging, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass ein anderer Ökonom, Jack Hirshleifer aus genau der selben Eigenschaft des Wirtschaftsguts eine Tendenz zu Überinvestition ableitete, weil der Prozess des Bekanntwerdens von Innovationen es dem »Erfinder« ermögliche, Spekulationsgewinne zu erwirtschaften, weil er als erster wisse, dass die Innovation populär werden wird (Bössmann 1978). Dieser Gesichtspunkt knüpfte an eine längere Tradition der Diskussion über die »begrenzte Rationalität« von Wirtschaftssubjekten an, der Tatsache also, dass Wirtschaftssubjekte eben nicht immer vollständige Information über alle Marktprozesse haben und nur aus diesem Grund Gewinne und Verluste überhaupt entstehen können. Diese Vorstellung entstammte der behavoristischen Entscheidungstheorie von Herbert A. Simon Anfang der 1950er Jahre (Wessling 1991). Aber die Informationsökonomie beschäftigte sich im Anschluss an Stigler und Arrow eben nicht nur mit dem volkswirtschaftlichen Problem von Forschung und Entwicklung, sondern nahm auch die Probleme unterschiedlicher ›Medienmärkte‹ in den Blick und entwickelte jeweils neue Konzepte davon, was überhaupt auf diesen Märkten gehandelt wird. Erwähnenswert sind an dieser Stelle die Wortmeldungen von Ronald H. Coase, der beispielsweise in einem Aufsatz über den Rundfunk die Meinung vertritt, dass auf Fernsehmärkten eben nicht ein Programm an ein Publikum verkauft wird, sondern umgekehrt die Fernsehsender dazu dienen, über inhaltliche Programmierung ein spezifisches Publikum zu schaffen, das dann effizient an die Werbekunden verkauft werden kann. »It is not from the benevolence of the butcher, the brewer and the baker that we expect our radio and television programs«, so Coase in Anlehnung an die berühmte Textstelle bei Adam Smith, in der dieser die am Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs selbstverständliche Vorstellung entwickelt, dass nur das Eigennutzstreben der Menschen zur Güterproduktion führt. Daher, so Coases Analyse aus dem Jahr 1960, müsse das Fernsehprogramm von den Zuschauern bezahlt werden, wenn es qualitätvoll sein solle (Coase 1965: 165). Diese politische Wortmeldung von Coase gehörte zwar nicht zum engeren Bereich jener Unterdis-
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ziplin der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft, die sich damals als »Informationsökonomie« bezeichnete. Sie geht aber auf zeitgenössische wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen zurück, die sich während der Krise stärker dem ökonomischen Problem der Information zuwandte.15 Wenn man nun die Überlegungen und Leistungen der in den 1970er Jahren entstehenden Informationsökonomie zusammenfassen will, so scheint sich herauszukristallisieren, dass alle Ansätze als Erklärungsversuche für die Störung gesamtwirtschaftlicher Entwicklung entstanden sind. Man versuchte die Ursache der ökonomischen Verwerfungen vor allem durch eine genauere Beschreibung des Wirtschaftsgutes Information und der Informationsverarbeitungsprozesse einer Gesellschaft zu erklären. Wenn man diese besser beschrieb – so war vermutlich die Motivation der meisten Ökonomen –, könnte man den Marktprozess wieder effizient gestalten und die zeitgenössischen Wachstumsprobleme lösen. Den entscheidenden Schritt war man damals noch nicht gegangen; das wäre der Schritt aus dem Produktionsparadigma heraus gewesen und somit die Erkenntnis, dass Information eine grundsätzliche Paradoxie für die Funktionsweise von Märkten bereithält: Der Erwerb von Informationen kann den Besitz an Wissen verringern! Dasselbe ist mit kaum einem anderen Wirtschaftsgut möglich (ausgenommen vielleicht dem Handel mit nicht zu entschärfenden Sprengsätzen). Es ist also die Übertragung der Kapitalakkumulationsmetapher auf den Gegenstandsbereich von Medien und Information, die der wirtschaftlichen Analyse Grenzen setzt. Das hat neuerdings die »Evolutionsökonomie« erkannt und redet daher wesentlich vorsichtiger von Wissen als »Ordnung« und – in Anlehnung an das Entropietheorem – von einer permanenten Abnahme der Ordnung in Gesellschaften, gegen die man mit Informationsweitergabe und Wissenserwerb angehen kann (Hermann-Pillarth 2002). Aber das ist ein Phänomen der Gegenwart, für die Historiker nicht zuständig sind.
S c hl us s Kehren wir zum Schluss zunächst noch einmal zum Ausgangspunkt der Argumentation zurück: Die ökonomische Theorie, wie sie im 18. Jahrhundert von Adam Smith und David Ricardo begründet wurde – das war mein Ausgangspunkt –, ist im Grunde eine Theorie der materiellen Produktion und abstrahiert vom Begriff der Information. Nur in ökonomischen Krisen wird ›Information‹ als Gegenstand in die Ökonomische 15 Zahlreiche andere Beispiele habe ich an dieser Stelle unerwähnt gelassen. Zentral wäre sicher noch der Aufsatz »The Market vor ›Lemons‹«, den der spätere Nobelpreisträger George Akerlof 1970 in American Econonomic Review veröffentlichte.
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Theorie zurückgeholt, wenn es darum geht, das Modell zu retten, es ›perfekter‹ zu machen. Das ist wohlgemerkt eine historische Argumentation, die nur begrenzt Aussagen über die Gegenwart zulässt. Eine Aussage über die Gegenwart, die weniger die ökonomische Theorie als vielmehr die Medienwissenschaft betrifft, ist mir allerdings wichtig: Man sollte das Thema »Ökonomie der Medien« nicht in der Weise missverstehen, dass man sich um den materiellen und letztgültigen Gehalt der Funktionsweise des Mediensystems kümmert, nachdem man sich sehr lange Zeit mit den ›kulturalistischen‹ Aspekten des Mediensystems beschäftigt hat, mit den ›Ideologien‹, den ›Diskursen‹ oder den Formen der ›Aneignung‹. Medienunternehmen gehorchen in einer kapitalistisch verfassten Welt grundsätzlich denselben Produktionsregeln wie andere Unternehmen. Ein Spezifikum der ökonomischen Funktionsweise von Medien gibt es nicht mehr und nicht weniger als in anderen Bereichen. Unterschiede zu andern Gütern und Märkten lassen sich letztlich immer wieder auf die politisch und gesellschaftlich gewünschte Form der »Regulierung« zurückführen (z.B. Hesse 2004), die nach wie vor den Kernbestand dessen ausmacht, was heute als »Medienökonomie« bezeichnet wird (Kiefer 2001). Solche Regulierung findet sich aber ebenso bei der Bewirtschaftung des öffentlichen Personenverkehrs, des Energiebereichs oder der medizinischen Versorgung. Die Perfektionierung des Wissens über die Funktionsweise der Ökonomie durch eine Untersuchung des Medienbereichs, wie sie Shapiro und Varian (1999) mit ihrem Begriff der »Netzwerkökonomie« unternehmen, verdeckt häufig die Tatsache, dass ökonomisches Wissen stets historisch wandelbar ist. Eine substanzielle Fundierung einer »Medienökonomie« muss daher immer wieder daran scheitern, dass das zu Hilfe gerufene, vermeintlich sichere ökonomische Wissen selbst wenig substanziell ist. Auch eine ökonomische Beschreibung der Medien bleibt eine Beschreibung, die freilich den Vorzug hat, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Präferenzordnung als »wichtiger« oder »relevanter« erachtet zu werden, als andere Beschreibungen. Nicht eine bessere ökonomische Fundierung der Medienwissenschaft sollte also mit dieser Spurensuche zu den Begriffen »Information« und »Wissen« in der ökonomischen Theorie erreicht werden, sondern umgekehrt eine Historisierung der ökonomischen Theorie. Und dies konnte durch zwei Zusammenhänge geleistet werden: (1) Es scheint einen Zusammenhang von wirtschaftlichen Krisen und der Beschäftigung der ökonomischen Theorie mit dem Thema »Information«, »Wissen« und »Medien« zu geben. (2) Der auf diese Weise in die ökonomische Theorie einfließende Informationsbegriff ist stark zeitbedingt. Er reflektiert die Frage des »natürlichen Monopols« und der staatlichen Regulierung des Mediensektors in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Frage der Organisa-
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tion von Großunternehmen während der Weltwirtschaftskrise und die Frage der Markttransparenz und der beschränkten Rationalität in den 1970er Jahre. Es handelt sich nie um eine systematische Reflexion der Begriffe »Information« und »Wissen« (und noch weniger den der »Medien«), sondern um eine jeweils problemorientierte Thematisierung. Das ändert sich – wenn man Nico Stehr Glauben schenken will – erst mit der Entstehung und Durchsetzung der »Wissensgesellschaft« in unseren Tagen (Stehr 2001). Jenseits dieser allgemeinen Kritik der Entstehungsbedingungen der wirtschaftswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema »Wissen« und »Information« ist eine inhaltliche Entwicklung des Informationsbegriffs zu konstatieren, die ich auf zwei Epochenschritte reduzieren möchte. Der erste zentrale Schritt war m. E. die Abkehr der ökonomischen Theorie von der Vorherrschaft der »Transportmetapher«. Die Argumentation mit Transportkosten und räumlicher Verteilung von Information ist natürlich weiterhin wichtig und auch für Spezialprobleme der ökonomischen Theorie zentral. Spätestens seit der calculation debate wird aber im Grunde von einer allgemeinen, simultanen Verfügbarkeit von Informationen ausgegangen. Da Coase die Unternehmensgröße auf die technische Leistungsfähigkeit von Telegraph und Telefon bezieht, ist automatisch klar, dass diese unbegrenzt sein muss, sobald die Informationstechnologien unbegrenzte Reichweiten erreichen. Die internen Kommunikationsprobleme werden seither weitestgehend vernachlässigt und werden lediglich im Streit über die »beschränkte Rationalität« von Zeit zu Zeit wieder aufgegriffen. Damit vollzog die ökonomische Theorie die Abkehr von der Unterscheidung von Medium und Botschaft, wie sie in der Medientheorie – wenn ich das richtig sehe – mit dem Werk Marshall McLuhans verknüpft ist. Möglicherweise profitierte McLuhan hier von der ökonomischen Theorie, wurde sein Lehrer Harold Innis (ein Schüler von Frank H. Knight in Chicago) doch in den 1940er Jahren intensiv von der dortigen ökonomischen Fakultät umworben.16 Der zweite zentrale Schritt in der Thematisierung von »Information« schloss sich an die »Informationsökonomie« der 1970er Jahre an: Nun erst war es möglich, von der reinen Produktionsorientierung in der Beschäftigung mit Information und Medien abzugehen. Die Arbeiten George L. Akerlofs zum Beispiel beschäftigen sich nur noch mit der Verteilung von Information, mit »asymmetrischen Informationen« zwischen den Marktparteien und den hieraus abzu16 Das Economics Department hatte sich zwischen 1944 und 1947 um Innis bemüht, der in Chicago u.a. bei Knight studiert und anschließend eine Professur in Toronto angenommen hatte. 1947 erhielt die Fakultät die endgültige Absage von Innis. John Nef an Theodore Schulz (Dean Econ. Dept), 23.07.1947, UA Chicago, PP/Series 1945–1950, Box. 15, Fo. 13.
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leitenden Aushandlungsprozessen. Die Wissen-Kapital-Analogie hat in diesem Spiel keine Bedeutung mehr (Akerlof 1970). Gary S. Becker hatte seine Vorstellung von »Humankapital« in den 1970er Jahren formuliert und damit die Betonung darauf gelegt, dass es nicht nur auf die Verbreitung und Verfügbarkeit von Informationen ankomme, sondern auch auf die Fähigkeit der Verwertbarkeit von Wissen (was zum Teil schon bei Machlup erkennbar war). Hiermit war die Möglichkeit gegeben, die ökonomische Bewertung von Informationen durch die Kontextualisierung zu erklären. Wenn damit zwei wichtige Fortschritte der ökonomischen Theorie benannt sind, die ich der Entwicklung des wissenschaftlichen Begriffs von Information und Medien in dieser Disziplin zuschreiben würde, so heißt das nicht, dass diese immer und überall gleichsam als gesichertes Wissen verfügbar wären. Noch immer erweist sich die Ökonomie m. E. als stark verunsichert durch die Expansion des Wissensbereiches, noch immer werden Vorstellungen vom Übergang zur »Wissensgesellschaft« mit quantitativen Befunden über die Bedeutungszunahme dieses Sektors gestützt, obwohl man eigentlich wissen müsste, dass unsere verfügbaren volkswirtschaftlichen Statistiken kaum Auskunft über diesen Strukturwandel geben können. Noch immer werden Informationen wie Wirtschaftsgüter behandelt, sofern man versucht, Medien und Information »ökonomisch« zu fassen. Das ökonomische Wissen über Information, Wissen und Medien ist eben auch in unserer eigenen Gegenwart ein zeitgebundenes, das durch die spezifischen Probleme der ökonomischen Krise gespeist wird: den Gestaltwandel der Geldwirtschaft, die »Überproduktion« von Wissen, die der Nachfrage vorauseilende Informationsverarbeitungskapazität moderner Gesellschaften etc. Auch diese Irritation ihres gesicherten Wissens wird die ökonomische Theorie freilich über kurz oder lang durch eine perfekte Integration des Themenfelds »Information« und »Wissen« beantworten.
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SCHUTZ ODER MONOPOLISIERUNG VON IDEEN? DIE ANFÄNGE DER DEUTSCHEN DISKUSSION UM DAS »GEISTIGE EIGENTUM« MARGRIT SECKELMANN I . Ö ko no mi e n de r A u f m e rk s a m ke i t : R e c ht , Zi t a t i o n u nd I r o n i e Wem gehören die Werke der Literatur und Kunst? Diese Frage stellt sich regelmäßig dann, wenn Kunstwerke zitiert oder durch andere weiterentwickelt werden. Ein augenfälliges Beispiel ist die sogenannte Appropriation Art.1 Diese reißt Ikonen der modernen Kunstgeschichte aus ihrem Zusammenhang, kodiert sie neu und gibt so Kommentare über den wahren Wert der Kunst, über Originalität und Autorschaft ab.2 Sollte, wie es bereits geschehen ist, sich einer der Zitierten (meistens sind es jedoch deren Witwen) mit den Werken nicht einverstanden erklären, so kommt es zum Rechtsstreit. Mit den Mitteln des Rechts jedoch lassen sich diese Probleme nur schwer fassen, da das Recht keine Codierung für Ironie enthält.3 So hat die Rechtsprechung regelmäßig Mühe, die Probleme der Zitation von Kunstwerken juristisch zu bewerten. Dazu ein Beispiel: In seinem Theaterstück Germania 3: Gespenster am Toten Mann setzte sich Heiner Müller mit der Lage der Deutschen Demokratischen Republik auseinander. Gleichzeitig reflektierte er in seinem Stück über das Verhältnis von Intellektuellen und Macht wie über sein persönliches und künstlerisches Verhältnis zu Bertolt Brecht. Er nutzte dabei die Form des Zitats und stellte Stücke aus Brechts »Leben des Galilei« Szenen aus 1 2 3
Dazu: Rebbelmund (1999); Römer (1997); Ortland/Schmücker (2005). Ich danke Dr. Eberhard Ortland (Berlin) für wertvolle Hinweise. Zur deutschen juristischen Diskussion vgl. Schack (2004); Römer (1997). Zur amerikanischen juristischen Diskussion vgl. Landes (2000); Greenberg (1992); Carlin (1988). Zu den Möglichkeiten, das Thema »Ironie« mit den Mitteln des Rechts zu fassen vgl. Hess (1993). Einen interessanten Ansatz zu einer Neudefinition des verfassungs- wie urheberrechtlichen Kunstbegriffs bietet: Fuchs (2000).
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seiner eigenen Bearbeitung von Shakespeares »Coriolan« gegenüber, indem er sie in ein fiktionales Gespräch anlässlich einer Coriolan-Probe einflocht. Durch die Kontrastierung der Zitate des Machthabers Coriolan, der gegenübergestellten Parabel des »Kleinen Mönchs« aus dem »Leben des Galilei« und der historischen Einbettung in die Zeit des Ungarnaufstands 1956, zu dessen Zeit die Szene aus Germania 3 spielte, reflektierte Müller das Verhältnis der Staatsmacht gegenüber den Intellektuellen in der DDR – und das mit einer durch die Montage gesteigerten Wirkung. Die Erben Bertolt Brechts klagten gegen die Verbreitung der Buchausgabe, in der das Theaterstück abgedruckt war (Müller 1996). Die nicht von ihnen gebilligte Übernahme der Textpassagen Brechts zum Zwecke ihrer Kontextualisierung durch Montage seien eine unberechtigte Verwendung seines Werkes, zumal die unkommentierte Übernahme dieser Passagen weder eine künstlerische noch wissenschaftliche eigenständige Bearbeitung des Brechtschen Werkes darstelle. Zunächst hatten sie Erfolg mit ihrem Argument, dass eine solche Zitation ohne Zustimmung des Autors eine Verletzung seines Urheberrechts bedeute.4 Das Bundesverfassungsgericht jedoch interpretierte das Urheberrechtsgesetz im Lichte der Kunstfreiheit neu. Es kam zu folgendem Schluss: »Dabei ist grundlegend zu beachten, dass mit der Veröffentlichung ein Werk nicht mehr allein seinem Inhaber zur Verfügung steht. Vielmehr tritt es bestimmungsgemäß in den gesellschaftlichen Raum und kann damit zu einem eigenständigen, das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor werden. Es löst sich mit der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit und wird geistiges und kulturelles Allgemeingut. [...] Diese gesellschaftliche Einbindung der Kunst ist damit gleichzeitig Wirkungsvoraussetzung für sie und Ursache dafür, dass die Künstler in gewissem Maß Eingriffe in ihre Urheberrechte durch andere Künstler als Teil der sich mit dem Kunstwerk auseinander setzenden Gesellschaft hinzunehmen haben.«5
Dieses Urteilszitat bringt den Zusammenhang zwischen den Werken der Literatur und Kunst und ihrer gesellschaftlichen Einbindung zum Ausdruck. Es bezieht sich darauf, dass Kunst nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts niemals von ihren Betrachtern, eine Botschaft niemals von ihren Empfängern getrennt werden kann. Damit eröffnet das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zu einer medientheoretischen Betrachtungsweise. Ein Werk der Wissenschaft, Literatur oder Kunst ist 4 5
Oberlandesgericht München, 29. Zivilsenat, Urteil vom 26.03.1998 – 29 U 5758/97 –, Neue Juristische Wochenschrift 1999, 1975–1978. Bundesverfassungsgericht – Erster Senat vom 29.06.2000 – 1 BvR 825/98 -, Neue Juristische Wochenschrift 2001, 598–600, 599.
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kein Monolith, sondern baut selbst auf früheren Ideen auf, wird zugleich jedoch durch andere weiterverwendet, die sich mit seinen Gedanken auseinandersetzen. Kunst ist Kommunikation, auch eine Kommunikation über das symbolische Gut (Bourdieu 1987; Hutter 1995: 177f.; AagaardMogensen 1983; Iseminger 2004) der Urheberschaft, welches sich über das Scharnier des Urheberrechts in ein kommerzielles Gut verwandeln und somit auch verwerten lässt. Der Begriff der Urheberschaft dient als Verbindungsstück zwischen den Sphären der Kunst, der Ökonomie und des Rechts. Um derartige Schnittstellen soll es im Folgenden gehen. Es soll untersucht werden, wie die Veränderungen der Ökonomien des Medialen ihrerseits die Urheberrechtstheorie beeinflussten. Die Veränderungen der Produktions-, Verwertungs- und Vertriebsweise des Schreibens seit der Erfindung des Buchdrucks (Giesecke 1991) lösten ihrerseits eine juristische und nationalökonomische Diskussion aus, die die Verteilung der Zugangs- und Ausschlussrechte in Bezug auf Wissen thematisierte. (Wadle 1996d: 63; Seckelmann 2006, 127ff., 139ff.). Im Mittelpunkt dieser Debatte steht der Begriff des »Geistigen Eigentums«. Diese juristische Kategorie soll im Folgenden näher untersucht werden. Die Diskussionen, die in Deutschland heute um das »Geistige Eigentum« geführt werden, lassen sich nur auf dem Hintergrund einer Debatte verstehen, die ab der Aufklärung auch Fragen künstlerischer Autonomie und Originalität in die Betrachtungen einbezog (Ortland 2004, 263–285; Ortland 2001, 167; Groys 1999; Kawohl 2002). Diese Debatte war von der US-amerikanischen, britischen und französischen Diskussionen, die nun über die internationalen Vertragswerke6 die deutsche Rechtssprache beeinflussen, fundamental verschieden. Auf diese Unterschiede, die heute oftmals zu semantischen Verwirrungen führen, wird noch zu sprechen zu kommen sein. Die Kontroverse, wie die Interessen der Autoren mit denen der Allgemeinheit abzuwägen seien, ist heute aufgrund gesetzlicher Regelungen über die Dauer des Urheberrechts (§§ 64ff. des deutschen Urheberrechtsgesetzes, UrhG7) und über die Abgrenzung zwischen Bearbeitungen und freie Benutzung von Kunstwerken nach den §§ 23 und 24 UrhG geregelt (Ortland/Schmücker 2005). Dennoch ergeben sich im Einzelfall immer wieder Fragen, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner »Germania 3«-Entscheidung zu beurteilen hatte. Wann nämlich wird – wie es das Bundesverfassungsgericht formulierte – das Werk
6 7
Dazu insbesondere: Wadle (1999: 246); Wadle (1996e: 3ff.); vgl. auch: Oppermann (1997); Ohly (2003: 554); Kaiser (2004: 38). Gesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) vom 9.9.1965 (in der Fassung vom 10.9.2003), BGBl. I, 2003, 1774–1778.
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»geistiges und kulturelles Allgemeingut« (BVerfGE NJW 2001, 598, 599) und löst sich »von der privatrechtlichen Verfügbarkeit«? Die Frage der Abwägung der Interessen des Einzelnen mit denen der Allgemeinheit hinsichtlich des Zugangs zu und der Verwertung von Produkten des Geistes wurde ab der Aufklärung innerhalb der Rechtswissenschaft, der Rechtsprechung, der Verwaltung, der Nationalökonomie, aber auch in den Verlagen und natürlich unter den Schriftstellern und Künstlern selbst diskutiert. Die Kommunikationen (Luhmann 1997: 266) überlagerten sich in »Konversationskreisen« (Hutter 1989: 114) dort, wo es um rechtliche, aber auch ästhetische Fragen ging, eben um den Begriff des »Urheberrechts« und des »Geistigen Eigentums«.
I I . Ö k o n o mi e n d e s W i s s e ns : D i e K o ns t i t ut i o n de s de ut s c hs p ra c hi ge n l i t e ra r i s c he n Ma r kt s Die Diskussion um den Begriff des »Geistigen Eigentums« entwickelte sich in Deutschland vor allem im Zusammenhang mit der Frage, wie der unlizenzierte Nachdruck rechtlich zu bewerten sei. Mit der Vereinheitlichung des deutschsprachigen literarischen Markts (Kiesel/Münch 1977: 141), der sich den sprachlichen Normierungen durch Martin Luthers Bibelübersetzung unterwarf (Giesecke 1991: 51; Windisch 1994), war der Druck zu einer lukrativen Verdienstquelle geworden. Johannes Gutenberg hatte seine Druckerwerkstatt von Anfang an als kommerzielles Unternehmen betrieben (Giesecke 2002: 57). Der nicht unbeträchtliche finanzielle Aufwand für den Buchdruck wurde im günstigsten Falle dadurch (über-)kompensiert, dass Privilegien gegen den Nachdruck ihrem Inhaber das ausschließliche Verwertungsrecht an den literarischen Werken sicherten. Diese schützten jedoch zunächst nicht den Urheber des Buches, sondern dessen Drucker und sollten diesem die Wiedererlangung der für den Buchdruck aufgewendeten Kosten und – im günstigsten Fall – einen Gewinn ermöglichen (Pohlmann 1961; Bappert 1962: 151–177; Gieseke 1995: 67–69; Gieseke 1957). Es handelte sich mithin der rechtlichen Konstruktion nach in erster Linie um ein Verwertungsrecht, nicht ein Recht der Autoren an ihren Geisteswerken. Ein solches sollte nur insoweit anerkannt werden, als dass der Begriff des »Geistigen Eigentums« das Recht am Manuskript selbst bezeichnete. Diese Interpretation fand ihre Grundlage in einem Satz des Römischen Rechts, welches in rezipierter – und somit auch modifizierter – Form als gemeines Recht (ius commune) in den deutschen Territorien angewendet wurde, sofern diesem keine lokalen Rechte 130
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vorgingen (Wieacker 1967: 133ff.; Daniel 2003: 101ff.). Eigentum konnte es nach den Sätzen des Römischen Rechts nur an einem körperlichen Gegenstand, also am Manuskript selbst, geben.8 Gedanken wurden hingegen als res extra commercium, also als nicht handelbare Sachen, bezeichnet. Geistige Arbeit zählte zu den freien Künsten, also zu denjenigen, die eines freien Mannes würdig waren.9 Der Begriff des »Geistigen Eigentums« bezeichnete daher im deutschen Recht zunächst den Zustand vor der Veröffentlichung eines Werkes. Der Autor sollte das Eigentum am Manuskript seines Werkes haben, dieses aber verlieren, sobald er es einem Verleger vertraglich – also zumeist auch entgeltlich – zur Publikation überließ. Das Eigentum »am Buch« sollte dem Sacheigentum am Manuskript oder an der Konstruktionszeichnung folgen. Es sollte vor der Publikation dem Verfasser zustehen, um ihm ein Mittel gegen die Veröffentlichung gegen seinen Willen, insbesondere gegen die »vitiös[e]« Veröffentlichung eines noch nicht druckreifen und überarbeitungswürdigen Exemplars (Thomasius [1695] 1994: 740, fol. 640) in die Hand zu geben. Mit Übereignung des Manuskripts als körperlichem Gegenstand sollte auch das Eigentum an den darauf befindlichen verkörperten Ideen an den Verleger oder Auftraggeber übergehen (Böhmer 1731: 71). Der englische Begriff des copyright zeigt diese Wurzeln der urheberrechtlichen Konstruktion: der Inhaber der mastercopy, des Manuskripts, hatte das ausschließliche Vervielfältigungsrecht, das copyright (Rehbinder 2002: 12). Erst langsam und im Gefolge der aufklärerischen »Genie«-Vorstellungen (Ortland 2001: 167) verlagerte sich der Gedanke der Schutzwürdigkeit eines Buchs von dessen Produktionstechnik und den damit verbundenen hohen Kosten im Vordergrund des Schutzes auf den Informationsgehalt eines Buchs. Die Eigentumsfrage am content eines Buches war indes deutlich schwieriger zu beantworten als die gewerbepolizeiliche Frage nach dem Schutz der Drucker durch ihre territoriale Obrigkeit. Eine zunehmend emphatischer werdende Auffassung von Autorschaft traf zusammen mit einer gegenläufigen Tendenz, einer Anonymisierung des Marktes. Die neue Technologie des Buchdrucks sorgte für 8
9
§ 25 J. de Rer. Div.: »Si partim ex sua materia partim ex aliena speciem aliquam fecerit quis, dubitandum non est hoc casu eum esse dominum qui fecerit, quum non solum operam suam dedit sed et partem eius materiae prestavit« (zit. nach: Lange 1858: 10). Institutiones II.1.33; Digesta XLI.1.9.1; dazu: Rehbinder (2002: 8–20). Zum Eigentumsbegriff der Institutionen und Digesten und zu diesen im Allgemeinen vgl. Kunkel/Schermaier (2001: 212f.); Kaser/Knütel (2003: 140). Zu den Parallelitäten und Unterschieden zwischen dem »Geistigen Eigentum« und dem Sacheigentum nach heutiger Rechtsdogmatik vgl. Jänich (2002); Plumpe (1979); Schwab (1974).
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eine Veränderung der Kommunikationskanäle für die Weitergabe von Wissen. In den alten institutionellen Bahnen, in denen im Mittelalter die Handschriften weitergereicht wurden, den Klöstern, Verwaltungen und Zünften, war der Zugang zu Wissen personalisiert, limitiert und kontrolliert, wie es Umberto Eco in seinem Buch Der Name der Rose bewusst übertreibend beschrieb. Hingegen nutzte man für die Druckerzeugnisse von Anfang an ein neues kommunikatives Netz: den Markt. Wie Michael Giesecke zeigte, begannen infolgedessen flexible, strukturell chaotische Netzwerke die hierarchischen Formen der Wissensweitergabe abzulösen (Giesecke 2002: 57, 63). Die Kontrollverluste waren doppelter Natur: Weder von der Obrigkeit noch von den Autoren und Verlegern konnten der Zugang als auch die Weitergabe von Wissen noch gänzlich überwacht werden. Die merkantilistischen Druckerprivilegien funktionierten daher auch als eine Art Vorzensur: Wer den staatlichen Schutz gegen Nachdruck erlangen wollte, hatte seine Werke inhaltlich überprüfen zu lassen – und zwar keineswegs nur auf Fragen der Originalität hin (Wadle 2003). Die merkantilistischen Gewerbeprivilegien leiteten die hierarchisch gesteuerte Kommunikation in den einzelnen Staaten langfristig in eine dezentralisierte Netzwerkstruktur über. Approbationen (Giesecke 2002: 61f.) sorgten dafür, dass sich territoriale Märkte etablieren konnten. Die Steuerung dieser Märkte durch die Obrigkeit ging jedoch so weit, dass teilweise sogar durch die Erteilung von Privilegien an lokale Nachdrucker die Entwicklungsrückstände bestimmter Staaten bewusst bekämpft wurden. So hatten etwa die meisten deutschen Territorien mit dem Ziel des Imports von Wissen zunächst Nachdrucke der sächsischen Buchdrucker geduldet. Dies änderte sich um 1760, als sich im deutschsprachigen Raum der Systemwechsel vom Tauschhandel zum Nettohandel vollzog. Dieser Umschwung wurde von den sächsischen Verlagsbuchhändlern ausgelöst. Sie räumten den anderen Buchhändlern zwar Rabatte ein, nahmen deren eigene Publikationen jedoch nicht mehr zum Tausch an. Das stürzte die süddeutschen Buchhändler in Schwierigkeiten. Denn sie waren ohnehin strukturell dadurch benachteiligt, dass sich der zentrale Umschlagplatz für Verlagspublikationen von Frankfurt nach Leipzig verlagerte. Als die sächsischen Buchhändler plötzlich die Rabatte kürzten und die Preise für Originalausgaben erhöhten, blieben für die süddeutschen Händler kaum die Kosten für die Transporte der Bücher übrig (Meyer 2004: 34). Vor diesem wirtschaftshistorischen Hintergrund vollzog sich die Debatte um die Anerkennung eines Urheberschutzes. Die Bestrebungen zur Einführung eines solchen Schutzrechts auf dem deutschen Territorium rekurrierten auch auf ein kulturelles Gefälle zwischen dem hoch entwi-
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ckelten Sachsen und anderen deutschen Territorien. Die süddeutschen Buchhändler gingen aufgrund der gestiegenen Preise verstärkt zu einer Nachahmung der sächsischen Originaldrucke über. Die Regierungen der süddeutschen Länder und Österreichs schritten nicht nur nicht gegen diese Praxis ein, sondern ermutigten sie geradezu mit dem Ziel, dieses kulturelle Gefälle geringer werden zu lassen (Rehbinder 1988: 101). Als die Vertreter des deutschen Buchhandelsverbandes, die »associierten Buchhändler«, den Gesandten des Wiener Kongresses im Jahre 1814 eine Denkschrift überreichten, in der sie das Verbot des Büchernachdrucks auf dem Gebiet des Deutschen Bundes forderten, reagierte ein österreichischer Verleger mit den Worten: »Soll Österreich, welches so lange Jahre mit Aufopferung seines Vermögens für Europas Freiheiten kämpfte, sein klingendes Vermögen für Romane, Schauspiele und Gedichte in das Ausland schicken? Nur der ungerechteste Egoismus gewinnsüchtiger Ausländer kann so etwas wünschen.«10
In der Reaktionszeit nach den Karlsbader Beschlüssen blieb der Ruf nach einer Anerkennung des Urheberrechts trotz gewisser Erfolge der deutschen »associierten Buchhändler« eher verhalten, da die Territorialherren den Zusammenhang von Gewerbekonzession und Vorzensur durchaus für sich zu nutzen wussten. Die Forderung nach Pressefreiheit und der Wunsch nach der Anerkennung eines Schutzrechts des Autors gegen den Staat schienen nach dieser Praxis schwer vereinbar zu sein. Die alten Privilegien gerieten indes immer stärker unter Rechtfertigungsdruck, je mehr sich ein literarischer Markt etablierte und über die territorialen Grenzen auf dem deutschsprachigen Gebiet zusammenwuchs. In diesem konstituierte sich eine eigene bürgerliche Kultur, in der nicht mehr wie früher der Stand oder die Zugehörigkeit zu einer Zunft über den Zugang zu Wissen entschied (Kiesel/Münch 1977: 141; Bürger 1980: 162; Ruppert 1987: 104; Möller 1986: 281). Die Intelligenzblätter waren für jeden erhältlich, der sie lesen konnte – wenn er denn lesen konnte. Die finanzielle Ausstattung und die Bildung entschieden nunmehr darüber, wer Zugang zu den dezentralen Netzen der Wissensweitergabe haben sollte (Giesecke 2002: 59). Mit der Etablierung des unabhängigen Autors, der – wie erstmals Gotthold Ephraim Lessing – sich selbst durch seine Publikationen zu finanzieren versuchte, war die Frage nach dem Systemwechsel vom Verlegerschutz zum Urheberschutz gestellt (vgl. Rehbinder 1988: 99).
10 Zit. nach: Rehbinder 1988: 101.
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I I I. Ö ko no m i e n de s R e c ht s : Z u r r e c ht s d o gm a t i s c h e n D e b a t t e u m d a s » Ge i s t i ge E i g e nt u ms r e c ht « Gesucht wurde neben einer tragbaren juristischen Konstruktion, die einen Verstoß gegen die dogmatischen Verbote des Römischen Rechts vermied, eine neue nationalökonomische Rechtfertigung des Nachdruckverbots. Diese wurde oftmals über den im deutschen Recht hochproblematischen Begriff des »Geistigen Eigentums« gesucht, wie er etwa auch Eingang in das französische Patentgesetz von 1791 gefunden hatte. Dieser Begriff hatte seine Wurzeln in der Arbeitstheorie John Lockes (Locke [1689] 1988). Nach der englischen Theorie war im Gefolge der Lockeschen Arbeitstheorie unter den Begriff der property dasjenige zu rechnen, was aufgrund eigener Arbeit (oder derjenigen der Bediensteten) erworben wurde – oder sogar noch erworben werden konnte (Seckelmann 2006: 66f.; Macpherson 1990). In der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787/89 hatte dieser Rechtsgedanke Aufnahme gefunden: Autoren und Erfindern sollte für eine begrenzte Zeit »the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries« verliehen werden (zit. nach Seckelmann 2006: 74f.). Lockes theoretische Begründung eines »Geistigen Eigentumsrechts« hatte auch die französische Rechtsdogmatik beeinflusst. Das französische Patentgesetz von 1791 erklärt etwa jede neue Entdeckung oder Erfindung zum Eigentum ihres Urhebers.11 Anders verhielt es sich in der deutschen Rechtsdogmatik. Dort hatten im Gefolge von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf zwar frühneuzeitliche Autoren zum Begriff des Eigentums all das gerechnet, was mit der Person in einer Beziehung stand. Über die Lehre von Verlagseigentum hinausgehend, wie sie insbesondere Johann Stephan Pütter in seinem Werk Über die Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks dogmatisch begründet hatte, war daher auch in den deutschen Territorien ein Weg zur Begründung eines genuinen Autorschutzes eröffnet (Pütter 1774: 25). Die idealistische Rechtsphilosophie unternahm insoweit auch die Trennung zwischen dem körperlichen Sein eines Buches und seinem materiellen Gehalt. Johann Gottlieb Fichte unterschied zwischen dem materiellen Inhalt eines Buchs, welchen sich jeder aneignen könne, und dessen geistigen Inhalt, an welchem der Autor ein Miteigentum mit der Gesamtheit der Leser erwerbe, und schließlich der Form, welche im ausschließlichen Eigentum des Autors verbleibe (Fichte 1793: 443–483). Zugleich wurde die Begründung des Autorenschutzes auf eine neue Grundlage gestellt. In den Blick kam mehr das unveräußerliche Men11 »Toute découverte ou nouvelle invention dans tous les genres est la propriété de son auteur.« (zit.n. Renouard 1865: 98; Seckelmann 2006: 78)
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schenrecht des Autors, welches ihm die Disposition über seine eigenen Ideen erlaube. Fichte und Kant entwickelten, an ältere naturrechtliche Lehren anknüpfend, das Prinzip der allgemeinen Rechtsfähigkeit der Menschen, bei Kant »Urrecht der Freiheit«, bei Fichte »Weltbürgerrecht« genannt. Immanuel Kant etwa schrieb, das »persönliche Recht«, die »Rede an das Publikum« vermittels eines Buches zu halten, stehe einzig dem Autor zu. Er könne den Verleger zwar ermächtigen, die Rede für ihn zu halten. Der Nachdrucker verhalte sich aber vernunftrechtswidrig, denn er handle zwar im Namen, aber ohne Vollmacht des Schriftstellers (Kant [1785] 1987: 137–144; Kant [1797] 1922). Der Umfang der Rezeption von Kants Überlegungen durch die Rechtswissenschaft ist umstritten (Gieseke 1995: 170; Bappert (1962: 272; Wandtke 1991: 63). Es gab in der deutschen Rechtswissenschaft erste Versuche, die persönlichkeitsrechtliche Begründung des »Geistigen Eigentumsrechts« zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufzugreifen (Zachariä 1804: 79f.). Die Mehrheit der deutschen Juristen lehnte diesen Begriff indes ab. Sie folgten der Auffassung des schulbildenden Berliner Ordinarius für Römisches Recht, Friedrich Carl von Savigny, des Schwagers von Clemens von Brentano (Rückert 1984), dass es nur Eigentum an Gegenständen geben könne. So wurde später auch das Eigentumsrecht in § 903 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) von 1900 als ein umfassendes Ausschließungsrecht an einer Sache gesetzlich vertypt. Dabei beriefen sich die deutschen Juristen sich auf eine Stelle bei Justinian, aus der sie folgerte, dass es Eigentum nur an einer res corporalis geben könne (Kiesel/ Münch 1977: 141; Bürger 1980: 162; Ruppert 1987: 104; Möller 1986: 281). Zugleich bekämpften sie im Gefolge der Überlegungen Savignys den mit einer Annahme personenrechtlicher Elemente verbundenen Aspekt vorstaatlicher Rechte. Die Anerkennung persönlichkeitsrechtlicher Elemente hatte auch mit der Revolutionsfurcht Savignys im Zeichen der Französischen Revolution (Rückert 1984: 187) zu tun. In seinem System des heutigen Römischen Rechts stellte Savigny zwar die Person und deren Willensmacht in den Mittelpunkt des Privatrechts, kämpfte aber ausdrücklich gegen die »weitverbreitete Ansicht«, dem Menschen stehe ein mit seiner Geburt entstehendes »Urrecht« zu, aus dem manche sogar »dem Menschen ein Eigenthumsrecht an seinen Geisteskräften« zugeschrieben hätten (Savigny 1840: 335f.). Die eigene Person könne nicht Objekt der Willensherrschaft sein, denn sonst habe man jedem auch das Recht auf die Beseitigung der eigenen Person im Wege des Selbstmordes zuzubilligen (Savigny 1840: 336). Er propagierte vielmehr die antimetaphysischen Methodenideale des Wissenschafts- und Gesetzespositivismus (Stolleis 1992: 330f.).
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Trotz großer Vorbehalte der Pandektenwissenschaft gegenüber einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der naturrechtlichen Arbeitstheorie, welche sich nicht rein in die Methodenlehre einfügen konnte (Klippel 1981: 327; Klippel 1982: 132–155 Klippel/Lies-Benachib 2000; Kastl, 2004), fand der Begriff des »Geistigen Eigentums« Aufnahme in die deutsche Gesetzessprache. Das geschah insbesondere durch die Aufnahme des Begriffs des »Literarischen Eigentums« in die Bundesbeschlüsse zum Verbot des Nachdrucks vom 31. November 1837 und in das preußische Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837 und darüber auch in die Reichsverfassung der Paulskirche (vgl. Wadle 1996a; Seckelmann 2006: 122).12 Diese kodifikatorischen Maßnahmen fanden jedoch allenfalls einen schwachen Widerhall in der deutschen Rechtsdogmatik (Dölemeyer 1986: 4019). Die Mehrheit der Rechts- und Staatswissenschaftler lehnte den Begriff des »Geistigen Eigentums« weiterhin ab. Es kam daher in der Beobachtung zeitgenössischer Juristen zu einem »von der Gesetzgebung sanktionirt[en]« Auseinanderfallen zwischen der Gesetzessprache und der Sprache der Rechtswissenschaft (Lange 1858: IIIf.; Rigamonti 2001: 49). Die dogmatische Auflösung dieses Konflikts bot die so genannte Reflextheorie, wie sie von dem Heidelberger Rechtsordinarius und Mitbegründer der Rechtsvergleichung, Julius Jolly, entwickelt wurde (Jolly 1852: 59). Sie besagte, dass das »Geistige Eigentum« da zu schützen sei, wo es der Gesetzgeber konkretisiert habe, etwa im preußischen Urheberrechtsgesetz von 1837. Gleichzeitig bestand unter den Anhängern dieser Auffassung Konsens darüber, dass es sich bei dem Begriff um einen »bildlichen Ausdruck« handele, der jedoch juristisch unsauber sei, da er eine Verbindung des Eigentumsbegriffs mit einer und nichtkörperlichen Sache vornehme (Zoepfl 1879: 134; Laband 1913: 246; Gerber 1891). Die Konstruktion der Reflextheorie erschien manchen der preußischen Volkswirte indes noch zu autorenfreundlich. Stärker noch im Patentrecht (vgl. Seckelmann 2006), aber auch im Urheberrecht, wurde in der liberalen Ära des 19. Jahrhunderts intensiv darüber diskutiert, inwieweit die Anrechte am gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt zu individualisieren seien. Schließlich stehe, so die liberalen Volkswirte um John Prince-Smith, jeder Autor auf den Schultern des anderen (Prince-Smith 1863). Es könne nicht angehen, dass der gesellschaftliche Fortschritt, den man sich als einen infiniten Prozess vorstellte, dadurch unterbrochen würde, dass einzelne sich claims absteckten und ihr Wissen monopolisierten. 12 Die beide Texte finden sich abgedruckt bei Hitzig 1838: 41–45 bzw. 110–122.
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Der eingangs geschilderte Fall Germania 3 wäre den deutschen Freihändlern als ein Beleg ihrer These vorgekommen, dass das Urheberrecht ebenso wie das Patentrecht letztlich eine Art Lottogewinn sei, der den einen prämiere, die anderen aber von einer Fortentwicklung der Ideen abhalte, indem er sie leer ausgehen lasse. So argumentierte beispielsweise John Prince-Smith.13 Eine derartige Überlegung, die auf die Anreizstrukturen abstellt, erscheint unter einer neo-institutionalistischen Perspektive (North 1988, Richter/Furobotn 2003; Voigt 2002; Haase/Krücken 1999) heute erstaunlich modern. Im so genannten »Patentstreit« der liberalen Ära, welcher sich auch auf das Urheberrecht bezog (vgl. Machlup/Penrose 1950; Seckelmann 2006: 139ff.), wurden Argumente ausgetauscht, die an die heutigen Debatten über die Open Access-Bewegung erinnern (vgl. Wandtke 2002). Wissen sollte, so schrieb der liberale Freihändler Viktor Böhmert, immer sofort verfügbar sein. Es gehe aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht an, wenn ein Autor oder Erfinder andere nur deswegen von der Nutzung der Innovationen ausschließen könne, da er derjenige gewesen sei, bei dem sich das im Volk latent vorhandene technische Wissen zufälligerweise materialisiert habe (Böhmert 1869). Andere führten die Frage der Vergütung an: Wie könne ein Autor überhaupt angemessen entlohnt werden? Die auf eine literarische Schöpfung verwendeten Mühen seien ja durchaus unterschiedlich. Da die Regelung der Vergütung durch den Markt in keinem Verhältnis zum Aufwand der Autoren, aber auch in keinem Verhältnis zu einem möglichen volkswirtschaftlichen Wert des Buches stehen muss, wurde auch hier die Analogie zum Lottogewinn bemüht (Böhmert 1869; Prince-Smith, wie Anm. 13). Die bedeutendsten Bücher und Kompositionen könnten, so die idealistische Vorstellung, ja scheinbar mühelos entstehen, ebenso wie es Eric Rohmer für den Schaffensprozess Wolfgang Amadeus Mozarts beschrieb: »Mehr als jeder andere Künstler, Maler, Dichter oder Komponist vermittelt uns Mozart den Eindruck, dass seine Erfindungen oder ›Funde‹ [...] nicht Erfindungen wie andere sind, sondern dass er den Finger genau auf den Punkt legte, wo der Schatz verborgen lag und dass er der Erfindung gar nicht ausweichen konnte.«
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13 Prince-Smith, Rede vor dem Deutschen Reichstag, 19. Sitzung am 10. März 1872, Stenographische Protokolle, 1. Legislaturperiode, 3. Session 1872, 304 – 308 (305). 14 Rohmer (1997: 122), Hervorhebungen hinzugefügt; Ortland (2004a: 270). Interessanterweise war es aber gerade der Sohn Wolfgang Amadeus Mozarts, Carl Thomas, der als einer der ersten eine Tantieme für ein Stück bezog, und zwar für die Aufführung der »Hochzeit des Figaro« seines Vaters: Hoffmann (1999: 195–197). Zu den Anfängen der historischen Tantiemenbewegung: Schmidt (2005).
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Das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken, vom 11. Juni 1870, welches zunächst für das Gebiet des Norddeutschen Bundes galt und ab 1871 für das neu konstituierte Deutsche Reich vermied daher den Begriff des »Geistigen Eigentums« und entschied sich für den Begriff des »Urheberrechts« (Rigamonti 2001: 49f.; Wadle 1996b; Wadle 1996c). Das Gesetz wurde flankiert durch das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste, vom 9. Januar 1876, das Gesetz, betreffend den Schutz der Photographien gegen unbefugte Nachbildung, vom 10. Januar 1876 sowie das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen, vom 11. Januar 1876. Das Reichsurheberrechtsgesetz von 1876 bemühte sich um einen Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und den Interessen der Allgemeinheit. Dieser Ausgleich wurde insbesondere durch eine zeitliche Begrenzung des Urheberrechts auf 30 Jahre vorgenommen. Allerdings erkannte es – der Reflextheorie Julius Jollys folgend – das Urheberrecht nicht als »einheitliches Recht« an, sondern es normierte lediglich einzelne Ausschließungsbefugnisse des Autors (Bandilla 2005: 27). Die Ausformulierung des Autorrechts als eines »Individualrechts« gelang erst Karl Gareis, der unter dem Begriff der »Individualrechte« eine Abstraktion verschiedener Rechte wie des Namensrechts, der Firmenrechte, der Markenrechte und auch der Urheberrechte verstand (Gareis 1877; Klippel 1994; Seckelmann 2006: 345ff.; Rigamonti 2001: 56; Schwab 1984). Dabei sprach er – unter Verwendung von Rechtsgedanken aus dem französischen Recht – eine persönlichkeitsrechtliche Begründung dieser Rechte nicht offen aus, sondern konstruierte vielmehr eine Nähe zum Sachenrecht, ähnlich dem Recht am Manuskripteigentum. Eine offene Bezugnahme auf die Lockesche Arbeitstheorie und eine persönlichkeitsrechtliche Herleitung des »Geistigen Eigentums« wurde erst wieder von Otto von Gierke, dem exponiertesten Vertreter der deutschrechtlichen Schule, vertreten (Gierke 1895; dazu: Rehbinder 2002: 16; Rigamonti 2001: 56ff.; Kastl 2004). Gierke stellte sich dezidiert gegen die rechtsdogmatischen Verbote der römischrechtlichen Schule und bezweifelte namentlich den Satz, dass es Eigentum nur an Sachen geben könne. Ähnlich wie er argumentierte Adolph Wagner aus volkswirtschaftlicher Sicht: Wenn »das sogen. Geistige Eigenthum« sich nicht unter den geltenden Eigentumsbegriff subsumieren lasse, so folge daraus keineswegs, dass dieses nicht anzuerkennen sei. Vielmehr lasse dies nur erkennen, dass »der vorhandene Eigenthumsbegriff zu eng und zu einseitig« sei, und es müsse daher über den Zuschnitt der »heutigen Eigentumsordnung« ebenso auf rechtsdogmatischem wie politischen Wege nachgedacht werden (Wagner 1876: 10; Wagner 1894: 250; Seckelmann
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2006: 362f.). Die in der heutigen Rechtsdogmatik immer noch aktuelle Trennung zwischen dem – persönlichkeitsrechtlich begründeten – Recht des Autors und den Rechten an seinem Werk, dem so genannten Immaterialgüterrecht, nahm schließlich der Berliner Ordinarius Josef Kohler vor (Kohler 1880; Rigamonti 2001: 58ff.; Luig 1980: 425; Seckelmann 2006: 349ff.). Dieser setzte sich über die dogmatischen Vorbehalte der deutschen Pandektistik hinweg und bezog sich bei seiner Argumentation insbesondere auf das französische Recht, welches über die internationalen Vertragswerke, namentlich die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst von 1886 und ihre Folgeübereinkünfte, zunehmend wichtiger wurde.15 Das Gesetz, betreffend das Urheberrecht von Werken der Literatur und Tonkunst, vom 19. Juni 1901 passte das Urheberrechtsgesetz von 1870 in vielen Punkten an diese Vertragswerke an (Bandilla 2005: 159). Zugleich vereinheitlichte es den Schutz der Autoren, den es deutlich stärker betonte. Die Ökonomien der sich industrialisierenden Welt (Wadle 1996d; Seckelmann 2006) fanden ihren Eingang in das Urheberrecht und in die verwandten Schutzrechte. Das Urheberrechtsgesetz von 1901 wurde 1907 durch das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und Photographie, ergänzt. In weiterer Umsetzung internationaler Vertragswerke (des Zusatzprotokolls von Bern von 1914 zur Berner Übereinkunft von 1886) wurde die urheberrechtliche Schutzfrist durch das novellierte Patentgesetz von 1934 von 30 auf 50 Jahre verlängert (Bandilla 2005: 160). Das Urheberrechtsgesetz wurde – nach einigen Anpassungen – erst durch das Gesetz über Urheberrechte und verwandte Schutzrechte vom 9. September 1965 abgelöst, welches in novellierter Form weiterhin in Kraft ist. Dieses sieht einen Werkschutz von 70 Jahren nach dem Tod des Autors (post mortem auctoris) vor (§ 64 UrhG). Auch dieses Gesetz bezieht sich ausdrücklich auf das »Urheberrecht« und vermeidet den Begriff des »Geistige Eigentums«, es spricht vielmehr von »persönlichen geistigen Schöpfungen« (§ 2 Abs. 2 UrhG). Dennoch erfährt das »Geistige Eigentum« durch die internationalen Vertragswerke derzeit eine Renaissance in der deutschen privatrechtlichen16 Rechtssprache.17 15 Zu den Schwierigkeiten einer rechtsvergleichenden Argumentation und den latenten Vorbehalten gegenüber der französischen Rechtsdogmatik vgl. Seckelmann (2006: 127ff.; 349ff.) 16 Im öffentlichen Recht war dieser Begriff hingegen präsenter, was damit zusammenhängt, dass der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff weiter ist als der privatrechtliche und nicht nur Ausschlussrechte an körperlichen Gegenständen im Sinne des § 903 BGB umfasst, dazu: Wadle (1996d: 3ff.); Kirchhof 1987; Fechner 1999. 17 Dazu insbesondere: Wadle (1999: 246); Wadle (1996e: 3ff.); vgl. auch: Oppermann (1997); Ohly (2003: 554); Kaiser (2004: 38). Ob der Begriff des »Geisti-
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I V . Ö ko n o m i e n d e r Z e i t : E i ne S c hl uss bet r a cht u ng Wem gehören also die Werke der Literatur und Kunst? Die Antwort fällt verschieden aus, je nachdem, auf welchem Punkt der Zeitleiste man sich befindet. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner eingangs zitierten Entscheidung zu Germania 3 eine neue Komponente dem System hinzugefügt: den Zeitfaktor. Es schrieb über das Werk: »Es löst sich mit der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit und wird geistiges und kulturelles Allgemeingut.« Und hier möchte ich eine neue ökonomische Kategorie einführen: Die Ökonomie der Zeit. Ob eine 70jährige Schutzdauer post mortem auctoris im digitalen Zeitalter noch zeitgemäß ist, ist sehr zu fragen. Während nämlich die elektronischen Speichermedien eine immer kürzere »Halbwertzeit« der Informationen nach sich ziehen, wird das Urheberrecht – im Gefolge der europäischen Regulierung wie der internationalen Vertragswerke – auf immer weitere Bereiche ausgedehnt.18 Dies betrifft beispielsweise das tatbestandliche Erfordernis einer »eigenen geistigen Schöpfung«. Dieser Begriff ist hochproblematisch, wie die Diskussion um die Schützbarkeit von Computersoftware zeigt. Nach § 69a des Urheberrechtsgesetzes genießen Computerprogramme urheberrechtlichen Schutz, »wenn sie individuelle Werke in dem Sinn darstellen, dass sie das Ergebnis der eigenen geistigen Schöpfung ihres Urhebers sind«. Zwar sind an die für die Schutzfähigkeit von Computersoftware erforderliche Schutzhöhe nach Umsetzung der entsprechenden EG-Richtlinie geringere Anforderungen zu stellen als in der früheren Rechtsprechung. Dies macht jedoch nicht den Nachweis des Programmurhebers entbehrlich, dass es sich um eine eigene geistige Schöpfung handelt. Auch nach neuem Recht sind Ausführungen zum Tatbestandsmerkmal der auf eigener geistiger Tätigkeit beruhenden Individualität des Werkes unerlässlich.19 Inwieweit indes die langen Schutzfristen mit der Schnelligkeit der Generierung von Informationen wie ihrer »Halbwertzeiten« noch vereinbar sind, ist zu überdenken. Recht, Ökonomie, Technik und Kunst stehen auch hier in einem wechselseitigen Austauschverhältnis. Es ist die Aufgabe der Kunst, Fragen immer wieder neu zu stellen. Lassen wir uns immer wieder von ihr verunsichern.
gen Eigentums« inzwischen allerdings als »Synonym der Immaterialgüterrechte anerkannt« ist (Kaiser 2004: 37), ist indes zweifelhaft. 18 Zu den amerikanischen Schutzfristen: Bard/Kurlantzik (1999). 19 Urteil des LG München I vom 28.08.1998 – 7 O 3114/98 – Computer und Recht 1998, 655. Dazu auch: Rehbinder (2002: 87).
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NOTIEREN, AUFZEICHNEN, VERVIELFÄLTIGEN MEDIENTECHNISCHE UMBRÜCHE VON MUSIK IM URHEBERRECHT MONIKA DOMMANN M e l o d i e u n d Me c ha n i k Mechanische Musik ist in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts keine technische Neuheit mehr. Glockenspiele oder Drehorgeln sind seit dem Mittelalter bekannt und die Musikautomaten entwickelten sich für eine Elite in Europa und in Asien seit der Renaissance zur Hochblüte im 18. Jahrhundert.1 Mitte des 19. Jahrhunderts führen technische und ökonomische Innovationen jedoch erstmals zur Entstehung eines ›globalen‹ Massenmarktes für mechanische Musik und damit verbunden zu Konflikten über die Frage, wie der grenzüberschreitende Handel mit mechanisch gespeicherten Melodien geregelt werden soll.2 Verantwortlich für die Entstehung dieses Massenmarktes sind die Spieldosen. Die Technik der Spieldosen, die auf einem mit Stahlstiften versehenen drehenden Zylinder beruhen, der einen abgestimmten Metallkamm in Schwingung versetzt, soll von einem Genfer Uhrmacher um 1800 entwickelt worden sein.3 Zum Mekka der Spieldosenindustrie avanciert die Schweiz: Die Produktionsstandorte befinden sich hauptsächlich in Genf und in der Waadt. St. Croix, ein Dorf im Waadtländer Jura, das 1815 2400 Seelen zählt, die seit Jahrzehnten ihr Auskommen im Uhrhandwerk gefunden haben, wird zum Symbol der Spieldosenfabrikation schlechthin.4 Die Spieldosen finden zwischen 1815 und 1830 eine schnelle Verbreitung. Sie werden an nationalen und internationalen Ausstellungen präsentiert und entwickeln sich zu einer Exportressource des jungen schweizerischen Bundesstaates. 1 2 3 4
Zur Technikgeschichte der Automaten: Bedini (1964). Einen Überblick zur Globalisierungsgeschichte bietet: Osterhammel/Petersson (2003). Zur Geschichte der Musikdosen: Clark (1948); Chapuis (1955); Ord-Hume (1973). Zur Geschichte der Musikdosenindustrie in St. Croix: Piguet (1996).
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Allein in Genf und St. Croix werden Mitte der 1860er Jahre jährlich Musikdosen im Wert von rund 2 Mio. Schweizer Franken hergestellt. Die kleinsten Instrumente kosten 40 Franken, die größeren kommen auf 400500 Franken zu stehen (Bolley 1868: 23). Die Dosen »finden den Weg auf die entferntesten Märkte der Erde«, wie ein Bericht 1868 festhält (Bolley 1868: 23). Der Handel mit mechanischer Musik etabliert sich Mitte des 19. Jahrhunderts vor zwei gegenläufigen Tendenzen: Einerseits wird die Güterzirkulation durch den Abbau von Handelsschranken gefördert, andererseits stellt der Ausbau und die Internationalisierung des Schutzes des geistigen Eigentums den Handel mit Melodien durch regulierende Eingriffe in Frage. Anlässlich eines Handelvertrags zwischen der Schweiz und Frankreich von 1864, welcher der Schweizer Exportindustrie durch Senkung von Zöllen den französischen Markt öffnet, drängt Frankreich die Schweiz, die noch kein Urheberrecht besitzt, zum Schutz des literarischen und künstlerischen Eigentums. Die Musikdosen (und damit die Schweiz als Produktionsstandort) geraten in den Verdacht des »contrefaçon« und avancieren zum Streitobjekt zwischen Frankreich und der Schweiz. Es geht dabei nicht einfach um die Festlegung der Zölle auf Schweizer Musikdosen in Frankreich, sondern speziell um Autorrechte. Da die Harmoniumfabrik »Debain« in Paris von mehreren Komponisten die Exklusivrechte für musikalische Rechte erworben hatte und sich nun wegen »contrefaçon« durch Schweizer Musikdosen in ihren Rechten verletzt sieht, interveniert sie beim französischen Staat. Die Gerichte in Frankreich gehen in den 1860er Jahren dazu über, die Übertragung auf Musikdosen als unerlaubte Nachahmung zu betrachten (Schweizerisches Bundesblatt, XVI/II, 1864: 24–26). Der Konflikt um die Autorrechte bei mechanischer Musik wird durch einen diplomatischen Kompromiss vorerst beiseite gelegt: Frankreich und die Schweiz nehmen die Musikdosen von den Regelungen zum literarischen und künstlerischen Eigentum aus. Der französische Senat verabschiedet im Mai 1866 ein Gesetz, das festhält, dass die Wiedergabe von musikalischen Kompositionen nicht als Verletzung des literarischen und künstlerischen Eigentums gelte (Schweizerisches Bundesblatt, XVIII/I,20 1866: 657–658). Diese Regelung wird im Handelsvertrag zwischen Frankreich und der Schweiz 1882 schließlich auch verankert und auf Bestreben der Schweiz gar in die Berner Konvention von 1886, der ersten multinationalen Übereinkunft zum Urheberrecht, integriert (Schweizerisches Bundesblatt, 34/I,15 1882: 555–556, 712).5 Das Urheberrecht, von seinen Befürwortern als zivilisatorischer Fortschritt gepriesen, stößt zwar international auf Resonanz. Doch zeigt die Ausnahmeregelung für die Musikdosen, dass sich der freie Handel mit 5
Zur Entstehungsgeschichte der Berner Konvention: Siegrist (2005).
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mechanischer Musik vorerst ohne Beeinträchtigung durch Urheberrechte durchsetzen kann. Dies liegt vielleicht auch daran, dass die Musikdosen nicht als hochwertiges Musikinstrument wahrgenommen werden. Zeitgenossen berichten über die »hochliegenden Scalen und das etwas Spitze, Stählerne des Tones, wie er von ziemlich steifen, kurzen, schnellschwingenden Stäben nicht anders erwartet werden kann« (Bolley 1868: 32). Die Melodien verkaufen sich durch ihre »accessorische Rolle an Ziergegenständen oder Möbeln oder Verbrauchsobjekten, indem man die kleineren Werke in Arbeitskästchen, Zigarrenetuis, Photographiealbums usw., die grösseren an Möbeln, Schnitzwerken usw.« unter- und anbringt (Bolley 1868: 32). Wenn ich mich im Folgenden damit beschäftige, wie sich aus neuen Vervielfältigungsmedien neue Verwertungstechniken entwickeln, geht es hauptsächlich um die Analyse einer Transformationsphase, die zwischen 1890 und 1915 anzusiedeln ist. Ich werde die Interdependenz von medientechnischen Umbrüchen und urheberrechtlichen Diskursen analysieren.6 Dabei stelle ich folgende zwei Punkte ins Zentrum: 1. Die rechtliche Integration des Phonographen/Grammophons um 1900 in die Logik des Urheberrechts markiert einen medientechnischen Paradigmenwechsel, in dem das alte enge Konzept des Nachdrucks durch ein breiteres Konzept der Vervielfältigung abgelöst wird. Damit wird die begriffliche Voraussetzung für die Regulierung von Musikmedien geschaffen. 2. Die Entstehung von neuen Vervielfältigungsmedien durch die mechanische Musik und deren Regulierung im Urheberrecht sind mit der Entstehung und dem Aufstieg von Verwertergesellschaften verbunden. Dieser neue Organisationstypus tritt als Interessenvertreter von Komponisten auf und versucht die Zirkulation von mechanischer Musik mittels rechtlichen und institutionellen Vorkehrungen an eine Zirkulation von Geldströmen zurück zu binden.
N o t e n un d N a c h d r uc k Das 19. Jahrhundert kann als jene Epoche beschrieben werden, in der sich aus dem Schutz gegen Nachdruck von Musiknoten ein musikalisches Autorrecht entwickelt.7 Dieser Prozess ist jedoch sehr komplex:
6 7
Für einen informativen Überblick zur Integration der mechanischen Musik in das Urheberrecht: Lehmbruck (1993). Zum Interesse an einer Historisierung von Autorschaftskonzepten wesentlich beigetragen hat Michel Foucault ([1969] 2000). Inzwischen gibt es einige Studien, welche die Bedeutsamkeit von Rechtsdiskursen für ästhetische Theorien
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ästhetische Argumente, Handelsinteressen, technische Innovationen und juristische Wissensformationen sind daran beteiligt. Damit einher geht eine Erweiterung des Vervielfältigungsbegriffes im Recht, der für den Handel mit Musik im 20. Jahrhundert konstitutiv sein wird. In der rechtswissenschaftlichen Auffassung besteht Mitte des 19. Jahrhunderts Einigkeit darüber, dass dem Komponisten (»Tonsetzer«) das ausschließliche Recht der Vervielfältigung sowie der Aufführung und der Verwertung zustehe (Vesque von Püttlingen 1864: 6). Hinsichtlich der juristischen Definition der Vervielfältigung stehen sich in den 1890er Jahren verschiedene Positionen gegenüber: Eine erste Position beurteilt den Begriff der Vervielfältigung in Analogie zum Druck und zu den Noten. Im Zentrum dieser Betrachtungsweise stehen die Notierung der Komposition und die Rückbindung von Autorschaft an Notenzeichen. Heinrich Schusters »Urheberrecht der Tonkunst« von 1891 sieht in der Übertragung einer Melodie auf einen Mechanismus keine Vervielfältigung: »Höchstens könnte die einzelne öffentliche Aufführung, nimmermehr aber das Instrument und seine Erzeugung selbst als etwas Verbotenes, geschweige denn als verbotene mechanische Vervielfältigung im hergebrachten Sinne, welcher sich mit dem Nachdruck deckt, gelten« (Schuster 1891: 158–159). Die Gleichsetzung eines musikalischen Werks mit seiner Notierung hat zur Folge, dass die Übertragung der Noten auf eine Walze nicht als Akt der Vervielfältigung erachtet wird. Das Stanzen von Löchern in Zylinder durch »Piqueurs« in der Spieldosenherstellung sei genauso wenig eine Nachahmung der Notenschrift wie neuere Techniken mittels Scheiben oder perforierten Kartons: »Selbst von den sog. Ariston’s, Herophon’s und ähnlichen barbarischen Erfindungen der Neuzeit ist das Gleiche zu sagen, bei welchen eine ›Notenscheibe‹ oder ein ›Notenblatt‹ eingefügt wird. […] Am meisten Concurrenz machen sie nicht den Urhebern, sondern den ausübenden Musikanten: ein Wirt, dessen Gäste es mit dem guten Geschmack in der Tonkunst nicht besonders genau nehmen, kann durch derlei Mechanismen ein Wirtshausorchester u. dergl. ersetzen und ersparen.« (Schuster 1891: 160–161)8
Die ›barbarischen‹ Musikapparate vermögen die an Schrift gekoppelten Autorkonzepte für Musik, zumindest in der Leseart Schusters, nicht zu erschüttern.
8
und künstlerische Praktiken analysieren: Plumpe (1979), neuerdings zur Musik Englands im 18. Jahrhundert: Barron (2006). Die Argumentation ist vergleichbar mit dem Rechtsdiskurs zur Photographie Mitte des 19. Jahrhunderts, welcher der Aufzeichnung und Wiedergabe durch einen Automaten keine künstlerische Tätigkeit zuschreibt: Plumpe (1990), Dommann (2006).
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Während die Rechtssprechung in Frankreich bereits in den 1860er Jahren eine andere Interpretation der apparativen Wiedergabe von Musik vorgenommen hat, kommen in Deutschland seit Mitte der 1880er Jahre mehrere Fälle wegen Verletzung von musikalischen Urheberrechten durch mechanische Musikinstrumente vor Gericht. Die Gerichte entscheiden nun zuweilen auch gegen die Fabrikanten mechanischer Musikinstrumente.9 In einem engen Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Sinneswandel stehen dabei technische Innovationen: Das Pianola oder Pianista mit »selbstspielenden Stücken« oder auch das Clariophon, Ariston, Symphonion und Polyphon mit Notenscheiben ermöglichen die Wiedergabe von längeren Melodien. Die Stücke sind einfach auswechselbar, Kataloge mit Tausenden von Stücken liefern Nachschub. Die Notenscheiben bringen die Schweizer Musikdosenindustrie unter Druck, denn der wichtigste Produktionsstandort liegt nun in Leipzig. Es ist denn auch in Leipzig, wo 1885 ein Gericht die mechanische Musik auf Basis von perforiertem Karton als Nachahmung erachtet. Der klagende Verleger Ludolf Waldmann sucht in einer Streitschrift die Öffentlichkeit: Er sieht die sozial schädlichen Einflüsse der Technik nun auch in der Musik angelangt: »Ebenso werden die verschiedenen Berufszweige auf musikalischem Gebiet nach und nach überflüssig und durch maschinelle Thätigkeit ersetzt werden. […] In der Folge dieser Erfindung würden schon im nächsten Decenium nicht mehr so viele Klavier-Schüler existieren, viele ihrer Lehrer würden brotlos und wenn das Verlagsrecht der Musikalischen Verleger von den Industriellen als ›vogelfrei‹ behandelt werden dürfte […] werden auch Komponisten und Verleger in ihrer Existenz bedroht.« (Ludolf Waldmann 1889: 13–14)
Auch die »Genossenschaft Deutscher Komponisten« stellt sich auf den Standpunkt, dass mechanische Musik »den Sinn für künstlerischen Vortrag in weiten Kreisen des Volkes korrumpirt, gleichmässig zum Schaden der Komponisten und zum Schaden der allgemeinen Bildung« (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 4/12 (1899): 350).10 Die Rede vom Kulturzerfall hindert sie jedoch nicht daran, sich bereits 1899 organisatorisch auf den Handel mit mechanischer Musik vorzubereiten, um am florierenden Geschäft mitzuverdienen. Zudem werden auch Forderungen an den Gesetzgeber erhoben: Eine gesetzlich festgelegte Abgabe zugunsten der Komponisten soll eingeführt werden. Die Frage, ob mechanische Musik den Verkauf von Musiknoten wirklich negativ beeinflusst und Ansprüche auf Schadensersatz legitimiert, wird von der 9 Le droit d’auteur, 4 (1891), 81–83. 10 Vgl. auch Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (1900).
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Rechtssprechung diskutiert und unterschiedlich beurteilt. Zuweilen wird in den Begründungen gar auf den verkaufsfördernden Aspekt der mechanischen Musik verwiesen: »Seine Melodien seien vielen Kreisen des Publikums erst durch die mechanischen Musikwerke bekannt geworden, und ein erheblicher Theil der Abnehmer würde nicht zum Ankauf von Drucknoten verschritten sein, wenn ihn nicht die mechanischen Musikwerke auf die Schöpfung des Klägers aufmerksam gemacht hätten. Das ist ein Gesichtspunkt, der, wenn nicht bei der richterlichen jedenfalls bei der gesetzgeberischen Behandlung der Sache Aufmerksamkeit verdient.« (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 1/4 [1896]: 156)
Die Argumente für und wider Rechtsmaßnahmen gegen die neuen Musikmedien sind in den 1890er Jahren nun auf nationaler Ebene und der internationalen Bühne zunehmend gekennzeichnet von Interessenkämpfen zwischen Verlegern sowie Komponisten und den Herstellern mechanischer Musik. Nationen versuchen mittels Einflussnahme auf das Urheberrecht protektionistische Handelsinteressen durchzusetzen. Frankreich bemüht sich in den Verhandlungen zur Revision der Berner Konvention von 1896 in Paris zu erreichen, dass »auswechselbare Notensätze« nicht vom Ausnahmeprivileg der Spieldosen profitieren sollen, und unterliegt dabei Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern, die ihre nationalen Industrien der mechanischen Musikinstrumente von urheberrechtlichen Beschränkungen freihalten wollen.11 Es kommt keine Einigung zustande. Der Entscheid wird auf eine nächste Revision verschoben, wie das Schlussprotokoll von 1896 festhält: »La question n’est pas mûre pour une solution internationale. La jurisprudence est incertaine, des tribunaux en Allemagne et en France ont décidé dans des sens différents.« (Bundesarchiv Bern E 22 2381)
V e re de l un g un d V e rr e c ht l i c h un g Als medientechnische und juristische Wegschneise erweist sich die Entwicklung des Phonographen. Der Phonograph wird in Thomas Edisons Labor in West Orange, New Jersey entwickelt und 1877 der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt. Während Thomas Edison seinen Phonographen, der auf der Basis von Walzen funktioniert, ursprünglich als »talking machine« bzw. Weiterentwicklung der Telephonie und als Aufzeichnungsgerät für die Stenographie sieht, bezeichnet Emile Berli11 Vgl. dazu die Akten im Bundesarchiv Bern: BAR E 22 2381
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ner seinen 1887 präsentierten Grammophon, der auf Scheiben basiert, schon früh als musikalisches Instrument für jedermann.12 Friedrich Donle, der 1897 seine Dissertation der juristischen Interpretation des Phonographen widmet, bedient sich in seiner Definition des phonographischen Verfahrens der Analogie zur Schrift: »Ein Phonograph wird aufgestellt und in denselben gesprochen. Die Walze wird dadurch phonographisch beschrieben.« (Donle 1897: 16–17) Doch sieht er in diesem Akt keine urheberrechtlich relevante Vervielfältigung, weil »bei der Herstellung phonographisch beschriebener Walzen stets immer der ganze Prozess bei der Herstellung von Anfang an wiederholt werden muss und nicht etwa von einer Urwalze beliebige Abzüge gemacht werden können, bei denen der Herstellungsprozess der Urwalze wegfallen würde« (Donle 1897: 17). Ende der 1890er Jahre verbessern die Ingenieure den Duplikationsprozess: Die Walzen müssen nun nicht mehr wie früher einzeln beschallt werden. Aus fünf Masterzylindern, die bei einer Aufnahme besungen oder bespielt werden, werden in einem aufwendigen Übertragungsprozess rund 25 Duplikate hergestellt. Die Lebensdauer des Wachses setzt der Vervielfältigung allerdings noch Grenzen (Gelatt [1954] 1977: 71). Die Grammophonplatten sind bezüglich des Vervielfältigungsverfahrens den Zylindern bereits überlegen. Aus einer guten Aufnahme können Tausende von Platten gepresst werden (Gelatt (1954] 1977: 88). Die Verbesserung des Phonographen und des Grammophons als Speicher- und Reproduktionsmedien von Musik geht einher mit einem Veredelungsprozess der bislang als ästhetisch minderwertig erachteten mechanischen Musik mittels Aufnahmen der Gesangsvorträge berühmter Tenöre. Ende der 1890er Jahre wird nun der »Tonschreiber«, wie der Phonograph und der Grammophon auch genannt wird, für eine breitere Käuferschaft in Europa erschwinglich und durch Aufnahmen von Opernstars wie Caruso attraktiv. Und es sind nicht mehr einfach Melodien, die mechanisch reproduziert und wiedergegeben werden. Was erklingt, sind die Stimme eines Sängers und die »Originaltöne« eines menschlichen Instrumentenspielers: »Zum ersten Mal«, so Leo Eger in seiner juristischen Abhandlung zum Phonographen aus dem Jahre 1900, »war es möglich geworden, das flüchtigste, was es gibt, die menschliche Stimme, von ihrem Träger zu trennen, zu materialisieren und nach Belieben jeder Zeit wiederzuerzeugen.« (Eger 1900: 264) Die Aufnahmen von Stimmen bilden Ende der 1890er Jahre auch erstmals Anlass zu Rechtsstreitigkeiten und münden nun langsam in die Integration der Phonographen ins Urheberrecht. Ein Fall wird 1899 vor dem Berliner Landgericht verhandelt: Zwei Opernsänger in Berlin singen Lieder und Opernarien in einen Pho12 Zum Phonographen: Read/Welch ([1959] 1976); Gelatt ([1954] 1977); Kittler (1986); Siefert (1995).
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nographen, »vervielfältigen die Walzen« und bringen diese durch eine Handelsgesellschaft in Umlauf (Eger 1900: 286–287).13 Eine Konkurrenzfirma beschafft sich eine Walze, »vervielfältigt« sie und verkauft sie als »Originalaufnahme«. Ein Sänger verlangt vom Richter eine einstweilige Verfügung und fordert »Rechtsschutz für die Töne seines Gesangs«. Technik- und medienhistorisch lassen sich die Vorgänge wie folgt umreißen: Durch die Speicherung des Gesangs auf dem Wachszylinder des Phonographen und die Möglichkeit seiner Übertragung auf andere Medien wird der Gesang fixiert und zugleich mobilisierbar. In den Worten des französischen Wissenschaftsforschers Bruno Latour handelt es sich um »immutable mobiles«, die sehr einfach von einem Kontext zu andern transferiert und dabei auch von einem Medium zu anderen verschoben werden können (Latour 1986). Durch die Speicherung des Gesangs stellen sich neue Rechtsfragen: Sollten die Tenöre Rechtsanspruch haben auf »ihre Töne«, wie sie behaupten? Soll es gar ein Recht an der eigenen Stimme geben?14 Soll es ein Urheberrecht des Sängers auf seinen Gesangsvortrag, auf seine Aufführung, Interpretation des musikalischen Werkes geben? Bislang war bloß die Komposition im Urheberrecht vor Nachdruck und der nicht autorisierten Aufführung geschützt. Können die Opernsänger das Abspielen der einmal eingravierten Töne oder das Übertragen auf ein anderes Medium verhindern oder verbieten? Das Gericht entscheidet zugunsten der beiden Tenöre. In der Urteilsbegründung wird auf die »Originalität« des Gesangsvortrags hingewiesen, die der Reproduktion vorausgehe und nicht mehr: »Denn es ist nicht allein der Klang der Stimme, der die Hörer erbaut, sondern die Art des Vortrages, in der sich nicht nur die verständnisvolle Auffassung des gesungenen Liedes und der Melodie desselben, sondern auch die Originalität des Sängers wiedergibt«. (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 5/4, 1900: 131)
Das Gericht stellt zudem fest, dass mit der Einwilligung der Fixierung des Gesangs noch keine Sanktionierung der weiteren Vervielfältigung einhergehe: »Denn durch die Vervielfältigung würde ihnen eine Gelegenheit zur Verwertung und Nutzung ihrer Fähigkeit entzogen« (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 5/4, 1900: 132). Die Recht13 Vgl. auch Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 5/4 (1900: 131–132). 14 In der juristischen Literatur wird genau zu diesem Zeitpunkt erstmals über ein Recht am eigenen Bilde nachgedacht: Vgl. Keyssner (1896). Die Verbreitung und Vereinfachung des fotografischen Verfahrens verursacht seit den 1860er Jahren neue Rechtskonflikte. Dabei geht es um Eigentums-, Urheberund Persönlichkeitsrechte im Zusammenhang der photographischen Fixierung von Personen.
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sprechung reagiert damit auf den Kontrollverlust der Musikschaffenden über ihr Werk und deren ökonomische Mobilisierbarkeit für jedermann als Folge der Fixierung auf einem Zylinder oder einer Platte. Leo Eger kommentiert in seiner Abhandlung zum Phonographen auch das Urteil von 1899 in Berlin. Dabei benutzt er ganz selbstverständlich den Begriff der ›Vervielfältigung‹ für phonographische Aufnahmen. Die neue Option der Materialisierung, Speicherung und Wiedererzeugung des Gesangs bringen ihn auch dazu, eine neue Interpretation des Begriffs ›Vervielfältigung‹ vorzunehmen, die nicht mehr bloß den Nachdruck erfasst: »Eine Sache vervielfältigen, heisst nach dem klaren Wortsinne nichts anderes, als eine Anzahl von Exemplaren herstellen, die mit dem Urbilde bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben« (Eger 1900: 270). Die phonographische Walze stelle eine Vervielfältigung dar, weil sie das geschützte Werk enthalte und Quelle weiterer Vervielfältigungen sein könne. Eger gehört zu den frühen juristischen Stimmen, die eine neue juristische Übersetzung des Vervielfältigungsbegriffs als Folge der technischen Entwicklung des Phonographen vornehmen und damit einhergehend auch den musikalischen Werkbegriff neu fassen: »Die phonographische Walze ist, wie durchaus festgehalten werden muss, immer die Fixierung eines menschlichen Vortrags. Der Vortrag durch die lebende Persönlichkeit ist aber etwas wesentlich anderes als die mechanische Wiedergabe durch automatisches Erklingenlassen einer Anzahl von Tönen. Der Vortrag des Künstlers ist keineswegs eine blosse Wiedergabe des Werkes. Vielmehr übt der Künstler eine eigene schöpferische Thätigkeit aus und bringt durch Vermählung seiner Individualität mit dem Gebilde des Komponisten ein neues, in mehr als einer Beziehung selbstständiges Werk hervor. […] Wenn man es für billig hielt, die Benutzung von geschützten Musikwerken für Spielwerke zu gestatten, so geschah dies aus der Erwägung, dass die seelenlose Wiedergabe durch einen Mechanismus niemals der künstlerischen Aufführung ernste Konkurrenz machen könnte. Beim Phonographen genügt zwar, wie bei jeden Spielwerken, ein mechanischer Handgriff in Thätigkeit zu setzen; aber die phonographische Produktion ist keine mechanische, unter Ausschaltung der künstlerischen Persönlichkeit erfolgende Wiedergabe, sondern immer nur ein geschickt aufgefangener und in die Unsterblichkeit hinübergeretteter menschlicher Vortrag.« (Eger 1900: 283)
Mit dem Urteil des Berliner Landgerichts von 1899 und der Abhandlung Leo Egers von 1900 liegen die zentralen neuen Argumente zum Phonographen bereits auf dem Tisch. In seiner einflussreichen juristischen Studie zur »Beurteilung der neuen Instrumente zu Musikvorführungen« von 1907 sieht Ernst Eisenmann dann das Ende der durch den Buchdruck
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geprägten Rechtsvorstellungen gekommen: Die Gleichsetzung eines »Werkes« mit »Schriftseiten, Druckbogen, Notenreihen« sei obsolet geworden (Eisenmann 1907: 9): »Die Verhältnisse haben sich geändert, verzweigt, vervielfältigt, erweitert; die Begriffe müssen gespalten, zum Teil aber, wo bisher Ungleichartiges mit demselben Namen gerufen wurde, neu geprägt, jedenfalls aber neu getauft, und damit nicht heillose Verwirrung entstehe, umgetauft werden.« (Eisenmann 1907: 10–11) Der argumentative Trick für die Integration des Phonographen ins Urheberrecht besteht in einer klaren Trennung der Tätigkeiten des Apparats von jener des Autors bei der Aufnahme des neuen »Tonwerkes«: Das Argument besagt, dass es sich zwar durchaus um eine »mechanische Wiedergabe« handle, diese jedoch zwingend auf einer »künstlerischen Vorführung« beruhe und deshalb sowohl dem »Tonsetzer« (d.h. dem Komponisten), als auch dem »Tonkünstler« (dem Interpreten) Schutz gegen Vervielfältigung zustehe (Eisenmann 1907: 49). Eisenmann sieht durch den Phonographen nicht bloß einen Umbruch des Rechts eingeläutet, sondern geht auch davon aus, dass die wirtschaftliche Bedeutung der Notenblätter ihren Zenit bereits überschritten habe: »Die Aufstapelung und Aufspeicherung künstlerischer Vorträge zu beliebigem, örtlich und zeitlich unbeschränktem Gebrauch ist für die wirtschaftliche Bedeutung der Verbreitung von Tonwerken weit wichtiger, oder wird es doch in naher Zukunft sein, als die in Notenblättern enthaltene Aufstapelung blosser schriftlicher Aufzeichnung derselben Tonstücke.« (Eisenmann 1907: 52)
Aus dem damit formulierten Autorrecht des reproduzierenden Künstlers ergeben sich gleich weitere Anschlussfragen: Wie steht es mit der Tätigkeit des Fabrikanten, der die Töne des Vortragenden auffängt und auf eine Scheibe fixiert? Soll er auch ein Recht auf Schutz vor Vervielfältigung besitzen? Handelt es sich beim Auffangen und Festhalten der Töne ebenfalls um eine künstlerische Tätigkeit? Signifikanterweise erörtert Josef Kohler, einer der bedeutsamsten Theoretiker für künstlerisches, literarisches und industrielles Recht um die Jahrhundertwende, diese Frage am Beispiel der »Gesänge von Wilden« (Kohler 1909: 232). Kohlers Beispiel der »Wilden« als ›Nichtautoren‹ nimmt damit Konflikte rund um Eigentumsrechte von Folklore und indigenem Wissen vorweg, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts artikulieren werden. Obwohl Kohler zum Schluss gelangt, dass der Schutz der Fabrikanten bei einer erheblichen gestalterischen Tätigkeit gerechtfertigt sei, und sich die Ausweitung des Vervielfältigungsbegriffs und der damit verbundene Schutz des ausübenden Künstlers vor mechanischer Reproduktion im urheberrechtlichen Diskurs spätestens 1910 durchsetzt, wird die Frage nach
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der konkreten Ausgestaltung der Schutzrechte für den Interpreten musikalischer Werke und die Frage nach der Art und Weise des Schutzes für Fabrikanten in den folgenden zwei Jahrzehnten international weiterhin kontrovers diskutiert. Bei der Revision der Berner Konvention von 1928 in Rom wird eine internationale Regelung auf die Zukunft vertagt. Die Entwicklung mündet jedoch in ein parallel zum Urheberrecht existierendes »Nachbarrecht« als Leistungsschutz für ausführende Künstler und Schallplattenproduzenten. Obwohl die Tradition der Autorrechte als Folge medientechnischer Entwicklungen um die Jahrhundertwende zwar Erosionen ausgesetzt ist, erweist sie sich jedoch als äußerst beständig, indem sie sich den Folgen von Industrialisierung und Technisierung verwehrt und die Produzenten und den reproduzierenden Künstler nicht den Urhebern gleichstellt.
V e r vi e l f ä l t i g u ng und V e rw e r t u n g Um zu erklären, wie sich aus der Verrechtlichung neuer Vervielfältigungsmedien Verwertungspraktiken etablieren, wende ich mich nun dem zweiten Punkt zu und betrachte die Entstehung und den Aufstieg des neuen Organisationstyps der Verwertergesellschaften. Im Zusammenhang mit der Integration des Phonographen in urheberrechtliche Argumentationen gewinnen die gewerblichen Überlegungen gegenüber ästhetischen Begründungen von Autorrechten an Gewicht. Vervielfältigung und Medienwechsel werden als akute Gefahr für die »Originalwerke« der Komponisten interpretiert. Mechanische Musikinstrumente waren in Anlehnung an die französische Terminologie noch als »barbarisch« erachtet worden. Nun werden mechanische Speichermedien und Musiknoten von Verleger- und Autorenverbänden in die Logik von Substitutionsgütern gestellt. Wer Schallplatten kauft, erwirbt keine Musiknoten mehr – so lautet das Argument, mit dem nun um öffentliche Aufmerksamkeit gebuhlt und um Einflussnahme auf die Gesetzgebung gesucht wird. Die Verwertung von Musik geht einher mit der Entstehung und Formierung von neuen Interessenvereinigungen zur Verwaltung und Durchsetzung von Rechten auf einem international agierenden Musikmarkt.15 Eine erste Vereinigung von Autoren zur kollektiven Wahrnehmung ihrer rechtlichen und finanziellen Interessen, die »Société des auteurs, compositeurs et éditeurs de musique« (SACEM), gibt es bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Nachdem sich die Komponisten und Verleger Österreichs 1897 zur »Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, 15 Für einen kurzen Überblick über die organisatorische Entwicklung der Musikindustrie und die Entwicklung des internationalen Copyrights: Laing (1993).
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Komponisten, Musikverleger« (AKM) zusammengeschlossen haben, fordert die »Genossenschaft Deutscher Komponisten« im Jahr 1900 die Schaffung einer deutschen Zentralstelle für musikalische Aufführungsrechte nach französischem Vorbild (Schuster 1901: 17).16 Verleger und Komponisten begründen 1903 gemeinsam eine erste Verwertergesellschaft für musikalische Rechte in Deutschland – die »Genossenschaft deutscher Tonsetzer«. 1914 entstehen in England die »Performing Right Society« und die »American Society of Composers, Authors and Publishers« (ASCAP) in den USA und 1916 in Deutschland die »Genossenschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte«.17 Damit haben sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Verwertergesellschaften in Europa und den USA etabliert. Die Verwertergesellschaften sind national organisiert und durch gegenseitige Verträge international miteinander verbunden. Man könnte sie in freier Anlehnung an den Wirtschaftshistoriker Alfred Chandler als »visible hands« bezeichnen (Chandler 1977): Sie übernehmen Verwaltungsaufgaben in großen Märkten, wachsen und sind immer wieder dem Monopolvorwurf ausgesetzt. Als Waffe gegen Monopole fordern Vertreter der Musikindustrie die »Zwangslizenz«, die den Urheber dazu verpflichtet, jede Vervielfältigungsgenehmigung zu Gewerbszwecken weiteren Interessenten gegen eine Gebühr ebenfalls zu erteilen. Anlässlich der Revision der Berner Konvention 1908 in Berlin wird die Einführung einer Zwangslizenz in die Konvention kontrovers diskutiert und schließlich fallengelassen. Anders in Deutschland: Hier wird sie 1910 auf Forderung der Musikfabrikanten eingeführt. An der Spitze der Verwertergesellschaft befinden sich zunehmend spezialisierte Anwälte, auch wenn bei öffentlichen Auftritten weiterhin Komponisten, wie in Deutschland Richard Strauss oder in den USA John Philipp Sousa als Aushängeschilder präsentiert werden. Die Tatsache, dass Komponisten und Verleger gemeinsam im Boot der Verwertergesellschaften sitzen, täuscht jedoch darüber hinweg, dass die Interessen der beiden Berufsgruppen stark divergieren. In Deutschland wird im Vorfeld einer ersten Regelung zwischen den Fabrikanten, Komponisten und Verleger zu den mechanischen Musikwerken 1907 so erbittert um Tantiemenanteile gestritten, dass vorerst kein Kompromiss zustande kommt (Volkmann 1909).
16 Vgl. auch Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (1900). 17 Zu Deutschland: Schmidt (2005), zu Großbritannien: Ehrlich (1989), zu den USA: Goldstein (2003: 55–61).
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R ü c kb l i ck un d A us bl i c k Mit der Durchsetzung des Phonographen bzw. des schließlich erfolgreicheren Grammophons Ende der 1890er Jahre wandelt sich die Wahrnehmung und Deutung der mechanisch erzeugten und reproduzierten Musik. Durch die Verbindung mit Opernstars wird sie in die Sphäre des ernsten Musikgeschmacks erhoben somit auch anschlussfähig für urheberrechtliche Konzepte. Die Integration des Phonographen ins Urheberrecht bedingt jedoch einen Bruch mit alten Konzepten, die bislang das musikalische Werk mit seiner Notierung gleichsetzten und unter Vervielfältigung bloß den Nachdruck von Noten gelten ließ. Mit der Ausformulierung von Rechtsansprüchen und der Durchsetzung durch Rechtssprechung, nationale Gesetze und internationale Abkommen ist erst eine Voraussetzung für die Einbindung in die Geldströme der Marktwirtschaft gegeben. Entscheidend ist die Gründung von Verwerterorganisationen. An deren Spitze stehen nun Juristen, die auf Gesetzgebungsprozesse einzuwirken versuchen und durch Gerichtsverfahren neue Rechtsansprüche durchzusetzen vermögen. In den USA wird die ASCAP wegen ihres kollektiven Charakters in den 1920er Jahren auch den Radiostationen erfolgreich gegenübertreten können. Weil es ihr gelingt, genügend Autoren und Verleger unter einem Dach zu vereinen, erreicht die ASCAP eine Verhandlungsstärke, die es ihr ermöglichen wird, die Ressource Musik im Radio zu kontrollieren. Anders als in Deutschland, wo Mitte der 1920er Jahre Wortbeiträge noch dominieren, füllt im Jahr 1925 die Musik in amerikanischen Stationen rund 70% des Programms (Sterling/Kittross 1990: 73). Bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen treten Komponisten als Aushängeschilder der Organisation in Erscheinung. Damit wird die Figur des ›Autors‹ auch im Zeitalter der mechanischen Musik als moralische Rechtfertigung für ökonomische Forderungen reaktiviert. Auch der medientechnische Umbruch von den Musiknoten zur mechanischen Musik wird nochmals zum Argument im Verteilungskampf um Tantiemen mobilisiert: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in den USA 1933 lanciert die ASCAP eine breit angelegte Werbekampagne für höhere Tantiemenzahlungen durch die Radiostationen. Die Weltwirtschaftskrise und strukturelle Veränderungen, wie der Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm, verändern den Musikkonsum und bremst die Boomphase der ASCAP, ganz im Gegensatz zu den Radiostationen, die gerade durch die Wirtschaftskrise einen Anstieg an Werbeeinnahmen verbuchen.18 Im Zentrum der Kampagne steht die Broschüre »The Murder of Music«, die das 18 Zum Strukturwandel der Musik in den USA von 1920–1940: Kraft (1994). Zu den Konflikten zwischen der ASCAP und den Radiostationen: Gitlin (1938) und Sterling/Kittross (1990: 131–132).
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Radio für den »Tod der Musik« verantwortlich macht.19 Auf dem Umschlag sieht man einen Radioempfänger, der Musiknoten zum Verbluten bringt. Der Radioempfänger wird zum »Mord an der Musik« stilisiert. Doch hinter dem Niedergang der Notenblätter steht ein medientechnischer Umbruch, der in den 1890er Jahren einsetzt, und an dem technische, ökonomische, organisatorische und juristische Faktoren beteiligt sind. Zudem ist die Botschaft auf dem Bild irreführend, denn für die ASCAP haben sich die Schallplatten und die Radiostationen längst zur Lebensader entwickelt: 1930 bezieht die ASCAP bereits 40% ihrer Einkünfte durch die vermeintliche Mordwaffe (Sterling/Kittross 1990: 193). Und dies ist bloß der bescheidene Anfang: 1937 werden es bereits 70% sein.
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THE PRODUCT D IE E NTFRISTUNG
NEVER DIES DER KOMMERZIELLEN L EBENSDAUER DES F ILMS THAT
VINZENZ HEDIGER Im internationalen Vergleich zeichnet sich die deutsche Medienwissenschaft durch ihre hohe Produktivkraft im Bereich der geschichtsphilosophischen Narrative aus. Das erfolgreichste seiner Art war in den letzten Jahren zweifellos das Techniknarrativ, das Hegel nicht nur vom Kopf auf die Füße stellt, sondern die Füße auch noch durch das Gestell der Technik ersetzt und sich mit der Formel »Vater Krieg und sein Phallus Technik liquidieren das Subjekt« zusammenfassen lässt. Für einen Neuankömmling – ich genieße das Leben eines deutschen Universitätsbeamten erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit – liegt die Faszination solcher Narrative nicht zuletzt in ihrer raumgreifenden Ambition. Ganz im Geist solcher Ambition könnte es durchaus reizvoll sein, selbst einen Beitrag zur Inauguration eines neuen geschichtsphilosophischen Narrativs zu leisten, das seinen Ausgang von der Ökonomie nimmt und sich etwa auf eine Formel des Typs »Mutter Markt und ihr Phallus Geld liquidieren Vater Krieg und seinen Phallus Technik« bringen ließe. Reizvoll wäre das nicht zuletzt, weil sich ein solcher Kampf der Medientheorien auch mit Spielfiguren, so genannten »media theory action figures« austragen ließe.1 Theoriebildung könnte auf diesem Weg in Merchandising münden, was angesichts des Bedarfs an neuen Lehrmitteln für den modularisierten Unterricht auch neue Perspektiven der Drittmittelakquisition eröffnen würde. Meine Ambition ist indes bescheidener. Tatsächlich möchte ich im Folgenden eine Geschichte erzählen, die von einem großen Umbruch handelt. Im Zentrum meiner Beschäftigung steht weder das Schicksal des Menschen im Zeitalter der Technik oder des globalen Kapitalismus (so verfolgenswert solche Fragen auch sind), noch der historische Bruch, der 1
Anm. d. Hg.: Diese Anspielung bezieht sich auf die »theory action figures« (vgl. http://www.theory.org.uk/action.htm) an den Wänden vor dem Tagungsraum, in dem dieser Vortrag gehalten wurde.
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durch den Auftritt der digitalen Medien stattfindet, oder auch nicht, sondern ein Phänomen, das ich als »Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films« bezeichnen möchte. Wie diese Fokussierung schon erahnen lässt, ist das Narrativ, das ich vorschlage, kein geschichtsphilosophisches, sondern ein medienhistorisches. Als solches spielt es auf drei Ebenen: Auf einer theoretischen, auf einer ökonomiehistorischen und auf einer kulturhistorischen. Ökonomietheoretisch könnte man den Umbruch, von dem ich erzählen will, als Wandel der ökonomischen Eigenheiten des Kulturgutes und Kulturkonsumgutes Film bezeichnen. Ökonomiehistorisch gesehen steht dieser Wandel in engem Zusammenhang mit dem Umbau der Filmindustrie von einer Kinoindustrie zu einer Copyright-Industrie. Aus kulturhistorischer Sicht stellt er einen Teil eines umfassenden Prozesses der Industrialisierung des Gedächtnisses dar. Im Zentrum meiner Argumentation steht der so genannte Mainstream-Film, der im Zeitalter dessen, was gerne als globale Medienökonomie bezeichnet wird, zum wichtigsten Produkt der großen Konglomerate geworden ist. Mit Ausnahme von Bertelsmann sind die sieben größten Medienunternehmen der Gegenwart alle um ein HollywoodStudio herum aufgebaut. Nicht von ungefähr bezeichnet man sie als »film driven conglomerates«, durchläuft doch der Mainstream-Film und insbesondere der Blockbuster-Film von allen Produkten dieser Konglomerate die längste Auswertungskette (Schatz 1997; Compaine/Gomery 1999). Was den Mainstream-Film betrifft, ist für die Ökonomie der Medien im Ganzen von Belang. Ich möchte meinen Beitrag in drei Teile gliedern und dem Phänomen der Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films auf den drei eingangs genannten Ebenen der medienhistorischen Analyse nachgehen. Zunächst interessiert mich das Problem des Wandels der ökonomischen Eigenheiten des Produkts Film. Dann wende ich mich dem Wandel der Kino- zur Copyright-Industrie zu. Und schließlich werde ich den skizzierten Umbruch in den Kontext eines vom französischen Philosophen Bernard Stiegler konstatierten Prozesses der Industrialisierung des Gedächtnisses stellen und dabei nicht zuletzt die Frage nach der Nützlichkeit der Kategorie eines von Medien bestimmten, post-industriellen Zeitalters aufwerfen. Doch zunächst möchte ich das Problem fokussieren, indem ich von einer theoretischen Überlegung ausgehe.
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THE PRODUCT THAT NEVER DIES
I Folgt man der französischen Kulturökonomin Joëlle Farchy, so ist die kennzeichnende ökonomische Eigenschaft von Kulturgütern ihre Originalität und deren Korollarium, die Unsicherheit. Kulturgüter müssen originell sein, um sich verkaufen zu können; gerade weil sie aber stets originell sein müssen, kann sich der Käufer der Qualität des zu erwerbenden Guts niemals ganz sicher sein (Farchy 2005). Ob uns ein Film gefällt, wissen wir erst, wenn wir ihn gesehen haben, und in aller Regel setzt dies voraus, dass wir zuerst unseren Eintrittspreis an der Kinokasse entrichten. Das Kriterium der Originalität umfasst dabei drei Aspekte: Der Wert eines Kulturgutes bemisst sich nach seiner Authentizität, seiner Einzigartigkeit und seiner Neuheit. Anders gesagt: Die Produktdifferenzierung von Kulturgütern geschieht durch das Kriterium der Originalität und dabei ganz wesentlich über den Aspekt der Neuheit. Ein Film ist demnach verkäuflich nach Maßgabe seiner Neuheit. Entsprechend funktionierte die Vermarktung von Filmen für die erste Hälfte der bisherigen Geschichte des Mediums fast ausschließlich nach diesem Prinzip. Ablesen lässt sich dies nicht zuletzt am Duktus der Filmwerbung, die sich durchgängig einer Rhetorik des Neuen befleißigt und stets das Neuartige, nie zuvor Dagewesene eines Films herausstreicht (nicht ohne zugleich diskret auf die Formelhaftigkeit und Serialität des Angebotenen hinzuweisen, um die Unsicherheit des Käufers herabzusetzen). Wenn nun aber ein Film verkäuflich ist nach Maßgabe seiner Neuheit, dann bedeutet dies umgekehrt auch, dass ein Film an Wert verliert, je weniger neu er ist. Auch dieses Prinzip lässt sich an der Filmvermarktung der klassischen Ära nachweisen. Tatsächlich wurden Filme in der klassischen Hollywood-Ära so vermarktet, dass sie erst zu einem hohen Preis in die großen Kinos kamen, um dann sukzessive in kleineren Sälen zu einem tieferen Eintrittspreis ausgewertet zu werden, bis sie nach einer Auswertungsfrist von durchschnittlich zwei Jahren aus dem Verkehr gezogen wurden. Es handelt sich um ein System der skalierten Auswertung, in dem ein Markt in Teilmärkte aufgeteilt wird, mit dem Ziel, in jedem Teilmarkt den jeweils höchsten möglichen Preis für die Ware zu erzielen; die Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von Preisdiskriminierung (Hoskins et al. 1997). Nachdem der Film die skalierte Auswertung durchlaufen hatte, wurden die Kopien eingezogen und in vielen Fällen zusammen mit dem Negativ vernichtet. Man wollte Platz sparen; außerdem war die Lagerung der Filme gefährlich, so lange sie aus leicht entflammbarem Nitratmaterial bestanden. Einen eigentlichen Schub der Vernichtung löste die Einführung des Tonfilms in den Jahren nach 1926 aus. Filme ohne Ton schienen nun ihren Wert vollends verloren zu haben und wurden
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summarisch entsorgt. Das erklärt, weshalb rund 80% aller vor 1928 produzierten Filme verloren sind und nur anhand von Verleihkatalogen und Rezensionen ahnungsweise rekonstruiert werden können. Damit hängt aber auch zusammen, dass es überhaupt so etwas wie akademische und historische Filmarchive gibt: War es doch gerade die Vernichtungswelle am Übergang zum Tonfilm, die Filmliebhaber wie den Franzosen Henri Langlois oder die Initiatoren des Museum of Modern Art in New York darauf brachten, ab den frühen 1930er Jahren Filme, die sie für wichtig hielten, systematisch zu sammeln (Hagener 2005; Wasson 2005). Was die Archivpolitik der Hollywood-Studios betrifft, so wurden neben den Kopien oft auch die Negative vernichtet. Im Archiv blieb nur das Drehbuch liegen, das sieben bis zehn Jahre später wieder hervorgezogen wurde, um als Grundlage einer neuen Version desselben Stoffs mit anderer Besetzung und anderem Titel zu dienen. Man könnte auch sagen: In der klassischen Ära vor der Einführung des Tonfilms fand das Produkt selbst nur in Ausnahmefällen Eingang ins institutionelle Gedächtnis der Firma, die den Film herstellte. Im Jahr 2005 hat sich die Situation in einem entscheidenden Punkt verändert. Zwar gilt nach wie vor das erste Prinzip der Vermarktung: Filme sind verkäuflich nach Maßgabe ihrer Neuheit. Noch immer gibt es das kulturelle Ritual der Filmpremiere, der Taufe und Inauguration eines neuen Films, die dazu gedacht ist, dem Film die Anziehungskraft des Noch-Nicht-Gesehenen zu verleihen. Tatsächlich könnte man behaupten, dass das Prinzip der Neuheit heute noch stärker zum Tragen kommt als früher. Wurden Filme früher mit wenigen Kopien in großen Kinos lanciert, so kommen sie heute weltweit am selben Tag mit mehreren tausend Kopien ins Kino. Die Premiere, der kulturelle Ort der Einweihung des Neuen, ist zur Stätte einer demokratisierten Initiation geworden: Alle können am ersten Tag schon mit von der Partie sein; jeder Kinogänger ist ein Premierengast. Die große Veränderung betrifft den Umkehrschluss: Während weiterhin gilt, dass Filme nach Maßgabe ihrer Neuheit verkäuflich sind, hören Filme nun nicht mehr auf, verkäuflich zu sein, wenn sie aufhören, neu zu sein. Vielmehr zeichnet sich seit Ende der 1950er Jahre, seit Filmrechtehändler begannen, die Archive der Studios, so weit sie noch bestanden, aufzukaufen und in die Programmraster des neuen Mediums Fernsehen einzuspeisen, immer stärker ab, dass der Wert eines Films mitunter mit der Zeit auch zunimmt. Spätestens seit der Einführung des Videorecorders, den die Hollywood-Studios zunächst als Totengräber ihrer Industrie ansahen, hat sich diese Einsicht vollends durchgesetzt.2 Tatsächlich beginnt die eigentliche Wertschöpfung eines Films 2
Zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der Einführung des Videorecorders vgl. Lardner 1987.
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heute oft erst, wenn die Kinoauswertung schon vorbei ist. Nur noch 25% des Einspielergebnisses eines durchschnittlichen Films stammen aus der Kinoauswertung. Der Rest wird in den Zweitauswertungsmärkten, den so genannten »ancillary markets« erwirtschaftet, von denen Heimvideo (VHS, dem per 2007 oder 2008 das Verschwinden vorausgesagt wird, und DVD) mit über 50% den größten Anteil beisteuert. Die Zweitauswertung ergänzt dabei nicht nur die Kinoeinspielergebnisse eines Films, sie führt bisweilen auch zu einer nachträglichen Aufwertung eines Kinofilms zu einem Zeitpunkt, an dem er schon nicht mehr im Kino läuft. Die Komödie AUSTIN POWERS: INTERNATIONAL MAN OF MYSTERY (1997) etwa war im Kino nicht wirklich erfolgreich. Die Produktionskosten beliefen sich auf 17 Mio. Dollar; hinzu kamen Vermarktungskosten von 10 Mio. Diesen 27 Mio. stand ein Einspielergebnis von 53 Mio. Dollar gegenüber, was netto für das herstellende und vertreibende Studio ein Ertrag von 24 Mio. bedeutete, also etwas weniger, als der Film und seine Vermarktung ursprünglich gekostet hatten. Man durfte zwar davon ausgehen, dass der Film in den Zweitauswertungsmärkten noch in die Gewinnzone kommen würde; für eine Fortsetzung war das Kinoeinspielergebnis jedoch nicht gut genug. Im Heimvideomarkt allerdings erwirtschaftete der Film ein Vielfaches des erwarteten Betrags. Tatsächlich war er so erfolgreich, dass das Studio New Line schließlich doch die Bedingungen für eine Fortsetzung gegeben sah. Das Sequel AUSTIN POWERS: THE SPY WHO SHAGGED ME kam 1999 ins Kino. Gilt für Sequels üblicherweise, dass sie erfolgreich sind, wenn sie zwei Drittel des Einspielergebnisses des ersten Films erreichen, so spielte THE SPY WHO SHAGGED ME in den USA alleine am ersten Wochenende 54 Mio. Dollar ein, also eine Million mehr als der erste Film insgesamt; am Ende betrug das Kinoeinspielergebnis 203 Mio. Dollar. Es handelt sich demnach um einen Flop, der nachträglich zur Franchise wurde, also zu einer fortsetzungsträchtigen Produktionsformel mit Quasi-Markenstatus, oder auch um einen Film, der zum Erfolg wurde, nachdem er längst aufgehört hatte, neu zu sein.3 Die rückwirkende Aufwertung von Filmen, die längst aufgehört haben, neu zu sein, betrifft aber nicht nur neuere Produktionen. Wenn man 1997 eine Videothek aufsuchte, um AUSTIN POWERS: INTERNATIONAL MAN OF MYSTERY auszuleihen, dann wird man dort auch eine Reihe von Filmen ausleihbereit vorgefunden haben, deren Produktionsjahr erheblich weiter zurücklag. Seither hat die Entwicklung des Internet den Zugriff 3
Das Studio New Line, eine Tochtergesellschaft von Time Warner, hat neben AUSTIN POWERS eine Reihe weiterer Sequels produziert, bei denen die Produktionsentscheidung alleine aufgrund des Ertrags der Heimvideoauswertung des ersten Films zustande kam. Zu nennen sind insbesondere die Filme der BLADEund RUSH HOUR-Serien (vgl. Netherby 2002).
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auf alte Filme stetig erleichtert. Ruft man auf einer Website wie der International Movie Data Base einen Film aus den 1940er Jahren auf, findet man rechts oben immer ein Fenster, in dem über die Verfügbarkeit des Films in verschiedenen Heimvideoformaten, Sprachfassungen und Ländercodes informiert wird. Beim Anklicken des Icons wird man sogleich auf die amazon.com-Seite weitergeleitet, auf der man den entsprechenden Film bestellen kann (imdb.com ist eine Tochtergesellschaft von amazon.com). Wer Filme nicht kaufen, sondern nur ausleihen will, kann das mittlerweile ebenfalls per Internet tun. Der Ausleihdienst netflix .com, der seit 1998 bestellte Filme frei Haus liefert und keine Strafgebühren für verspätete Rückgabe kennt, hat den herkömmlichen Videotheken in den USA mittlerweile das Wasser abgegraben und den ehemaligen Marktführer Blockbuster Video zu einem Sanierungsfall gemacht. Bereits verfügbar sind ferner auch Video-On-Demand-Dienste im Internet, eine Online-Variante des Pay-Per-View-Modells des Kabelfernsehens, bei der man für jede Besichtigung eines im Streaming-Verfahren eingespielten Films eine bestimmte Gebühr entrichtet. Sowohl netflix.com wie auch VOD-Dienste bieten neben neueren Kinofilmen stets auch zahlreiche alte Titel an, und nicht von ungefähr beschäftigen sich die Programmierer, die an der VOD-Software arbeiten, zu einem guten Teil mit der Entwicklung von Bildsuchprogrammen und von Programmen, die Nutzerprofile in Vorschlagslisten mit Filmen aus dem Archivbestand umsetzen, wie sich anhand der einschlägigen Publikationen in Zeitschriften wie »Lecture Notes In Computer Science« oder »Multimedia Systems« seit Mitte der 1990er Jahre feststellen lässt. Nicht nur haben Filme aufgehört, an Wert zu verlieren, wenn sie aufhören, neu zu sein. Der Prozess der rückwirkenden Aufwertung, der ganz wesentlich auf der Einführung neuer Heimvideotechnologien basiert, hat mittlerweile den gesamten Bereich dessen erfasst, was im Duktus der Traditionspflege das filmische oder audiovisuelle Erbe heißt. Zumindest potentiell können alle noch greifbaren alten Filme in die Verwertungskanäle eingespeist werden, die auch neue Filme durchlaufen. In diesem Sinn stellt die Aufhebung des Umkehrschlusses, der sich aus der Bestimmung des kulturellen Gutes Film durch seine Neuheit ergibt, einen Vorgang der umfassenden Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films dar: Eine Entfristung, die nicht nur die Lebensdauer neu produzierter Filme betrifft, sondern nachträglich auch – zumindest potentialiter – alle bislang produzierten Filme überhaupt erfasst. Unter Rückbezug auf das Argument von Joëlle Farchy könnte man die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films als partielle – und durchaus paradoxe – Suspendierung der Neuheit als Kriterium der Produktdifferenzierung von kulturellen Gütern charakterisieren: Neuheit dient zwar weiterhin als
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Kriterium bei der Markteinführung des Produktes, hört danach aber auf, für die Wertbeimessung relevant zu sein (es zählen nur mehr Authentizität und Einzigartigkeit). Die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer macht den Film überdies zusehends mehr zu einem Produkt, das gerade in Hinsicht auf die Wertbeimessung einen Aspekt von Einzigartigkeit entwickelt. »A film library is a one-of-a-kind asset«, so ein Analyst einer Investment-Bank vor kurzem in einem Interview mit der Los Angeles Times »most assets depreciate over time, but not film assets. Film is a product that never dies« (James 2003). Und selbst auf Fernsehprogramme trifft dies zu. Mitte der 1990er Jahre begannen die Studios, erfolgreiche TV-Serien wie X-FILES in VHS-Videoausgaben auf den Markt zu bringen, und mittlerweile können ganze Jahrgänge von Serien wie THE SIMPSONS, THE SOPRANOS, SIX FEET UNDER oder SEX AND THE CITY im sammlerfreundlichen Schuber käuflich erworben werden. Auf der Ebene der industriellen Strukturen und der ökonomischen Praktiken entspricht der Entfristung der ökonomischen Lebensdauer des Films ein Vorgang, den man als Wandel der Filmindustrie von einer Kino- zu einer Copyright-Industrie bezeichnen könnte. Ein wichtiger Faktor dieses Umbruchs ist der Prozess der Aufwertung der Archive.
II Jesse James, geboren 1847 als Sohn eines Pfarrers in Missouri, war ein notorischer Bankräuber des 19. Jahrhunderts und ein Medienstar, eine celebrity der rasch sich entfaltenden Medienöffentlichkeit in den USA nach dem Bürgerkrieg. Gemäß der Überlieferung wurde James auf dem Höhepunkt seines Ruhmes von einem Journalisten mit der Frage konfrontiert: »Mr. James, why do you rob banks?« Die Antwort: »Because that’s where the money is«. Eine geschäftsmäßige Antwort, die zudem James’ Sinn für die Haupttendenzen der industriellen Organisation seiner Zeit verrät. Nicht nur muss man als Geschäftsmann ganz generell wissen, wo man die Ressourcen seiner Geschäftsausübung findet und mit welchen Ressourcen man rechnen kann. Für den Räuber hat die Bank auch den enormen Vorteil, dass sie die Arbeit, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, schon geleistet hat. Die Einleger nehmen die Möglichkeit, ihr Geld bei der Bank zu deponieren, natürlich als Angebot wahr, das sie nachfragen, verspricht die Einlage doch eine Rendite in Form von Zins. Aus der Sicht des Bankräubers allerdings handelt es sich dabei um eine Vorleistung im Sinne einer Rationalisierung. Der Bankräuber unterscheidet sich vom herkömmlichen Räuber ja bekanntlich dadurch, dass er die Inhaber des Gelds nicht einzeln auszurauben braucht,
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sondern an zentraler Stelle auf ihre Mittel zugreifen kann, und dabei erst noch eine deutlich geringere Anzahl von Einzelpersonen einer akuten physischen Gefahr aussetzt (Stichwort Sicherheit am Arbeitsplatz). Nun bezeichnet der in der Geschäftssprache häufig gehörte Satz »That’s where the money is« in akkumulativ orientierten Formen des Wirtschaftens nicht den Lagerort des Kapitals, sondern jenen Teil des mit Kapitalien in Gang gesetzten Prozesses, bei dem der Profit erzielt wird. »That’s where the money is« meint also, wenn man so will, den Ort der Verwertung. Das kann etwa der Lagerort von Rohstoffen sein, die durch Abbau zu Geld gemacht (also verwertet) werden. Jesse James’ Interpretation des Satzes hingegen ist die eines utopischen Finanzkapitalisten, eines Finanzkapitalisten, der zu Geld kommt nicht, indem er mit seinem Geld einen Verwertungsprozess in Gang setzt, sondern indem er dahin geht, wo das Geld gleich schon liegt. Der Witz von James’ Aussage rührt, im Freud’schen Sinn und buchstäblich, von der Aufwandersparnis her. Nun wäre es gewiss falsch, den Medienunternehmer mit dem Bankräuber gleichsetzen zu wollen, und zwar in moralischer wie in epistemologischer Hinsicht. Allerdings lassen sich in der Medienindustrie seit einiger Zeit Formen der Verwertung beobachten, die sich dem James’schen Ideal der Erwirtschaftung von Erträgen ohne den Umweg über einen Produktionsvorgang und ohne nennenswerten Aufwand an Kapital (sieht man von der Anschaffung von Pferden, Gesichtsmasken, Schusswaffen und reißfesten Geldsäcken einmal ab) zumindest asymptotisch annähern. Der Satz »That’s where the money is« liefert, wie angedeutet, ein geeignetes Kriterium für die Analyse bestimmter Industrien, impliziert er doch die Frage nach der ökonomischen Basis einer jeweiligen Industrie. Befragt man die klassische Hollywood-Industrie danach, wo das Geld liegt, dann lautet die Antwort: In den Kinos. Die fünf großen Studios besaßen in den dreißiger und vierziger Jahren Kinoimmobilien im Wert von rund 2 Mrd. Dollar und investierten pro Jahr knapp 180 Mio. Dollar in die Produktion von Filmen. Tatsächlich waren die Studios an der Westküste Zulieferbetriebe für große Kinoketten, deren Geschäftssitz, und damit der Geschäftssitz des Konzerns im Ganzen, noch bis Mitte der 1970er Jahre in New York angesiedelt war, in unmittelbarer Nähe der großen Kinos am Broadway. MGM beispielsweise wurde 1924 explizit als Hauslieferant für den Kinobetreiber Loew’s gegründet, den Marktführer in New York, damals der größte Kinomarkt der Welt. In diesem Sinne lässt sich die Filmindustrie der klassischen Ära als Kinoindustrie bezeichnen. 1948 zwang das Oberste Gericht der USA auf Betreiben der Kartellbehörde mit dem sogenannten »Paramount decree« die Kinokonzerne, Produktion und Aufführung voneinander zu trennen. Die Kon-
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zerne zogen es vor, Produktion und Vertrieb zu ihrem Kerngeschäft zu machen und die Kinoketten zu verkaufen. Fortan stellt der Schlüssel zur Kontrolle des Marktes nicht mehr der Vertrieb in Verbindung mit der Kontrolle der wichtigsten großen Kinos dar, sondern der Vertrieb als Aktivität der Bewirtschaftung des Urheberrechts an den Filmen. So gesehen markiert die Trennung der Studios von den Kinoketten Anfang der 1950er Jahre den ersten wichtigen Schritt der Filmindustrie hin zur Copyright-Industrie, also zu einer Industrie, deren Hauptaktivität in der Herstellung urheberrechtlich geschützter Produkte und der nachhaltigen Verwertung der entsprechenden Urheberrechte besteht. Der nächste entscheidende Schritt folgte Mitte bis Ende der 1950er Jahre mit dem Verkauf von Zweitauswertungsrechten an Filmen. Wie auch später, als in den 1970er Jahren der Videorecorder auftauchte, begriffen die meisten Vertreter der Industrie erst nach einer bestimmen Anlaufzeit, welcher Umbruch sich anbahnte, und manchen Firmenchefs unterliefen auch entscheidende Fehleinschätzungen der Lage. Seit der Kommerzialisierung des Fernsehens, die in den USA bereits für die Jahre nach der Weltausstellung 1939 geplant war und wegen des Kriegsausbruchs für fünf Jahre zurückgestellt werden musste, bemühten sich die Senderketten um die Ausstrahlungsrechte an noch verfügbaren Filmen der HollywoodStudios. Erst Mitte der 1950er Jahre, also zehn Jahre nach der Markteinführung des ersten erschwinglichen TV-Geräts, gingen die Studios den Handel mit den Fernsehstationen ein, wobei sie auf Zwischenhändler zurückgriffen, in den USA nicht weniger als in Deutschland, wo Leo Kirch zur selben Zeit als Rechtehändler die Grundlage zu seinem späteren Wirtschaftsimperium legte. 1956 überließ Warner Bros. die TV-Rechte an seinen Filmen aus den Jahren vor 1948 für 21 Mio. Dollar einem kanadischen Konsortium. Dringend auf Liquidität angewiesen, bestimmte der Firmenchef Jack Warner den Kaufpreis nach dem Namen des New Yorker Restaurants, in dem der Deal abgeschlossen wurde: Das Lokal hieß Twenty One. Er machte damit einen schweren Fehler. Tatsächlich erwirtschafteten die neuen Rechteinhaber in den ersten drei Jahren allein mit der Lizenzierung der Animationsfilme aus dem Warner Bros.-Katalog, also der BUGS BUNNY-Filme und anderer LOONEY TUNES, die gesamte ursprünglich investierte Summe von 21 Mio. Dollar. 1957 hielt denn auch ein Studioverantwortlicher einem Journalisten der New York Times gegenüber fest: »The real fat of this industry is in film libraries« (Prayor 1957). Es handelte sich bezeichnenderweise um einen leitenden Angestellten von MGM, dem strukturkonservativsten der großen Studios, das als letztes Lizenzierungsgeschäfte für seine Filme einging. Nun hatte es schon früher eine ganze Reihe von Filmen gegeben, die über die gängige Frist von zwei Jahren hinaus in der Auswertung blie-
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ben. BIRTH OF A NATION (1915) von Griffith ist dafür ein Beispiel, natürlich auch die Filme von Charles Chaplin – so bezahlte Pathé 1925 für die Re-Release-Rechte an vier Chaplin-Komödien aus dem Jahr 1917 eine halbe Million Dollar, was dem Betrag entsprach, den die Filme ursprünglich gekostet hatten –, und später die Filme von Walt Disney. MGM wiederum besaß die Verleihrechte an GONE WITH THE WIND (1939) und benutzte den Film, der an Eintrittszahlen gemessen nach wie vor der erfolgreichste Hollywood-Film aller Zeiten ist, als Lebensversicherung. Wenn die Bilanz nicht stimmte, brachte man den Film wieder ins Kino (für eine neue Generation von Zuschauern, wie es jeweils hieß). 1954 rettete die Wiederaufführung von GONE WITH THE WIND das Studio dem Vernehmen nach vor dem Bankrott, und erst 1972 wurde das Südstaatenepos endgültig aus dem Kinoverleih zurückgezogen. Neu an der Situation, wie sie sich in den 1950er Jahren darbot, war indes, dass man auch mit bedeutungslosen und vormals erfolglosen Filmen plötzlich Geld verdienen konnte, weil das Fernsehen einen kaum zu stillenden Bedarf nach Programmen zu haben schien. Die Aufwertung der Archive erreichte Ende der 1970er Jahre eine neue Dimension mit der Einführung des Kabelfernsehens und des Heimvideo-Recorders. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Kauf von MGM durch den Kabel-TV-Unternehmer Ted Turner 1984. Turner, gebürtig aus Atlanta, wollte das Studio besitzen, das GONE WITH THE WIND gedreht hatte, beschloss aber bald, die Firma wieder zu verkaufen. Was er behielt, war die library, der Katalog von Rechten an den Filmen von MGM, zu dem durch Zukäufe bald auch noch die Filme von Warner Bros. und von RKO hinzukamen. Mit diesem Katalog bespielte Turner seine Spielfilmkanäle TNT und später TCM, und dieser Katalog war eines der wichtigsten assets bei der Übernahme von Turners Firma durch TimeWarner im Jahr 1995. Mit dieser Firmenfusion waren im Übrigen die Warner Bros.-Filme, die Jack Warner 1956 für einen Preis deutlich unter dem tatsächlichen Marktwert verkauft hatte, wieder bei der Firma angelangt. Alleine der Katalog an Trickfilmen, der durch die Bündelung dieser libraries entstand, umfasst 8500 Titel, d.h. praktisch alle klassischen Trickfilme, die nicht von Disney hergestellt wurden. Avancierten die libraries in den 1980er Jahren zum wichtigen Geschäftsbereich der Studios, so entwickeln sie sich derzeit zur eigentlichen ökonomischen Basis der Industrie. Im Herbst 2003 verkaufte der französische Medienkonzern Vivendi, die ehemalige Compagnie Générale des Eaux, die unter anderem den Suezkanal gebaut hatte, das Filmstudio Universal an General Electric, den größten Industriekonzern der Welt. General Electric legte Universal mit NBC zusammen, einem der fünf großen Fernsehnetworks der USA. Damit ging auch die letzte große Sen-
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derkette eine Fusion mit einem Hollywood-Studio ein. Bedeutsam ist nun, dass General Electric (GE) Universal überhaupt kauft. Bei mehreren sich bietenden früheren Gelegenheiten hatte GE keine Anstalten unternommen, seine TV-Kette mit einem Hollywood-Studio zusammenzubringen. GE hielt die Filmindustrie für uninteressant, weil die Risiken der Filmproduktion zu groß und die Renditen gemessen an den internen Profitzielen der Firma zu flach waren. Das Beispiel von Seagrams illustriert dies deutlich: Die kanadische Schnapsfirma kaufte Anfang der 1990er auf Betreiben des Sohnes des Firmeninhabers, Edgar Bronfman Jr., Universal von der japanischen Elektronik-Firma Panasonic und veräußerte ihre Anteile am Chemieunternehmen Dupont, um den Kauf zu finanzieren. Universal rentierte kaum, derweil die Aktien von Dupont im Lauf der 1990er in die Höhe schossen. In seiner Autobiographie schätzt Edgar Bronfman Sr., dass ihm durch den Kauf von Universal eine Vermehrung seines persönlichen Vermögens um mehrere Milliarden Dollar entging. Wenn nun GE 2003 dasselbe Studio kauft, dann lässt sich dies nach Ansicht von Analysten direkt auf den noch einmal gestiegenen Wert der film libraries zurückführen. Das Geschäft mit der Bewirtschaftung der Archive hat solche Ausmaße erreicht, dass die Zweitauswertung ein stetiges garantiertes Einkommen schafft, demgegenüber die Risiken der Produktion neuer Filme offenbar vernachlässigbar erscheinen. Mitte der 1950er Jahre wandelt sich die Filmindustrie von einer Kinoindustrie zu einer Copyright-Industrie. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun wird diese Copyright-Industrie, die ihr Geld lange Zeit primär mit der intensiven Auswertung neuerer Filme verdiente, zu einer Industrie, die ihr Geld zu einem nicht unwesentlichen Teil mit der Bewirtschaftung ihrer eigenen Vergangenheit verdient. Selbst neue Filme werden demnach nur mehr unter dem Aspekt des futurum exactum produziert. Neue Filme sind in erster Linie solche, die neu gewesen sein werden; die Neuheit ist ein Durchgang, den sie durchqueren müssen auf ihrem Weg zum ewigen Leben im und aus dem Archiv. Nicht zuletzt in diesem Kontext ist auch die aktuelle Konjunktur der Filmrestaurierung zu sehen: Die neue Ordnung der Filmwirtschaft schafft einen Markt für die Wiederherstellung und Bewahrung des audiovisuellen Erbes. Es lohnt sich auch, die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films in einem noch größeren Kontext zu sehen. Die Anfänge der Filmrestaurierung bei den großen Studios fallen in die 1970er Jahre – wie die Einführung des Videorecorders und des Kabelfernsehens. Die 1970er Jahre sind aber auch das Jahrzehnt der Ölkrise, des Club of Rome und der Entstehung einer Kultur des Recycling. Bedenkt man, dass die Filmindustrie ihre Filme in den 1910er und 1920er Jahre größtenteils summarisch entsorgte, dann stellt der Wandel von der Kino- zur Copy-
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right-Industrie nicht zuletzt auch einen Wandel von einer Ökonomie der Verschwendung von Ressourcen zu einer Ökonomie des Recycling dar. Der Prozess der Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films ist auch ein Prozess der Aufwertung von Abfall zur Ressource. Müsste man im Sinne von Jesse James für die heutige Filmindustrie bestimmen, wo das Geld liegt, dann müsste die Antwort lauten: »Dort, wo früher die Müllhalde war«. Dem Bankräuber, der die Arbeit einfach auslässt und für seinen die Abstraktion des Kapitalismus in obszöner Weise ausstellenden direkten Zugriff aufs Geld schließlich bestraft wird, ist der zeitgenössische Medienunternehmer einen Schritt voraus. Was dem mittelalterlichen Alchimisten nur vorschwebte, gelingt ihm jeden Tag: Auf industriellem Wege aus Abfall Gold herzustellen.
III In einer Schlussbemerkung möchte ich noch kurz auf die kulturhistorischen Dimensionen der Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films eingehen. 1893 veröffentlichte der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner einen Essay mit dem Titel »The Significance of the Frontier in American History«. Mit diesem Essay führte Turner die überaus wirkungsmächtige Frontier-These in die Debatte ein. Der amerikanische Westen, so die Essenz des Arguments, wurde von Siedlern und Bauern erschlossen. Die Folgen der Frontier-These sind aus dem populären Film geläufig: Der Westernheld hat seine Wurzeln in Turners Essay. Nun hat der Technikhistoriker David Nye vor einigen Jahren dargelegt, dass die Bauern gerade die letzten waren, die im Westen ankamen (Nye 1998). Erschlossen wurde der amerikanische Westen von Bergbauingenieuren und, in deren Gefolge, Ingenieuren, die ein gewaltiges Stromnetz aufbauten, aus dem die industrialisierte Bergbauindustrie in den Rocky Mountains und in den Gebieten des Südwestens sich speiste. Nicht von ungefähr waren Denver und San Francisco die am frühesten elektrifizierten Städte der Welt. Der eigentliche Held der Frontier ist demnach nicht der Cowboy, sondern der Bergmann, nicht der Sheriff, sondern der Bergbauingenieur. Louis Chesler, der chairman der Firma P.R.M, die Jack Warner 1956 für 21 Millionen Dollar die Rechte an seinen alten Filmen abkaufte und damit das Archiv als neue Ressource erschloss – man könnte auch sagen: das Archiv zur neuen frontier der Film- und Fernsehindustrie machte –, hatte keinerlei vorgängige Berufserfahrung in der Film- oder Fernsehindustrie (vgl. Motion Picture Herald 1956). Vielmehr war er von Beruf Bergbauingenieur. Man kann das nun für einen Zufall halten. Man kann
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auch mit Foucault sagen: Die imaginäre Kraft der Geschichte will es so. Auf jeden Fall lohnt es sich, einen kurzen Moment bei der Figur des Bergbauingenieurs zu verweilen. Bergbau bildet, wie man weiß, die Grundlage der Industrialisierung. Die Stahlindustrie hat sich nicht im Ruhrgebiet angesiedelt, weil es dort Erz gab, sondern weil es dort Kohle gab. Das Erz kam von anderswo her, teilweise sogar aus Australien. Ein Phänomen wie die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films und die Bewirtschaftung der Archive würde man nun gemeinhin zur Signatur des so genannten postindustriellen Zeitalters zählen, eines Zeitalters, dessen Ökonomie auf der Herstellung und Zirkulation von Immaterialgütern beruht, eines Zeitalters, in dem es nicht mehr immobile, materielle Dinge sind, in die man investiert und mit denen man Geld verdient, sondern immaterielle, wie das Rechtsinstitut des Copyright. Den Auftritt des Bergbauingenieurs am Übergang zur Bewirtschaftung der Archive könnte man nun als Beleg für den Anbruch des postindustriellen Zeitalters lesen. Immerhin hat der Mann seinen Beruf gewechselt. Offenbar sah er in der traditionellen industriellen Tätigkeit des Bergbaus keine Zukunft mehr (in Deutschland wäre das eine weise Entscheidung gewesen; tatsächlich erlebt das Ruhrgebiet 1959 seine erste große Kohlekrise). Andererseits ist es so, dass zwischen Bergbau und Archivbewirtschaftung nicht nur dieser personelle Bezug besteht, den Louis Chesler herstellt. Tatsächlich lautet das amerikanische Verb für das Bewirtschaften von Filmarchiven wie überhaupt für das Durchforschen von Archiven mining (und zwar nicht nur in der Branchenzeitung Variety, die für ihren kreativen Sprachduktus schon von H.L. Mencken gelobt wurde, sondern in der Umgangssprache). Gerade im Hinblick auf die Bewirtschaftung von Archiven leuchtet die Wortwahl ein. Wer Urheberrechte auswertet, baut einen Rohstoff ab, durchaus in Analogie zum Bergbau. Die entscheidende Frage ist nun, ob das Verb mining, das eine Metapher darstellt, metaphorisch oder buchstäblich verstanden werden soll, und ob der Begriff etwas vertuscht oder etwas aufdeckt. Handelt es sich um eine nostalgische Metapher, mit deren Gebrauch die Akteure des postindustriellen Zeitalters eine sprachliche Erdung ihres Tuns bezwecken, oder handelt es sich um einen Verweis darauf, dass das industrielle Zeitalter nicht vorbei ist, sondern sich bloß mit anderen Mitteln fortsetzt. Eine Handhabe für die zweite Lesart bieten unter anderem neuere Überlegungen des französischen Philosophen (und Medienarchivars) Bernard Stiegler. Verkürzt gesagt vertritt Stiegler die These, dass das postindustrielle Zeitalter eine Chimäre ist. Vielmehr befinden wir uns im hyperindustriellen Zeitalter, einer intensivierten Fortsetzung des Industriezeitalters, die dadurch gekennzeichnet ist, dass bislang von der Industrialisierung nicht erschlossene Lebensbereiche wie das Gedächtnis neu er-
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schlossen werden (Stiegler 2004, 98). Einiges spricht für eine solche Lesart. So ist es ja keineswegs so, dass die traditionellen industriellen Aktivitäten einfach verschwunden wären, nur weil sie in vielen Gebieten Europas eingestellt wurden. Eine Kohlen- und Stahlindustrie gibt es weiterhin, nur kommt die billigste Kohle heute aus China, und die weltweite Stahlindustrie wird von einem indischen Unternehmer dominiert, von Lakshmi Mittal (der übrigens unter dem Label B4U auch einen Kabelkanal und einen DVD-Vertrieb für klassische Bollywood-Filme betreibt und damit an der Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films mitverdient). Andererseits ist heute unter anderem durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms die Basis für eine Bewirtschaftung des Gedächtnisses in einem konkreten physiologischen Sinn gegeben. Zwar hat der Wissenschaftsbetrug des koreanischen Klon-Virtuosen Hwang Woo-suk allzu hochgesteckten Hoffnungen auf gentherapeutische Verfahren vorerst einen herben Dämpfer versetzt. Gleichwohl bleibt es denkbar, dass in nicht allzu ferner Zukunft geklonte Organismen, aber auch Gensequenzen patentiert und vermarktet werden. Die Bewirtschaftung der Archive stellt meines Ermessens ein weiteres Beispiel dar. In diesem Sinne möchte ich vorschlagen, die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films nicht als Phänomen zu betrachten, das zur Signatur des postindustriellen Zeitalters gehört, sondern als exemplarischen Fall der Industrialisierung des Gedächtnisses. Allerdings läutet die relative Obsolenz der Neuheit in der Vermarktung von Filmen möglicherweise doch eine Phase ein, die ihrerseits historisch einigermaßen neu ist. Immerhin gilt es zu bedenken, dass die Erträge, die bei der Bewirtschaftung der Archive anfallen, nicht zuletzt in die Herstellung neuer Filme investiert werden, die ihrerseits sogleich wieder zur Ressource werden. Das Filmarchiv ist demnach eine Mine, die nicht nur niemals erschöpft. Das Archiv enthält vielmehr eine Ressource, deren Abbau die Ressource selbst mehrt. Über die spezifische, quasi-alchimistische Zirkularität dieses Vorgangs und seine Relevanz für die theoretische Modellierung ökonomischer Prozesse wäre weiter nachzudenken.
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MEDIALE REFLEXIONEN
DES
ÖKONOMISCHEN
QUIZ SHOW W ISSEN , G ELD , Z EIT UND DIE Ö KONOMIE
DER
W ETTE
LORENZ ENGELL »Behält Baudrillard also Recht?«, so fragt Hartmut Winkler in seiner »Diskursökonomie« (Winkler 2004: 54). Gemeint ist Jean Baudrillards schon nahezu klassische Behauptung, Medien seien zwar dem ökonomischen Tauschsystem verpflichtet, nicht aber dem symbolischen, das auf Austausch, auf Gabe und Gegengabe beruhe (Baudrillard 1978a: 19–38; vgl. Baudrillard 1991). Sie dienten der Geldzirkulation, nicht derjenigen der Bedeutungen oder der Zeichen. Im Gegensatz dazu verfolgt Winkler die Frage, ob nicht die Funktionsweise der Medien gerade dadurch zu erklären sei, dass sie Ungleiches gegeneinander tauschten, den ökonomischen Geldverkehr und den symbolischen Zeichenverkehr so kombinierten, dass jeweils die Gabe in dem einen und die Gegengabe in dem anderen System erfolgten. In dieser Debatte aber ist ein – wie immer unsichtbarer, wenngleich Sichtbarkeit produzierender – Dritter ausgeschlossen worden, und dieser Dritte ist das Medium selbst (Engell/Vogl 1999: 8). Der folgende Beitrag will diesen Dritten befragen. Auch das Medium nämlich – und in unserem Fall das Fernsehen – bezieht eine Position zu seiner Ökonomie und macht sie buchstäblich sichtbar bzw. verhandelt sie. Es entwickelt dazu sogar eigene Formate, wie eben das hier untersuchte der Quiz Show. Und aus dieser Perspektive geht es bei der Ökonomie des Mediums, wie ich hoffe zeigen zu können, nicht mehr nur um die Frage nach zwei verschiedenen Formen des Tausches, sondern um etwas jenseits des Tausches Liegendes, ihn Überformendes: die Wette.
1 . S ym b o l u n d Si m ul a c r u m Doch beginnen wir mit der Ausgangsaufstellung, die den symbolischen und den ökonomischen Tausch einander gegenüberstellt. Selbstverständlich berühren beide Austauschformen einander stets: Zahlungsverkehr als Austausch von Werten einerseits und – etwa: sprachliche – Mitteilung als 185
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Austausch von Bedeutungen andererseits sind gleichermaßen in die soziale Sinnkonstitution eingelassen. So ist auch das Geld als Zeichensystem und die Ökonomie mit Begriffen des Kommunikativen beschreibbar. Geld wie Wörter – wie auch Bilder, Fernsehsendungen und anderes – stehen für etwas ein, das sie nicht selbst sind. Dennoch sind beide Systeme klar gegeneinander differenzierbar. Sie benutzen verschiedene Codes und erfüllen völlig verschiedene Funktionen. In der Kommunikation – jedenfalls in der medialen Massenkommunikation, um die es hier in erster Linie geht – wird zwischen Information und Nicht-Information unterschieden, in der Ökonomie zwischen Zahlung und Nicht-Zahlung (Luhmann 1996: 36ff.; Luhmann 1984: 518f., 523; vgl. Luhmann 1994). Geld produziert nicht in erster Linie Information und ist überhaupt kein Träger von Wissen. Bedeutung hat es und produziert es, aber immer nur im ökonomischen System selbst. Jenseits davon kann es sie weder im eigenen Sinne tragen noch übertragen. Ebenso kann ich mit einer Information eigentlich nichts kaufen, jedenfalls nicht unmittelbar. Dennoch leben die Massenmedien gerade von dieser Konversion von Information – besonders von selbst geschaffener, selbstreferentieller Information, nämlich Unterhaltung (Luhmann 1996: 82–85) – in Geld und umgekehrt. Doch die Systemtheorie, die diese horizontale Unterscheidung zweier sozialer Funktionssysteme führt, wäre für Baudrillard zweifellos bereits ein Symptom dessen, was er anprangert. Für die Systemtheorie – wie im Übrigen auch für die Semiotik (Winkler 2004: 37f.) – handelt es sich hierbei um verschiedene, aber beigeordnete Systeme. Für Baudrillard ist dagegen – ob zu Recht oder zu Unrecht – ausgemacht, dass kommunikative Zeichen und ökonomische Zeichen sich nicht nur horizontal als zwei verschiedene Verkehrsformen voneinander unterscheiden, die dann wiederum in Verkehr miteinander treten können. Ohne dass er dies ausdrücklich referiert, geht er sogar von einem tiefen Wesensunterschied beider Zeichentypen aus. Kommunikative Zeichen sind für Baudrillard nicht einfach Information oder Nicht-Information; eine solche funktionale Zuschreibung hat für ihn vielmehr bereits zerstört, was sie fassen wollte; sie beschreibt nicht umsonst nicht mehr Kommunikation, sondern Massenkommunikation (Baudrillard 1978a: 108ff.). Kommunikative Zeichen – Baudrillard spricht hier auch von »Symbolen« – haben demnach einen Referenten; kommunikationslose dagegen nicht. Dieser Referent ist nicht an die dingliche oder begriffliche Welt gebunden, sondern Teil einer geübten sozialen Praxis, erkennbar oft an Tradition und Herkommen. Begriffe und Gegenstände lassen sie nur auskristallisieren. Die Referentialität der Kommunikation erweist sich im symmetrischen und unmittelbaren Tausch, in der Praxis von Rede und Gegenrede, Gabe und Gegengabe. Hier wird sie realisiert, wird mithilfe des Zeichens etwas
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gegen etwas ihm gleiches ausgetauscht. Diese doppelte Gleichheit im Tausch sichert die Bedeutsamkeit des kommunikativen Zeichens.1 Zeichen haben nach Baudrillard also gerade darin ihre Funktion: Sie können im symmetrischen Tausch Bedeutungen transferieren etwa auf an sich bedeutungslose Gegenstände. Zeichen vom Typ des Geldes dagegen gehören einer asymmetrischen Beziehung an. Sie beziehen sich nicht auf etwas jenseits ihrer Liegendes, in sozialer Praxis Begründetes und Unmittelbares, denn jenseits ihrer selbst stoßen sie auf nichts Gleiches mehr. Sie produzieren und begründen vielmehr Ungleichheit. Das gilt nicht nur für das Geld selbst, sondern für einen ganzen Zeichentyp, den Baudrillard zur Unterscheidung von den bedeutsamen Symbolen dann die »Simulacra« nennt (Baudrillard 1978b: 14f., 24ff.). Sie sind aus jeder Referentialität losgelöst. Symbolische Zeichen im Sinne Baudrillards – wie Mitteilungen oder Wissen – stehen dann den »Simulacra« gegenüber, deren Typus im Geld gesehen werden kann. Sie entstehen nicht mehr aus sozialer Praxis und münden in sie auch nicht mehr ein, sondern nur mehr aus dem Zeichenverkehr selbst. Sie können mühelos nach dem Code von Information und Nichtinformation prozessiert werden. Der Tausch als Urgrund sozialer Beziehung hat gar keine Partner mehr; und Sozialität kommt nur noch als Simulation vor. Die Massenmedien sind dann aber nach Baudrillard einer der privilegierten Orte, an denen der Umschlag von Symbolen in Simulacra stattfindet (Baudrillard 1978a; vgl. Baudrillard 1986: 147–198).2 Über die Sinnfälligkeit der Baudrillardschen Konzeption zu spekulieren ist hier nicht der Ort. Zweifellos unterscheidet sich sein Symbolbegriff deutlich von dem anderer Autoren. Er ist weder vom Lacanschen »Symbolischen« gedeckt – das allgemein als Diskursives zu fassen wäre (Lacan 1975: 104–131) – noch von der »symbolischen Ordnung« bei Foucault, die gerade ohne Referenten auskommt und das Macht generierende Spiel der Differenzen meint (Foucault 1977). Auch Cassirers Begriff der »symbolischen Form« scheint der Idee Baudrillards geradezu entgegengesetzt zu sein, denn für Cassirer ist es wichtig, die »symbolische Form« als »freie Schöpfung« anzusehen (Cassirer 1956: 169–200). Und schließlich ist selbst der strenge semiotische Symbolbegriff, wie ihn Peirce und Morris führen, zwar zur differenzierenden Beschreibung der semantischen Funktion geeignet, meint aber gerade solche Semantiken, die die Kontrolle über die Bezeichnungsrelation grundlegend von den Handlungen und Objekten weg auf die Zeichen selbst hin verlagern 1 2
Ebd.: 91f.; vgl. zur Konzeption des Zeichens und des Symbols auch Baudrillard (1977: 182f., 194ff.). Erst jüngst hat Baudrillard diese Auffassung von der Unmöglichkeit des Tausches im Zeitalter der Medien und der ihr folgenden Unmöglichkeit der »Bedeutung« vehement bekräftigt, in: Baudrillard (2000: 9–40).
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(Peirce 1983: 64–67; vgl. Eco 1977: 60ff.; Walther 1978; Schönrich 1999: 83ff., 112–116). Aber das scheint mir hier nicht das Entscheidende zu sein. Zum entscheidenden Punkt wird lediglich, ob der Umschlag vom Baudrillardschen Symbolischen ins Simulacrum als ein Austausch zwischen zwei Austauschprinzipen – dem symmetrischen, umkehrbaren und dem asymmetrischen, unumkehrbaren – seinerseits umkehrbar ist oder nicht. Wenn Winkler sich darum sorgt, ob Baudrillard Recht behält, dann geht es ihm nicht um die begriffliche Präzision oder die Metaphysikanfälligkeit der Baudrillardschen Argumentation, sondern um das Verhältnis zwischen ökonomischem und symbolischem Tausch: sind beide – und nach welchen Bedingungen – ineinander konvertierbar oder eben nicht? Von Wissen, Information und Verstehen zu bloßem Geld und wieder zurück, das wäre dann möglicherweise ein entscheidender Vorgang in der, so Winkler, »inneren Ökonomie« der Medien (Winkler 2004: 54f. et passim). Baudrillards These vom Tausch ohne Austausch beruht dagegen im Wesentlichen auf der Annahme, dass die Umformung bedeutsamer Zeichen in bedeutungslose Simulacra nicht umkehrbar sei. Auch wenn Baudrillards Begriffe von Zeichen, Symbol, Bedeutung und Simulacrum alles andere als klar sind, wird doch die Gegenüberstellung klar, die hier den begrifflichen Rahmen für das Spiel aufspannt. Im Folgenden möchte ich diesen Umschlag, der vielleicht im Herzen der Medienökonomie stattfindet, noch einmal von einer ganz anderen Seite aus diskutieren, nämlich von der Seite der Massenmedien, derjenigen des Fernsehens selbst. Wenn die Massenmedien – mindestens auch – Selbstbeobachtungsinstrumente der Medien-Gesellschaft sind, dann sind sie stets selbst auch Teil dessen, was sie beobachten. Sie beobachten ihre Ökonomie selbst; die Frage ist nur: wie? Dem will ich im Folgenden nachgehen. Dabei stehen drei Gesichtspunkte im Vordergrund. Erstens möchte ich in einem konkreten Fall, dem der Quiz Show, nachzeichnen, wie der Tausch der bedeutsamen Zeichen gegen bedeutungslose Simulacra näherhin funktionieren könnte. Auch dieser Tausch nämlich kann nicht unmittelbar erfolgen, sondern er benötigt wiederum ein Medium, in dem er sich vollzieht. Dieses Medium ist die Zeit. Im Medium der Zeit werden im Fernsehen Gegenstände gegen Geldwerte und wieder zurück tauschbar. Zweitens möchte ich zeigen, dass dieser Rücktausch im Falle symbolischer Gegenstände oder des symbolischen Kapitals, nämlich des Wissens, in der Quiz Show nicht mehr funktioniert. Das liegt daran, dass in den avancierteren Formen der Quiz Show das zugrunde liegende Strukturparadigma nicht mehr Tausch und Austausch ist, sondern Wahl, Wahrscheinlichkeit und Erwartung. Das Fernsehen betrachtet seine Ökonomie unter dem Konzept nicht des Tauschs, sondern der Wette. Anders
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als der Tausch – auch der von Ungleichem – ist die Wette ein zugleich ökonomisches wie kommunikatives Kalkül. Dabei verändert sich drittens auch die Zeit, die jetzt nicht mehr – wie im immediaten Tausch – als irrelevante Größe oder – wie im aufgeschobenen Tausch – als voraussetzungslose, immer schon verfertigte Form erscheint, sondern vielmehr als Medium, das aller Form vorausgeht und sie ermöglicht, so auch die ökonomischen Formen des Tausches und der Wette.3 Dabei wollen die folgenden Betrachtungen nicht eigentlich theoretischer Natur sein und nicht mit wissenschaftlichen Erwägungen verwechselt werden. Sie verlassen sich vielmehr, wie schon angedeutet, darauf, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern vor allem die Medien selbst es sind, die ihre innere Ökonomie beobachten. Eine solche Selbstbeobachtung der inneren Ökonomie der Medien – oder besser: eines Mediums, des Fernsehens – scheint mir in der Quiz Show vorzuliegen. In der Quiz Show, so die These, begegnet uns ein ökonomisches Wissen, das das Fernsehen über sich selbst hegt. Wenn also im Folgenden beispielsweise von Wissen, von Zeit oder von Geld die Rede ist, dann ist damit niemals gemeint, was das Wissen, was das Geld oder was die Zeit eigentlich sei, sondern immer nur, was das Fernsehen in Form der Quiz Show darunter versteht. Die Quiz Show verknüpft diese Konzepte zu einer ökonomischen Argumentation, um deren Entzifferung es mir hier geht.
2 . D e r P re i s i s t h e i ß Das Grundmodell für den Blick des Fernsehens auf seine innere Ökonomie liefert uns das frühe Fernsehquiz THE PRICE IS RIGHT, in den USA schon in den frühen 50er Jahren entwickelt, bei uns erst Ende der 80er Jahre übernommen als DER PREIS IST HEISS (Marshall 1978: 128f.). Es geht bei diesem Quiz darum, den exakten Preis bestimmter Konsumgegenstände, quantifiziert in Dollar (oder Euro) und Cent, zu erraten. Wer es schafft, so die einfache Urversion, gewinnt den jeweiligen Gegenstand. Nicht das Wissen um die tieferen Gesetze des Tauschs der Ware gegen Geld wird hier abgerufen, sondern allein dasjenige um die Wechselkurse dieses Tausches. Weder die Funktion noch die Gebrauchstüchtigkeit der zu gewinnenden Gegenstände wird abgefragt, erst recht nicht, ob ein Kandidat für einen solchen Gegenstand überhaupt irgendeine Verwendung hat. Es geht für den Kandidaten und für die Zuschauer weder um Gebrauchswerte noch um Nachfrage oder um Funktionalität oder gar die potentielle Bedeutung, die symbolische Funktion, die sie für 3
Zur Unterscheidung von Form und Medium Luhmann (1999: 190–202); vgl. instruktiv Brauns (2002: 9–20).
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einen Kandidaten haben könnten. Mein Wissen um den Geldwert des Objektes ist im Rahmen der Show also genau so viel wert wie eben der Geldwert dieses Objektes es anzeigt. Genauer: Der zu erratende Geldwert, der schließlich den Gegenstand bemisst, bemisst eigentlich gar nicht den Gegenstand, sondern er liefert das geldförmige Äquivalent für mein Wissen um eben diesen Geldwert. Mit anderen Worten, es findet wenigstens potentiell eine Wertsteigerung statt, nämlich die Produktion von Wissen; allerdings eines Wissens, das selbst gegen nichts anderes konvertierbar ist als gegen eben den Wert, den es im Rahmen der Quizsendung zugewiesen bekommt. Wonach aber bemisst sich der zu erratende Preis, welches ist der Code, der die Umsetzung eines Gegenstands mit bestimmten Eigenschaften in einen Preis ohne diese Eigenschaften regelt? Dies erhellt ein genauerer Blick auf die Objekte, um deren Geldwert es geht. Bezeichnend ist hier erstens, dass diese Objekte nahezu immer in Ensembles zusammengefügt sind, etwa: ein ganzes Set von Edelstahltöpfen, dazu noch drei praktische Küchenmesser im Messerblock und ein Rezeptbuch; ein Schraubenschlüsselset nebst schmuckem Aufbewahrungskoffer und zwei Spezialtüchern zum Beseitigen von Ölflecken. Eine deutliche Vorliebe für technische Geräte und Werkzeuge des Haushalts ist dabei unübersehbar. Genauso deutlich ist zweitens die Tendenz zu multifunktionalen Gegenständen: Die Heizdecke, die auch als Warmhaltebeutel, Mantelinnenfutter und Wandbehang in Frage kommt, der Entsafter, der mit wenigen Handgriffen zum Inhaliergerät umgebaut werden kann und auch Sahne schlägt. All diese Eigenschaften allerdings sind völlig sinn- und zwecklos im Zusammenhang einer Sendung, in der weder etwas warmgehalten werden soll noch Sahne zu schlagen ist, anders als etwa in einer Kochsendung. Damit gehorcht die Inszenierung des Konsumobjekts in DER PREIS IST HEISS überraschend genau den Analysen, die der ganz frühe Baudrillard in seinen Schriften »Le système des objets« von 1968, übersetzt 1991, und »La société de consommation« von 1970 (meines Wissens bislang nicht ins Deutsche übersetzt), angefertigt hat. Die Objekte des Alltags, so Baudrillard, etwa Möbel, Kleidungsstücke, Werkzeuge, technische Geräte aller Art, haben schon vor der industriellen Moderne aufgehört, Dinge zu sein. Ihr symbolischer Wert hat ihren gegenständlichen Wert längst aufgelöst. Die Möglichkeiten der industriellen Massenfertigung haben diesen Vorgang zunächst lediglich verstärkt. Die überlieferten Dinge etwa der klassischen Wohnungseinrichtung dienen nach Baudrillard zur Bezeichnung etwa von Kaufkraft und Status und errichten, je für sich wie in der Anordnung in zusammengehörigen Ensembles, eine symbolische Ordnung etwa des Familienlebens (Baudrillard 1991:
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23f.). Nun aber, im Modernisierungsschub der Nachkriegsjahrzehnte, haben sie auch ihren symbolischen Wert, ihren Zeichencharakter, verloren. Sie verweisen weder auf Machtverhältnisse noch auf Traditionen, die ihren Gebrauch und ihre Form begründen. Aber sie bezeichnen auch nicht mehr, wie eigentlich verbindlich für die Moderne, eine Funktion, eine Zweckdienlichkeit. Sie sind vielmehr eingelassen in ein rein differentielles System. Der Gegenstand, so Baudrillard, sei »von seiner Funktion befreit« (ebd.: 25f.). Charakteristisch dafür ist demnach schon die Multifunktionalität etwa moderner Einrichtungsgegenstände. Je nach Zusammenhang kann der Gegenstand Tisch, Kiste, Sitz, Tablett oder Wandschmuck sein oder ganz verschwinden. Die Objekte beziehen sich also nicht mehr auf eine spezielle Funktion, die sie nicht mehr haben; noch auch auf eine verloren gegangene symbolische Ordnung, sondern allein auf andere Dinge, gegen die sie kontrastierbar und austauschbar oder mit denen sie kombinierbar sind. Interessanterweise gilt das ganz besonders für technische Haushaltsgeräte und Gadgets, die nicht nur multifunktional sind, sondern als Scharnierstücke der Verknüpfung von Gegenständen dienen können wie Messerschleifmaschinen mit elektrischem Dosenöffner oder beleuchtete Kochbuchhalter. Das System der Dinge in der Konsumgesellschaft ist für Baudrillard kein kulturelles und kommunikatives System mehr mit symbolischer Dimension, nicht einmal mehr ein funktionales, technisch optimierbares, sondern ein Dispositiv der Vernichtung von Dinglichkeit. Natürlich ist hier noch einmal auf die Sonderbarkeit des Baudrillardschen Symbolbegriffs hinzuweisen. Anders als für andere Autoren ist für ihn eine symbolische Ordnung nicht nur eine Frage von Organisation und Anordnung oder Disposition, sondern sie ist immer referentieller Natur, nämlich eingelassen in die sie begründende Praxis des symbolischen Tausches. Das dingliche Objekt tritt im Tausch als Konkretisierungsform der Praxis auf; zugleich mit jenem wird diese liquidiert. Die Befreiung von Aussage und Funktion, die Ersetzbarkeit eines Dings durch ein anderes, die freie Kombinierbarkeit und die Multifunktionalität betreiben also die Vernichtung der Objekte als materielle Dinge. Sie sind bloß noch Systemeffekte. Genau das aber ist die Voraussetzung für ihre nahtlose Kompatibilität mit der Zirkulation des Geldes. Baudrillard geht auf die Geschichte des Geldes nicht näher ein, aber es ist augenfällig, dass auch das Geld selbst als Zeichensystem in genau dem von Baudrillard beobachteten Zeitraum, also in den 50er und 60er Jahren, sich von seinem Referenten, dem Gold, ablöst und mit der Freigabe der Wechselkurse in ein rein differentielles System übergeht, in dem Geld nur noch mit Geld, nicht aber mehr mit irgend etwas anderem verglichen werden kann (Maier/Wenzel
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2004: 97–104). Auch das Geld wird mithin von seiner Funktion befreit. Es bezeichnet schlicht alles und eben deshalb genau nichts Bestimmtes, Partikulares mehr. Dies ist Teil seiner tiefen Asymmetrie: Es steht für alles, wo das Bestimmte immer nur für etwas steht. Der Klarheit halber sei angefügt, dass Baudrillard damit nicht sagt, Geld bedeute nichts und bewirke nichts. Zu wohlfeil wäre es anzumerken, wer behaupte, Geld bedeute nichts, müsse genug davon haben, als dass Baudrillard in diese Falle hineinliefe. Geld bedeutet und vor allem bewirkt es, aber dies immer nur als Effekt (Benjamin 1991: 471–508). Es ist nicht in Bedeutsamkeit im Sinne des Baudrillardschen Symbolbegriffs begründet und kann sie auch nicht begründen. Aber eben nicht nur das Geld ist ent-semantisiert, sondern ebenso alles, was in Geld umsetzbar ist. Ebenso sind umgekehrt alle Konsumobjekte am Ende lediglich Bezeichnungen der Kaufkraft, derer es zu ihrem Erwerb bedarf, Emanationen ihres Kaufpreises. Die Entsemantisierung ist sogar die Voraussetzung für eine umfassende Ökonomisierung der Dinge. Es gäbe somit keine Ökonomie der Zeichen und Bedeutungen, sondern nur eine der Signifikanten und Simulacren.
3 . D i e D i n g e u nd d i e Ze i t In DER PREIS IST HEISS wird aber die Entdinglichung der Dinge nicht nur einfach vorausgesetzt, indem die immer schon entsemantisierten Objekte des Konsums schlicht gezeigt würden. Sie wird vielmehr in der Sendung selbst noch einmal wiederholt und dabei ganz genau beobachtet. Diese Wiederholung benötigt ein Medium, in dem sie sich vollziehen kann. Dieses Medium, so scheint es, ist die Zeit. Wird Gegenstandsfestigkeit normalerweise durch ein Mindestmaß an Begegnungsfähigkeit, an Wiederbegegnungsfähigkeit, d.h. an Zeitresistenz gebunden, so wird in der Quiz Show das Objekt gerade im Medium der Zeit gleichsam rekonstruiert. Das beginnt in einer ersten, einer positiven Funktion mit einer zeitabhängigen Setzung des Konsumobjekts. Denn der zu erratende Preis, das ist wichtig, gilt nur – jetzt, sogar mitunter nur in dieser Sendung. Er ist an einen Zeitpunkt gebunden, wenigstens an eine Gegenwart. Der Preis selbst ist ein Ereignis, und auch schon das Produkt ist eines, denn es ist eigens für diese Gelegenheit, für diese Show in dieser Form zusammengestellt worden. Man kann vielleicht ähnliche Angebote auch anderswo finden, aber dieses spezielle Edelstahltopfset ist nirgendwo sonst zu erwerben. Nach einer festgelegten Zeit verschwindet es wieder, genau wie das Ereignis (Luhmann 1984: 388ff.). Auch darin schließt die Quiz Show an die Thesen des frühen Baudrillard an. Das Fernsehen zeichne sich, so Baudrillard, besonders da-
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durch aus, dass es die Konsumobjekte, die es zeigt und von denen es handelt, in Ereignisse umwandle (Baudrillard 1986: 194ff.). Baudrillard denkt dabei an das Werbefernsehen, wo diese Umwandlung ständig geschieht. In der Quiz Show aber scheint sie zum eigentlichen Thema zu werden. Objekte erhalten die Qualität von Ereignissen. Ereignisse müssen vergehen, genau das macht ihre Charakteristik aus, sobald sie sich ereignen (Luhmann 1999: 52f.). Die Konsumgesellschaft aber ist, so Baudrillard, darauf angewiesen, die Dinge zum Verschwinden zu bringen, damit neue ihren Platz einnehmen können. Die Eventualisierung der Objekte ist dazu geeignet. Ereignisobjekte haben an sich keinerlei Bedeutung, nicht einmal eine Funktion, denn sie hätten gar keine Zeit, sie zu erfüllen. Ihr einziges Proprium ist ihr Verschwinden. In dieser Auffassung vom Ereignis wirkt – anders als etwa Heidegger oder Deleuze das Ereignis als erfüllten, in einem strengen Sinne ekstatischen Augenblick jenseits aller chronometrischen Gegenwart verstehen würden (Mersch 2002; Heidegger 1957: 27ff.; Zourabichvili 1994: 18ff. et passim) – die Vorstellung, dass das Ereignis als eine Art kleinste temporale Einheit angesehen werden kann, das, selbst völlig eigenschaftslos, allein dadurch gekennzeichnet ist, dass es ein Vorher von einem Nachher unterscheidbar macht. Das Ereignis wäre eine semantikfreie, eine rein differentielle Form der Zeit und mithin erneut dem Geld analog. Dennoch geht diese Verrechnung nicht restlos auf. Das Fernsehen selbst jedenfalls sieht es anders. Denn dem Ereignis gewordenen Objekt begegnet in DER PREIS IST HEISS ein anderes Ereignis, das auf das erste antwortet.4 Wenn nämlich der Kandidat richtig geraten hat und das Edelstahltopfset samt Dreingaben gewonnen hat, dann sehen wir in Nahaufnahme seine Reaktion auf diesen Ausgang, und diese Reaktion besteht regelmäßig in unbändiger Freude, im Ausdruck der großen Empfindung des überraschenden Glücks: Die Hände werden vors Gesicht geschlagen oder ans Gesicht gelegt oder in Triumphgeste nach oben gereckt, Augen und Mund aufgerissen, der Kopf hin- und her gedreht usw.; nicht selten von Kreischen und Schreien begleitet. Und das so doch retournierte, zurück gegebene Ereignis leistet ein Doppeltes: als Körper- und Empfindungsausdruck evoziert es eine biologische und emotionale Ursprünglichkeit; und es koppelt plötzlich den Wert des Geratenen an ein anderes Ausmaß, das der Freude nämlich. Ob die Freude dem bloßen Gewinnen als solchem gilt oder ob sie sogar auf einen Gebrauchswert der Gegenstände zurück verweist (im Sinne: »genau das habe ich aber benötigt und mir so gewünscht«) und die Entkoppelung des Gegenstands aus der 4
Für diesen Hinweis auf die Ästhetik und Funktion der Reaktion erfolgreicher Kandidaten in DER PREIS IST HEISS danke ich Matthias Thiele, Universität Dortmund.
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sozialen Praxis damit wieder aufzuheben verspricht; dies kann hier offen bleiben. Als Ereignis jedenfalls ist das Objekt entdinglicht, aber es kann in andere Ereignisse konvertiert werden und so in einen kommunikativen Horizont Eingang finden (Luhmann 1999: 53f.). Die Eventualisierung ist aber nur eine erste, und zwar im Anschluss an Peirces Theorie der Unterscheidung eine positiv zu nennende Form der Temporalisierung (Peirce 1983: 58ff.). Sie wird vervollständigt durch eine zweite, negative Form, die von der – ebenfalls leeren, formalen – Differenz zwischen Zeitpunkten, also der Bemessung einer Zeitstrecke lebt. Wir haben oben gesehen, wie nach Baudrillard die Massierung von Eigenschaften und Funktionen der Konsumgegenstände paradoxerweise zu ihrer Annihilierung als Dinge führt. Vermutlich werden gerade deswegen all diese Eigenschaften und Funktionen in der Quizsendung so ausführlich beschrieben, fast wie in einer Dauerwerbesendung. Zugleich aber leisten Beschreibungen ein Zweites nach der primären Entdinglichung: sie korrelieren diese irrelevanten und möglicherweise überhaupt fiktiven Eigenschaften dennoch mit dem zu erratenden Preis. Diese Korrelation geschieht über ein den Beschreibungen selbst äußerliches Merkmal, nämlich über die Zeit, die benötigt wird, sie aufzuzählen und zu beschreiben. Mit den Qualitäten der Gegenstände selbst hat diese Zeit nichts zu tun; wohl aber wird sie als Analogon ihrer Anzahl und wohl auch Komplexität verwendet. Ob diese Beschreibungen überhaupt zutreffend sind und der Gegenstand die Eigenschaften tatsächlich hat, bleibt unbedeutend. Es geht allein um ihre Äquivalenz zu der Dauer und allenfalls noch der Komplexität der Beschreibung, die nicht weiter in Frage steht. Das Konsumobjekt wird hier also durch Beschreibung temporalisiert, gleichsam umgelegt in die Zeit oder genauer, in eine Zeitstrecke; und zwar eine leere, rein formale und quantitative Zeit. Auch das weist zurück auf den frühen Baudrillard. In dem aufschlussreichen Kapitel über die Zeit in »La société de consommation« bemüht er sich um den Nachweis, dass die Zeit immer dann in einen semantikfreien Formalismus umschlägt, wenn sie bemessen ist (Baudrillard 1986, 238–252). Er bestimmt die Zeit und in Sonderheit die für das Konsumsystem zentrale Kategorie der Freizeit als gebrauchswertfreies und funktionsfreies Objekt, dessen Funktionsfreiheit allerdings in paradoxer Weise wiederum in eine Warenform, in chronometrische und kalendarische Formatierungen gefasst ist. Schließlich aber gibt es noch eine dritte Zeitdimension zu beachten, und sie bildet die dritte, die relative Form der Temporalisierung; die Unterscheidung in der und mithilfe der Zeit (Peirce 1983: 57, 59). Das ist nämlich die Zeit, die der Kandidat benötigt, um seinen Tipp abzugeben. Nach dieser relativen Zeitmenge – und keineswegs nur nach dem Binärcode richtig/falsch – bemisst sich, ob der Preis schwer oder leicht zu er-
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raten war und auch, das ist wichtig, ob ich, der Zuschauer, es besser, nämlich nicht nur richtiger, sondern auch schneller gemacht hätte. In dieser dritten Dimension verdoppelt sich die Zeit also gleich doppelt: einmal in die Relation zwischen der durch die Spielregeln äußerlich und quantitativ vorgegebenen Zeitmenge einerseits und der vom Kandidaten wirklich benötigten Zeit andererseits; zum zweiten aber in die Relation zwischen diesem Zeitverhältnis und der Zeit des Zuschauers und Beobachters. Dieser doppelt relativen Zeitbestimmung wird in avancierteren Formen des Quiz dann eine besonders wichtige Funktion zukommen.
4 . D i e Ö ko no m i e d e s Q ui z - W i s s e n s Die sichtbare und funktionale Anwesenheit konkreter Gegenstände markiert diesen Grundtypus des Fernsehquiz gleichsam auf der Ebene einer semantischen Nullstufe. Die Frage nach der materiellen Dinglichkeit der Konsumobjekte und damit nach der Referentialität stellt sich jedoch nicht mehr auf der nächsten Ebene der Quiz Show. Sie wird markiert von den klassischen Formaten des Genres, wie das amerikanische Fernsehen sie in den 50er Jahren entwickelt und zu einem frühen Höhepunkt um 1956 geführt hat, STRIKE IT RICH, TWENTY-ONE, THE MILLION DOLLAR QUES5 TION und einige andere (Barnouw 1990: 183ff.). Immer noch geht es hier ums nackte Geld, schon die Titel lassen wenig Zweifel zu – genau wie heute bei WER WIRD MILLIONÄR?. Und immer noch beobachtet das Fernsehen in der Quiz Show seine eigene Ökonomie, aber es stellt diese Beobachtung auf eine andere Basis. Die Konversion des materiellen Konsumobjekts in einen Preis dominiert nicht mehr das ökonomische Wissen des Fernsehens. Selbstverständlich ist das Quiz nach wie vor von Werbung umzingelt; und ein Widerhall der alten Kaufkraftorientierung ragt in die klassische Quiz Show – wie in die Neo-Quiz Show heute – hinein, wenn die Kandidaten rituell darüber befragt werden, was sie mit ihrem Gewinn machen werden.6 Statt um ökonomisches Wissen, die Relation von Ding und Preis, geht es jedoch jetzt um die Ökonomie des Wissens selbst, und zwar des Wissens von der Welt schlechthin, um kulturelles oder symbolisches Kapital und dessen Konversion in ökonomisches Kapital. Es geht um den symbolischen Austausch und den ökonomischen Tausch und darum, ob deren Verhältnis wiederum symbolisch oder ökonomisch modellierbar
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Weiterhin zu DER PREIS IST HEISS: Pohle (1993: 183f.); zum Genre der Quiz Show allgemein vgl. Hallenberger/Kaps (1991). Dazu sehr instruktiv: Thiele (2002: 70).
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ist. Wir befinden uns also im Herzen des Problems. Was meint nun das Fernsehen dazu? Zunächst folgt es auch hier den Erfordernissen der Entsemantisierung. Dieser Vorgang ist oft genug und in kritischer Perspektive beschrieben worden.7 Das Wissen wird in objektartige Verdichtungen formalisiert, die dann, genau wie Konsumobjekte, ohne jeden Zusammenhang mit irgendeiner Art von Anwendung, Bedeutung oder Herkunft des Wissens auf einer abstrakten und rein differentiellen Wertskala angeordnet werden. Es wird zu diesem Zweck zunächst einmal vertikal in Bezirke eingeteilt – Geschichte, Sport, Politik, Technik, Entertainment, Wissenschaft, Kultur usw.; dann aber auch horizontal in Schwierigkeitsgrade einzelner Fragen gegliedert. Dieses trivialkulturelle Verfahren bezieht sich im Übrigen besonders auf die Trivialkultur selbst, etwa auf das Wissen von Filmen im Spiegel der Programmguides; und es ist auch kennzeichnend, dass die Quiz Show eine Unterscheidung in triviales und nichttriviales Wissen nicht kennt. Schließlich und vor allem aber wird das Wissen in das Schema von Frage und Antwort gekleidet, und zwar so, dass es – völlig lebensfremd und anders auch als etwa in der Talk Show – auf eine Frage eine richtige Antwort geben kann, überhaupt eine und nur eine. War die Einkleidung des Wissens in Fragen und Antworten eigentlich ein bewährtes Erkenntnismittel etwa in den platonischen Dialogen, so kennzeichnet die Quiz-Frage ihre Eindeutigkeit und daneben ihre Abgeschlossenheit: Anders als bei Platon gibt es keine aufeinander aufbauende Abfolge von Fragen, vielmehr bringt jede Frage ein Thema vollständig zum Abschluss. Das Wissen wird in einfache und eindeutige, vor allem kurze, oft einwortige Antworten auf präzise Fragen gefasst; es wird abfragbar gemacht (Postman 1985: 97f., 135ff.). Auch das Wissen wird damit, wie nach Baudrillard die Objekte des Werbefernsehens, zeitpunktförmig, ereignisförmig. Es wird der vorhin so genannten positiven Temporalisierung unterzogen, der selbst eigenschaftslosen Unterscheidung des Vorher vom Nachher, vor der Antwort und nach der Antwort. Einmal gestellt, verschwindet die Frage im Übrigen auch und kann nie mehr auftauchen. Zugleich wird auch die negative Temporalisierung eingesetzt, denn für die Beantwortung der Frage steht eine bestimmte und – ökonomisch wichtig – knappe Zeitmenge zur Verfügung. Die Zeitbausteine der einzelnen Spiel- und Schwierigkeitsphasen werden dann im Rahmen einer progressiven Dramaturgie zu einem formalen Sendeablauf zusammengesetzt, der mit dem Wissen oder gar dem Wissenserwerb nichts zu tun hat. So zweifach verzeitlicht, kann das Wissen dann direkt, gleichsam schamlos und vor aller Augen, in Geldwerte umgesetzt werden. Dem dient schließlich auch seine rein differen7
Besonders wirksam etwa durch Postman (1985).
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tielle Bestimmung in Wissensbezirke und Schwierigkeitsgrade. Dabei wird ein Wissen produziert, das vollkommen nutzlos und unanwendbar ist, das völlig selbstreferentiell nur davon lebt, dass es in einer Quiz Show abgefragt werden könnte. Bis hierher, so ist zu konstatieren, hat Baudrillard ganz offensichtlich Recht. Hintausch und Rücktausch können sich nicht zu einem Kreislauf ergänzen, weil, gleichsam dem Gesetz der Entropie folgend, die aufgegebenen Gegenstands- und Zeichenbedeutungen nicht wieder hergestellt werden und auch nicht käuflich erworben werden können.
5 . V o m Ta us ch z u r W e t t e Allerdings und entscheidend ist hier jedoch die dritte, die relative Dimension der Temporalisierung zu beachten. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass das rein differentielle Gebilde der Wissensökonomie einer Relationierung unterzogen wird. Die Differenzen wandeln sich zu Relationen; und die spezifische Form, die das Fernsehen dabei produziert, ist die ökonomische und zugleich kommunikative Form der Wette. Die Fernsehgeschichte zeigt, wie dies funktioniert. In dem großen Quiz-Skandal von 1956 wurde öffentlich, dass in der Quiz Show TWENTY-ONE Kandidaten systematisch präpariert worden waren. Die Sieger standen so von vornherein fest, der angebliche Tausch, Wissen gegen Geld, war nur eine Täuschung. Juristisch freilich lag hier nichts vor, denn niemand hatte einen materiellen Schaden erlitten. Skandalisiert fühlten sich die Zuschauer jedoch davon, dass die präparierten Kandidaten keineswegs prompt und sicher auf alle Fragen geantwortet hatten, sondern sehr wohl längere Denkpausen, Zögerlichkeiten, die äußeren Zeichen der Nervosität wie Schweißperlen und trockene Kehlen gezeigt, d.h. simuliert hatten, nur um am Ende doch mit der richtigen, der auswendig hergesagten Antwort zu kommen (Barnouw 1990: 243–248). Der erfolgreichste dieser Kandidaten, der Literaturwissenschaftler Charles van Doren, der später Professor für Wissensgeschichte in Chicago wurde (van Doren 2000)8, verstand es wie kein anderer, Verzögerungen einzubauen und stets für einen denkbar knappen, aber erfolgreichen Spielausgang zu sorgen. Diese Diskrepanz zwischen seinem – im Rahmen des Quiz – absoluten Wissen und dessen höchst relativer, bisweilen sogar fehlerhafter Präsentation zeigte, dass es hier gar nicht so sehr um »richtig« oder »falsch« ging, sondern um etwas ganz anderes, um einen temporalen Effekt ganz anderer Art und von weitreichender Konsequenz. 8
Der Autorenhinweis mindestens des deutschen Verlages enthält keine Angaben zu van Dorens früher Karriere als Quiz-Kandidat.
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Die Unsicherheit des Ausgangs und nicht die Richtigkeit der Antwort ist bei der Quiz Show das entscheidende Kriterium, das bei Aufdeckung des Skandals von 1956 zerstört wurde. Es darf offensichtlich keinen automatischen, determinierten Zusammenhang zwischen Frage und Antwort geben. Das Neo-Quiz der 90er Jahre hat deshalb dafür gesorgt, dass die automatischen Antworten, die in den niedrigen Gewinnrängen abgefragt werden, als Scherzfragen angelegt sind, bei denen es nicht um richtig und falsch, sondern um den guten Witz geht. Und es sorgt auch dafür, dass keineswegs die klügsten, sondern die unterhaltsamsten Kandidaten am weitesten kommen. Inszeniert wird die Beantwortung der Frage dabei als Wette. So konnten in den 50er Jahren die Kandidaten oft die Schwierigkeitsgrade und Sachgebiete der Fragen selbst wählen, und sie taten dies natürlich in Abhängigkeit von Spielstand und Gegner, also im Rahmen relationierender Erwägungen. Sie wetteten auf ihre eigene Fähigkeit, eine Frage zu beantworten. Heute bemühen sich die Quizmaster, dieses Moment der Unsicherheit durch Ratschläge und Kommentare aufrechtzuerhalten, als Anwälte des Teufels (denn selbstverständlich ist die Urform der Wette immer die Wette mit dem Teufel). Das Hinausschieben der Antwort spielt dabei eine entscheidende Rolle, die die Ökonomie der Wette mit der Dramaturgie der Spannung kurzschließt; »verbales Durchspielen der Möglichkeiten, Infragestellung der gegebenen Antwort und Rückversicherung über die vom Kandidaten gegebene Antwort« zählt Thiele zu den Techniken Günter Jauchs im Millionärsquiz (Thiele 2002: 70; Parr 2001: 13–38; Thiele 2001: 39–101); bei Jörg Pilawa wird sogar ein eigens eingebautes Spielelement genutzt, in dem die Vorbewertung und gegebenenfalls die Korrektur der Antwort eines Kandidaten durch einen zweiten Mitspieler zum eigentlich spannenden Augenblick gemacht und die Wette damit außerdem sogar verdoppelt wird. Wichtig ist in allen Fällen, dass die Unsicherheit eine von den Kandidaten letztlich selbst geschaffene ist, also deren Risiko, nicht eine äußere Gefahr; und damit kompatibel bleibt mit den Grundlagen der massenmedialen Unterhaltungsindustrie, nämlich dem Code Information/Nichtinformation. Auch die Beobachtung dieser Wette durch die Zuschauer wird wiederum in die Form der Wette gekleidet.9 Denn nicht nur die Kandidaten sollen Antworten geben, die aus einer streng vorstrukturierten Selektion hervorgehen, sondern auch die Zuschauer können und sollen dies tun, 9
Eben deshalb unterscheidet sich der hier vorgeschlagene Ansatz, ein Kalkül der Wette anzunehmen, vom Vorschlag Matthias Thieles, der vom Risiko als Spielprinzip des Neo-Quiz ausgeht: Die Zuschauer können wetten, aber sie müssen dabei nichts einsetzen, laufen also ihrerseits kein Risiko. Die Wette formalisiert nicht nur Risiken, sondern sie übersteigt und überformt sie, kommentiert und bewertet sie. Sie ist das weiter gehende Prinzip; vgl. dazu auch Niklas Luhmanns Ausführungen über Information und Risiko als Beschreibungsformeln, in: Luhmann (1999: 1088ff.).
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und zwar auf zwei Ebenen. Einmal beantworten sie je für sich ebenfalls die gestellte Frage – »Hätten Sie’s gewusst« –, zum anderen aber fertigen sie eine Vorhersage an über die wahrscheinliche Antwort des Kandidaten. Sie wetten mit, und dabei haben sie Vermittlungsinstanzen im Saalpublikum und im Moderator. Vermutlich übernimmt das Publikum sogar selbst die Rolle des Teufels, dessen Anwalt der Moderator ist. Dieses Moment der Publikumswette wird heute durch das Ritual der Werbeeinblendung zwischen Kandidatenantwort und Auflösung noch einmal erheblich verstärkt, denn diese Unterbrechung gibt es nur für die Zuschauer, nicht für die Kandidaten. Genau daraus, aus dieser doppelten Wahrscheinlichkeit oder doppelten Erwartung, resultiert die Spannung, um derentwillen die Zuschauer die Quiz Show schließlich betrachten. Es geht dabei also keineswegs um schlicht leere Mengen eigenschaftsloser Zeit, sondern diese Zeit ist durch doppelte Unsicherheiten und ihre Relationierungen geprägt. Die Wette benötigt ein Ereignis, auf dessen Ausgang gewettet werden kann, und sie benötigt einen bemessenen Zeitraum, innerhalb dessen sie gilt. Aus diesem Grund ist das zeitlich festgelegte Ende jeder Quiz Show-Folge heute rekursiv Teil der Sendung selbst geworden, durch den Sirenenton und eben dadurch, dass die Raterunde unterbrochen werden muss durch das rein äußerlich-formal verhängte Ende, das die Dramaturgie des Fragespiels eigentlich durchkreuzt. Ebenso ist das Element der Zeitknappheit etwa bei WER WIRD MILLIONÄR durch die Schnellraterunde zu Beginn thematisiert. Die Wette benötigt aber insbesondere, das wissen wir seit Pascal (1978: 120–126) und sind darin bestärkt worden durch die moderne Informationstheorie (Shannon/Weaver 1949), das Motiv der Vorhersage. Die Vorhersage geschieht als Selektion aus einem Repertoire von Möglichkeiten. Es ist deshalb absolut folgerichtig, dass die Beantwortung der Quizfragen heute im Verfahren der Selektion geschieht und dies auch durch die Visualisierung unterstützt wird: eine Antwort aus drei oder vier oder sechs möglichen vorgegebenen Antworten ist die richtige und wird, wie Günter Jauch sagt, »eingeloggt«. Möglichkeit, Virtualität, Aktualität und Kontingenz der Antwort werden im Beantwortungsverfahren nacheinander als Phasen der Zeitwerdung abgetragen.10 Mögliche Zukunft wandelt sich dabei in wirkliche Gegenwart. Diese Phasen markieren dabei exakt die Dramaturgie der Wette. Die Quiz Show generiert also zwar entsemantisierte Wissensobjekte der beschriebenen Art und leere Zeitobjekte wie Ereignisse und bemessene Zeitstücke, aber sie benutzt sie in einem dritten Schritt, um sie letztlich in 10 Grundlegend zur Genese der Zeit aus dem Verhältnis von Virtualität und Aktualität: Deleuze (1991: 108ff.); zur Verschränkung von Zeit und Modalstruktur im Hinblick auf das Fernsehen vgl. detailliert: Engell (1989: 142–147); siehe auch Becker (1957).
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Vorhersage-, Wahrscheinlichkeits- und Erwartungswerte, in virtuelle Objekte also, umzuformen.
6 . V o n de r F o r m d e r Z e i t z u m M e di u m de r Ze i t l i ch k e i t Mir scheint diese dritte Dimension der Temporalisierung wichtig, denn sie wird in der Ökonomie des Medialen oft übersehen. Sie bringt ein wenn vielleicht auch nicht qualitatives, so doch doppelt relationales – ich könnte auch sagen: doppelt kontingentes, d.h. zwei Unsicherheiten aneinander koppelndes – Moment in den Verzeitlichungs- und Ökonomisierungsvorgang. Doppelte Relationierung jedoch, im Sinne der Semiotik: »Drittheit« (Peirce 1983: 55, 57, 61ff.), oder doppelte Kontingenz, im Sinne der Systemtheorie (Luhmann 1984: 148–190), sind jeweils entscheidende Kennzeichen kommunikativer Prozesse. In der Quiz Show wird nicht einfach, wie mit Baudrillard zu vermuten wäre, totes, ereignisförmiges Wissen des Kandidaten gegen totes Geld ausgetauscht und dieser Austauschvorgang wiederum in seiner bemessenen Dauer als tote, rein quantitative Zeit der Sendung gegen das Geld, das Sender und Werbeindustrie damit verdienen. Eigenschaftsloses Ereignis und leere Dauer werden vielmehr im Motiv der Wette auf notwendig doppelte Weise relationiert. Diese Relationierung verläuft über verschiedene Zwischenstufen von der bloßen Möglichkeit über die Virtualität, die Aktualität und deren Kontingenz, also der fortwirkenden Mitpräsenz des auch Möglichen, aber nicht Aktualisierten, bis hin zur Wirklichkeit. Sie ist schließlich nichts anderes als die Zeit selbst, die beständige Umwandlung nämlich von Möglichkeit in Wirklichkeit und, innerhalb des Wirklichen, von Virtualität in kontingente, d.h. stets auch anders möglich gewesene Aktualität (Deleuze 1991: 108ff.; Rudolph 1981: 372–397). Die Wette produziert diese Zeit und ist zugleich der Ort und die Struktur, in dem und in der Ökonomie und Kommunikation zusammengeschlossen werden. Der Ansatz Baudrillards und im Übrigen sehr vieler anderer ist, Kommunikation und Ökonomie über das Konzept von Tausch und Austausch zu modellieren, in linearen, zirkulären oder auch doppelt zirkulären, aber immer schon gerichteten Beziehungen zu modellieren. Dagegen meint die Quiz Show, dass Tausch und Austausch nur Basisprozesse sind, deren Ausgang kontingent ist, anders möglich gewesen wäre (oder zum Schein mit Kontingenz aufgeladen wird). Begreift man mit der Quiz Show Kommunikation als Selektion und doppelte Selektion, dann erscheint am Horizont das zutiefst ökonomische Motiv der Wette, das den Antagonismus von Tausch und Austausch übersteigt. Vor allem aber ver200
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halten sich die beiden Modelle, das des Tauschs und das der Wette, verschieden zur Zeit. Dass der Tausch die Zeit entsemantisiert und als symbolischen Mechanismus ausschaltet, haben wir mit Baudrillard gesehen, und im Modell des Austausches kommt die Zeit überhaupt nicht mehr vor, sie gerade ist es, die in der Utopie der Unmittelbarkeit und der Reziprozität stillgestellt wird. Dagegen ist dem Konzept der Wette ein Zeitigungsgeschehen, eine Oszillation zwischen wirklicher Gegenwart und möglicher Zukunft, eingeschrieben, ohne die es nicht denkbar und auch nicht funktionstüchtig ist (von Müller 1983; Böhme 1974; Günther 1980, 95–135). Von ihr aus gesehen ist die lineare, gerichtete, leere Zeit nicht mehr als eine mögliche Form neben anderen. Im Bezug auf die Zeit zeigt sich auch die Übergangsbeziehung, die den Umschlag von einer Tauschbeziehung in ein Kalkül der Wette möglich macht. Denn der Tausch kennt nicht nur die für Baudrillard unabdingbare immediate Austauschbeziehung, sondern sehr wohl auch das wichtige Moment des Aufschubs. Hier liegt wiederum ein ungemein wichtiger Faktor in der Beziehung von Ökonomie und kommunikativem Sinn vor, von Wissens- und Wirtschaftssystemen. Von der Ökonomie des Aufschubs lebt nämlich, wie gesehen, ganz zentral das ästhetische Phänomen der Spannung, der aufgeschobenen Beseitigung selbst geschaffener Unsicherheit einer (fiktionalen) Nachricht durch sie selbst. Ökonomisch ist der aufgeschobene Tausch ebenfalls hoch produktiv, er begründet ökonomische Kernfiguren wie den berühmten Schweinezyklus (Hanau 1928; Haas/Ezekiel 1926) oder den Kredit (Baudrillard 1991: 194– 202) und legt damit den Grund für die Bewirtschaftung der Zeit überhaupt. Mit dem Aufschub des Tauschs oder der Rückgabe allein ist allerdings noch nicht der Übergang zur Ökonomie der Wette vollzogen. Das reine Zeitquantum, das sich zwischen die Pole der Tauschbeziehung schiebt und sie dadurch vorübergehend asymmetrisiert, reicht dafür nicht aus. Erst mit der modalen Verschiebung weg von der Notwendigkeit, mit der der Rücktausch erfolgen wird, hin zur bloßen Möglichkeit des Rücktauschs ist dann auch das Moment des Risikos und der Erwartungssicherheit verbunden, das schließlich zur Wette hinüberleitet. Die Wette auf den Ausgang des Tauschs wird möglich, sobald der Tausch nicht mehr sofort als erfolgreich oder nicht erfolgreich einzuschätzen ist; und sie wird dann auch ihrerseits notwendig, um aussichtsreiche Beziehungen von aussichtsarmen zu unterscheiden. Die Wette löst sich so aus dem Tausch heraus und spannt dann eine Metaebene zum Tausch auf. Die Zinsfestsetzung auf einen Kredit ist letztlich eine Bemessung der Wahrscheinlichkeit, mit der die Rückzahlung erfolgt. Auch andere Spekulationsformen, etwa die Versicherung,
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werden lesbar als Wette auf den Ausgang eines aufgeschobenen Tausches (Vogl 2002: 165–169); oder sogar auf die Geschwindigkeit, mit der der aufgeschobene Tausch durch Rückgabe abgeschlossen werden kann. Gerade die beschriebene Dramaturgie der Quiz-Sendung legt davon Zeugnis ab; mit der Pointe, dass es nicht oder nur anfangs um die schnellste Antwort geht, später aber um die richtig »getimete«, verzögerte Auflösung. Aufschub und Spannung verschieben so die Ökonomie der Quiz Show vom Tausch hin zur Wette, von einer primären zu einer sekundären Ökonomie. Hier ist entscheidend, dass sich dadurch der Charakter der Zeit selbst ändert. Im Wandel vom bloßen Quantum, von der Verspätung der Rückgabe, hin zur Unsicherheit, genauer zur Bewertung des Risikos oder des relativen Möglichkeitsgehalts der Rückgabe als mehr oder weniger wahrscheinlich oder sicher, wird die Zeit nämlich nicht mehr als Quantum, sondern als Inbegriff der Zukünftigkeit behandelt (Heidegger 1979: 323–331). Als Zukunft umreißt die Zeit den Möglichkeitshorizont; als verfließende Zeit leistet sie die ständige Modulation von Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit und sogar Sicherheit, nämlich Wirklichkeit. Genau das aber, die Überführung von Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit, ist eine der allgemeinsten Bestimmungen der Funktion von Medien (Luhmann 1981: 25–34). Die Zeit, die im instantanen Tausch Baudrillards gerade ausgeschaltet werden soll, wandelt sich also beim Übergang vom aufgeschobenen Tausch zur Wette von einem bloß neutralen und vorhandenen Quantum zu einer generierenden Größe, zu einem Medium.
7 . S c hl u s s m i t M i l l i o n ä re n Baudrillard hätte also – im Bezug auf die Wissensökonomie der Quiz Show, um die allein es ja hier geht – Recht, soweit er innerhalb seines Paradigmas von Tausch und Austausch verbleibt. Dennoch behielte er nicht Recht, weil das Fernsehen selbst seine innere Ökonomie nicht nach diesem Schema, sondern nach dem Modell der Relationierung, der Erwartung und der Selektion entwirft, die es zum Konzept der Wette mit ihrer Doppelstruktur, in der zwei Unsicherheiten miteinander verschränkt werden, verdichtet. Das verhindert möglicherweise aber wiederum nicht, dass Baudrillard ganz am Ende doch noch Recht bekommen könnte. Während die kritisch-aufklärerische Medienpädagogik immer noch die Entqualifizierung des Wissens beklagt, seine Ökonomisierung anprangert und Gegenmaßnahmen einfordert, ist Baudrillard schon früh zu einer völlig anderen Überlegung gelangt. Aufklärung und Kritik, Streik, Boykott, Protest und Revolte, die klassischen Kampfmittel, so der Baudril-
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lard der siebziger Jahre, haben in einer Situation der Referenzlosigkeit ihren Sinn völlig verloren. Im Gegenteil, sie unterstützen nur die Simulation, indem sie die Behauptung einlegen, es gebe überhaupt noch etwas, worum man kämpfen könne. In den damals aktuellen Auseinandersetzungen um die Errichtung des Centre Pompidou in Paris empfiehlt Baudrillard deshalb eine andere Strategie (Baudrillard 1978a: 59–82). Nicht boykottieren, sondern hingehen; das neu errichtete Gebäude besuchen, so massenhaft besuchen, dass es an seinem eigenen Erfolg zu Grunde geht: Lasst das Beaubourg zusammenklappen. In einer ähnlichen Weise hatte Baudrillard aber schon in »La société de consommation« zur Überbietung geraten, zum Einsatz der Mittel des Systems nicht gegen, sondern für das System, nämlich zur »consommation de la consommation«. Für die Quiz Show könnte das heißen: Schaut sie in Massen an, lasst über den Einschaltquotenerfolg noch viele, viele Quiz Shows entstehen. Und dann geht hin, lernt die Regeln der Wette, holt Euch das Geld und werdet alle, alle Millionäre. Schade nur, dass dies genau das falsche Versprechen ist.
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KREISEN, FÜHLEN, UNTERBRECHEN E I N E A N T I /Z I R K U L A T I O N S -K A M P A G N E ULRIKE BERGERMANN
Ein kapitaler Widerspruch. [...] Ein Waren-Ding, das bringt einen so aus dem Gleis... (Derrida 2004a: 209, 205) I saw you standing at the gates When Marlon Brando passed away You had that look upon your face Advertising space (Robbie Williams 2005) Die Ware liebt das Geld, aber ›the course of love never does run smooth‹ (Marx [1864] 1988: 122)
1 . Z i r ku l a t i o n | H a l t Geld lässt Waren zirkulieren, es macht Arbeitskraft und Dinge vergleichbar, es ist das berühmte leere Äquivalent, das jeweils in die eine oder andere Richtung konkretisiert werden kann. Geld zirkuliert selbst, es hat eine Geschichte, es repräsentierte lange Zeit einen eigenen Wert (der Goldtaler) oder verwies auf einen solchen (der Papierschein auf die Goldreserven der Bundesbank). »Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt«: Marx hat dem Kapitalismus die endlose Zirkulation des Geldes als Selbstzweck attestiert und den Schatzbildner vom Kapitalisten unterschieden (Marx [1864] 1988: 168 u. 147ff.). Reißt dieser Kreislauf alles mit? Wenn Geld nicht das allgemeine Äquivalent wäre, gäbe es dann einen ›guten Tausch‹? Derrida hat bei Marx eine implizite Ursprünglichkeitsvorstellung gefunden, eine Art Naturzustand, eine Zeit, 207
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in der das Ding nicht immer schon als warenförmiges wahrgenommen wurde – die es aber laut Derrida ebensowenig gegeben haben kann, wie die Geschichte vom Geldstück zum PayPal eine Verfallsgeschichte wäre: Denn der Kredit, die Konvention, die symbolische Erfahrung der öffentlichen Glaubwürdigkeit haben jegliches Geld, alles Monetäre von Anfang an affiziert (so dass weiter von Verlust und Trauerarbeit die Rede ist – Elemente, die eine neue kapitalismuskritische Kampagne abstreifen will). Im Computerzeitalter wird das Privateigentum an Produktionsmitteln immer sinnloser und das Aufrechterhalten von ›Zirkulation‹ immer deutlicher Ziel ökonomischen Handelns. Jeremy Rifkins Begriff des »Kulturkapitalismus« dreht das Verhältnis von Objekt und Symbol um; nicht mehr das Bild repräsentiere das Produkt, sondern das Produkt das Bild: Der Apfel repräsentiert den gesunden Lebensstil. Hier, so argumentiert Slavoj Žižek, greife die Kritik am Warenfetischismus, auch an der Fetischfunktion von Logos zu kurz. Denn wenn alles zur »Erfahrungsware« wird, entmaterialisiere sich der Fetischismus in eine immaterielle, virtuelle Entität (Žižek 2002: 122). Dem korrespondiert das »elektrische Geld«, aber auch ohne dieses wird klar: Politische Ökonomie, Theorien der Zirkulation von Zeichen/Werten und ihren Machtstrukturen verorten das ›leere Äquivalent‹ inmitten neuer Kontexte, inmitten von Ökonomien, die nicht mehr nur oikos und monedas betreffen, sondern Tauschverhältnisse überhaupt (vgl. Winkler 2004), und somit weniger die Dinge als die Bewegungen. Wenn Zirkulation das ist, was den Kapitalismus am Laufen hält, und jegliches Ding und jede Gegenposition in diese Bewegung hineingezogen wird, stellt sich die Frage, wie es um das eigene Mitzirkulieren bestellt ist und ob das Anhalten, Aussteigen, Zerschlagen das Einzige ist, was bleibt. Slavoj Žižek hat für eine Diskurs- und Aktionsunterbrechung plädiert. »Die große Gefahr heute ist nicht Passivität, sondern Pseudoaktivität, der Drang, ›aktiv zu sein‹, ›teilzunehmen‹, die Nichtigkeit dessen, was geschieht, zu verschleiern. Die Leute intervenieren die ganze Zeit, sie ›tun etwas‹, die Akademiker nehmen an sinnlosen ›Diskussionen‹ teil usw., während das wahrhaft Schwierige der Schritt zurück, der Rückzug wäre. Die Mächtigen ziehen eine ›kritische‹ Teilnahme, einen Dialog, dem Schweigen oft sogar vor – nur um uns in einen ›Dialog‹ hineinzuziehen, damit sie sicher sein können, dass unsere unheilvolle Passivität gebrochen ist. In einer solchen Konstellation besteht der erste kritische (›aggressive‹, gewaltsame) Schritt im Rückzug in die Passivität, in der Weigerung, teilzunehmen – dies ist der notwendige erste Schritt, der gleichsam den Boden für wahre Aktivität bereitet, für einen Akt, der die Koordinaten der Konstellation wirklich ändert.« (Žižek 2005: 8f.)
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Verdienst dieser Passage ist zweifellos, auch Kritik als Teil der Zirkulation zu beschreiben (vgl. Bergermann 2006). Erstaunlich ist die Rede vom ›wir‹, von »uns«, gemeinschaftsstiftend, manifestartig, schon weil sich Žižek nicht an sein eigenes Passivitätsgebot hält und seinen überbordenden Schreibfluss weiterführt, in dem nicht nur er weiß, was »die Linke« ist, »wir« gegen »die Mächtigen«, sondern wo er von »wahrer Aktivität« spricht, wohl wissend, dass die akademische Linke, gegen die er hier polemisiert (jeder Denker des Widerstands, auch Deleuze, Foucault oder Guattari, bezeichne keine randständige Position, sondern »die Ideologie der neuen herrschenden Klasse«, Žižek 2005: 141), sofort gegen die Ontologisierung protestiert. Betrachten ›wir‹ diesen Beitrag als einen performativen Akt, der (wie bereits die vorangehenden Dreizehn Versuche über Lenin) einen Zirkel aus Suhrkamp-LeserInnen, akademischen Seminaren, Kulturwissenschaftlichen Instituten, Gewerkschaften und anderen aus der Bahn des Mitdrehens schubsen will. Alexander García Düttmann hat in Blow Job. Kritik und Institution dafür plädiert, sowohl die traditionelle Kritik als auch das ›paktierende Denken und Handeln‹ auszusetzen. »Das einzige Verhalten, das dort, wo Kritik versagen muß, dem paktierenden Denken und der paktierenden Kunst zu begegnen vermag, ist das eines Aktivismus, den keine Rechtfertigung vorbereitet und nachträglich auffängt, dessen Bewegung also in einer unumkehrbaren Richtung verläuft: rück-sichtslos.« (Düttmann 2004: 205)
Das läuft auf eine Unterbrechung hinaus, die ein anarchisches Moment fordert, um der Handlung des argumentativen Kritisierens in ihrer Verflochtenheit und Begrenztheit zu entkommen: ein ›aktivistischer Schlag‹, eine ›Blendung‹, etwas nicht Abgeleitetes, auf der Suche nach einer Widerständigkeit auch gegen Rechtfertigungslogiken. Dieser ›Schlag‹ wird tendenziell in seiner Unkontrolliertheit wieder verherrlicht (und gegendered: nur ein Alexander zerschlägt den Gordischen Knoten; Žižek dagegen deutet die latent feminisierte Passivität sofort zur aggressiven um); in jedem Fall entwirft er einen Ausstieg, über den danach allerdings nichts mehr zu sagen wäre. Schwierig, damit Kritik aufrechtzuerhalten, sie wieder und wieder zu äußern, politisch wirksam zu werden, Verweigerung mit Aktion zu verbinden (und diese tatsächlich rechtfertigen zu können, um mehr als einmal zu agieren: eine Strategie muss über den Moment hinausdenken). »Ein Widerspruch ist der performative Widerspruch also, weil er die Spannung zwischen der Blindheit der Handlung des Argumentierens und dem Anspruch auf Geltung und Rechtfertigung, den jedes Argument anmelden muß, beim Namen ruft.« Eine solche »augen-
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blickliche Eingebung« könne man von der Handlung nicht trennen – diese bleibt »widerspenstig gegen jede Rechtfertigung und jede Kritik« (Düttmann 2005: 208). Žižek wie Düttmann denken über Handlungen nach; Zirkulieren und Anhalten sind hier eine Frage der Einstellungen, der Theorien; beide entwerfen ganz bewusst keine Performativa, keine Aktionen, keine neuen Dingwelten oder Tauschäquivalente, um an den besprochenen Kreisläufen etwas zu ändern. 2005 startete dagegen ein kapitalismuskritisches Projekt den Verkauf eines no-brand-sneakers mit dem Anspruch, eine andere Zirkulation von Produktion, Ware, Geld usw. anzugehen. Die Adbusters praktizieren ihre Konsumkritik nun selbst mittels einer Art grassroot capitalism (Diebenow 2005: o. S.): mit dem »Blackspotsneaker«. Ihr Kontext ist das culture jamming.
2 . Z i r ku l i e re n , u m z u u nt e r b re c he n ? Obwohl Jean Baudrillard Enzensbergers Forderung, Medien zu Sendern für alle zu machen, als illusionär bezeichnete, weil sie die Sender-Empfänger-Strukturen nur vervielfältige, anstatt sie zu zerstören,1 sah er doch
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eine Möglichkeit, die Macht der Sender (derjenigen, die die Macht haben, die Inhalte der Medien zu bestimmen) durch einen neuen Code zu ändern: in einer neuen »Ver-Wendung« von Werbung durch Graffiti im
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»Es ist also eine strategische Illusion, an eine kritische Ver-Wendung der Medien zu glauben. Eine derartige Rede ist heute nur durch die Destruktion der Medien als solcher möglich, durch ihre Dekonstruktion als System der NichtKommunikation. Dies schließt nicht Liquidation ein... [...] Reziprozität wird erst möglich durch die Destruktion des Mediums als solchem.« (Baudrillard [1972] 1999: 290).
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Mai 1968.2 Nieder mit der Regierung (Abb. 1): die klassische »Gegenöffentlichkeit« folgt der Logik der Unterbrechung und Umwälzung. Culture jammers (in Deutschland auch »Kommunikationsguerilla«) benutzen die medialen Flächen des Kritisierten selbst, etwa durch Sprayen auf Plakatwände oder auch mit der Nachahmung des Designs für eigene Aussagen; sie steigen in die bestehende Zirkulation der Bilder ein (Abb. 2 und 3).
2.1 Der Blackspotsneaker: Das No-Logo-Logo Um nicht nur das Design der kritisierten Konsumgesellschaft zu benutzen, führten die adbuster ein eigenes Zeichen ein: den Blackspot. Zunächst wurde er zum billboard jamming benutzt, um Kommentare auf bestimmten anderen Labeln zu hinterlassen. (Die culture jammers welt-
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weit sind aufgerufen, ihre Aktionen zu fotografieren und auf die Website zu stellen; Abb. 4/5). Und dann verselbständigte dieser Blackspot sich zum eigenen Logo auf Plakaten, in Anzeigen oder bildet ein Hybrid mit 2
»Sie war eine Überschreitung, nicht weil sie einen anderen Inhalt, einen anderen Diskurs einsetzte, sondern weil sie Antwort gab, dort, an Ort und Stelle, und die Grundregel der Nicht-Antwort aller Medien brach. Hat sie einen Code einem anderen Code entgegengesetzt? Ich denke nicht: sie hat ganz einfach mit dem Code gebrochen. Sie ließ sich nicht als mit dem Diskurs der Werbung konkurrierender Text dechiffrieren, sondern wurde als Überschreitung sichtbar.« (Baudrillard [1972] 1999: 297).
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dem Kritisierten, wo der Spot mit dem Swoosh, dem Nike-Häkchen, verschmilzt (Abb. 6–8).3 Vom Kommentarzeichen ist der Fleck zum eigenen Label avanciert, er ist zum Paradox eines Anti-Logo-Logos geworden. Die kanadisch-US-amerikanischen Adbuster gründeten eine »Anti-Corporation«, um ihn kapitalismuskritisch zu vermarkten (Abb. 9–12).4 Wer nicht kaufen will, auch nicht ›korrekt kaufen‹ (schließlich ist der »Buy Nothing Day« eine der größten jährlichen Adbuster-Kampagnen), kann dennoch Teil der Bewegung sein und sich einen Punkt auf einen alten Turnschuh malen. Die Ästhetik der Kampagne im Web und in Printvarianten zitiert Handarbeit, gestempelte Buchstaben auf rauem Papier,
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Der Text der Guardian-Anzeige (Abb. 7) demonstriert die Notwendigkeit eines reaktionsschnellen Mediums: Im November 2004 trat der in der Anzeige angesprochene CEO Phil Knight von seinem Chefposten zurück. Das Programm: »For years the old pattern went on. People were jaded by megacorporate control of so much of their lives, but couldn’t see how they might take some power back. We decided to launch a counterattack. The result is the world’s first global anti-brand: Blackspot Shoes. Earth-friendly, anti-sweatshop, cruelty free, and pro-grassroots, Blackspots are the only roughand-ready shoes designed to give toxic megacorporations what they need the most: a swift kick in the brand. Join us. Buy a pair and become a voting shareholder in The Blackspot Anticorporation. Together, we’ll unswoosh Nike’s tired old swoosh and give birth to a new kind of cool in the sneaker industry. Then we’ll move on to ›Blackspot‹ other industries — Big Music, fast food, coffee shops, clothing, you name it. We marry our passion for social activism with grassroots antipreneurial zeal and rearrange the ugly face of mega-
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alte Drucktechniken, Lettern wie mit dem heißen Eisen auf Holz gedrückt, Industrie- und Westernromantik.5 Das 2006 erneuerte Layout zeigt den neuen Namen des vorher nur »V2« genannten Schuhs, »Unswoosher«, in Form des Swooshs, gegen den er antritt: Die Gegenkampagne schleppt ihr Negativvorbild nicht nur mit sich herum; sie braucht es als mehr als eine Erinnerung, auf der sich etwas neues fortentwickelt; Nike bleibt das formgebende Gerüst.
Abb. 13
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Die Werbeclips, die auf der Website zum Download standen,6 zeichnen eine ähnliche Bewegung nach (Abb. 13 und 14). In der Animation rollt der Skater dreimal an einem Nike-Logo vorbei bzw. über es hinweg, wobei sich dieses jedes Mal in ein Blackspot-Logo verwandelt. Losgelöst von fotorealistischen und Schwerkraft-Regeln morpht der gehasste Swoosh durch die bewegte Energie des Blackspotters von selbst zum guten Logo; das Zittern des gezeichneten Strichs erinnert an die Handarbeit bei der Fertigung der Animation (oder suggeriert sie; ein Computer könnte unendlich viele Zwischenstufen extrapolieren); eine virtuelle Ka-
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corporate capitalism. Kalle Lasn, CEO, The Blackspot Anticorporation.« (Lasn o. J.). Abb. 9 und 10 zeigen Webseiten vom Frühjahr 2005; Abb. 11 und 12 das leicht veränderte Design Anfang 2006. Das neue Buch des CEOs Kalle Lasn heißt Design Anarchy (2006). Der erste Schuh sieht der Marke Converse sehr ähnlich, die wiederum als besonders ›authentisch‹ galt, bis sie von Nike aufgekauft wurde. Sie sollen zumindest einmal bei CNN ausgestrahlt worden sein (eine Ausnahme – bis heute werden Adbust-Clips im Fernsehen abgelehnt, vorher mit der Begründung, sie wollten keine Waren verkaufen, nun mit Verweis auf ihre controversial nature. Mitschnitte der Telefongespräche, in denen die größten Fernsehsender der USA die Ablehnung der Ausstrahlung begründen, sind zu hören unter www.adbusters.org/metas/psycho/mediacarta/rejected/; die Videos sind zu finden unter www.adbusters.org/videos/).
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mera schwenkt in den Anfangsbildern so, wie man es von Animationen nicht unbedingt gewohnt ist (die fotorealistische Kamera bleibt in ihren Bewegungsmöglichkeiten erhalten, nur nicht in ihrer Ästhetik); Musik, Text und Bild fügen sich in drei Stufen der Bewegung zu einer eigenen Rhythmik zusammen: Rollen, die Wand Hochfahren, Springen (zusammen mit dem Voice over: »No more hype. No more sweatshops. No more corporate cool«); am Schluss hebt der Skater wirklich ab, bleibt losgelöst von der Erde. Typisch ist das junge weiße männliche role model; weitere Protagonisten auf der Webseite und im Printmagazin stellen den Typus des weißen Mannes dar, der zurück zur Natur geht, die Erde rettet, in Einklang mit der Evolution steht usw. Nach eigenen Angaben verzeichnet die Adbust-Webseite über 15.000 Besucher am Tag. Ein einziger Aufruf auf der Adbuster-Mailingliste für die Finanzierung einer Anzeige in der New York Times brachte im April 2004 nach nur zwei Wochen über 34.000 US-$ ein. Um den Schuh herzustellen, wurden 5.000 Vorbestellungen veranschlagt, aber im Sommer 2005 lagen bereits mehr als 10.000 vor. Entsprechend hoch ist die Anzahl der »shareholders«, der KäuferInnen, die zu AnteilseignerInnen wurden und in kleinem Maßstab über Design und Preispolitik mitbestimmen dürfen. Das Adbuster Highgloss-Magazin hat eine Auflage von 120.0007; bei Adbust arbeiten mittlerweile über 20 Mitarbeiter. Chef Kalle Lasn: »Basically we’ve become one of the political players of the world.« (Diebenow 2005 o. S.) In marxistischer Terminologie: »Der Durchgang durch den ›materiellen‹ Bereich der Gebrauchswerte […] wird also als ein Moment dessen gesetzt, was in substantieller Hinsicht die Eigenbewegung des Kapitals selbst ist.« (Žižek 2002: 114) Wenn der Schuh nur ein materielles Durchgangsstadium für eine andere Ökonomie/Zirkulation ist, so wird seine Produktion dennoch ernst genommen, insofern sie nicht in Sweatshops erfolgen darf; außerdem wird die Konsumption mit alternativem Ambiente beworben. Die Eigenbewegung des Kapitals wäre demnach nicht verändert, sondern verschoben. Das affirmative Moment dieser Bewegung ist offensichtlich. Auch das Benutzen und Umschreiben der gegebenen ›Kulturellen Grammatik‹ funktioniert nur dann, wenn die Ziel7
»Based in Vancouver, British Columbia, Canada, Adbusters is a not-for-profit, reader-supported, 120,000-circulation magazine concerned about the erosion of our physical and cultural environments by commercial forces. Our work has been embraced by organizations like Friends of the Earth and Greenpeace, has been featured in hundreds of alternative and mainstream newspapers, magazines, and television and radio shows around the world. While two-thirds of Adbusters’ readers reside in the United States, the magazine has subscribers in 60 other countries …« www.adbusters.org/information/network/, zuletzt gesehen am 7.2.06. Zur Kritik an Adbust vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe 2001: 104–107.
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gruppe die Regeln, Zeichen, ökonomischen und medialen Codes kennt und Veränderungen verstehen kann. »Subversive Affirmation« oder »strategische Überidentifizierung« wären Taktiken hinter solchen Bilderverwendungen (mit appropriation, Fake, Camouflage).8 Tendenziell besteht die Möglichkeit der Verwechslung der Kritik mit dem Kritisierten (›virale Taktiken‹), und die Kommunikationsformen müssen stets flexibel bleiben: Dissidenz ist flüchtig. Und sie ist cool, und sie ist immer auf dem Weg in die nächste Vereinnahmung durch eine neue Werbekampagne. Denn es ist gerade der Gestus des Widerständigen, darin Authentischen, mit dem globale Konzerne ihre Marken am liebsten ausstatten wollen (get real; street credibility). Konzerne lancieren selbst Kampagnen mit Anti-Ästhetik, sowohl in visueller als auch in strategischer Hinsicht, etwa bei einer Nike-Kampagne 2001 in Australien: Plakate und eine Webseite ahmten die Nike-Kritiker der »Billboard Liberation Front« nach; Nikes Slogan war: »The Most Offensive Boots we ever made«; es marschierten sogar gekaufte Demonstranten ›gegen die technische Überlegenheit der Nike-Schuhe‹ (von Borries 2004: 72f.; vgl. Wieselberg 2002). Letztendlich kann ein guter Jam, eine Aneignung/Umverwendung, nur in einem Moment funktionieren, der so kurz ist, dass die Erfahrung wie ein Schock wirkt; die Zeit einer Kampagne, die eine Sprache gegen sich selbst kehren will, tendiert gegen Null. Nicht nur der Fake funktioniert am besten, wenn die Distanz zum Gefaketen minimal wird, wenn 8
Zur Bedeutung des Internets für die Kommunikationsguerilla vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe (2005): Hauptsächlich sei das Netz zur Kommunikation und Selbstdarstellung wichtig, verlängere also die Funktionen alter Medien und beschleunige sie. Das Netz wird einerseits (in Abgrenzung zur ›Kalifornischen Freiheitsideologie‹) als ebenso sozialer und hierarchischer Raum beschreiben wie »der Wiener Opernball«; gleichzeitig könne er selbst zum »Ort für Aktionen« werden, denn wenn »Kommunikationsguerilla die Entwendung von Codes« ist, dann »bietet für bestimmte Sorten von Fakes das Internet derzeit sehr gute Ausgangsbedingungen«. »Im Netz selbst ist derzeit eine ausgesprochen bewegliche Guerillataktik notwendig, da sich die Verhältnisse durch die fortschreitende technische Entwicklung, wie auch durch die laufende Verrechtlichung laufend ändern. Bis vor kurzem wäre der Kauf einer Homepageadresse des politischen Gegners noch ein probates Mittel gewesen. Man stelle sich vor, Greenpeace hätte über die Adresse von SHELL verfügt… Die netzspezifische Variante der Camouflage dürfte das Kidnappen von Homepages sein. […] In den Zusammenhang mit der Camouflage gehört die Veränderung der Absenderadresse, das Spoofing, das ursprünglich ein alter Hackertrick war, und zumeist dazu benützt wird, mit SPAM die Leute zu belästigen. Inzwischen gibt es aber ein Programm, das Laien ermöglicht, die Absenderadresse zu verändern. [...] Andere Möglichkeiten sehen wir in sogenannten wandernden Webpages, die helfen Zensur und nationalstaatliche Repression zu umgehen. Das ist aber klassische Guerillataktik: Sich bei übermächtigem Druck zurückzuziehen und da zurückzuschlagen, wo man stark ist.« – »This site was designed to help you turn the drab number cruncher you’re staring at right now into the most versatile activist tool ever reckoned with«, schrieb der Webmaster der Adbusters Media Foundation (gesehen am 27.6.05).
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sie sich berühren oder vermischen, sondern auch die medialen Bedingungen solcher Fakes ermöglichen mit Computern, Netzen, digitaler Reproduktion, Echtzeittransfers, globaler Kommunikation und Copy-Techniken ein optimales Operieren mit Nähe und Differenz. Die Ästhetik der Adbust-Webseite betont dagegen einen Materialbezug, der im Internet mit der ihm zugeschriebenen Immaterialisierung, Virtualisierung usw. kaum mehr im Vordergrund stehen kann. Zu der Zeit, als Collage das Mittel der Avantgarde war, war Werbung auch noch eher konfrontativ als unbemerkt in den Alltag eindringend; ihre Autorschaft war klar, Manipulation stand an der Stelle von Selbsttechnologie. Dass Webdesign und die Clips der Blackspotters alte audiovisuelle mediale Techniken zitieren, gerade dort, wo sie die digitalen Mittel besonders nutzen, könnte als Markierung einer historischen Differenz gelesen werden, als Genuss am eigenen medialen Gebildetsein, oder auch ein back to the roots mittransportieren – beides muss sich nicht ausschließen. Wenn nun auch die Konsumkultur in immer immateriellere Formen morpht, weil die Wertschöpfung zunehmend über das Anhaften immaterieller Werte an Waren funktioniert (Branding), scheint es nur logisch, diese versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem man ihnen den Spiegel vorhält, also z.B. eine »Anticorporation« zu gründen, eine zweite (›gute‹) Ökonomie aufzubauen: statt Entrepreneur (Unternehmer) »Antipreneur« (›Gegen‹nehmer). Blackspot-Chef Kalle Lasn verspricht ein neues Aufbruchgefühl beim Kauf eines Schuhs. Zum AntiSneaker tritt ein Anti-Branding-Branding.
2.2 Branding: Eine Semiotik der Dinge Laut Geschichtsschreibung des Branding setzt dieses paradoxerweise genau dann ein, wenn das ursprüngliche branding, das Markieren der Handelsware Vieh mit dem Brandeisen, nicht mehr ausreicht, um am Markt zu bestehen; wenn es keinen direkten Kontakt zwischen Käufer und Verkäufer mehr gibt (van Tongeren 2003: 17f.), und wenn das Handelsgut mit einem »emotionalen Mehrwert« ausgestattet werden muss, da es zu viele gleiche Kühe gibt. Branding bezeichnet dann die Herstellung dieses »Mehrwerts« und ist mit der Etablierung von Marken im 20. Jahrhundert sowie ihren abstrakten und/oder emotionalen Werten gekoppelt: Freiheit, Sicherheit, Ordnung, Abenteuer oder ein ganzer lifestyle. Die Ware braucht ein »leeres Äquivalent«, das Geld, um zu zirkulieren, und wo sie kein Grundnahrungsmittel mehr, sondern selbst ein leeres Äquivalent eines Lifestyles ist, wird sie ausgestattet mit neuen Bedeutungen – als ob Derrida schon immer recht gehabt hätte mit der These, dass
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es nie Dinge oder Waren ›an sich‹ gab, oder Marx damit, dass Ware und Geld in der Zirkulation als Existenzweisen des Werts funktionieren (Marx [1864] 1988: 169). Auch wenn sich die Werte virtualisieren wird die Zirkulation aufrechterhalten. Das verbindet sie mit Medien, wie exemplarisch etwa Celia Lury und Brian Rotman ausgeführt haben. Nicht nur Baudrillard war von einer marxistischen Theorie des Warentauschs zur Theorie der Virtualität gekommen, in der Zeichen nur noch auf sich selbst verweisen und Bedeutung oder Wert ein Simulationseffekt ist. Auch aktuelle Ökonomiekritik hat es mit der Immaterialisierung von Datenströmen zu tun. In der Geschichte des Geldes wie in der der Arbeitskraft ist von Dematerialisierung die Rede, von »masseloser Ökonomie«, die statt von Eigentum vom Verwalten von Zeit und Zugangsrechten lebe (Rifkin 2000). Gerade in der Sphäre des angeblich Immateriellen, dem Internet, bilden sich allerdings Strukturen heraus, die z.B. als »neo-tribes« bezeichnet werden, soziale Gemeinschaften, die zwar sehr beweglich und flüchtig sein mögen, sich aber dennoch durch gemeinsame Codes usw. bestimmen (auch entlang von race, gender, class) (vgl. Twitchell 2004: 275). Auch ein Turnschuh kann sehr gut als Teil eines Codes innerhalb eines solchen tribes funktionieren. Celia Lury hatte schon als Theoretikerin der Material Culture auf die Codehaftigkeit zirkulierender Dinge aufmerksam gemacht. In ihrem 2004 erschienenen Buch über Branding ist es nun die zunehmende Abstraktion, die sie die Material Culture (genauer: die Consumer Culture als Teil davon) mit neuen Medien zusammendenken lässt. »The brand, a medium of exchange between company and consumer, has become one of the key cultural forces of our time and one of the most important vehicles of globalisation«, so die Routledge-Verlagswerbung. Zunächst folgt Lury überraschenderweise den Denkern des Branding: Entgegen der von Georg Simmel dem Geld diagnostizierten Eigenschaft, Qualitäten in Quantitäten zu abstrahieren, statte das Branding die »gnadenlose Objektivität« des Marktes wieder mit Qualitäten aus (Lury 2004: 5f.). Brands brächten wieder Farbe in die reduktionistische Einförmigkeit des Geldes und fungierten als soziale Währung, mithilfe derer Menschen aus Tauschakten Bedeutungen produzierten.9 Letztlich ist es die Zeichenhaftigkeit der gebrandeten Ware, die Lury mit Deleuze/Guattari als einen Schauplatz der Produktion von Differenz sieht: nicht nur eine Sache der pouvoir, sondern auch der puissance, der Möglichkeiten (Lury 2004: 10). Als Element des Transitiven, wie eine Figur aus dekonstruktiver Theorie,
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Vergleichbar beschrieb Hartmut Berghoff zur Eröffnung der Göttinger Tagung Grundzüge der Marketinggeschichte (2/06) das Marketing »von der betrieblichen Funktionslehre zur universellen Sozialtechnik«.
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»schließe« sich die Ware als brand nie – was sie zum Objekt der Medientheorie machen kann. Dazu hat Lury verschiedene Ansätze vorgestellt, die Brands als Medien beschreiben: Sie seien interfaces, die Informationen transportieren; sie schlössen Kreise zwischen Verbrauchern und Waren wie im loop, den Lev Manovich als charakteristische Form digitaler Medien ausgemacht haben will, oder wie im flow, einem fernsehwissenschaftlichen Begriff, der auf Geldströme zu übertragen wäre; sie seien Effekte von hyperlinking oder im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie Latours selbst »Medien der Übertragung« (Lury 2004: 7). Brian Rotmans Buch über die Null hat das Bild zur Analyse des Geldes hinzugefügt. Im Nullpunkt, in der Zahl und Ziffer Null im Zahlensystem, aber auch im Fluchtpunkt der Zentralperspektive und zudem im »imaginären Geld« sieht Rotman Analogien: Elemente, die selbst nichts bedeuten, sind Teil des Systems und strukturieren gleichzeitig die Möglichkeit, dass andere Elemente im System Bedeutung erhalten.10 Nur was bedeutungsfrei oder bedeutungsoffen ist, kann als aktuell leere Verweisstruktur (im Sinne Luhmanns) fungieren, als medialer Transporter (Baecker 2000: 14). Gibt es also einen Zusammenhang von Medium und Ware, einen »Nullpunkt des Tauschens«? Der Blackspot Sneaker beruht wesentlich auf Dinghaftigkeit und Design und steht in mehrfacher Weise in medialer Korrespondenz: Ohne das Internet ist seine Konzeption, Vermarktung und Vertrieb nicht denkbar; er trägt ein Logo, das als leeres Superzeichen erst mit Bedeutung aufgefüllt werden muss; und als alltäglicher Gegenstand ist er selbst ein aufladbares Symbol, ein Zeichen (›Dingmedium‹). Mit Marx als ein modellhaftes Übergangsmedium zu beschreiben, wird er mit Žižek gelesen zum Element der »gespenstisierten« Form des virtu-
10 Ende des 17. Jahrhunderts kommt das Papiergeld auf, das »selbst« keinen Materialwert mehr besitzt; der Punkt außerhalb des Bildes, in dem die perspektivischen Linien zulaufen, ist selbst nicht sichtbar: In der abendländischen Renaissance seien es drei Register, »die Einführung der Null in die Praxis der Arithmetik, des Fluchtpunkts in die Perspektiv-Kunst und des imaginären Geldes in den ökonomischen Tauschhandel, die drei isomorphe Manifestationen unterschiedlicher, jedoch in einem formalen semiotischen Sinn äquivalenter Modelle derselben bezeichnenden Figur darstellen.« Dazu »wird der Fluchtpunkt so verstanden, daß er im Siebzehnten Jahrhundert eine Abgeschlossenheit in der Form des multiperspektivischen Bildes erzeugt, und ebenso findet das imaginäre Geld seinen semiotischen Abschluß im Aufkommen des Papiergeldes Ende des Siebzehnten Jahrhunderts. [...] Diese größeren Umwälzungen fanden statt: in der Mathematik mit Vietas Erfindung der Algebra, in der Malerei, mit der von Vermeer und Velasquez geschaffenen, sich selbst bewußten Abbildung und im Text mit Montaignes Erfindung des autobiographisch schreibenden Selbst, in der Volkswirtschaft mit dem von Goldhändlern in London geschaffenen Papiergeld. Alle diese Zeichen [...] sind um die Vorstellung einer Abwesenheit herum strukturiert, im Sinn einer bezeichneten Nichtgegenwart bestimmter Zeichen.« (Rotman 2000: 14, 27f.).
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alisierten Kapitalismus (Žižek 2002: 122; zum »gespenstigen« Kapitalismus vgl. Marx [1864] 1988 und Derrida 2004a).
2.3 Zeit. Kick corporate ass Symbolische und materielle Wertsysteme unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick auf ihre Zeit-/Repräsentationsstrukturen. Während Kritik am besten punktuell ist, indem sie schnell kontextbezogen reagiert (wie im kicking symbolisiert, Abb. 15), kann ein Ding nie schnell sein, es ist dauerhaft oder hat keine Zeit. Die beste Kritik ist selbst nurmehr ein Ereignis, oder auch ein Event, sie tendiert zum Unmediierten, da kein Medium wirklich Echtzeit bietet. Im Versuch, das Paradox zu formulieren, das auch das semiotische Interface Brand kennzeichnet, nämlich die
Abb. 15
Grenze (lies: das Interface) als Teil, aber auch Äußeres des Ganzen, schrieb Derrida von der Zeit/Unzeit des Moments. Das Interface der Ware, ihr spezielles Branding, das den Austausch regelt, ist ihr oberflächlich und doch ein Teil von ihr, wie Derrida für den Rand einer Einheit beschrieben hat, eine Genrebezeichnung etwa, die zum Werk gehöre und auch nicht – übertragen ließe sich das wie folgt lesen: Es (das Branding) »ist zugehörig, ohne zugehörig zu sein, und das ›ohne‹, das die Beziehung zwischen der Zugehörigkeit und der Nicht-Zugehörigkeit herstellt, scheint nur die Zeit ohne Zeit eines Augenblicks zu sein« (Derrida 1994: 260; engl.: the blinking of an eye, also eher: zwischen zwei Blicken, Derrida 1992: 231). Diese Zeit entzieht sich der Repräsentation und kann nur
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in Anspielungen erscheinen. Im selben Zuge, wo Differenz konstitutiv ist, ist Gleichheit (der Zeit) unmöglich. Auf vier Ebenen lassen sich Zeitlichkeiten oder eher ihre Inkohärenzen beschreiben: Oberflächen/Interfaces von Waren und Kommunikationsobjekten; Geschichtsmodelle dahinter; Subjektivierung; Verschmelzung und Aufhebung der Zeit. ZEIT 1: Organisation der Interfaces. Branding umfasst Eventkultur, und das zunehmende customizing, die »Individualisierung« von Waren, trägt zur Zeitgebundenheit und Eventartigkeit bei. Wie nahe kann diesem Eventisieren von Waren ein Objekt (etwa ein Turnschuh) also überhaupt kommen? Wie kurzfristig kann ein Wissen um den neuen Code, die Bedeutung des schwarzen Flecks, der dazugehörigen Community geschaffen werden und wie lange Gültigkeit beanspruchen? Wie fix ist die Identitätsbaumaßnahme aus Kauf, politischem Statement, Ökobewusstsein, Lifestyle, ästhetischen Werten? Gibt es einen Echtzeitsneaker?11 Das Interface der Brands ist, so Lury, nicht eine Oberfläche, es existiert nicht in einem einzigen Raum, zu einer Zeit. Es ist verstreut auf viele Oberflächen, Verpackungen, Screens, Läden und Anzeigen (Lury 2004: 50). Das Interface, wie das Branding ›auf‹ der Ware, ist eine »semiotische Membran« (Lury 2004: 10; mit Bezug auf Manzani), gleichzeitig Teil des Objekts und Tauschmedium. Seine Zeitlichkeit geht nicht, wie man denken könnte, auf Echtzeit (Instantaneität) und Sofortübertragung in globalen elektronischen Netzen. Es ist vielmehr die Organisation der ›Antwortzeit‹, das Management der Intervalle zwischen Produkten, die Verzögerungen zwischen bestimmten Interaktionen, die das System bestimmt (Lury 2004: 93f.). Das neue Kapital liegt nicht mehr im Besitz, sondern im Zeitmanagement. Wer schnell ist, kann zwar immer noch den Markt beherrschen, aber Geschwindigkeit macht nurmehr Sinn als Differential. Hier wären anzuschließen Überlegungen zum Verhältnis von Computer und Zeit, wie sie in Derridas Marx-Lektüre angelegt sind: Die Kommunikationstechnologie ist dem Markt aus mehreren Gründen nicht äußerlich. Als Sprache und als Zeitminimierendes sind digitale Netze dem Zirkulären nicht sekundär, sondern Geld und Technologie reißen sich als ihre eigenen Bewegungen mit (Derrida 1999: 19). Was für Marx das Theater und die Optik war, wäre hier für die Neuen Medien nachzuarbeiten.12 Kein Ding ist mehr jenseits von seiner Warenform zu denken, diese ursprüngliche Iterabilität korrespondiert der urspünglichen Virtuali11 Ein Kunstwort aus Kontinuität und Innovation, Kontinnovation, führt Hellmanns Soziologie der Marke an (Hellmann 2003: 329), um die brancheninterne Logik von Werbekampagnen wiederzugeben. 12 Zur Sprache vgl. Derrida 1999: 10–14; zur Optik: Derrida 2004a: 213f. et passim, Marx [1864] 1988: 86 et passim.
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tät von Raum und Zeit: die Ware ist »zynisch geboren« (Derrida 2004a: 221). ZEIT 2: Zeit der natürlichen, linearen Evolution. Nicht nur manche Branding-Geschichtsschreibung, sondern auch die Utopien der Adbuster gehen dagegen von einer naturalisierten Ordnung aus, die das Überleben in einer Zeit der Krise, natürliche Tugenden, antimoderne, patriarchale Strukturen, Schöpfung, christliche Werte und anti-staatliche Haltungen verbinden. Ihr Held ist wertkonservativ, männlich, fast so mythisch wie der Viehbauer am Anfang der Ökonomie. Die Geschichte des Marktes wird naturalisiert. Rob Walker prägte im Zusammenhang mit dem medium footwear für die ersten, die eine In-Marke ›entdecken‹, die Bezeichnung alpha consumer, – nicht zufällig in Anlehnung an ›Alpha-Männchen‹ (Walker 2004: 34). Das Internet macht zudem Begegnungen wie zwischen David und Goliath möglich. Die Evolution des Marktes scheint linear, progressiv, hin zu einer immer größeren Auswahl an Dingen, Möglichkeiten, Stilen. Die Adbust-Natürlichkeitsideologie, die sich nicht zuletzt im Design des Adbust-Magazins ausdrückt, erinnert an den Wunsch nach einer guten Produktion, einer guten Ware, die Marx nicht ausgeschlossen hat; hier gibt es allerdings keine »Gespenster« mehr, keinen Spuk, keine »theologischen Mucken« (Derrida 2004a: 205; Marx [1864] 1988: 85). ZEIT 3: Konstitution des Selbst. Das Ich, das sich im Akt dieser Auswahl konstituiert, ist nicht seinem Kaufobjekt vorgängig, sondern definiert sich gerade durch den Akt des Zugehörigmachens.13 Wer sich – und sei es noch so viral – auf den Markt begibt, stellt sich eben darauf auch erst her. (Und das Herstellen eines neuen Ichs ist Teil der Adbust-Kampagne: Erneuere dich selbst.) Welche Elemente versprechen Authentizität, realness, eine identitätsstiftende Gemeinschafts- und Tauschstruktur? Entstehen hier alternative »Technologien des Selbst« und Normalisierungen? Gilles Deleuze hat über die Kontrollgesellschaften geschrieben, der Mensch der Disziplinargesellschaft sei entsprechend seiner Arbeitsökonomie ein diskontinuierlicher Produzent von Energie gewesen, während der Mensch der Kontrollgesellschaft, der Computer und Viren ein ›wellenhafter‹ Typus sei. »Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.« (Deleuze 1993b: 258) Laut Toni Negri schlägt Deleuze vor,
13 Vgl.: »Technology does not mediate the individual person’s relationships with society; it has come to mirror the individual person’s consumption of society.« (Strathern 2003: vii).
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Die Worte Computer und Internet fallen hier nicht, sind aber zweifellos angespielt. Auch über Branding und Marketing schreibt Deleuze: »Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist.« – »Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle.« (Deleuze 1993b: 260) Singularität als das, was kein Äquivalent hat, was nicht relativ in einen Ware-Geld-Ware-Tausch eingehen kann, heißt bei Derrida »das Preislose«, die Würde. Man kann allerdings nicht außerhalb des Marktes wissen, ob es eine Gabe gegeben hat. (Derrida 1999: 21, 27) Wenn wir also in der Kommunikationsgesellschaft leben, was folgt laut Deleuze daraus für die neuen »Selbst«e? Kommunikation, schreibt er, sei unbrauchbar, da völlig vom Geld durchdrungen. »Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen«. (Deleuze 1993a: 251) Es gelte einen neuen Typus von Ereignissen zu erfinden, »die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche und reduziertem Volumen.« (Deleuze 1993a: 235) ZEIT 4: Schock /Mimesis /Berührung. Jede Marke kann morgen von dem Falschen getragen werden, in einem geänderten Koordinatensystem etwas anderes bedeuten, jedes Fashion statement gibt morgen eine andere Botschaft: eine kohärente Zeit des Marktes ist immer unmöglicher. Im April 2004 verkündet der Adbust-Newsletter: die besten viralen Ideen, die die Ressourcen des Feindes nutzen, um sich selbst zu verbreiten (Logos, sauberes Design etc.), kämen als Schock. Der beste Culture Jam sei völlig unvermutet, überraschend, eben schockierend. Die Geschwindigkeit digitaler Medien kommt dieser strukturellen Unmöglichkeit nun sehr nahe, Dissenz zu repräsentieren, und muss sie doch immer verfehlen. Sampling zum Beispiel kann als Performance von Copyrightkritik gehört werden: Man hört den Kommentar zum Thema Autorschaft, während man zuhört. Ein bespraytes oder gehacktes Plakat braucht Lesezeit, und das Plakat wird statisch, aber kurzfristig sichtbar sein. Kein Ding
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oder Schuh kann vergleichbar funktionieren. Wie passt ein beständiges Objekt in dieses Setting? Was passiert, wenn die Negation im Jam Platz macht für eine Verkörperung eigener positiver Güter? Ist diese Ware dann nicht mehr »zynisch geboren«? »[D]as heute Wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge [heißt] Reklame…: Sie reißt den freien Spielraum der Betrachtung nieder und rückt die Dinge so gefährlich nah uns vor die Stirn« – und vor Reklamewänden »wird die gesundete Sentimentalität amerikanisch frei, wie Menschen, welche nichts mehr rührt und anrührt, im Kino wieder das Weinen lernen.« (Benjamin [1928] 1992: 198)
Das formulierte Walter Benjamin am Ende der 1920er Jahre. Er hat bei aller kritischen Haltung die ›Sprache des Geldes‹ und deren Emotionalität ernst genommen und in eine ästhetische Theorie (der Mimesis) rückübersetzt; in der Paraphrase von Michael Taussigs Geschichte der Berührung: »Groß und rasant rückt sie [die Werbung, U. B.] uns vor die Stirn, wo sie implodiert, um schon den Anschein eines an der Wahrnehmung beteiligten Ichs zu verschlingen. Körperliches Verstehen: Weniger sehen wir etwas, eher wird es uns nahegerückt.« (Taussig 1997: 40) Große Plakatwände waren so neu und überwältigend, dass sie in den Betrachter hineinzusinken schienen, die Nähe wird tendenziell zur Verschmelzung, und das gilt auch für den Kritiker, der sich seinem Gegenstand mimetisch nähert. Das Billboard Jamming geht in dieselbe Richtung, gleicht sich an, verschmilzt aber nicht die Wahrnehmenden mit dem Bild, sondern zwei Bilder; es behält mehr vom Nullpunkt, dem leeren perspektivischen Punkt außerhalb bei. Was Benjamin andernorts als »Schock« bezeichnet hat, verbindet nun auch die Geschwindigkeit neuer Medien(technologien) mit körperlicher Wahrnehmung und damit auch Audiovisualität mit Marshall McLuhans Konzeption von der Taktilität neuer elektronischer Medien, die dank ihrer Geschwindigkeit die Welt zum vielzitierten Globalen Dorf machten. Wieder ist es die Zeit, die als Fluchtpunkt das Digitale (hier das Internet) mit der Dingwahrnehmung zusammenführt. Kommt Branding/Anti-Branding ohne den Schock aus? Impliziert die Verlagerung vom Plakat hin zum Netz, dem immersive Effekte nachgesagt werden, eine neue Qualität der Kommunikation? Bei Benjamin lesen sich die Interfaces von Markt und Kultur wie Mimesismaschinen, die einen aisthetischen Kontakt beider Sphären ermöglichen.14 Auch wenn das sehende Ich fast vom Bild verschlungen wird, 14 Taussigs Untersuchung von Mimesis in Blick und Tasten verbindet Benjamins Texte mit Marx’ Warenbegriff. Beide trennen Waren/Fetisch und Sinne/Leben, aber Benjamin betrachtet Werbung als Mimesismaschinen, die einen Kontakt zwischen beiden ermöglichen (vgl. Taussig 1997: 33f.).
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ist das keine bedrohliche Aussicht, sondern die den Dingen angemessene Wahrnehmung, eine lebendige Beziehung mit der materiellen Kultur, in Korrespondenz durch die Berührung. Für den jam, den fake, war die Nähe Voraussetzung für die Kritik; für Benjamins Kritiker (oder auch nur den Zeitgenossen) ist Nähe keine Frage der Vereinnahmung, der Affirmation, des unbemerkten und womöglich dauerhaften Gezogenwerdens auf die falsche Seite, sondern eine bewusste, wenn auch ungeplante Öffnung auf die Gegenseite hin, ohne die die »eigene Natur« gar nicht mehr stattfinden kann. Wo die Adbuster es ausschließen, im Kino das Weinen zu lernen, und das Leben ohne Fernseher propagieren, liest sich Benjamins Reklamewand rückblickend als Plädoyer einer emotionalen als einer politischen Ökonomie. Ist Benjamin schon in die Zirkulation eingestiegen, hat er sie legitimiert, indem er das Individuum in den Zirkel mit hineingeholt hat, anstatt zu erkennen, dass es funktionalisiert wird im allübergreifenden Zirkulieren? Ist es möglich, sich nicht von den falschen Waren einnehmen zu lassen, sondern nur von denen, die aus einem guten Zirkel stammen? Ist nicht die Haltung des »auf den Leib rücken Lassens« das Gegenmodell zum Aussetzen, wo das eine Zeit braucht, das andere sie zu suspendieren scheint?
3 . B e fa n ge n h e i t Die Konsumkritik leiht sich manche Figur bei der postkolonialen Theorie, wo sie etwa von der Taktik der »Mimikry« spricht. Homi Bhabha ging es um eine »Alterität der Identität«, die dadurch entstehe, dass sich der/die ›Fremde‹ der hegemonialen Kultur angleiche, in dieser Mimikry aber verdoppele, »a subject of difference that is almost the same, but not quite« (Bhabha, zit.n. Terkessidis 1990: 245; s. auch Bergermann 2003). Tendenziell losgelöster als es die Erfahrung einer Hybridität sein kann, die immer mit Unterdrückung verbunden ist, entwirft consumer criticism neue Freiheiten in einer »›unabhängige[n] Nutzung der Produkte der Massenkultur…‹ Im vollen Bewußtsein, wie lächerlich und übel das alles ist, nach Disney World zu gehen und sich trotzdem […] zu amüsieren […] Das ist es, was Certeau als ›die Kunst dazwischen zu sein‹ bezeichnet, und es ist der einzige Weg zu wahrer Freiheit in der heutigen Kultur.« (Klein 2000: 94f., sie zitiert das Magazin Hermenaut) Ich weiß, dass der Kapitalismus falsch ist, und gerade mit diesem Bewusstsein kaufe ich den Sneaker: so bin ich lesbar als (sub)kulturell zugehörig UND intellektuell durchschauend. Aber Ironie und Parodie ist nicht mehr
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die Methode der Stunde;15 Schlingensief verkündet, dass die Haltung des »das ist so scheiße, dass es schon wieder gut ist«, von Übel sei (Schlingensief 1998: 16), und die Frage ist, wie das Echte (und sei es auch im Falschen) zumindest partiell gerettet werden kann. Dazwischen sein ist keine Kunst mehr, Mitzirkulieren ist gegebene Voraussetzung, ironisches Mitwissen und Mittun in Werbestrategien angekommen. Was man als Performativ beschreiben könnte, die Tatsache, dass erst das Zirkulieren, die Beteiligung am Markt der Ware einen Wert gibt, hieße zutreffender »Perverformativität«.16 Auf Turnschuhe einen schwarzen oder weißen Fleck zu malen, kann nur eine kleine Erinnerung an die Macht der geschilderten Korrespondenzen sein. Verstanden als eine verstetigte Baustelle, under ongoing construction, wie es auf Webseiten heißt, mag man auch verdinglichte Strategien, ihre Objekte, sowie das Geld, das man für sie bezahlt, mit einem Herzen ausstatten, wie Benjamin es tun konnte, solange das Bewusstsein der Baustelle, der stetigen Neukonstruktion von kulturellem Diskurs, Käufer-Ich etc. wachgehalten werden kann. Befangenes Adbusting, das sich die Dinge auf den Leib rücken lässt, wäre eine angemessene Strategie. »Narren, die den Verfall der Kritik beklagen. Denn deren Stunde ist längst abgelaufen. Kritik ist eine Sache des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war. Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt. Die ›Unbefangenheit‹, der ›freie Blick‹ sind Lüge, wenn nicht der ganz naive Ausdruck planer Unzuständigkeit geworden.« (Benjamin [1928] 1992: 96)
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
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MEDIEN
UND
KRISE
ODER: KOMMT DIE DENORMALISIERUNG N I C H T › A U F S E N D U N G ‹? JÜRGEN LINK In meinem Titel entsprechen sich zum einen »Medien« und »auf Sendung«, zum anderen »Krise« und »Denormalisierung«. Ich beginne mit dem zweiten Komplex: Dass sich Deutschland seit etwa dem Beginn des neuen Jahrhunderts in einer ernsteren Krise als üblich befindet, verkünden eigentlich die Spatzen von den Dächern. Genau diese Diagnose einer außergewöhnlich ernsten Krise ist ja die entscheidende (und wenn man genau hinschaut, die einzige) Begründung für die sogenannten »Reformen«, die ihrerseits nicht weniger bedeuten als die zu Gunsten höherer Kapitalrenditen verfügte radikale Zusammenstutzung des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats, der wiederum nichts weniger ist als die Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen. Ich möchte nun bei einem meines Erachtens recht paradoxen Symptom ansetzen, das mit meinem Begriff »Denormalisierung« zusammenhängt. Denormalisierung meint Verlust der Normalität, so wie Normalisierung ihre Wiederherstellung – man sollte also meinen, dass der Begriff »Normalität« im Zusammenhang mit der Krise im mediopolitischen Diskurs eine zentrale Rolle spielen müsste, und das um so mehr, je wichtiger dieser Begriff in diesem Diskurs in Deutschland seit der Wiedervereinigung war. Wie ich andernorts dargestellt habe, hatten wir es insbesondere zum Jahreswechsel 1998/99 geradezu mit einer diskursiven Explosion um den Begriff »Normalität« zu tun (Link 1999), wobei es zum einen um die Bildung der rot-grünen Bundesregierung und zum anderen um die sogenannte Walser-Bubis-Debatte ging, d.h. um die sogenannte »Normalisierung« der nationalen Geschichte und des sogenannten deutschen »Patriotismus« (ich kann auf die Wiederholung von »sogenannt« leider nicht verzichten). Schon vorher war insbesondere die Rückkehr Deutschlands zur Großmachtpolitik und insbesondere zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr als »Rückkehr zur Normalität« diskursiviert worden. Obwohl, wie gleich zu zeigen sein wird, die Krise sehr viel mit Verlust bzw. radikaler Änder229
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ung bzw. dem Versuch der Begründung einer ganz neuen Normalität zu tun hat, ist dieses Schlag- und Reizwort unserem mediopolitischen Diskurs seit dem Beginn der Krise im Frühjahr 2000, also seit dem spektakulären Crash der New Economy, sozusagen im Hals stecken geblieben. Eine scheinbare relativ aktuelle Ausnahme bestätigt bloß diese Regel: In einer seiner Vorweihnachtsnummern 2004 (Schwerpunkt und Cover: »Stille Nacht, billige Nacht«; Abb. 1, Abbildungen im Anhang zu diesem Beitrag) brachte Der Spiegel nochmals einen Leitessay zum Thema »Lässig zur Normalität« (13.12.2004). Hier bestätigte der britische Kollege Crawshaw den Spiegel-Lesern erneut die »Normalität« des neuen deutschen »Patriotismus« einschließlich der Großmachtpolitik und der Bundeswehreinsätze sowie der Relativierung der Kriegsvergangenheit durch Einbeziehung auch der Härten der alliierten Kriegsführung. Mit keinem Wort wurde in dem Essay indessen die aktuelle Krise erwähnt, die dagegen durchaus den Schwerpunkt des Heftes insgesamt bildete. Bevor ich dieses Paradox weiter kommentieren kann, ist nun allerdings zunächst systematisch, wenn auch in aller Kürze, der Begriff der Normalität selbst zu hinterfragen. Man kann das »Normale« und die »Normalität« mit guten Gründen für beliebig füllbare »Plastikwörter« halten, mit denen eine wissenschaftliche Beschäftigung sich nicht lohne. Ich habe diese Kategorie statt dessen in meinem Versuch über den Normalismus (Link 2006 [1996]) ernst genommen, weil sie m. E. eine Basis-Kategorie unseres gegenwärtigen Gesellschaftstyps von großer struktureller und funktionaler Bedeutung darstellt. Immerhin stellt der Verlust von Normalität, die »Denormalisierung«, das entscheidende Kriterium dar, das zweifelsfreien »Handlungsbedarf« begründet, und nicht umsonst atmet alles auf, sobald nach einer Krisensituation alles »zur Normalität zurückgekehrt« ist. Nach meiner These lässt sich Normalität operativ fassen, wenn sie im Kontext der Statistik definiert und auf verdatete Gesellschaften bezogen wird. Verdatete Gesellschaften sollen solche Gesellschaften heißen, die sich routinemäßig und flächendeckend selber statistisch transparent machen: auf der Ebene der Datenerfassung einschließlich der Befragungen, auf der Ebene der Auswertung einschließlich der mathematisch-statistischen Verteilungstheorien, auf der Ebene der praktischen Intervention einschließlich aller sozialen Um-Verteilungs-Dispositive. Dabei sind die produzierten und reproduzierten Normalitäten im Wesentlichen durch »gemittelte« Verteilungen gekennzeichnet (breiter mittlerer »normal range« mit dichter Besetzung und zwei tendenziell symmetrische, »anormale« Extremzonen mit dünner Besetzung), idealiter einer »symbolisch gaußoiden Verteilung« angenähert. Wenn die Normalverteilung die nor-
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malistische Basiskurve in der Synchronie darstellt, so die durch Addition von logistischen Kurven (gelängten S-Kurven) gebildete »endlose Schlange« (Kurve des normalen Wachstums) die Basiskurve der Diachronie. Solange also (in der Synchronie) die Verteilung des Lebensstandards in einer Gesellschaft wenigstens annähernd und wenigstens symbolisch mit einem »Gaußoid« vergleichbar bleibt (breite Mittelschichten, sehr wenige sehr Reiche oben und sehr wenige sehr Arme unten) und solange (in der Diachronie) eine symbolisch »exponentielle«, etwa demographische oder ökologische Tendenz rechtzeitig wieder ›zurechtgebogen‹ und umgekehrt eine Stagnation in einen neuen »Aufschwung« überführt wird, können wir beruhigt sein, weil »alles im normalen Rahmen« bleibt. Der Blick der normalistischen Gesellschaft richtet sich also im übertragenen wie im wörtlichen Sinne auf das Ensemble solcher einschlägiger Kurven, auf die »normalistische Kurven-Landschaft«, die unserer Orientierung dient und die die »Frühwarnungen« aussendet. Entsprechend dem Prinzip der funktionalen Ausdifferenzierung haben wir es ferner mit einer Reihe verschiedener, jeweils relativ autonomer Bereiche zu tun, denen spezielle, etwa demographische, ökonomische, soziale, psychische, pädagogische usw. Normalitäten entsprechen – so etwas wie die ›nationale Normalität‹ wäre dann der interdiskursive Querschnitt aller sektoriellen Normalitäten. Unser Paradox lässt sich nun also auch so formulieren: Ausgerechnet die schreienden Anormalitäten insbesondere des 3. Reichs und des 2. Weltkriegs, aber auch die neueste deutsche Großmachtpolitik werden weiter mit dem Terminus »Normalität« diskutiert, während die Krise seit dem Jahre 2000, die die Subsysteme Wirtschaft, Sozialpolitik, Staat und Kultur betrifft, weder als Denormalisierung noch als Normalisierung diskursiviert wird. Diese plötzliche Funkstille beim Schlagwort »Normalität« ist ein Symptom: Tatsächlich werden die »Reformen« (als forcierte Umverteilung von unten nach oben) erhebliche denormalisierende Tendenzen mit sich bringen. Sie werden sowohl die Spreizung des sozialen Normalfelds (gemessen etwa als Lebensstandard) erheblich vergrößern wie gleichzeitig die Schieflage der Verteilungskurve, also ihre Abweichung von einer halbwegs symbolisch gaußoiden Gestalt, verstärken. Eigentlich müsste die »Reform«-Diskussion demnach von Aussagen des folgenden Typs begleitet werden: ›Wir müssen von unserer gewohnten Normalität Abschied nehmen‹; ›Das neue Krankenkassensystem ist anormal‹; ›Weil Normalität das Wachstum bremst, müssen wir eben weniger Normalität wagen‹ usw. Tatsächlich fehlen solche Aussagen nicht bloß im Diskurs der »Reformer«, sondern auch der Reform-Dissidenten, etwa der Gewerkschaften.
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Damit bin ich bei meiner Frage: Entspringt diese Sprachlosigkeit des mediopolitischen Diskurses angesichts einer Krise, die zweifellos zunächst eine Denormalisierungskrise mit erhoffter künftiger Normalisierung ist, aus manipulativer Absicht? Oder handelt es sich – was medientheoretisch viel spannender wäre – um eine medial begründete strukturelle Unfähigkeit? Zur Diskussion dieser Frage schlage ich zusätzlich zum theoretischen Konzept des Normalismus drei weitere Konzepte vor: »mittlere Geschichte«, »Kollektivsymbolik« und »Reproduzität«. Zunächst zur »mittleren Geschichte«: In seiner berühmten Studie über Das postmoderne Wissen hat JeanFrançois Lyotard »grands récits« und »petits récits« unterschieden (Lyotard 1979), ins Englische mit »Grand (or Master) Narratives« und »Small Narratives« übersetzt, ins Deutsche mit »Großen« bzw. »Kleinen Erzählungen«. Ich ziehe »Geschichten« vor. Unter Großen Geschichten versteht Lyotard narrative Schemata auf der Basis umfassender Geschichtsphilosophien wie derjenigen von Hegel, Comte oder Marx in der Leninschen Lesart, auch Darwins in der progressistischen Lesart etwa Spencers und Haeckels. Dem entsprechen eindimensionale und teleologische Entwicklungsschemata. Ein relativ aktuelles Beispiel wäre Francis Fukuyamas ›rechtshegelianischer‹ Bestseller The End of History (Fukuyama 1993). Nach Lyotard zeichnen sich die Großen Geschichten ferner dadurch aus, dass sie sämtliche Teilaspekte der Geschichte wie Wirtschaft, Politik, Recht und Kultur auf ein und dieselbe fundamentale Entwicklungslinie (wie den »Geist« bei Hegel) reduzieren. Demgegenüber plädierte Lyotard seinerzeit für »kleine Geschichten«, womit sektorielle und zeitlich begrenzte Modelle auf der Basis verschiedener »Sprachspiele« im Sinne Wittgensteins gemeint waren. Zwischen diesen beiden Extremen liegt m. E. eine dritte Zwischenebene, die ich »mittlere Geschichte« nennen möchte. Während die Große Geschichte natürlich von einem individuellen Autor auf der Basis umfassenden enzyklopädischen Wissens in langen Jahren produziert wird, entsteht die mittlere Geschichte sozusagen anonym durch viele Sprecher und Schreiber vor allem in den Massenmedien. Ein Beispiel wäre jene Geschichte des Aufstiegs des Nationalsozialismus zur Macht während der Weimarer Zeit, wie sie JeanPierre Faye in seinen Totalitären Sprachen rekonstruiert hat (Faye 1977). Er schildert dort anhand von Programmen, Pamphleten, Zeitungsartikeln und Essays sowie am Leitfaden von Reiz- und Schlagwörtern der verschiedenen damaligen rechten Strömungen und Gruppen sozusagen die diskursive Kristallisierung des Nationalsozialismus, die mit seiner »Machtergreifung«, zunächst im rechten Spektrum, einherging. Dieses
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Beispiel ist für meine Fragestellung aus einem zweiten Grunde zusätzlich relevant, weil es dabei um die Darstellung eines geschichtlichen Bruchs von epochalen Ausmaßen geht und ich den Verdacht hege, dass unsere heutigen Medien einen solchen Bruch möglicherweise gar nicht mehr darstellen könnten. Ein weniger weit zurückliegendes Beispiel wäre die mittlere Geschichte des Kalten Krieges, wie sie aus vielen Elementen, Ereignissen und Medienberichten bzw. Kommentaren ›zusammengestrickt‹ wurde: Wie generierte sich die Linearität dieser Geschichte aus all ihren heterogenen Bestandteilen bzw. Sprechern und Schreibern? Antwort: In wesentlichen Aspekten durch die Kollektivsymbolik: Meine These ist, dass die wesentliche generative Instanz einer mittleren Geschichte in der Kollektivsymbolik besteht. Unter Kollektivsymbolik sei die Gesamtheit der am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und Analogien einer Kultur verstanden. Ein großer Teil des entsprechenden Materials wird sowohl in der philosophischen Metaphorologie Hans Blumenbergs (Blumenberg 1960) wie in der linguistischen George Lakoffs (Lakoff/Johnson 1980) wie auch in der historischen Alexander Demandts (Demandt 1978) unter die Kategorie »Metapher« subsumiert. Ich habe statt dessen für die Kategorie »Symbol« als übergreifenden Terminus optiert, weil es m. E. dabei erstens nicht um einzelne Metaphern, sondern bloß um expandierte metaphorische Komplexe geht (metaphorae continuatae) und weil es zweitens inadäquat wäre, die vielen und wichtigen Fälle synekdochischer (repräsentativer) oder metonymischer Bilder unberücksichtigt zu lassen, wie es beim Oberbegriff »Metapher« der Fall ist. Ein Kollektivsymbol besteht dann ganz allgemein aus einem rudimentär expandierten, zumindest potentiell ikonisch realisierbaren Symbolisanten (dem »Bild«, der Pictura, z.B. der ›Berliner Mauer‹) sowie einem bzw. in der Regel mehreren Symbolisaten (dem »Sinn«, den Subscriptiones, z.B. ›Gefängnis Ostblock‹, ›Starrheit des Sozialismus‹). Die Gesamtheit der Kollektivsymbole einer Kultur bzw. enger eines Diskurses wie des aktuellen mediopolitischen Diskurses bildet ein eng vernetztes synchrones System, das sich gleichzeitig in ständiger Fluktuation befindet. Dass es sich allerdings ganz sicher um ein System handelt, ergibt sich aus der Substituierbarkeit der Elemente: Statt zu sagen »Die Gewerkschaften sind eine Fortschrittsbremse« kann der Diskurs funktional äquivalent sagen: »Die Gewerkschaften bestehen aus Betonköpfen« (Link 1984).
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»Reproduzität«: Ich habe eben davon gesprochen, dass sich das System der Kollektivsymbole »in ständiger Fluktuation« befinde. Ich bewege mich dabei auf einem Terrain, das auch Hartmut Winkler mit seinen Fragen nach der »Zirkulation« der Zeichen und Waren sowie der Zeichen-Ware Geld untersucht hat (Winkler 2004). Noch präziser gehe ich von einem materiellen Reproduktionsprozess aus, für den die Marxsche Formel des Reproduktionsprozesses des Kapitals das klassische Modell bleibt. Ähnlich wie Hartmut Winkler habe ich mir seit langem die Frage gestellt, ob es im semiotischen und sprachlichen, genauer insbesondere im diskursiven Bereich analoge Reproduktionszyklen gibt und ob sie ähnlich strikt formuliert werden können. Dabei liegt m. E. das entscheidende Strukturelement einer solchen Formel in ihrer geschlossenen Zyklizität, d.h. in ihrer beliebigen Wiederholbarkeit. Das unterscheidet sie, nebenbei gesagt, von bloßen je einmaligen, ereignishaft-konjunkturellen »Netzen« bzw. »Ketten« der »Zirkulation«. Dagegen stellt Winklers »Modell« diskursiver Tradierung tatsächlich einen Fall zyklischer Reproduktion im von mir gemeinten Sinne dar. »Praxen – Einschreibung – Niederlegung – Zurückschreiben – Praxen« (Winkler 2004: 116f.).1 Diese zyklische Reproduktionsformel kann allgemein für Diskurse gelten – allerdings ist sie äußerst allgemein. Ich versuche mich meinerseits seit geraumer Zeit an spezifischeren diskursiven Reproduktionszyklen und möchte hier denjenigen der symbolischen Coverseiten von Magazinen wie Spiegel und Focus bzw. inzwischen auch einer Wochenzeitung wie Die Zeit als Beispiel diskutieren. Cum grano salis könnte man diese Covers als ein »paratextuelles Format« definieren. Als Skizze zu einer Reproduktionsformel schlage ich vor: mittlere Geschichte ti – Selektion eines aktuellen Ereignisses der mittleren Geschichte mit Anschluss an ein Thema – exemplarisches Bild zum Thema (Grafik und/oder Foto und/oder Fotomontage + Schlagzeile x Kollektivsymbolik) – Applikation = Subjektivierung (Rezeption, fassbar in Zitaten, Polemiken u.ä.) – Thema´ – mittlere Geschichte ti ´ Wenn wir als Beispiel das erwähnte vorweihnachtliche Spiegel-Cover (Abb. 1) nehmen, hieße das: mittlere Geschichte der deutschen Krise seit 2000 zum Zeitpunkt Dezember 2004 – Weihnachten als symptomatischer Wirtschaftsmoment mit Rabattschlacht mit Anschluss ans Thema der Konsumkrise – Bild-SchriftMontage in Farbdruck (ärmliche Krippe in erdigen Farben vor dunklem Hintergrund + Schrift mit Betonung »Rabatt« und »%« x Symbolik des 1
Ich habe »Monument« absichtlich weggelassen, weil es m. E. einen historischen Sonderfall betrifft und daher die systematische Generalität der Formel einschränkt.
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christlichen Mythos mit Betonung einer Semantik der ›Ärmlichkeit‹) – womögliche Zitate, Leserbriefe usw. = subjektive Identifikationen/Gegenidentifikationen – mittlere Geschichte der Krise Ende 2004 mit Moment der Betonung einer ›Rabattisierung‹. Damit wäre ein nächster Durchgang durch den Zyklus strukturell vorbereitet, worauf es ankommt. Ein solcher nächster Durchlauf wäre also eo ipso variierend, nicht völlig identisch, was vom Format vorgegeben ist (im Gegensatz etwa zu einer Weihnachtsmesse). Es dürfte aber klar sein, dass es sich um Variation innerhalb eines relativ engen Spielraums handelt, so dass eine grobe, strukturelle Prognostik durchaus greifen könnte. Nur nebenbei erwähne ich kurz, wie ich das von Hartmut Winkler diskutierte Problem der »Verbindung« zwischen Medientechnologie und Diskurs behandeln würde: als Kopplungsproblem. Ich sehe zwischen der Technik des computergenerierten Covers und des farbigen Tiefdrucks im Rotationsverfahren auf der einen Seite und dem Thema der deutschen Krise bzw. der Kollektivsymbolik der Weihnachtskrippe auf der anderen Seite zunächst einmal keinerlei strukturelle Homologie. Allerdings besteht eine Kopplung zwischen der Technik und der billigen massenhaften Darstellbarkeit eines farbigen Krippenbildes. Wie jede strukturelle Kopplung zwischen materiell heterogenen Elementen impliziert auch diese ständige Kopplungsfriktionen, die ggf. auf beiden Seiten zu Innovationen führen können. Überhaupt würde ich die Unvermeidlichkeit von Friktionen in allen Reproduktionszyklen für den entscheidenden variierenden, also evolutiven Faktor halten, und die eventuelle Langeweile der Rezipienten angesichts der »Automatisierung« (Sklovskij) sowie ihr Wunsch nach Innovation wäre richtig verstanden ebenfalls eine Friktion im Zyklus. Wenn ich meine Skizze einer Reproduktionsformel für Magazin-Covers soeben im Wortsinne an die »mittlere Geschichte« der aktuellen deutschen Krise geknüpft habe, so möchte ich diese zunächst unbestimmte Kategorie im folgenden mit Hilfe einer Engführung meiner vier leitenden Konzepte, und insbesondere mit Hilfe des Normalismuskonzepts konkretisieren. In welcher mittleren Geschichte leben wir nach Ende der mittleren Geschichte vom Kalten Krieg? Was bedeutet für die Beantwortung dieser Frage Fukuyamas geschichtsphilosophisch, also nicht naiv zu lesende These vom »Ende der Geschichte« – was also die »posthistorische« oder »postmoderne« Lage? Angenommen sie bedeutete – einmal bloß als heuristische Hypothese gesetzt – im Anschluss an Fukuyama das Ende epochal-historischer »Antagonismen« im HegelMarxschen Sinne, welchen narrativen Status erhielten dadurch die selbstverständlich weitergehenden historischen Ereignisse naiver Auffassung?
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Meine ebenfalls heuristisch-hypothetische Antwort ergibt sich aus dem Normalismus-Konzept: Eine »posthistorische« mittlere Geschichte würde durch die Gesamtheit der statistischen Kurvenlandschaften generiert, durch die in aktuellen westlichen Gesellschaften ihr jeweiliger Grad an Normalität, und zwar in allen einzelnen Sektoren und Ländern, gemessen wird. Typisch »posthistorische« Ereignisse wären dann Krisen der Normalität, Denormalisierungen und erneute Normalisierungen, wie sie an den statistischen Kurven ablesbar sind. Aus einer solchen Situation würden sich nun erhebliche sowohl diskursive wie mediale Darstellungsprobleme ergeben, wobei ich nur an die mutmaßliche Langeweile der Kurvenlandschaften für eine Mehrzahl von Rezipienten erinnere, die ja vermutlich nicht sämtlich zu Wirtschaftsteillesern umerzogen werden können, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Immerhin ist zu konstatieren, dass der Anteil an statistischen Daten, Kurven und Infografiken insgesamt sowohl in den Printmedien wie im Fernsehen seit den 1980er Jahren und insbesondere während der 1990er Jahre unübersehbar gewachsen ist. Neue Magazine bzw. Tageszeitungen mit systematisch erhöhtem Anteil an statistischen Infografiken, also an der normalistischen Kurvenlandschaft, wie Focus oder USA Today wurden erfolgreich gegründet, wodurch wiederum etablierte Magazine oder Zeitungen wie Der Spiegel bzw. Die Zeit sich gezwungen sahen, diesem Trend zu folgen. Das Dortmunder Normalismus-Forschungsteam hat hierzu inzwischen eine Menge Analysen publiziert (exemplarisch Gerhard/Link/Schulte-Holtey 2001), so dass ich mich hier auf eine zusammenfassende Darstellung und auf das exemplarische Format der großseitigen Cover-Bilder beschränken kann. Das wesentliche sowohl diskursive wie mediale Verfahren zur Verwandlung langweiligen spezialdiskursiven statistischen Materials in interdiskursiv ansprechende Infografiken besteht in der Kombination von statistischen Kurven mit kollektivsymbolischen ikonischen Darstellungen (siehe exemplarisch Abb. 2). Wie die zusammenfassende Darstellung der Kurvenlandschaft zeigt (Abb. 3), besteht eine rein normalistische mittlere Geschichte in repetitiv-zyklischer Weise aus narrativen Ereignis-Elementen wie »Aufschwüngen«, »All-Time-Highs« und anderen Rekorden, »Berg- und Talfahrten«, »Erholungen« und »Rallys«, »Wettfahrten«, »Auf- und Überholjagden«, aber auch »Dellen«, »Abstürzen«, »Stagnationen«, »Rezessionen« oder schlimmstenfalls »Depressionen«. Typisch amerikanische normalistische Ereignis-Metaphern wie »bouncing back« oder »resilience« harren noch ihrer Eindeutschung; immerhin taucht »Resilienz« jüngst schon in ökologischen Spezialdiskursen auf. Insbesondere zwei Kollektivsymbole dominieren bei der Symbolisierung und damit Sub-
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jektivierung statistischer Daten: Sport und Vehikel-Fahrten. Da ich die »(nicht)normalen Fahrten« in meinem Versuch über den Normalismus und in anschließenden Artikeln bereits unter verschiedenen Aspekten analysiert habe, halte ich mich hier an den Sport. Die Sport-Symbolik eignet sich für die Kodierung normalistischer Prozesse von der Art der Wachstums-Konkurrenzen ausgezeichnet, weil sie ihre Narrative ebenfalls per Kurvenlandschaften aus Rankings, Leistungspunkten, Rekorden bzw. »Leistungsabfällen« und »Formkrisen« generiert. Wie Rolf Parr und Matthias Thiele vom Dortmunder Normalismus-Forschungsteam gezeigt haben (Parr 2001, Thiele 2001), funktionieren auch zahlreiche Fernsehformate wie etwa die Game Shows entsprechend den gleichen sportiven normalistischen Narrativen. Was das Kollektivsymbol Sport aber vor allem für »posthistorische« mittlere Geschichten attraktiv erscheinen lässt, ist seine paradoxe Kombination von strikt repetitiver Reproduzität (also Ahistorizität) und Spannung.
Abb. 3
In normalistischer Kodierung stellt sich die deutsche Krise seit 2000 als Ensemble »abgestürzter« Kurven wie Wachstum oder Wissenschaft/ Bildung (bzw. umgekehrt bedrohlich steigender Kurven mit negativem Trend wie Arbeitslosigkeit, Armut, Islam) dar. Diese Situation, die im mediopolitischen Diskurs seit geraumer Zeit repetitiv die Forderung nach einer »Wende«, nach einem »Ruck« bzw. einem »Befreiungsschlag« mittels sogenannter »Reformen«, also nach einem voluntaristischen ›Heraufreißen‹ der stagnierenden Kurven provoziert, spiegelt sich in den Magazin-Covers in intermittierender Weise. Dabei ist die Einführung eines drittelseitigen Cover-Bilds in der Wochenzeitung Die Zeit sympto237
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matisch. Wie die Beispiele zeigen, inszenieren die Covers nur in einer Minderzahl von Fällen, die ich allerdings für symptomatisch halte, die Kurvenlandschaft selbst (die natürlich im Inneren der Hefte allgegenwärtig ist). Relativ häufig sind dagegen kollektivsymbolische Darstellungen mit konnotativem Bezug auf die Kurvenlandschaft. Dabei fehlt es nicht an dramatischen symbolischen Narrativen. Dennoch fehlt völlig die auch bloß warnende, hypothetische Symbolisierung eines möglichen katastrophischen Ausgangs aus der Krise, der wenn überhaupt in einen normalistischen Zustand, dann in eine völlig andere »Normalität« münden würde. Dennoch kann diese Eventualität eines Scheiterns der »Reformen« durch Zusammenstutzen des Sozialstaats zwecks Erhöhung der Kapitalrenditen ja keineswegs ausgeschlossen werden: Was, wenn die gesteigerten Renditen in Aktienrückkäufe, Finanzspekulationen, teure Übernahmeschlachten und Investitionen allenfalls in Billiglohnländern statt in normale deutsche Arbeitsplätze fließen sollten und folglich die Arbeitslosenkurve auch nach den »Reformen« nicht sinken oder sogar weiter steigen würde? Das wäre die Eventualität eines ernsthaften historischen Einschnitts im vorgeblich »posthistorischen« Normalismus. Es will mir scheinen, als ob ein solcher historischer Einschnitt in den normalistischen Diskursen und Medien unsagbar wäre – und zwar nicht aus manipulatorischer Absicht, sondern aus strukturellen Gründen. Sagbar ist in den normalistischen Narrativen lediglich eine vorübergehende Kurvenschwäche, also Denormalisierung mit anschließender Normalisierung, keine irreversible Denormalisierung, d.h. kein Systemkollaps des Normalismus. Dieser Kollaps ist deshalb unsagbar, weil er ausschließlich als Apokalypse, d.h. in symbolisch-mythischen Narrativen kodiert werden kann. Solche apokalyptischen Narrative, mit denen uns Hollywood eindeckt, funktionieren nur indirekt normalistisch als drastische, über jedes normalistische Maß hinaus übertriebene Frühwarnsignale, hauptsächlich jedoch als autonome mythisch-fiktionale Narrative eines speziellen thrill-Genres, des Disaster-Movies. Als solche bilden sie aber paradoxerweise eine Art narrativen Schutzschild gegen jede ›ernsthafte‹ Narrativierung von Kollaps-Szenarien in normalistischen mittleren Geschichten. Dem entspricht die Unsagbarkeit realistischer Szenarien irreversibler Denormalisierung z.B. auch in Kommentaren oder Talkshows über die Krise. Diese Unsagbarkeit wird strukturell verstärkt durch die enge Kopplung zwischen den normalistischen, z.B. symbolisch sportiv kodierten Narrativen mit ihrer repetitiven Struktur auf der diskursiven Ebene einerseits und den medialen Formaten mit ihrer rituell-repetitiven Struktur (jeden Sonntagabend Christiansen) anderseits. Diese Kopplung generiert Ahistorizität, weil sie strukturell keine größere Katastrophe kennt als den
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zeitweiligen Abstieg einer Fußballmannschaft aus der Ersten Liga, auf den nach kurzer Zeit immer der Wiederaufstieg folgen kann. Ich möchte ein Spiegel-Cover besonders kommentieren, das mir als Grenzfall meine These letztlich zu bestätigen scheint (Abb. 4). Das Cover vom 19. Mai 2003 setzt einen scharfen symbolischen Bruch, indem es auf das formatkonstitutive Bild ganz verzichtet, ebenso wie auf die Farbe, und so mit der symbolischen Rückkehr zur bloßen Schrift und zu Schwarz-Weiß so etwas wie einen Bildschirm-, ja medialen »Absturz« konnotiert. Dabei projizieren die roten Themen »Wirtschaftskrise/Steuerdesaster/Staatsversagen« sozusagen drei ins Bodenlose abstürzende Kurven auf den »inneren Bildschirm« des Lesers, die er quasi vor dessen Erlöschen noch halluzinativ wahrnehmen kann. Zweifellos ist hier ein Kollaps konnotiert, aber ist es ein Systemkollaps? Dem widerspricht das Thema »Wahrheit vs. Lüge«: Wenn der Absturz bloß von der Lüge kommt, wird die Wahrheit den Ruck und Befreiungsschlag bringen – wie bei einer vom Abstieg bedrohten Fußballmannschaft – die »Reformen« werden’s schon reißen. Nun könnte man einwenden, dass ich meine These einer mittleren Geschichte ohne historische Applikationsfähigkeit und ohne Sagbarkeit des historischen Einschnitts insofern ungenügend begründet hätte, als ich mich auf die deutsche Innenpolitik beschränkt hätte, als ob es keinen 11. September und keinen globalen War on Terror gegeben hätte und gäbe. In der Tat muss der War on Terror als genialer Versuch des Teams des jüngeren Bush anerkannt werden, eine mindestens ebenso mächtige mittlere Geschichte wie die des Kalten Krieges zu generieren. Und natürlich besteht eine Tendenz zur Überdetermination kleinerer mittlerer Geschichten wie der der deutschen Krise durch diese neuerliche mittlere Welt-Geschichte. Aber auch in der Geschichte des War on Terror ist die irreversible Denormalisierung unsagbar, und das in sogar noch höherem Maße. Denn diese Geschichte impliziert noch einen zweiten Geniestreich, der in der Integration von Normalität und Apokalypse besteht. Die Reproduzität der medialen Geschichte des War on Terror besteht in der intermittierenden und häufig kontingent wirkenden Insertion apokalyptischer Narreme (Anthrax-Briefe, Meldungen über Massenvernichtungswaffen in der Achse des Bösen, Mega-Terroranschläge, Mega-Präventivschläge bzw. Präventivkriege gegen mutmaßlichen Terror, explodierende Ölanlagen usw.) in die Kette normalistischer Narreme wie steigender und fallender ökonomischer und sonstiger Kurven. Daraus ergibt sich eine Narration des folgenden Typs: sinkende Normalität – sinkende Normalität – steigende Normalität – MEGATERROR!!! – steigende Normalität – MEGATERROR!!! – sinkende Normalität – steigende Normalität usw.
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Um die Struktur dieses Typs von mittlerer Geschichte zu begreifen, müssen Theoreme wie das Baudrillardsche Simulationskonzept einbezogen werden (Baudrillard 1976): Die intermittierenden apokalyptischen Insertionen wirken aufgrund der rituell-reproduktiven Medienstruktur analog zu Disaster-Movies lediglich als überzogene Frühwarnungen bzw. als versicherungsartig minimalisierte Partial-Apokalypsen. Sie bilden also einen zusätzlichen symbolischen Schutzschild gegen die Denkmöglichkeit des historischen Einschnitts. Apocalypse will not take place since there is mini-apocalypse now. Das Terror-Insert ändert also nichts an der oben beschriebenen sowohl diskursiven wie medialen Reproduzität mit radikal ahistorischem Effekt, es verstärkt diesen Effekt bloß. Was speziell die Kopplung zwischen der mittleren Geschichte der deutschen Krise und der des Global War on Terror in dem hier untersuchten Format angeht, so hat sich Die Zeit auf der Joffe-Linie zeitweilig durch eine Kopplung per Analogie hervorgetan: Schröder als sportiver Kämpfer, der drückebergerische Schwächen sowohl gegenüber den Gewerkschaften wie gegenüber »Saddam« zeigte (Abb. 5 und 6). Diese Kopplungslinie wurde seit dem bröckelnden Endsieg im Irak aus der Reproduktion genommen. Das Beispiel zeigt nochmals die prinzipiell intermittierende, fragmentarische, disseminierte und ›atomisierte‹ Struktur der medialen mittleren Geschichten: Um ihr narratives Profil sichtbar zu machen, muss mit massenhaftem Material und mit statistischer Plausibilität gearbeitet werden. Möglicherweise ist z.B. die Parallelführung der Geschichte der deutschen Krise und des Terrorkriegs in der Zeit definitiv beendet – eventuell kann sie aber in anderem Kontext auf der Basis neuer Ereignisse wieder aufgenommen und fortgesetzt werden. Wir haben es also mit quasi geflochtenen Stücken von Geschichten zu tun, aus denen sich einige wenige dominant herausentwickeln. Als Resultat der vorliegenden Materialien und Überlegungen scheint sich die Hypothese zu verstärken, derzufolge die mediopolitischen Eliten nicht weniger als ihre Rezipientinnen im Raum der »posthistorischen« medialen Reproduzität gefangen wären, so dass ihnen bereits die bloße Fragestellung nach einer möglichen historischen Grenze des Normalismus als aktuelle Gestalt des historischen Einschnitts unsagbar, undenkbar und unwissbar wäre. Als »mittlere Geschichte« der nächsten Zeit scheint sich der Mix zwischen Denormalisierung/Normalisierung (momentan mit Vermeidung der Begriffe) und dem Terror-Insert zu erweisen. Diese Geschichte kann dominant normalistisch oder dominant apokalyptisch rezipiert werden – für die zweite Option stehen »fundamentalistische« Rezipientinnen nicht bloß im islamischen Krisenhalbmond, sondern auch im amerikanischen Bible Belt. In welche Situation die diskursive und mediale Unsagbarkeit von Historie im ›eigentlichen‹ Sinne führen
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könnte, falls die Normalisierung ausbleibt, darüber kann – wie gezeigt – innerhalb des hegemonialen mediopolitischen Diskurses aus strukturellen Gründen niemand nachdenken. Darüber müsste aber nachgedacht werden, sollte man meinen. (Verfasst Ende 2004 – bestätigt im weiteren Verlauf der Krise, insbesondere im turbulenten Jahr 2005 mit der vorzeitigen, also nicht normalen Auflösung des Parlaments, dem nicht normalen, da gegen den Binarismus und gegen die normalistischen Prognosen verstoßenden Wahlergebnis und der Bildung einer eigentlich für Notstandssituationen reservierten, nun aber jedenfalls anfangs konnotativ als normal inszenierten Großen Koalition: Die Medien erwiesen sich als strukturell unfähig, diese Ereignisse entweder als »normal« oder als »nicht normal« zu diskursivieren!)
Literatur Baudrillard, Jean (1976): L’échange symbolique et la mort, Paris: Gallimard. (dt. Übersetzung: Der symbolische Tausch und der Tod, München, Matthes & Seitz, 1991). Blumenberg, Hans (1960): »Paradigmen zu einer Metaphorologie«. Archiv für Begriffsgeschichte, 6, S. 7–142. Demandt, Alexander (1978): Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München: Beck. Faye, Jean-Pierre (1977): Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativen Vernunft. Kritik der narrativen Ökonomie, 2 Bde., Berlin: Ullstein. Fukuyama, Francis (1993): The End of History and The Last Man, New York: Avon Books. Gerhard, Ute/Link, Jürgen/Schulte-Holtey, Ernst (Hg.) (2001): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg: Synchron. Lakoff, George/Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by, Chicago: University of Chicago Press. Link, Jürgen (1984): »Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution«. In: Ders./Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 36–92. Link, Jürgen (1996): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 1. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag. Link, Jürgen (1999): »›Normalität‹: Mehr als eine Akzeptanzkeule? Ein Vorschlag zur Güte aus der Sicht der Normalismusforschung«.
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kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 38/39, S. 125–129. Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus, 3., neu bearbeitete und ergänzte Aufl., Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Lyotard, Jean-François (1979): La condition postmoderne, Paris: Minuit. (dt. Übersetzung: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz, Böhlau, 1986). Parr, Rolf (2001): »Blicke auf Spielleiter – strukturfunktional, interdiskurstheoretisch, normalistisch«. In: Ders./Matthias Thiele (Hg.), Gottschalk, Kerner & Co., Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 13–38. Thiele, Matthias (2001): »Spielshows und Spielleiter – ein Forschungsüberblick«. In: Rolf Parr/Ders. (Hg.), Gottschalk, Kerner & Co., Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 39–101. Winkler, Hartmut (2004): Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Abbildungen: Abb. 1: Der Spiegel, 51, 13.12.2004 Abb. 2: Der Spiegel, 11, 13.03.2000 Abb. 3: eigene Grafik Abb. 4: Der Spiegel, 21, 19.05.2003 Abb. 5: Die Zeit, 18, 24.04.2003 Abb. 6: Die Zeit, 5, 23.01.2003
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PRODUKTION
VON
REZEPTION
»M O N S T E R
RETURNS IN SHOCKER
THAT WILL ATTRACT WHERE AUDIENCES LIKE THRILLS AND CHILLS«
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PRODUKT UND PUBLIKUM IN DER GENREPRODUKTION HOLLYWOODS PATRICK VONDERAU
1944 inszenierte Le Roy Prinz unter dem Titel MUSICAL MOVIELAND eine Hollywood-Studio-Tour in Musical-Form. Der Vitaphone-Kurzfilm beginnt mit einem Schwenk über das Studiogelände und einer Voice Over-Narration: »Movieland – a magic world of let’s pretend, where made to order emotions are blended into a tempting fair within the walls of its giant studios and served to you on a silver screen.«2 Hollywoods Produkte, so die Mitteilung, sind made to order, tailored on demand. Seit Beginn der vierziger Jahre, als Marktforscher offiziell begannen, den magischen Appeal der Filmwelt statistisch zu vermessen, gehören solche Aussagen zu Hollywoods Rhetorik der Rationalisierung. Historisch betrachtet, arbeitete die US-amerikanische Filmindustrie indes seit ihren Anfängen nachfrageorientiert. Tatsächlich ist die Filmgeschichte auch eine Geschichte der vergeblichen Versuche, diese Nachfrage zu ermitteln. Der vorliegende Aufsatz skizziert ein Kapitel aus dieser ungeschriebenen Geschichte, wobei die Genreproduktion in der ›klassischen‹ Ära des Hollywood-Oligopols 1930–1950 im Mittelpunkt steht. Mein Beispiel sind die Horrorzyklen, die Universal und RKO zu Beginn der dreißiger respektive vierziger Jahre herstellten; wie ich zeigen werde, richtete die Filmindustrie ihre Produktion schon frühzeitig an spezifischen Publikumssegmenten aus, wofür Genres wie der Horrorfilm eine entscheidende Rolle spielten. In der Filmliteratur herrscht der Eindruck vor, die Studios hätten in der klassischen Ära des Hollywoodkinos keine effiziente Marktforschung 1 2
Anonymus (1939): »Son of Frankenstein«. Variety, 18. Januar 1939. Dank an Vinzenz Hediger für den Hinweis auf diesen Film sowie an Jan-Otmar Hesse für Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes.
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betrieben (Jowett 1985: 19). Demnach begann das Studio-Management erst in den vierziger Jahren, unter dem Einfluss der politischen Meinungsforschung sowie der im Print- und Rundfunksektor durchgeführten Publikumsstudien, Produktionsentscheidungen empirisch zu überprüfen (Ohmer 1991: 3). Legt man die Maßstäbe zugrunde, die George Gallup und Paul F. Lazarsfeld als bekannteste Pioniere dieser Branchen der Massenkommunikationsforschung entwickelt haben, scheinen die von den Kino-Mogulen zuvor verwandten Verfahren in der Tat eher unsystematischer Art gewesen zu sein. Leo Handel, der 1950 mit Hollywood Looks at its Audience das erste branchenspezifische Handbuch zum Thema vorlegte, kam zu eben diesem Schluss (Handel 1950: 3–11). Gallup, Lazarsfeld und Handel waren indes daran interessiert, die Dienste der von ihnen geleiteten kommerziellen Forschungsinstitute – dem Audience Research Institute, dem Office of Radio Research (später Bureau of Applied Social Research) sowie dem Motion Picture Research Bureau – als neu und verlässlich durchzusetzen. Sie trugen mit statistischen Forschungsdesigns und der sie begleitenden Innovationsrhetorik aktiv zu dem Eindruck jenes Paradigmenwechsels bei, den die Fachgeschichte heute als historischen Umbruch von der bloßen Markterkundung zur wissenschaftlichen Marktforschung beschreibt (vgl. Keller 2001). Die Studiobosse, ihrerseits um das Image entscheidungsautonomer Industriekapitäne bemüht, ließen keine Gelegenheit aus, Produktionsentscheidungen ganz auf die eigene Intuition zurückzuführen. Harry Cohn, Columbias berüchtigter Präsident, behauptete die mindere Qualität eines Films allein daran erkennen zu können, dass sich sein Hintern im Sessel zu winden begann. Was Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz mit der Bemerkung quittierte: »Imagine – the whole world wired to Harry Cohn’s ass!« (zit.n. Thomas 1967: 141f.). Ungeachtet der Selbstpromotion, die Hollywood ebenso pflegte wie die ihr vor- oder nachgelagerte neue Medienindustrie der Marktforschung, wurden Ansätze zur strategischen Planung der Filmproduktion jedoch bereits zum Ausgang der zehner Jahre, lange vor Etablierung des Hollywood-Oligopols um 1930, standardisiert. Zu Beginn jeder Saison berechneten die Produzenten gemeinsam mit der Studioleitung den erwarteten Gewinn und legten, indem sie die sich ergebende Summe als Gesamtbudget voraussetzten, die Anzahl der Typen von Filmen sowie die jeweiligen Investitionssummen für die Produktion fest (Staiger 1985: 143f.). Filmprojekte wurden nach Kostenebenen wie »A«, »B«, »Programmers« und »Specials« sowie nach story types (Genres)3 zu einem 3
Die Bezeichnung story type deckt sich nicht mit dem komplexen Genrebegriff der filmwissenschaftlichen Fachliteratur (Altman 1999) oder dem heutigen Alltagsverständnis von Genres. Leo Handel und andere zeitgenössische Kenner der Branche hatten eine ausgesprochen handwerkliche Vorstellung von
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Saison-Portfolio zusammengestellt, das dem Wunsch der Kinobetreiber nach ausgewogenen Programmen entgegenkam, aber auch dem der Finanziers nach einer Verteilung des Investitionsrisikos (vgl. Bowser 1990: 167; de Vany 2004: 268). Die Genreproduktion diente somit als ein »System der regulierten Differenz« (Austin 2002: 114), insofern sie systematisch auf Varietät in Inhalt und Investition ausgerichtet war. Sie bot verschiedenen Zuschauern verschiedene Filme und darüber hinaus einige, die idealer Weise allen gefallen würden (Maltby 2000: 25). Die Studios spezialisierten sich dabei nicht auf einzelne Genres, selbst wenn innerhalb der Unternehmen spezialisierte Regisseure oder Associate Producer arbeiteten, die wie etwa James Whale bei Universal und Val Lewton bei RKO dem Management in der Kreation einer eigenen brand of horror assistierten. Sowenig die Studios sich dauerhaft auf einzelne Genres festlegten, sowenig waren sie zugleich daran interessiert, Typen von Filmen beim Zuschauer unbegrenzt durchzuprobieren. Im Prinzip war die Produktion von Genres der bloße Nebeneffekt von Standardisierungsprozessen, die in kurzfristigen Zyklen organisiert waren und es auch heute noch sind (Staiger 1985: 111; Altman 1998: 11). Um der Unsicherheit zu begegnen, die den Filmmarkt prägt, bemühten sich die Filmfirmen bei sinkender Nachfrage um eine größere Varietät ihrer Produkte (Miller/Shamsie 1999: 99). Wenn jedoch ein Erzählmotiv, ein Stil oder eine Technik an der Kinokasse nachweislich zum Erfolg führte, versuchte das Management, den Erfolg durch Imitation des ihn auslösenden Merkmals zu wiederholen. Dieses konservative Prinzip von Planungsentscheidungen, vom Ökonomen Arthur de Vany als »certainty effect« bezeichnet (de Vany 2004: 270), führte zu einer Konvergenz bewährter Formelemente (vgl. Dominick 1987: 138). Das Resultat war ein Zyklus von Filmen, die ein sich verstärkendes Muster von Ähnlichkeiten – eben auch generischer Art – ausbildeten (Balio 1993: 101). Sobald also eine Nachfrage zu beobachten war, versuchte das Studio-Management sie in eine ›sichere‹ Nachfrage nach Ähnlichkeiten zu verwandeln, und die Produktvarietät nahm ab (Miller/Shamsie 1999: 110; Neale 2000: 231). In der Regel wurde ein Zyklus dann solange fortgesetzt, bis sich der auslösende ›Prototyp‹ als Ressource verbraucht hatte oder der Markt mit zu vielen ähnlichen Filmen gesättigt war. Das Ausgangsmoment für den Planungsentscheid eines Zyklus bildete dabei, wie wir gleich sehen werden, nichts anderes als genuine Marktanalyse.
Genres, auch wenn sie sich wohl bewusst waren, dass Genres keine einfach identifizierbaren Kategorien darstellten. Ich unterscheide hier story types als grobe Planungsgrößen von Genres als Resultat eines zyklischen Produktionsprozesses; siehe dazu die folgenden Ausführungen.
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Universals ›klassische‹ Horrorfilme der Jahre 1931 bis 1936 entstanden eben in einem solchen Zyklus. Gewiss gab es bereits zuvor Versionen filmischen Horrors, so etwa mindestens drei Adaptionen des FrankensteinStoffes durch Thomas A. Edison 1910, Joseph W. Smiley 1915 und Eugenio Testa 1920. Keinem Filmunternehmen scheint es indessen bis zum Beginn der dreißiger Jahre gelungen zu sein, Horror als populäres Stoffgebiet über einen Genrezyklus auf dem Markt zu etablieren. Der Anreiz für Universal, einen solchen zu lancieren, bestand zunächst nur in der Erwartung, das Genre würde einen kosteneffizienten Einstieg in die Produktion von »A«-Klasse-Filmen ermöglichen (Balio 1995: 104). Als kleines Studio war Universal kaum konkurrenzfähig gegenüber den Big Five, den »Majors« Metro Goldwyn Mayer, Paramount, Twentieth Century Fox, Warner Bros. und RKO. DRACULA (USA 1931, Tod Browning) schien in diesem Zusammenhang schon deshalb lohnend, weil die Bühnenversion von Bram Stokers Roman zwei Jahre erfolgreich am Broadway gelaufen war. Die Adaption ermöglichte es Universal, Kosten für die Stoffentwicklung zu sparen, auf Stars zu verzichten, vorhandene Sets zu nutzen und unter Vertrag stehende Mitarbeiter optimal einzusetzen, ohne dass sich dies nachteilig auf die Produktionswerte ausgewirkt hätte (Gomery 1996: 58). Die Einspielergebnisse stimulierten das Studio zu dem Versuch, mit FRANKENSTEIN (USA 1931, James Whale) jene Qualitäten zu imitieren, die kommerziell erfolgreich darin gewesen waren, das Produkt gegenüber denen der Konkurrenz zu differenzieren. Der Branchenpresse entging dies nicht: »Looks like a ›Dracula‹ plus«, befand Variety zu FRANKENSTEIN, und THE BLACK CAT (USA 1934, Edgar Ulmer), in dem der Vampir-Darsteller Bela Lugosi an der Seite von Boris Karloff, der Kreatur aus Whales Film, besetzt war, kommentierte das Blatt trocken: »Universal has of course proceeded on the theory that if Frankenstein was a monster and Dracula a nightmare, the two in combination would constitute the final gasp in cinematic delirium.«4 Der Zyklus hatte zu diesem Zeitpunkt indes gerade erst begonnen, und Universal erwies sich mit der Zeit als überaus erfindungsreich darin, die einmal entdeckte Ader konsequent abzuschöpfen. Das Studio kombinierte die Hauptdarsteller der Initialerfolge, erweiterte zügig das Monsterrepertoire (so mit THE INVISIBLE MAN, USA 1933, James Whale), fand neue Ansätze für das Plotting (zum Beispiel das »Haunted House«-Sujet in THE OLD DARK HOUSE, USA 1932, James Whale) und ging schließlich zur Herstellung von Sequels über (BRIDE OF FRANKENSTEIN, USA 1935, James Whale). Im Zeitraum 1931–1946 produzierte Universal insgesamt über 80 abendfüllende Horrorspielfilme. 4
Rush. (1931): »Frankenstein«. Variety, 8. Dezember 1931; Land. (1934): »The Black Cat«. Variety, 29. Mai 1934.
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Der Anstoß für diesen Zyklus beruhte wie erwähnt auf Marktanalysen, und wenn man einmal davon absieht, diese an den Techniken zu messen, die Lazarsfeld, Gallup und Handel später als Industriestandard durchzusetzen suchten, wird schnell offensichtlich, dass sie weder theoretischer Prämissen noch einer eigenen Systematik entbehrten. Universals Horrorfilme waren zwar wenig erfolgreich darin, das Studio an dem oberen Ende des Marktes zu etablieren. Das Management setzte den Zyklus jedoch fort, weil es eine Nachfrage unterstellen konnte, die, wenn auch nicht das gesamte potenzielle Kinopublikum, so doch ein zuverlässiges Segment von Zuschauern umfasste. Um dieses Marktsegment zu ermitteln, betrieb Universal eine frühe Form von Marktforschung und erwies sich darin neben RKO als Pionier (Bakker 2003: 106). Das Marktgeschehen wurde dabei vor allem anhand von Informationen aus und über die Kinos beschrieben. Den wichtigsten Planungsgrund bildete die Analyse der Nettoeinspielergebnisse, besonders bei Premieren am Broadway, die als sichere Indikatoren für weitere Auswertungserfolge galten. Noch heute sind die Box Office-Daten die zentrale Messgröße für die Wettbewerbsfähigkeit eines Films (Hayes/Bing 2004). Genres lieferten einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt (Maltby 2000). Da Genres in der Budgetierung der Studios eingeplant waren, die Planung auf Gewinndaten aus den Aufführungstheatern basierte und die Kinos ihrerseits im Blick auf spezifische Publika an bestimmten Orten errichtet, gestaltet und bespielt wurden, können Genres de facto als direkter Ausdruck des Bemühens verstanden werden, die Nachfrage nach filmischer Unterhaltung zu managen. Informationen über die Absatzchancen von story types in bestimmten Kinos oder bei spezifischen Zuschauergruppen erhielt das Sales Department dabei vor allem auf Filmverkaufsmessen von Kinobetreibern (Maltby 2000: 24). Deren Berichte halfen dem Studio-Management, den Bedarf an bestimmten Genres quantitativ grob abzuschätzen. Darüber hinaus arbeiteten die Studios mit »mail questionnaires«, also Briefbefragungen, wie sie in der betriebswirtschaftlichen Marktanalyse seit den zehner Jahren verbreitet waren, um Aufschlüsse über die Präferenzen der Zuschauer zu gewinnen. Universal korrespondierte schon zum Ende der zwanziger Jahre regelmäßig mit 300 Personen, von denen das Studio sich Hinweise auf Plotverständnis und Publikumsreaktionen erwartete (Bakker 2003: 106f.). Alle großen Filmfirmen werteten in einer eigenen Abteilung Fanpost aus, die den Appeal ihrer Stars erkennen ließ, und führten Sneak Previews durch, um das fertige Produkt gegebenenfalls durch Kürzungen oder Retakes auf den Publikumsgeschmack hin trimmen zu können (Handel 1950: 10f.). Schließlich studierten die Manager des Studios die zur Verfügung stehenden Branchenpublikationen, von Fanmagazinen bis hin zu Fachblättern wie Variety oder dem Motion
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Picture Herald. Auch wenn alle diese Bemühungen, die Produktion auf eine unterstellte Nachfrage zuzuschneiden, später als unzureichend hingestellt wurden, entsprachen sie doch den zeitgenössischen Prinzipien und Techniken des Scientific Marketing mit seiner rigorosen Ausrichtung auf den Konsumenten und seiner »theory of finding out what the consumer wants and then giving it to him« (White 1927: 98ff.; vgl. Duncan 1922: 160; Reilly 1929: 106–116). Nachdem Percival White zu Beginn der zwanziger Jahre die Idee einer »Messbarkeit der Märkte« durchgesetzt hatte, hatten sich Marktfeedback-Technologien entwickelt (vgl. Beniger 1986: 376–389), deren Wert zunächst weniger vom methodologischen Imperativ der ›Wissenschaftlichkeit‹ bestimmt wurde, als von ihrer Angemessenheit und dem erforderlichen Kosten- und Zeitaufwand. Grobe Abschätzungen der Marktlage galten als ausreichend.5 Die Filmbesprechungen der Branchenpresse bilden einen heute noch leicht zugänglichen und genuinen Bestandteil solch ›primitiven‹ Marktfeedbacks.6 Variety etwa ging davon aus, dass die Spielfilme Hollywoods zwar idealerweise ein größtmögliches Publikum erreichen sollten, dies aber de facto meist nicht leisten könnten. Die Kritiken des täglich erscheinenden Fachblattes unterstellten den Publika bestimmter Typen von Kinos bestimmte Präferenzen. In der Filmberichterstattung wurden »Geschmackssegmente« (vgl. Cantor/Cantor 1986) des Publikums definiert und mit Programmtypen assoziiert, wie sie in gewissen Häusern gepflegt wurden. So bemerkte Varietys Reporter zu den Auswertungschancen von MURDERS IN THE RUE MORGUE (USA 1932, Robert Florey), dem dritten Film im Universal-Zyklus, nachdem er der Premiere beigewohnt hatte: »At the Mayfair a cynical audience hooted the finale hokum, but away from Broadway the chase and its finish shouldn’t meet such hardboiled resistance.« Ähnlich kommentierte die Kritik THE OLD DARK HOUSE sowie SON OF FRANKENSTEIN (USA 1939, Rowland V. Lee), zu dem es hieß:
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In Measurement in Radio (1934), Frederick Lumleys Handbuch zu den gängigen Messverfahren der Radioforschung, heißt es: »In discussing the value of and need for measurement, it must be realized that the most suitable measures are not necessarily the most scientific. There are two facts which control the measurements needed in any particular case. In the first place, a rough measurement may reveal all that is desired, and, in the second place, the cost of the information may be an important consideration. Any appraisal of survey methods must be made in terms of the usefulness of the information and the cost of securing it.« (Lumley 1934: 13) Schon C. S. Duncan verwies in seinem Standardwerk Commercial Research. An Outline of Working Principles (1919) auf die zu Beginn der 20er Jahre aufblühenden spezialisierten Fachblätter: »Any one interested who has the opportunity to read these journals carefully will be able to glean from their pages a vast amount of valuable information.« (Duncan 1922: 110)
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PRODUKT UND PUBLIKUM IN DER GENREPRODUKTION HOLLYWOODS »Typical chiller developed on regulation formula, ›Son of Frankenstein‹ will attract substantial business in those houses where audiences like their melodrama strong and weird. Rather strong material for the top keys, picture still will garner plenty of bookings in the secondary first runs along the main stem.«7
Das Publikum wurde also über eine Aufstellung von Genres erfasst, die ihrerseits in einer Typologie der Kinos aufgehoben war (vgl. Maltby 2000). Genres gestatteten es über die Unterstellung von Geschmackspräferenzen zugleich, die Nachfrage anhand einfacher demographischer Kriterien wie Geschlecht oder Alter ›vorzusortieren‹. Universal spekulierte zu Beginn des Horror-Zyklus beispielsweise explizit auf das Interesse eines weiblichen Publikums (vgl. Berenstein 1996: 65f.). DRACULA eröffnete am Valentinstag 1931, umrahmt von einer romantischen Kampagne, die suggestive Slogans wie »The Strangest Love Story of All« verwandte. Die Hoffnung, dass Frauen den Film mögen würden, beruhte dabei nicht nur auf der erotisierenden Vampirgeschichte, wie die Kritik zu FRANKENSTEIN verdeutlicht: »Appeal is candidly to the morbid side and the screen effect is up to promised specifications. Feminine fans seem to get some sort of emotional kick out of this sublimation of the bedtime ghost story done with all the literalness of the camera. The audience for this type of film is probably the detective story readers and the mystery yarn radio listeners. Sufficient to insure financial success if these pictures are well made.«8
Die Mutmaßung, der Film könne die Hörerschaft von Mystery-Serien binden, wie sie mit Lights Out! und den Inner Sanctum Mysteries zur Mitte der Dekade hin populär wurden, betraf insofern vor allem ein weibliches Publikum, dessen Hang zu Mystery und Romance als verbürgt galt (Berenstein 1996: 66). Universal setzte auf diese Frauen, um auf den umkämpften Markt für Premium-Produkte vorzudringen, wurde Frauen doch nachgesagt, das Kinobesuchsverhalten insgesamt zu bestimmen. Gleichwohl konnte sich das Studio keineswegs sicher sein, dass diese Strategie auch aufgehen würde, wie Variety im Blick auf DRACULA notierte: »Here was a picture whose screen fortunes must have caused much uncertainty as to the femme fan reaction. As it turns out all the signs are that the woman angle is favorable and that sets the picture 7 8
Bige. (1931): »Murders in Rue Morgue«. Variety, 16. Februar 1932; Abel. (1932): »Old Dark House«. Variety, 1. November 1932; Anonymus (1939) »Son of Frankenstein«. Variety, 18. Januar 1939. Rush. (1931): »Frankenstein«. Variety, 8. Dezember 1931.
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for better than average money at the box office«.9 Im Verlauf des Zyklus wurde eine besondere Affinität von Frauen für das Genre jedoch dann nicht mehr hervorgehoben. Es bleibt zu mutmaßen, dass dies mit dem gescheiterten Versuch zu tun hat, das Interesse von Zuschauern erstklassiger urbaner Premierenhäuser, für die das weibliche Broadway-Auditorium gleichsam stellvertretend einstand, an späteren Filmen wachzuhalten. Variety jedenfalls registrierte aufmerksam, wie sich Publikumsinteressen und Produktionsstrategien nach und nach zu den ›niederen‹ Auswertungszonen hin verlagerten, wo das Genre unter jüngeren Zuschauern loyale Gefolgschaft gewann. Die Filmbesprechungen gingen in ihrer Analyse noch weiter und beschrieben, welche der im jeweiligen Film verwandten formalen Mittel bei den Zuschauern welchen Effekt hatten und inwiefern diese Techniken im konkreten Fall dazu beitrugen, die an das Genre vom Publikum zunehmend herangetragene Leistungserwartung zu erfüllen.10 Die Beispiele sollten aber bereits ausreichend verdeutlicht haben, dass die Filmindustrie in den frühen dreißiger Jahren keineswegs von einem undifferenzierten Massenpublikum ausging. Natürlich dokumentieren die Kritiken allenfalls bruchstückhaft ein Verfahren der Marktanalyse, dessen Konturen mithilfe von Studio-Archivalien umfassender nachzuzeichnen wären. Es scheint jedoch, dass der hier vorgestellte Ansatz einer »generischen Klassifikation« der Nachfrage (vgl. Maltby 2000: 24) kaum weniger effizient war als die später von Lazarsfeld, Gallup und anderen entwickelten Methoden. De facto wären die Untersuchungen dieser ›Pioniere‹ genauer auf ihre Innovationsleistung hin zu befragen. So analysierten Lazarsfeld und seine Mitarbeiter beim Office of Radio Research zwar eine weitaus größere Bandbreite an Phänomenen; die Engführung von marktwirtschaftlichen und sozialpsychologischen Interessen führte jedoch zu einem recht uniformen Konzept des (Radio-)Publikums (vgl. Douglas 1999: 124– 160). In der kommerziellen Massenkommunikationsforschung der vierziger Jahre wurde die Verkoppelung von Programmtypen mit lokalen, über die konkreten Aufführungsmedien gefassten Märkten außerdem nicht weiter verfolgt. Obwohl die Radio-Stationen Daten über ihre Hörerschaft sammelten und in der Programmgestaltung auswerteten (Abbott 1937: 282), produzierte die von Lazarsfeld verbreitete Befragungstechnik fast ausschließlich Wissen über ein homogenisiertes, landesweites Massen9 Rush. (1931): »Dracula«. Variety, 18. Februar 1931. 10 So hieß es zu THE INVISIBLE MAN: »Imagine a person being able to do anything without being seen by the human eye. Add to that the chance the man is a maniac, bent on murder. Mix it into a story that has reasonable conviction, [...] toss in a little love interest, and you have ›Invisible Man‹, a picture that develops something new and refreshing in film frigtheners.« Char. (1933): »The Invisible Man«. Variety, 21. November 1933.
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publikum. Dies gilt auch für die Studie zu den Hörern des »Daytime Serial«, die Herta Herzog für das Office of Radio Research anfertigte.11 Selbst wenn die vom Office durchgeführten Umfragen es somit erlaubten, quantitativ weitreichende Aussagen über das Publikum der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie zu treffen, verengten sie das Spektrum der Marktforschung doch zugleich auf ein schmales Brevier ›zeitgemäßer‹ Fragestellungen (vgl. Lumley 1934: 227–234). Dies trifft in besonderem Maße auf die Publikumsforschung zu, die Lazarsfeld für die Filmindustrie unternahm, und die deutlich von Problematiken der Massenkommunikation im Krieg geprägt war. Ähnlich verhielt es sich mit den Untersuchungen Gallups, die Methoden der politischen Meinungsforschung auf den Filmmarkt applizierten; sie bestanden im wesentlichen aus repräsentativen Befragungen zum Kinobesuchsverhalten, anhand derer jeweils Einzelfälle getestet wurden (Bakker 2003: 115). Im März 1940 unterzeichnete RKO einen Vertrag mit dem von Gallup geleiteten Audience Research Institute (ARI); die nächsten zehn Jahre gab das Studio mehrere tausend Analysen in Auftrag (Ohmer 1991: 11). RKO, aufgrund stark gestiegener Produktionskosten und eines intensivierten Wettbewerbs zu größerer Kosteneffizienz gezwungen, erhoffte sich von Gallups Repräsentativbefragungen ›wissenschaftlich‹ valide Grundlagen für die Produktionsplanung. David Selznick hatte bereits 1938–1939 für GONE WITH THE WIND (USA 1939, Victor Fleming) von Gallups Daten Gebrauch gemacht; der überwältigende Erfolg des Films bestätigte RKO in der Absicht, Story-Entwürfe, Titel und Stars systematisch überprüfen zu lassen. Wie erwähnt geschah dies auf Grundlage übergeordneter policies, die ARI für das Studio entwickelte. So riet Gallup, zwei Kostenebenen der Produktion einzuführen: eine Sparte teurer Filme für ein möglichst großes Publikum und eine Sparte möglichst günstig hergestellter Filme für genrespezifische, jugendliche Publikumssegmente. Die berühmte Low Budget-Unit des RKO-Produzenten Val Lewton, aus der ab 1942 ein weiterer Zyklus von ›Klassikern‹ des Horrorgenres hervorging, verdankte ihre Existenz eben dieser Empfehlung. Im August 1942 fertigte Gallup für Lewton einen Bericht an, der im Vorfeld der Produktion von I WALKED WITH A ZOMBIE (USA 1943, Jacques Tourneur) die Schwächen und Stärken des Plots klären und überdies ermitteln sollte, ob der Titel verständlich sei.12 Im Mittelpunkt stand die 11 »This is the day of the mass audiences«, begann Herzog ihre Studie, »and commanding one of the largest of these is the radio daytime serial« (Herzog 1944: 3). 12 Report 169, »I Walked With A Zombie«. Princeton, 24.8.1942. In: Gallup Looks At The Movies: Audience Research Reports 1940–1950. Princeton: American Institute of Public Opinion. Wilmington: Scholarly Resources, 1979 (Mikrofilm).
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Frage, welche von zwei Versionen der Filmerzählung beim Publikum die höhere Akzeptanz erwarten dürfe. In beiden Fassungen ging es um eine junge Krankenschwester, einen Kapitän zur See, einen Plantagenbesitzer und den Zombie, die Ehefrau des Plantagenbesitzers. Der Unterschied bestand nun darin, dass sich die Krankenschwester im einen Falle in den Plantagenbesitzer verliebte, während sie im anderen dem Kapitän verfiel, so dass die Bedrohung (ein Gift, das zum Zombie macht) das eine Mal von der Person des Seefahrers, das andere Mal von jener des Landbesitzers ausging. Gallups Mitarbeiter legten potenziellen Kinogängern die Synopsis der ersten Version zusammen mit der Synopsis eines anderen Plots vor und fragten sie, welche der beiden über ihren Kinobesuch entscheiden würde. Das Ergebnis wurde mit dem einer weiteren Repräsentativbefragung verglichen, die die zweite Plotvariante testete. Allerdings wiesen die Resultate eine so geringe Differenz auf, dass Gallup konstatierte, der ausschlaggebende Faktor sei das Sujet des Films und nicht die Gestaltung des spezifischen Plots. Er sah darin das Ergebnis früherer Untersuchungen bestätigt, denen zufolge sich die Reaktionen des Publikums auf zwei verschiedene Genres stärker unterscheiden als hinsichtlich zweier Plots desselben Genres. ARI maß dann in einer gesonderten Umfrage die Akzeptanz des Genrestoffes, die eine unterdurchschnittliche Zustimmung von lediglich 48 Prozent ergab, in ARIs hauseigenem Wertesystem eine Story »dritter Klasse« mit eingeschränkter Produktionsempfehlung: allenfalls als »B-Picture« zu realisieren. Zu den erfragten Gründen für die Ablehnung gehörten das Genre, unterstellte Ähnlichkeiten zu bekannten Sujets und die Annahme, der Film würde vermutlich keinen bekannten Cast aufweisen. ARI legte als Kernzielgruppe daraufhin ein vorwiegend männliches Publikum von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren fest, ausgehend von der Überzeugung, dass Mystery/Horror-Filme bei jungen Männern am besten ankamen.13 Während Universal also mit der Vermutung erfolgreich gewesen war, Frauen besäßen eine Affinität für Horrorfilme und Horror sei ein geeignetes Mittel für den Einstieg in den Bereich der »A«-Produktion, ging RKO vom gegenteiligen Fall eingeschränkter Genrepräferenzen, einem männlichen Publikum und Chancen im Bereich der »Bs« aus. Man könnte darin einen Beleg für die größere Genauigkeit von Gallups Prognosen sehen, doch spricht manches gegen diese Sichtweise. Gemessen an der Produktion der Studios, bahnte Gallups Forschung kaum größere Kassenerfolge an. Die Initialzyklen liefen bei Universal und RKO über einen fast gleich langen Zeitraum, wobei die Einnahmen Universals aufgrund der Premiumqualität einzelner Filme und der erfindungsreichen Neubelebungen der Horror-›Formel‹ über mehr als zehn Jahre und achtzig Filme 13 Ebd.
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ungleich höher gewesen sein müssen. Manche von Gallups Resultaten dürften die Branchenvertreter überdies kaum überrascht haben; dass zum Beispiel Präferenzen für Genres sich stärker als solche für Plots unterschieden, lag auf der Hand, und das »B«-Potenzial des Horrorgenres war anhand der sinkenden Kasseneinnahmen von Universals Zyklus allgemein beobachtbar geworden. Zudem erschien Gallups Methodik der Präferenzbefragung selbst Zeitgenossen problematisch. Leo Handel, der als Konkurrenzunternehmer guten Grund zur Kritik hatte, wies darauf hin, dass sich Zuschauer Filme nicht nach story types, sondern nach der spezifischen Story aussuchten; da es zudem keine verbindlichen Genrebegriffe gab (und gibt), konnten die Interviewer nie sicher sein, dass die von ihnen Befragten überhaupt dasselbe bezeichneten. Schließlich realisierten Filme nicht jeweils ein Genre, sondern lagen und liegen in Mischformen vor (Handel 1950: 118ff.). Es stellt sich sogar die Frage, ob die neuen Messverfahren, die Lazarsfeld und Gallup in die Marktforschung im Mediensektor einführten, nicht zu einigen grundlegenden Widersprüchen beitrugen, was das Verständnis Hollywoods von seinem ›Markt‹ betrifft. Ohne den Sachverhalt überpointieren zu wollen, ließe sich argumentieren, ihre Innovation habe vor allem darin bestanden, die in der Branche vorherrschenden »product images« mit »audience images« zu konfrontieren, ohne die beiden Sachebenen der Forschung auf produktive Weise miteinander zu verbinden (vgl. Ettema/Whitney 1994: 6ff.). In den frühen dreißiger Jahren interessierte die Filmindustrie vorwiegend das Produkt und die Frage, inwiefern es auf einem bestimmten Markt für eine Konsumentengruppe akzeptabel würde. »Product images« verbinden nach Ryan & Peterson (1982) jene, die an einem kulturellen Gut arbeiten, in einer geteilten Auffassung davon, ›wie es gemacht wird‹. Solche Images entstehen durch die Arbeit in Medienorganisationen und routinisieren sie in Form von ›Daumenregeln‹ (vgl. Bordwell 1989: 370; Bordwell/Staiger/Thompson 1985). Der Konsument interessiert dabei nur indirekt, als empirischer Testfall gewissermaßen. Zu Beginn der vierziger Jahre erschien es dann auf einmal unabdingbar, Aussagen über das Handeln der Zuschauer zu treffen. Die von Lazarsfeld angestrengten Inhaltsanalysen und Repräsentativbefragungen gingen über bloßes Marktfeedback weit hinaus: Nun rückten die von den Medienunternehmen ausgeübte soziale Kontrolle, die Wirkung der Massenmedien und die Größe und Zusammensetzung des Publikums in den Mittelpunkt (Lazarsfeld 1947: 160). Das Publikum, früher nur in wenigen, indirekt gewonnen Daten präsent, wurde zu einer statistisch erfassten, nicht minder hypothetischen Größe. »Audience images« prägen weniger die alltägliche Arbeitsroutine als übergeordnete organisationelle Strategien und Interaktionen innerhalb der Institution (vgl. Ettema/Whit-
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ney 1994: 8), und es hat den Anschein, als ob Gallups und Lazarsfelds Studien vor allem allgemeine Vorentscheidungen bei der Produktion und eine gezieltere Ausrichtung des Marketing unterstützten, die mit dem Handwerkswissen der Filmherstellung zum Teil nicht vereinbar waren. Die vom Audience Research Institute für RKO vorgeschlagenen policies sind hierfür ein Beispiel. Wie der zitierte Bericht zu I WALKED WITH A ZOMBIE zeigt, hatte die plötzliche Aufwertung der Zuschauer für den Fertigungsprozess direkte und grundlegende Konsequenzen. Was an Filmen wie CAT PEOPLE (USA 1942, Jacques Tourneur), der den RKO-Zyklus eröffnete, dabei rückblickend erstaunt, ist die große Diskrepanz zwischen der formalen Gestalt des Films und seiner Marketingkampagne. Tourneurs Inszenierung ist berühmt für ihre subtile Strategie, den Zuschauer im Ungewissen über die Frage zu lassen, ob die Protagonistin nun eine Katze ist oder nicht. Eben dieser verlängerte Moment der Unschlüssigkeit gibt Lewtons ›Marke‹ von Horror ihre fantastische Note, und der Produzent hat oft darauf verwiesen, dass die suggestiven Techniken des Films, vor allem das katzenhafte Als-Ob der mysteriösen Protagonistin Irina, ein bewusstes Differenzierungsmerkmal gegenüber den grobschlächtigen Kreaturen aus den Universal-Studios war: »No grisly stuff for us. No masklike faces hardly human, with gnashig teeth and hair standing on end. No creaking physical manifestations. No horror piled on horror. You can’t keep up horror that’s long sustained. It becomes something to laugh at. But take a sweet love story, or a story of sexual antagonisms, about people like the rest of us, not freaks, and cut in horror here and there by suggestion, and you’ve got something.« (Lewton, zit.n. Siegel 1972: 43)
Erstaunlicherweise waren Film und Marketing jedoch trotz Marktforschung nicht miteinander integriert. De facto zielte die Werbekampagne darauf ab, die fantastischen Ambiguitäten der Geschichte soweit wie möglich zu vereindeutigen. Titel, Slogan und Plakat ließen keinen Zweifel offen, mit was man es zu tun hatte. »Lovely Woman … Giant KillerCat … The Same ›Person‹! It’s Super-Sensational!« lautete eine im exploitation-Stil verfasste Werbebotschaft, »A Kiss Could Change Her Into A Monstrous Fang-and-Claw Killer!« eine andere. Das Plakatmotiv unterstrich die Identität von Frau und Katze und rückte ihre ›bestialische‹ Leidenschaft thematisch ganz in den Vordergrund (Abb. 1) (vgl. Haralovich 2005: 126). Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Am nächsten liegt der Verweis auf die zuvor vom Audience Research Institute durchgeführte Statistik. Ähnlich wie bei I WALKED WITH A ZOMBIE wirkte sich Gal-
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lups Zuschauerbefragung vor allem auf die Marketing-Strategie und das Produktionsbudget aus. CAT PEOPLE wurde wie ein Film für 12- bis 18jährige lanciert. De facto entstand der Titel vor dem Film selbst als Resultat einer Vergleichsstudie, bei der es darum ging, das zugkräftigste Konzept für die Werbung zu ermitteln. Inwiefern der Erfolg des Films – die Legende berichtet von über 1 Mio. Dollar Nettogewinn bei Produktionskosten unter 100.000 Dollar – nun allerdings Gallup oder eher Jacques Tourneur die Ehre gibt, ist eine andere Frage. Es kann jedoch kaum Zweifel daran bestehen, dass mit dem zielgruppenspezifischen Marketing bewusst Segmente des Publikums ausgeschlossen wurden, die von Stil und Erzählung eines Films wie CAT PEOPLE durchaus hätten angesprochen werden können. Die B-Unit von RKO trug dort, wo sie ihre Produktion an den per Repräsentativbefragung definierten Zuschauergruppen orientierte, aktiv zur Schaffung eines genrespezifischen Publikums bei. In den fünfziger Jahren wurden die Teen-Horror-Fans endgültig zur bestimmenden Zielgruppe des Genres (vgl. Doherty 2002). Gallups Befunde über die Genreaffinität junger Männer und das begrenzte Absatzpotential von Horrorfilmen zeichneten somit nicht nur einen beginnenden Trend nach, sondern verstärkten ihn entscheidend. Das starke Anwachsen des Jugendpublikums zum Ende des Jahrzehnts lässt sich eben auch aus dem Umstand erklären, dass die großen Filmfirmen, von denen mehr als die Hälfte Gallup oder andere Institute beschäftigten, die Varietät ihres Filmangebotes von sich aus auf Jugendliche einzuschränken begannen (Lazarsfeld 1947: 163). Studios und unabhängige Produzenten der fünfziger Jahre nutzten das Horrorgenre für den Ausbau einer lukrativen Marktnische, die bis heute von einer sukzessive kommerzialisierten Fankultur getragen Abb. 1 wird. Zwar verloren Gallups Methoden ab 1947 drastisch an Zuspruch, zunächst durch die massive Kritik von Berufsverbänden wie der Screen Writers Guild, dann durch zunehmende Skepsis auf Seiten der Marketing- und Werbeabteilungen (Ohmer 1991: 22). Die Vorstellung, man könne die Nachfrage nach filmischer Unterhaltung über Genres steuern und das Publikum somit gewissermaßen in seinem Unterhaltungsbedürfnis ›programmieren‹, hat indessen bis heute kaum an Aktualität verloren (vgl. Knapp/ Sherman 1986; Linton/Petrovich 1988).
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Für das Management der Studios erfüllten Techniken der Marktforschung, wie sie Gallup, Lazarsfeld, Handel und andere in den vierziger Jahren durchsetzten, überdies immer Funktionen, die über das Interesse am Markt oder den Zuschauern hinausgingen. Nicht von ungefähr verkündete RKO seinen Entschluss, Gallup zu beschäftigen, auf seiner jährlichen Filmverkaufsmesse 1940, also vor den Kinobesitzern (Ohmer 1991: 11). Das statistisch erzeugte Wissen über den Filmzuschauer diente dazu, die Position des Studio-Managements gegenüber dem Aufführungssektor zu stärken. Was war hierfür nützlicher als der wissenschaftlich erbrachte Beleg, dass man das Wissen der Kinobetreiber über ihr Publikum nicht mehr brauchte? Die Methodik der Repräsentativbefragung erlaubte es, Entscheidungsprozesse zu zentralisieren und damit vom lokalen Kinopächter unabhängiger zu machen. Allerdings setzte der Consent Decree von 1948, der Entscheid des Obersten Gerichtshofes zum Fall Paramount, der vertikalen Integration und damit der Studio-Dominanz über die Kinos ein Ende. Die Filmfirmen mussten ihre Kinoketten abstoßen und das System des »block booking« abschaffen, also die Praxis, publikumsträchtige Filme nur im Paket mit weniger attraktiven Produktionen an die Kinos abzugeben. Der mit der Vervorstädterung einsetzende Publikumsschwund trug mit dazu bei, dass die klassischen Modelle der Marktkontrolle bald obsolet wurden. Die Bilder des Publikums hören indessen seitdem nicht auf, durch die Institutionen der Medienindustrie zu spuken. Oft genug bilden sie Anlass für kreative Konflikte, und zwar vor allem dann, wenn das Wissen vom Genre und seinen ›Regeln‹ mit dem Wissen vom Publikum und seinen ›Reaktionen‹ aufeinander prallen. Robert Kapsis hat dies in einer produktionssoziologischen Studie zu HALLOWEEN II detailliert nachgewiesen (Kapsis 1986). Lazarsfeld oder Gallup markierten nur den Anfangspunkt dieser Entwicklung, die mit Ernest Dichter und dem Institute for Motivational Research zu ihrer ersten Blüte kam. Dichter, der dem Horrorfilm in einer Studie bescheinigte, einen tieferen »psychologischen Bedarf« zu erfüllen (Dichter 1961: 229; vgl. Dichter 1957), eröffnete eine neue, von »Psychographics« und Lifestyle-Studien später weiter verfolgte Perspektive, in der das geheime Begehren und die inneren Bedürfnisse der Zuschauer plötzlich dem Zugriff der Medienindustrie ausgeliefert schienen. Zugleich, so mögen sich die Kritiker solcher Ansätze trösten, trug Dichter mit seinen weitgreifenden Aussagen dazu bei, das Wirken der Marktforscher nachhaltig zu entzaubern. In den fünfziger Jahren begann, angestoßen von Vance Packards kritischem Bestseller The Hidden Persuaders (1957), ein öffentlicher Diskurs über die Versuche der Unterhaltungsindustrie, ihre Konsumenten zu kontrollieren. Ironischerweise beteiligten sich auch unabhängige Kinoketten und kleinere Produ-
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zenten an diesem Diskurs. Howco Productions, ein Zusammenschluss zweier unabhängiger Kinoketten, stellte 1958 für den Eigenbedarf den Horrorfilm MY WORLD DIES SCREAMING her, der die Tropen der Werbeund Marktpsychologie durch einen Werbegimmick namens »Psycho-Rama« verulkte: Der Filmhandlung waren ›subliminale‹ Einzelbilder mit Totenschädeln, Messern und ähnlichem unterschnitten, die beim Publikum, so das Versprechen, einen vorbewussten Prozess (»Precon Process«) mit unkalkulierbaren emotionalen Konsequenzen auslösen würden. Seitdem sind die Vertreter Hollywoods zurückhaltender geworden, wenn sie über Marktforschung sprechen (vgl. Ohmann 1996).
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›T H E B E S T O F B O T H W O R L D S ‹ F ILM UND T OURISMUS ALS I NDUSTRIEN DES B EGEHRENS AM B EISPIEL VON I NDIEN UND D EUTSCHLAND ALEXANDRA SCHNEIDER Die Berliner Künstlerin Hannah Höch, die zum Umkreis des Dadaismus zählt, schuf 1920 die Collage mit dem Titel »Das schöne Mädchen« (Abb. 1). In der Perspektive einer westlichen Kunstgeschichte zählen Techniken wie Bricolage, Collage und Pastiche zur Signatur einer künstlerischen Avantgarde. Die moderne Kunst, so eine gängige Erzählung der Kunstgeschichte, handelt von einer Krise der Repräsentation. Mit innovativen Techniken des Experimentierens wie der Abstraktion oder eben der Collage unterminiert sie die Authentizitätsansprüche des illusionistischen Abbildrealismus, wie ihn die Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts noch postuliert hatten. Abb. 1 Insofern gehört die Collage zur Signatur einer Krise der Repräsentation; sie zählt zu den paradigmatischen Techniken einer anti-repräsentativen Avantgarde. Ein anderes Bild: »East or West. Home is the Best« (Abb. 2). Es handelt sich nicht um ein künstlerisches Werk, sondern um einen Massenartikel, ein Fotoposter, wie man es in Indien für wenige Rupien erstehen kann. Diese Poster sind häufig mit einem gereimten Motto oder einer Art Aphorismus versehen. Auch bei diesem Bild handelt es sich um eine Collage, die aus mindestens drei verschiedenen Fotografien montiert wurde. Im Vordergrund wurden blühende Tulpen hinzugefügt, im Bild265
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zentrum ist ein Haus von vagem internationalem Stil zu sehen und der Hintergrund, mit Sonnenauf- oder Untergang, stammt aus einer dritten Aufnahme. Die Technik ist dieselbe wie bei Höchs »Schönem Mädchen«: Eine Collage aus vorgefundenen Bildern. Doch anders als im »Schönen Mädchen« geht es in »East or West. Home is the Best« nicht vordringlich um eine Kritik der Repräsentation, und die Verwendung der Collage-Technik macht das indische Posterbild auch nicht zu einem Kunstwerk nach westlichen Standards. Vielmehr wird die gleiche Tech-
Abb. 2
nik zu einem anderen Bildzweck verwendet. Die indische Collage schafft einen ambivalenten, imaginären Raum, der keine geographische Verortung zulässt. Die Elemente stehen in so offenkundiger Weise unverbunden nebeneinander, dass man als Kunsthistorikerin durchaus versucht sein könnte, das Bild als ›mise-en-abyme‹ des Wirklichkeitsbezugs zu lesen, den wir der Fotografie gewohnheitsmäßig unterstellen. Im Vordergrund steht aber auch nicht die Abbildwelt der Bildelemente, sondern ihr affektiver Wert und die Stimmung oder das Gefühl, die durch die Kombination der Elemente erzeugt wird. Anders gesagt: Das Bild handelt weniger von dem, was es zeigt, als davon, was man als Betrachterin hineinlegen kann, also davon, welche Räume des affektiven Erlebens das Bild eröffnet. Auch der kleine Aphorismus unterstreicht die Ambivalenz des imaginären Raums, der zwar ein Raum ist, aber kein realer Ort. Verschiedene Lesarten bieten sich an: »East or West. Home is the Best« kann nahe legen, dass es im Grunde nicht darauf ankommt, ob man im 266
›THE BEST OF BOTH WORLDS‹
Osten oder im Westen lebt, so lange man sich zu Hause fühlt. Der Spruch kann aber auch heißen, dass die ideale Heimat in einem imaginären Zwischenraum zwischen Ost und West liegt, einem Zwischenraum, der in der postkolonialen Kultur Indiens einen eigenen Topos bildet: So erklärt der Drehbuchautor Javed Akhtar den Erfolg des größten Filmstars der Siebziger- und Achtzigerjahre, Amitabh Bachchan, mit der Tatsache, dass Bachchan das Beste beider Welten miteinander verbinde und in einer Art »no man’s land […] between eastern oriental Indian and western culture« lebe, einem idealen Zwischenzustand zwischen indischer Herkunft und der Aspiration, westlich zu sein (Mazumdar 2000: 243). So sehr Höchs Collage und das Fotoposter auch auseinander liegen mögen – Höchs Arbeit ist ein Kunstwerk, das zu hohen Preisen gehandelt wird und im Museum hängt, das Poster eine Massenware, die für wenig Geld auf der Straße zu haben ist und seinen Platz an der Wohnzimmerwand findet –, es verbindet sie, dass beides Kompositbilder sind und dass sie als solche jeweils ein bild- und darstellungstheoretisches Statement abgeben. Die künstlerische Collage handelt vom Problem der Authentizität, von der Frage, ob die Realität sich im Bild selbst setzen und das Bild die Realität repräsentieren kann, die Postercollage handelt vom Affekt, vom affektiven Erleben, das der imaginäre Raum des Bildes erlaubt. Um es noch einmal zu unterstreichen: Der Vergleich eines europäischen Kunstwerks mit einem indischen Massenartikel darf nicht falsch verstanden werden. Der Vergleich soll weder den Schluss nahe legen, dass es der indischen Kunst an modernen Werken im westlichen Sinn mangelt, noch, dass ein Massenprodukt zum Kunstwerk wird, wenn es nur von einem kulturellen Raum in einen anderen transferiert wird. Es geht mir um etwas anderes. Wie ich im Folgenden darlegen möchte, bieten die beiden Kompositbilder und ihre unterschiedliche bildstrategische Verwendung der Collage-Technik eine passende Lektürefolie für eine Auseinandersetzung mit den Bildwelten, die Unterhaltungskino und Tourismus miteinander teilen, besonders dann, wenn man die diskursiven Praktiken von Kino und Tourismus im deutschsprachigen Europa und in Indien vergleichen will. Das heißt auch: Wenn ich von Tourismus spreche, meine ich zunächst einmal nicht das ›reale‹ Reisen, die soziologisch zu beschreibenden Praktiken des modernen Massentourismus. Vielmehr werde ich mich mit dem Tourismus als diskursiver Praxis befassen, als Praxis, die Texte und Bilder hervorbringt und sich in diesen Texten und Bildern vollzieht, und ich werde versuchen, diese mit den Bildwelten des Kinos zusammenzudenken. Dabei geht es mir um den Tourismus und seine medialen Voraussetzungen, und im Besonderen darum, wie Authentizitätsvorstellungen medial konstruiert werden und die Praktiken des Schauens vor Ort präformieren. Film und Tourismus verstehe ich da-
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bei als affine Industrien, handelt es sich doch um zwei Industrien, die sich der Wissensproduktion widmen, aber auch der Herstellung von Begehren, das unter Aufwendung finanzieller Mittel durch den Konsum von Produkten gestillt wird, die imaginären Charakter haben. Ausgehend von der doppelten Annahme einer strukturellen Affinität der Produkte und einer funktionellen Verschränkung der beiden Industrien, werde ich im Folgenden touristische Darstellungen in Werbeprospekten und im Kino als Untersuchungsmaterial benutzen. Tourismus und kommerzielles Kino stellen zwei prägende kulturelle Praktiken des 20. Jahrhunderts dar, die seit den Anfängen des Films auf vielfältige Art und Weise für ästhetische wie ökonomische Ziele miteinander in Verbindung gebracht wurden. Eine Affinität liegt im Visuellen. Tatsächlich wird die touristische Aktivität ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem organisierten Tourismus im Westen zu einer zunehmend visuellen Tätigkeit; Sightseeing und Tourismus werden zu komplementären Vergnügungen (Strain 2003). Überdies sind es nicht zuletzt die Produktion, Zirkulation und der Konsum von touristischen Bildern, die der ›Demokratisierung‹ und Popularisierung des Reisens Ende des 19. Jahrhunderts zuarbeiten. Wer sich das Wegfahren nicht leisten kann, kauft oder konsumiert Bilder von fernen Orten. Die touristische Erfahrung wird am Bild und im Imaginären gemacht, die Touristin, der Tourist entwickeln sich zum Semiotiker, zur Konsumentin, durchaus auch mit Hilfe von Foto- bzw. Videokameras, zur Produzentin von Bildern und Zeichen.1 Knapp hundert Jahre nach dem organisierten Tourismus entsteht der Film, und das neue Medium der Speicherung von Zeit und Bewegung entwickelt von Beginn an eine vielfältige Beziehung zu Sightseeing und Tourismus. Ob im frühen Reise- und Abenteuerfilm, im deutschsprachigen Heimatfilm der Fünfziger- und Sechzigerjahre, im Bollywood- oder im Imax-Kino: Immer wieder finden Film und Tourismus so zusammen, dass die Allianz die Erlebnisqualität der beiden visuellen Konsumerfahrungen steigert. Historisch wird der Tourismus in Europa gerne als Gegenbewegung und Reaktion auf die Entfremdung und Fragmentierung des modernen, bürgerlichen Lebens in der Industriegesellschaft gelesen; eine Gegenbewegung, die von nostalgischer Ursprungssehnsucht geprägt ist und entsprechend als Reaktion auf Modernisierungsverluste interpretiert wird. Diese Sichtweise vertritt beispielsweise Hans-Magnus Enzensberger mit seiner These, dass der Tourismus wie die »Freiheitsprojektionen der Ro1
Vgl. hierzu Urry (1990); zur Kritik an Urrys ausschließlicher Fokussierung auf Blickstrukturen vgl. u.a. von Henning (1997) und aktuell Spillmann/Zinganel (2004).
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mantik […] eine Flucht aus der verregelten Moderne« verspreche (Pagenstecher 2004: 13). John Urry andererseits stellt dem romantischen Blick, wie ihn Enzensberger beschreibt, »einen auf das gesellige Vergnügen gerichteten ›collective gaze‹ gegenüber, der einen Vergnügungspark oder den Ballermannstrand zum idealtypischen Ziel hätte« (ebd.).2 Beide Perspektiven betreffen westliche touristische Praktiken, und zwar oftmals solche, die Reisende in nichtwestliche Länder führen. Mit der Gegenbewegung, dem ›nichtwestlichen‹ Tourismus, der in den Westen führt, haben sich kulturwissenschaftliche Tourismus-Analysen bislang kaum auseinandergesetzt.3 Noch hat die Kulturwissenschaft den Vorsprung der hiesigen Tourismusindustrie nicht aufgeholt, die in den letzten Jahren vermehrt Anstrengungen unternommen hat, Reisende aus Asien, insbesondere aus China und Indien, nach Europa zu locken (Seno 2005, Varghese 2005, Biswas 2004). Der organisierte Tourismus ist von der kulturwissenschaftlichen Forschung bislang denn auch vorwiegend als visuelle Praxis westlicher Subjekte definiert worden, wobei als Lektürefolie in der Regel der Konflikt zwischen dem (westlichen, weißen) Eigenen und dem (nicht-westlichen, nicht-weißen) Fremden bevorzugt wurde. Was aber geschieht, wenn jene, die zuerst als Objekte des touristischen Blicks erscheinen, selbst Subjekte dieses Blicks werden? Dieser Frage gehe ich im Rahmen meiner nachfolgenden, explorativen Ausführungen nach. Dabei versuche ich die Koordinaten der kulturellen Phantasie ›Tourismus‹ anhand einer Auswahl von deutsprachigen und indischen Tourismuskatalogen sowie von Filmen aus dem kommerziellen HindiKino zu skizzieren. Meiner Analyse möchte ich eine Überlegung zugrunde legen, die im Rahmen neuerer Beiträge zu Edward Saids Orientalismus-These angestellt wurde. Wurde »Orientalismus« lange Zeit als homogenes, gesamteuropäisches Phänomen behandelt, so hat die jüngere Forschung zu Recht auf die Unterschiede hingewiesen, die etwa den deutschen Orientalismus vom Orientalismus französischer oder britischer Prägung trennen (Sinha 2005). Nicht nur unterhielt das deutschsprachige Europa zu Indien keine Beziehung, die in einem administrativ-politischen Sinn als kolonial bezeichnet werden kann. Unterschiede bestehen auch im Hinblick auf die kulturellen und imaginären Anliegen und Bedürfnisse, die im Verhältnis zu Indien zu bedenken sind, wenn man sich mit der Rezeption kommerzieller Hindi-Filme in Deutschland und ihrem Verhältnis zum Werbediskurs deutscher Tourismusanbieter befassen will.
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Pagenstecher paraphrasiert hier zunächst Enzensberger (1962) und dann Urry (1990). Sieht man vom japanischen Tourismus ab.
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I n di e n i n de ut s c he n K i no s u nd a u f d e u t s ch e n R e i s e pl ä n e n Westliche Filmwissenschaftler und Festivalbesucherinnen und in ihrem Gefolge westliche Kinogänger haben in den letzten Jahren das populäre indische Kino ›entdeckt‹. ›Bollywood‹, wie die eingängige Kurzformel für das kommerzielle, zeitgenössische Hindi-Kino aus Bombay lautet, wurde zum kulturellen Chic.4 Den Boden für diese bedeutsame Entwicklung bereitete in Deutschland nicht zuletzt die Kinoauswertung von K3G (KABHI KHUSHI KABHIE GHAM, Karan Johar, 2001) im Jahr 2003. Die Werbekampagne für diesen Film durchlief eine – wie ich meine – symptomatische kulturelle Übersetzung, die hier von besonderem Interesse ist (Schneider 2005). Der Import von Karan Johars Film vollzog sich nicht nur als materieller kultureller Transfer, er ging auch einher mit einer symbolischen Transformation dessen, was man die Benutzeroberfläche des Films nennen kann. Dieser Vorgang fügt sich nahtlos in die bereits etablierte Rezeption indischer Kultur im deutschsprachigen Europa ein. Der Slogan der deutschen Kampagne lautete folgendermaßen: »Schon einmal echtes indisches Kino erlebt?«. Mit diesem Spruch richtete sich die Kampagne an ein Publikum, dem Bollywood-Filme noch weit gehend unbekannt waren. Mehr noch als einen einzelnen Film verkaufte er eine einmalige, neuartige Erfahrung. Zugleich als Genrelabel verstanden wird die Behauptung, dass K3G echtes indisches Kinos sei, noch durch einen Zusatz in einer Ecke des Plakats unterstrichen: »Das ist Bollywood«. Das zentrale Element der Kampagne stellt das Adjektiv »echt« dar: Dieser Film, so suggeriert es sein Werbeplakat, ist zugleich ein Bollywood-Spektakel und ein »echter« indischer Film, ein authentisches Spektakel sozusagen. Die dadaistische Collage von Höch impliziert eine Krise der Repräsentation und stellt die Authentizitätsansprüche des illusionären Abbildrealismus in Frage. Wenn etwas authentisch ist, so meinen wir damit, dass es maßgeblich, echt, zuverlässig, richtig und glaubwürdig erscheint. Mit diesem Paradox, so meine ich, arbeitet auch die deutsche Werbung für K3G. Etwas Fabriziertes, das Kino, wird als etwas Echtes angepriesen, wobei sich die versprochene Authentizität auf den kulturellen Raum bezieht, dem die Darstellung zugehört: Echtes indisches Kino eben. Der Anspruch auf ethnische Authentizität wird von der Bildwahl unterstützt: Kajol trägt ›traditionelle‹ indische Kleidung und ebensolchen Schmuck. So gesehen gibt das Plakat tatsächlich das Versprechen eines authentischen Spektakels ab.
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Zur Bollywood-Rezeption in Deutschland Strunz (2004), Lobinger (2004).
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Eine vergleichbare Ökonomie kultureller Imagination findet sich auch in Texten und Bildverwendungen, mit denen deutsche Tourismusanbieter Indienreisen anpreisen. Im Unterschied zum postromantischen Tourismus von Pauschalreisen, stehen Indienferien für Touristen und Touristinnen aus dem deutschsprachigen Europa noch durchaus in einer romantischen Tradition. Es gibt zwar Pauschalangebote für Gruppenreisen, doch bilden in der Regel spirituelle, bildungs- oder kulturbezogene Versprechungen den Fluchtpunkt des Werbediskurses. Ein Beispiel: »Südindien ist für viele Kenner das ›echte‹ Indien. Denn hier hat sich die Jahrtausende alte Kultur am reinsten erhalten, während in Nordindien nacheinander viele Invasoren neue Einflüsse mitbrachten: Arier, Perser, Griechen, Mongolen, Sarazenen. Die meisten Sehenswürdigkeiten Nordindiens stammen aus dem späten Mittelalter, während die Kulturdenkmale des exotischen Südindiens von einer viele 1000 Jahre alten Geschichte zeugen.«5
»Echt« ist in diesem Kontext ein authentisches Anderes, das sich die Vorstellungswelt der Ethnografie und der Tourismus teilen. Doch nicht nur das wahre Indien gibt es zu entdecken. Authentisch ist auch das Wie dieser Entdeckungsreise; in einem anderen Werbetext ist zu lesen: »Mit uns sehen Sie Indien mit den Augen eines Einheimischen«.6 In dieser Formulierung klingt implizit auch die Vorstellung einer vermeintlichen Unschuld des Blicks an, die man als »Ideologie des ersten Blicks« bezeichnen könnte. Nur dem ersten Blick eines Außenstehenden zeigt sich das Authentische noch so, wie es wirklich ist; schon der zweite Blick findet das Authentische kontaminiert vor. Auf Dauer herstellen lässt sich die Unschuld des ersten Blicks nur dann, wenn man »mit den Augen eines Einheimischen« schaut, also so, als ob der Blick von Außen ein Blick von Innen wäre, ein Blick, der zum »Echten« selbst gehört, mit diesem gesetzt ist und dessen Selbstsetzung entsprechend nicht in Frage stellt. Zugleich schwingt in der Vorstellung der geliehenen Augen der Einheimischen auch das Konzept des »going native« der ethnologischen Feldforschung mit. Zeitliche Markierungen wie »jahrtausende alte Kultur« und »uralte Erlebniswelt« – wie sie gerne verwendet werden – setzen die angebotenen Attraktionen zudem in ein komplexes Verhältnis zu der Gegenwart des adressierten Publikums. Der zeitliche Abstand zwischen der Gegenwart des Reisenden und der Vergangenheit, die er bereist, verweist auf eine analoge zeitliche Schichtung im ethnografischen Diskurs. Der Anthropologe Johannes Fabian hat darauf hingewiesen, dass ethnografische 5 6
http://www.comtour.de/suedindien.0.html, 23. April 2005. http://www.enchanting-india.de/, 23. April 2005.
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Darstellungen mitunter dazu dienen, die Dargestellten einem anderen Zeitalter zuzuweisen und die geografische Distanz in eine zeitliche zu verkehren. Die Vergangenheit, die auf diese Weise räumlich erschaut wird, ist aber nicht nur die Vergangenheit eines ganz anderen, sie kann auch die eigene Vergangenheit sein. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erfüllen Darstellungen urtümlicher Lebensformen argumentative Funktionen, die dem ethnographischen Beweis der philosophischen Literatur der Aufklärung verwandt sind, wie er sich etwa bei Kant findet. Der ›Wilde‹ und sein Verhalten im Naturzustand haben den Charakter eines moralischen Exempels. Am Naturzustand können wir ablesen, wie es sich in moralischen Dingen verhält, bevor die korrumpierenden Einflüsse der Zivilisation überhand nehmen. Die Argumentationsführung des ethnographischen Beweises stellt demnach eine Kontinuität zwischen dem Dargestellten und den Adressierten her, wenn auch über einen zeitlichen Abstand hinweg, der zugleich räumlich ist: Die ethnographische Darstellung erschließt uns den eigenen Naturzustand und erfüllt ihre moralische Funktion, in dem sie uns eine Richtschnur richtigen Verhaltens gibt. Das ›Echte‹ zu erfahren verspricht dem ›zivilisierten Westler‹ somit auch eine therapeutische Erfahrung: Mit den Augen eines Einheimischen zu sehen meint, die Welt so zu sehen, wie sie ist, wenn man noch rein ist und nicht durch ein Übermaß an Zivilisation verdorben. Man kann in diesem Diskurs durchaus spät- oder neokolonialistische Positionen wieder finden: Wie andere Historiker des Kolonialismus weist Ashis Nandy darauf hin, dass der Kolonialismus als kulturelle Operation auch eine Unternehmung der europäischen Mittelklasse war (Nandy [1983] 2005). Erst als die Mittelklasse, die sich im 19. Jahrhundert im Gefolge der Aufklärung und der Industrialisierung herausbildete, in die koloniale Administration integriert wurde, wandelte sich der Kolonialismus von einem politischen und ökonomischen zu einem zivilisatorischen Projekt, dessen Ziel darin bestand, den Kolonisierten den Fortschritt zu bringen. Gingen Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Voltaire noch wie selbstverständlich davon aus, dass Europa einem Land wie China kulturell und wissenschaftlich unterlegen sei, so kehrte sich diese Wahrnehmung im 19. Jahrhundert um. So wenig es zulässig erscheint, den imperialen Kolonialismus auf die Aufklärung zurückzuführen, so lässt sich doch nicht von der Hand weisen, dass die Idee des Fortschritts mentalitätshistorisch gesehen ebenso zum Erbe der europäischen Aufklärung zählt wie die Idee des edlen Wilden, von dem der Zivilisierte etwas lernen kann, weil er noch ganz ursprünglich Mensch ist. Beide Ideen setzen voraus, dass zwischen dem fortschrittlichen Zivilisierten und dem »ursprünglichen« Menschen eine Differenz des Zeitalters besteht. Wenn der Kolonisierte noch au-
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thentisch ist, dann heißt das auch, dass er in der Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechts etwas zurückgeblieben ist und so gesehen auch den Fortschritt nötig hat. Diese Lesart wird auf den ersten Blick von den kulturell spezifischen Konnotationen des Begriffs ›echt‹ gestützt. Echt heißt nicht nur genuin, sondern auch authentisch im Sinne von natürlich und real. ›Echt‹ kann ferner bestimmte moralische Qualitäten bezeichnen, insbesondere die Qualität der Aufrichtigkeit. Diese Aufrichtigkeit, so könnte man weiter argumentieren, hat etwas mit der Faszination für indische Religionen und Philosophie zu tun, für die im Horizont der deutschen Kultur seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem Johann Wolfgang Goethe und Arthur Schopenhauer stehen. Sie stellt im deutschen Kontext eine Selbstzuschreibung dar, die bisweilen auf ein Erbe zurückführt, dessen Ursprünge nach Indien reichen (Sinha 2005). Tatsächlich lässt sich, so argumentiert beispielsweise Rajeshwari Mishka Sinha überzeugend, die deutsche Faszination für Indien nicht ohne weiteres unter das Konzept eines allgemeinen Orientalismus subsumieren, wie es in der kritischen Debatte entwickelt wurde. Im Unterschied zum Orientalismus englischer oder französischer Prägung stellt die deutsche Version des auf Indien bezogenen Orientalismus eine eigenständige Ausprägung dar. Wie der britische und der französische Orientalismus war auch der deutsche Orientalismus stärker von kulturellen Bedürfnissen getragen als durch induktive wissenschaftliche Verfahren belegt. Der Unterschied macht sich daran fest, dass deutsche Philosophen und Fachorientalisten des 19. Jahrhunderts das ›alte‹ Indien im Zusammenhang mit dem Entstehen des deutschen Nationalstaats zum geografischen Ursprungsort für die deutsche Kultur erklärten. Anders als in Frankreich oder Großbritannien, so Sinha weiter, ging für die deutschen Indologen die Faszination Indiens nicht primär vom Exotischen einer unbekannten Kultur aus. Vielmehr gab das Land einen Gegenstand ab, der die eigene, unentdeckte Vergangenheit enthielt. Indien stellte für die deutschen Philosophen und Philologen die unbewusste Vorgeschichte der deutschen Kultur dar. Wie Sinha darlegt, zielte diese Argumentation nicht zuletzt darauf, der verspäteten Nation Deutschland im Wettbewerb der europäischen Nationalstaaten eine distinkte kulturelle Vergangenheit zu verschaffen (Sinha 2005). Insofern die kulturellen Prägungen des 19. Jahrhunderts noch heute virulent sind, könnte man die Indienreise des gebildeten Deutschen demnach in der Tradition der Bildungsreise sehen, wie sie früher nach Italien oder Griechenland führte. Bereiste man im Süden Europas die Wiege der europäischen Kultur, so ist die Studienreise nach Indien für deutsche Touristen und Touristinnen vor dem Hintergrund der indologischen Fas-
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zination des 19. Jahrhunderts stets eine Reise zu sich selbst. Die Formulierung »mit den Augen eines Einheimischen« spitzt das Therapie-Argument so gesehen noch einmal zu. Als wäre Tourismus eine Form der kollektiven Psychoanalyse, bietet eine Reise nach Indien die Möglichkeit einer Zeitreise zurück in die eigene, verdrängte Vergangenheit.
D a s de ut s c hs p ra c hi g e E u r o p a i m H i nd i -K i n o u n d a u f i nd i s c he n R e i s e pl ä n e n Im deutschsprachigen Kontext lässt sich die Affinität zwischen kinematografischem und touristischem Diskurs, wie ausgeführt, nicht zuletzt am Begriff des authentischen Spektakels festmachen. Eine Affinität von touristischem und kinematografischem Versprechen lässt sich für den Verbund von Film und Tourismus auch in Indien feststellen, nur stellt hier die Triebkraft der Tourismus und Kino verbindenden kulturellen Phantasie nicht das Authentizitätsversprechen dar, sondern – wie ich schon anhand des Vergleichs der beiden Fotocollagen am Beginn dieses Textes zu zeigen versuchte – das Versprechen einer gesteigerten Affektivität. Das westliche Publikum nichtindischer Herkunft wurde auf kommerzielle Hindi-Filme unter anderem deshalb aufmerksam, weil es feststellte, dass in den großen populären Filmen des indischen Subkontinents der Neunzigerjahre europäische Landschaften und Städte eine wichtige Rolle spielten, und dass diese Örtlichkeiten auf eine Art und Weise gezeigt wurden, die den etablierten westlichen Ikonografien dieser kulturellen Räume in der Regel nicht entsprach. So kamen in einer Vielzahl von Filmen der Neunzigerjahre Schweizer Alpenwiesen und Berggipfel vor. Sie bildeten den Hintergrund für die berühmten Song-and-Dance-Szenen, der Gesangs-Einschübe oder »picturized songs«, die eine der stilistischen Eigenheiten des Bollywood-Films ausmachen. Tatsächlich entsprach die Darstellung der Schweiz zunächst einer etablierten indischen Ikonografie, die an einer anderen Landschaft entwickelt wurde: Anhand des Kaschmir-Tals, das in der hinduistischen Mythologie der Schauplatz der Liebe der Götter ist. Die Einschübe nicht-indischer Landschaften in den »picturized songs« kann man sich so vorstellen wie das eingangs diskutierte Landschaftsposter: nicht als Darstellungen ›realer‹ Landschaften, sondern als imaginäre Räume, als Bildwelten, die Räume des affektiven Erlebens eröffnen.7 Im Bollywood-Kino der Neunzigerjahre finden sich darüber hinaus zahlreiche nichtindische Drehorte, die von den Protagonisten im Rahmen der Erzählhandlung aufgesucht werden, wobei die Motivation in der Re7
Vgl. hierzu auch Jain (2003).
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gel durch eine touristische Reise geschaffen wird. Die Reisen der Protagonisten und Protagonistinnen können sowohl »real« als auch eingebildet sein. In CHANDNI von Yash Chopra aus dem Jahre 1989 etwa stellen sich die Heldin und der Held gemeinsam eine Hochzeitsreise nach Europa vor. In DIL TO PAGAL HAI, ebenfalls von Yash Chopra (1996), besucht das Paar auf einer ›realen‹ Verlobungsreise den Europapark Rust. So wie die Italien-Filme aus Hollywood in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wesentlich dazu beitrugen, den US-Touristen Europa als Reisedestination zu erschließen, diente das kommerzielle Hindi-Kino in den Neunzigerjahren seinem Publikum als Reiseprospekt, als Inventar möglicher Ziele touristischer Reisen.8 Das inzwischen bekannteste Beispiel stellt sicherlich die Schweiz dar, die im Zug der Hindi-Filme einen starken Zuwachs an indischen Touristen verzeichnen konnte (Keller 2002a). Von dem unverhofften Geldsegen für die Schweizer Tourismuswirtschaft inspiriert, bemühen sich mittlerweile auch andere europäische Länder darum, indische Filmcrews anzulocken, in der Hoffnung, dass in deren Gefolge auch die Touristen und Touristinnen zahlreicher anreisen werden. In Deutschland bemühten sich namentlich Hessen und Bayern um die Aufmerksamkeit indischer Filmproduzenten, während sich in Österreich das Land Tirol mit der Initiative Cinetirol besonders hervorgetan hat. Cinetirol organisierte in den letzten Jahren für über 40 indische Filmdrehs Schauplätze und Logistik.9 Allen Bemühungen zum Trotz ist es bislang allerdings weder Österreich noch Deutschland gelungen, den touristischen Vorsprung der Schweiz einzuholen.10 So verwundert es denn auch nicht, dass die Schweiz auch in den Katalogen von indischen Tourismusanbietern, die Pauschalreisen nach Europa organisieren, nach wie vor eine Ausnahmestellung einnimmt. Nimmt man die vorgeschlagenen Reisen zum Maßstab, dann verbringen indische Touristen und Touristinnen an keiner anderen Destination abgesehen von Italien mehr Reisetage als in der Schweiz. Wie sehr die Reisepläne dabei den Vorgaben des populären Kinos folgen, zeigt unter anderem der Katalog von Raj-Travel, einem großen Anbieter, der sich primär an Reisende aus Gujarat richtet. Inter8
Vgl. hierzu u.a. Keller (2002b), Beeton (2001), Busby/Klug (2001). Stars funktionieren auch im kommerziellen Hindi-Kino als Konsumidole – gerade auch in Bezug auf Tourismus. Vgl. hierzu »Cities of joy: Shooting or holidaying, which is the one city that has stolen their heart? The stars unpack some memories« und »Buy-o-Data: What do the stars shop when they go abroad?«, Bombay Times, The Times of India, 6. April 2005, S. 5 u. 8. 9 Dabei handelt es sich sowohl um kommerzielle Hindi- wie um Südindische Filme. Allerdings findet sich auf der Homepage kein Hinweis auf das Engagement in Indien, und die indischen Filme fehlen auch in der Zusammenstellung der im Tirol gedrehten Referenzfilme http://www.cinetirol.com/index...2. html, 1. Mai 2005. 10 Vgl. hierzu auch Travel Research International Limited (2001).
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laken und das Jungfraujoch, zwei Sehenswürdigkeiten im Berner Oberland, werden mit expliziten Verweisen auf kommerzielle Hindi-Filme angepriesen. Interlaken ist »The place where DDLJ [Dilwale Dulhanya Le Jayenge, Aditya Chopra, 1995] was extensively shot« (Raj’s European Holidays 2005: 45). Zum Jungfraujoch heißt es im Katalog: »You must have seen the movie HERO, now it is time to visit and experience it in reality.« (Raj’s European Holidays 2005: 46) (Abb. 3). In Deutschland hingegen verbringen indische Pauschalreisende vergleichsweise wenig Zeit. Ein must ist der Besuch von Druba im Schwarzwald wegen der dort fabrizierten Kuckucksuhren (Abb. 4) (Raj’s European Holidays 2005: 63). Als weitere Sehenswürdigkeit in Deutschland bietet Raj-Travel den Movie Park Germany an, eine Auswahl, die im
Abb. 3
Abb. 4
weitesten Sinn durch einen Bollywood-Film motiviert ist, in diesem Fall durch den erwähnten DIL TO PAGAL HAI, doch letztlich stellt Deutschland im Vergleich zur Schweiz sowohl im Kino wie im Reiseplan (noch) einen blinden Fleck dar (Abb. 5). Auch in Österreich sind es eher künstliche Welten, die besucht werden, und nicht ›authentische‹ Orte. Die Kristallwelten des Schmuckunternehmens Swarowski sind in jedem Programm zu finden. Immerhin schaffen es in Österreich auch zwei Städte auf den Reiseplan, nämlich Innsbruck und Salzburg. Um diese Auswahl zu verstehen, lohnt es sich, kurz auf den Film K3G zurückkommen, dessen Werbematerial ich eingangs erwähnt habe. Wer den Film kennt, erinnert sich vielleicht an eine 276
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für das postkoloniale indische Kino durchaus nicht untypische Geste der Überschreibung kolonialen oder spätkolonialen Erbes mit Variationen dieses Erbes. Der Sohn des Titelhelden, ein besonders begabter Sänger, soll als Solist mit dem Schulchor vor den Eltern auftreten. Die Lehrerin übt dazu mit den Kindern das legendäre Do-Re-Mi aus THE SOUND OF MUSIC (Robert Wise, USA 1965) ein.
Abb. 5
Am Tag der Vorführung stimmt der kleine Schuljunge aber nicht dieses, sondern ein anderes Lied an, das sein Onkel heimlich mit ihm eingeübt hat: die indische Nationalhymne. Im indischen Kontext handelt es sich um eine durchaus ambivalente Szene, war es doch die hindunationalistische BJP-Partei, die das Singen der Nationalhymne im Kino vor dem 277
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Hauptfilm in den Neunzigerjahren in vielen von ihr regierten Bundesstaaten zur Pflicht erklärt hatte. Zugleich geht die Szene in einer solchen Lesart aber nicht ganz auf, besagt sie doch, dass THE SOUND OF MUSIC – das westlich/amerikanische Nachkriegsmusical schlechthin und seinerzeit immerhin mit dem Slogan »The Happiest Sound In All The World!« vermarktet – von Bollywood
Abb. 6
locker in den Schatten gestellt wird. Diese Überbietungsgeste sollte indes keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass THE SOUND OF MUSIC in Indien zu den beliebtesten (westlichen) Unterhaltungsfilm-Klassikern zählt. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Salzburg, der Schau-
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platz des Films, zu den europäischen Destinationen zählt, die von indischen Gruppenreisenden aufgesucht werden. Den Zusammenhang macht der Katalog der indischen Niederlassung von Thomas Cook für das Jahr 2005 deutlich: »Day 07: Proceed to the musical city of Salzburg in the foothills of the Austrian Alps. ›Do Re Mi‹ – enjoy a guided tour of this musical city« (Thomas Cook: European Holidays 2005: 30). Illustriert wird Salzburg u.a. mit einem Foto mit folgender Bildunterschrift »The von Trapp family home, Salzburg« (Thomas Cook: European Holidays 2005: 31). Was für die Europäer die Stadt Mozarts und der Salzburger Festspiele, das ist für die indischen Touristen auch das Heim der Trapp-Familie und der Ort, an dem zum ersten Mal das unvergessliche ›Do Re Mi‹ erschallte (Abb. 6).
Abb. 7
Folgt man den Reiseprospekten, interessiert an Europa demnach nicht das ›Echte‹, das wahre Wesen des authentischen Europa, sondern das Gefilmte, die Wirklichkeit als Realität des Filmschauplatzes. Man schaut mit anderen Worten nicht mit den Augen eines Einheimischen, sondern man fühlt noch einmal selbst, nur diesmal anstelle der Stars, und zwar buchstäblich an der Stelle, an der auch die Stars gestanden und gefühlt haben. Die Reise an den realen Ort wäre demnach zu verstehen als eine Wiederbesichtigung des eigenen Erlebens im imaginären Raum des Bildes. Stellt das kommerzielle Hindi-Kino die Dramaturgie des Affekts ins Zentrum und fokussiert auf das Gefühl als Wirkung der Kunst, so steht für die touristischen Praktiken, wie sie in den behandelten Tourismusprospekten angeboten werden, die Antwort auf die Frage im Zentrum, ›wie es sich anfühlt, dort zu sein‹. Der indische Psychoanalytiker Sudhir 279
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Kakar schreibt »Hindi-Filme mögen im vernünftigen Sinn unrealistisch sein, aber sie sind sicher nicht unwahr« (Kakar 1994: 42). Eine touristische Landkarte Europas, auf der die Schweiz die wichtigste Sehenswürdigkeit überhaupt darstellt und die nach den Vorgaben populärer Filme gezeichnet ist, wird vielen Europäern ebenfalls als unrealistisch, um nicht zu sagen: als ungerecht erscheinen (Abb. 7). Ähnlich wie in der eingangs beschriebenen Collage ist es nicht der reale Raum, der in dieser Abbildung zählt, so sehr er auch eine Voraussetzung für diese bildet, sondern der imaginäre Raum, der sich aus dem realen entwickeln lässt. Bedenkt man, dass die Wahrheit des Bildes nicht nur in der Referenz liegen kann, sondern auch in dem Affekt, den es ermöglicht, dann muss man sagen: Unwahr ist eine solche Karte deswegen nicht.
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Varghese, Nina (2005): »Australia Lures Indian Travellers«. The Hindu Business Line, www.blonnet.com/2002/04/17/stories/200204170097 0200.htm, 18. Januar 2005.
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SCHWARM
MASSE? DER MEDIENREZEPTION
ODER
SELBSTSTRUKTURIERUNG
RALF ADELMANN E x pe r i m e n t e , Ex pe ri me nt e ! In einem in der Zeitschrift Science veröffentlichten sozialwissenschaftlichen Experiment (Salganik/Dodds/Watts 2006) wird eine entscheidende Frage der Ökonomien des Medialen gestellt: Warum versagen die ökonomischen und soziokulturellen ›Experten‹ sowie die Medienproduzenten bei der Vorhersage, welches kulturelle Produkt erfolgreich sein wird? Warum wird nicht jeder Hollywoodfilm trotz intensiver Marktforschung und Probevorstellungen zu einem Blockbuster? Warum ist es schwierig vorherzusagen, ob ein Popsong erfolgreich sein wird oder nicht? Warum tauchen in den Bestsellerlisten immer wieder kulturelle Produkte auf, mit deren ökonomischem und kulturellem Erfolg niemand gerechnet hätte? Ein erster Antwortversuch wäre, dass sich der Erfolg auf kulturellen Märkten nicht deterministisch planen lässt. Ein weiterer Antwortversuch wäre, dass ökonomische Modelle keine soziokulturellen Faktoren berücksichtigen können, die während des Rezeptionsprozesses erst entstehen. Eine dritte Antwort wäre, dass generell die falschen Fragen gestellt werden, weil es auf diese Fragen nach der Vorhersehbarkeit kultureller Märkte keine Antwort geben kann. In der erwähnten sozialwissenschaftlichen Studie wird letztere Antwort durch ein web-basiertes Experiment mit über 14.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gegeben. In einem künstlich im Internet geschaffenen Musikmarkt mit 48 unbekannten Songs von unbekannten Interpreten werden die am Experiment Teilnehmenden in zwei Gruppen eingeteilt. In diejenigen, die völlig unabhängig voneinander Musik aussuchen bzw. herunterladen und diejenigen, die über die vorhergegangenen Entscheidungen anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer informiert sind. Die zweite Gruppe wird wiederum in acht Untergruppen (den sogenannten »worlds«) unterteilt, die jeweils eigene künstliche Musikmärkte ausbilden. 283
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Die Ergebnisse dieses Experiments mögen vielleicht in einem Punkt nicht überraschen: Die Ungleichheit ist in den Gruppen, die mit Informationen über Download-Häufigkeiten in der Gruppe konfrontiert werden, sehr viel größer. Das bedeutet, populäre Songs werden sehr viel häufiger und unpopuläre Songs sehr viel seltener heruntergeladen als in der Gruppe, die ohne diese Informationen ihre Musik aussucht. Diese Lücke klafft noch weiter auseinander, wenn die Songs nicht zufällig auf einem Tableau (einer Internetseite) angeordnet sind, sondern in hierarchischen Listen (Ranking nach Downloadhäufigkeit).1 Die Popularität der Songs innerhalb der Gruppe wird mit den aus anderen Internetangeboten (z.B. amazon und iTunes) bekannten 5-Sterne-Wertungen vorgenommen. Die größere Ungleichheit durch das Wissen um die Musikvorlieben der anderen, scheint sich zuerst einmal mit allgemeinen Überlegungen zu kulturellen Märkten und der gegenseitigen Beeinflussung der ›Akteure‹ zu decken. Das zweite Ergebnis dieses web-basierten sozialwissenschaftlichen Experiments ist weitaus erstaunlicher. Je mehr Informationen die Teilnehmenden über die Wahl der anderen haben, desto unvorhersehbarer wird das Ergebnis. Dabei gilt es noch einmal zu beachten, dass die gegebene Information nur die Downloads per Song sind. Dementsprechend ist das Experiment nicht als ›realer‹ kultureller Markt aufzufassen, in dem noch viele weitere Einflussfaktoren zu beachten wären wie Marketing, Medienpräsenz, Kritiken usw. Das Berechnungsmodell würde dadurch sehr viel komplexer und für bestimmte Bereiche überhaupt nicht durchführbar. Die Autoren der Studie kommen daher aufgrund dieser beiden in ihrer Korrelation überraschenden Ergebnisse zu folgendem Schluss: »We conjecture, therefore, that experts fail to predict success not because they are incompetent judges or misinformed about the preferences of others, but because when individual decisions are subject to social influence, markets do not simply aggregate pre-existing individual preferences. In such a world, there are inherent limits on the predictability of outcomes, irrespective of how much skill or information one has.« (Salganik/Dodds/Watts 2006: 856)
In diesem Fazit wird eine für das Marketing in kulturellen Märkten fast apokalyptische Schlussfolgerung gezogen: Die Grenzen der Vorherseh1
Das Tableau besteht aus einem »jukebox-type design« mit drei Spalten, die nach dem Zufallsprinzip bestückt werden. Neben den Titeln und Interpreten gibt es eine Spalte mit der Downloadhäufigkeit. Die Details des experimentellen Designs finden sich unter http://www.columbia.edu/%7Emjs2105/ som.pdf [letzter Abruf 24.04.2006].
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barkeit des Erfolgs eines kulturellen Produkts sind dem Rezeptionsprozess inhärent und sind nicht durch Außenfaktoren wie Informationen über Konsumentinnen und Konsumenten beeinflussbar. Diese Unvorhersehbarkeit des kulturellen und ökonomischen Erfolgs eines kulturellen Produkts legt über die zugestandene Beschränktheit dieses Experiments hinaus den Finger in eine Wunde der soziologischen Theorie, die Hedström mit direktem Bezug auf dieses Experiment als den »link from micro to macro« (Hedström 2006: 786) bezeichnet hat. Damit spricht er die bisher in der Sozialtheorie noch nicht gelöste Komplexität von micro-Vorgängen zwischen Individuen an, die Effekte auf der macro-Ebene auslösen. Vor diesem Hintergrund sieht Hedström das Experiment im Allgemeinen und das web-basierte Experiment im Besonderen im Vergleich zur Beobachtung als ein geeigneteres Instrument sozialwissenschaftlicher Methodologie an. Bisher wurden relativ ausführlich die Ergebnisse dieses web-basierten Experiments dargestellt. Ohne dass hier weiter auf die Relevanz dieser Methodik für die Sozialwissenschaft eingegangen werden soll, stellt sich im Weiteren die Frage, inwiefern die beschriebenen Prozesse für die Medienwissenschaft relevant sind. Zum einen könnte man behaupten, dass die mediale Basis des Internets im Experiment nur genutzt und nicht weiter hinterfragt wird. Denn vielleicht ist uns der experimentelle Aufbau gerade deshalb so plausibel, weil er uns alltäglich im Internet begegnet. Schließlich werden unsere ökonomischen Entscheidungen in Datenbanken ständig aufgezeichnet und in Konsumentenprofile umgesetzt. Im Modus des so genannten »surveillance marketing« (Turow 2005) erfolgt die Konstruktion von Konsumentinnen und Konsumenten längst nach dem Datenbankprinzip. Hinter den Angeboten »Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, haben auch jenes gekauft« steckt letztlich ein von der Produzentenseite ausgebildetes System potentieller sozialer und ökonomischer Interaktion. Dass dieses Modell nicht einwandfrei funktioniert und uns immer wieder unpassende Angebote gemacht werden, weiß jede und jeder aus ihrer und seiner täglichen Interneterfahrung. Das geschilderte Experiment deutet gerade auf eine der immerhin noch im engeren Sinne ökonomisch relevanten Leerstellen dieser Modelle hin. Aus seinen Ergebnissen lässt sich für eine medienwissenschaftliche Perspektive auf die kulturellen Märkte des Internets folgern, dass es Prozesse der Selbststrukturierung in der Medienrezeption gibt, die über die Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit des Erfolgs kultureller Produkte hinausragen. Medientheorie möchte sicher das Versagen einer ökonomischen Erfolgsvorhersage nicht kompensieren, doch sie kann versuchen, die Verfahren und Mechanismen der Selbststrukturierung in der Medienrezeption mithilfe von Analysen medialer Wissens- und Ord-
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nungsstrukturen beschreibbar zu machen. Weiterhin könnte eine medienwissenschaftliche Perspektive fragen, ob das Internet, als Dispositiv und – im engeren Sinne – als mediale Struktur, diese Wissens- und Ordnungsstrukturen produziert, fortschreibt oder sichtbar macht. Diese Mechanismen der Selbststrukturierung konturieren meines Erachtens das Untersuchungsfeld der Medienrezeption in eine neue Richtung, die es rückblickend vielleicht noch einmal notwendig macht, ähnliche Strukturen in früheren Medienkonstellationen zu untersuchen. In einer ersten Konturierung der Perspektive auf die Selbststrukturierungsprozesse möchte ich hierzu die Begriffe »Masse« und »Schwarm« im Kontext medienwissenschaftlicher Rezeptionsforschung kurz problematisieren, bevor weitere konkrete Beispiele der Selbststrukturierung der Medienrezeption angesprochen werden.
Masse Wenn Nietzsche fordert, dass die Massen der Teufel und die Statistik holen solle,2 so spricht er sicher mit der Verbindung von Masse und Statistik einen wichtigen Punkt für die weitere Betrachtung klassischer Medienrezeptionsmodelle an. Und bei Nietzsche findet sich ebenfalls an gleicher Stelle der Vorwurf, dass die Massen »die Werkzeuge der Großen« (Nietzsche [1874] 1992: 136) seien. Auf die historische Kontinuität dieses Vorwurfs und die negative Wertung des Massebegriffs wird im Weiteren immer wieder hingewiesen werden. Die Relevanz der Verbindung von Statistik und Massen für die Medienrezeption wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, in wie vielen Kontexten entweder explizit oder implizit ein statistisch erfassbares Massenpublikum bei der Rezeption medialer Produkte vorausgesetzt wird. Die folgenden Überlegungen sind deshalb als ein erster Vorschlag zur Ergänzung und Umdeutung der schon bestehenden Vorstellungen über massenhafte Medienrezeption zu verstehen. Keinesfalls soll hier die Begriffsgeschichte der Masse erneut reproduziert werden. Der Vielschichtigkeit des Massebegriffs, der in Philosophie, Soziologie und Psychologie im Laufe der letzten zweihundert Jahre immer wieder neu gefasst wurde, wird hier bewusst ausgespart, um auf ein bestimmtes Problem aufmerksam zu machen.3 2
3
»Die Massen scheinen mir aus dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen, und endlich als Werkzeuge der Großen; im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!« (Nietzsche [1874] 1992: 136) Zur Begriffsgeschichte von »Masse« vgl. Günzel (2004; 2005a; 2005b).
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Aus diesen historischen und aktuellen Überlegungen ergibt sich eine gewisse Unschärfe des Massebegriffs, so dass er als Element eines Rezeptionsmodells für Medien immer wieder aufs Neue erklärungsbedürftig wird. Diese Unschärfe wurde und wird in der Medienwissenschaft in verschiedenen Ansätzen genutzt, um durch das Zusammenziehen beider Begriffe in »Massenmedien« pauschal auf die immense Bedeutung derselben für die moderne Gesellschaft hinzuweisen und die Rezeptionsweisen dieser Massenmedien selbst als Massenphänomen zu kennzeichnen. Diese erkenntnistheoretische Denkrichtung der Argumentation, wie sie beispielsweise bei so genannten one-to-many-Medien immer wieder auftaucht, verdeckt mit ihren thematisierten Verbindungen »macro-macro« und »macro-micro« (Hedström 2006) die Frage nach den Mechanismen der Selbststrukturierung der Medienrezeption. Sie kommen in dieser Sichtweise als »micro-macro« nicht vor. Insbesondere die Publizistik und die Kommunikationswissenschaft sind – ganz im Sinne Nietzsches – von der Statistik zusammen mit der Masse abgeholt worden. Aber auch eine kulturwissenschaftlich fundierte Medienwissenschaft spricht in der überwiegenden Mehrheit der Ansätze über Massenphänomene der Medien und führt diese beispielsweise auf Verbreitungstechnologien, Inhalte oder Ästhetiken zurück. Als markante frühe Vertreter dieser Position sind sicher Siegfried Kracauer und Walter Benjamin zu nennen, die bis heute Medienrezeptionsmodelle mitbestimmen. Nicht zuletzt dient die Masse in der Medienwissenschaft als Legitimation für eine nicht hinterfragbare Relevanz des Fachs selbst: Erst die Verbindung von Masse und Medium zu Massenmedien erlaubt medienwissenschaftliche Zugriffe auf oder Zuständigkeiten bei generellen gesellschaftlichen Fragen. Die Masse selbst kann in den verschiedenen Modellen der Medienrezeption sehr unterschiedliche Formen annehmen: Von der Masse, die über Medien politisch verführt wird, über »the people« der cultural studies bis hin zu der eigentlich nicht relevanten Gesamtheit aller Adressaten in der systemtheoretischen Realität der Massenmedien.4 Die Masse bzw. die Massenhaftigkeit von medialen Phänomenen selbst ist allein schon deren Legitimation als wissenschaftliche Gegenstände. Massenhaftigkeiten stehen vor diesem Hintergrund immer im Konflikt mit dem Individualisierbaren der Medienrezeption. Dieser Kon4
Die einzelnen Konzepte können hier nur angedeutet werden, was zwangsläufig zu einer Vergröberung führt. In den cultural studies und insbesondere in ihrem ethnografischen Zweig ließen sich erste Versuche einer individualisierbaren Medienrezeption finden. Gleichzeitig wird diese Individualisierung durch sozial strukturierte massenhafte Prozesse (class, race, gender) erklärt und ist nicht ein inhärenter Effekt der Medienrezeption, der sich auf übergreifende Wissens- und Ordnungsstrukturen bezieht.
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fliktlinie wird in Kognitions- und Wahrnehmungstheorien, in der ethnografischen Rezeptionsforschung und nicht zuletzt in den empirischen Studien zum Medienkonsum nachgegangen. In der statistischen Normalisierung des Individuellen findet sich darüber hinaus ein direkter quantitativer Nachweis für Massenhaftigkeit, der in das Methodendesign empirischer Untersuchungen zurückgeschleift wird. Mein Vorschlag ist nun die Massenhaftigkeit nicht allein auf Seiten der Medientechnik oder der Medienproduktion, nicht allein auf Seiten politischer, gesellschaftlicher Intervention sowie nicht allein auf Seiten der Rezeptionsqualitäten und -quantitäten zu suchen. Das Massenhafte soll dagegen in den Ordnungs- und Wissenssystemen als Ausdruck von Selbststrukturierungsprozessen populärer Kultur gesucht werden. Die Ordnungs- und Wissenssysteme funktionieren nicht ausschließlich statistisch, sie sind weder eindeutig produktions- noch eindeutig rezeptionsorientiert, sie haben eine sehr variable Bindung an gesellschaftliche Prozesse, wie beispielsweise der generellen Verdatung der Lebenswelt, der Pluralisierung von Wissensformen und der Demokratisierung des ästhetischen Urteils. Insofern weiten diese Perspektivierungen die Lücke weiter auf, die sich in dem geschilderten Experiment mit der Unvorhersagbarkeit des Erfolgs eines kulturellen Produkts aufgetan hat. Im Zentrum der theoretischen und analytischen Betrachtung der Mechanismen der Selbststrukturierung der Medienrezeption stehen dann Fragen nach den besonderen Wissensordnungen und -strukturierungen der Populärkultur, die sich weder aus ethnografischer oder sozialer Perspektive noch aus ökonomischer Sicht hinreichend klären lassen und dennoch massenhaft wirksam sein können. Damit diese kurze und allgemeine Darstellung durch ihren skizzenhaften Charakter nicht zu sehr in der Luft hängt, ergeben sich mit den Fragen nach Ordnungs- und Wissensstrukturen sehr konkrete Gegenstände wie die Analysen am Ende des Beitrages belegen. Die Bezeichnung ›Mechanismen der Selbststrukturierung‹ ist rein deskriptiv als Beschreibung des Gegenstandsfelds gemeint. Damit sollen nicht bestimmte theoretische Modelle aus Systemtheorie oder Kybernetik aufgerufen werden, sondern konkrete mediale Phänomene benannt werden, denen eine prozessuale Ökonomie der Wahrnehmung/des Wissens zugrunde liegt. Mögliche Untersuchungsfelder sind beispielsweise Listen, Rankings und Cluster, die aktuell unsere Medienrezeption prägen. Gemeint sind damit Medienprodukte, die sich über informelle Strukturen in die Bestsellerlisten ›schleichen‹ (z.B. »Schnappi das kleine Krokodil«), die Nutzerbewertungen (z.B. in Form von Skalen wie fünf Sterne) von Medienprodukten und ihrer Nutzer bei ebay, amazon usw. oder die Ordnungs-
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kategorie ›Kult‹ als emergenter Effekt der Populärkultur. Dazu korrespondieren medienökonomische Prozesse auf Seiten der Medienproduktion, die solche Organisationsformen populären Wissens herstellen, etablieren, forcieren und übernehmen. Ein drittes Gegenstandsfeld ergibt sich aus den schon angedeuteten Vermischungsphänomenen beider vorherigen Gegenstandsfelder. Am Beispiel der Internetsuchmaschinen werden diese Austauschprozesse besonders deutlich. Ihr ökonomischer Erfolg hängt von der Erstellung der Rankings in Form hierarchisierter Ergebnislisten ab. Die Qualität der Listen (und damit der Suchmaschine) wird durch die Benutzerinnen und Benutzer unter anderem an einer weitgehenden Unabhängigkeit der Treffer von kommerziellen Angeboten gemessen.
S c hw a r m Ausgehend von der groben Problematisierung des Massenbegriffs in der Medienwissenschaft und einer ersten Konturierung der Mechanismen der Selbststrukturierung der Medienrezeption erscheint es notwendig, auf einen aktuell diskutierten Nachfolger oder Modulator des Massebegriffs einzugehen: der Schwarm. Das Konzept des Schwarms wird verbreitet über unscharfe und interdisziplinäre Begriffe wie verteilte Systeme, peerto-peer-Netzwerke, wikis, smart mobs (Rheingold 2002) oder ähnliches, und als ein neues Paradigma in die Debatte um Medienrezeption eingebracht. Diese aktuelle Auseinandersetzung über das Zusammenwirken individualisierter Handlungen oder technischer Systeme und daraus entstehende Selbststrukturierungen hat im Kontext der zuvor entwickelten Überlegungen zu populärkulturellen Wissens- und Ordnungssysteme eine nicht nur diskursive Relevanz. Zum einen wird in den informationstechnischen Debatten eine mediale Implementierung der Mechanismen der Selbststrukturierung diskutiert, die zukünftige Infrastrukturen digitaler Medien bestimmen könnten. Zum anderen gibt es eine mehr kulturwissenschaftlich inspirierte Debatte, die die Schlussfolgerung nahe legt, dass aktuelle und zukünftige mediale Konstellationen soziokulturelle Prozesse hervorbringen bzw. stützen, die Rezipienten aus ihrer Massenhaftigkeit ›befreien‹. Diesen vermeintlichen Paradigmenwechsel von Masse zu Schwarm und die positive Aufladung des Schwarmbegriffs – ob sich diese Bewertung nun aus der Beobachtung medialer Praxen oder aus der Entwicklung der Informationstechniken speist – soll im Folgenden kritisch begutachtet werden. Wenn ich aus den vielen kulturtheoretischen Überlegungen zur Masse auf eine kurz näher zurückkomme, dann weil hier Elemente des
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›Schwärmens‹ durchaus in der Massendefinition selbst schon vorkommen. Diese Traditionslinie begründet einen ersten Kritikpunkt am Schwarmdiskurs. Elias Canetti beschreibt auf den ersten Seiten von »Masse und Macht« das Zustandekommen der (»offenen«) Masse: »Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. Von allen Seiten strömen andere zu, es ist, als hätten Straßen nur eine Richtung. Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen; doch haben sie es eilig dort zu sein, wo die meisten sind. Es ist eine Entschlossenheit in ihrer Bewegung, die sich vom Ausdruck gewöhnlicher Neugier sehr wohl unterscheidet. Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben: das Ziel ist das schwärzte – der Ort, wo die meisten Menschen beisammen sind.« (Canetti [1960] 1980: 14f.)
Wenn Canetti schreibt: »die Bewegung der einen, meint man, teilt sich der anderen mit« (Cannetti [1960] 1980: 15), so findet sich diese Eigenschaft der Masse und ihrer vermeintlichen Spontanität in Beschreibungen von Schwärmen in der Naturwissenschaft wieder. In einem Beitrag des Fraunhofer Magazins werden die drei Grundregeln des (virtuellen) Vogelflugs und die »Schwarmrobotik« in Verbindung gebracht: »1. Schere aus, bevor eine Kollision mit einem anderen Vogel oder Objekt erfolgt. 2. Fliege ebenso schnell wie deine Nachbarn. 3. Versuche in das wahrgenommene Zentrum zu fliegen.«5
Die einzelnen Tiere eines Vogelschwarms scheinen nach gleichen Regeln Kollisionen zu vermeiden wie Menschen in der Masse. Auch haben beide Organisationsstrukturen ein »Zentrum« (ebd.) oder »ein Ziel« (Canetti [1960] 1980: 15). Ganz im Gegensatz zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am zuvor geschilderten Experiment, die bei gleicher Ausgangslage völlig unterschiedliche Ziele (d.h. Lieblingssongs) entwickelten. In aktuellen Beschreibungen der so genannten »Schwarmintelligenz« finden sich demnach Elemente, die Canettis Beschreibung der Entsteh5
Die drei Regeln stammen von Craig Reynolds (zit.n. Niesing 2004: 54), der 1986 mit diesen Regeln einen virtuellen Vogelschwarm programmiert hat (eine Animation dieses Vogelschwarms befindet sich auf der Homepage von Reynolds unter http://www.red3d.com/cwr/boids/ [letzter Abruf 30.4.2006]).
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ung von Massen zumindest ähnlich sind. Daraus wäre eigentlich zu folgern: Entweder spricht man dann der Masse die gleiche besondere ›Intelligenz‹ zu oder Canetti (und sicher noch einige vor ihm) entdeckten viel früher schon die Regeln der Massenbewegung. Hier deutet sich bereits an, dass die positiv gesehenen Eigenschaften der Masse aktuell als ›Schwarmintelligenz‹ bezeichnet werden, während ihre aus heutiger Sicht negativ zu wertenden Eigenschaften sich in den Debatten nicht wieder finden oder als ›veraltet‹ in den Hintergrund gedrängt werden. Trotz dieser Übereinstimmungen in der Beschreibung von Schwarm und Masse zeigt sich im Begriffswechsel mehr als nur ein Etikettentausch. Interessanterweise hat der Schwarmdiskurs neben seinen naturwissenschaftlichen und informationstechnischen Anwendungen eine starke ökonomische Seite. Die Herleitung der ›Schwarmintelligenz‹ aus der Welt der Insekten6 findet sich sowohl in den ersten Sätzen des Fraunhofer Magazins als auch zu Beginn eines Artikels in changeX. Das unabhängige Online-Magazin für Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Fraunhofer Magazin: »Die Ameise an sich ist ›dumm‹. Alleine kann sie keine komplexen Probleme bewältigen. Anders in der Gemeinschaft: in ihren Kolonien züchten Ameisen Pilze, halten Vieh und erstellen ausgeklügelte Straßennetze«. (Niesing 2004: 54) changeX. Das unabhängige Online-Magazin für Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft: »Ameisen und Bienen machen es vor: Auch wenn es keine zentrale Steuerung oder Intelligenz gibt, erledigen sie ihre Aufgaben hervorragend. Ein Erfolgsrezept, mit dem inzwischen auch Unternehmen und Organisationen experimentieren. Nach dem Netzwerk kommt der Schwarm!« (Neef 2006)
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Zu dieser in den Beiträgen zum Schwarm immer wiederkehrenden Herleitung aus dem Verhalten von Insekten ließe sich noch einiges berichten. Die so genannte ›KI-Forschung‹ und die Soziobiologie weisen viele gemeinsame Forschungsinteressen und theoretische Grundlagen auf. Ein eher anekdotischer Zusammenhang ergibt sich in einem Interview mit Eric Bonabeau, einem der bekanntesten Wissenschaftler im Bereich der ›Schwarm-Intelligenz‹ (u.a. Mitautor eines Einführungsbuchs mit dem Titel »Swarm Intelligence. From Natural to Artificial Systems«. Oxford University Press, 1999): »As a kid I’d always been terrified of insects. I remember with retrospective anguish my holidays in the south of France, when picnics turned into nightmarish fights against carnivorous wasps and ferocious ants raiding my sandwich. I would wake up at night, screaming at the thousands of insects in my bed – or was it a dream?« (http://www.openp2p.com/pub/a/p2p/2003/02/21/bonabeau. html [letzter Abruf 28.04.2006).
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Die Übertragung der dezentralen ›Schwarm-Intelligenz‹ der »dummen« Ameisen auf ökonomische Vorgänge entwickelt sich in dem Beitrag von changeX zu einem neoliberalen Wirtschaftsmodell. Diese beiden Beispiele demonstrieren die Bandbreite des Schwarmdiskurses und zeigen gleichzeitig die positive Aufladung des Schwarmbegriffs. Demnach verschwindet im Schwarmdiskurs die negative Wertung des Massenbegriffs, die in der Kulturtheorie ein durchgängiger Topos ist. Stattdessen wird im ›Schwärmen‹ das produktive Zusammenspiel von Produktions-/Rezeptionsweisen verstanden: »hoch-dezentralisiert, dynamisch, pulsierend, nichtlinear und adaptiv« (Neef 2006). Daraus ergibt sich meines Erachtens die Attraktivität des Schwarmdiskurses für ökonomische Felder wie Marketing, Produktentwicklung oder Unternehmensorganisation. Durch seine hohe Produktivität kann der Schwarmdiskurs die Widersprüche in der Übertragung von der Tierwelt in die Wirtschaftswelt verarbeiten. Denn während die Insektenschwärme aus ›dummen‹ Einzelnen bestehen, die erst durch die Gesetze ihres Zusammenwirkens ›Intelligentes‹ bewirken, sind die Individuen in Schwärmen im ökonomischen Feld immer hochintelligent, flexibel, dynamisch usw. Erst mit dieser positiven Aufladung der dem Schwarm zugeordneten Attribute wird das Schwarmmodell für die Einzelnen attraktiv. Der zehnte deutsche Trendtag hatte 2005 das Motto »SchwarmIntelligenz. Die Macht der smarten Mehrheit«. Anhand des Untertitels »Die Macht der smarten Mehrheit« wird erneut deutlich, wie sich der in Teilen negativ aufgeladene Massenbegriff in die ausschließlich positive Wertung des Schwarms umschreibt. Agieren wir in medialen Netzwerken ohne zentrale Steuerung, gehören wir zu einer »smarten Mehrheit« und nicht mehr zu einer Masse, die weiterhin von zentral organisierten Massenmedien gesteuert wird. Damit wird ›Schwärmen‹ endgültig zu einer medialen Möglichkeit der Informations-Elite. Negative Schwarmbeschreibungen finden sich selten in ökonomischen Konzepten zur Medienrezeption. Trotzdem gibt es sie beispielsweise als Katastrophen- und Science Fiction-Szenarien wie in den Bestsellern von Michael Crichton »Beute« (»Prey«, 2002) und Frank Schätzing »Der Schwarm« (2004). Crichton schließt sich mit seinem Szenario mit Roboterschwärmen an futuristische Versprechungen der KIForschung und Nanotechnologie an, während in Schätzings Roman Schwarm-Intelligenz als zweite Intelligenz auf der Erde (unterseeisch statt außerirdisch) entdeckt wird. In beiden Romanen wird dabei nur am Rande Schwarmverhalten beim Menschen thematisiert. Masse- und Schwarmdiskurs sind zwei Seiten einer Medaille in Überlegungen zur Medienrezeption. Die Produktivität des Schwarmdiskurses in dieser globalen Bandbreite als Antwort auf veränderte mediale
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Nutzungskonstellationen weist darauf hin, dass er auf Fragen reagieren kann, wie sie zu Beginn am Beispiel des sozialwissenschaftlichen Experiments gestellt wurden. Diese Frage aufgreifend verstehen sich die Anmerkungen zu den nächsten Beispielen als ein weiteres Plädoyer, sich die konkreten Veränderungen in der Medienrezeption anhand der Ordnungs- und Wissensstrukturen der Populärkultur anzuschauen. Das Element der Selbststrukturierung aus dem Schwarmdiskurs lässt sich aber, wie die abschließenden Beispiele zeigen, auch auf andere Weise erfassen.
M u s i ke nt de ck e r Beide Beispiele basieren auf Datenbankstrukturen, die mittels einer Benutzeroberfläche im Internet verfügbar gemacht werden. Damit sind von Produktionsseite her schon gewisse Profile der Rezeption vorgegeben, auf die noch im Einzelnen einzugehen sein wird. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Ordnungssysteme, die in diese Benutzeroberflächen eingeschrieben sind.7 Die erste Internetapplikation wendet sich zuallererst nicht an ein präsentes Massenpublikum. Pandora (www.pandora.com; Abb. 1) ist eines von mehreren Programmen, die Musik über das Internet abspielen. Da es noch keinen adäquaten Namen für diese Funktion gibt, soll sie vorläufig Musikentdecker heißen.8 Der Musikentdecker »Pandora« beginnt Songs zu entdecken und abzuspielen, wenn wir einen »Künstler« oder einen »Musiktitel« aus dem Reich der Popmusik eingeben. Pandora ist deshalb ein sehr dankbares Beispiel, weil es sehr wenige Eingaben braucht, um es zu starten. Im laufenden Betrieb kann man nur an wenigen Punkten eingreifen, muss dies aber auch nicht. Von Rezipientenseite genügt es, einen Künstler oder Musiktitel einzugeben und Pandora startet eine Art Radiostation mit Songs, die zu den Eingaben der Nutzerin oder des Nutzers passen sollen. Hinter der Oberfläche verbirgt sich – laut Angaben der PandoraHomepage – eine Datenbank, das »Music Genome Project«, in dem angeblich 10.000 Musikexperten und -künstler nach 400 festgelegten Attributen Pop-Songs bewertet haben (Abb. 2 zeigt diese Attribute für 7 8
Die beiden Beispiele sind vielleicht nicht so bekannt, deshalb ist es durchaus sinnvoll, ein Selbstexperiment mit diesen Internetangeboten zu machen, um eigene Rezeptionserfahrungen zu machen. Ein anderer Begriff ist zum Beispiel »Vorschlagssysteme für Musik« (Hansen 2006: 192). Neben Pandora gibt es noch andere ähnliche Systeme wie Audioscrobbler, Audioinsight, MoodLogic, MusicLens, Predixis oder Sony Highfind (siehe dazu auch Hansen 2006).
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einen Song).9 Ein Spiegel-Online Beitrag bejubelt diese Idee folgendermaßen: »Fünf Jahre lang haben Experten des Pop-Songs analysiert und den umfassendsten Musikkatalog der Welt erstellt. Herausgekommen ist Pandora - ein lernfähiger Computer-DJ, der jedem Hörer sein individuelles Programm zusammenstellt.« (Hillenbrand 2005)
Die hier beschworene Individualität hat eine sehr harte Grenze in einem Algorithmus, der zwischen der Datenbank und der Eingabe der Nutzerin oder des Nutzers die Verknüpfungen vornimmt.
Abb. 1: Homepage von Pandora
Wir haben demnach vorläufig drei Elemente einer Selbststrukturierung: 1. Die Attribute werden von einer großen Anzahl an professionellen Hörern eingegeben und daraus generiert sich der Datenbankbestand. 2. Die Eingaben der Nutzerinnen und Nutzer erfolgen beispielsweise nach ihrem individuellen, momentanen Musikgeschmack. 9
Alle Angaben zu Pandora entstammen der Homepage unter www.pandora .com und sind deshalb entsprechend kritisch zu beurteilen.
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3. Diese Eingaben werden mit einem Algorithmus mit dieser Datenbank in Verbindung gesetzt. Pandora hat mit seinem offiziellen Start 2005 einige Aufmerksamkeit insbesondere durch Weblogs erfahren. Dabei wurde Pandora im Durchschnitt so außerordentlich gut besprochen wie in dem Spiegel OnlineArtikel (Hillenbrand 2005). Leider sind keine Zugriffszahlen auf Pandora verfügbar, aber durch die Erwähnungen in Weblogs kann angenommen werden, dass es in dieser speziellen Internet Community eine beachtliche Verbreitung gefunden hat, ohne dass es besondere Werbeanstrengungen gab. Nehmen wir die emotionalen Äußerungen in verschiedenen Weblogs ernst, dann heben die euphorischen Besprechungen eine besondere emotionale Bindung der Nutzerin und des Nutzers an die eigenen Radiostationen hervor: Pandora »macht Spaß«, »ist uneitel« und »Pandora rocks«.10
Abb. 2
Die Entstehung und Struktur dieser emotionalen Bindung erhöht weiter die Komplexität der Mechanismen der Selbststrukturierung bei der Nutzung von Pandora. Im Gegensatz zu den mathematisch formulierbaren Downloadhäufigkeiten wie im geschilderten Experiment stellen diese emotionalen ›Downloads‹ zwar einen Faktor der Rezeption dar, der sich
10 Für die positive Aufnahme von Pandora und die durch die Nutzung entstehende Emotionalität lassen sich viele Weblog-Einträge anführen. Da sich die links hier sehr schnell ändern, möchte ich auf die entsprechenden Suchmaschinen verweisen. Im April 2006 ließ sich folgende Auswahl von Weblogs mit positiven Besprechungen (Suchbegriff: »Pandora rocks«) finden: http://craigrandall.net/archives/2005/08/pandora-rocks/, http://bobofcups.livejournal.com/227872.html, http://www.eightdegree.com/weblog/2006/04/opening_pandora.html, http://sleeper.blog.co.uk/2006/04/22/pandora_radio_station_rocks~746490, http://littlenomad.com/archives/2006/03/02/pandoracom_rocks.html, http://juliansanchez.com/notes/archives/2006/02/pandoras_rocks.php
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aber in der Bewertungsfunktion (Daumen hoch oder runter, siehe Abb. 3) nicht adäquat messen lässt. Zum einen benutzt das Music Genome Project distinkte und objektive Merkmale wie Rhythmus, Instrumente und ähnliche Kriterien, die datenbanktauglich sind. Zum anderen versucht Pandora diese harten Kriterien durch die Bewertung der Songs von angeblich 10.000 Experten statistisch aufzufangen. Die Entsprechungen der Kategorien in dem individuell vorgeschlagenen Song können jeweils angezeigt werden (Abb. 2). Pandora ist sicher eine von vielen Antworten auf die Krise der Musikindustrie. Diese ist zu allererst eine Krise der Warenform. Pandora versucht durch die Struktur eines individualisierten Radioprogramms die Loslösung von CD- und iTunes-Logiken. Gleichzeitig verweist es – und hierin liegt das Geschäftsmodell – auf amazon und iTunes als Bezugsquellen für die digitale oder materielle Warenform der einzelnen Songs. Pandora selbst bietet aber nur sein formatradioähnliches Programm an und verkauft damit seine Nutzerinnen und Nutzer als potentielle Kunden an die angesprochenen Internetportale. Des Weiteren unterliegt die Eingabe von Bands auf Seiten der Nutzer einer Logik des Zufalls. Nicht zu unterschätzen sind die schon angesprochenen emotionalen Elemente einer solchen Datenbankabfrage. Dadurch dass das Geheimnis des Algorithmus bei der Erstellung von Vorschlägen durch Pandora nicht bekannt ist, stellt sich bei der Einrichtung und dem ›Betrieb‹ einer Radiostation ein einfaches Frage-Antwort-Spiel ein, dass aus frühen Simulationen ›künstlicher Intelligenz‹ wie beispielsweise ELIZA schon bekannt ist.11 In diesem Verhältnis von Computerprogramm zu seiner Nutzung bildete sich schon damals ein Ordnungs- und Wissenssystem heraus, das wir heute als so angenehm bei Pandora empfinden. Die Überraschung auf Seiten der Rezeption und die simulierte Kontingenz des nächsten Musiktitels entspricht einem besonderen Ereignischarakter, der sich laut Homepage als »conversation« darbietet. Durch die statistisch kontrollierte Kontingenz der Datenbankabfrage wird somit die emotionale Tiefe einer conversation aufgebaut. Dass auf der Homepage von Pandora, der user als friend (Abb. 1) angesprochen wird und auf seinen individuellen Musikgeschmack abgehoben wird, ist in diesem Zusammenhang sicher nicht zufällig. 11 In einem Beitrag der c’t wird zum 40 jährigen Geburtstag von ELIZA getitelt: »Ein Missverständnis wird 40«. Der Erfolg von ELIZA wird mit dem gelungenen Mensch-Maschine-Dialog, »dem viele vertrauen« begründet. Das Missverständnis ist laut c’t, dass viele den Dialog als »bare Münze« genommen haben (Borchers 2006). Das Missverständnis der wenig kulturwissenschaftlich geschulten c’t ist, dass das Missverständnis der Normalfall von Kommunikation ist und im Fall von Pandora das Rezeptionserlebnis strukturiert.
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Diese emotionale Vertiefung der Rezeption durch die Erstellung von personalisierten Radioprogrammen kann wiederum durch die Nutzerbewertungen der von Pandora vorgeschlagenen Musiktitel weiter raffiniert und rationalisiert werden. Dabei ist ein Element der Selbststrukturierung und des in seiner Konkretheit überraschenden Musikangebots die Weiterentwicklung und Verfeinerung des eigenen Musikgeschmacks (Abb. 3). Mit dem Begriff ›Geschmack‹ sind wir bei einem weiteren unscharfen Element der Medienrezeption, das sich nicht so einfach theoretisch und methodisch fassen lässt. Zwar haben wir alle ›Geschmäcker‹ und die Existenz dieser psychischen Disposition ist unleugbar, aber ihr Zustandekommen ist immer noch etwas rätselhaft. Für eine medienwissenschaftliche Betrachtungsweise sind die kognitiven und psychischen Bedingungen des Geschmacks dabei nur am Rande interessant. Auf der Suche nach einem Geschmack könnten Analysen der Vergleichssysteme, die durch die Rezipienten aufgestellt werden, durchaus einen Beitrag leisten. Die Selbststrukturierung geschmacklicher Erfahrungen und deren Austausch in Form von eigenen Lieblingslisten zu bestimmten Medien, Genres, Themen usw. bieten dafür eine gute Ausgangsbasis. Da diese Daten längst im Internet über Foren wie MySpace und andere Portale wie amazon oder iTunes verfügbar sind, könnte hier auf sozialwissenschaftliche Experimente verzichtet werden.
Abb. 3
Ähnliches lässt sich bei Pandora beobachten, insofern wir zwar überhaupt keinen Einfluss auf die zu Beginn zugrunde liegende Datenbank haben, trotzdem durch die einfachen Bewertungen, Favoritenlisten und mit der Eingabe von Künstlern und Songs, die Zugriffe auf die Datenbank manipulieren können. In Pandora ist es nicht möglich, vor- oder zurückzuspulen,12 sondern ganz im Sinne eines one-to-many-Massenmediums entsteht ein ununterbrochener Programmflow, der aber über die Vorgaben des Nutzers individualisiert wird. Diese Entbindung der Be12 Die einzige Möglichkeit ist das Überspringen des aktuellen Songs.
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wertung jedes einzelnen Musikstücks, der Diskussion über »objektive« Kriterien dieser Bewertung und der Verknüpfungsalgorithmen erklärt meines Erachtens auch die positiven Reaktionen in Weblogs und anderen Internetmedien auf diese restriktive Verordnung von Musik. Da die Nutzerinnen und Nutzer die eigenen Radiostationen in Pandora mit anderen teilen können, werden auch ihre Musikgeschmäcker als offenes System für andere verfügbar. Die Offenheit entsteht dadurch, dass die Nutzer nicht einfach Playlists festlegen, sondern die Musikrichtung nur über ihre Eingabelisten beeinflussen können. Der damit einhergehende ›Kontrollverlust‹ steht in einem produktiven Spannungsverhältnis zur individuellen Selbststrukturierung des Musikgeschmacks wie er durch Playlists im ipod vorgenommen wird. Selbst beim ipod ist die zufällige Wiedergabe aus diesen Playlists, die so genannte shuffle-Funktion, ein häufig genutzter Rezeptionsmodus. Diese produktive Spannung aus der Erwartungshaltung, was kommt als Nächstes, lässt sich mit den unterschiedlichen Rezeptionshaltungen zwischen Fernsehen und DVD bzw. Video-Schauen vergleichen.13 Diese Mischverhältnisse der eigenen Strukturierungsleistungen der Rezeption und der vorgefertigten Zutaten der Medien selbst bestimmen die Spezifik dieser Rezeptionssituationen. Sie gehen dann nicht in den Konzepten Masse oder Schwarm auf.
Browse Das folgende Beispiel weist andere Nutzungsvorgaben und Strukturierungen durch die Rezipienten auf als bei Pandora. Außerdem liegt es auf den ersten Blick sehr viel näher an Selbststrukturierungsprozessen oder Wissens- und Ordnungsstrukturen der Rezeption. Das Videoclipportal ifilm (www.ifilm.com, Abb. 4)14 steht für eine Reihe ähnlicher Homepages, die Videoclips und Kurzfilme kostenlos oder auch kostenpflichtig zugänglich machen. Der erste Unterschied zu Pandora ist sicherlich, dass die Startseite für alle Rezipienten gleich ist und sich die Personalisierungsmöglichkeiten von Pandora auf dieser Ebene nicht wiederfinden. Die Datenbank- und Zugriffslogik von ifilm präsentiert andere Ordnungs- und Wissensverfah13 »Was Fernsehen als Medium auszeichnet ist, dass ich mich dem Medium ausliefere, dass ich es mag, nicht zu wissen, wer etwas gemacht hat oder woher etwas kommt. Dies ist eine Mischung aus Bequemlichkeit und Spannung, eine Form der selbst gewählten oder ermöglichten Begrenzung.« (Schwaab 2002: 251) 14 Die Startseite von ifilm kann aufgrund ihrer Länge nicht komplett abgebildet werden. Abb. 4 zeigt nur einen kleinen Abschnitt.
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ren als die klassische Präsentation audiovisueller Medien wie Film, Video und Fernsehen. ifilm präsentiert kurze Videoclips aus sehr unterschiedlichen Kontexten. Das Spektrum reicht von Film- oder Videospieltrailern über Fernsehereignisse bis zu Videoproduktionen aus Fankulturen. Neben einer Vielzahl von klassischen Kategorisierungen nach Genre, Produktion usw. kommt eine Hierarchisierung des Datenbankbestands in Top 100, die Möglichkeit des Abos »Clip of the day«, »Hot Picks«, »Editor’s Favorites«, thematische »Video Collections« usw. hinzu. Einzig die mittlerweile 12 »Channels« (Adrenaline, Anime, Comedy, Girls, Movies, Music Videos, Shorts, TV Clips, Video Games, Viral Video, WarZone, World) erinnern zumindest begrifflich an Fernsehkanäle. Die Ordnungslogik ist aber eine völlig andere als die televisuelle. Die Bezeichnungen für die 12 Channels erscheinen auf den ersten Blick sehr willkürlich. Beschreiben Sie einerseits Inhalte (z.B.: Girls), bestimmen sie andererseits Formate (z.B.: Music Videos). Ebenso werden für die Einordnung Genrebegriffe (z.B.: Comedy) verwendet. Dieses kategoriale Begriffschaos findet auf einer Produktions- und Rezeptionsebene aber eine konsistente Zugriffslogik: Browsing.
Abb. 4
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Besonders einprägsam entfaltet sich die Zugriffslogik des Browsing erst in einem Durchgang durch alle Hierarchieebenen des Ordnungssystems von ifilm. Beispielsweise wird unter »Shorts« ein weiteres Auswahlfenster geöffnet: Hier tauchen dann Unterkategorien wie »Star Wars« oder »Matrix« auf, hinter denen sich hauptsächlich Fan-Filme zu beiden Spielfilm-Serien verbergen (Abb. 5). Dieselben Filme finden sich auf derselben Hierarchieebene unter der allgemeineren Bezeichnung »Fan
Abb. 5
Films« wieder. Die mehrfache Redundanz der Zugriffsstrukturen erklärt zum einen die Funktion Browsing auf Seiten der Produktion dieser Homepage, zum anderen spiegeln sich in der besonderen Einordnung in »Star Wars« oder »Matrix« die hohe Anzahl an Uploads der Nutzerinnen und Nutzer zu diesen Themenkomplexen wieder. Die Ordnung, die durch quantitative Häufungen organisiert wird, wird durch Rankings wie »Most Popular«, »Top 100« oder »2005 Top Ten TV Moments« ergänzt. Auf der Ebene der einzelnen Clips verschwindet das ›eigentliche Werk‹ unter weiteren Navigationshinweisen, Ordnungssystemen (die Vi300
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deos lassen sich z.B. in eigene MySpace Homepages einbinden) und Wertungsmöglichkeiten (die im Internet allgegenwärtigen 5 Sterne). Ganz anders als in Pandora werden Datenbanklogiken und Zugriffsmöglichkeiten viel weiter ausgeschöpft. Dadurch ergeben sich extrem komplexe Wahlmöglichkeiten in der Rezeption, die sich wiederum in einer Spezialisierung und Differenzierung der Ordnungsstrukturen niederschlagen. Völlig gleichberechtigt stehen dabei sehr unterschiedliche Ord-
Abb. 6
nungsstrukturen wie Genre, statistische Auswertungen, Benutzerbewertungen, Produktionsmerkmale, zufällige Auswahl, Vorlieben der ifilmProduzenten, Tagesaktualitäten und Reihenfolgen bei der Rezeption von ifilm nebeneinander. Auch die Rezeptionskategorie der Emotionalität spielt bei ifilm eine Rolle. Sie wird neben der schon bei Pandora angesprochenen emotionalen Bindung an die gefundenen Videos, auch durch 301
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persönliche Kommentare zu den einzelnen Videos erstellt oder im UserForum durch Diskussionen über Rezeptionserfahrungen erstellt. Der allgegenwärtige Modus des ›Etwas-Zu-Finden‹ kennzeichnet das Browsing als ein anderes Rezeptionsmodell als die ›Bespielung‹ mit Musiktiteln bei Pandora. Die bisherigen Überlegungen sind davon ausgegangen, dass sich ausgehend von dem vorgestellten web-basierten, sozialwissenschaftlichen Experiment die Ausgangsthese ableiten lässt oder zumindest wahrscheinlich wird, dass Selbststrukturierungen der Medienrezeption existieren, die unvorhersehbare Ergebnisse hervorbringen. Jenseits eines klassischen ökonomischen Interesses nach der Erfolgsprognose kann sich eine medienwissenschaftliche Analyse dieser Selbststrukturierungen unter anderem fragen, welche Wissens- und Ordnungsstrukturen zur Anwendung kommen. Die involvierten Mechanismen der Selbststrukturierung lassen sich weder auf die drei oder mehr Regeln der Schwarmintelligenz reduzieren, noch aus der Perspektive eines massenmedialen Ansatzes, der die Rezipientenmasse immer schon voraussetzt und nicht nach den dispositiven Voraussetzungen ihres Entstehens oder Nicht-Entstehens fragt. Die vorgestellten Beispiele sind sicher nicht ausreichend, um das Gegenstandsfeld adäquat abzugrenzen. Dennoch deuten sie das Spektrum möglicher Verfahren und Mechanismen an, die in einem produktiven Austausch mit den medialen Vorgaben die Medienrezeption aus der Perspektive der Selbststrukturierung gestalten. Die Benutzeroberflächen, Zugriffs- und Datenbanklogiken von Pandora und ifilm sind zwar sehr unterschiedlich, doch benötigen beide den ›Willen‹ zur Strukturierung bei einer ausreichenden Anzahl an Rezipienten. Dieser ›Willen‹ ist aber nicht als individualistische Motivationsstruktur zu begreifen, sondern wird schon präformiert durch Ordnungs- und Wissensstrukturen der Populärkultur, durch mediale Dispositive und durch allgemeine Vergesellschaftungsprozesse. Die Frage nach der Selbststrukturierung in der Medienrezeption erzwingt darüber hinaus weitergehende Überlegungen zu statistischen Rankings, zu Listen des Geschmacks sowie zu anderen dynamischen Verknüpfungen einzelner kultureller Produkte, um diese wichtige Grundlage der Ökonomien des Medialen zu erfassen.
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ZAHL UND SINN ZUR EFFEKTIVITÄT UND AFFEKTIVITÄT DER FERNSEHQUOTEN MATTHIAS THIELE Fernsehen und Quote sind seit Einführung des dualen Systems in Deutschland auf das aller Engste miteinander verbunden. Zwar begann die kontinuierliche Ermittlung der Einschaltquoten bereits mit dem Sendestart des ZDF am 1. April 1963,1 doch waren diese, solange lediglich »auf dem Fernsehschirm das erste und zweite Fernsehprogramm und später ein drittes flimmerten, [...] noch ohne Belang« (Elitz 1995: 71). Erst mit der Etablierung des kommerziellen, werbefinanzierten Fernsehens stellte sich die Allgegenwart und Wirkmächtigkeit der Quote ein. Ihrer diskursiven Proliferation wird inzwischen dadurch Rechnung getragen, dass der Begriff nun in Lexika zu Medien und Medienwissenschaft als Lemma auftaucht (Frühschütz 2000; Göttlich 2002). Dort wird in Anlehnung an die Literatur der empirischen Fernsehzuschauerforschung und zur Medienökonomie die Quote jedoch lediglich als operationales Maß abgehandelt. Die Fernsehquote ist aber weit mehr, sie ist zudem nämlich auch zum Reizwort und zur zentralen Bezugsgröße der publizistischen Medienberichterstattung in Presse und Fernsehen aufgestiegen – man denke nur an die nicht abreißenden medienpolitischen ›Qualität‹-versus›Quote‹-Querelen. Während die medienökonomische Literatur diese Seite der Quote völlig ignoriert, verficht die empirische Zuschauer- und Medienforschung eine klare Trennung der beiden Aspekte. Zur Wahrung ihres wissenschaftlichen Diskurses betreibt sie eine deutliche Abgrenzung zur journalistischen Diskursivierung und Visualisierung der Quoten. Die Effektivität der Quote lässt sich aber erst gänzlich erschließen, wenn beide Seiten zugleich und vor allem auch im Hinblick auf ihr konstitutives Zusammenspiel analysiert werden. 1
Zur Geschichte der elektronischen Zuschauermessung in Deutschland vom Tammeter über das Messgerät teleskomat bis hin zum GfK-Meter vgl. Reinhold/Buß (1994) und Buß/Darschin (2004).
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In diskurstheoretischer Perspektive ist der Quotendiskurs gerade dadurch gekennzeichnet, dass er sowohl Spezialdiskurs als auch Interdiskurs ist und der interdiskursive Komplex der Quote direkt und durchgängig an das spezialdiskursiv erarbeitete, eindeutig quantifizierte statistische Quotenwissen gekoppelt ist. So wird das von der empirischen Fernsehzuschauerforschung mittels Messung und mittels komplexer statistisch-mathematischer Verfahren kontinuierlich erhobene und ausgewertete Spezialwissen fast ebenso kontinuierlich von den immer auch autoreflexiv funktionierenden Massenmedien als Halbfabrikat aufgegriffen und journalistisch weiterverarbeitet. Dabei werden erstens die von der Fernsehforschung in der Regel nüchtern, puristisch und minimalistisch dargebotenen Zahlenreihen, Tabellen und Grafiken wie Kurven-, Balken- oder Tortendiagramme durch Kombination der statistischen Daten bzw. Kurven mit ikonischen und kollektivsymbolisch ikonischen Illustrationen in massenmediale Infografiken überführt. Zweitens werden in der auf den statistischen Fakten basierenden Trendberichterstattung zu Fernsehprogramm und -markt regelmäßig die Quoten symbolisiert, mythisiert und narrativiert. Durch diese beiden Operationen wird das unverständliche und abstrakte Expertenwissen mit Affektivität und Subjektivität aufgeladen, so dass für Nichtexperten – also für die große Mehrheit der Fernsehzuschauer – überhaupt erst die Zahlen der Quotenmessung konsumierbar und sinnhaft werden. Im Folgenden wird es in einem ersten Teil um den spezialisierten, relativ geschlossenen Praxis- und Wissensbereich der empirischen Fernsehzuschauerforschung gehen. Wie funktioniert dieser wissenschaftliche Diskurs und sein operationales, ›positives‹ Wissen? Wie konstituiert er sein spezielles Objektfeld Fernsehnutzung? Auf welche spezifische Weise werden die Zuschauer gesehen und wie werden die letztlich unsichtbaren Zuschauer sichtbar gemacht?2 Die Quote dient sowohl der Institution Fernsehen als auch den Zuschauern als Orientierungswissen. Daher soll im zweiten Teil gefragt werden, welche der Quoten überhaupt zur massenmedialen Distribution selektiert werden? Wie werden diese auf den Medienseiten der Tageszeitungen und im publizistischen Teil der Fernsehprogrammzeitschriften journalistisch aufbereitet und präsentiert? Welche neuen Selektions- und Regulationsweisen eröffnen sich den Zuschauern hierdurch? Drittens schließlich wird es ganz generell um die populären Lesarten der Quote, um ihre dominante Symbolisierung und 2
James G. Webster, Patricia E. Phalen und Lawrence W. Lichty schreiben in ihrer Einführung zur Theorie und Praxis der Zuschauerforschung: »But radio, television, and Internet audiences are elusive commodities. Dispersed over vast geographical areas, they remain unseen by the media and their advertisers. It is only through audience research that they become visible.« (Webster/Phalen/Lichty 2000: 1)
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Narrativierung gehen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass durch die Quote als symbolisch aufgeladener, stark phantasiebezogener Größe das Fernsehen überhaupt erst als eine Ökonomie, als ein Markt und eine kapitalistische Unternehmung vorstellbar wird. Ohne den interdiskursiven – affektiven und subjektivierenden – Komplex der Quote wäre das duale System bzw. die Kommerzialisierung des Fernsehens von der fernsehenden Bevölkerung höchstwahrscheinlich lediglich als »Schlaraffenland fürs Auge« (Rath 1984: 64) wahrgenommen und aufgefasst worden: Schlemmen und Faulenzen vor einer frei zugänglichen Programmfülle. Über diese allgemeine Funktion hinaus muss aber vor allem gezeigt werden, welchen ökonomischen Vorstellungen die Imaginationen des Quotendiskurses genau zuarbeiten.
I Die Fernsehquote ist zunächst einmal nichts anderes als eine in der Herstellung kostenintensive3 Ware, die in Deutschland im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) – einem Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und privater Sendergruppen4 – von der Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung (GfK) täglich produziert und von dem Mediaunternehmen Media Control (hierzu Koschnick 1995b: 1208f.) zur Belieferung von Presse und nicht werbungtreibender Institutionen vermarktet wird. Die gängige Metapher ›(Leit-)Währung‹ für die Fernsehquote ergibt sich aus den institutionellen Rahmenbedingungen der GfK-Fernsehforschung. Im AGF-Vorstand sitzen die auftraggebenden Sendergruppen sowie die Verbände der Werbungtreibenden und der Werbeagenturen. In der von der AGF eingerichteten Technischen Kommission, die über alle wichtigen methodischen Fragen und Belange des Forschungssystems nach Konsensprinzip entscheidet, ist zudem der Beirat aller Sender mit Lizenzen zum Datenbezug5 stimmberechtigt vertreten. Auf dieser die Anbieterkonkurrenten und Werbungtreibenden integrierende Organisation, die eine umfassende 3 4
5
Die von den Fernsehkonzernen und den Firmen der Werbewirtschaft gemeinsam getragenen Kosten betragen jährlich rund 18 Mio. Euro (Prokop 2000: 141). Die AGF setzt sich aus folgenden Sendergruppen zusammen: Der ARD und allen ARD-Programmveranstaltern, dem ZDF, den von ARD und ZDF gemeinsam betriebenen Sendern 3sat, Kinderkanal, ARTE und PHOENIX, die Veranstaltergruppe ProSieben und Sat.1 mit den Mitgliedern kabel eins, 9Live und N24 sowie die Unternehmensgruppe RTL inklusive RTL II, n-tv, VOX und Super RTL. Lizenzsender sind u.a. DSF, EUROSPORT, Tele 5, EuroNews, XXP, MTV, TV 5, VIVA.
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Standardisierung, Normierung und gemeinsame methodische Kontrolle der Zuschauermessung gewährleisten soll, basiert die semantische Vergoldung der ermittelten Fernsehnutzungsdaten zur anerkannten, stabilen und einheitlichen Valuta (exemplarisch Buß 1998: 788 u. 810; Berthoud 1999: 119f.). Dass das institutionelle Arrangement die Zuschauer nicht mit einbezieht, liegt sicherlich mit daran, dass es so gut wie keine ernsthafte sich selbst organisierende Interessenvertretung dieser großen schweigenden Mehrheit gibt. Vor allem aber resultiert der Ausschluss aus dem Selbstverständnis der empirischen Fernsehzuschauerforschung, deren spezielle Wissensproduktion zur Fernsehnutzung ja gerade dazu dienen soll, dem Zuschauer und seinen täglichen Nutzungspräferenzen erst das entscheidende Gewicht und eine objektive Stimme zu verleihen. So beginnt die Selbstdarstellung in einer Informationsbroschüre der GfK-Fernsehforschung mit folgendem Weckruf: »Spätestens um 8.30 Uhr eines jeden Morgens schlägt in Deutschland für Programmplaner von Fernsehsendern, Produzenten von TV-Programmen, Werbeund Mediaplaner der Markenartikelhersteller und für Werbe- und Mediaagenturen die Stunde der Wahrheit. Jeweils am Tag nach der Ausstrahlung übermittelt die GfK Fernsehforschung die Einschaltquoten des Vortags. In wenigen Augenblicken stehen die ›Winner‹ und ›Loser‹ des Fernsehvortags fest [...] Film- und Fernsehschaffende und ihre Beiträge, Moderatoren, Stars und Sternchen müssen sich dieser Prozedur unterwerfen, ob sie es wollen oder nicht. Die täglich ermittelten GfK-Daten geben Auskunft, wie viele Zuschauer welchen Alters oder welcher sozialen Herkunft wie lange bei welchem Programm bleiben.« (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 6)
In Verteidigung des Systems der Fernsehzuschauerforschung gegen journalistische Angriffe stellt der Medienforscher Michael Buß von der Abteilung SWR-Programmstrategie klar: »Damit soll nicht behauptet werden, daß ein derart komplexes System absolut fehlerfrei ist, sondern daß es objektiver ist als die meisten wohlmeinenden Kollegen oder Kritiker es sind. Die Daten aus der Fernsehzuschauerforschung stellen einen brauchbaren Maßstab für bestimmte Erfolgsdimensionen dar: Publikumszuspruch, Zielgruppengerechtigkeit, optimalen Programmablauf. Sie beschreiben unerbittlich zuverlässig, was das Publikum mit dem Angebot des Fernsehens macht, womit die Zuschauer sich binden lassen und was im Umfeld der heftig konkurrierenden Programme bei ihnen zwischen den Zeilen durchgefallen ist.« (Buß 1998: 809)
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In dieser Perspektive steht die seit 1985 von der GfK betriebene Fernsehforschung ganz und gar in der Tradition der offiziell und formell 1934 mit von Ludwig Erhard gegründeten Gesellschaft für Konsumforschung e.V., die ihre Aufgabe eben genau darin sieht: »Die Stimme des Verbrauchers zum Klingen zu bringen, ihr in der Wirtschaft Gehör und Geltung zu verschaffen.«6 Damit ist bereits die dominante, maßgeblich vom ökonomischen Diskurs mit strukturierte Sichtweise der Fernsehzuschauerforschung benannt, die sich in den 1950er Jahren vermittelt durch die Rezeption der US-amerikanischen mass communication-Forschung neben dem kulturkritischen Blickfeld in der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen beginnt: Die Zuschauer werden als Nutzer bzw. Konsumenten figuriert, deren Gewohnheiten, Bedürfnisse und Wünsche es durch Vermessung und Statistik zu ermittelt gilt (Schneider 2001; 2003). »Abbildung der Fernsehnutzung in privaten deutschen Fernsehhaushalten in ihrer gesamten Komplexität« und »Schaffung und Bewahrung einer einheitlichen Währung im Fernsehmarkt« (Darkow 1999: 126) lauten dementsprechend bei Michael Darkow von der GfK-Fernsehforschung die umfassende Aufgabenstellung und allgemeine Zielsetzung der Fernsehzuschauerforschung. Als objektiv, exakt und verlässlich – das sind die am häufigsten genannten und betonten Attribute – gilt das System der empirischen Fernsehzuschauerforschung aus dreierlei Gründen, die das ansonsten exklusive Unternehmen7 ausführlich und der Wiederholungen nicht müde werdend darlegt: Erstens wird das Nutzungsverhalten elektronisch registriert und gemessen, zweites geschieht dies in einem für die Gesamtbevölkerung repräsentativen Fernsehpanel, drittens schließlich gibt es fortlaufend Qualitätskontrollen bezüglich der Messmethoden und der Korrektheit der Messdaten. Die Fernsehnutzungsdaten werden nicht durch Befragung oder Protokollierung durch die Haushalte erhoben, sondern durch eine unauffällige, sich in den Alltag wie selbstverständlich integrierende, elektronische, computergestützte Messtechnik, die unverzerrt und genau ermittelt. Das fortgesetzt weiterentwickelte GfK-Meter8 erfasst mittels Fernbedienung (Pushbutton-System) die Fernsehnutzung von bis zu acht Personen, vier Fernsehgeräten und Videorekordern in einem Haushalt (Koschnik 1995a: 6 7
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http://www.gfk-verein.de/content/historie_gruendung.html, 16.3.2006. Lutz Goertz stellt die akademisch orientierte Rezeptionsforschung der ökonomisch orientierten Publikums- und Media-Forschung gegenüber. In diesem »›Dualen System‹« sei die akademische Rezeptionsforschung u.a. durch niedrige Forschungsbudgets, Grundlagenorientierung und Zugänglichkeit gekennzeichnet, während die ökonomische Publikums- und Media-Forschung sich durch hohe Budgets, Anwendungsorientiertheit und exklusives Wissen auszeichne (Goertz 1997: 10). Zum Stand und zur weiteren Entwicklung der Messtechnik Steinmann (1999).
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713). Automatisch wird sekundengenau jeder An-, Um- und Abschaltvorgang, alle anderen Verwendungsmöglichkeiten des Fernsehgeräts (wie Videospiele oder Videotext) und jede Aufnahme und zeitversetzte Wiedergabe von selbst- oder fremdaufgezeichneten Videokassetten (mit Kanal-, Aufnahmedatum- und Aufnahmezeiterfassung) gemessen und gespeichert (Darkow/Lutz 2000: 88; Buß 1998: 801f.). Die registrierten Messdaten werden nachts vom Rechenzentrum der GfK Fernsehforschung abgerufen und in einer Nutzungsdatendatei gesammelt. Zur Auswertung und Hochrechung wird diese mit anderen Struktur- und Sendedateien – der Haushaltsstamm-, Personenstamm-, Gewichte-, Gerätestamm- und Sendestammdatei9 – in einem automatisierten Prozess zusammengespielt. Die Verknüpfung all dieser Daten erlaube schließlich »eine Antwort auf die wohl wichtigste Frage der Fernsehzuschauerforschung: Wie viele Personen und Haushalte welchen Typs haben welche Sendungen wie lange gesehen?« (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 19) Entscheidend ist, dass vor allem personenbezogen gemessen wird. Dies war bis 1974 nicht der Fall, vielmehr war die gängige Erhebungsebene bis dahin der Fernsehhaushalt, durch die die Einschaltquote als Prozentanteil der eingeschalteten Fernsehgeräte erfasst wurde. Erst durch die Einführung des teleskopie-Systems 1975 wurde schließlich die Bindung an Haushalt oder Familie überwunden und die personenbezogene Messung möglich. Der messtechnische Wechsel von der Einschaltquote zur Sehbeteiligung konstituiert die Zuschauer als atomisierte Masse bzw. Population aus ungebundenen, gleich funktionalen Einheiten, die durch ihre Verdatung und aufgrund ihrer Vergleichbarkeit das homogene Normalfeld Fernsehnutzung bilden. Neben der Messtechnik erhält das Quoten-System seine Solidität durch den Forschungsansatz der empirischen Sozialforschung, deren Methoden, mathematisch-statistische Verfahren und Qualitätskontrollen für die Stichprobe des Fernsehpanels appliziert werden. Von zentraler Bedeutung ist der Anspruch auf Repräsentativität, weil erst die Repräsen9
Die Haushaltstammdatei enthält generelle Angaben zu den Haushalten wie Eintrittsdatum ins Panel usw. Die Personenstammdatei besteht aus soziodemografischen Daten und Informationen zum Konsumverhalten der einzelnen Haushaltsmitglieder. In der Gewichtedatei ist täglich ein personen- und haushaltsbezogener Gewichtungsfaktor abgestellt, der zur Hochrechnung auf die Grundgesamtheit benötigt wird, da das Fernsehpanel eine disproportionale Verteilung nach Bundesländern aufweist, um Aussagen auch für kleinere Bundesländer auf statistisch verlässlicher Basis treffen zu können. Die Gerätestammdatei führt den Bestand an Empfangsgeräten und Geräten zur sonstigen Bildschirmnutzung eines jeden Panelhaushalts. Die Sendestammdatei schließlich dokumentiert durch tägliche Sendeprotokolle und Programmcodierung Ausstrahlungszeitpunkte, Sendungsdauer, Werbeblöcke und Programmgattungen (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 18f.).
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tanz der Strukturen in der Stichprobe – etwa die regionale und soziodemografische Verteilung – korrekte Aussagen über das Fernsehverhalten zulässt. Dabei gilt mit Bezug auf die angewandte Statistik, dass von repräsentativ dann gesprochen werden kann, wenn die Stichprobe einen Rückschluss auf die Gesamtheit erlaubt, was eben dadurch erreicht wird, dass sie ein verkleinertes Abbild der Grundgesamtheit darstellt (Bergmann 1994: 620). Die Einrichtung und jährliche Justierung eines solchen strukturgerechten Modells setzt die kontinuierliche, routinemäßige und flächendeckende Verdatung, statistische Erfassung und numerische Beschreibung der Gesamtheit voraus. Entsprechend werden die notwendigen Strukturvorgaben aus der von der Arbeitsgemeinschaft MediaAnalyse durchgeführten Untersuchung Media-Analyse, den Reichweitenstudien des Arbeitskreises Deutscher Marktforschungsinstitute (ADM), dem vom Statistischen Bundesamt erhobenen Mikrozensus und ergänzenden Strukturinformationen weiterer Fachinstitutionen gewonnen (Buß 1998: 795). Die Media-Analyse, als größte jährlich durchgeführte Erhebung zum Mediennutzungsverhalten der in Deutschland lebenden Bevölkerung (hierzu Koschnick 1995b: 1200–1205), liefert der GfK-Fernsehforschung die nötigen Daten über Soziodemografie, Haushaltsmerkmale, Geräteausstattung und Empfangsebenen (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 14). Auf Basis dieser Strukturvorgaben wird der Ist-Stand des Panels kontinuierlich berichtigt und werden zum Ausgleich der »Panelmortalität« (Diekmann 2005: 271) neue Haushalte gezielt ausgewählt und angeworben. Wird das in der Stichprobe ermittelte verkleinerte Abbild des Fernsehnutzungsverhaltens schließlich mittels Hochrechung auf die Grundgesamtheit übertragen, dann repräsentiert einer der 5.640 Fernsehpanelhaushalte derzeit circa 6.000 deutsche Haushalte (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 16). Damit die gemessenen und hochgerechneten Verhaltensdaten als repräsentative, valide und reliable Widerspiegelung der Fernsehnutzung in Deutschland gelten können, werden umfangreiche Qualitätskontrollen durchgeführt. Die Messgenauigkeit wird durch interne Coincidental Checks regelmäßig überprüft. Hierzu wird in einer repräsentativen Teilstichprobe des Panels telefonisch für ein exakt festgelegtes, zufälliges Zeitfenster in den Haushalten erfragt, ob Fernsehgeräte eingeschaltet sind, welches Programm angewählt ist und wer gerade fernsieht. Die erhaltenen Auskünfte werden dann mit den vom GfK-Meter registrierten Daten kontrolliert. Durch externe Coincidental Checks wird überprüft, ob die ermittelten Nutzungsdaten des Panels der tatsächlichen Fernsehnutzung der Grundgesamtheit entsprechen. Hierzu führen unabhängige, von der AGF beauftragte Institute zu festgelegten Zeitpunkten in einer reprä-
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sentativen Stichprobe außerhalb des Fernsehpanels Telefonbefragungen durch, um die so gewonnenen Informationen zur Fernsehnutzung mit den GfK-Daten zu vergleichen. Da seit vielen Jahren in den internen Zufallsstichproben eine Übereinstimmung von 98 Prozent und in der externen Kontrolle eine nahezu punktgenaue Datendeckung festgestellt wird (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 20), gilt das von der GfK betriebene System der Fernsehzuschauerforschung als hoch effektiv und als »das einzige zuverlässige Kontroll- und Planungsinstrument für den Programmbereich und den Fernsehwerbemarkt« (Darkow 2005: 443). Das täglich ermittelte Datenmaterial erfährt eine standardisierte Auswertung, kann aber durch modular aufgebaute Software von den Kunden auch dezentral und den spezifischen Anforderungen gemäß analysiert werden (GfK Fernsehforschung GmbH 2005: 21). Erfasst wird die Sehdauer, die als durchschnittliche Nutzungsdauer eines Zeitintervalls definiert ist. Sie wird als Reichweite auf der Haushaltsebene (Einschaltquote) oder Personenebene (Sehbeteiligung) angegeben und entweder absolut in Millionen Zuschauer oder als Durchschnittswert in Prozent ausgewiesen. Der Marktanteil wiederum ist der errechnete relative Anteil der Sehdauer eines Programms oder einer Sendung an der Gesamtsehdauer aller Programme oder Sendungen zum jeweiligen Zeitintervall. Insofern bildet er die Sehdauer-Relation zwischen den Sendern ab und gilt deshalb als wichtigste Kennziffer für die Wettbewerbsposition der einzelnen Sender (Holtmann 1999: 33–35). Die Sehdauer kann für den ganzen Tag (von 3.00 bis 3.00 Uhr) oder für einen bestimmten Zeitabschnitt (z.B. für die Prime Time) im Hinblick sowohl auf die Fernsehnutzung insgesamt als auch bezüglich der Verteilung auf die einzelnen Sender ausgewiesen werden. Die Sehbeteiligung im Tagesverlauf, für einen Zeitabschnitt, eine Sendung oder einen Werbeblock kann für die Sender jeweils nach alterspezifischen Zielgruppen oder anderen soziodemografischen Merkmalen wie Geschlecht, Bildung oder Einkommen aufgeschlüsselt werden, wobei die 14- bis 49-Jährigen generell als die werberelevante Zielgruppe gelten (Abb. 1). Zudem sind vielfältige Sonderauswertungen möglich: so kann beispielsweise sendungsbezogen nach dem audience flow gefragt werden, also danach, von welchem Programm die Zuschauer einer Sendung herkommen und zu welchem sie abwandern. Darüber hinaus wird die Vielzahl der täglichen Sehdauer-, Sehbeteiligungs- und Marktanteilsdaten in Zeitreihen überführt, um Trends des Fernsehmarkts sichtbar zu machen. Die Repräsentativität des Quotenmesssystems ist allerdings in zweierlei Richtung problematisch. Einerseits wird die Repräsentanz des verkleinerten Modells im Bezug auf die Grundgesamtheit angezweifelt, da die Haushalte mit nicht deutschem ›Vorstand‹ unberücksichtigt bleiben.
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Dass der insbesondere von RTL geforderte und seit 1993 geplante so genannte Ausländerpanel immer noch nicht eingerichtet und in das Forschungssystem integriert ist, liegt neben den Aufwandskosten vor allem am Widerstand der Werbungstreibenden, weil diese eine Erhöhung der Werbezeitenpreise befürchten (Lilienthal 1998: 969f.) – so viel also zum konsensuell begründeten Status der Quote als Leitwährung. Andererseits kann der Rückschluss von der Repräsentativität des Panels auf die Repräsentativität der Quote bezüglich des Fernsehnutzungsverhaltens der Gesamtbevölkerung bezweifelt werden. Das Fernsehen ist beispielsweise nie allein an Haushalte bzw. Wohnungen gebunden, es findet sich im öffentlichen Raum, begleitet uns beim Shoppen, ist in Kneipen und in transitorischen und provisorisch genutzten Räumen wie Bahnhöfen, Flughäfen und Hotelzimmern präsent.
Abb. 1 (Klingler 1998: 923)
Ein Aspekt, der durch die technische Möglichkeit des Outdoor-Fernsehempfangs und das TV-taugliche Mobiltelefon in Zukunft weiter an Gewicht gewinnt. Darüber hinaus kann das Messsystem keinerlei Aussagen darüber treffen, was in einem Raum, in dem ein Fernseher läuft, tatsächlich gerade passiert, warum ein Kanalwechsel stattfindet oder welche inhaltliche, ästhetische und diskursive Akzeptanz eine Sendung oder ein Programm erhalten – weshalb immer wieder eine Akzeptanzquote als zweite Währung gefordert wird (Gugel 1994). Allerdings ist mit Verweis auf Ien Ang zu bedenken, dass die Zuschauermessung durch feinere und umfassendere Erhebungs- und Messmethoden sowie durch die Integration heterogener Daten und Faktoren nicht an Transparenz und Präzision 313
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gewinnt, sondern vielmehr ihre Operationalität, Kontrolle und Effektivität einbüßt: »And in this respect, I would suggest that the introduction of ever more intricate measurement methods may not simply lead to ever-increasing control, but on the contrary to less control – or better, a less tight link between power and knowledge.« (Ang 1991: 88f.)
II Der Fernsehnutzung geht, zumindest in der medienökonomischen Modellbildung, stets eine Wahl voraus. Sie sei, wie bei jedem Konsum, das Resultat von individuellen Präferenzen – bewussten Bedürfnissen und Wünschen – und von Nutzenmaximierung im Rahmen nüchterner Kosten-Nutzen-Berechnung. Die Annahme eines »aktiven rationalen Entscheidungskalküls von Individuen« (Heinrich 1999: 497) schließt die durchaus verbreitete, den Konsens des Handelns verlassende, schwerlich mit der Ratio kompatible und unbestimmte Fernsehrezeption des couch potato (Winkler 2006) aus und setzt statt dessen einen Zuschauer, der stets bemüht ist, über ein umfassendes Wissen bezüglich aller Alternativen bzw. zeitgleicher Angebote zu verfügen (vgl. Grisold 2004: 58). Entsprechend werden in Abhandlungen zur Zuschauernachfrage die vielen, leicht zugänglichen Informationsquellen für die permanent zu treffenden Programmauswahlentscheidungen als Beleg für den hohen Grad an Marktübersicht aufgelistet (Karstens/Schütte 1999: 84f.; 2005: 67f.), wobei hier wiederum gilt, dass auch die Auswahl dieser verschiedenen sehr günstigen oder gar kostenlosen Medien von individuellen Präferenzen und Nutzenkalkül abhänge. Die Programmzeitschriften, die Fernsehseiten der Tageszeitungen, Magazine und Illustrierten, die Supplements von regionalen Tageszeitungen, die Hörfunk-Programmtipps, die externe Werbung der Fernsehsender, das Internet, der Teletext, die On-Air-Promotion der Sender und die Programme selbst als strikt voneinander zu unterscheidende, diskrete Einheiten vorzustellen, trägt zwar gewiss dem ökonomischen Verhaltensmodell der rationalen Wahl Rechnung, wird deren gemeinsamen Funktion der Programminformation und Orientierungshilfe, die sich erst in ihrem Zusammenspiel entfaltet, aber kaum gerecht. Geboten werden schließlich nicht nur Programmübersichten und -hinweise, vielmehr zirkuliert übergreifend in all diesen Medien regelmäßig auch publizistisch aufbereitetes Quotenwissen, so dass Volker Lilienthal mit Blick auf Marketing und Eigenwerbung der Sender davon spricht, dass »in selbstrefe-
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rentieller Bezüglichkeit [...] die vielzitierten ›Quoten‹ längst selbst eine Art Programm [sind]« (Lilienthal 1998: 974). Ein statistisch tingiertes Programm, das den Zuschauern angesichts der Fülle von Fernsehprogrammen notwendiges Orientierungswissen bietet. Für dieses Programm greifen die PR- und Presseabteilungen der Sender und die Fachredaktionen der Presse hochselektiv auf die Lawine der täglich erhobenen und ausgewerteten Fernsehnutzungsdaten zu. Der Fokus liegt dabei zunächst auf den Höchst- und Tiefstwerten von Sendungen und den Best- und Minderleistungen der Sender, die vorrangig in Form von Listen, Rankings und Balkendiagrammen dargeboten werden. Die zahllosen Hitlisten der quotenstärksten Sendungen reichen von der ›Top 5‹ des Vortags bis zur ›Top 100‹ der meistgesehenen Sendungen des Jahres, wobei sich die Platzierungen aus der Sehbeteiligung ergeben, die meist absolut in Millionen Zuschauer ausgewiesen wird, während sich die Rankings zur Marktführerschaft der Sender an den in Prozenten dargestellten Marktanteilen orientieren. Die Präferenz für synchrone Listen und Rankings wird von der GfK und Media Control insofern mit befördert, als ihr Servicepaket selbstverständlich auch Quoten-Hitlisten umfasst. Über quotenschwache Sendungen und Minderleistungen von Sendern wird häufig durch einfache Gegenüberstellung von ›Gewinnern‹ und ›Verlierern‹ bzw. ›Tops‹ und ›Flops‹ informiert. Dass die PR- und Presseabteilungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender dazu übergegangen sind, in ihren täglichen Mitteilungen nicht nur die eigenen Erfolge zu preisen, sondern auch auf die Misserfolge ihrer Konkurrenten hinzuweisen, mag ein normativer Verstoß sein gegen das inzwischen vom Bundesgerichtshof relativierte Verbot der vergleichenden Werbung und gegen die ungeschriebene Regel der AGF-Sender, gegenüber der Öffentlichkeit nur über die Akzeptanzentwicklung des eigenen Hauses zu berichten (Lilienthal 1998: 974f.). Die gängige Marketingpraxis ist letztlich aber nur die konsequente Fortführung der normalistischen Logik der Quotenmessung, die mittels statistischer Verdatung der Fernsehnutzung vor allem auf die konkurrenzsteigernde Kommensurabilität aller Sendungen und Senderleistungen zielt. Ebenso häufig medial präsent wie Quotenlisten, Beliebtheitsrankings und TV-Hitparaden ist das journalistische Genre der TV-Analyse,10 das Quotenbilanzen, Quotenvergleiche und Trendberichte bzw. Trenddiagnosen umfasst. Seine Produktionsformel ist relativ einfach, setzt es sich doch in der Regel zusammen aus erstens einer polysemantischen, konnotatstarken Überschrift, zweitens einer Infografik, drittens sendungs- oder 10 So hieß eine für das Genre geradezu beispielhafte HörZu-Rubrik, die das Programmmagazin ihren LeserInnen von Oktober 1997 bis Februar 2002 wöchentlich anbot.
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programmbezogenen Fotos, viertens schließlich einem Text, der numerische Beschreibungen, Übersetzung von Zahlen und Trends in normalistische Symbolik sowie Interviewstatements von Programmmachern kombiniert. In dem Genre dominiert die diachrone Perspektive: Die Daten werden vorwiegend zu Zeitreihen angeordnet und grafisch durch Kurvendiagramme dargestellt. Es geht um statistisch belegbare Entwicklungen und Tendenzen sowohl des Fernsehmarkts insgesamt (Zuwachs der durchschnittlichen Sehdauer pro Tag, Dynamik eines TV-Genres usw.) als auch von Sendungen und Sendern über Wochen, Monate oder Jahre hinweg und um Erfolgsprognosen, die aus der Grundrichtung der temporalen Verlaufskurve abgeleitet werden. Diese Mixtur aus statistischer Deskription und Extrapolation von Kurven orientiert sich selten allein an den Gesamtzuschaueranteilen ab drei Jahren, von weit größerer Relevanz sind zielgruppenspezifische Daten, insbesondere die des so genannten werberelevanten Zuschauersegments der 14- bis 49-Jährigen. Neben dem Alter werden die Zahlen aber auch gerne nach anderen soziodemografischen Merkmalen wie Bildung, Geschlecht, Einkommen oder regionale Herkunft (vorrangig Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland) aufgeschlüsselt. Gemäß der Logik der Zuschauermessung bevorzugt das journalistische Genre der TV-Analyse ebenfalls den Vergleich und stellt insofern fortlaufend Konkurrenzfelder von Sendern, Sendeplätzen, Sendungen und Formaten her, die es grafisch durch synchron-diachrone Kurvenlandschaften konstituiert. Indem die Sender, Sendeplätze, Sendungen und Formate in den Texten und Fotos zugleich durch ihre Intendanten, Programmverantwortlichen, Redakteure, Moderatoren, Stars oder Schauspieler repräsentiert werden, hat man es letztlich immer auch mit Konkurrenzfeldern von Personen bzw. ›Medienpersönlichkeiten‹ zu tun. Dies ist eine paradoxe Personalisierung der Quote, werden doch die statistisch erfassten bzw. erfassbaren, anonymen, massendynamischen Prozesse der Fernsehnutzung dabei handlungsmächtigen Subjekten bzw. der Telepräsenz oder Performance von Medienakteuren zugeschrieben. Die Quoten erhalten aber nicht nur identifizierbare Gesichter,11 vielmehr werden in Vollendung dieser Übertragung im personenzentrierten Journalismus die Quotenkurven zu symbolischen ›Lebenskurven‹ der Fernsehstars. Medienkarrieren und -biografien werden zunehmend entlang von statistischen Daten erzählt, die aus der Quotenmessung, aber auch aus regelmäßig von Marktforschungsinstituten durchgeführten Umfragen zur Beliebtheit von TV-Stars stammen. Das Wochenmagazin Stern wirft Ende 11 Eine ganz andere, jedoch kaum ins Gewicht fallende Personalisierung der Fernsehquoten stellen Porträts von ehemaligen GfK-Panel-Mitgliedern dar. Siehe hierfür exemplarisch Meyer (2000).
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Oktober 2001 unter der Überschrift »Raab in Gefahr« einen Spot auf die Karriere des Moderators Stefan Raab: »Schlechte Zeiten für ›TV Total‹. Seit Stefan Raab viermal die Woche seine Zähne in die Kamera bleckt, sinkt der Marktanteil seiner Comedy-Show stetig. Zwar übertrifft Raab noch den Durchschnittswert seines Senders ProSieben (September 2001: 12,4 Prozent), doch seit vier Monaten liegt er regelmäßig unter 20 Prozent.« (Stern, H. 44, 25.10.2001: 21)
Das Szenario des möglichen beruflichen Absturzes wird grafisch dadurch intensiviert, dass dem Fotoporträt von Raab eine stark abfallende Quotenkurve überlegt ist (Abb. 2). Dass das Ende des Quoten-Bio-Checkups offen ist, gehört zum Prinzip dieser Art von Trendberichterstattung, da die abfallende Tendenz der Kurve als Warnsignal bzw. Alarmzeichen der Denormalisierung gelesen wird, der das Subjekt durch seinen beständigen Veränderungswillen begegnen kann. Die Idee, dass das statistische Quoten-Monitoring mit flexiblem Qualitäts- und Selbstmanagement bei Sendern und Stars einhergeht, um den Kurventrend ›herumzureißen‹, zeigt der TV-Spielfilm-Exklusivreport »Schreinemakers’ letzte Chance«. Die obere Hälfte des Artikels füllt eine Collage aus einem Fotoporträt der TV-Talkerin Margarethe Schreinemarkers neben einer Studiowand mit ihrem Sendungslogo Schreinemarkers TV und einer von der Grundrichtung her abstürzenden Marktanteil-Schwankungskurve (Abb. 3). Unter diesem Quotenprofil des Fernsehstars folgt ein Bericht zu dem überarbei-
Abb. 2
Abb. 3
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teten Konzept, durch das sich »endlich der gewünschte Erfolg einstellen« soll: »Die häufig kolportierte ›vertragliche Quotenvorgabe‹ von vier Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von 20 Prozent bei den 14-49jährigen hat Margarethe Schreinemarkers in den ersten sechs Monaten nach dem Wechsel von Sat.1 zu RTL regelmäßig – und meist deutlich – verpaßt. [...] Rotter, Nachfolgerin von Hagen Offermann und erst seit kurzem im Team, gibt sich trotz der augenscheinlich widrigen Umstände zuversichtlich: ›Bei uns herrscht Aufbruchstimmung. Der Relaunch der Sendung eröffnet neue Möglichkeiten.‹ Gemeinsam mit fünfzehn festen und ungezählten freien Redakteuren arbeitet die Österreicherin an der Reinkarnation einer Sendung, die früher bei Sat.1 scheinbar spielerisch Marktanteile von bis zu 28 Prozent erzielte. Früher, das war vor dem Start einer Vielzahl thematisch ähnlich gelagerter KonkurrenzSendungen. Und vor dem ungeschickt heraufbeschworenen Steuerdisput mit Bundesfinanzminister Theo Waigel im Sommerloch des letzten Jahres.« (TVSpielfilm, H. 18, 30.8.–12.9.1997: 31)
Die Quoten-Bio-Checkups von Fernsehstars machen nicht nur Entwicklungen und Tendenzen transparent, sondern kreieren auch Erwartungen bezüglich des Fortgangs von Sendungen und Programmen. Die Programmzeitschrift TV-Today korreliert in einem mit »Radelnder Quotenbringer« überschriebenen Artikel die Hochs und Tiefs der sportlichen Laufbahn von Jan Ullrich mit den steigenden und fallenden Durchschnittsquoten der Tour de France-Übertragungen von 1996 bis 1999, wobei auch hier mit prognostischer Ungewissheit gespielt wird: »Nur, wenn der deutsche König der Zweiräder in Form ist, machen die Übertragungen richtig Quote – das belegen die Spitzenwerte seit 1996. Als Ullrich vor drei Jahren ganz oben auf dem Treppchen stand, fieberten glatt zwei Millionen Zuschauer mehr mit als im Vorjahr. Selbst der Dopingskandal 1998 tat dem Boom noch keinen Abbruch. Doch als der Radler aus Rostock 1999 verletzt ausfiel, sank die Quote auf einen Rekordtiefstand. Während die Öffentlich-Rechtlichen wegen Ullrichs notorischer Gewichtsprobleme noch zittern, gibt Ullrichs Arzt übrigens Entwarnung: Sein Schützling nehme zwar schnell zu, im Ernstfall aber noch schneller wieder ab.« (TV-Today, H. 14, 1.7–14.7.2000: 42)
Die journalistische Kurzform, Medienbiographien von Medienpersönlichkeiten und Fernsehstars entlang von Quotenkurven und ihren ›ups and downs‹ zu erzählen, ist aufgrund der hohen Bedeutung der ab den 1950er Jahren von der Firma Nielsen Media Research regelmäßig
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erhobenen TV-Ratings und -Shares (Bachem 1995: 64ff.) im US-amerikanischen Journalismus seit Jahrzehnten weit verbreitet. Nicht von ungefähr wurde das gängige journalistische Verfahren bereits 1976 von dem Spielfilm NETWORK in medienkritisch-parodistischer Perspektive für das Eröffnungs-Voice Over appliziert: »Das ist die Geschichte von Howard Beal, dem Chefredakteur der Nachrichtenabteilung von UBC. Howard Beal war der ungekrönte König des Fernsehens, der große alte Mann der Nachrichtenabteilung, mit Bewertung von 16 und einer Einschaltquote von 28. Doch 1969 begann sein Stern zu sinken. Seine Einschaltquote viel auf 22. Im darauf folgenden Jahr starb seine Frau und ließ ihn als kinderlosen Witwer mit einer Bewertung von 8 und einer Einschaltquote von 12 zurück. Er bekam Depressionen und fing an zu trinken. Am 22. September 1975 wurde er mit einer nur zweiwöchigen Kündigungsfrist gefeuert. Sein alter Freund Max Shoemaker, der Boss der Nachrichtenabteilung von UBC, brachte ihm das schonend bei. Anschließend ließen sich die beiden voll laufen.«
Auch in der Fernsehhistoriografie ist diese Art medienbiografischen Erzählens als ein strukturierendes Verfahren unter anderen nicht selten zu finden. Werner Faulstich und Ricarda Strobel beispielsweise schreiben mit Blick auf ihr etabliertes Konkurrenzfeld ›Fernsehstars‹ zu HansJoachim Kulenkampff: »1956 und 1957 erhielt er den Deutschen Fernsehpreis in der Gruppe Quiz. 1958 war er laut einer Umfrage der Lieblingsstar des deutschen Fernsehpublikums. [...] 1962 wies ihn eine weitere Umfrage erneut als den beliebtesten Quizmaster aus. [...] Seine mit Abstand erfolgreichste Sendung jedoch war EINER WIRD GEWINNEN [...]. Er erzielte damit Einschaltquoten bis zu 90 %. [...] Mit der Programmdiversifikation in den siebziger Jahren verlor Kulenkampff jedoch seinen unangefochtenen Spitzenplatz. Seine alternativen Quizkonzepte mit ihm als Moderator scheiterten allesamt an zu niedrigen Einschaltquoten und der Kritik der Zuschauer. [...] Neue Moderatoren boten für neue Gruppen von Fernsehzuschauern spezifische, zielgruppenorientierte und ganz neue Unterhaltungsformen an: Wim Thoelke beispielsweise übernahm 1970 in der Nachfolge von Peter Frankenfelds VERGISSMEINNICHT die ZDF-Quizsendung DREI MAL NEUN, die im Schnitt 25 Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockte, und übertraf sich dann noch mit DER GROSSE PREIS (ab 1974), wobei Einschaltquoten über 50 % erzielt wurden.« (Faulstich/Strobel 1994: 105–107)
Durch das medienübergreifende Quotenprogramm – die Quotenhitlisten, Beliebtheitsrankings, die Quotenbilanzen, -vergleiche und Trenddia-
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gnosen der TV-Analysen und die auf Quoten basierenden Bio-Checkups von ›Medienpersönlichkeiten‹ und Fernsehstars – wird den ZuschauerInnen die Funktionsweise und Dynamik des Fernsehens als Ökonomie transparent gemacht: Fernsehen gilt als ein Wettbewerbssystem, bei dem auf allen Ebenen – zwischen Sendern, Sendeplätzen, Formaten, Programmverantwortlichen und Stars – Konkurrenz vorherrscht. Das Image eines Stars ist nicht mehr allein ein öffentliches, fotogenes Gesicht, in dem sich Person und Rollen vermischen. Der Wert der Prominenz wird vielmehr hochgradig bestimmt von der Quote und von Rankings (Franck 2005: 137f.), die als Kontrolltechniken und Feedbacksysteme den Sendern und Stars stets eine ökonomische Optimierung von Qualität und Selbst ermöglichen. Darüber hinaus können sich die Zuschauer durch die Quotencharts, Quotenbilanzen und -vergleiche individuell im verdateten Feld der Fernsehrezeption nachträglich und zukünftig positionieren: Die Sendereihe X, die ich seit Wochen nicht verpasse anzuschauen, gilt mit Quote Y inzwischen als so genannter Senkrechtstarter, womit ich voll im Trend liege. Sendungen und Fernsehstars, die man nicht schätzt, können aufgrund hoher Quoten mit kulturkritischer oder distinktiv-distanzierter Gebärde als Symptom des schlechten Massengeschmacks abgelehnt werden. Die Quoten können aber auch als Prognosen gelesen werden, so dass man sich über steigende Einschaltquoten freut, weil einem dies ein Programm sichert, das man gerne sieht. Sinkende Quoten können da positiv aufgenommen werden, wo sie das eigene Missfallen noch einmal statistisch bestätigen. Quotentrends, die das baldige Aus einer regelmäßig gesehenen Sendung ankündigen, können Anlass zur Ersatzsuche und Neueinstellung auf eine andere Sendung sein. Diese populäre Lesart der Quote speist sich erstens aus der Freude an Selbstverortung und zweitens daraus, dass jeder – wie man im Anschluss an Walter Benjamin (1991: 492) formulieren könnte – den Leistungen des Fernsehens nun auch dadurch als halber Fachmann beiwohnen kann, dass sie durch Quoten ausgestellt werden. Diese Form von Rezeption, Sendungen und Quoten nachträglich wie zukünftig lustvoll und halbkompetent zu verschalten und dabei noch zu vergleichen, wird im Internet wiederum in Spiel und Produktion überführt. TV-Spielfilm beispielsweise richtete 2000 im Netz eine Quotenbörse ein, für die das Heft unter der Überschrift »Handel mit Einschaltquoten« selbst warb: »›Bodyguard‹ ist ein toller Film, aber die höheren Einschaltquoten hat trotzdem ›Melodien für Millionen‹. Wer sich mit dem Fernsehen auskennt, wird das wenig überraschend finden – und hat jetzt Gelegenheit, seine TV-Kenntnisse im Internet auf die Probe zu stellen: In der Quotenbörse von TV Spiel-
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ZAHL UND SINN film werden Aktien von TV-Sendungen gehandelt. Teilnehmer können mit echtem Geld auf die Einschaltquoten des jeweils kommenden Sonntags setzen. Das Ganze macht nicht nur Spaß, sondern dient auch der Marktforschung. Projektleiter Ralf Wirth: ›Die ›Quotenbörse‹ ist ein Prognose-Instrument. Dadurch, dass viele Personen ihr Wissen über TV-Quoten kombinieren, gibt der Markt eine recht gute Vorhersage wieder.‹« (TV-Spielfilm, H. 10, 6.– 19.5.2000: 38)
Das seit 2002 bestehende Online-Fernsehmagazin Quotenmeter.de, das in Kooperation unter anderem mit Media Control und Nielsen Media Research kontinuierlich die Ratings und Jahrescharts des US-amerikanischen Fernsehmarkts sowie täglich Primetime Listings, Sender Listings, Quotennews und Quotenchecks zum deutschen Fernsehen präsentiert, bietet zudem ein FernsehSpiegel-Portal, in dem sich Zuschauer zu den Quotenerfolgen und -misserfolgen von Sendungen, Serien und Sendern äußern können. Die Beiträge umfassen sowohl ausführliche Erklärungen und analytische Begründungen für Spitzenquoten oder Flops als auch bestätigende Kurzstatements, in denen vor allem Freude über hohe oder niedrige Quoten artikuliert wird. So schreibt Julia Peters aus Hamburg zu den zur Diskussion gestellten »Traumwerten« von CSI: »CSI scheint wohl derzeit die erfolgreichste Fernsehserie der Welt zu sein – und in meinen Augen ist sie dies auch vollkommen zu Recht. [...] Bleibt zu hoffen, dass uns alle drei Formate noch lange erhalten bleiben.« (http:// www.quotenmeter.de/index.php?newsid=12790, 9.3.2006)
III Betrachtet man die Symbole, die im Quotendiskurs eine sehr hohe kulturelle Reproduktionskapazität aufweisen, dann zeigt sich, dass diese vorrangig auf der Folie der stark automatisierten symbolischen Anschauungsformen von Rankings und vor allem synchron-diachronen Kurvendiagrammen generiert werden, so dass man es mit einer ausgeprägt normalistischen Symbolik zu tun hat. Sendungen erreichen ›Rekordquoten‹, ›Spitzenwerte‹, ›Spitzenpositionen‹ oder ›Traumquoten‹ und werden als ›Quotenerfolge‹, ›Quotenhits‹ oder ›Quotenrenner‹ bzw. ›-dauerbrenner‹ gehandelt. Gottschalk und Jauch sind die ungeschlagenen ›Quotenkönige‹; Fernsehstars gelten als ›Quotenlieblinge‹, ›Quotenbringer‹, ›Quotengaranten‹, ›Spitzenreiter‹ oder ›Senkrechtstarter‹. Umgekehrt können Sendungen im ›Quotental‹ oder ›-loch‹ landen, als ›Quotenkiller‹ gelten, ein ›Quotendesaster‹, einen ›Quotenalbtraum‹ oder das quotenschwache
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›Schlusslicht‹ darstellen. Das Fernsehen als wettbewerbsintensives System mit seiner auf Sehbeteiligung und Marktanteile fixierten Programmpraxis wird als ›Quotenrennen‹, ›-jagd‹, ›-hetze‹, ›-wettlauf‹, ›Quotenduell‹, ›-kampf‹ und ›Quotenschlacht‹ imaginiert. In diesen populären symbolischen Konkurrenz-, Sport- und Kriegsszenarien betreiben die Sender ›Aufholjagden‹ und ›Offensiven‹, liefern sich ›Kopf-an-KopfRennen‹, haben sie die ›Nase vorn‹ oder ›bleiben auf der Strecke‹, erleben ›Achterbahnfahrten‹, müssen ›Gas geben‹ oder die ›Notbremse ziehen‹, ›das Steuer herumreißen‹, ›auf ein anderes Zugpferd setzen‹ oder Sendungskonzepte und Sendeplätze wieder ›flottmachen‹ usw. Die Beispiele verdeutlichen, dass auch im Quotendiskurs das normalistische Kollektivsymbol des ›technischen Vehikels‹ (siehe hierzu Link 2006: 363–387) eine zentrale Rolle spielt, werden doch die an den Zuschauerzahlen ausgerichteten komplexen Regulationsmechanismen des Fernsehens aufgrund der sportiven Rankings und symbolischen Kurvenlandschaften zumindest konnotativ häufig in die symbolische Steuerung eines ›technischen Vehikels‹, das sich in ›Wett-‹ oder ›Berg-und-Tal-Fahrten‹ behaupten muss, transferiert. Durch die Quotenrankings und Quotenkurvenlandschaften als zentraler Generierungsinstanz der Symbolisierung dominiert die Orientierungsmetapher ›oben-unten‹ (Lakoff/Johnson 2003: 22–30): Sendungen und ihre Stars können ›Auf-‹ oder ›Absteiger‹, ›Tops‹ oder ›Flops‹, ›Gewinner‹ oder ›Verlierer‹ sein. Sie können in der Publikumsgunst ›steigen‹ oder ›sinken‹, es kann mit ihnen ›bergauf‹ oder ›bergab‹ gehen. Es kann ein ›Auf-‹ oder ›Abschwung‹, ein ›Höhe-‹ oder ›Tiefpunkt‹, ein ›Quotenzuwachs‹ oder ›-schwund‹, ein ›Aufwärts-‹ oder ›Abwärtstrend‹, eine ›Quotenerektion‹ oder ein ›Quotenverfall‹ bzw. ›-rücklauf‹ verzeichnet werden. Nicht vergessen werden darf der ›Platz an der Quotensonne‹, das skalierte ›Quotenbarometer‹ mit seinen Höchst- und Tiefstwerten, die ›Quotenleiter‹, auf der man ganz ›oben‹ stehen kann, und schließlich dass Sendungen und Stars die Quoten ›in den Keller treiben‹ können. Dabei sind die subjektiven und affektiven Effekte und Besetzungen eindeutig verteilt, schreibt doch bereits Otto Neurath: »Statistik ist Freude für die Erfolgreichen.« (Neurath 1979: 288) Die konzeptionelle und politische Arbeit sowie die affektive Investition der symbolischen Topik von ›oben-unten‹ bringt John Fiske für die westliche kapitalistische Kultur höchst anschaulich auf den Punkt: »Gott, der Himmel und das Leben sind oben, der Teufel, die Hölle und der Tod sind unten.« (Fiske 2000: 219) Nicht von ungefähr greift Markus Schöneberger von RTL, aus dem Bereich Geschäftsführung, für seine Ausführungen zur Ambivalenz der Quote gerade die journalistischen Symbole ›Katapult‹ und ›Guillotine‹ auf (Schöneberger 1995: 66).
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Dass die Quote ›Katapult‹ und ›Guillotine‹ zugleich ist, verdeutlicht, dass es im Verdrängungswettbewerb Fernsehen (mit seinem systeminternen Paradox, dass ein Mehr zugleich ein Weniger schafft, eine Zunahme der Sehbeteiligung zugleich ihre Abnahme bedeutet12), symbolisch gesehen, stets um Leben und Tod geht. Hierbei spielen die Quotenkurven wiederum eine entscheidende Rolle, werden sie diskursiv doch zugleich mit ›Fieber-‹, ›Herzrhythmus-‹, und ›Lebenskurven‹ verkoppelt, an denen die Erfolge oder das nahende vorzeitige Ende von Sendungen ablesbar ist. Mit der ›Fieberkurve‹ ist zugleich aber auch das ›Mitfiebern‹ konnotiert – die Affekte der höchsten Erwartung, des Bangens und der Aufregung. Da die PR-Abteilungen der Sender und die publizistische Medienberichterstattung dazu tendieren, die Quoten mit ihren Rankings und Kurven an die Gegenstände und Formate der Sendungen rückzukoppeln, kommt es insbesondere bei Krankenhausserien zur semantischen Überdeterminierung. In Bild am Sonntag (Pfingsten 1998) liegt in einem Artikel zum »Sterben der Ärzteserien« DR. BRUCKNER aufgrund einer absackenden und schließlich flach auslaufenden Quotenkurve bereits »im Koma«, wobei die senkrechte Häufigkeits- bzw. Sehbeteiligungsachse des Diagramms als Quoten-›Fieberthermometer‹ dargestellt ist – eine Spielerei, die sich nicht selten in Infografiken zur Fernsehquote findet. In einem Bericht der Westfälischen Allgemeinen Zeitung vom 10.2.2000 zum Start der neuen Staffel von FIEBER – ÄRZTE FÜR DAS LEBEN wird bereits in der Überschrift mit dem Serientitel gespielt. Da SAT.1, laut Bericht, weitere »fünf junge Mediziner ins Quotenrennen« schickt, ist dieser mit »Ärzte im ›Fieber‹« überschrieben. TV-Spielfilm bietet im Februar 2000 zum Start der PRO7-Serie KLINIKUM BERLIN MITTE einen serien- und senderübergreifenden »Quoten-Check« für das Vorjahr 1999 an. Über den Sehbeteiligungskurven der Serien ALPHATEAM – DIE LEBENSRETTER, FÜR ALLE FÄLLE STEFANIE und EMERGENCY ROOM befindet sich ein Foto, das das Ärzte-Team der neuen Serie in der Notaufnahme bei einem Wiederbelebungsversuch zeigt, so dass die Montage aus Serien-Still und Infografik es ermöglicht die Quotenkurven dramatisiert zugleich als Herzrhythmuskurven anzusehen. Eine Lesart die am Ende des dazugehörigen Artikels konkret realisiert wird: »Im März geht es dann wirklich um Leben und Tod. Anhand der ersten Quoten muss Pro Sieben entscheiden, ob KLINIKUM BERLIN MITTE fortgesetzt wird.« (TVSpielfilm, H. 4, 12.–25.2.2000: 20)13 Im Zentrum dieser Quotenimaginationen steht, wenn auch nur konnotativ, das normalistische Symbol des ›medizinischen Körpers‹ (Link 12 Vgl. zur Paradoxie der Knappheit und ihrer Überführung in die handhabbare Form bzw. Unterscheidung Haben/Nichthaben Luhmann (1988: 179ff.). 13 Zu den symbolischen Kurven in Krankenhausserien und ihren Paratexten wie Trailern und Quoten siehe auch Parr/Thiele (2004).
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2006: 369), der ›Ermüdungserscheinungen‹ aufweist, ›kränkelt‹, ›dem Tode nahe‹ ist, ›durchgecheckt‹, ›saniert‹ oder ›wiederbelebt‹ werden muss. Nicht zufällig also lautet der Untertitel eines Artikels aus dem ZDF Jahrbuch 99, in dem Einblick in die Medienforschung und das Programmerfolgscontrolling des ZDF gegeben wird, »Diagnosen aus der Medienklinik«. Weitergeführt wird diese Übertragung gleich im ersten Absatz, in dem die Quoten wiederum mit Herzrhythmuskurven in Eins gesetzt werden: »Tatsächlich sind Marktanteile und Sehbeteiligungen die Kennziffern, die täglich als Tabellen oder Kurvenverlauf die Herzen der Interessierten höher schlagen oder tief rutschen lassen.« (Kayser 2000: 245) Der symbolische ›Überschuss‹ der Fernsehquotenkurven wird zudem dadurch extensiviert, dass sie auch als Verlauf von Börsenkursen kodifiziert werden, wobei die in beiden Kurven abgebildeten Leistungen, sowohl die der Sender und Stars als auch die der Unternehmen und Aktien, als ›Performance‹ bewertet werden – im durchaus engen wirtschaftlichen Sinne einer Erfüllung bzw. Nichterfüllung eines vorgegebenen, zu erreichenden Gewinn- oder Umsatzziels. Auch durch die Rede vom ›Boom‹ eines quotenträchtigen Formats oder vom ›Quotencrash‹ mit dem Konnotat ›Börsencrash‹ werden Sehbeteiligung und Marktanteile mit Aktienkursen bzw. Fernseh- und Kapitalmarkt semantisch kurzgeschlossen. Insofern ist die Idee einer ›Quotenbörse‹, wie sie TV-Spielfilm initiierte, sicherlich mit ein Effekt einer solchen elementarliterarischen Sem-Synthese. Denkt man darüber hinaus an die vielen weiteren Kompositabildungen des Reizworts ›Quote‹ – wie beispielsweise ›Quotenfernsehen‹ für Kommerzfernsehen, ›Quotenoptimierung‹ für Konsumentenorientierung, ›Quotenmaximierung‹ für Gewinnmaximierung, ›Quotenfetischismus‹ analog zu Warenfetischismus oder ›Quotennutte‹ mit den Konnotaten ›Käuflichkeit‹, ›Preisgabe‹ und ›tabulose Dienstleistung am Massenpublikum und seine Wünschen‹ – so wird noch einmal überdeutlich, dass der interdiskursive Komplex der Quote immer auch populäres Wissen zum Funktionieren und zu den Mechanismen des Fernsehens als Ökonomie fassoniert, bereitstellt und zirkuliert. Die ›Quotenguillotine‹ imaginiert die Quotenmessung als eine präzise, rationale Mechanik und grausame Enthauptungsmaschine. So schreibt Tom Fenton, der von 1966 bis 2004 als Auslandskorrespondent der CBS News tätig war: »You won’t see any media heads roll for neglecting to give enough news, or better and timelier information on the state of the world. Heads roll for other reasons, of course – on television, for low ratings.« (Fenton 2005: 9) Auf die Quote als Schreckensinstrument und Schreckensherrschaft zielen auch das Bild von der ›Quotenknute‹ und die Rede von der ›Quotenqual‹, vom ›Kreuz mit der Quote‹ und vom ›Quo-
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tendruck‹, dem die Qualität und Vielfalt des Programms nicht ›standhalten‹ könne. Zugleich konstituiert die historische Analogie ›Quote = Guillotine‹ die Fernsehzuschauer als eingesetzten Volkssouverän.14 Beide Perspektiven stehen in den gängigen Kritiken an der Massengesellschaft und den Massenmedien in Korrelation zueinander und werden dort miteinander versponnen. Wogegen das Nachfragemodell der vorherrschenden neoklassischen Ökonomie, zu deren Schlüsselbegriffen die Konsumentensouveränität zählt (exemplarisch Schröder 1997),15 alleine die semantische Äquivalenzbeziehung zwischen den Verhältnissen ›Guillotine‹ : ›Volk‹ und ›Quote‹ : ›Fernsehzuschauer‹ befördert: »Aber die Quote ist mit all ihren Mängeln der wichtigste Beitrag zur Objektivierung in der Messung von Fernsehleistungen. Sie macht das Fernsehen ein wichtiges Stück weit transparent – und sie ist fast so etwas wie die Leitwährung der ›Telekratie‹: Sie ist der oberste Chef des Fernsehens – Katapult und Guillotine zugleich. Seit Einführung der Quote ist Lieschen Müller der einflußreichste deutsche Medienexperte.« (Schöneberger 1995: 66)
In dieser Auffassung wird die Quote zu einer auf bewussten Bedürfnissen und Wünschen gründenden Entscheidung und demokratischen Wahl (hierzu auch Cantor 1980: 100–103; Prokop 1998) und damit zum Willen des Zuschauers bzw. der fernsehenden Bevölkerung, der zunehmend gerade auch von Moderatoren des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bei den umwerbenden Hinweisen auf nachfolgende Sendungen angerufen wird: ›Es liegt allein an Ihnen, ob die Sendung ein Erfolg wird‹. Ungeachtet der Tatsache, dass Programmentscheidungen auf Seiten der Sender oftmals gerade mit Blick auf den nicht fernsehenden Teil der werberelevanten Zielgruppe getroffen werden, um diesen Attraktionen zu bieten, beantwortet insbesondere der interdiskursive Komplex der Quote die Frage: »Kann das Publikum wollen?«, die Adorno Anfang der 1960er Jahre stellte und durch feinsinnige Umakzentuierungen und Umformulierungen selbst befragte (vgl. Adorno 1963), zunehmend mit einem schlichten ›Ja!‹.
14 Vgl. zum politischen Imaginären des bekanntesten Realsymbols der Französischen Revolution in historischer Perspektive Arasse (1988). 15 Zu den grundlegenden Referenzen und Schlüsselbegriffen des Wirtschaftsliberalismus bzw. der Neoklassischen Ökonomie Meier (2003: insbes. 223).
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
Literatur Adorno, Theodor W. (1963): »Kann das Publikum wollen?«. In: Anne Rose Katz (Hg.), Vierzehn Mutmassungen über das Fernsehen. Beiträge zu einem aktuellen Thema, München: dtv, S. 55–60. Ang, Ien (1991): Desperately Seeking the Audience, London/New York: Routledge. Arasse, Daniel (1988): Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bachem, Christian (1995): Fernsehen in den USA. Neuere Entwicklungen von Fernsehmarkt und Fernsehwerbung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Benjamin, Walter (1991): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung)«. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. I, 2, hg von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 471–508. Bergmann, Klaus (1994): »Repräsentativität im Fernsehpanel«. Media Perspektiven, H. 12, S. 620–626. Berthoud, Martin (1999): »Struktur und Ziele der AGF«. In: Zuschaueranteile als Maßstab vorherrschender Meinungsmacht. Die Ermittlung der Zuschaueranteile durch die KEK nach § 27 des Rundfunkstaatsvertrages. Dokumentation des Symposiums der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) im November 1998 in Potsdam/Berlin: VISTAS (Schriftenreihe der Landesmedienanstalten, Bd. 13), S. 119–122. Buß, Michael (1998): »Das System der GfK-Fernsehforschung: Entwicklung und Nutzen der Forschungsmethode«. In: Walter Klingler/ Gunnar Roters/Oliver Zöllner (Hg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, Teilbd. 2, Baden-Baden: Nomos, S. 787–813. Buß, Michael/Darschin, Wolfgang (2004): »Auf der Suche nach dem Fernsehpublikum. Ein Rückblick auf 40 Jahre kontinuierliche Zuschauerforschung«. Media Perspektiven, H. 1, S. 15–27. Cantor, Muriel G. (1980): Prime-Time Television. Content and Control, Beverly Hills/London: Sage. Darkow, Michael (1999): »Möglichkeiten und Grenzen der kontinuierlichen Fernsehzuschauerforschung«. In: Zuschaueranteile als Maßstab vorherrschender Meinungsmacht. Die Ermittlung der Zuschaueranteile durch die KEK nach § 27 des Rundfunkstaatsvertrages. Dokumentation des Symposiums der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) im November 1998 in Potsdam/
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ZAHL UND SINN
Berlin: VISTAS (Schriftenreihe der Landesmedienanstalten, Bd. 13), S. 126–140. Darkow, Michael (2005): »Was hat die Quote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu suchen?«. In: Christa-Maria Ridder et al. (Hg.), Bausteine einer Theorie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Festschrift für Marie Luise Kiefer, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 442–444. Darkow, Michael/Lutz, Brigitta (2000): »Fernsehzuschauerforschung: Von der Reichweitenermittlung zur (Werbe-)Wirkungsforschung«. In: Angela Schorr (Hg.), Publikums- und Wirkungsforschung. Ein Reader, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 85–98. Diekmann, Andreas (2005): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (13. Aufl.). Elitz, Ernst: »Leben mit dem Quotenkoller«. In: Wilhelm von Sternburg (Hg.), Tagesthema ARD. Der Streit um das Erste Programm, Frankfurt/M.: Fischer, S. 70–81. Faulstich, Werner/Strobel, Ricarda (1994): »Prominente und Stars – Fernsehgeschichte als Stargeschichte«. In: Werner Faulstich (Hg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5: Vom ›Autor‹ zum Nutzer: Handlungsrollen im Fernsehen, München: Fink, S. 93–118. Fenton, Tom (2005): Bad News. The Decline of Reporting, the Business of News, and the Danger to Us All, New York: Harper Collins Publishers. Fiske, John (2000): Lesarten des Populären, Wien: Turia + Kant. Franck, Georg (2005): Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, München/Wien: Hanser. Frühschütz, Jürgen (2000): Lexikon der Medienökonomie. Beschaffung, Produktion, Absatz, Frankfurt/M.: Deutscher Fachverlag. GfK Fernsehforschung GmbH (Hg.) (2005): Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Tägliche Informationen über das Fernsehpublikum in Deutschland, Nürnberg. Goertz, Lutz (1997): »Perspektiven der Rezeptionsforschung«. In: Helmut Scherer/Hans-Bernd Brosius (Hg.), Zielgruppen, Publikumssegmente, Nutzergruppen. Beiträge aus der Rezeptionsforschung, München: Verlag Reinhard Fischer (Angewandte Medienforschung. Schriftenreihe des Medien Instituts Ludwigshafen, Bd. 5), S. 9–28. Göttlich, Udo (2002): »Quote«. In: Helmut Schanze (Hg.), Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 304–305.
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
Grisold, Andrea (2004): Kulturindustrie Fernsehen. Zum Wechselspiel von Ökonomie und Massenmedien, Wien: Löcker. Gugel, Katharina (1994): »Wie man Quoten interpretiert. Vom schwierigen Umgang mit dem gemessenen Zuschauer«. In: Adolf Grimme Institut (Hg.), Jahrbuch Fernsehen 1993/1994, Marl, S. 36–43. Heinrich, Jürgen (1999): Medienökonomie. Band 2: Hörfunk und Fernsehen, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Holtmann, Klaus (1999): Programmplanung im werbefinanzierten Fernsehen. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des US-amerikanischen Free-TV, Lohmar/Köln: Josef Eul Verlag. Karsten, Eric/Schütte, Jörg (1999): Firma Fernsehen. Alles über Politik, Recht, Organisation, Markt, Werbung, Programm und Produktion, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Karsten, Eric/Schütte, Jörg (2005): Praxishandbuch Fernsehen. Wie TVSender arbeiten, Wiesbaden: VS Verlag. Kayser, Susanne (2000): »Glaubwürdigkeit durch Nähe. Diagnosen aus der Medienklinik«. In: ZDF Jahrbuch 99, Mainz: Zweites Deutsches Fernsehen, S. 245–248. Klingler, Walter (1998): »Fernsehforschung in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt«. In: Walter Klingler/Gunnar Roters/Oliver Zöllner (Hg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, Teilbd. 2, Baden-Baden: Nomos, S. 915–927. Koschnick, Wolfgang J. (1995a): Standard-Lexikon für Mediaplanung und Mediaforschung in Deutschland, Bd. 1. A–K, 2., überarb. u. erw. Aufl., München/New Providence/London/Paris: Saur. Koschnick, Wolfgang J. (1995b): Standard-Lexikon für Mediaplanung und Mediaforschung in Deutschland, Bd. 2. L–Z, 2., überarb. u. erw. Aufl., München/New Providence/London/Paris: Saur. Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, (3. Aufl.), Heidelberg: CarlAuer-Systeme Verlag. Lilienthal, Volker (1998): »Leitwährung unter Druck. Politische Funktionen und Probleme der Fernsehforschung«. In: Walter Klingler/ Gunnar Roters/Oliver Zöllner (Hg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, Teilbd. 2, Baden-Baden: Nomos, S. 967–985. Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (3., erg., überarb. u. neu gestaltete Aufl.), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Luhmann, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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ZAHL UND SINN
Meier, Werner A. (2003): »Politische Ökonomie«. In: Klaus-Dieter Altmeppen/Matthias Karmasin (Hg), Medien und Ökonomie. Bd. 1/1: Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 215–243. Meyer, Birgit (2000): »Zwei für alle. Die 12 000 Quoten-Macher im deutschen Fernsehen sind streng geheim. Bis vor kurzem zählten Johann und Danuta Drewniok dazu«. In: HörZu, 6, S. 20–21. Neurath, Otto (1979): Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Parr, Rolf/Thiele, Matthias (2004): »Eine ›vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen‹. Zur Interdiskursivität und Televisualität von Paratexten des Fernsehens«. In: Klaus Kreimeier/Georg Stanizek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin: Akademie Verlag, S. 261–282. Prokop, Dieter (1998): »Warum Einschaltquoten und Hitlisten kein demokratisches Bild der Publikumswünsche ergeben«. In: Walter Klingler/Gunnar Roters/Oliver Zöllner (Hg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, Teilbd. 2, Baden-Baden: Nomos, S. 956–966. Prokop, Dieter (2000): Der Medien-Kapitalismus. Das Lexikon der neuen kritischen Medienforschung, Hamburg: VSA. Rath, Claus-Dieter (1984): »Die öffentliche Netzhaut: Das fernsehende Auge«. In: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 59–86. Reinhold, Andreas/Buß, Michael (1994): »Die kontinuierliche Fernsehforschung im Umbruch«. Media Perspektiven, H. 12, S. 609–613. Schneider, Irmela (2001): »Persönlichkeit und Konsument. Zur Formation von Menschenbildern in Mediendiskursen der frühen 1950er Jahre«. In: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld: transcript, S. 311–330. Schneider, Irmela (2003): »Konzepte vom Zuschauen und vom Zuschauer«. In: Dies./Torsten Hahn/Christina Bartz (Hg.), Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 245–269. Schöneberger, Markus (1995): »Zuschauerforschung und Programmplanung in der Praxis«. In: Landeszentrale für private Rundfunkveranstalter (Hg.), LPR Medien Colloquium. TV-Zuschauerforschung – das Maß aller Dinge? Ludwigshafen, 9. Mai 1995, Vortragssammlung, Ludwigshafen (LPR-Schriftenreihe Bd. 11), S. 61–70.
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
Schröder, Guido (1997): Die Ökonomie des Fernsehens – eine mikroökonomische Analyse mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Ewers, Münster: Lit (Telekommunikation und Multimedia, Bd. 2). Steinmann, Matthias (1999): »Messinstrumente zur kontinuierlichen Erhebung der Zuschaueranteile – Stand der Messtechnik, Entwicklungstrends«. In: Zuschaueranteile als Maßstab vorherrschender Meinungsmacht. Die Ermittlung der Zuschaueranteile durch die KEK nach § 27 des Rundfunkstaatsvertrages. Dokumentation des Symposiums der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) im November 1998 in Potsdam/Berlin: VISTAS (Schriftenreihe der Landesmedienanstalten, Bd. 13), S. 79–94. Webster, James G./Phalen, Patricia F./Lichty, Lawrence W. (2000): Ratings Analysis. The Theory and Practice of Audience Research (2. Aufl.), Mahwah, New Jersey/London: Lawrence Erlbaum Associates. Winkler, Hartmut (2006): »Nicht handeln. Versuch einer Wiederaufwertung des couch potato angesichts der Provokation des interaktiv Digitalen«. In: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.), Philosophie des Fernsehens, München: Fink, S. 93–101.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
RALF ADELMANN, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte in Erlangen und Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Dokumentarische Fernsehformen, Medienökonomien der Populärkultur, Visuelle Kulturen. Veröffentlichungen (u.a.): »Visuelle Kulturen der Kontrollgesellschaft. Zur Popularisierung digitaler und videografischer Visualisierungen im Fernsehen« (erscheint demnächst). E-Mail: [email protected] ULRIKE BERGERMANN, Dr., Lise-Meitner-Habilitationsstipendiatin an der Universität Paderborn (»Wissensprojekte. Kybernetik und Medienwissenschaft«), 2003 und 2004 Vertretungsprofessuren an der Ruhr-Universität Bochum, Promotion an der Universität Hamburg zur disziplinären Verortung und Notation von Gebärdensprache. Veröffentlichungen (u.a.): »Tastaturen des Wissens. Haptische Technologien und Taktilität in medialer Reproduktion« (in: Intellektuelle Anschauung, hg. von Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer, 2006); »Spin doctoring, Politik, Medien« (hg. mit Christine Hanke und Andrea Sick, 2006); »Durchmusterung. Wieners Himmel« (in: Archiv für Mediengeschichte 5, 2005); vgl. www.upb.de/~bergerma. MONIKA DOMMANN, Dr. phil., Studium von Geschichte und Ökonomie in Zürich, Promotion mit einer Arbeit zur Technik- und Kulturgeschichte der Röntgenstrahlen: »Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen, 1896-1963« (= Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, 5, Zürich 2003). Gegenwärtig vom SNF finanziertes Habilitationsprojekt: Kopieren/Regulieren: Zur Kulturgeschichte von Vervielfältigungsapparaten, Werknormen und Verwertungsrechten. E-Mail: [email protected]. LORENZ ENGELL, Dr. phil., Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar, Gründungsdekan der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Logik,
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
Historik, Semiotik der Medien; insbesondere des Films und des Fernsehens. Veröffentlichungen (u.a.): »Vom Widerspruch zur Langeweile. logische und temporale Begründungen des Fernsehens« (1989); »bewegen beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte« (1995); »Bilder der Endlichkeit« (Serie Moderner Film) (2005); Mitherausgeber von »Kursbuch Medienkultur« (1999) und des Jahrbuchs »Archiv für Mediengeschichte« (seit 2001). ANDREA GRISOLD, Dr., Professorin am Institut für Volkswirtschaftstheorie und -politik der Wirtschaftsuniversität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Politische Ökonomie der Medien, Medienwirtschaftspolitik, Informationsökonomie, Geschlechterforschung und Ökonomie, geschlechtsspezifische Arbeitsmärkte. Veröffentlichungen (u.a.): »Kulturindustrie Fernsehen. Zum Wechselverhältnis von Ökonomie und Massenmedien« (2004); »Medienwirtschaftspolitik und Deregulierung« (in: Medien und Ökonomie, hg. von K-D. Altmeppen und M. Karmasin, 2004); »Ökonomisierung der Medienindustrie aus wirtschaftspolitischer Perspektive« (in: Medien- und Kommunikationswissenschaft 2/2001). VINZENZ HEDIGER, Dr. phil., geb. 1969, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftungsprofessor für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Das Tier in den technischen Medien; Ökonomisierung des kulturellen Gedächtnisses. Veröffentlichungen (u.a.): »›Dann sind Bilder also nichts‹. Vorüberlegungen zur Konstitution des Forschungsfelds ›Gebrauchsfilm‹« (in: Montage/AV 14, 2, 2005); »Demnächst in ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung« (hg. mit Patrick Vonderau, 2005); »Cinematic Means, Economic Ends. Studies on the Visual Practices of the Industrial Film« (hg. mit Patrick Vonderau, erscheint 2007). JAN-OTMAR HESSE, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Geschichte der Wirtschaftswissenschaften. Veröffentlichungen (u.a.): »Im Netz der Kommunikation. Die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 1876-1914« (2002); »Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen der ›moralischen Ökonomie nach 1945‹« (hg. mit Tim Schanetzky und Jens Scholten, 2004); »Zur Semantik von Wirtschaftsordnung und Wettbewerb in nationalökonomischen Lehrbüchern der Zeit des Nationalsozialismus«
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AUTORINNEN UND AUTOREN
(in: Recht und die Ordnung der Wirtschaft im Nationalsozialismus, hg. von Johannes Bähr und Ralf Banken, 2005). MICHAEL HUTTER, Dr., geb. 1948, Professor für Theorie der Wirtschaft und ihrer Umwelt an der Universität Witten/Herdecke. Studium der Mathematik an der Universität München und an der Portland State University; Studium der Wirtschaftswissenschaft an der University of Washington (Seattle). Veröffentlichungen (u.a.): »Neue Medienökonomik« (2006); »Muster, die verbinden. Ökonomische Beobachtungsfiguren in Prousts ›Recherche‹« (in: Die andere Intelligenz: Wie wir morgen denken werden, hg. von Bernhard von Mutius, 2004); »Die globale Regulierung des Internet Domain Name Systems. Fünf Lehren aus dem Fall der ›ICANN‹« (in: Soziologie des Cyberspace: Medien, Strukturen und Semantiken, hg. von Udo Thiedeke, 2004); Mitherausgeber der Zeitschrift »Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie«. JUDITH KEILBACH, Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin, promovierte mit einer Arbeit zur Geschichtsdarstellung im Fernsehen (»Geschichtsbilder und Zeitzeugen«, erschient demnächst). Mitherausgeberin von »Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft« (2002); »Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte« (2003) sowie der Fachzeitschriften »montage/av« und »nach dem film« (www.nachdemfilm.de). JÜRGEN LINK, Dr., Professor für Literaturwissenschaft (und Diskurstheorie) an der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Hölderlin und die ›andere Klassik‹, Brecht und die ›klassische Moderne‹, strukturale und funktionale Interdiskurstheorie, elementare Literatur und Symbolik, Normalismustheorie. Veröffentlichungen (u.a.): »kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie« (hg. zusammen mit Ursula Link-Heer und Rolf Parr, seit 1982); »Elementare Literatur- und generative Diskursanalyse« (1983); »Hölderlin-Rousseau, retour inventif« (1995); »Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird« (3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., 2006). ALEXANDRA SCHNEIDER, Dr. phil, Wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin. Veröffentlichungen (u.a.): »Videofilme im Aufzug, Projektionen im Flugzeug: Gebrauchsfilme außerhalb des Kinos« (in: Montage/AV 14,1, 2005); »Die Stars sind wir. Heimkino als filmische Praxis« (2004); (Mit-) Herausgeberin von: »Bollywood. Das indische Kino und die Schweiz« (2002) und »Import/Export. Cultural Exchange between India, Germany and Austria« (2005).
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ÖKONOMIEN DES MEDIALEN
LEANDER SCHOLZ, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation (Köln). Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Medien, Politische Theorie, Philosophische Ästhetik. Veröffentlichungen (u.a.): »Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700« (2002); »Das Gesicht ist eine starke Organisation« (hg. zusammen mit Petra Löffler, 2004); »Einführung in die Geschichte der Medien« (hg. zusammen mit Eckhard Schumacher und Albert Kümmel, 2004). MARGRIT SECKELMANN, Dr. jur., M.A., geb. 1970, Geschäftsführerin des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer. Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der FU Berlin. Veröffentlichungen (u.a.): »Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871–1914« (2006); »›Good Governance‹ – Importe und Re-Importe« (in: Rechtstransfer in der Geschichte, hg. von Vanessa Duss et al., 2006); »Der ›Dienst am schöpferischen Ingenium der Nation‹ – Die Entwicklung des Patentrechts im Nationalsozialismus« (in: Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus, hg. v. Johannes Bähr und Ralf Banken, 2006). MARKUS STAUFF, Dr. phil, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation (Köln). Forschungsschwerpunkte: Fernsehtheorie, Cultural Studies, Mediensport. Veröffentlichungen (u.a.): »›Das neue Fernsehen‹. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien« (2005); »Politiken der Medien« (hg. mit Daniel Gethmann, 2005). MATTHIAS THIELE, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Kulturwissenschaften, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Forschungsschwerpunkte: Flexibler Normalismus im Fernsehen, Migration und Rassismus in den Medien, Portable Media in medientheoretischer und kulturgeschichtlicher Perspektive. Veröffentlichungen (u.a.): »Ereignis und Normalität. Zur normalistischen Logik medialer und diskursiver Ereignisproduktion im Fernsehen« (in: Philosophie des Fernsehens, hg. von Oliver Fahle und Lorenz Engell, 2006); »Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen« (2005); »Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse« (hg. mit Ralf Adelmann u.a., 2002); »Gottschalk, Kerner & Co. Funktionen der Telefigur ›Spielleiter‹ zwischen Exzeptionalität und Normalität« (hg. mit Rolf Parr, 2001).
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AUTORINNEN UND AUTOREN
PATRICK VONDERAU, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Historische Pragmatik des Films, Genretheorie, Ökonomien der Gefühle. Veröffentlichungen (u.a.): »Demnächst in ihrem Kino. Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung« (hg. mit Vinzenz Hediger 2005); »Cinematic Means, Economic Ends. Studies on the Visual Practices of the Industrial Film« (hg. mit Vinzenz Hediger, erscheint 2007). Mitherausgeber der Fachzeitschrift »montage/av«. HARTMUT WINKLER, Dr., geb. 1953, Professor für Medienwissenschaft, Medientheorie und Medienkultur an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete: Medien, Kulturtheorie, Techniktheorie, Alltagskultur, Semiotik. Veröffentlichungen (u.a.): »Docuverse – Zur Medientheorie der Computer« (1997); »Diskursökonomie – Versuch über die innere Ökonomie der Medien« (2004). www.uni-paderborn.de/~winkler
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Kultur- und Medientheorie Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Dezember 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4
Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt
Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung Oktober 2006, ca. 225 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-591-X
Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹ Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹
Dezember 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-520-0
Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-474-3
Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken
Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur
Dezember 2006, 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4
Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-560-X
Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm
Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium
Oktober 2006, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-552-9
Stefan Kramer Das chinesische Fernsehpublikum Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums
Oktober 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-563-4
Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka Oktober 2006, ca. 224 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-577-4
Oktober 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-526-X
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Ursula Link-Heer, Ursula Hennigfeld, Fernand Hörner (Hg.) Literarische Gendertheorie Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette Oktober 2006, ca. 400 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-557-X
Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern Oktober 2006, ca. 180 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-572-3
Georg Mein (Hg.) Kerncurriculum BA-Germanistik Chancen und Grenzen des Bologna-Prozesses August 2006, 96 Seiten, kart., 11,80 €, ISBN: 3-89942-587-1
Michael C. Frank Kulturelle Einflussangst Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts August 2006, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-535-9
Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien
Petra Missomelius Digitale Medienkultur Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation
September 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-534-0
August 2006, ca. 180 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-548-0
Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format
Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft
September 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-527-8
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen September 2006, 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0
August 2006, 250 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-430-1
Martin Pfleiderer Rhythmus Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik August 2006, 386 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-515-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel, Serjoscha Wiemer (Hg.) Affekte Analysen ästhetisch-medialer Prozesse August 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-459-X
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften August 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0
Regina Göckede, Alexandra Karentzos (Hg.) Der Orient, die Fremde Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur Juli 2006, 214 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-487-5
Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften
Michael Treutler Die Ordnung der Sinne Zu den Grundlagen eines ›medienökonomischen Menschen‹ Juli 2006, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-514-6
Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch Juni 2006, 408 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-481-6
Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 Juni 2006, 450 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2
Birgit Käufer Die Obsession der Puppe in der Fotografie Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman Juni 2006, 332 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-501-4
Juli 2006, 338 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-499-9
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de