Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit: Aufeinandertreffen – Übereinstimmung – Rivalität [1 ed.] 9783412526993, 9783412526979


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Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit: Aufeinandertreffen – Übereinstimmung – Rivalität [1 ed.]
 9783412526993, 9783412526979

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KONKURRENZEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT AUFEINANDERTREFFEN – ÜBEREINSTIMMUNG – RIVALITÄT FRANZISKA NEUMANN JORUN POETTERING HILLARD VON THIESSEN (HG.)



Titelei_Neumann.indd 1

19.01.2023 14:48:56

FRÜHNEUZEIT-IMPULSE Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V.

Band 5

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Franziska Neumann / Jorun Poettering / Hillard von Thiessen (Hg.)

KONKURRENZEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT AUFEINANDERTREFFEN – ÜBEREINSTIMMUNG – RIVALITÄT

UNTER MITARBEIT VON ELIAS BUCHETMANN

BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN

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19.01.2023 14:48:56



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: © Memento mori, Giulia Pratillo

© 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52699-3

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Inhalt

Hillard von Thiessen Einleitung. Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit....................................... 13 Thomas Bauer Religiöse und kulturelle Konkurrenzverhältnisse in vormodernen islamischen Gesellschaften ...................................................................... 31

Sektion 1: Konkurrenz und ihre Grenzen: Einführende Thesen und Überlegungen am Beispiel des ökonomischen Feldes Christina Brauner, Alexander Engel Konkurrenz und ihre Grenzen. Debatten – Konzepte – Forschungsperspektiven ......................................................................... 47

Sektion 2: Königsschiffe. Schiffe als Medien fürstlicher Prestigekonkurrenz in der Frühen Neuzeit Patrick Schmidt Frühneuzeitliche Kriegsschiffe als Medien der (Status-)Konkurrenz ............. 73 Eugen Rickenbacher Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV. im Spiegel der Dekorationen der „Royal Louis“ von 1668 ................................ 79 J. D. Davies Great Ships, Prestige and Power in the Naval Ideology of the Later Stuarts .... 93

Sektion 3: Tiere als Medien und Agenten der Statuskonkurrenz Christian Jaser, Nadir Weber Einleitung ............................................................................................. 109

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Inhalt

Maike Schmidt Vrays chiens de roy. Jagdhunde als Signaturen der Überbietung in der französischen Herrscherpropaganda ................................................... 115 Christian Jaser Geschwindigkeit als Statusfaktor? Städtische Pferderennen und die Konkurrenz von Signori und Fürsten im Italien der Renaissance.................. 127 Nadir Weber Elatus tendet in altum. Jagdfalken und dynastische Konkurrenz im Alten Reich (17. und 18. Jahrhundert) ...................................................... 137 Mark Häberlein Kommentar .......................................................................................... 149

Sektion 4: Erste sein: Wettbewerbsorientierte Migrations- und Missionspraktiken im Umfeld der Hallenser Pietisten im 18. Jahrhundert Thomas Grunewald, Stefano Saracino, Holger Zaunstöck Einleitung ............................................................................................. 157 Stephan Steiner Konkurrenz belebt das Geschäft. Protestantische Prediger und Hauslehrer im Wien des 18. Jahrhunderts ................................................ 163 Stefano Saracino Franckes Geheimagenten am Bosporus. Ein pietistischer Außenposten in Istanbul und die Konkurrenz mit anderen missionarischen Akteuren (1699–1705) .................................................... 177 Daniel Haas Zu Gast bei der Konkurrenz. Begegnungen von Emissären des halleschen Institutum Judaicum et Muhammedicum und der Herrnhuter Brüdergemeine in Ägypten, 1753 ............................................ 189 Gabriele Bellinzona Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg. Die dänisch-englisch-hallesche Mission in Indien und ihre Beziehung zu den Akteuren anderer christlicher Konfessionen........................................ 199

Inhalt

Sektion 5: Dynamiken der Gesandtenpolitik zwischen Konsens und Konkurrenz Stefanie Freyer Einleitung ............................................................................................. 215 Volker Arnke Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten. Die katholischen Reichsstände in der Endphase des Westfälischen Friedenskongresses ................................................................................ 221 Stefanie Freyer Abgewehrte Konkurrenz. Die Reaktion von Kaiser Matthias I. auf die englische Gesandtenpolitik unter Jakob I. ....................................... 231 Marcus Stiebing Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung. Dorothea Maria von Sachsen-Weimar und der Regensburger Reichstag von 1608.................. 243 Siegrid Westphal Kommentar .......................................................................................... 255

Sektion 6: Fetisch Konkurrenz: Digitale Spiele als Inszenierung frühneuzeitlicher Konfliktfelder Josef Köstlbauer, Eugen Pfister, Tobias Winnerling Piraten, Ninja und Strategen! Digitale Spiele als hyperkompetitive Inszenierung frühneuzeitlicher Konfliktfelder .......................................... 261

Sektion 7: Migration und Konkurrenz in der Frühen Neuzeit Martin Biersack, Jorun Poettering Einleitung ............................................................................................. 287 Anke Fischer-Kattner Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt. Der Umgang mit kriegsbedingter Migration in Philippsburg ....................... 291

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Inhalt

Hanna Sonkajärvi Von kooperierenden Gästen zu niedergelassenen Konkurrenten. Konflikte um den Status als Gast (huésped) in der Provinz Vizcaya im 18. Jahrhundert................................................................................. 305 Martin Biersack Reform durch Konkurrenz. Kompetenzkonflikte zwischen kreolischen Ärzten und europäischen Chirurgen im kolonialen Mexiko ....... 317 Jorun Poettering Konstruktive Konkurrenz. Wasserbauexperten im kolonialen Rio de Janeiro... 329 Christian Büschges Kommentar .......................................................................................... 341

Sektion 8: Konkurrenz und Kooperation im frühneuzeitlichen Fernhandel: Oberdeutsche und andere Nationen auf europäischen Märkten Mark Häberlein Einleitung ............................................................................................. 347 Heinrich Lang Konkurrenz sichtbar machen. Italienische und süddeutsche Handelsgesellschaften in Lyon und Antwerpen im 16. Jahrhundert .............. 351 Mark Häberlein Von neuen Märkten profitieren. Oberdeutsche, Florentiner und Genuesen auf der Iberischen Halbinsel im frühen 16. Jahrhundert ............... 365 Magnus Ressel Konkurrenten und Partner. Die deutsche und die Schweizer Händlernation in Lyon im 17. und 18. Jahrhundert .................................... 377 Andrea Serles Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Kaufleute im frühneuzeitlichen Wien .......................................................................... 391

Inhalt

Section 9: Philosophical Diplomats, Enlightened Physicians and Learned Merchants – Multiple Roles and Competing Practices in Eighteenth-Century Scandinavia Sophie Holm, Charlotta Wolff Introduction ......................................................................................... 405 Elina Maaniitty Science, Practice, and Administrative Duties. Conflicting Expectations and the Role of Medical Professionals in Late-Eighteenth-Century Sweden ... 411 Ulla Ijäs Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community ............................................................................ 423 Charlotta Wolff Duty versus Pleasure. Philosophical Libertinage Amongst Swedish Civil Servants and Diplomats in the Eighteenth Century............................. 437 Sophie Holm A diplomate philosophe? Johann Albrecht von Korff ’s Overlapping Roles as Russian Envoy, Freethinker and Public Figure in Copenhagen and Stockholm, 1740–1766 .................................................. 449

Sektion 10: Die preußisch-österreichische Konkurrenz im 18. Jahrhundert Bettina Braun Einführung ........................................................................................... 463 Bettina Braun Zwei ungewöhnliche Höfe von außen betrachtet. Die Berichte der französischen Gesandten aus Berlin und Wien nach den Regierungswechseln von 1740 ................................................................. 467 Frank Göse „Audiatur et altera pars“. Perzeptions- und Rezeptionsprozesse zwischen dem österreichischen und dem preußischen Militärsystem............ 477

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Inhalt

Thomas Biskup Höfische Konkurrenz? Dynastische Strategien der Häuser Brandenburg und Österreich und die Wolfenbütteler Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg......................................................... 489 Tobias Schenk „Ökonomisierung der Zeit“. Justizstatistiken als Medium preußisch-österreichischer Staatenkonkurrenz im 18. Jahrhundert............... 503 Gabriele Haug-Moritz Kommentar .......................................................................................... 515

Sektion 11: Gelehrte Konkurrenzen Julia A. Schmidt-Funke Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?............................................................................... 521 Joëlle Weis Das Ringen um die Quellen. Klerikale Streitfälle als Konkurrenzereignisse in der Gelehrtenrepublik......................................... 533 Tobias Winnerling Erster über Bande. Konkurrenz, Gefälligkeiten und die Ränder der gelehrten Milieus ............................................................................. 545 Dominik Hünniger Die Nutzlosigkeit der Fakultäten. Ressourcenkonkurrenzen zwischen Fachdisziplinen und zwischen Hochschullehrern um 1800 ............ 557 Martin Mulsow Kommentar .......................................................................................... 569

Sektion 12: Der Immerwährende Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen Dorothée Goetze, Christoph Kampmann Einleitung ............................................................................................. 577

Inhalt

Guido Braun Sa Majesté garante de la paix, Roi Très-Chrétien oder roi de guerre? Konkurrierende Rollen und Normen der Vertretung des französischen Königs am Regensburger Reichstag 1663–1740 ..................... 581 Christoph Kampmann Immerwährender Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert. Kommunikation – Konkurrenz – Konfrontation ........................................ 593 Dorothée Goetze Die Troublen im Norden. Konkurrierende Interessen der Akteure des Großen Nordischen Krieges beim Immerwährenden Reichstag .............. 605 Yves Huybrechts Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse. Der Fall Jever, 1737–1739........................................................................ 617 Michael Rohrschneider Kommentar .......................................................................................... 629

Sektion 13: Die Zünfte im Wettbewerb um Ämter, Arbeitskraft und Innovationen Julia Bruch Geschichte schreibende Handwerker in Konkurrenz um städtische Ämter .... 635 Sabine von Heusinger Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg ...... 647

Sektion 14: Competitive Concurrence. Netzwerke und ihre Mehrfachnutzung Elisabeth Natour Einleitung ............................................................................................. 659 Tobias Winnerling Professionale Diversität. Zur Netzwerknutzung gelehrter Familien in der Statuskonkurrenz ......................................................................... 665

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Inhalt

Elisabeth Natour Musiker, Künstler und Mäzene. Vom strategischen Nutzen kultureller Netzwerke im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts .................... 675 Fabian Fechner Abwesenheit, Vereindeutigung, Standortgebundenheit. Die Argumentation mit indigenen Netzwerken am Beispiel geographischen Wissens aus Innerafrika (18. und 19. Jahrhundert) .............. 687 Ingeborg van Vugt Multilayer Networks, Multilayer Historians ............................................... 699

Sektion 15: Konkurrieren und Entscheiden in der Frühen Neuzeit André Krischer Konkurrieren und Entscheiden. Einführende Überlegungen ....................... 705 Maria Weber Konkurrenz oder Koexistenz? Verfahrensvielfalt und Handlungsalternativen in Gerichtsprozessen um Geldschulden ................... 711 Mona Garloff Irenik und Entscheiden über den religionspolitischen Frieden in Frankreich im 16. und frühen 17. Jahrhundert........................................... 721 Alexander Georg Durben Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden in englischen Gerichtsverfahren der Sattelzeit ............................................................... 733 Philip Hoffmann-Rehnitz Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit. Versuch einer Verhältnisbestimmung ....................................................... 745

Hillard von Thiessen

Einleitung Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit Dieser Band dokumentiert Beiträge der 13. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit, die vom 19. bis zum 21. September 2019 an der Universität Rostock unter dem Titel „Konkurrenzen“ stattfand.1 Die Reihenfolge der Sektionen orientiert sich am Ablauf der Tagung. Das Tagungsthema mag auf den ersten Blick überraschen, wird der Begriff „Konkurrenz“ doch eher mit der Moderne verbunden. Gesellschaften der Moderne sind als „Konkurrenzgesellschaften“ bezeichnet worden, in denen Wettbewerb als „ein fast allgegenwärtiger Handlungsmodus“ zur legitimen Verteilung knapper materieller und symbolischer Ressourcen aller Art gilt.2 Doch die Ubiquität von Konkurrenzbeziehungen in (post)modernen Gesellschaften und die in ihnen weithin zu findende Bejahung des Prinzips der Konkurrenz als gesamtgesellschaftlich förderlich sollte nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass vormoderne Gesellschaften in nur geringer Weise von Wettbewerb und Wettkampf geprägt waren. Rangstreitigkeiten und Ehrenhändel, die Konkurrenz der Konfessionen um die Seelen der Gläubigen oder die Rivalitäten von Kolonialmächten zeigen, dass Kampf, Rivalität und Wettstreit frühneuzeitlichen Akteuren keine unvertrauten Phänomene waren. Und doch fallen erhebliche Unterschiede zwischen Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit und der Moderne auf. In modernen Gesellschaften sind Leistungskonkurrenz bejahende Diskurse relativ stark. Schon im 18. Jahrhundert etablierte sich zunehmend die Vorstellung vom Prinzip der Konkurrenz als Handlungsmodus des modernen Wirtschaftens, mit dem individuelles Gewinnstreben gesamtgesellschaftlich nützlichen Zielen diente. Weitere Handlungsfelder, etwa das der Politik, folgten, so dass von einer „Verwettbewerblichung“ gesprochen werden kann, in deren Verlauf eine im Kern ökonomischen Logiken folgende Konkurrenz in fast

1 Wir danken herzlich Line Ahrens und Sophie Betker für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Bandes. 2 Zum Begriff und Konzept „Konkurrenzgesellschaft“: Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 34 (2006), S. 82–104. Zu Konkurrenz als Handlungsmodus: Ralph Jessen: Konkurrenz in der Geschichte. In: Ders. (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 7–32, hier S. 7; Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus – Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 33–57.

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alle Lebensbereiche mehr oder weniger durchgreifend eindrang. Der entscheidende Unterschied zur Vormoderne liegt aber weniger in der Ubiquität von Konkurrenzbeziehungen als vielmehr in der grundsätzlichen normativen Bejahung des Prinzips Konkurrenz. Demnach dient es der Leistungssteigerung in Volkswirtschaften und der Legitimität politischer Systeme, mithin dem Gemeinwohl und ist auch dem einzelnen Individuum nützlich. Moderne Marktgesellschaften sind vor allem deshalb Konkurrenzgesellschaften, weil in ihnen bewusst und im Einklang mit der Normenordnung konkurriert wird. Das schließt gleichwohl auch Kritik ein, die vor den destruktiven und ruinösen Potentialen von Konkurrenz warnt, ihre universelle Geltung für zahlreiche Handlungsbereiche zurückweist oder sie doch zumindest einzuhegen wünscht.3 In frühneuzeitlichen Gesellschaften hingegen war die Wahrnehmung von Konkurrenz eine grundlegend andere. Konkurrenz war, wie oben beschrieben, in vielen Handlungsfeldern zu finden, doch wurde sozialen Phänomenen wie Rivalität, Aufund Abstieg, Wettbewerb und gesellschaftlicher Dynamik kein inhärenter Wert zugesprochen. Barbara Stollberg-Rilinger spricht von „Konkurrenz wider Willen“. Sie erläutert dieses Phänomen am Beispiel frühneuzeitlicher Rangordnungen. Diese seien grundsätzlich als stabil, gerecht und eine harmonische Ordnung konstituierend gedacht worden, da sie letztlich auf Gottes Schöpfung zurückgeführt worden seien. Doch dem weitgehenden Konsens über das Ordnungsprinzip der Hierarchie stand der Streit über ihre konkrete Ausgestaltung gegenüber. Ansprüche auf einen bestimmten Rangplatz zulasten anderer wurden nicht als ambitionierte (und damit illegitime) Aufstiegsversuche dargestellt, sondern als Mittel zur Wiederherstellung der eigentlichen, gerechten Ordnung. Auf diese Weise war im Rangordnungsprinzip der Rangstreit von vornherein angelegt und nicht zu bändigen. Versuche von Juristen, Zeremonienmeistern und Diplomaten, anhand von Kriterien eine stabile Ordnung zu implementieren, waren allein schon aufgrund der Vielzahl von hinzugezogenen, konkurrierenden Kriterien für Rangzuordnungen zum Scheitern verurteilt. Auch „Konkurrenz wider Willen“ war keineswegs immer begrenzt und verdeckt zu halten.4 Rang- und Ehrkonflikte in der Frühen Neuzeit sind ein besonders gut erforschter Bereich, der eine ausgeprägte Konkurrenzkultur erkennen lässt. Allerdings nahm die Bedeutung dieser Form von teils agonaler Konkurrenz und ihrer statuskonstituierenden Rituale in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massiv ab.5

3 Jessen, Konkurrenz, S. 7–10; Thomas Kirchhoff: Einleitung: Konkurrenz als Epochenparadigma. In: Ders. (Hg.): Historische, strukturelle und normative Perspektiven, S. 7–36, hier S. 7 f. 4 Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 197–227, hier S. 198–204. 5 Stollberg-Rilinger, Logik, S. 216 f.

Einleitung

Dieser Befund steht quer zur Annahme des Aufstiegs von Konkurrenz im Übergang zur Moderne. Aus ihm lässt sich stattdessen die These ableiten, dass weniger eine Zunahme von Konkurrenz als vielmehr ein fundamentaler Wandel der Konkurrenzkulturen stattfand.6 Das zentrale Anliegen dieses Bandes ist es, die Frühe Neuzeit nach den Feldern, Formen und Wirkungen von Konkurrenzen abzuklopfen und auf diese Weise die Epoche in neuer Perspektive zu sehen und ein Stück weit gegen den Strich bisheriger Forschungsparadigmata zu bürsten. Das bedeutet, unser Verständnis von kulturellen Merkmalen der Epoche mit begrifflichen und theoretischen Instrumentarien zu überprüfen, die bislang verhältnismäßig zurückhaltend und eher auf die Moderne angewandt wurden. Zudem lässt sich ein mehrschichtiger, nicht auf Wettbewerb und Rivalität fixierter und damit auch weniger an die Moderne gebundener Konkurrenzbegriff auf sehr unterschiedliche Untersuchungsgegenstände anwenden, womit in diesem Band eine große thematische Breite geboten werden kann. Weiterhin lädt die Beschäftigung mit Konkurrenz zu epochenübergreifenden Fragestellungen und auch zur Beschäftigung mit längerfristigem historischem Wandel jenseits von etablierten Epochengrenzen ein. Im Folgenden soll zunächst der Begriff „Konkurrenz“ diskutiert werden, und zwar aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: einerseits begriffsgeschichtlich und andererseits im Hinblick auf die Nutzung als analytischer Terminus. Anschließend sollen Handlungsfelder identifiziert werden, auf denen in der Frühen Neuzeit auf unterschiedliche Weise konkurriert wurde oder Konkurrenzen eingehegt oder unterbunden wurden. Abschließend ist zu fragen, ob sich Phasen und Konjunkturen bestimmter Konkurrenzen bzw. der Konkurrenzkultur insgesamt identifizieren lassen.

Begriffsgeschichte, Definitionen und Konzepte Die Differenz zwischen den Vorstellungen und der Wahrnehmung von Konkurrenz in der Frühen Neuzeit und in der Gegenwart erfordert Sorgfalt im Umgang mit dem Begriff. Das gilt umso mehr, als seine alltagssprachliche Verwendung stark von den Verhältnissen des modernen wirtschaftlichen Wettbewerbs geprägt ist. Die ökonomische Konnotation ist für die Antike – etwa in Form des lateinischen concurrere – nicht belegt, doch wird der Begriff in Zusammenhang mit sportlichem Wettkampf verwendet.7 Seine Hauptbedeutung war aber das Zusammenkommen bzw. gemeinsame Einfinden an einem Ort, oder, als härtere Bedeutungsvariante,

6 Zum Begriff „Konkurrenzkultur“: Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 38. 7 Renate Prochno: Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Berlin 2006, S. 5.

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das Zusammenstoßen. Es lässt sich somit schon in der frühen Geschichte des Begriffs sowohl eine Kooperation als auch eine Konflikt ausdrückende Bedeutung nachweisen. Erstere ist für lange Zeit die dominante Bedeutung des Wortes geblieben, drückte es doch beispielsweise im Römischen Recht die Übereinstimmung von Rechtspositionen aus. In der spanischen Rechtsschule von Salamanca ist für das 16. Jahrhundert auch bereits die ökonomische Begriffsverwendung im Sinne des Zustandekommens von Preisen aus dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage nachgewiesen, allerdings nicht im Sinne einer abstrakten ökonomischen Theorie, sondern als Geschehen auf dem Marktplatz.8 In der Frühen Neuzeit ist die Nutzung des Begriffs in verschiedenen europäischen Nationalsprachen belegt. Bis in das frühe 18. Jahrhundert hielt sich im Deutschen, Englischen und Französischen (concurrence bzw. concurrenz) die Ambivalenz des Begriffs im Sinne von einerseits Zusammenkommen, Übereinstimmung, Mitlaufen und Beitragen, andererseits konnte der Begriff auch rivalisierende Ansprüche auf das gleiche Objekt bezeichnen.9 Mit der Bezeichnung concorrentia bzw. concorrenza für die norditalienischen Pferderennen ist zudem wieder die Bedeutungsvariante des sportlichen Wettbewerbs zu finden.10 Begriffsgeschichtlich stellt in den meisten europäischen Sprachen die Sattelzeit auch für „Konkurrenz“ einen Wendepunkt dar. Zum einen lässt sich der Begriff, der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nur verstreut auftaucht, nun deutlich häufiger nachweisen und wird zum anderen zunehmend als Bezeichnung für Wettbewerb, vor allem auf dem Feld der Wirtschaft, genutzt, während die Bedeutungsebene der Kooperation zunehmend außer Gebrauch geriet.11 Eine Ausnahme stellt das Englische dar, wo bis heute concurrence zumeist im kooperativen Sinn verwendet wird, während die ökonomische und die agonale Bedeutungsebene, etwa bereits bei Adam Smith, durch competition ausgedrückt wird.12 Die Verengung des modernen Begriffsverständnisses auf Wettbewerb tangiert auch die Verwendung von „Konkurrenz“ als analytischem Begriff. In den Wirtschaftswissenschaften kommen zwei grundlegende Konzepte von Konkurrenz zur Anwendung. Zum einen wird Wettbewerb als Mittel zur Herstellung eines wirtschaftlichen Gleichgewichts angesehen, mündet also in einen Zustand dauerhafter

8 Hans-Michael Empell: Vom Recht zur Ökonomie. „Konkurrenz“ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten. In: Kirchhoff (Hg.), Konkurrenz, S. 37–62. 9 Empell, Vom Recht zur Ökonomie; Prochno, Konkurrenz, S. 5. Vgl. auch die Beiträge von Elisabeth Natour (Sektion 14), Julia A. Schmidt-Funke (Sektion 11) und Yves Huybrechts (Sektion 12) in diesem Band. 10 Vgl. den Beitrag von Christian Jaser (Sektion 3) in diesem Band. 11 Empell, Vom Recht zur Ökonomie. 12 Christiane Eisenberg: Auktionen und die Erfahrung der Konkurrenz als Marktmechanismus. Betrachtungen zur britischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 229–260, hier S. 232.

Einleitung

Systemstabilität. Zum anderen gilt Konkurrenz als Triebkraft eines dynamischen Prozesses, der neue Produkte hervorbringt und Märkte eröffnet.13 Es fällt allerdings auf, dass keine der in diesem Band publizierten Sektionen den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Konkurrenzkonzepten folgt, sondern sich – im Einklang mit der jüngeren kulturgeschichtlichen Forschung – mehrheitlich auf soziologische Ansätze bezieht. Das interdisziplinäre DFG-Netzwerk „Das Versprechen der Märkte“, das in Rostock in einer Sektion präsentiert wurde, geht bezüglich seines Konkurrenzverständnisses multiperspektivisch vor und vermeidet eine Verengung des Begriffs auf die moderne, wettbewerbsorientierte Konnotation – die Konkurrenz der Forschungsansätze im Rahmen der verschiedenen beteiligten Forschungsrichtungen und -disziplinen des Netzwerks wird somit gewissermaßen im vormodernen Sinn verstanden, als produktives Austauschen, Vergleichen und Zusammenkommen.14 Auch wenn die Ansätze der Soziologie zur Konkurrenz teilweise erst mit erheblicher Verzögerung rezipiert wurden, gehen aus ihr doch Anregungen und Begriffsdefinitionen hervor, die in den letzten Jahren über das Fach hinaus die Beachtung der kulturwissenschaftlichen und darunter auch historischen Forschung gefunden haben und die mehrere Sektionen dieses Bands aufgegriffen haben.15 Während die machttheoretisch inspirierte Definition von Max Weber, der zufolge Konkurrenz als friedliche Form des Kampfes um „eigene Verfügungsgewalt über Chancen, die auch andere begehren,“ nur wenig diskutiert wurde,16 sieht es mit der „Soziologie der Konkurrenz“ von Georg Simmel mittlerweile deutlich anders aus.17 Simmel betrachtet Konkurrenz als einen Motor der Entwicklung in der modernen Gesellschaft und als vergesellschaftende Kraft. Er definiert sie als indirekten Kampf zwischen zwei Parteien um einen Preis, der ein knappes Gut darstellt. Über den Erfolg dieses Ringens entscheide in der Regel eine dritte Person oder Gruppe bzw. Instanz, der Schiedsrichter, wobei es sich bei diesem auch um ein größeres Publikum handeln kann. Konkurrenz ist insoweit einerseits agonal und produziert Gewinner und Verlierer, sie entfaltet aber andererseits eine erhebliche

13 Diese Einteilung nach Mark Blaug: Competition as an End-State and Competition as a Process (Discussion Papers in Economics, Bd. 95/16). Exeter 1995. 14 Zu diesem Projekt siehe seine Homepage, URL: http://versprechen-der-maerkte.de (11.03.2022), zum Rostocker Tagungsprogramm und Tagungsbericht die Homepage der AG Frühe Neuzeit im Historikerverband: URL: https://www.historikerverband.de//arbeitsgruppen/ag-fruehe-neuzeit/ arbeitstreffen/tagungen-seit-1995.html (11.03.2022). 15 Vgl. vor allem den Sammelband Katrin Bürkert u. a. (Hg): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kulturund sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019. 16 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Köln 1964, S. 27. Zum Rezeptionsdefizit Jessen, Konkurrenz, S. 12. 17 Georg Simmel: Soziologie der Konkurrenz (1903). In: Rüdiger Kramme u. a. (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. I, Frankfurt am Main 1995, S. 221–246.

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integrative Wirkung, und zwar sowohl innerhalb der konkurrierenden Gruppen als auch, indem sie diese an den Schiedsrichter bindet. Konkurrenz setze zumeist in wertsteigernder Weise produktive Kräfte frei, bedürfe aber auch der Einhegung, nicht zuletzt durch die vom Schiedsrichter gesetzten Regeln.18 Die von Simmel herausgestellte Bedeutung des Dritten hat in der jüngeren Konkurrenzsoziologie Aufmerksamkeit gefunden, namentlich bei Tobias Werron, der begrifflich allerdings etwas andere Wege geht, indem er Konkurrenz als rein dyadisches Verhältnis begreift, während er bei Vorhandensein eines Publikums oder eines Schiedsrichters von Wettbewerb spricht.19 Trotz des Zuschnitts von Simmels und Werrons Konkurrenzverständnis auf die Moderne sind ihre Ansätze doch auch erkenntnisfördernd für die Erforschung vormoderner Gesellschaften. Dies betrifft beispielsweise die normative Rahmung von Konkurrenz (oder, im Sinne Werrons, Wettbewerb), in der nach Simmel der Schiedsrichter eine entscheidende Rolle spielt. Auch wenn die normsetzende Instanz sich nicht immer ohne Weiteres ermitteln lässt, ist es doch von entscheidender Bedeutung für ein auf die Frühe Neuzeit gerichtetes Konkurrenzverständnis, dass Konkurrenz stets in soziale und kulturelle Strukturen eingebettet ist, die historisch veränderlich sind, und dass Konkurrenz als soziales Handeln begriffen werden kann. Für den wirtschaftlichen Wettbewerb haben dies die Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi und Marc Granovetter betont und für diese kulturellen Rahmungen des Wettbewerbsgeschehens den Begriff „Embeddedness“ geprägt. Polanyi argumentiert, dass diese Einbettung in religiöse, politische und soziale Strukturen Märkte in traditionalen Gesellschaften von solchen der Moderne unterscheide, Granovetter hingegen betont, dass die Embeddedness auch für moderne Marktstrukturen gelte, wenn auch in anderer Weise als für die der Vormoderne.20 Derartige Ansätze weisen eine hohe Anschlussfähigkeit in die Kulturgeschichte auf, die in praxeologischer Perspektive „Konkurrenzkulturen“ untersucht, und zwar durch die Analyse der konkreten Wettbewerbspraktiken, verbunden mit der Frage nach der Geltung und Akzeptanz von Regeln, die aus der jeweils geltenden Normen- und Werteordnung stammen, sowie nach Wahrnehmungsmustern der Akteure und nach

18 Simmel, Soziologie. Kurze Zusammenfassungen siehe bei Peter Imbusch: Konkurrenz – Ordnungsprinzip zwischen Integration und Desintegration. In: Kirchhoff (Hg.), Konkurrenz, S. 215–239, hier S. 220; Hölkeskamp: Konkurrenz, S. 34 f.; zur integrativen Wirkung siehe auch den Beitrag von Thomas Bauer (Keynote) in diesem Band. 19 Tobias Werron: Konkurrenz. In: Jessen (Hg.): Konkurrenz, S. 59–93. 20 Marc Granovetter: Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness. In: American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481–510; Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main 4 1997; Ders.: The Economy as Instituted Process. In: Edward E. LeClair / Harold K. Schneider (Hg.): Economic Anthropology. Readings in Theory and Analysis. New York 1968, S. 122–142.

Einleitung

Institutionalisierungen und Organisationsformen von Konkurrenz. Bezieht man die Begriffsgeschichte mit ein, stellt die offene Semantik des Worts „Konkurrenz“, die sowohl Rivalität und Agonalität als auch Neben- und Miteinander abdeckt, einen entscheidenden methodischen Vorteil dar.21 Denn ein solches Begriffsverständnis ist besonders geeignet, als begriffliches Instrumentarium für eine Kultur zu dienen, die Harmonie und Stabilität postuliert, in der aber mehr oder weniger verdeckt um Ressourcen und gesellschaftliche Positionen gerungen wird.22 Diese Ambivalenz unterscheidet den Begriff von anderen, verwandten Bezeichnungen wie etwa Kampf und Rivalität, die auf offene oder latente Agonalität fixiert sind, oder Kooperation und Koexistenz, bei denen diese Bedeutungsebene fehlt.23

Konkurrenzräume Jeweils bestimmte Formen von Konkurrenz, bestimmte Ressourcen, um die konkurriert wurde, und Akteure, die an der Konkurrenz beteiligt waren, kennzeichnen unterschiedliche Handlungsfelder von Konkurrenz, oder, wie Marian Nebelin formuliert, „Konkurrenzräume“.24 Die eingangs vorgestellten Rang- und Statuskonflikte können als ein solcher Konkurrenzraum angesehen werden. Bemerkenswert ist, dass das Ringen um die Gewinnung des symbolischen Kapitals statusgebundener Ehre in der Frühen Neuzeit keineswegs nur auf die soziale Ordnung beschränkt war, sondern vor allem im 16. und 17. Jahrhundert auch das Feld der Politik, und zwar insbesondere das der Außenbeziehungen prägte. Rangkonkurrenz zwischen Dynastien, von Auseinandersetzungen um die Besetzung der Spitze der Fürstenpyramide bis hin zur Konkurrenz zwischen verschiedenen Linien eines Fürstenhauses, war ein sehr auffälliges Phänomen in der Fürstengesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts, das mittlerweile gut erforscht ist. Das Feld wurde vor allem deshalb von so starken, konfliktfördernden Dynamiken dominiert, weil einerseits die Frage, wer in der pyramidenförmig gedachten Ordnung die Schiedsrichterrolle des über den anderen Fürsten stehenden arbiter ausfüllen sollte, trotz verschiedener Anläufe keine

21 Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 38 und der Beitrag von Christina Brauner und Alexander Engel (Sektion 1) in diesem Band. 22 Vgl. entsprechende Überlegungen in den Beiträgen von Stefanie Freyer (Sektion 5) und Elisabeth Natour (Sektion 14) sowie den Kommentar von Michael Rohrschneider (Sektion 12) in diesem Band. 23 Zu „Kooperation“ vgl. Kärin Nickelsen: Kooperation und Konkurrenz in den Naturwissenschaften. In: Jessen (Hg.): Konkurrenz, S. 353–379. 24 Marian Nebelin: Aristokratische Konkurrenz in der römischen Republik. Möglichkeitsraum – Soziale Schließung – Transformation. In: Jessen (Hg.): Konkurrenz, S. 141–174.

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Klärung fand. Andererseits standen verschiedene Rangkriterien in Konkurrenz zueinander und verunmöglichten Versuche, über das diplomatische Zeremoniell eine dauerhafte und ansatzweise konzise Rangpyramide zu erstellen. Die agonale Logik von Rangstreitigkeiten im Raum des diplomatischen Zeremoniells folgte Mustern, die denen sozialer Ehrkonflikte in der Anwesenheitsgesellschaft vergleichbar sind.25 Sie veranlasste fürstliche Akteure, in erheblichem Maße in Statusrepräsentation zu investieren, bis hin zum Einsatz von kostbaren Renn- und Jagdtieren als „fürstliche Profilierungsmaschinen“ oder zur kostspieligen Ausstattung von militärisch nutzlosen, aber für repräsentative Zwecke einsetzbaren „Kriegs“-Schiffen.26 Auffallend ist, dass die Handlungsfelder des Sozialen und des Politischen keine getrennten, sondern stark überlappende Konkurrenzräume bildeten. Weiterhin ist, wie Michael Rohrschneider betont, die ambivalente Konnotation von Konkurrenz besonders geeignet, die für soziopolitische Beziehungen typische Verschränkung von Kooperation und Konflikt zu bezeichnen, wie sie beispielsweise auch für Ständeversammlungen charakteristisch war.27 Zu ähnlichen Schlüssen kommen auch die Beiträge zur Diplomatieforschung in diesem Band.28 Kooperation und Konkurrenz prägten einen weiteren in diesem Band mit einer Sektion vertretenen Konkurrenzraum, den des Fernhandels.29 Damit Fernhandelsbeziehungen überhaupt funktionieren konnten und über große Entfernungen Vertrauen aufgebaut werden konnte, war eine gemeinsame kulturelle Basis im Sinne eines von allen Beteiligten geteilten Verständnisses von Standards kaufmännischen Verhaltens vonnöten. In Handelsnetzwerken entfaltete sich die vergesellschaftende Kraft von Konkurrenz in besonderer Weise, konkurrierten doch Netzwerke von Kaufleuten, die durch vertrauensbildende Reziprozitätsbeziehungen zusammengehalten wurden, miteinander. Und auch zwischen eingefleischten Konkurrenten kam es zu Kooperationen, wenn es darum ging, neu auftretende Akteure auf diesem Feld der Konkurrenz abzuwehren. Die Beiträge der Sektion zeichnen ein Bild des Fernhandels in actu, das als spannungsreiches und dynamisches Spannungsgefüge eines Mit-, Neben- und Gegeneinanders beschrieben werden kann. Entscheidender

25 Franz Bosbach: Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988; André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz u. a. (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32; Julia Zunckel: Rangordnungen der Orthodoxie? Päpstlicher Suprematieanspruch und Wertewandel im Spiegel der Präzedenzkonflikte am heiligen römischen Hof in post-tridentinischer Zeit. In: Günther Wassilowsky / Hubert Wolf (Hg.): Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom. Münster 2005, S. 101–128. 26 Sektionen 2 und 3 in diesem Band. Die Bezeichnung „fürstliche Profilierungsmaschinen“ ist aus dem Beitrag von Maike Schmidt aus zweitgenannter Sektion. 27 Siehe den Kommentar von Michael Rohrschneider (Sektion 12) in diesem Band. 28 Sektionen 5 und 12 in diesem Band. 29 Sektion 8 in diesem Band.

Einleitung

Unterschied zur Moderne ist, dass die diskursive Glorifizierung von ökonomischem Wettbewerb als Triebfeder gesellschaftlichen Wandels weitgehend fehlt. Das bedeutet nicht, dass Konkurrenz kein Faktor des Wandels war, zeigt aber, dass selbst im ökonomischen Konkurrenzraum Wettbewerb in der Frühen Neuzeit keinen Wert an sich hatte. Einen in konkurrenzgeschichtlicher Hinsicht besonderen Fall stellt die res publica literaria dar. Dort stießen zwei Ordnungsprinzipien aufeinander. Der geforderten Gleichheit unter den Gelehrten stand die für die Ständegesellschaft konstitutive Bedeutung von Rang und Reputation gegenüber. Auch in der gelehrten Praxis koexistierten intensiver Austausch und gemeinsame Arbeit an den Zielen der Gelehrtenrepublik mit dem mitunter eher agonalen Wettlauf um Entdeckungen oder die Entzifferung alter Schriftsprachen. Dem Tausch von Ressourcen wie Büchern, Artefakten und Naturobjekten stand die Konkurrenz um den Erwerb dieser knappen Güter gegenüber.30 Auch dieser frühneuzeitliche Konkurrenzraum zeichnete sich mithin durch eine erhebliche Ambiguität zwischen Kooperation und Wettstreit sowie durch einen Konflikt zwischen unterschiedlichen Normen aus. Ein der res publica literaria nahestehender Konkurrenzraum, der bereits in der Frühen Neuzeit über eigene, feldspezifische Begrifflichkeiten für Konkurrenz verfügte und in dem unter bestimmten Bedingungen Wettbewerb und Rivalität auch offen und normenkonform ausgetragen werden konnten, ist die Kunst. Zum einen wurde, insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert, ein Wettstreit der Kunstformen ausgefochten, bei der es um die Frage ihres Rangverhältnisses ging. Zum anderen war die kompetitive Nachahmung, die aemulatio, ein seit der Renaissance verbreitetes ästhetisches Konzept. Nachgeahmt wurde die Antike, und zwar keineswegs nur im Sinne des Nacheiferns, sondern auch der Überbietung. Außerdem galt aemulatio als ein Konzept der Schulung und Steigerung der individuellen künstlerischen Fähigkeiten. Ob das Übertreffen der Antike in künstlerischer Hinsicht allerdings überhaupt möglich war, blieb umstritten. Dieser Streit fand im späten 17. und 18. Jahrhundert in der querelle des Anciens et des Modernes seinen Höhepunkt, ohne dass ein Sieger aus ihm hervorging. Gleichwohl ist festzuhalten, dass auf dem Feld der Kunst die innovative Wirkung von Konkurrenz und Wettbewerb offen diskutiert wurde.31 Aemulatio findet sich im Übrigen auch auf dem Feld des Religiösen, wenn Missionen sich gegenseitig beobachteten und Methoden des

30 Beiträge in der Sektion 11 in diesem Band. Vgl. auch Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; Anne Goldgar: Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters, 1680–1750. New Haven / London 1995. 31 Beitrag von Julia A. Schmidt-Funke (Sektion 11) in diesem Band; vgl. außerdem Prochno, Konkurrenz, S. 1 f., 6 und 25.

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konfessionellen Gegners oder eines konkurrierenden Ordens zum Zwecke eines besseren Bekehrungserfolgs übernahmen.32 Ein besonders anregender Ansatz ist die Inanspruchnahme des Konkurrenzbegriffs für die jüngere kulturhistorische Forschung zu Entscheidungen.33 Auf diesem Feld wurden Wettbewerb und Streit zumeist weniger offen ausgetragen als in der Kunst, denn vor allem politische Entscheidungen bildeten in der Frühen Neuzeit einen besonders heiklen Konkurrenzraum. Entscheiden ist per se mit Konkurrenz verbunden, denn es besteht, wie Philipp Hoffmann-Rehnitz in diesem Band betont, im Herstellen und Kommunizieren von konkurrierenden Entscheidungsoptionen, die in das Festlegen auf eine Position münden. Das ist nicht nur deshalb riskant, weil im Moment der Entscheidung ihre Folgen noch nicht bekannt sind, sondern vor allem auch, weil Positionen obsiegen oder verworfen werden. Die Entscheidung produziert folglich Sieger und Verlierer, was in einer politischen Kultur, die nicht auf den Streit um Handlungsoptionen, sondern auf Grundwerte wie Eintracht und Harmonie ausgerichtet ist, eine erhebliche Zumutung darstellt, zumal eine offen erkennbare Niederlage für den Betroffenen mit einem Ehrverlust verbunden ist. Um diese Zumutungen zu bewältigen, wurde offene Entscheidungskonkurrenz zumeist eher auf der Hinterbühne ausgetragen.34 Auch Disputationen über Glaubenswahrheiten waren als entscheidungsoffene Podien kaum erträglich; Konkurrieren und Entscheiden dürfte auf diesen Bühnen fast immer sorgfältig inszeniert und vorbestimmt gewesen sein.35 Das war allerdings bei Wahlen, einem in diesem Band nicht mit einer eigenen Sektion vertretenen Konkurrenzraum, oft nur eingeschränkt möglich. Wahlen erwiesen sich damit als regelrechte Stresstests für die politische Kultur. Das zeigt sich in besonders spektakulärer Weise in den römischen Konklaven, in denen die Kardinäle massiven, konkurrierenden Beeinflussungsversuchen von verschiedenen Seiten ausgesetzt waren, und zwar vor allem durch Nepoten verstorbener

32 Beiträge der Sektion 4 in diesem Band. Zur „produktive[n] Wirkung konfessioneller Konkurrenz“ siehe neuerdings Tobias Dienst: Konfessionelle Konkurrenz. Gelehrte Kontroversen an den Universitäten Heidelberg und Mainz (1583–1622). Tübingen 2022. 33 Zur jüngeren Forschung zu Entscheidungen in der Frühen Neuzeit: Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281; Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2018; Barbara Stollberg-Rilinger: Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln u. a. 2015, S. 630–634; Barbara Stollberg-Rilinger / André Krischer (Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010. Der Ansatz ist in diesem Band durch die Sektion 15 vertreten. 34 Stollberg-Rilinger, Praktiken. Vgl. auch den Beitrag von Philipp Hoffmann-Rehnitz (Sektion 15) in diesem Band. 35 Beitrag von Philipp Hoffmann-Rehnitz (Sektion 15) in diesem Band.

Einleitung

Päpste und auswärtige Fürsten. Die mit klientelärer Treue, Dankbarkeit für Patronageleistungen, vasallischen Verpflichtungen oder landsmannschaftlichen Bindungen begründeten Erwartungen an die Papstwähler konkurrierten auf normativer Ebene mit dem Ideal der reinen Gewissensentscheidung zum Wohl der Kirche. Diese Mehr–ebenenkonkurrenz produzierte letztlich erhöhte Ungewissheit und führte dazu, dass etwa Gesandte auswärtiger Fürsten kurz vor der Wahl eher auf Bestechungsgelder denn auf die Treue ihrer Vasallen und Klienten im Kardinalskollegium setzten. Die Reformfaktion an der Kurie vermochte schließlich in den 1620er Jahren das Prinzip der geheimen Abstimmung durchzusetzen und so auf lange Sicht in der Konkurrenz zwischen den der Wahl zugrunde liegenden Normen das Prinzip des Gewissens zu stärken, weil die Stimmabgabe der Wähler nicht mehr kontrolliert werden konnte.36 Eleganter wurden im frühneuzeitlichen Venedig die Kontingenzen des Wahlaktes für die Ämter der Serenissima eingehegt; dort wurde das komplizierte Wahlprozedere in mehreren Durchläufen diskret so gestaltet bzw. manipuliert, dass letztlich einerseits etablierte Kandidaten auf die angestrebten Positionen gelangten, andererseits aber immer auch einige Nachrücker aufsteigen konnten. Auf diese Weise wurde die Stabilität des Gemeinwesens um den Preis eines erheblichen Quantums an organisierter Heuchelei gewahrt.37 Deutlich wird an diesen Beispielen, dass die Kontingenz bei Entscheidungen in der Frühen Neuzeit der Einhegung bedurfte, weil dem Wert der freien Wahlentscheidung das Ideal der Stabilität und des Konsenses entgegenstanden. Versuche, Konkurrenzen zu begrenzen, finden sich auf einer Reihe von Feldern, die in diesem Band behandelt werden. Die dynamisierende Kraft von Konkurrenz wurde damit oft eingeschränkt, aber relativ selten vollständig unterbunden. Oft wurde eine „Rhetorik der Kooperation bei einer Tiefenstruktur der Konkurrenz“ eingesetzt, die dann eine integrierende Wirkung entfaltete.38 Das gilt etwa für die Verhandlungen am Immerwährenden Reichstag in Regensburg, wo kontinuierlich die Notwendigkeit bestand, Partikularinteressen in einen Konsens aufgehen zu lassen.39 Die Kontingenz der Entscheidungen von Gerichten wurde durch rituelle

36 Hillard von Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2021, S. 198 f.; Maria Antonietta Visceglia: Factions in the Sacred College in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Gianvittorio Signorotto / Dies. (Hg.): Court and Politics in Papal Rome, 1492–1700. Cambridge 2002, S. 99–131; Günther Wassilowsky: Die Konklavereform Gregors XV. (1621/22). Wertekonflikte, symbolische Inszenierung und Verfahrenswandel im posttridentinischen Papsttum. Stuttgart 2010. 37 Alexander Nützenadel: „Serenissima corrupta“. Geld, Politik und Klientelismus in der späten venezianischen Adelsrepublik. In: Jens Ivo Engels u. a. (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. München 2009, S. 121–139. 38 Kommentar von Martin Mulsow (Sektion 11) in diesem Band. 39 Vgl. die Einleitung von Stefanie Freyer (Sektion 5) in diesem Band.

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Elemente und formelle Regeln abgemildert.40 Und auch Zünfte können als institutionalisiertes Mittel verstanden werden, innovative Handwerker zum Zweck der Begrenzung von Konkurrenz zu integrieren – dies auch schon im späten Mittelalter.41 Mitunter blieben Entscheidungen zur Beendigung von Konkurrenzsituationen auch schlicht aus oder zogen sich in die Länge, denn nicht selten waren die Zuständigkeiten und Regeln für die Organisation oder Begrenzung von Konkurrenz selbst Gegenstand von Konkurrenz – das gilt etwa für Herrschafts- und Gerichtsrechte und institutionelle Kompetenzen; wer als Simmels dritte Partei auftrat, war nicht selten ungeklärt bzw. erhoben verschiedene Akteure Anspruch auf diese Rolle.42 Ressourcenknappheit konnte generell Konkurrenz massiv verschärfen. Dies betraf beispielsweise Zuwanderung, die Obrigkeiten unter erheblichen Handlungsdruck setzen konnte. Diese schlugen mitunter, wie die Sektion zu Migration in diesem Band zeigt, den Weg ein, Zugewanderte durch soziale und politische Integration an den Pflichten für das Gemeinwohl zu beteiligen; auch dieses Vorgehen stellt einen Versuch dar, offene Konkurrenz so weit als möglich zu begrenzen.43

Konkurrenz als Epochenmerkmal? Konkurrenzen bei Wahlen bestanden, wie dargelegt, nicht nur auf der Ebene der Rivalität der Kandidaten und verschiedener pressure groups, welche den Ausgang zu beeinflussen suchten, sondern auch in der Gleichzeitigkeit verschiedener normativer Prinzipien, die der Wahlentscheidung zugrunde liegen sollten. Das Beispiel des Konklaves illustriert damit, dass der Begriff der Konkurrenz auch auf einer abstrakteren Ebene anwendbar ist, und zwar auf dem Feld der Normen und Werte. Der Verfasser vertritt die These, dass die europäische Frühe Neuzeit insgesamt in besonderer Weise von „Normenkonkurrenz“ geprägt gewesen sei.44 Damit ist – unter Rückgriff auf die ganze Bandbreite der Konnotationen des Konkurrenzbegriffs – eine Konstellation gemeint, in der verschiedene Normensysteme dadurch in Konkurrenz zueinander gerieten, dass sie in bestimmten Handlungssituationen gleichermaßen gültig waren, mitunter aber einander widersprechende Handlungspfade nahelegten. Normenkonkurrenz an sich dürfte als Konstante in menschlichen Gesellschaften bereits ab einem sehr geringen Differenzierungsgrad zu werten sein.

40 Beiträge von Alexander Georg Durben, Philipp Hoffmann-Rehnitz und Maria Weber (alle Sektion 15) in diesem Band. 41 Beitrag von Sabine von Heusinger (Sektion 13) in diesem Band. 42 Beiträge von Hanna Sonkajärvi und Martin Biersack sowie Kommentar von Christian Büschges (alle Sektion 7) in diesem Band. 43 Beitrag von Anke Fischer-Kattner (Sektion 7) in diesem Band. 44 Die folgenden Ausführungen nach v. Thiessen, Zeitalter.

Einleitung

Doch im späten Mittelalter und vor allem in der Frühen Neuzeit habe der Normenhorizont insoweit eine charakteristische Ausprägung erfahren, als einerseits Normen unterschiedlicher Provenienz energischer als vorher eingefordert worden seien, andererseits aber die ihnen jeweils zugeordneten Handlungsfelder noch nicht voneinander abgegrenzt gewesen seien und daher weite Überlappungen aufgewiesen hätten. Dabei wird zwischen drei Normensystemen unterschieden, und zwar dem religiösen, dem gemeinwohlorientierten und dem sozialen. Religiöse Normen hätten vor allem infolge konkretisierter Jenseitserwartungen, der Reformation und der Konfessionalisierung deutlich an Relevanz gewonnen, gemeinwohlorientierte Handlungserwartungen infolge der Staatsbildung und soziale Normen aufgrund von Hierarchisierungstendenzen und sozialen Differenzierungsprozessen in frühneuzeitlichen Gesellschaften, welche vor allem die Wahrung und Verteidigung der standesgebundenen Ehre notwendig machten. Akteure standen demnach – wie etwa die Kardinäle im Konklave – in vielen Situationen vor der Notwendigkeit, sich in ihren Handlungen zwischen Normensystemen zu entscheiden bzw. zwischen ihnen zu lavieren. Die verschärften Handlungsanforderungen führten demzufolge nicht zu der von einer älteren Forschungstradition postulierten Sozialdisziplinierung45 , sondern generierten vielmehr kulturelle Ambiguität, die sich vor allem in einer Mentalität der Kasuistik ausdrückte; man kann demnach, in Anlehnung an Thomas Bauers „Kultur der Ambiguität“, von einem „Zeitalter der Ambiguität“ sprechen.46 Erst der Rückgang der Selbstverständlichkeit des christlichen Bekenntnisses und der damit zusammenhängenden Jenseitsvorstellungen sowie die Erfahrung wachsender wirtschaftlicher und sozialer Dynamik habe die relative, wenn auch stets prekäre Balance der Normensysteme im 18. Jahrhundert aufgelöst. Das optimistische Paradigma von Reform und Fortschritt habe die normativen Horizonte im Übergang zur Moderne fundamental verändert. In diesem Band ist Normenkonkurrenz vor allem in den diplomatiehistorischen Sektionen vertreten, die auf die normativ widersprüchlichen Rollen von Diplomaten fokussieren, sowie in Beiträgen zur Netzwerkforschung.47 Das Konzept der Normenkonkurrenz stellt die klassische Frage der Frühneuzeitforschung nach Epochencharakteristika und Epochengrenzen neu. Während der

45 Zum Sozialdisziplinierungsparadigma zusammenfassend: Ulrich Behrens: „Sozialdisziplinierung“ als Konzept der Frühneuzeitforschung. Genese, Weiterentwicklung und Kritik – eine Zwischenbilanz. In: Historische Mitteilungen 12 (1999), S. 35–68. 46 Thomas Bauer bezieht diesen Begriff auf die Kulturen des klassischen Islam (ca. 900–1500): Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam. Berlin 2011. Vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 47 Sektionen 9 und 12 zur Diplomatiegeschichte sowie Sektion 14 zu konkurrierenden Netzwerken in diesem Band.

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Übergang zur Sattelzeit dabei scharf konturiert wird, ist der Beginn eines Zeitalters, in dem Normenkonkurrenz Ambiguität generierte, schwerer zu fassen. Ein fundamentaler Bruch der Normenordnungen zwischen spätem Mittelalter und der Frühen Neuzeit ist kaum zu erkennen, eher ein Prozess der allmählichen Ausdifferenzierung von Normensystemen. Forschungen zu Konkurrenz sind somit auch geeignet, diachrone Entwicklungen in den Blick zu nehmen und Phasen innerhalb der Epoche zu identifizieren, in denen Konkurrenz auf bestimmten Handlungsfeldern besonders ausgeprägt war. Dabei besteht, wie Christina Brauner und Alexander Engel in diesem Band betonen, weitgehend Einigkeit darüber, dass Konkurrenz zwar eine anthropologische Konstante darstellt, ebenso aber auch, dass Konkurrenz variantenreich ist und historisch starken Veränderungen unterliegt. Letzteres wird bereits seit Längerem von der historischen Forschung für das Feld der Religion bzw. der Konfessionen postuliert. Bereits die Vertreter des Konfessionalisierungsparadigmas haben mit Konkurrenzkonstellationen argumentiert, wenn sie die Rivalität der Konfessionen als Motor für Prozesse der Abgrenzung nach außen und Disziplinierung und Vereinheitlichung nach innen beschrieben, die letztlich zu nicht intendierten Modernisierungseffekten im Bereich der Sozialdisziplinierung und der Staatsbildung geführt hätten. Konkurrenz in agonaler Form, aber binnenkonfessionell mit vergesellschaftender Wirkung galt ihnen als ein Gesellschaften verändernder Motor, der in einer bestimmten historischen Phase – bezeichnet als Zeitalter der Konfessionalisierung – besonders wirkmächtig gewesen sei.48 Die jüngere kulturgeschichtliche Konfessionsforschung hat diese auf Agonalität gerichtete Perspektive weitgehend verlassen und stattdessen ein vielgestaltiges Bild interkonfessioneller Beziehungen zwischen Kooperation, Konflikt und Hybridität gezeichnet, in dem der Identitätsfaktor „Konfession“ in Bezug zu anderen Faktoren gesetzt wird.49 Auch der Begriff der „konfessionellen Ambiguität“ wird diskutiert.50 Damit hat sich die Forschung zu Religiosität und Konfessionen in der Frühneuzeitforschung tendenziell von der agonalen zu einer von Ambiguität gekennzeichneten Sichtweise verschoben, die sich auch in diesem Band spiegelt. Für den Umgang mit protestantischen Predigern an Gesandtschaften in Wien werden kurzfristige

48 Das wesentlich von Wolfgang Reinhard und Heinz Schillling entwickelte Paradigma zusammengefasst in: Stefan Ehrenpreis / Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, S. 62–67. 49 Aus der reichhaltigen Literatur seien zwei Beiträge genannt, die programmatische Perspektiven für die Forschung bieten: Matthias Bähr: Konfession und Differenz in der Frühen Neuzeit: der Fall Irland. In: Archiv für Kulturgeschichte 103 (2021), S. 395–417; Kim Siebenhüner: Glaubenswechsel in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 34 (2007), S. 243–272. 50 Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger: Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2 2015.

Einleitung

Schwankungen zwischen Agonalität und „freundlicher“ Konkurrenz konstatiert, wohingegen die Irenik als Ansatz zur langfristigen Überwindung agonaler Konkurrenz in den Blick genommen wird.51 Zu beachten ist gleichwohl, dass auch die jüngere Forschung auf die Grenzen der Einhegbarkeit und kasuistischen Behandlung konfessioneller Streitfragen hingewiesen hat. Gerade auf dem Höhepunkt des Konfessionellen Zeitalters waren religiöse Wahrheitsfragen kaum verhandelbar und konfessionelle Konkurrenzen hochgradig konfliktträchtig. Das galt umso mehr, wenn Akteure sich mit transzendenten Kräften, etwa der in der Schlacht helfenden Gottesmutter, im Bunde sahen, wie Damien Tricoire ausgeführt hat.52 Mitunter scherten einzelne Akteure auch regelrecht aus dem kasuistischen und von Alltagskompromissen geprägten Milieu ihrer sozialen Umwelt aus und widmeten sich als „normative Übererfüller“ (Gerd Schwerhoff) einem exklusiv religiösen Lebensstil – nicht selten um den Preis, von vielen ihrer Zeitgenossen als Frömmler und Betbrüder bzw. -schwestern belächelt zu werden, sofern sie nicht eine institutionalisierte Rolle in einem religiösen Orden oder in einer sozialen Gruppe von „Erweckten“ wie etwa den Pietisten fanden.53 Die Prekarität der „Konkurrenz wider Willen“ und der von Normenkonkurrenz hervorgerufenen Ambiguität zeigt sich somit in besonders markanter Weise auf dem Feld des Religiösen, wo Agonalität und normative Eindeutigkeit besonders häufig durchbrachen, und – wenn man etwa die Wirkungen des Konfessionskonflikts auf die Mächteordnung oder die vom Pietismus ausgehenden Impulse bedenkt – mitunter stark dynamisierend wirkten. Krieg als Ausdruck und Mittel der Konkurrenz zwischen Dynastien bzw. Mächten spielt in diesem Band eine vergleichsweise geringe Rolle. Das überrascht insoweit, als die Friedlosigkeit bzw. „Bellizität“ der Frühen Neuzeit von Johannes Burkhardt als ein Epochenmerkmal beschrieben worden ist, das er auf verschiedene Konkurrenzkonstellationen – zwischen universellen Herrschaftsansprüchen, Konfessionen und Herrschaftsträgern – zurückführt.54 Auch wenn der Krieg mit verheerenden Wirkungen außer Kontrolle geraten konnte – man denke an den Dreißigjährigen Krieg oder den Bürgerkrieg in Frankreich im späten 16. Jahrhundert – blieb die Vorstellung vom gerechten, entsprechend zu begründenden Krieg eine kulturelle Leitidee, gegen die sich der Anspruch Ludwigs XIV. von Frankreich, allein kraft

51 Siehe die Beiträge von Mona Garloff (Sektion 15) und Stephan Steiner (Sektion 4) in diesem Band. 52 Damien Tricoire: Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen. Göttingen 2013. 53 Gerd Schwerhoff: Transzendenz ohne Gemeinsinn? Ein religiöser „Übererfüller“ im 17. Jahrhundert. In: André Brodocz u. a. (Hg.): Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer. Wiesbaden 2014, S. 45–62. 54 Johannes Burkhardt: Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas. In: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 509–574.

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seiner Stellung als souveräner Herrscher Kriege erklären zu können, ebenso wenig durchzusetzen vermochte wie seine Selbstinszenierung als Mars konsensfähig war.55 Die Globalisierung des Kriegs, die mit dem Spanischen Erbfolgekrieg einsetzte, konfrontierte die europäische Kriegführung gleichwohl in wachsendem Maße mit fremden Vorstellungen und Praktiken bewaffneter Auseinandersetzungen.56 Einen stark verfälschenden Eindruck von Konkurrenzkulturen in Kriegen der Frühen Neuzeit hinterlassen allerdings Computerspiele mit historisierenden Inhalten, in denen, wie Josef Köstlbauer, Eugen Pfister und Tobias Winnerling feststellen, die Frühe Neuzeit oft als Phase vollkommen entfesselter Agonalität und Hyperkonkurrenz politischer bzw. militärischer Mächte dargestellt wird. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Rückprojektion von Konflikten der Moderne bzw. der Gegenwart in eine vermeintlich noch rohere Epoche, die Fragen zu populärem Geschichtsbewusstsein aufkommen lässt.57 Hingegen findet sich der Befund einer Ambivalenz der frühneuzeitlichen Konkurrenzkulturen zwischen – mitunter verdeckter – Agonalität und – mitunter prekärer – Kooperation und Aushandlung in vielen Beiträgen. Konkurrenz, Wettstreit und Agonalität mochten, wie eingangs bemerkt, in der Frühen Neuzeit auf den meisten Handlungsfeldern keine Wertbegriffe sein, sie waren aber häufig anzutreffende, mitunter auf die Hinterbühne verschobene, Handlungsmodi, die unter bestimmten Voraussetzungen gewissermaßen in die Öffentlichkeit durchbrachen; das Ideal von Harmonie und Erhalt der gottgewollten Ordnung blieb insoweit systemisch prekär. Die Konkurrenzkultur wandelte sich im Übergang zur Moderne, wie verschiedene Beiträge dieses Bandes feststellen. Zu diesem Prozess gehört etwa die bereits genannte Abnahme der Relevanz von Rangstreitigkeiten.58 Und die Sattelzeit läutete, wie oben dargelegt, aus der Perspektive des Konzepts der Normenkonkurrenz das Ende des „Zeitalters der Ambiguität“ ein.59 Die damit verbundene schärfere Abgrenzung von Handlungsfeldern führte, wie in diesem Band die Beiträge zu skandinavischen Diplomaten im 18. Jahrhundert konstatieren, zu neuen Rollenkonflikten, die etwa dann auftraten, wenn die vorher kombinierbaren sozialen und politischen Rollenbilder nun zunehmend inkompatibel wurden – die Sphäre 55 Anuschka Tischer: Mars oder Jupiter? Konkurrierende Legitimationsstrategien im Kriegsfall. In: Christoph Kampmann u. a. (Hg.): Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln u. a. 2008, S. 196–211. Zur Austarierung der Rollen Ludwigs XIV. siehe auch den Beitrag von Guido Braun (Sektion 12) in diesem Band. 56 Marian Füssel: Global Wars in the Eighteenth Century. Entanglement – Violence – Perception. In: Matthias Pohlig / Michael Schaich (Hg.): The War of the Spanish Succession. New Perspectives. Oxford 2018, S. 371–394. 57 Siehe den Beitrag von Josef Köstlbauer, Eugen Pfister und Tobias Winnerling (Sektion 6) in diesem Band. 58 Stollberg-Rilinger, Logik, S. 216 f. 59 v. Thiessen, Zeitalter, S. 321–364.

Einleitung

des Privaten trennte sich in verstärkter Weise von öffentlichen bzw. politischen Rollen ab.60 Auch ein Wandel der Entscheidungskultur in der Sattelzeit ist postuliert worden, obwohl umstritten ist, wie grundlegend er tatsächlich war. Ulrich Pfister argumentiert, dass die Erhöhung der Komplexität und Diversität von Entscheidungshorizonten den Wandel vom reaktiven auf das aktive und intendierte Entscheiden befördert habe, zumal die Welt nun als in positivem Sinne gestaltbar galt. In diesem Zusammenhang sei auch über Modi des Entscheidens stärker reflektiert worden und eine spezifische Begrifflichkeit des Entscheidens entstanden, die auf der offenen Konkurrenz zwischen Optionen beruhte.61 Bereits im späten 18. Jahrhundert konkurrierten zudem Staaten auf eine neue, Innovationen und Dynamiken massiv begünstigende Weise. Nun ging es nicht mehr darum, in der Fürstengesellschaft Rangansprüche in Konkurrenz zu anderen durchzusetzen, sondern im Wettlauf der Effizienz von Staatswesen, insbesondere in den Bereichen Militär, Verwaltung und Justiz, mitzuhalten. Im Grunde wurde damit ein neues Feld der aemulatio geschaffen, auf dem Staatswesen sich gegenseitig beobachteten, um Reformen der Gemeinwesen, die einen Vorsprung auf einem der genannten Felder zu bewirken schienen, zu imitieren und so nicht ins Hintertreffen zu geraten oder gar auf lange Sicht andere zu überbieten. Der österreichisch-preußische Dualismus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird in einer Sektion dieses Bandes in dieser Hinsicht neu diskutiert.62 Voraussetzung dieser Form von Überbietungswettbewerb war die zumindest bei einigen Entscheidungsträgern grundsätzlich positive Einstellung zu Wandel, Reformen und Innovation. Auch wenn die Sattelzeit mit Blick auf den Wandel von Konkurrenzen als Zeitraum des Umbruchs bezeichnet werden kann, betonen Christina Brauner, Alexander Engel und André Krischer doch, dass die diametrale Gegenüberstellung von vormodernen „Aushandlungs- und Konsensgesellschaften“ und „modernen Konkurrenz- und Entscheidungsgesellschaften“ überzogen ist und vor allem die mehr oder weniger verborgenen Konkurrenzen der Frühen Neuzeit bzw. Vormoderne übersieht.63 Konkurrenz ist keine Erfindung oder Folge der Moderne, sondern kann bereits in der Vormoderne als dynamisierender Faktor auf verschiedenen Handlungsfeldern angesehen werden, wenn sie auch epochentypische Einhegungen aufwies. Seit der Sattelzeit wurde mit Konkurrenz in anderer Weise verfahren. Sie wurde zunehmend bewusst als ein Mittel der Zukunftsgestaltung eingesetzt, und sie wurde von ethischen und normativen Einschränkungen entlastet. Damit galt – zunächst vor allem auf dem Feld der Wirtschaft – das Handlungsmodell des homo 60 Sektion 9 in diesem Band. 61 Ulrich Pfister: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kulturen, S. 11–34, hier 33 f. 62 Siehe die Beiträge der Sektion 10 in diesem Band zur preußisch-österreichischen Konkurrenz im 18. Jahrhundert. 63 Einleitung von André Krischer zu Sektion 15 in diesem Band.

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oeconomicus als ethisch erlaubt und vernunftmäßig geboten.64 Nicht Konkurrenz an sich war somit im Übergang zur Moderne neu, sondern ihre normative Rehabilitierung und die Assoziation von offener Konkurrenz mit Fortschritt und Dynamik. Die Analyse von Formen, Feldern und Akteuren der Konkurrenz bietet somit einen wichtigen Zugang zur sozialen, religiösen und ökonomischen Kultur der Frühen Neuzeit und im epochenübergreifenden Vergleich. Sie kann als Ausdruck für Einstellungen, Wahrnehmungsweisen und Normenhorizonte gelten und ebenso als Faktor für Wandel wie auch für seine kulturell bedingten Begrenzungen. Es wäre wohl überzogen, frühneuzeitliche Gesellschaften als Konkurrenzgesellschaften zu bezeichnen, doch Konkurrenz als Analyseinstrument dient dem besseren Verständnis einer oft als ambivalent bezeichneten Epoche.

64 Vergleiche den Beitrag von Christina Brauner und Alexander Engel (Sektion 1) sowie die Einleitung von André Krischer (Sektion 15) in diesem Band.

Thomas Bauer

Religiöse und kulturelle Konkurrenzverhältnisse in vormodernen islamischen Gesellschaften

Der 911/1505 in Kairo verstorbene Ǧalāladdīn as-Suyūt.ī hielt sich selbst, wahrscheinlich zu Recht, für den größten Universalgelehrten seiner Zeit.1 Vor allem in der H.adīṯwissenschaft, also jener Disziplin, die sich mit Überlieferung, Inhalt und kritischer Evaluation der Berichte von und über den Propheten beschäftigt, sowie in den Sprachwissenschaften hat er Bedeutendes geleistet, aber auch auf vielen anderen Feldern Spuren hinterlassen – bis hin zu den Erotica. Er war aber auch – und das war nicht untypisch – ein sehr selbstbewusster Gelehrter, der eine Art intellektueller Autobiographie geschrieben hat, in der er vermeldet, in allen Fächern über profundes Wissen zu verfügen, außer in Mathematik und Poesie.2 Teil seiner Selbstdarstellung ist aber auch ein Buch, in dem er Kurzbiographien von bedeutenden Gelehrten seiner Zeit zusammenstellt. Solche biobibliographischen Werke entstanden in beachtlicher Zahl, von Ibn Ḫallikān im 13. bis zu al-Ǧabartī im frühen 19. Jahrhundert, und sind nicht nur eine wichtige Informationsquelle, sondern sollten auch einen Beitrag zur Selbstvergewisserung und Gruppenkonstitution der Gelehrten der jeweiligen Zeit leisten. Die Biographiensammlung as-Suyūt.īs ist mit 200 Einträgen allerdings von sehr bescheidenem Umfang – und das sollte sie auch sein, wie schon der Titel zeigt. Er lautet Naz.m al-‘iqyān fī a‘yān al-a‘yān „Kette aus gediegenem Gold: Über die Elite der Elite“. Auch werden fast nur Gelehrte behandelt, mit denen der Verfasser direkt oder indirekt etwas zu tun hatte. Vor allem aber ist das Büchlein wohl eine Antwort auf ein Monumentalwerk seines Zeitgenossen Šamsaddīn as-Saḫāwī (830–902/1427–1497). Dieser hatte nämlich ein zwölfbändiges Werk mit Tausenden von Biographien verfasst – darunter ein Band nur über Frauen.3 Für heutige Kulturhistoriker ist dieses Werk von unschätzbarem Wert, vor allem auch, weil as-Saḫāwī ein fürchterliches Klatschmaul war und lauter Skandalgeschichten anführt, was man ihm damals allerdings verübelt hat. Dieser

1 Abendvortrag, gehalten am 19. September 2019. Der Vortragscharakter des Texts wurde beibehalten. Arabische Namen werden nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft umschrieben. Datumsangaben erfolgen nach dem Schema Islamisches Jahr / Christliches Jahr. 2 Elizabeth M. Sartain: Jalāl al-dīn al-Suyūtī. Vol. 1: Biography and background. Vol. 2: Kitāb at-tah.d.īṯ bi-ni‘mat Allāh. Cambridge 1975. 3 Šamsaddīn Muh.ammad ibn ‘Abdarrah.mān as-Saḫāwī: ad.-D.awʾ al-lāmi‘ li-ahl al-qarn at-tāsi‘. 12 Bde. Kairo 1934–1936 (den Frauen ist Bd. 12 gewidmet).

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as-Saḫāwī nun bekommt auch einen Eintrag in as-Suyūt.īs „Goldkette“, der in voller Länge lautet: Muh.ammad ibn ‘Abdarrah.mān ibn Muh.ammad ibn Abī Bakr ibn ‘Uṯmān ibn Muh.ammad as-Saḫāwī, Šamsaddīn: H.adīṯgelehrter und ehrabschneiderischer Chronist, wurde 831 [recte: 830] /1427 geboren. Er hörte in jungen Jahren Ibn H.aǧar [al-‘Asqalānī], der bei ihm die Liebe zur H.adīṯwissenschaft weckte, worauf er dessen Seminare (maǧālisahū) besuchte und viele seiner Werke eigenhändig abschrieb. Er hörte sehr viel bei H.adīṯkritikern in Ägypten, Syrien und im H.iǧāz und stellte aus eigenem und fremdem Material Auswahlwerke und H.adīṯedtionen zusammen, und dies alles trotz seiner vielen Grammatikverstöße und seines völligen Mangels an Wissen, weil er ja außer H.adīṯkunde überhaupt nichts anderes konnte. Dann verlegte er sich aber auch noch auf die Geschichtsschreibung und hat damit sein Leben vergeudet. Er hat dabei jedes Maß überschritten, den Leuten die Ehre abgeschnitten und ihnen alle üblen Charaktereigenschaften und Missetaten zugeschrieben, derer man sie verdächtigt hat, egal, ob es stimmte oder nicht, aber er glaubte, das machen zu müssen, es sei so eine Art Kritik wie die H.adīṯkritik (al-ǧarh. wa-t-ta‘dīl), aber das ist nichts als blanke Ignoranz, ein Irrweg und eine gotteslästerliche Verleumdung (iftirāʾ ‘alā llāh).

Nachdem er sich so in Rage geredet hat, fährt as-Suyūt.ī sogar in Reimprosa fort: „Was niemand darf, hat er unternommen, * schwere Schuld zu tragen bekommen!“ Und er schließt: Ich habe ja schon im Vorwort zu vorliegendem Buch auf dergleichen hingewiesen. Ich sage das nur, damit sich niemand von dem, was in as-Saḫāwīs Chronik steht, täuschen lässt, es glaubt und sich dafür interessiert, wie er die Leute und insbesondere die Gelehrten herabsetzt und verächtlich macht! Er starb im Monat Ša‘bān 902/April 1497.4

Soweit as-Suyūt.ī über seinen berühmten Zeitgenossen as-Saḫāwī, und wenn man aus diesen erbosten Worten herausliest, zwischen beiden habe ein Konkurrenzverhältnis bestanden, so hat man das Richtige getroffen. Beide waren in der Tat berühmte und bis heute vielbeachtete Spezialisten auf dem Feld der H.adīṯwissenschaft. Dazu gehört etwa auch as-Saḫāwīs Traktat über Tierrechte und Tierschutz, der heute neue Aktualität bekommen hat und viel gelesen wird.5 Zweifellos war aber as-Suyūt.ī der bedeutendere und vielseitigere Wissenschaftler. Eigentlich hätte

4 Ǧalāladdīn ‘Abdarrah.mān ibn Abī Bakr as-Suyūt.ī: Naz.m al-‘iqyān fī a‘yān al-a‘yān, hg. v. Philipp K. Hitti. Beirut / New York 1927, S. 152–153. 5 Šamsaddīn Muh.ammad ibn ‘Abdarrah.mān as-Saḫāwī: Ǧuzʾ tah.rīr al-ǧawāb ‘an masʾ alat d.arb addawābb, hg. v. Hādī b. H.amad al-Marrī. Beirut 1415/1994.

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er es nicht nötig gehabt, sich mit as-Saḫāwī, der zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts schon tot war, herumzuschlagen. In der Tat ist der Artikel über ihn auch von geradezu beleidigender Kürze und nennt nicht einmal einen einzigen Werktitel des umfangreichen Œuvres as-Saḫāwīs, nicht einmal den Titel des D.awʾ al-lāmi‘, jenes „Geschichtsbuchs“, an dem sich as-Suyūt.īs Ärger entzündet, das er als gravierenden Verstoß gegen die Regeln anständiger Konkurrenz empfunden haben muss, wogegen er sich verwehrt, um Schlimmeres in der Zukunft zu verhindern.6 Die Empörung as-Suyūt.īs über as-Saḫāwīs Verstoß gegen die Spielregeln der Konkurrenz lässt uns erahnen, dass Konkurrenz eine wichtige Rolle einnahm in islamischen Gesellschaften jener Zeit, die Europahistoriker als Hoch- und Spätmittelalter und als Frühe Neuzeit bezeichnen – Epochengrenzen, denen ich ja skeptisch gegenüberstehe, vor allem, wenn man sie auf nichteuropäische Regionen überträgt. Als ich mit dem Begriff eines „islamischen Mittelalters“ ins Gericht gegangen bin, habe ich dem einer „islamischen Neuzeit“ oder „Frühneuzeit“ mehr Gnade widerfahren lassen, doch ist es wohl generell problematisch, einen Begriff der europäischen Geschichte, der sich letztlich doch einer protestantischen teleologischen Fortschrittserzählung verdankt, zu universalisieren.7 Doch nicht von Epochenbegriffen sei hier die Rede, vielmehr ist zunächst ein anderer Fall eurozentrischer Universalisierung anzusprechen, der dazu beigetragen hat, dass man die Rolle der Konkurrenz als gesellschaftsbildenden Faktor in islamischen Gesellschaften lange unterschätzt hat. Es geht um die unhinterfragte Übertragung europäischer Gesellschaftsmodelle auf nichteuropäische Gesellschaften, oft um die Übertragung von Modellen, die aus der Soziologie stammen und deshalb für moderne westliche Gesellschaften geschaffen wurden und nicht ohne Weiteres auf vormoderne außereuropäische Gesellschaften anwendbar sind. Ein typischer Fall ist die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik. Diese Frage ist nicht nur für das Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster naheliegend, sondern hat auch jüngst durch diverse Veröffentlichungen zum Thema „politischer Islam“ wieder neue Aktualität gewonnen. Vor allem führt diese Frage zum Thema „Konkurrenz“, denn zweifellos stellen Religion und Politik vielfach konkurrierende Bereiche dar, und wenn man sie unter diesem Aspekt betrachtet, gelangt man in der Tat zu einem besseren Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen vormoderner islamisch geprägter Gesellschaften und der Rolle, die Konkurrenz dabei spielte. Die Problematik zeigt ein Zitat, das nicht etwa von einem sogenannten „Islamkritiker“ stammt, sondern von dem respektablen Theologen und Islamwissenschaftler

6 Übrigens ist der Artikel über as-Suyūt.ī bei as-Saḫāwī (ad.-D.awʾ al-lāmi‘ 4:65–70) mehr als zehnmal so lang wie as-Suyūt.īs Artikel über as-Saḫāwī. 7 Vgl. Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. München 2 2019.

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Adel Theodor Khoury, in dem aber nichts anderes steht als in zahllosen Aussagen über den Islam von gut- und böswilligen Autoren. Bei ihm heißt es: Der Islam erhebt auch einen Totalitätsanspruch, d. h. er beansprucht, Gottes Recht in allen Bereichen des Lebens durchzusetzen, und zwar im Hinblick auf die einzelnen wie auf die Gemeinschaft und den Staat. So kennt der Islam keine Trennung von Religion und Staat, von Glaubensgemeinschaft und politischer Gesellschaft. Die islamische Gemeinschaft und auch alle Gemeinschaften, die im islamisch regierten Staat leben, stehen unter dem Gesetz Gottes und haben nach seinen Bestimmungen zu handeln. Gottes Recht dient als Richtschnur der politischen Entscheidungen der Regierung, als Grundsatz staatlicher Institutionen und als Maßstab zur Bestätigung der Autorität des Staates oder zur Verurteilung seiner Abweichungen bzw. seiner Willkür. Das Gesetz Gottes, das im Koran grundgelegt ist und in der Sunna seine authentische Interpretation und vorbildliche Anwendung gefunden hat, ist das Grundgesetz des islamischen Staates. Legislative und Regierung haben sich daran zu halten und zu orientieren. Ihre Zuständigkeit und ihre Handlungsmöglichkeit bestehen lediglich darin, Anwendungsgesetze zu verabschieden zur Regelung konkreter Anliegen, und zwar auch nur in den Fällen, für die der Koran und die Sunna nicht bereits konkrete Lösungen festgelegt haben. Desgleichen ist die Rechtsprechung an den Inhalt des Korans und der Sunna gebunden.8

Nun braucht man nicht sehr tief in die Geschichte nahöstlicher Gesellschaften einzudringen, um festzustellen, dass es dergleichen niemals auch nur in Ansätzen gegeben hat. Wie aber kommt es dennoch zu der ad nauseam wiederholten Behauptung, im Islam gebe es keine Trennung zwischen Politik und Religion? Sieht man von offenkundiger polemischer Absicht ab, sind es vor allem drei Fallen, in die man zu tappen scheint: (1) Die erste ist schon der Begriff „islamische Kultur“. Alle anderen Kulturen werden ja nach ihrer geographischen Lage benannt, also indische, europäische, chinesische Kultur. Leider gibt es für den Raum, in dem sich islamisch geprägte Gesellschaften entfaltet haben, keine eingängige geographische Bezeichnung, und so ist die sogenannte islamische Kultur die einzige, die man nach einer Religion benannt hat. Abgesehen davon, dass der Begriff „islamische Kultur“ eine nicht vorhandene Einheitlichkeit suggeriert, legt er auch nahe, dass diese Kultur in besonderem Maße religiös sein muss, jedenfalls religiöser als die anderen. Aber das war sie nicht.

8 Adel Theodor Khoury: Islam, Theokratie und Toleranz. In: Una Sancta 45 (1990), S. 14–19, 38, zit. nach Rüdiger Lohlker: Politischer Islam. Eine historisch-aktuelle Betrachtung eines Nicht-Begriffes. In: Politischer Islam. Versuch einer Definition. IGGÖ Fachtagung. Wien 2019, S. 62–94, hier 65–66.

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(2) Die Vogelperspektive: So wie ein Bussard über einer Wiese kreist, auf der Wildschweine und Füchse, Schmetterlinge und Bienen sind, aber immer nur die Mäuse sieht, so findet auch der Forscher immer zuerst das, wonach er sucht. Und man findet tatsächlich, wenig überraschend, Beispiele für eine Verbindung von Religion und Politik in der islamischen Geschichte: Es gibt Beispiele – wenn auch nur vergleichsweise wenige – für Ketzerprozesse, es gab einen Abbasidenkalifen, der ein Glaubensbekenntnis verfasst hat (das aber außer den H.anbaliten Bagdads niemanden interessiert hat), es gab Sultane, die ihre Legitimation untermauern wollten, indem sie Kampagnen gegen das Laster durchführten und die Weinkneipen schließen ließen – sehr zum Missfallen der Bevölkerung und mit äußerst kurzfristiger Wirksamkeit. Es gab auch, aber eben wieder nur peripher und als Ausnahme, fundamentalistische Regime wie die Almohaden, und natürlich betrieben Herrscher zu allen Zeiten, allen voran die Osmanen, mehr oder weniger erfolgreich Religionspolitik. Aber gerade die Versuche, Religion zum Objekt politischen Handelns zu machen und die wenigen und wenig erfolgreichen Versuche politischer Akteure, selbst als Akteur auf religiösem Feld tätig zu werden, zeigen ja nichts anderes, als dass man beides, religiöses und politisches Handeln, in der Regel verschiedenen Handlungsbereichen zuordnete. (3) Schließlich zum dritten Punkt, nämlich der Übertragung von Begriffen und Konzepten aus der westlichen Geschichte und ihre Essentialisierung: Frühneuzeithistoriker wissen, wie problematisch es ist, den Begriff „Staat“ auf vormoderne Verhältnisse anzuwenden. Mit der Religion ist es vielleicht noch komplizierter. Wir sind heute gewohnt, Religion als klar abgrenzbaren Bereich, als, wie Systemtheoretiker sagen, gesellschaftliches Teilsystem zu sehen, also mit klaren Grenzen nach außen und gut zu beschreibenden Binnenstrukturen und Akteuren, die wissen, wann sie religiös agieren und wann nicht. Eine solche Abgrenzung und Beschreibung des Religiösen kann für die islamische Vormoderne nicht gelingen. Aber wo genau ist sie denn, die Religion im Islam? Wenn sich die Religion im „Islam“ („Islam“ im Sinne von „islamisch geprägten Gesellschaften“) nicht so ohne Weiteres zu erkennen gibt, liegt das keineswegs an einer mangelnden Differenzierung vormoderner islamischer Gesellschaften. Sie sind im Gegenteil hoch arbeitsteilig und relativ deutlich ausdifferenziert, und zwar primär funktional und nicht hierarchisch, weil es ja keinen Adel und keine Stände gibt. Und da es auch keine Kirche und keinen geistlichen Stand gibt, findet sich Religiöses auf verschiedene Bereiche verteilt, was aber nicht zu dem Schluss führen darf, dass diese Gesellschaften prinzipiell besonders religiös seien. Den anderen Bereichen übergeordnet oder diese überall durchdringend, wie gerne behauptet wird, war Religion nämlich nicht. In allen Bereichen, in denen wir auf Religion stoßen, ist auch Nichtreligiöses darinnen und oft dominant. Dies gilt für die Politik, die natürlich religiöse Institutionen unterhält, die jedoch fast immer mit nichtstaatlichen Parallelinstitutionen konkurrieren. Dies gilt sogar für das Rechtswesen, in dem

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zwar Richter staatlich ernannt werden, aber viele zivilrechtliche Angelegenheiten von anders organisierten Institutionen erledigt werden. Der wichtigste Bereich, in dem religiöses Wissen geschaffen wird, ist aber die Gelehrsamkeit. Auch hier treffen wir auf ein wohldefiniertes System mit einer ausgefeilten Binnenstruktur aus Fächern und Unterdisziplinen. Wissenschaftsklassifikation wurde über viele Jahrhunderte hinweg mit beachtlicher Leidenschaft betrieben. Zwar berücksichtigen einige dieser Klassifikationen auch die Frage, ob und inwieweit das jeweilige Fach für die Religionsausübung nützlich ist, aber ein Fach „Religion“ gibt es nicht, auch nichts, was unserer „Theologie“ entspricht. Der kalām, die „spekulative Theologie“, wie es oft übersetzt wird, entspricht nicht unserem Theologiebegriff, sondern beschränkt sich auf die philosophischen und dogmatischen Grundlagen des Islams. Daneben gibt es in den gängigen Fächerkatalogen außer den Koran- und H.adīṯwissenschaften und dem tas.awwuf (der Sufik) keine rein religiöse Disziplin mehr. Andererseits gibt es rein weltliche wie Medizin, Mathematik, Naturwissenschaften, Poetik. Letztere gehört zu den Sprachwissenschaften, die in allen islamisch geprägten Gesellschaften äußerst wichtig waren. Sie gelten zwar als religiös nützlich, weil sie für das Verständnis und die Exegese religiöser Texte unabdingbar sind, folgen aber einer ganz und gar rationalen säkularen Fachlogik. Die Jurisprudenz ist ebenfalls eine gemischte Disziplin. Wenn wir vom „islamischen Recht“ sprechen (ein moderner westlicher Begriff), so deshalb, weil die normativen Grundtexte Koran und Sunna religiös sind und das Recht als Ausdruck einer transzendental begründeten Ordnung verstanden wird. In seiner Arbeit wendet der Rechtsgelehrte aber Methoden an, denen nichts spezifisch Religiöses anhaftet. Vielmehr betreibt er Rechtsauslegung kaum anders als etwa ein Verfassungsrichter heute.9 Wenn wir also von vorgegebenen Entitäten wie „Religion“, „Politik“ und „Recht“ ausgehen, kommen wir zu keiner adäquaten Beschreibung vormoderner islamischer Gesellschaften. Vor allem ist (a) das Feld der Religion ganz anders strukturiert und (b) das Verhältnis zwischen Macht und Justiz ein anderes, weil zwar die wichtigsten Richter vom Sultan bzw. der Hohen Pforte eingesetzt werden, der Sultan aber (ebensowenig wie zuvor der Kalif) die Gesetzgebung nicht allein in seinen Händen hat. Die Rechtsfortbildung erfolgt vielmehr wiederum hauptsächlich durch die Rechtsgelehrten, ist also in den Händen des Bürgertums, auch wenn der Herrscher in vielen Bereichen durch Erlasse und Verordnungen eingreifen kann, was im Laufe der Osmanenzeit immer stärker geschah. Wissenschaft und Bildung wiederum sind ebenfalls weitgehend eine bürgerliche Angelegenheit. Zwar sind viele Madrasas, jene öffentlichen Lehranstalten, die neben Stiftungsprofessur(en) meist auch

9 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011, S. 157–191.

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Bibliotheken unterhielten, von Fürsten und Prinzen gestiftet worden, die dabei aber in diesem Falle als Privatleute handelten. Staatliche Universitäten gab es im arabischen Raum kaum. Zuerst fällt einem die al-Azhar-Universität ein, deren historische Bedeutung heute aber tendenziell überschätzt wird, und zwar gerade, weil sie europäischen Universitäten am meisten ähnelt. Staatliche Diplome, offizielle Titel, ein Promotionsverfahren und dergleichen gab es ebenfalls nicht. Das gesamte Bildungs- und Wissenschaftssystem war darauf angewiesen, sich nach weitgehend informellen Kriterien selbst zu organisieren. Bis auf die öffentlichen Ämter (einschließlich der höheren Richterposten) basierte dieses gesamte System also im Wesentlichen auf der Selbstorganisation des Bürgertums, wobei der Begriff „Bürger“ hier nicht im Sinne von citoyen gebraucht wird, sondern im Sinne des Besitz- und (vor allem) Bildungsbürgertums, das in den Städten den Ton angab und die wesentliche Hoheit über Bildung, Wissenschaft, Recht und Religion ausübte, also über Bereiche, die wir teils der Religion, teils der Kultur, teils auch der Politik zuordnen würden. Dies ist übrigens wohl auch ein Grund dafür, dass islamische Gesellschaften von Heimsuchungen, wie sie in Europa Reformation und Religionskriege darstellten, weitgehend verschont blieben. Wie nun funktionierte diese Selbstorganisation? Nun, sie funktionierte in erster Linie durch Konkurrenz. Diese Konkurrenz fand in einem sehr offenen Feld statt, in dem keine Diplome und Zeugnisse die Zugehörigkeit etwa zum Gelehrtentum oder eine Venia Legendi diejenige zu einem bestimmten Fach bezeugen konnten. Auch das religiöse Feld organisierte sich – und organisiert sich oft noch heute – nach diesem Prinzip. Es gibt etwa keine Āyatollāh-Urkunden. Ein šī‘itischer Gelehrter muss einfach so viel leisten und eine so große Anhängerschaft gewinnen, bis eine ausreichend große Zahl von Menschen ihm diese Autorität zuerkennt, was häufig längere Zeit umstritten bleibt. Offen ist dieses System aber auch nach unten. Gerade jene Gruppe, die ich die „Kleingelehrten“ nenne, spielt in den Städten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Kleingelehrten haben irgendwelche Funktionen in Moscheen, Madrasas und Elementarschulen inne, ohne eine allumfassende Ausbildung genossen zu haben, waren etwa als Hausmeister, Lampenanzünder, Lehrer, Muezzin, Bibliothekar oder Imam tätig und verfügten manchmal immerhin über so viel Bildung, um zumindest in ihren Kreisen als Gelehrte zu gelten. Die Grenzen waren fließend, und die Konkurrenz – um wenigstens partielle Zugehörigkeit zur Gruppe der Gelehrten unten und um die Spitzenplätze an Ruhm und Anerkennung oben – war allgegenwärtig. Offensichtlich ist auch Folgendes: Eine auf Konkurrenz beruhende Ordnung wie diese zeichnet sich durch ein hohes Maß an Offenheit, Vagheit und Ambiguität aus, weil es keine Institution gibt, die über die Zugehörigkeit und die Rangstufe eine definitive Entscheidung treffen kann. Sie kann also auch nur dann funktionieren, wenn ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz gegeben ist.

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Doch zurück zu unseren beiden verfeindeten Kollegen, as-Suyūt.ī und as-Saḫāwī. Welche Konkurrenzvorteile strebten Gelehrte der Ayyubiden-, Mamluken- und Osmanenzeit an, und welche davon finden sich bei unseren beiden Streithähnen? Dass as-Saḫāwī in erster Linie H.adīṯgelehrter war, der sich zu seinem Unglück (wie as-Suyūt.ī meint) auf die Geschichte verlegt hat, hörten wir schon. Immerhin bezweifelt nicht einmal as-Suyūt.ī die Kompetenz as-Saḫāwīs als H.adīṯgelehrter. Wir können also festhalten: Konkurrenzvorteil Nr. 1 ist die überragende Kompetenz in einer bestimmten Disziplin. Aber as-Suyūt.ī stellt auch fest, dass as-Saḫāwī dabei noch nicht einmal korrektes Arabisch konnte (was sicherlich so nicht stimmt), ja außer im H.adīṯ überhaupt in keiner Disziplin auch nur den blassesten Schimmer hatte. Da konnte as-Suyūt.ī leicht kontern, der ja, wie er sagt, außer Poesie und Mathematik alle Fächer beherrschte. Tatsächlich musste man wohl, wenn man an der Spitze der Pyramide ankommen wollte, eine Art „Universalgelehrter“ sein. Eine ganze Kette solcher Universalgelehrter zieht sich von der Mamlukenzeit bis zum Ende der Osmanenzeit, um nur, aus der Zeit nach as-Suyūt.ī, Ibn T.ūlūn (1473–1546), Mullā ‘Alī al-Qārī (gest. 1606), H.āǧǧī Ḫalīfah (1609–1657), al-Murtad.ā az-Zabīdī (1732–1791) und aš-Šawkānī (1760–1834) zu nennen, aber die Liste lässt sich leicht verlängern. Im Westen, wo Universalgelehrsamkeit im 19. Jahrhundert aus der Mode gekommen war, blickte – und blickt – man auf diese Geistesgrößen oft mit Verachtung und disqualifiziert sie als Vielschreiber, und so sind noch immer viele oder gar die meisten ihrer Werke nicht ediert. Doch zeigt as-Suyūt.ī, den man mit besonders harschen Urteilen bedacht hat, sehr schön, woraus diese Universalgelehrsamkeit bestanden hat: Sie besteht einerseits aus herausragenden und innovativen Werken in wenigen Disziplinen – bei as-Suyūt.ī vor allem in den H.adīṯwissenschaften und, vielleicht noch origineller, in den Sprachwissenschaften – und einem großzügigen Abarbeiten einer Vielzahl anderer Fächer in nun tatsächlich eher epigonalen Werken, wenn nicht gar in Plagiaten. Dieses Muster verdankt sich nun eben gerade jenem Konkurrenzverhältnis, das für die höchsten Rangstufen universelles Wissen einforderte. Ohne Berücksichtigung dieser Gelehrtenkonkurrenz lässt sich die Vielschreiberei weder verstehen, noch lässt sich die wirkliche Bedeutung eines Gelehrten adäquat einschätzen. Konkurrenzvorteil Nr. 2 ist also Breite der Gelehrsamkeit. Vorteil Nr. 3 sind bedeutende Posten und Ämter, was allerdings gerade bei unseren beiden Beispielgelehrten eine geringere Rolle spielte. Am Ende hat sich as-Suyūt.ī ohnehin, angewidert von der Welt und ohne Amt und Posten, auf die Nilinsel arRawd.a zurückgezogen. Andere konnten sich eine solche Isolation nicht leisten und haben auf Konkurrenzvorteil Nr. 4 zurückgegriffen, auf ihr Netzwerk. Wie wichtig Netzwerke gerade in solchen informellen Konkurrenzverhältnissen sind, ist in letzter Zeit auch in den Fokus der Islamwissenschaft geraten und es sind mehrere

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schöne Einzelstudien, u. a. zu Mullā al-Qārī und az-Zabīdī, vorgelegt worden.10 Sie zeigen, dass Gelehrte einen enormen Aufwand betrieben haben, Netzwerke zu bilden und aufrechtzuerhalten. Ganze Textsorten entstanden vor allem zu diesem Zweck, wie überhaupt die Literatur dieser Zeit einen ausgesprochen kommunikativen Charakter aufweist. Gelehrte tauschen Gedichte aus, auch Lobgedichte aufeinander. Briefe in kunstvoller Reimprosa erhalten dasselbe Prestige wie Dichtung. Ausschließlich der Netzwerkbildung dient der taqrīz., die lobende Würdigung eines Kollegen – oft eines Wissenschaftsnovizen – anlässlich eines bestimmten Werkes.11 Brief- und Gedichtwechsel werden in der Osmanenzeit unter dem Titel mut.ārah.āt veröffentlicht, Werke gewidmet, ausgetauscht und kritisiert; oft besucht man sich auf Reisen und was dergleichen Kommunikation mehr ist. Ein besonderer Teil eines Netzwerks sind aber auch Lehrer- und Schülerverhältnisse, weshalb ich als Konkurrenzvorteil Nr. 5 die Schülerschaft besonders hervorheben möchte, schon allein, weil hier ein wunder Punkt as-Suyūt.īs in seinem Verhältnis zu as-Saḫāwī liegt. Letzterer war nämlich der Lieblingsschüler von Ibn H.aǧar al-‘Asqalānī (773–852/1372–1449), der allgemein als bedeutendster H.adīṯgelehrter anerkannt war, ja wohl als der eigentliche Begründer einer theoretisch reflektierten und methodisch exakten H.adīṯwissenschaft gelten kann. Zu seinem Leidwesen konnte sich as-Suyūt.ī nie zu seinen Schülern zählen, während as-Saḫāwī nicht nur Lieblingsschüler, sondern sogar so etwas wie ein Ersatzsohn Ibn H.aǧars war – und mit dieser Tatsache auch reichlich angab, und zwar wieder auf seine klatschsüchtige und kommentwidrige Weise. Er verfasste nämlich eine dreibändige Biographie seines Lehrers, in der er dessen Leistungen und Verdienste ausführlich würdigt, in der er sich aber auch breit über Ibn H.aǧars Privatleben auslässt, was nun gegen alle Regeln des Anstands verstößt.12 So erfahren wir auch Interna, etwa von Ibn H.aǧars Heirat mit einer reichen Frau, die er zwar innig liebte (das wissen wir auch aus Ibn H.aǧars eigenen Gedichten), die ihm aber keinen Sohn gebären konnte, weshalb sich Ibn H.aǧar heimlich eine Nebenfrau nahm, ihm aber seine erste Frau auf die Schliche kam, die zwar schließlich ein Einsehen hatte, aber ihm nicht gestattete, sie mit nach Hause zu bringen – das Haus gehörte ihr und nicht ihrem Mann; wie dann die Nebenfrau Ibn H.aǧar tatsächlich einen Sohn schenkte, sich dieser aber als Taugenichts herausstellte, was nun wiederum as-Saḫāwī den

10 Vgl. Patrick Franke: „‘Alī al-Qārī“. In: Encyclopaedia of Islam, THREE 2014–3, S. 18–21 mit weiteren Angaben; Stephan Reichmuth: The World of Murtad.ā al-Zabīdī (1732–91). Life, Networks and Writings. Oxford 2009; vgl. insbesondere auch die Beiträge in Stephan Conermann (Hg.): Everything is on the Move. The Mamluk Empire as a Node in (Trans-)Regional Networks. Bonn 2014. 11 Vgl. Thomas Bauer: How to Create a Network. Zaynaddīn al-Āṯārī and his Muqarriz.ūn. In: Conermann (Hg.): Everything is on the Move, S. 205–221. 12 as-Saḫāwī, al-Ǧawāhir wa-d-durar fī tarǧamat šayḫ al-Islām Ibn H.aǧar. hg. v. Ibrāhīm Bāǧis ‘Abdalmaǧīd. 3 Bde. Beirut 1419/1999.

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Weg zum „Ersatzsohn“ ebnete – alles das ist hochinteressant, aber eine skandalöse Indiskretion, die in Gelehrtenkreisen völlig unverzeihlich ist, und so langsam können wir auch erahnen, warum sich as-Suyūt.ī so entsetzt über as-Saḫāwīs Tätigkeit als Chronist äußert. Schauen wir uns dazu noch einmal die Formen der Konkurrenz an! Als einer der Besten in einem Fach zeichne ich mich zwar den anderen gegenüber aus, aber ich brauche die anderen ja auch als Kollegen, Zulieferer, Deviationshintergrund, als Interessenten und schließlich als solche, die meine Leistungen anerkennen und würdigen können. Bei Lehrer- und Schülerverhältnissen geht es ganz und gar um soziale Beziehungen, und ein Netzwerk schließlich ist, bei aller raffinierten und engagierten Kommunikation, die es voraussetzt, ein soziales Kunstwerk sui generis. Dies führt uns nun zu dem fundamentalen Paradox der Konkurrenz: Konkurrenz ist gleichzeitig Vereinzelung und Bindung! Der Einzelne will sich durchsetzen, muss sich also vor den anderen abheben. Gerade dazu aber braucht er die anderen: Sie sind gruppenkonstitutiv – es muss ja klar sein, in welchem Rahmen und nach welchen Kriterien man sich abhebt, und deshalb haben die Gelehrten auch so viel Energie in die Gruppenkonstitution gesteckt. Ohne Gruppe gibt es keine Konkurrenz, keine Möglichkeit, aus der Vereinzelung herauszukommen und sich zu beweisen. Konkurrenz setzt Bindung voraus. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit, und zwar nicht nur für Menschen. So stellt der Soziobiologe Peter Kappeler ein Projekt über soziale Bindungen bei Primaten vor und bemerkt: „Menschen und die meisten nichtmenschlichen Primaten leben in stabilen Gruppen. In diesen interagieren die Mitglieder miteinander, wodurch soziale Beziehungsmuster entstehen, die individuell von Konkurrenz und Unterstützung charakterisiert sind.“13 So unmittelbar dies einleuchtet, so wird heute im allgemeinen Verständnis von „Konkurrenz“ der Faktor des sozialen Zusammenhalts weitgehend ausgeblendet. Dieses Verständnis zeigt sich etwa im Wikipedia-Artikel „Konkurrenz“, in dem nach einer etymologischen Erklärung auf folgende Einträge verwiesen wird: Konkurrenz: − Rivalität, allgemein den emotionalen Wettbewerb um Ansehen, Macht oder Zuneigung − Wettbewerb (Wirtschaft), den Wettbewerb verschiedener Anbieter um Kunden oder Aufträge bzw. von Kunden um knappe Angebote − Konkurrenz unter Mitarbeitern14

13 Peter Kappeler: Nähe mit Licht und Schatten. In: forschung. Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2/2019, S. 25–29, hier 26. 14 URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Konkurrenz (17.08.2021); die übrigen Verweise dort sind für unser Thema irrelevant.

Religiöse und kulturelle Konkurrenzverhältnisse in vormodernen islamischen Gesellschaften

Wenn man diese Artikel nun aufsucht, stellt man fest, dass Konkurrenz heute offensichtlich ausschließlich als Gegeneinander betrachtet wird, während man die Bindefaktoren ausklammert. Vormoderne islamisch geprägte Gesellschaften lassen sich damit nicht beschreiben. In ihnen war Konkurrenz nicht nur ein Wettbewerb, ein Gegeneinander, sie stellte vielmehr auch soziale Bindung („sozialen Kitt“) her. Konkurrenz und Kollegialität, diese ohneeinander undenkbaren zwei Seiten einer einzigen Medaille, waren hier gesellschaftskonstituierend und schufen, bei ganz andersartiger Untergliederung der Gesellschaft als in Europa, für mindestens acht Jahrhunderte einen stabilen Antrieb für die Selbstorganisation gesellschaftlicher Teilbereiche. Dies gilt nicht nur für Wissenschaft und Bildung, sondern für weite Bereiche der Gesellschaft, etwa Handwerk und Handel. Man denke nur an den Basar, in dem sich gleiche Gewerke nebeneinander präsentieren, in gleichzeitiger Kollegialität und Konkurrenz, oder an das Militär, das durch das System der Militärsklaven (Mamluken, Janitscharen) ohnehin stark von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgegrenzt war und in dem Konkurrenz um Ränge und Posten im Rahmen eines starken Korpsgeistes stattfand. All das wusste as-Suyūt.ī, denn es entsprach den Werten und Vorstellungen seiner Zeit, die er durch seine Werke bekräftigte. Gelehrtenlexika wie das seine und dasjenige as-Saḫāwīs waren ja ein wichtiges gruppenkonstitutives Werkzeug für die Gelehrtenschaft. In ihnen ist viel die Rede von Rivalität und Meinungsverschiedenheit, ohne die Wissenschaft ja gar nicht bestehen kann. Das dem Propheten zugeschriebene Wort „Meinungsverschiedenheiten sind eine Gnade für meine Gemeinde“ hat man deshalb nicht nur im religiösen Kontext akzeptiert, und ausgerechnet as-Suyūt.ī, der selbst ausgesprochen rechthaberisch war, hat einen Traktat genau darüber verfasst.15 Die biographischen Werke sind aber auch Ausdruck einer unausgesprochenen Gruppensolidarität, und genau dagegen hatte as-Saḫāwī verstoßen. Man solle eben nicht darauf hören, so as-Suyūt.ī, „wie er die Leute und insbesondere die Gelehrten herabsetzt“. Persönliche Schwächen und Laster auszubreiten, brachte genau diese Solidarität in Gefahr. Und so liest man in Biographien zwar immer wieder Sätze wie „er war zwar Literat und Dichter, aber trotzdem ein frommer und gottesfürchtiger Mensch“. Bei jenen, die nicht ganz so fromm und gottesfürchtig waren, schwieg man lieber, es sei denn sie hatten es allzu toll getrieben. Genau gegen diese allgemein akzeptierten Regeln hat as-Saḫāwī verstoßen. Er hat menschliche Schwächen bloßgestellt, Klatschgeschichten verbreitet, unbewiesene Vorwürfe als Tatsachen hingestellt und damit die Lunte an die gesellschaftliche Solidarität gelegt. Spätere Autoren sollten ihm das nicht nachmachen,

15 as-Suyūt.ī, Ǧazīl al-mawāhib fī ḫtilāf al-maḏāhib, hg. v. Ibrāhīm Bāǧis ‘Abdalmaǧīd, Beirut, Riad 1412/1992.

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und ihre Biographiensammlungen sind dementsprechend wieder etwas weniger unterhaltsam. Halten wir fest: Statt westliche Gesellschaftsmodelle auf islamisch geprägte Gesellschaften zu übertragen, ist nach deren eigenen Gesetzmäßigkeiten zu fragen. Vielleicht kann man dadurch nicht nur deren Geschichte besser erklären, sondern sogar etwas aus ihnen lernen. In unserem Falle wäre es etwa die Infragestellung der häufig, meist unausgesprochen vollzogenen, Gleichsetzung Konkurrenz = Wettbewerb = Gegeneinander. Vielmehr zeigt sich, dass Konkurrenz auch Miteinander bedeuten und den Zusammenhalt fördern kann. Voraussetzung hierfür ist allerdings (1) ein hohes Maß an Kollegialität und Solidarität, und (2) ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz, das es ermöglicht, Konkurrenz als Aushandlungsprozess und nicht als Verdrängungswettbewerb zu leben. Wenn ich am Ende etwas spekulativ sein darf – und das ist das Privileg eines solchen Abendvortrags –, möchte ich noch folgende Überlegung anstellen: Ich habe anderswo versucht zu zeigen, dass islamische Gesellschaften über viele Jahrhunderte in höherem Maße ambiguitätstolerant waren, als wir dies von westlichen Gesellschaften kennen, in denen seit der Zeit der Reformation Ambiguität zum Problem und seit dem 18. Jahrhundert Ambiguitätsintoleranz zum Normalfall wurde.16 Diese am Ende geringe Ambiguitätstoleranz in Europa ließ es nicht mehr zu, eine ganze Gesellschaft auf die Ambiguität zwischen Miteinander und Konkurrenz zu bauen, wie dies in islamischen Gesellschaften so lange funktionierte. In Europa waren es seit Langem andere stabilisierende Faktoren wie die geburtsständisch begründete Hierarchie, die hierarchisch organisierte Kirche, die Bildung von Ständen und Zünften und die immer stärkere und einheitlichere Verrechtlichung vieler Bereiche. Aber auch in diesen Bereichen bleibt noch viel von der konstruktiven Kraft der Konkurrenz bewahrt, denn es herrscht auch hier vielfach das Zusammenspiel von Konkurrenz und Solidarität (man denke gerade an die Zünfte), und es ist immer noch ein gehöriges Maß an Ambiguitätstoleranz vorhanden. Dies hat sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem, sondern als Anschauungsweise der Welt überhaupt, geändert. Der Gedanke Adam Smiths, dass das eigennützige Streben des Einzelnen nach maximalem Gewinn gleich einer „unsichtbaren Hand“ zu steigendem Gemeinwohl führe, hat eine Wettbewerbsideologie hervorgebracht, die heute so gut wie alle Lebensbereiche beherrscht und damit auch die Konkurrenz aus ihren früheren sozialen Zusammenhängen gelöst und so ihr destruktives Potential weit stärker entfesselt, als dies in vorkapitalistischen Gesellschaften der Fall war.

16 Vgl. dazu jetzt Hillard von Thiessen: Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2021.; zum Islam vgl. Bauer, Kultur der Ambiguität.

Religiöse und kulturelle Konkurrenzverhältnisse in vormodernen islamischen Gesellschaften

Meine Damen und Herren, einige von uns (darunter auch ich) haben sicherlich in den Wochen vor dieser Tagung viel Zeit mit dem Fernsehkanal parliamentlive.tv verbracht. Was es dort zu erleben gab, war aber immerhin vielleicht der Anfang vom Ende eines infolge der Verkettung unterschiedlicher Zufälle erstaunlich lange in unsere Gegenwart hineinragenden Anachronismus, nämlich dieses älteren, hier geschilderten konstruktiven Modells der Konkurrenz. Die britische Verfassung ist größtenteils ungeschrieben und bedarf schon deshalb eines hohen Maßes an Ambiguitätstoleranz und guten Willens. Gerade diese Offenheit und Vagheit, und gerade dieses in der Regel auch aufgebrachte Maß an gutem Willen ließ die Konkurrenz zwischen Regierung und Opposition sowie zwischen den diversen Institutionen zusammenhaltsfördernd wirken, abgefedert durch Vertrauen und unterstützt durch ausgefeilte, schwer verständliche und manchmal gar etwas lächerlich wirkende Zeremonien. Im totalitären Kapitalismus der Gegenwart, in dem Ambiguität als Störung empfunden und Konkurrenz als rücksichtsloser Kampf eines jeden gegen jeden verstanden wird, war die gegenwärtige Verfassungskrise Britanniens wahrscheinlich unabwendbar. Wenn aber, wie es der Spätkapitalismus will, den Menschen nur noch zwei Rollen bleiben, diejenige des rücksichtslosen Konkurrenten und die des ichfixierten Konsumenten, haben wir mehr als nur eine britische Verfassungskrise.

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Sektion 1: Konkurrenz und ihre Grenzen: Einführende Thesen und Überlegungen am Beispiel des ökonomischen Feldes

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Konkurrenz und ihre Grenzen Debatten – Konzepte – Forschungsperspektiven So wie Konkurrenz und Wettbewerb „irgendwie überall“ sind,1 so ist die Rede über sie irgendwie paradox. Einerseits erscheint Konkurrenz als anthropologische Konstante oder gar als allgemeines Prinzip der Natur. Andererseits gilt Konkurrenz als historisch spezifische Erscheinung, genauer als Charakteristikum, als Epochensignatur der Moderne: „Moderne Gesellschaften sind Konkurrenzgesellschaften.“2 Mit der „Konkurrenzgesellschaft“ findet sich zugleich die Funktion von Konkurrenzdiagnosen als Gegenwartsdiagnosen auf den Begriff gebracht.3 Zentral ist dabei die Beobachtung, dass sich Konkurrenz in allen gesellschaftlichen Sphären verbreite und zum Leitmodus gesellschaftlicher Interaktion und Ressourcenverteilung aufsteige. Dies wird vielfach nicht nur als „Entgrenzung“, sondern spezifischer als „Ökonomisierung“ bzw. „Vermarktlichung“ beschrieben.4 Wie noch zu zeigen 1 Michael Wohlgemuth: Dimensionen des Wettbewerbs. In: Joachim Starbatty u. a. (Hg.): Kultur des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen. Stuttgart 2012, S. 37–58, hier S. 37. Unser Dank gilt – neben den Organisator*innen der Rostocker Tagung – Claudius Sittig, Sita Steckel und Tobias Werron für ihre Beiträge zur Sektion „Konkurrenz und ihre Grenzen: Interdisziplinäre Überlegungen zwischen Spätmittelalter und Moderne“, in deren Rahmen dieser Text entstand. 2 Ralph Jessen: Konkurrenz in der Geschichte. In: Ders. (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014, S. 7–32, hier S. 7. Zu Konkurrenz als natürliches bzw. anthropologisches Prinzip vgl. u. a. Thomas Kirchhoff: Einleitung. Konkurrenz als Epochenparadigma. In: Ders. (Hg.): Konkurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven. Bielefeld 2015, S. 7–36, hier S. 12–14 und Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan 34/1 (2006), S. 82–104, hier S. 84, der auch kurz selbst auf das Spannungsverhältnis zwischen Gegenwartsdiagnose und Anthropologie eingeht. 3 Erste Belege für diese Begriffsbildung stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert, ein vermehrter Gebrauch ist seit den 1960er Jahren zu beobachten. Eine Begriffsgeschichte liegt bislang nicht vor, für erste Befunde zum Wortgebrauch siehe Google Books ngram Viewer, Suchtermini „konkurrenzgesellschaft:ger_2019,konkurrenzgesellschaften:ger_2019,wettbewerbsgesellschaft:ger_2019“ (24.08.2020). Bei der Auswertung gilt es freilich Eigenheiten der Datengrundlage, relative Häufigkeiten sowie Begriffswandel zu berücksichtigen. So beziehen sich die dort dokumentierten Nachweise aus dem 19. Jahrhundert für „Konkurrenzgesellschaft“ i. d. R. auf konkurrierende Unternehmen. Für einen frühen Nachweis im abstrakten gegenwartsdiagnostischen Sinne siehe aber etwa Sigmund Rubinstein: Herrschaft und Wirtschaft. Grundlagen und Aussichten der Industriegesellschaft. München 1930, S. 1–7 u. S. 250. 4 Vgl. etwa Jessen, Konkurrenz, S. 7 f. Zu einschlägigen aktuellen Debatten der Zeitgeschichte vgl. Ralf Ahrens u. a.: Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld. In: Zeithistori-

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ist, ist die Engführung, ja die Identifikation von Konkurrenz und Ökonomie aus historischer Perspektive aber durchaus nicht selbstverständlich. Debatten um Konkurrenz bewegen sich offenkundig in einem Spannungsfeld von Anthropologie, Moderne-Diskurs und Gegenwartsdiagnose.5 Angesichts eines solchen Tableaus werden Historiker*innen oft unruhig, zumal wenn sie sich mit der sogenannten „Vormoderne“ beschäftigen. Bekanntlich findet sich in derartigen Debatten die ferne Vergangenheit nur allzu leicht zur Beispiellieferantin degradiert, um allgemeine Prinzipien im fremdartigen Gewand zu illustrieren, oder aber als Kontrastfolie funktionalisiert.6 Im Sinne einer solchen Kontrastfolie ist etwa die von Werner Sombart entworfene Welt des „Alten Handwerks“ zu verstehen: Der durch Konkurrenzkampf und Gewinnstreben bestimmten kapitalistischen Gegenwart stellt er „das Idyll ruhiger Beschaulichkeit“ einer vorkapitalistischen Wirtschaft gegenüber, der Konkurrenz fremd gewesen sei.7 Konkurrenzdiagnosen tendieren offenkundig nicht nur zur Gegenwartsdiagnose, sondern auch zum Werturteil. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, zunächst einen Schritt zurückzutreten und sich über Begriffe und Konzepte zu verständigen. Uns geht es dabei um mögliche Perspektiven für eine Historisierung von Konkurrenz – und das gerade jenseits der Dichotomie modern / vormodern.

sche Forschungen / Studies in Contemporary History 12/3 (2015). DOI: https://doi.org/10.14765/zzf. dok-1424; eine einschlägige soziologische Deutung bei Uwe Schimank / Ute Volkmann: Das Regime der Konkurrenz. Gesellschaftliche Ökonomisierungsdynamiken heute. Weinheim 2017. 5 Vgl. auch Thomas Alkemeyer u. a. (Hg.): Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld 2019. 6 Ein eindrückliches Beispiel für die Entzeitlichung von historischer und kultureller Differenz auch in der Diskussion um Konkurrenz und ihr „Anderes“ bei Leopold von Wiese: Die Konkurrenz, vorwiegend in soziologisch-systematischer Betrachtung. In: Verhandlungen des Deutschen Soziologentages. Vorträge und Diskussionen, hg. v. d. Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Bd. 6 (Zürich, 17. bis 19. Sept. 1928). Tübingen 1929, S. 15–35, hier bes. S. 26 f. mit einem Vergleich von mittelalterlichem „Feudal-“ mit indischem „Dharma-Prinzip“. Als Gegenpol macht Wiese nicht allein das moderne Europa, sondern vor allem das amerikanische „Yankeetum“ als Ort der „absoluten Konkurrenz“ aus. 7 Konkurrenz erscheint als die zentrale Differenz zwischen Kapitalismus und „handwerksmäßige[r] Wirtschaft“ in Sombarts Polemik gegen die Reklame: Werner Sombart: Die Reklame. In: Der Morgen 10, 06.03.1908, S. 281–286, hier S. 283; vgl. auch Ders.: Der moderne Kapitalismus. Historischsystematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. I,1: Die vorkapitalistische Wirtschaft. München / Leipzig 2 1916, zu Nahrung und Traditionalismus der vorkapitalistischen Wirtschaft S. 31–39, zum Ausschluss von Konkurrenz im Handwerk S. 209–212 und ebd., Bd. II,1: Das europäische Wirtschaftsleben im Frühkapitalismus, München / Leipzig 2 1922, S. 46–48 zur „Verpönung der Konkurrenz“ im Frühkapitalismus. Differenzierter und mit kritischem Seitenhieb gegen „naive Romantiker“ und ihr Mittelalterbild dagegen Theodor Geiger: Konkurrenz. Eine soziologische Analyse, hg. u. erläutert v. Klaus Rodax, übers. aus dem Dänischen von Gert J. Fode. Frankfurt am Main 2012, S. 80.

Konkurrenz und ihre Grenzen

Wir wollen zum einen Konkurrenz als historische Praxis in den Blick nehmen, zum anderen aber auch das Sprechen und Schreiben über Konkurrenz als (geschichts)wissenschaftliche Praxis reflektieren. Damit ist unser Anliegen vor allem ein konzeptionelles und methodisches. Eben dies bringt uns dann wiederum – freilich auf etwas andere Weise – zur Frage von Epochensignatur und Moderne-Diskurs zurück. Der historisch-semantische Befund führt zu einer ersten Problematisierung des Verhältnisses von Konkurrenz und Ökonomie. Im Anschluss werden ausgewählte soziologische und kulturwissenschaftliche Ansätze vorgestellt. Dann werfen wir einen Blick auf den bisherigen Umgang mit Konkurrenz in der historischen Forschung und stellen einige Frageperspektiven vor, welche die diskutierten Ansätze aus geschichtswissenschaftlicher Sicht aufgreifen. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion verbreiteter „Konkurrenzgeschichten“ und einem Ausblick auf mögliche Forschungsthemen.

Konzepte und Begriffe Was heißt eigentlich „Konkurrenz“? Vorderhand bietet der Blick in konventionelle Wörterbücher und Enzyklopädien Orientierung und kompakte Definitionen: „Konkurrenz“ ist „Wettbewerb“ und „Rivalität“, weiß etwa der Brockhaus. Einig ist man sich auch im Blick auf die dominanten Aktionsfelder von Konkurrenz: Wirtschaft in erster Linie, daneben findet vor allem der sportliche „Wettkampf “ Erwähnung.8 Wie aber sehen historische Redeweisen über Konkurrenz aus? Inwiefern gab es in der Frühen Neuzeit einen Konkurrenzbegriff im modernen Sinne? Wirft man einen Blick auf die Begriffsgeschichte, wird es komplizierter – und zugleich für Frühneuzeithistoriker*innen spannend: gilt doch allgemein das 18. Jahrhundert als Zeit, in der der Konkurrenzbegriff in seiner heutigen Bedeutung aufkommt.9 In der Tat nehmen das lateinische concurrens und seine volkssprachlichen Adaptionen erst allmählich die heute geläufige Bedeutung von „Konkurrenz“ an. Zwar kann auch bereits in der Antike concurrere die Bedeutung von Kampf oder gewaltsamem Zusammenstoßen gewinnen. Dominierend ist jedoch – und zwar bis weit

8 Art. Konkurrenz, Brockhaus Enzyklopädie Online, URL: https://brockhaus.de/ecs/permalink/ 1ECD57052A98532D334FED9A0267C5B4.pdf (31.08.2021). 9 Siehe z. B. den Eintrag „Konkurrenz“, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, URL: https:// www.dwds.de/wb/Konkurrenz (31.08.2021) und die weiterführenden Überlegungen bei Alexander Engel: Konzepte ökonomischer Konkurrenz in der longue durée. Versprechungen und Befürchtungen. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Wettbewerb und Wetteifer. Münster 2019, S. 45–85.

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ins 18. Jahrhundert hinein – die Bedeutung des „Zusammenlaufens“ und „Übereinstimmens“.10 Dies findet sich im Wortsinne illustriert im Teutsch-Lateinisches WörterBüchlein (1695), in dem kleine Abbildungen der „Schuljugend“ beim Vokabellernen helfen sollen. Bei dem Begriff concurrere, übersetzt wiederum als „Zusammenlauffen“, dient dazu ein Bildchen, das zwei freudig (?) aufeinander zulaufende Figuren zeigt.11 Einschlägige ‚Fremdwörterbücher‘ zeigen, dass „concurriren“ (zusammen mit verwandten Begriffen wie „concurrent“ etc.) in diesem Sinne bereits im 16. Jahrhundert Eingang in die deutsche Sprache gefunden hatte.12 Einem modernen alltagssprachlichen Verständnis von Konkurrenz näher kommen zunächst die Fremdwortbildungen über competitio: Während Christian Friedrich Hunold 1710 etwa „concurriren“ wiederum mit „zusammen lauffen / einerley Zweck haben“ erläutert, scheint bei den „competitores, die etwas zugleich mit einen suchen oder fordern / sonsten auch competenten“ die Grundkonstellation des Konkurrierens im modernen Sinne auf: eine dreistellige Relation, bei der mindestens zwei Konkurrenten dasselbe Ziel zu erreichen suchen.13 Allerdings ist auch hier nicht immer klar, ob es sich um ein gemeinsames Streben (i. S. von Kooperation) oder ein paralleles Sich-Bemühen um ein und dasselbe, aber nur von einem zu erreichende Ziel handelt. In mehrsprachigen Wörterbüchern der Zeit werden Wortbildungen über concurrere und competere miteinander verknüpft und dann oft mit dem deutschen „Mit(be)werben“ übersetzt.14 „Mit(be)werbung“ wird auch als Übersetzung für

10 Zu concurrere vgl. u. a. das einschlägige Lemma in Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Darmstadt 1998 (ND Hannover 8 1913), Sp. 1413–1415, zu den unterschiedlichen Bedeutungen im antiken Gebrauch. 11 Johann Georg Seybold: Teutsch-Lateinisches WörterBüchlein: Zum Nutz und Ergötzung der Schuljugend zusammengetragen / Und mit 6000. darzu dienlichen Bildern gezieret. Nürnberg 1695, S. 172. Dieses Werk erfährt zahlreiche Neuauflagen und um weitere Sprachen ergänzte Ausgaben, jedoch bei anscheinend weitgehend unverändertem Bildbestand. Siehe etwa Johann Georg Seybold: Versuch eines Elementarbuches für Kinder durch Abbildung der merkwürdigsten Dinge und derselben deutschen, lateinischen, französischen und italiänischen Benennungen. Nürnberg 1770, S. 258. 12 Siehe etwa Simon Rot: Ein Teutscher Dictionarius / dz ist ein außleger schwerer / vnbekanter Teutscher e e e / Griechischer / Lateinischer / Hebraischer / Walscher vnd Frantzosischer / auch andrer Nationen worter / so mit der weil inn Teutsche sprach kommen seind. Augsburg 1571, D iiij und Bernhard Heupold: Teutsches Dictionariolum: Welches außlegt unnd erklärt etliche schwere unbeka[n]de / Teutsche / Grichische / Lateinische / Hebraische / Welsche und Frantzösische / auch anderer Nation Wörter / so mit der weil in Teutsche Sprach kommen seind. Frankfurt am Main 1602, S. 83. 13 Christian Friedrich Hunold: Der Teutschen Curiosité In Fremden Wörtern, Die In Briefen und in der Conversation vorkommen. Hamburg [1710], S. 28 f. Dieses Ziel muss kein Objekt sein, es kann – etwa im Sinne der Geigerschen „Distanzierungskonkurrenz“ – auch die „möglichst günstige Platzierung im Wettbewerbsfeld“ sein; so Geiger, Konkurrenz, S. 21 f. Siehe auch S. 59 unten. 14 Vgl. etwa im Dictionaire François-Alleman-Latin: Avec Vne Brieve Jnstruction de la prononciation de la langue Françoise en forme de Grammaire, Jacob Stoer: Genf 1610, S. 83 mit dem Eintrag: „Concurrent,

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die französische „concurrence“, die italienische „rivaltà“ oder das englische „competition“ angegeben.15 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts taucht dann „Concurrence“ bzw. „Concurrenz“ in Fremdwörterbüchern vermehrt als Nomen auf, wiederum im Sinne von „Mitbewerbung“ erklärt.16 Wenn die Wortbedeutung „mitbewerben“ (sei es in Bezug auf „competiren“ oder „concurriren“) näher erläutert wird, finden sich als Objekte dieses Bewerbens in der Regel Ämter oder Ehrenstellen genannt.17 Gelegentlich scheinen Synonyme wie „Nebenbuhler“ auf das Werben um eine Person oder auf eine Verbindung mit Wettkämpfen hinzudeuten.18 Hinweise auf solche Objekte, die nur einem/r der Be-

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Mitbitter/Mitwerber, Competitor“. Eher auf nicht-kooperatives Streben scheint der Eintrag in einem viersprachigen Lexikon von 1700 hinzudeuten: „concurrant, concorrente, competitore, m. der neben einem andern nach etwas strebt / competitor.“ Giovanni Veneroni: Il Dittionario Imperiale Nel Quale Le Quattro Principali Lingue Dell’Europa. Frankfurt am Main 1700, S. 123. Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 6, Halle / Leipzig 1733, Sp. 915: „Concurrens, ein concurrent, ein Mitläuffer, Mitwerber, Mit=Erben Mitgläubiger.“ Siehe etwa Christian Ludovici: A Dictionary English, German, French. Leipzig 1706, S. 141 („competition“) und S. 144 („concurrent“); Pierre Rondeau [i. e. Johann Theodor Jablonski]: Nouveau dictionnaire françois-allemand. Leipzig 1765, S. 228 („concurrence“); Annibale Antonini / Johann August Lehninger: Nuovo dizionario italiano-tedesco, tedesco-italiano. Leipzig 1763, S. 1199 („rivalità“, „rivale“) und S. 339 f. („concorrenza“). Jürgen E. Krusen: Jürgen Elert Krusens erklärtes, und nach dem Alphabet gestelltes, Wörterbuch, welches die gebräuchlichsten Wörter und Redensarten, aus der Lateinischen, Französischen, Italiänischen und mehr andern fremden Sprachen enthält, die einem Deutschen, bey dem Kauf- und Wechsel-Handel […], vorzukommen pflegen, Hamburg 1769, S. 30; [Friedrich August Schröter]: Terminologietechnisches Wörterbuch zur Erklärung der in Reden und Schriften häufig vorkommenden fremden Wörter und Redensarten : in alphabetischer Ordnung. Erfurt 1788, S. 48; Daniel Eberhardt Beyschlag: Sammlung ausländischer Wörter, die im alltäglichen Leben öfters vorkommen: zum Gebrauch für Bürgerschulen und Unstudierte. Nördlingen 1796, S. 27. – Siehe dagegen aber Lateinisch- und Frantzösisch-Teutsches Vocabvlarivm: enthaltend die üblichsten und nöthigsten Terminos, deren man sich im Teutschen aus der Lateinischen und Frantzösischen Sprache im gemeinen Leben zu bedienen pfleget […] / herausgegeben zum Behuf der teutschen Schulen des Waisenhauses in Halle, Halle 1776, S. 46: „Concurrenz, das Uebereinkommen verschiedener Umstände zu einem Zweck.“ Siehe z. B. Johann Christian Wächtler: Commodes Manual, Oder Hand-Buch, Leipzig 1703, S. 71: „Competenz, Mitwerbung um eine Stelle. […] Competente, Mitforderer / z. E. zu dem Amte seynd viel Competenten / Competitores“; Kruse, Wörterbuch, S. 30: „Concurrence, Mitbewerbung um ein Amt, Mitwirkung in einer Sache“; Vocabvlarivm (1776), S. 44: „Competent, der sich nebst andern um ein Amt bewirbet.“ Siehe etwa Beyschlag, Sammlung, S. 27 („Concurrent, Mitwerber. Nebenbuhler“); Rondeau [Jablonski], Dictionnaire, S. 222 („Compétiteur. Mitwerber; Mitbuhler, um ein amt oder würde“). Bedenkenswert ist hier etwa Christiane Eisenbergs Hinweis auf die Bedeutung von Sport als „Metaphernspender“ für die Thematisierung von Konkurrenzphänomenen. Vgl. Christiane Eisenberg: Auktionen und die Erfahrung der Konkurrenz als Marktmechanismus. Betrachtungen zur britischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 229–260, hier S. 255; zum Gebrauch der Wettlauf-Metapher bei Adam Smith S. 251 f.

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werber*innen zufallen können, zeigen in jedem Fall an, dass nicht ein kooperatives, sondern ein sich wechselseitig ausschließendes Streben gemeint ist. Dieser vorläufige Befund, ausgehend von Wörterbüchern aus dem deutschsprachigen Raum, ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens zeigt er beispielhaft, dass der Begriffshaushalt, der für Sprechen über „Konkurrenz“ in der Frühen Neuzeit zur Verfügung stand, sich in der Tat veränderte. Zugleich wird deutlich, dass eine systematische Untersuchung über lineare Genealogien heutiger Begriffe hinausgehen und ein breites semantisches Feld in den Blick nehmen sollte.19 Insbesondere wäre auch der sog. „Wettstreit der Künste“ einzubeziehen, der sich seit der Renaissance nicht nur in zahlreichen Traktaten über die Vorrangstellung innerhalb der bildenden Künste niederschlug, sondern auch ein einschlägiges Vokabular (aemulatio, Paragone) und differenzierte Vergleichspraktiken aufwies.20 Zweitens wird deutlich, dass auch in dem veränderten Begriffshaushalt des 18. Jahrhunderts eine Verknüpfung von „Konkurrenz“ mit der Sphäre des Ökonomischen noch nicht maßgeblich war. Wenn Ämter und „Ehren-Stellen“ als Objekte der „Concurrence“ oder des „Mitbewerbens“ genannt werden, geht es vielmehr um gesellschaftlichen Status und mögliche soziale Mobilität. Erste Verbindungen zum Ökonomischen sind zwar ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nachzuweisen, scheinen aber im Sinne der hier gesichteten Lexika eher nachrangig.21 Das ist Mitte des 19. Jahrhunderts offenkundig anders: In Pierer’s UniversalLexikon von 1858 findet sich zwar weiterhin das „Zusammentreffen von Ereignissen u. Dingen“ als erste Wortbedeutung, nun aber sogleich gefolgt von dem „Wetteifern von Fabrikanten u. Kaufleuten, welche mit gleichen Waaren Handel treiben, in der Absicht, ihren Absatz zu vermehren, indem sie den ihrer Concurrenten schmälern“. Zwar werden noch weitere, etwa juristische Bedeutungen angeführt, doch die Ökonomie dominiert eindeutig. Der Lexikonartikel bietet weiterhin eine Kurzfassung einer marktoptimistischen Preistheorie und einen knappen wirtschaftshistorischen Abriss, der die „segensreiche[r] Wirksamkeit“ der freien Konkurrenz für die „Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft“ und den „cul-

19 Auch im Blick auf die Gegenwart hat Markus Tauschek konstatiert, dass ein weites „semantische[s] Feld um den Begriff Wettbewerb“ zu untersuchen sei; Markus Tauschek: Konkurrenz. Ein Handlungsmodus und seine kulturellen Effekte. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 95–118, hier: S. 99 f. 20 Vgl. Jan-Dirk Müller / Ulrich Pfisterer: Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit. In: Dies. u. a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin 2011, S. 1–32; Joris van Gastel u. a. (Hg.): Paragone als Mitstreit. Berlin 2014; Claudius Sittig: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zu Semiotik und Ästhetik adeligen Wetteifers um 1600. Berlin 2010; Renate Prochno: Konkurrenz und Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Berlin 2006. 21 Vgl. für weitere Überlegungen zur Begriffsgeschichte Engel, Konzepte, S. 48 f. sowie Kenneth Dennis: „Competition“ in the History of Economic Thought. Unveröff. Diss. Oxford 1975, bes. Kap. 1 u. 2.

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turgeschichtliche[n] Fortschritt der Völker“ betont.22 Kurzum: Der Eintrag bei Pierer kann beispielhaft stehen für eine heute einflussreiche (wirtschafts)liberale Sicht, derzufolge die Überwindung der Wettbewerbsfeindlichkeit vormoderner Gesellschaften und die „Entfesselung“ der freien Konkurrenz einen, wenn nicht den zentralen Motor von Wohlstand und Fortschritt ausmacht.23 Den frühen wirtschaftsliberalen Programmatikern des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ging es im Ruf nach freier Marktkonkurrenz, soweit es erhoffte volkswirtschaftliche Effekte betrifft, um Verteilungsgerechtigkeit (vor allem dem Brechen der Marktmacht von Produktion und Handel zugunsten von Konsument*innen), nicht um Leistungssteigerung.24 Mit der zunehmenden Verwirklichung des wirtschaftsliberalen Programms, kulminierend in den 1860er Jahren, empfanden viele Unternehmer und (insbesondere deutsche) Nationalökonomen das erhöhte Konkurrenzniveau als zuweilen „ruinös“, volkswirtschaftlich schädlich und ungerechtfertigt. Im „Zeitalter der Kartelle“25 von den 1880er Jahren bis in die 1950er Jahre gab es zwischen Unternehmen zunehmend Absprachen, um die Intensität der Konkurrenz zu senken: selbst moderne Ökonomie ist nicht inhärent konkurrenzorientiert. In der neoklassischen Mikroökonomik, also der seit Ende des 19. Jahrhunderts dominanten wirtschaftswissenschaftlichen Markttheorie, gilt Konkurrenz nicht nur als konstitutiv für die Existenz eines Marktes, sondern als Garant für die Stabilität dieses (im Idealfall höchst effizienten) Ordnungsarrangements. Die Fortdauer von Konkurrenz führt zu einem Gleichgewichtszustand, dessen Ergebnisse – vor

22 Art. Concurrenz. In: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 4, Altenburg 1858, S. 339. Im Art. Competenz, ebd., S. 317, findet sich auch noch die ältere Bedeutung „Mitbewerbung, z. B. um ein Amt“, nun allerdings an letzter Stelle. 23 In dieser Hinsicht argumentierten zum Beispiel Mitte des 19. Jahrhunderts liberale Politiker wie Schulze-Delitzsch für die Einführung der Gewerbefreiheit und Abkehr von traditionellen Wettbewerbsbeschränkungen: „Betrachten Sie einmal die Kehrseite der freien Concurrenz, die Arbeits- und Handelsbeschränkung zu Gunsten einzelner Personen oder Classen […] Daß durch ein solches Verfahren alle Vervollkommnung in den Gewerben zum Schaden des Ganzen ausgeschlossen wird […] lehrt die Erfahrung, und die Lage des Arbeiterstandes in den einzelnen Ländern ist im Allgemeinen eine um so bessere, je mehr man sich der Gewerbefreiheit nähert“; Hermann Schulze-Delitzsch: Capitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus. Leipzig 1863, S. 69 f. Ein Jahrhundert später bestand für den Ordoliberalen Ludwig Erhardt das „Soziale“ der „Sozialen Marktwirtschaft“ im Kern darin, dass unbeschränkte Konkurrenz das Volkseinkommen maximiere: „‚Wohlstand für alle‘ und ‚Wohlstand durch Wettbewerb‘ gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg“; Ludwig Erhardt: Wohlstand für alle. Düsseldorf 7 1957, S. 9. 24 Engel, Konzepte, S. 61–71. 25 Im Überblick: Harm G. Schröter: Cartelization and Decartelization in Europe, 1870–1995. Rise and Decline of an Economic Institution. In: The Journal of European Economic History 25/1 (1996), S. 129–153; Thomas Jovović: Deutschland und die Kartelle. Eine unendliche Geschichte. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 53/1 (2012), S. 237–273.

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allem der Marktpreis – feststehen und als solche unverändert bleiben, solange das Konkurrenzverhältnis (ceteris paribus) weiterbesteht. Diese Sicht unterscheidet sich stark von der klassischen politischen Ökonomie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in der Konkurrenz primär als Prozess analysiert wurde, d. h. das tatsächliche Konkurrieren von Akteuren als Prozess mit offenem Ausgang im Vordergrund stand.26 Die Engführung von leistungssteigerndem Konkurrenzverfahren und Ökonomie ist gänzlich ein Produkt des 20. Jahrhunderts und erst mit dem Einzug von Leistungsdenken in Konzeptionierungen des Ökonomischen (Ende des 19. Jahrhunderts) und in volkswirtschaftliches Wachstumsdenken (auf breiterer Front erst nach 1945) überhaupt möglich geworden.27 Die engere Verknüpfung von ökonomischem Wachstum und freier Konkurrenz ist damit kaum älter als das Konzept der „modernen Konkurrenzgesellschaft“ selbst. Wenn heutzutage Konkurrenz als Ökonomisierung verstanden wird, so ist das historisch eben nicht selbstverständlich. Es setzt einen spezifischen Konkurrenzbegriff und ein spezifisches Ökonomieverständnis voraus. Das Phänomen Konkurrenz wird, wie gesehen, durchaus als historisch veränderlich diskutiert. Die grundsätzliche Verknüpfung von Konkurrenz und Ökonomie wird hingegen meist als gegeben vorausgesetzt – und etwa auch und gerade dann, wenn beklagt wird, dass die freie Konkurrenz noch durch widerstrebende Kräfte wie Gewerbeverfassung oder religiöse Einstellungen „gefesselt“ sei. „Konkurrenz“ kann somit gerade als Paradefall für die „Einbettung“ der Ökonomie in die Ökonomik gelten, wie es die Wirtschaftssoziologen Michel Callon und Koray Çalışkan nennen. Sie fragen ebenfalls nach „Ökonomisierung“, aber in einem anderen Sinne: Was wird wie als „ökonomisch“ markiert und der „Ökonomie“ zugehörig betrachtet?28 26 Hierzu Roger E. Backhouse: Competition. In: John Creedy (Hg.): Foundations of Economic Thought. Oxford 1990, S. 58–86; Mark Blaug: Competition as an End-State and Competition as a Process. In: Ders. (Hg.): Not Only an Economist. Recent Essays. Cheltenham 1997, S. 66–86; Jack C. High (Hg.): Competition. Cheltenham 2001; Tobias Werron: Wettbewerb als historischer Begriff. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 59–93; Engel, Konzepte. 27 Zur Genealogie des Leistungsdenkens seit dem 19. Jahrhundert siehe Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. München 2018. Die kontinuierliche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, also beständige Messung von Volkseinkommen / Bruttoinlandsprodukt in der Erwartung von Veränderung / Steigerung, setzt im Kontext der Weltwirtschaftskrise ein, erste makroökonomische Wachstumstheorien (Harrod-Domar-Modell, Solow-Swan-Modell) stammen aus den 1940er und 1950er Jahren. Hierzu Verena Halsmayer: Modeling, Measuring and Designing Economic Growth. The Neoclassical Growth Model as a Historical Artifact. Ingredients, Construction, Manipulations, Uses and Interpretation, 1930s–1960s. Unveröff. Diss. Wien 2015. 28 So Koray Çalışkan / Michel Callon: Economization, Part 1: Shifting Attention from the Economy towards Processes of Economization. In: Economy and Society 38,3 (2009), S. 369–398; vgl. auch Christof Dejung: Einbettung. In: Ders. u. a. (Hg.): Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen. Tübingen 2014, S. 47–71, hier: S. 63–67.

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Ganz ähnlich hat Theodor Geiger in seiner hellsichtigen soziologischen Analyse bereits 1941 konstatiert: Das öffentliche Denken hat sich von der Wirtschaftskonkurrenz so vereinnahmen lassen, daß die Anwendung des Konkurrenzbegriffs auf andere Gebiete gleichsam als Analogie angesehen wurde. Die Besonderheiten der Wirtschaftskonkurrenz wurden generalisierend auf den Konkurrenzbegriff im Allgemeinen übertragen, obwohl dies nur durch angestrengte Auslegungskünste möglich war.29

Insofern ist ein wichtiges Erkenntnispotential der Frühneuzeit-Forschung und allgemeiner der Historiker*innen der Vormoderne auch hier in einer „kritischen Historisierung der Moderne“ auszumachen.30 Eine solche kann der Formation ebendieser Moderne nachgehen und auch ihre Kontingenzen aufzeigen. In diesem Sinne wären etwa „Ökonomisierungen“ im Laufe der Frühen Neuzeit zu beobachten und auf ihre Verbindung oder eben Nicht-Verbindung mit Konkurrenz hin zu befragen.31 Um den Konnex von Konkurrenz und Ökonomie zu denaturalisieren, gilt es aber auch, Phänomene in den Blick nehmen, die sich eben nicht den in die Moderne gezeichneten Entwicklungslinien fügen. Dazu bedarf es einer Auseinandersetzung mit analytischen Zugängen zu Konkurrenz, die vergleichende, auch epochenübergreifende Perspektiven jenseits von ökonomischer Engführung einerseits und historischer Semantik andererseits eröffnen können. Weitergehende Bestimmungsversuche stammen vor allem aus der Soziologie. Geradezu als konkurrenztheoretischer Klassiker gilt Georg Simmel, der

29 Geiger, Konkurrenz, S. 5, mit einer in einer Fußnote versteckten Polemik gegen Sombart, dieser sei ein „antisoziologische[r] Reaktionär“, dessen Vorgehensweise nur als „Angriff gegen die Bildung aller Allgemeinbegriffe“ zu begreifen sei. Interessanterweise nutzt z. B. auch Elias immer wieder Vergleiche mit ökonomischen Phänomenen, um die Prestigekonkurrenz in der höfischen Gesellschaft zu beschreiben, namentlich zieht er etwa Parallelen zwischen den Strukturen der Wertzuschreibung am Hof und an der Börse; Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt am Main 6 1992 [EA 1969], S. 140, siehe auch S. 143–145. 30 Zu diesem gewandelten Moderne-Bezug der Frühneuzeit-Forschung vgl. Arndt Brendecke: Eine tiefe, frühe, neue Zeit. Anmerkungen zur „hidden agenda“ der Frühneuzeitforschung. In: Andreas Höfele u. a. (Hg.): Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Berlin u. a. 2013, S. 29–45, bes. S. 38 f. 31 Vgl. dazu etwa auch Sandra Richter / Guillaume Garner: Einleitung. ‚Eigennutz‘ und ‚gute Ordnung‘. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): ‚Eigennutz‘ und ‚gute Ordnung‘. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. Wiesbaden 2016, S. 11–23; Philip Knäble: Einleitung. In: Ders. u. a. (Hg.): Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert. Göttingen 2017, S. 9–30.

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das Phänomen im Rahmen seiner Konfliktsoziologie behandelt.32 Als Konkurrenz seien dem allgemeinen Sprachgebrauch gemäß „solche Kämpfe“ zu bezeichnen, „die in den parallelen Bemühungen beider Parteien um einen und denselben Kampfpreis bestehen.“33 So wird Konkurrenz gegenüber anderen Arten des Kampfes und Konfliktes abgegrenzt, die auf eine Beschädigung oder Beseitigung der Gegner*innen zielen, in jedem Fall aber direkte Interaktion zwischen den Beteiligten voraussetzen – kurzum: Konkurrenz ist „indirekter Kampf “. Leitend für Simmels Konfliktsoziologie insgesamt ist der Gedanke der vergesellschaftenden Wirkung von Konflikten. Eine solche Wirkung macht er bei Konkurrenz auch und gerade in einer Leistungssteigerung aus. Konkurrenz hat also einen systematischen Ort innerhalb von Simmels soziologischem Entwurf. Zugleich ist sie aber auch verankert in einem bestimmten historischen Narrativ, das er zu einer Art Theorie der Moderne entfaltet. Zwar ist Konkurrenz für Simmel nicht ausschließlich in der Moderne zuhause, nennt er doch durchaus historische Beispiele. Die „Kampfform der Konkurrenz“ erscheint ihm aber „wie geschaffen“ für den modernen Menschen. Konkurrenz korrespondiert mit dem „scharf differenzierte[n] Sach- und Selbstbewußtsein des modernen Menschen“ und weist die Einheit der „tiefsten Tendenzen des modernen Lebens, die sachliche und die personale“, gerade in ihrer Gegensätzlichkeit auf.34 In Simmels Zugriff auf Konkurrenz spiegeln sich so auch die eingangs erwähnten Gegenläufigkeiten von Anthropologie, Zeitdiagnose und Epochenbestimmung wider. Als weiterer, wenn auch weniger bekannter Klassiker der Konkurrenzsoziologie gilt der bereits erwähnte Theodor Geiger. Anders als Simmel betrachtet Geiger Konkurrenz nicht im Rahmen einer Konfliktsoziologie, sondern vor allem im Verhältnis zu Kooperation. Konkurrenz gilt ihm als „getrenntes Gemeinstreben“, Kooperation hingegen als „vereintes Gemeinstreben“.35 Er setzt sich auch mit der Frage auseinander, inwiefern Konkurrieren ein Bewusstsein um die Konkurrenzsituation voraussetzt. Geiger zufolge gehört es zum Wesen der Konkurrenz, dass die Akteure

32 Zum biographischen Kontext und dem Zeitgeschehen des späten Kaiserreichs vgl. Nina Verheyen: Gemeinschaft durch Konkurrenz. Georg Simmel und die Ellenbogenmenschen des Kaiserreichs. In: Merkur 67 (2013), S. 918–927. 33 Georg Simmel: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 6 1983, S. 186–255, hier S. 213. 34 Ebd., S. 232, Fn. 1. 35 Geiger, Konkurrenz, S. 9 f. Zu Geiger siehe Siegfried Bachmann: Theodor Geiger. Soziologe in einer Zeit „zwischen Pathos und Nüchternheit“. In: Ders. (Hg.): Theodor Geiger. Soziologie in einer Zeit „zwischen Pathos und Nüchternheit“. Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1995, S. 21–69; vgl. nun auch Moritz Föllmer: The Middle Classes. In: Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hg.): Oxford History of Weimar Germany. Online-Vorabveröffentlichung 2020. DOI: 10.1093/oxfordhb/ 9780198845775.013.19.

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um die Mitstrebenden wissen, denn dieses Wissen hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise des Strebens selbst. So unterscheidet Geiger zwischen Kon- und Juxtakurrenz, wobei er Letzteres als paralleles Streben mehrerer nach demselben Ziel, aber in Unkenntnis der Mitbewerber*innen versteht. Insofern sich ein und dieselbe Situation für den einen als Konkurrenz, den anderen aber als Juxtakurrenz darstellen kann, erlaubt Geigers Ansatz es hier auch, die ungleiche Verteilung von Wissen einzubeziehen und deren Effekte für Handlungsmöglichkeiten und Strategien zu analysieren.36 Wissen um und Erfahrung von Konkurrenz sind auch für rezente kulturanthropologische Ansätze von zentraler Bedeutung. Markus Tauschek und andere sehen jedoch in der Regel von allgemeinen Definitionen mit universalem Anspruch ab und untersuchen eher, wie unterschiedliche Akteure Konkurrenz erfahren, konstruieren, repräsentieren.37 Dieser Aspekt ist gerade auch für Historiker*innen wichtig, da hier zeitgenössische Diskurse und Praktiken ins Spiel kommen – und wiederum die Frage, welchen Stellenwert wir dem semantischen Befund im Blick auf „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“ zumessen wollen. An der Erneuerung der Konkurrenzsoziologie arbeitet wiederum Tobias Werron. Er greift den bereits bei Simmel formulierten Gedanken auf, dass Konkurrenz sich auch als besondere Beobachtungskonstellation verstehen lässt. Werron schlägt unter anderem vor, Konkurrenz vom – in seinem Verständnis – spezifisch modernen Wettbewerb abzugrenzen: Während bei der Konkurrenz mindestens zwei Konkurrent*innen im Spiel sind, tritt beim Wettbewerb zu dieser dyadischen Konstellation ein beobachtendes Publikum als Drittes hinzu – das den/die Gewinner*in (mit)bestimmt.38 Während bereits bei Simmel ein historisches Narrativ angelegt ist, rückt Werron durch diese Ausdifferenzierung der Terminologie seine Konkurrenzsoziologie auch explizit in eine historische Perspektive.

36 Geiger, Konkurrenz, S. 14 f. 37 Vgl. die einschlägigen Beiträge in Markus Tauschek (Hg.): Kulturen des Wettbewerbs. Formationen kompetitiver Logiken. Münster 2013; Ders.: Konkurrenz und Ders.: Konkurrenznarrative. Zur Erfahrung und Deutung kompetitiver Konstellationen. In: Bürkert u. a. (Hg.), Spuren der Konkurrenz, S. 87–101. 38 Vgl. Tobias Werron: Form und Typen der Konkurrenz. In: Bürkert u. a. (Hg.), Spuren der Konkurrenz, S. 17–44 und Ders.: Why Do We Believe in Competition? A Historical-Sociological View of Competition as an Institutionalized Modern Imaginary. In: Distinktion. Scandinavian Journal of Social Theory 16 (2015), S. 186–210, zum Publikum bes. S. 193 f. u. 199–204, mit der Definition (200): „Modern forms of competition are competitions for the favor of an audience that are (re-)produced by public comparisons of performances.“ Auch Kirchhoff, Einleitung, S. 16 f. schlägt eine begriffliche Unterscheidung von „Wettbewerb“ und „Konkurrenz“ vor, zieht aber die verfahrensförmige Ausgestaltung als Kriterium heran, die er dem „Wettbewerb“ als spezifischer Ausprägung von Konkurrenz vorbehalten wissen will.

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Konkurrenz zwischen little tool und sozialer Praxis: Ansätze und Perspektiven in der historischen Forschung Für Frühneuzeithistoriker*innen erscheint die Erforschung historischer Konkurrenz durchaus als methodische Herausforderung. Um analytische Begriffe und Anleihen bei modernen soziologischen Ansätzen kommt man – auch angesichts des semantischen Befunds – kaum herum. Diese gilt es jedoch in ihrer Zeitgebundenheit und ihren Geschichtsbildern kritisch zu reflektieren. Zugleich ist ein sich wandelnder historisch-semantischer Befund im Auge zu behalten. Hier soll zunächst kurz diskutiert werden, wie Historiker*innen bislang Konkurrenz erforscht haben. Dann stellen wir, auch im Anschluss an die vorgestellten analytischen Zugänge, drei mögliche Untersuchungsperspektiven vor. „Konkurrenz“ tritt in der Geschichtswissenschaft wohl am häufigsten in einer recht unscheinbaren Rolle auf. Diese kann man vielleicht am besten als little tool bezeichnen, im Sinne einer Common-Sense-Erklärung oder -Schlussweise. Konkurrenz ist häufiger Explanans (Erklärung oder Erklärungsmechanismus) denn Explanandum (expliziter Gegenstand der Erklärung). Beobachtet man zum Beispiel, dass bestimmte Akteure etwas Ähnliches tun – etwa Schlösser bauen oder Städte gründen – und dies auch noch in einem raumzeitlich begrenzten Rahmen, so wird dies oft mit „Konkurrenz“ in Verbindung gebracht. Wie genau lässt sich aber von Ähnlichkeitsbeobachtungen auf Konkurrenz schließen? Ist das beobachtete Handeln Indiz für ein bestehendes Konkurrenzverhältnis, das vielleicht auch nur für die beobachtenden Historiker*innen zu erkennen ist, oder eine Manifestation von Konkurrenz als sozialer Praxis? Dass es hier genauer hinzuschauen gilt, hat etwa Nina Kühnle am Beispiel der sog. „Konkurrenzgründungen“ gezeigt.39 „Konkurrenzgründungen“ haben Historiker*innen dort ausgemacht, wo in enger räumlicher Nähe und innerhalb vergleichsweise kurzer Zeiträume verschiedene Städte gegründet wurden. Allerdings wird dabei nur selten genauer untersucht, worum genau die vermeintlichen Konkurrenten (i. d. R. die Stadtherren) denn nun konkurrierten – und ob sie den jeweiligen „Konkurrenten“ tatsächlich als solchen wahrnahmen. Kühnle kann durch eine genauere Untersuchung dieser Fragen für einige Fälle tatsächlich Konkurrenzen um unterschiedliche Güter und Privilegien ausmachen; für andere Fälle aber macht sie plausibel, dass parallele Stadtgründungen auf andere Logiken zurückzuführen sind.40

39 Siehe Nina Kühnle: Städtische Konkurrenzbeziehungen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Württemberg. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 175–196, bes. S. 179–182. 40 Zur Kritik an „marktlogische[n] Kurzschlüsse[n]“ in der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte vgl. das bedenkenswerte Plädoyer von Uta Kleine: Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Wundersammlungen des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis. Stuttgart

Konkurrenz und ihre Grenzen

Der Schluss von Ähnlichkeit oder Parallelität auf Konkurrenz muss also nicht falsch sein, er sollte aber nicht als ohne Weiteres gegeben und allgemeingültig vorausgesetzt werden. Ähnliches gilt, wenn Konkurrenz als Erklärung für Innovation oder Leistungssteigerung herangezogen wird. Häufig trifft man die Trias von Pluralität (oder nun Diversität), Konkurrenz und Innovation an. Im Falle des populärwissenschaftlichen Bestsellers von David Landes über Wohlstand und Armut der Nationen dient diese Trias gar dazu, den Aufstieg und die Überlegenheit Europas gegenüber anderen Gesellschaften und Weltregionen zu erklären.41 In anderen Fällen findet sie sich etwa auf das Verhältnis von Rechtsentwicklung und konfessioneller Pluralität angewandt.42 Auch hier gilt: Ein solcher Zusammenhang ist durchaus möglich, von einem Mechanismus sollte man hingegen nicht ausgehen – und sich auch hier der historischen Rahmenbedingungen wie der theoretischen Voraussetzungen dieser Annahme vergewissern. So gilt es etwa kritisch zu prüfen, ob die beteiligten Akteure oder Gruppen gleichberechtigt und ebenbürtig sind, und nach den Machtverhältnissen und Abhängigkeiten zu fragen, die die jeweiligen Konstellationen von Pluralität und Diversität prägen.43 Eine explizite Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen der Konkurrenz und des Konkurrierens kann so im besten Fall auch einen allgemeineren methodologischen Beitrag zu einem kritischen und reflektierteren Umgang mit 2007, S. 347 f., hier bezogen auf die Deutung von Votivgaben und Stiftungen, insbes. im Angesicht fehlender Überlieferung. Ein Beispiel für die Übertragung von modernen Konkurrenz- und Marketingkonzepten auf historische Phänomene bei Sonja Reisner: Konkurrenz auf dem „geistigen Markt“. Dominikanische Wunder- und Mirakelberichte des 13. Jahrhunderts im Lichte neuer motivgeschichtlicher Forschungen. In: Heidemarie Specht / Ralph Andraschek-Holzer (Hg.): Bettelorden in Mitteleuropa. Geschichte, Kunst, Spiritualität. St. Pölten 2008, S. 663–681, bes. S. 664 und S. 679 f. Hier geht es u. a. auch um Adaptationen und Motivtransfers als Indizien für „geistig-spirituelle“ Konkurrenz. 41 David Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz u. a. Berlin 2002 [engl. EA 1998], z. B. S. 51–53. 42 Christoph Strohm: Die produktive Kraft konfessioneller Konkurrenz für die Rechtsentwicklung. In: Ders. (Hg.): Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation. Tübingen 2017, S. 131–171, zu den methodischen Schwierigkeiten insbes. S. 135 f. Strohm macht u. a. das Moment innerprotestantischer Konfessionskonkurrenz gegenüber dem katholischen Einheitsstreben geltend und gelangt schließlich zu der These, „dass der Protestantismus bessere konfessionskulturelle Voraussetzungen bot, um zu der am Beginn der Moderne grundlegenden Entwicklung einer Emanzipation juristischer von theologischer Argumentation beizutragen“, letztlich also das größere Säkularisierungspotential aufwies (169). 43 Innovation und Leistungssteigerung prägen und legitimieren auch aktuelle Praktiken und Diskurse des Diversitätsmanagements; vgl. dazu die aufschlussreiche Analyse von Erin Kelly / Frank Dobbin: How Affirmative Action became Diversity Management. Employer Response to Antidiscrimination Law, 1961 to 1996. In: American Behavioral Scientist 41 (1998), S. 960–984, bes. S. 972–976. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Innovationsdiskursen und Wettbewerbspraktiken siehe weiterhin Lea Haller: Innovation. In: Dejung u. a. (Hg.), Suche, S. 97–123.

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Konkurrenz als Erklärungsmechanismus im Fach allgemein leisten. In der Tat bewegen sich explizite geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Konkurrenz zumeist zwischen zwei Polen: Zum einen wird Konkurrenz als etwas begriffen, das gegeben ist und dem Akteure ausgesetzt sind – als Konstellation, Verhältnis, Situation. Zum anderen wird Konkurrenz verstanden als etwas, das Akteure machen – als Prozess bzw. Praxis – oder gar als Verfahren. Diese Pole schließen sich nicht unbedingt aus, sie markieren aber unterschiedliche Erkenntnisinteressen, Betrachtungsweisen und Vorannahmen (besonders im Blick auf Bewusstsein, Wissen und Handlungsmacht der involvierten Akteure), derer man sich bewusst sein sollte. Will man Konkurrenz als soziale Praxis untersuchen, gilt es also, sie als zeitgenössisches Beobachtungsphänomen zu verstehen und zu rekonstruieren, wie verschiedene historische Akteure Situationen und Beziehungen bewerteten. Ein prominenter Modus des Relationierens im Kontext von Konkurrenz ist etwa das Vergleichen. Untersucht man zum Beispiel, mit wem und auf welche Weise historische Akteure sich selbst und andere verglichen, lässt sich erschließen, wie Zeitgenossen Akteure, Objekte und Bedingungen des Konkurrierens verstanden.44 Für eine Erforschung von Konkurrenz als sozialer Praxis erscheinen drei Aspekte zentral: 1. Zu fragen ist zunächst nach den Gegenständen der Konkurrenz. Worum wird konkurriert? Jedenfalls um etwas, das nicht allen Konkurrierenden zuteilwerden kann: Nicht alle können Erster werden oder das letzte Stück Kuchen bekommen. Wichtig aber ist: Auch Knappheit ist eine soziale Tatsache, deren Konstruktion es zu analysieren gilt. Nie wird etwas von selbst zu einem Objekt von Konkurrenz, sondern stets durch bewusste Anstrengungen von Wettbewerbsdesigner*innen oder implizite, aber keineswegs selbstverständliche gesellschaftliche Zuschreibungen zu einem solchen gemacht. Hier zeigt sich auch ein Gewinn einer historischen Perspektive für die Erforschung von Konkurrenz insgesamt, geraten doch Gegenstände des Konkurrierens in den Blick, die aus einer gegenwartsbezogenen Sichtweise kaum oder nicht rele-

44 Vgl. Matthias Albert u. a.: Vergleichen unter den Bedingungen von Konflikt und Konkurrenz. In: Praktiken des Vergleichens. Working Paper des SFB 1288 1 (2019). DOI: https://doi.org/10.4119/ unibi/2934783; Tobias Werron: Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der „Soziologie der Konkurrenz“. In: Hartmann Tyrell u. a. (Hg.): Simmels große „Soziologie“. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren. Bielefeld 2011, S. 227–258; Ders. / Martin Bühler: Zur sozialen Konstruktion globaler Märkte. In: Andreas Langenohl / Dietmar J. Wetzel (Hg.): Finanzmarktpublika. Moralität, Krisen und Teilhabe in der ökonomischen Moderne. Wiesbaden 2014, S. 271–299. Vgl. auch den Hinweis in typologischer Absicht bei Prochno, Konkurrenz, S. 7: „Die Konkurrenz strebt den Vergleich an; Fälschung und Plagiat suchen ihn zu vermeiden.“

Konkurrenz und ihre Grenzen

vant erscheinen würden. Dies haben die Studien zur symbolischen Kommunikation geradezu paradigmatisch vorgeführt.45 Theodor Geiger hat vorgeschlagen, zwischen Aneignungs- und Distanzierungskonkurrenz zu unterscheiden: Wird um anzueignende materielle bzw. immaterielle Ressourcen konkurriert oder um einen Rang, beispielsweise eine Position in einem Wettlauf? Im ersteren Fall ist das primäre Ziel ein materielles oder immaterielles, in jedem Fall aber distinktes Objekt, im zweiten Fall geht es um die Relationierung zu den Konkurrent*innen.46 In der Praxis des Konkurrierens können diese Formen auch verbunden und Ressourcenallokation und Prestigefragen eng verschränkt sein.47 2. Der zweite Blick gilt den Akteuren der Konkurrenz. Wer konkurriert? Wer gilt als „konkurrenz-“ und „satisfaktionsfähig“? Historisch gewendet: Welche Rolle spielen etwa Stand, Alter und Geschlecht? Wie tragen Praxis und Diskurse der Konkurrenz zur Konstruktion von Identität und Handlungsfähigkeit bei? Für „vormoderne“ Anwesenheitsgesellschaften, so ist jüngst von althistorischer Seite vermutet worden, sind tendenziell verschiedene Öffentlichkeiten anzunehmen, die jeweils mit spezifischen Bestimmungen zur „Satisfaktionsfähigkeit“ möglicher Konkurrent*innen verbunden sein können. Eine solche Konstellation einer „objektiven Konkurrenz“ mit einer „kleinen Zahl an satisfaktionsfähigen Konkurrenten“ sei als „typisch vormoderne Mischform“ zu begreifen.48

45 Vgl. nur William Roosen: Early Modern Diplomatic Ceremonial. A Systems Approach. In: Journal of Modern History 52/3 (1980), S. 452–476; Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz; Dies.: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), S. 385–418. 46 Geiger, Konkurrenz, S. 21–33. 47 Dies zeigt etwa die ebenso kurze wie aufschlussreiche Bemerkung von Gerhard Jaritz zu der ungleich größeren Aufmerksamkeit, die der Kleidung als Prestigegut gegenüber der Ernährung in Aufwandsordnungen und anderen Normierungen von ständischem Konsum zukommt. Entscheidend ist, so Jaritz, inwiefern die jeweilige Distinktionspraxis soziale Unterschiede öffentlich sichtbar macht. Ebendieser öffentliche Zeichencharakter erscheint beim Sich-Kleiden deutlich ausgeprägter als bei Essen: Gerhard Jaritz: Kleidung und Prestige-Konkurrenz. Unterschiedliche Identitäten in der städtischen Gesellschaft unter Normierungszwängen. In: Saeculum 44 (1993) S. 8–31, hier S. 18, Fn. 40. Zur zentralen Funktion von Kleidung in „fürstlichen Aushandlungsprozessen um Prestige und Rang“ vgl. auch Kirsten Frieling: Sehen und gesehen werden. Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450–1530). Stuttgart 2012, bes. S. 1–3, zur Sichtbarkeit, weiter S. 162–164 u. 183 f. zu den nur scheinbar widerläufigen Effekten von Standardisierung und Differenzierung in der Prestigekonkurrenz. 48 Jan Meister / Gunnar Seelentag: Konkurrenz und Institutionalisierung. Neue Perspektiven auf die griechische Archaik. In: Dies (Hg.): Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik. Stuttgart 2020, S. 11–38, hier S. 17 f. u. 20 f. (Zitat).

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An Konkurrenz sind nicht allein die Konkurrenten beteiligt. Gerade die Frage nach den „Dritten“, nach dem Publikum oder allgemeiner einer Öffentlichkeit scheint für die Untersuchung von historischem Wandel aufschlussreich: So hat Werron ein Spezifikum moderner Konkurrenz darin ausgemacht, dass sie sich als Wettbewerb um die Gunst eines beobachtenden Publikums charakterisieren lasse.49 Diese Überlegung lenkt den Blick auf die medialen Bedingungen für die Konstitution eines solchen Publikums – und die Frage, ob und inwiefern sich entsprechender medialer Wandel auf die Praxis des Konkurrierens auswirkt. Durch eine Historisierung der (potentiellen) Akteure des Konkurrierens geraten auch Grenzen und Grenzverschiebungen in den Blick: Gerade der „Wettkampf “ der Nationen bietet sich für eine Untersuchung in der longue durée an, von den humanistischen Diskursen des Spätmittelalters bis zur Weltwirtschaft des 20. Jahrhunderts. Konkurrenz, so ist verschiedentlich argumentiert worden, ist auch eine performative Praxis, die mit zur Etablierung von Nationalstaaten als primordialen Bezugsrahmen für politisches und wirtschaftliches Handeln beigetragen hat.50 Aufschlussreich ist auch die Art und Weise, wie dezidiert nichtmenschliche Akteure in Konkurrenzdiskurse und -praktiken einbezogen werden: Aussagen zu Konkurrenz im Tierreich sind freilich oft weniger zoologischen Beobachtungen denn normativ aufgeladenen Aussagen über menschliche Konkurrenz verpflichtet. So verwies Giorgio Vasari etwa auf ungehemmtes tierisches Kämpfen im Unterschied zu „richtigem“, produktivem Konkurrieren.51 Evolutionistische oder gar sozialdarwinistische Modelle späteren Datums hingegen operieren gerade mit Annahmen „natürlicher Konkurrenz“ im Tierreich. Dabei werden Beobachtungen von (vermeintlicher) Konkurrenz zwischen Tieren um Beute, Lebensraum etc. auf menschliche Gesellschaften übertragen und dienen zur Legitimierung politischer Programme sowie normativer Ordnungen.52

49 Werron, Why; Ders., Konstruktion. 50 Vgl. z. B. Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005; Verheyen: Erfindung, S. 83–98; Tobias Werron: Worum konkurrieren Nationalstaaten? Zu Begriff und Geschichte der Konkurrenz um „weiche“ globale Güter. In: Zeitschrift für Soziologie 41 (2012), S. 338–355, zur Rolle von national gerahmter Konkurrenz bei der „Banalisierung“ und alltäglichen Institutionalisierung von Nationalismus bes. S. 340 f. u. 347 f. 51 Vasari grenzt „richtiges“, „gesundes“ und leistungssteigerndes Konkurrieren von neid-bestimmten Kämpfen ab und verortet Letztere sogar noch jenseits des Tierischen; James Clifton: Vasari on Competition. In: The Sixteenth Century Journal 27 (1996), S. 23–41, hier S. 26 f. 52 Dazu kurz Kirchhoff, Einleitung, S. 11 f. Es ist interessanterweise wiederum Theodor Geiger, der sich als einer der wenigen Soziologen in der Zwischenkriegszeit kritisch mit Sozialdarwinismus und Eugenik auseinandergesetzt hat; so z. B. Theodor Geiger: Natürliche Auslese, soziale Schichtung und das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 12/2 (1933), S. 159–183,

Konkurrenz und ihre Grenzen

3. Schließlich sind verschiedene Modi der Konkurrenz zu unterscheiden. Inwieweit ist Konkurrenz situativ und emergent, inwieweit Instrument und Gegenstand von planerischem Handeln? Findet sie in einem formalisierten, aus dem Alltag herausgehobenen Rahmen statt oder gar als Verfahren? Inwiefern ist die Praxis des Konkurrierens durch implizite Regeln, inwiefern durch explizite Normen bestimmt? Inwiefern gilt Konkurrenz als Verfahren zur Ermittlung oder zur Auffindung von Ordnung und Differenz? Gibt es einen gesetzten, autoritativen Maßstab, an dem sich die Konkurrierenden messen, wie das antike Vorbild bei der aemulatio der Renaissance?53 Die Frage nach den Modi der Konkurrenz führt zugleich auch in mehrerlei Hinsicht wieder zu ihren Grenzen: Wie entsteht, wie endet Konkurrenz? Wie und wann wird sie in andere Formen transformiert, zum Beispiel zum direkten Kampf eskaliert?54 Mehr Aufmerksamkeit als der Übergang von Konkurrenz zu Kampf hat indes das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation gefunden. Dabei richtet sich der Blick insbesondere auf kooperative Momente in der Konkurrenz selbst, die etwa mit Hilfe von begrifflichen Neuschöpfungen wie „coopetition“ oder „Koopkurrenz“ verhandelt werden.55 Historische Studien haben solche Momente bislang im Blick auf die „Spielregeln“ des Konkurrierens, Vergleichspraktiken sowie die Verstrickung

wieder abgedruckt in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 69 (2017), Supplement 1, S. 121–142, z. B. mit dem pointierten Statement (S. 125): „die soziale Auslese im Kulturmilieu ist etwas vollkommen anderes als die natürliche Auslese im Naturmilieu und mit ihr höchstens in entfernter Metapher in Verbindung zu bringen.“ Problematischer erscheint dagegen, was Geiger zu den „Ausnahmemilieus für Mindertaugliche“ zu sagen hat (S. 123 f.). Vgl. auch Bachmann, Geiger, S. 38–40 und Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. Düsseldorf 2002, S. 369–372 zu naturalisierenden Bezügen in Diskursen über „Führerauslese“ der Zeit. 53 Auch dem aemulatio-Diskurs der Renaissance ist freilich eine Spannung zwischen Vorbildnahme und Abgrenzung des Eigenen bzw. Streben nach Übertreffen inhärent; siehe Müller / Pfisterer, Wettstreit, bes. S. 7 f. u. 14 f., aufschlussreich hier z. B. der Hinweis auf „aemulatives Übersetzen“ (S. 18 f.). 54 Theodor Geiger hat in diesem Sinne etwa die Auflösung des politischen Wettbewerbs der Parteien in der Weimarer Republik von einem regulierten parlamentarischen Kampf zum blutigen Bürgerkrieg analysiert – ein Fall, der zugleich exemplarisch zeigt, welche politische Bedeutung Diskursen über Konkurrenz (hier: die Kritik von Konkurrenz als politisch illegitime Organisationsform im Namen eines agonalen Politikverständnisses) zukommen kann; Geiger, Konkurrenz, S. 52 f. 55 „Coopetition“ erscheint zunächst (mit spieltheoretischer Wurzel) im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich, vgl. Barry J. Nalebuff / Adam M. Brandenburger: Co-opetition. New York 1996. Jüngst etwa für die Mediävistik adaptiert bei Régine Le Jan u. a. (Hg.): Coopétition. Rivaliser, coopérer dans les sociétés du haut Moyen Âge (500–1100). Turnhout 2018. Das Konzept greifen z. B. auch Ulf C. Ewert / Stephan Selzer: Institutions of Hanseatic trade. Studies on the Political Economy of a Medieval Network Organization. Frankfurt am Main u. a. 2016 auf, allerdings mit variierender Zustimmung (S. 32 u. 103 vs. S. 135 f.).

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in Distinktionsspiralen diskutiert.56 Daneben gibt es Ansätze, die Kooperation und Konkurrenz stärker als distinkte Organisationsformen begreifen: so etwa im Blick auf die Organisation von Fernhandel oder Forschungsprozessen.57

Konkurrenzgeschichten und Forschungsperspektiven Welche historischen „Konkurrenzgeschichten“ werden bislang erzählt? Und welche Rolle spielt die Frühe Neuzeit in diesen Geschichten? Blickt man zunächst auf Aussagen über (epochen)spezifische Erscheinungsformen von Konkurrenz, hat man es in der Regel mit einer postulierten Dichotomie von „vormoderner“ und „moderner Konkurrenz“ zu tun, die eng mit Annahmen über gesellschaftliche Ordnung insgesamt verknüpft ist. Solche Aussagen zielen im Kern oft weniger auf historischen Wandel und historische Prozesse (also „Geschichten“ im Wortsinne) denn auf Typenbildung und Kontrastierung. Als Klassiker des Genres ist etwa allen voran der Mythos des griechischen Agons zu nennen, wie er maßgeblich von Jacob Burckhardt geprägt wurde.58 In ähnlicher Weise deutete Johan Huizinga Wettkämpfe aller Art in vormodernen Gesellschaften – von Krieg und Rechtshändel über Prahl- und Schimpfwettbewerbe bis hin zu Rätsel- und Dichtwettstreit – als kulturschaffendes Spiel, verweigerte diese Zuschreibung aber der „ernst gewordenen“ Konkurrenz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.59 In jüngerer Zeit, die sich ihrer Zugehörigkeit zur „Moderne“ unsicher geworden ist, findet sich die binäre Struktur erweitert hin zur „Spät-“ oder „Postmoderne“. „Nach“ der Moderne werden dann wiederum Ähnlichkeiten zu „vormodernen“ Strukturen und Phänomenen ausgemacht.60 Ein einschlägiges Beispiel, in dem 56 In diesem Sinne hat etwa ein DFG-Netzwerk „Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik“ erforscht und nach geteilten Spielregeln sowie Kriterien der Vergleichbarkeit als Ansatzpunkten für vergesellschaftende Effekte von Konkurrenz gefragt, in explizitem Rekurs auf Simmel; siehe Meister / Seelentag, Konkurrenz, bes. S. 13 f., 21 f. u. 26 (dort auch zur „Institutionalisierung durch Konkurrenz“). 57 Vgl. z. B. Chris Nierstrasz: Rivalry for Trade in Tea and Textiles. The English and Dutch East India Companies (1700–1800). Houndmills 2015, S. 20–53; Ewert / Selzer, Institutions, bes. S. 103–105 u. 123–145. Siehe auch Kärin Nickelsen: Kooperation und Konkurrenz in den Naturwissenschaften. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz, S. 353–380, die die Unterscheidung zwischen „Konkurrenz“ und „Kooperation“ noch um „Kollaboration“ als dritten Begriff ergänzt (S. 356). 58 Vgl. dazu Leonhard Burckhardt: Vom „Agon“ zur „Nullsummenkonkurrenz“. Bemerkungen zu einigen Versuchen, die kompetitive Mentalität der Griechen zu erfassen. In: Nikephoros. Zeitschrift für Sport und Kultur im Altertum 12 (1999), S. 71–93. 59 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek 1987 [EA 1938], bes. S. 56–148 versus S. 208–229. 60 Vgl. dazu Thomas Kohl / Steffen Patzold: Vormoderne – Moderne – Postmoderne? Überlegungen zu aktuellen Periodisierungen in der Geschichtswissenschaft. In: Thomas Kühtreiber / Gabriele

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Konkurrenz eine prominente Rolle spielt, stellen etwa Sighard Neckels Überlegungen zu einer Rückkehr der „Ständegesellschaft“ dar. Neckel transferiert dabei die These einer „Refeudalisierung“, die Jürgen Habermas ursprünglich im Blick auf den Strukturwandel der Öffentlichkeit aufgestellt hatte, auf die Ökonomie und soziale Ungleichheit. Im Spätkapitalismus fungieren, so Neckel, Konkurrenz und Leistungswettbewerb nicht mehr als leitender Modus von gesellschaftlicher Organisation und Ressourcenverteilung. Vielmehr finde eine „Refeudalisierung“ der Gesellschaft statt, die Neckel jedoch nicht als simple Rückkehr alter Strukturen, sondern als Teil eines paradoxen Prozesses sozialen Wandels verstanden wissen will.61 Der Realitätswert von „Feudalismus“ als historisches Phänomen wie auch die Vorstellung von kapitalistischem, auf Leistungswettbewerb gründendem Bürgertum werden dabei vorausgesetzt und durch das Theoriedesign geradezu reifiziert.62 Der Fluchtpunkt dieser typologischen Betrachtungsweise ist stets das „Ganze“ der gesellschaftlichen Ordnung. Wenn es nicht um die schlichte An- oder Abwesenheit von Konkurrenz geht und unterschiedliche Formen vormodernen und modernen Konkurrierens angenommen werden, so ist es oft die Unterscheidung von Leistungs- und Prestigekonkurrenz, die als Leitdifferenz fungiert: Seien Akteure in der Moderne in Leistungswettkämpfe verstrickt oder kämpften um Marktanteile, so gehe es in vormodernen Gesellschaften um Ehre, Status und Prestige.63 Die Unterscheidung von Leistungskonkurrenz und Prestigekonkurrenz lässt sich freilich auch als Anknüpfungspunkt für eine Historisierung von Modi und Funktionen des Konkurrierens nutzen. Dies hat bereits Norbert Elias vorgeführt, der zwar als einer der wichtigsten Stichwortgeber für die „typisch vormoderne“ Prestigekonkurrenz gilt, selbst aber auf deutlich komplexere Vergleiche von gegenwärtigen Schichta (Hg.): Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung. Heidelberg 2016, S. 23–42. 61 Siehe u. a. Sighard Neckel: The Refeudalization of Modern Capitalism. In: Journal of Sociology 55/3 (2019), S. 1–15, zu Oligarchisierung und Entwertung von Leistungswettbewerb bes. S. 9–12. 62 Nicht zuletzt klingen z. T. gar orientalistische Motive an, wenn Neckel etwa von den „war-like, lordly, or Sultanic oligarchies of the past“ schreibt (ebd., S. 11). Tanner erläutert in seiner pointierten Kritik der Refeudalisierungs-Debatte hingegen kurz die „merkwürdige“ Geschichte des „Feudalismus“Begriffs seit dem 18. Jahrhundert und seine Rolle in Modernisierungstheorien, geht allerdings nicht weiter auf die Debatte um „Feudalismus“ als Beschreibungsmodell für vormoderne Gesellschaften ein; Jakob Tanner: Refeudalisierung, Neofeudalismus, Geldaristokratie. Die Wiederkehr des Vergangenen als Farce? In: Giovanni Biaggini u. a. (Hg.): Polis und Kosmopolis. Festschrift für Daniel Thürer. Zürich u. a. 2015, S. 733–748, bes. S. 736–739, zu Neckel kurz S. 740 f. 63 Vgl. für das klassische Narrativ mit einer Gegenüberstellung von modernem Leistungsprinzip und vormoderner „Feudalordnung“ nur Kirchhoff, Einleitung, S. 17 f.; siehe auch Meister / Seelentag, Konkurrenz, S. 16 zu den „für die Archaik (wie generell für die Vormoderne) besonders interessanten Fällen von Prestigekonkurrenz und demonstrativem Konsum“, die sie mit Hilfe von Geigers Modell als spezifische Ausprägung der sog. „Distanzierungskonkurrenz“ einordnen, genauer als „Distanzierungskonkurrenz mit öffentlichen Ambitionen“.

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und historischen „Figurationen“ rekurriert als viele seiner Rezipient*innen. Elias schreibt etwa: Der Druck zum Statusverbrauch und die Prestigekonkurrenz […] sind gewiß nicht verschwunden. Vieles, was hier über die höfische Gesellschaft gesagt wird, schärft den Blick für Entsprechungen in industriellen Nationalgesellschaften und verhilft zu einer schärferen begrifflichen Fassung von Strukturverwandtschaften und Strukturunterschieden. […] Der entscheidende Unterschied ist, daß Prestigeverbrauch und Repräsentationszwang in den gehobenen Schichten industrieller Gesellschaft erheblich mehr privatisiert sind als in höfisch-absolutistischen Gesellschaften. […] Sie sind in solchen Gesellschaften nicht mehr direkt in die Herrschaftsapparatur eingebaut und dienen kaum noch als Herrschaftsinstrumente.64

Prestigekonkurrenz gibt es, folgt man Elias, vermutlich in allen Gesellschaften; historisch und kulturell variabel hingegen sind die „Prestigegüter“ bzw. Objekte dieser Konkurrenz, vor allem aber ihre gesellschaftliche Funktion. Ähnliches gilt für den „Leistungswettbewerb“, dem ebenfalls unterschiedliche soziale Funktionen und kulturelle Bedeutungen zukommen. In der Moderne ist der „Leistungswettbewerb“ eines der wichtigsten Verfahren zur bewussten Erzeugung und Organisation von Ungleichheit. Die moderne Konkurrenzgesellschaft hat die Konkurrenz als Praxis nicht erfunden, sehr wohl aber Konkurrenz als Verfahren, als Instrument der Zukunftsplanung und Leistungssteigerung, als legitimen und zugleich legitimierenden Verteilungsmodus zu präzedenzloser Bedeutung erhoben. Dass dieser Verteilungsmodus auch und gerade in der Moderne nicht unumstritten ist, zeigen die eingangs erwähnten Debatten.65 Wie aber verhält es sich mit verfahrensförmig organisierten Leistungswettbewerben in der „Vormoderne“ und ihren Funktionen? Dass es solche Wettbewerbe gibt, steht außer Frage, sie sind bislang aber kaum systematisch als historische Konkurrenzphänomene untersucht worden.66 Wie man auf Basis vorliegender Studien zu einzelnen Phänomenen vermuten kann, weisen solche Veranstaltungen i. d. R. einen im Vergleich zur späteren Zeit deutlich begrenzteren Teilnehmerkreis

64 Elias, Gesellschaft, S. 110 f. 65 Dazu etwa Verheyen: Erfindung mit Kap. 6 zur Leistungssteigerung, Kap. 7 zur Kritik und einer prononcierten Stellungnahme der Verfasserin, die auch über ein geschichtswissenschaftliches Urteil hinausweist. 66 Für zeitgenössische Narrative der Konkurrenz als „Movens aller kulturellen Entwicklungen“ vgl. die einschlägigen Beispiele (vornehmlich aus dem 15./16. Jahrhundert) bei Müller / Pfisterer, Wettstreit, S. 19–21. Siehe auch den Hinweis auf die Ritterturniere bei Geiger, Konkurrenz, S. 28 f., dort auch eine kritische Auseinandersetzung mit Sombarts Gegenüberstellung von Leistungs- und Suggestionskonkurrenz (S. 34–38), deren unauflösbare „Verquickung“ Geiger betont.

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auf, operieren also mit restriktiveren Annahmen der „Satisfaktionsfähigkeit“. Zu diskutieren wäre hier insbesondere, inwiefern sie auf eine allgemeine Optimierung von Leistung bzw. Leistungsfähigkeit (wie sie im 20. Jahrhundert zum erklärten Ziel organisierter Konkurrenz wurde) abzielen oder nicht eher der Sichtbarmachung von spezifischen Leistungen verpflichtet sind.67 Die vorliegenden Studien zu Leistungswettbewerben sind auch deshalb aufschlussreich, weil sie den üblichen Blick auf vormoderne Konkurrenz erweitern: Wie oben bemerkt, fokussieren die epochentypologischen Zugriffe oft auf die „Gesellschaft“ und ihre Ordnung. So bleibt die Ständeordnung weiterhin – und durchaus zu Recht – ein dominanter Fluchtpunkt zahlreicher Studien zur sogenannten Vormoderne, mit Hof, Zeremoniell und Adelskultur als prominentesten Gegenständen. Nimmt man Leistungswettbewerbe in den Blick, treten andere Felder und auch Akteure des Konkurrierens hervor – so etwa Städte und städtische Gruppen. Schützenfeste beispielsweise entwickelten sich im Heiligen Römischen Reich zwischen dem 14. und dem frühen 16. Jahrhundert zu prominenten Veranstaltungen der Leistungsschau wie auch des Prestigewettbewerbs zwischen Städten, in deren Rahmen auch rasch die Verbreitungsmöglichkeiten des entstehenden Buchdrucks aufgegriffen wurden und spezifische mediale Repräsentationen von Rangordnungen in Gestalt gedruckter Schützenbriefe entstanden.68 Schließlich geraten etwa mit

67 Gedanken der Leistungssteigerung verbanden sich im späten 18. Jahrhundert besonders mit kameralistischen und volksaufklärerischen Programmen, praktisch etwa in Form von Preisausschreiben. Zeitgenossen banden solche Wettbewerbspraktiken aber durchaus in ältere Diskurse ein. So griff etwa die Göttinger Akademie, namentlich ihr erster Präsident Albrecht von Haller, explizit den Gedanken der aemulatio auf, um die Funktion der neu einzurichtenden Preisfragen zu begründen; dazu Catharina Herges: Aufklärung durch Preisausschreiben? Die ökonomischen Preisfragen der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen, 1752–1852. Bielefeld 2007, S. 27–37 u. 58–64, zur aemulatio S. 29 f. und mit dem Versuch, Kontinuitäten zur Gegenwart aufzuzeigen, Hedwig Röckelein: Wissenschaftliche Preisfragen und Nachwuchsförderung. In: Christian Starck / Kurt Schönhammer (Hg.): Die Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Teil 1. Berlin u. a. 2013, S. 77–110. Vgl. zum ideengeschichtlichen Kontext auch Torsten Meyer / Marcus Popplow: „To employ each of Nature’s products in the most favorable way possible“. Nature as a Commodity in Eighteenth-Century German Economic Discourse. In: Historische Sozialforschung 29 (2004), S. 4–40, hier S. 26–32, auch im Blick auf Transformationen des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur in der Sattelzeit. 68 Vgl. Jean-Dominique delle Luche: Sportliches Engagement und städtischer Wettbewerb. Schützenfeste als Ausdruck der Konkurrenz im Heiligen Römischen Reich. In: Julia A. Schmidt-Funke / Matthias Schnettger (Hg.): Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich. Bielefeld 2018, S. 369–398. Vgl. zum Zusammenhang von Schützenwesen und medialer Repräsentation von Leistungsvergleichen auch Marcus Ostermann: Vmb kurczweil vnd schiessens willen. Zu den gedruckten Schützenbriefen des 15. Jahrhunderts. In: Falk Eisermann u. a. (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien. Tübingen 2000, S. 397–443; vgl. auch Kühnle, Konkurrenzbeziehungen.

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den öffentlichen Wettkämpfen zwischen Akteuren wie Instrumentenmachern oder Brandspritzenherstellern gerade zeitgenössische Grenzarbeiten zwischen Wissenschaft, Ökonomie und Unterhaltung in den Blick, die wiederum Aufschluss geben können für eine Historisierung des Verhältnisses von Ökonomie und Konkurrenz. Der Blick auf Werbepraktiken, in die diese Wettkämpfe eingebettet waren, erlaubt es auch, nach unterschiedlichen medialen Modi des Konkurrierens, unterschiedlichen ‚Öffentlichkeiten‘ und deren Partizipation zu fragen.69 „Sprützenmacher“ konkurrierten freilich nicht nur um Käufer oder Zuschauer, sondern auch um Privilegien und Ämter – und dabei spielten sie nicht zuletzt mit den Rivalitäten zwischen den Landesherren oder Magistraten, in deren Dienst sie zu treten suchten. Hier kann man eine Überlagerung von verschiedenen Ebenen des Konkurrierens beobachten.70 Zugleich lässt sich von hier aus wiederum der lexikalische Befund zu den „Objekten“ von Konkurrenz aufgreifen – gerade der Blick auf Bewerbungen um Ämter oder Dienste scheint aufschlussreich, um die Rolle von Leistung ins Verhältnis zu Patronage- und anderen Logiken zu setzen.71 Hier geraten Umgangsweisen mit Normenkonkurrenzen in den Blick, die sich als

69 Vgl. Christina Brauner: Recommendation und Reklame. Niederrheinische Brandspritzenmacher und Praktiken der Werbung in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 46 (2019), S. 1–45, hier S. 31 f. und Dies.: Übersetzungsgeschäfte. Die Vermarktung von Feuerlöschtechnik zwischen London und Amsterdam um 1700. In: Pierre Eichenberger u. a. (Hg.): Unternehmen, Institutionen, Territorien. Traverse, Themenheft 3/2019, S. 43–76, Fn. 50. Solche Wettkämpfe scheinen sich oft aus Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Akteuren entwickelt zu haben, führten dann aber zu öffentlichen Aufrufen an alle potentiellen Konkurrenten: siehe als Beispiel den Aufruf des Londoner Spritzenmachers John Fowke in der Daily Post, 25.03.1726, und die detaillierten Anzeigen ebd., 02. u. 04.04.1726, die Vorgehensweise, Rahmenbedingungen und Prämien benennen. In diesem Fall wurde auch zu Wetten auf den Ausgang des Wettkampfs aufgerufen. 70 Ein Beispiel etwa bei Jacob Leupold: Neue Nachricht von Feuer-Rohr- und Schlangen-Spritzen, Deren besonderm Vortheil und Nutzen in entstehender Feuers-Gefahr. Leipzig 1720, Widmung an den Leipziger Magistrat. Siehe auch Brauner, Recommendation, S. 15 f. und 34, und Peter Borscheid: Feuerversicherung und Kameralismus. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 30 (1985), S. 96–117 zur Feuerpolicey als Feld städtischer und landesherrlicher Distinktion. 71 Ein vielschichtiges Beispiel stellt etwa das Feld des Fremdsprachenlernens dar, das im Alten Reich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erheblichem Konkurrenzdruck ausgesetzt war; zu Bewerbungen von Sprachmeistern bspw. Silke Schöttle, Exoten der akademischen Gesellschaft? Frühneuzeitliche Sprachmeister am Collegium Illustre und der Universität Tübingen. In: Mark Häberlein (Hg.): Sprachmeister. Sozial- und Kulturgeschichte eines prekären Berufsstands. Bamberg 2015, S. 87–102, die auch auf die Bedeutung von Sprachmeistern in der Konkurrenz zwischen Universitäten um potentielle Studierende aufmerksam macht (S. 100 f.). Vgl. auch Andreas Fahrmeir: Personalentscheidungen durch Wettbewerb oder Patronage? Die Auswahl britischer Spitzenbeamter im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen: Institutionen, Semantiken, Praktiken (Historische Zeitschrift, Beiheft 70). Berlin 2017, S. 103–132 und auch die laufenden Forschungen der Frankfurter DFG-Forschergruppe „Personalentscheidungen bei gesellschaftlichen Schlüsselpositionen“.

Konkurrenz und ihre Grenzen

aufschlussreicher Ansatzpunkt für epochenübergreifende Untersuchungen erwiesen haben.72 Die Frage nach Leistungswettbewerben in der „Vormoderne“ sollte also nicht in einen neuerlichen Versuch münden, die „Modernität“ der „Vormoderne“ nachzuweisen, sondern im Gegenteil zur Historisierung von Konkurrenz beitragen. Die historische Untersuchung von Konkurrenz als sozialer Praxis führt dazu, genauer über das Handeln von Akteuren zwischen „Mitmachen“ und „Verstrickung“ nachzudenken – und nicht zuletzt zu der Frage, inwiefern Konkurrenz wissentlich und zugleich „wider Willen“ stattfinden kann. Der Blick auf solche Verstrickungen in der Vergangenheit kann, im Sinne heuristischer Verfremdung gewendet, dazu beitragen, die eigene Gegenwart auf vergleichbare Prozesse hin zu be- und hinterfragen.73 Nicht zuletzt liegt in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Konkurrenz auch ein Indikator wie ein Potential für die Reflexion von wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Praktiken des Konkurrierens. In diesem Sinne lässt sich auch das Schlusswort von Ferdinand Tönnies auf dem thematisch einschlägigen Soziologentag 1929 verstehen: Wir befinden uns hier auch in einem Konkurrenzkampf; denn im großen und ganzen ist die Oeffentlichkeit noch nicht sehr geneigt, unseren Erörterungen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Erörterungen der Naturforscher finden ohne Zweifel größere Aufmerksamkeit. Ich glaube, wir können bisher kaum konkurrieren mit den Kongressen der Boxer oder Fußballspieler, haben also in dieser Hinsicht noch zu kämpfen, um in der Konkurrenz uns zu behaupten und fortzuschreiten.74

72 Hillard von Thiessen: Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne. In: Ders. / Arne Karsten (Hg.): Normenkonkurrenz in der Geschichte (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 50), Berlin 2015, S. 241–286, zur Definition 241 f. (in Abgrenzung von „Normenkollision“), S. 251–254; vgl. in diesem Band insbes. die Beiträge von Niels Grüne, Birgit Emich und Jens Ivo Engels. 73 So bereits die Überlegung bei Elias, Gesellschaft, S. 132; zur „Verstrickung“ in Konkurrenz S. 115–119 u. 130–135. Dass Elias diese Verstrickungslogik als „Konkurrenz-“ oder „Etikette-Apparatur“ beschreibt, wirkt vor dem Hintergrund der Figurationsanalyse ein wenig deterministisch (auch wenn er deren dynamischen Charakter zu betonen sucht, so S. 137). Vgl. zum Rangstreit als „Konkurrenz wider Willen“ Stollberg-Rilinger, Logik, S. 197–227, bes. S. 198 u. 216. 74 Ferdinand Tönnies, Schlusswort beim 6. Soziologentag (1928). In: Verhandlungen des Deutschen Soziologentages. Vorträge und Diskussionen, hg. v. d. Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 6 (Zürich, 17. bis 19. Sept. 1928). Tübingen 1929, S. 124. Ein weiterer Teilnehmer kommentierte an anderer Stelle mit einem gewissen Zynismus: „Wenn Professoren verschiedene und subjektiv gefärbte Ansichten nebeneinander vortragen in verschiedenen Universitäten und Hörsälen und dafür Geld einnehmen, dann ist das friedlicher Wettbewerb, aber keine Geistesgeschichte.“ Kommentar von [Robert] Wilbrandt. In: Diskussion über „Die Konkurrenz“, ebd., S. 84–124, hier: S. 96.

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Sektion 2: Königsschiffe. Schiffe als Medien fürstlicher Prestigekonkurrenz in der Frühen Neuzeit

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Frühneuzeitliche Kriegsschiffe als Medien der (Status-)Konkurrenz

„Wie lang ist die Längste? Wem gehört sie, von welcher Werft wurde sie gebaut? Und wer belegt die weiteren Plätze?“ Antworten auf diese Fragen verspricht die Website der Zeitschrift „Boote-Exclusiv“ in ihrem Artikel „Top 200: Die längsten Motor- und Segelyachten der Welt“.1 Solche Rankings werden von Special-InterestZeitschriften wie dieser jährlich erstellt. Medien wie „Spiegel Online“, die sich an ein breites Publikum wenden, greifen sie ebenso regelmäßig auf.2 Die Superyachten üben offensichtlich eine Faszination auf diejenigen aus, die sich derartige Schiffe niemals werden leisten können. Das, so ist zu vermuten, ist für die Super-Reichen unserer Tage eine Motivation dafür, sehr viel Geld in riesige Yachten zu investieren: Die längste dieser Yachten zu besitzen, oder diejenige mit der größten Tonnage, verspricht Prestigegewinn.3 Schiffe sind bis heute geeignet, als Medien der Statuskonkurrenz zu dienen: Auf der individuellen Ebene, wie im Fall der Superyachten, derjenigen von Unternehmen oder auf derjenigen von Staaten. Auf den beiden letztgenannten Ebenen wurden die großen Passagierschiffe am Anfang des 20. Jahrhunderts instrumentalisiert. Der deutsche Atlantik-Liner „Imperator“, der 1912 vom Stapel lief, trug als Galionsfigur – für Dampfschiffe in dieser Zeit ein Anachronismus – einen riesigen Reichsadler. Die Reederei Hapag ließ ihn wahrscheinlich montieren, um sicherzustellen, dass die „Imperator“ tatsächlich das längste Schiff der Welt sein würde. Zugleich aber transportierte die Galionsfigur unübersehbar die nationalen Ambitionen des Zweiten Kaiserreiches: Der Reichsadler schlug seine Klauen in die Weltkugel und trug die Devise „Mein Feld ist die Welt“.4 Diese Sektion beschäftigt sich mit frühneuzeitlichen Kriegsschiffen als Medien der (Status-)Konkurrenz. Bei Kampfschiffen lässt sich das Motiv, konkurrierende Mächte symbolisch auszustechen, von der Antike bis in die Gegenwart verfolgen. 1 URL: https://www.boote-exclusiv.com/top200/motoryachten (18.09.2020). 2 Vgl. bspw. URL: https://www.spiegel.de/reise/aktuell/yacht-ranking-die-groessten-und-teuerstenyachten-der-welt-a-1225454.html (18.09.2020). 3 Wolfgang Kemp, der in seinem Essay „Der Oligarch“ die Yacht zum charakteristischsten Attribut der post-sowjetischen Oligarchen erklärt, nennt den „Statuskonsum“ nur en passant, um dann auszuführen, wie die Schiffe, die Sicherheit und Autonomie versprechen, den Oligarchen in vielfältiger Weise als „Werkzeug“ dienten. Vgl. Wolfgang Kemp: Der Oligarch. Springe 2016, S. 78 f. 4 Vgl. Robert Wall: Die goldene Zeit der Ozeanriesen. Gütersloh 1977, S. 105 f.

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Ptolemaios IV. ließ im 3. Jahrhundert v. Chr. ein „doppelrümpfiges Schiff der Vierzigerklasse mit einer Länge von 130 Metern“ bauen, das für 3000 Soldaten und 4000 Ruderer ausgelegt war.5 Das Schiff sprengte damit alle zeitgenössischen Maßstäbe. Nach Colin Thubrons Einschätzung taugte das riesige Wasserfahrzeug indes „nur als Paradeschiff “.6 Mit Blick auf Flugzeugträger der Gegenwart konstatiert die Website „Marineinsight“: „An aircraft carrier is not a mere big vessel that is equipped to engage in warfare. With never-ending territorial disputes worldwide, the aircraft carrier is a symbol of prestige and power for the navies across the world.“7 Der Charakter großer Kriegsschiffe als Symbole militärischer und politischer Macht lässt sich für die Frühe Neuzeit besonders gut nachweisen. Das liegt zum Ersten daran, dass sich gerade in dieser Epoche die größten und prestigeträchtigsten Schiffe oft als schwer manövrierbar und daher als militärisch wenig nützlich erwiesen. Die „Great Michael“, die „Henry Grâce à Dieu“ und die „La Grande Françoise“, Riesen-Kriegsschiffe, welche die Könige Schottlands, Englands und Frankreichs in den 1510er Jahren in kurzem zeitlichem Abstand in dem Bestreben bauen ließen, die rivalisierenden Monarchen zu übertrumpfen, waren so schwerfällig, dass es nahezu unmöglich war, sie im Falle einer Seeschlacht überhaupt in Schussweite zu den gegnerischen Schiffen zu bringen. In der Einschätzung Benjamin Reddings wog dies allerdings nicht schwer, weil sie ihre Funktion, dem jeweiligen Herrscher Respekt und Prestige zu verschaffen, dennoch erfüllen konnten: „The early modern flagship did not need to be the most manoeuvrable, powerful, or generally effective warship in battle. It merely needed to suggest these qualities to create an image that would encourage others to trust the message.“8 Das funktionierte lediglich dann nicht mehr, wenn das Prestigeschiff bereits bei der Jungfernfahrt sank, wie es Gustav Adolphs „Wasa“ im August 1628 im Hafen von Stockholm zustieß. Die Schiffbauer, die durchaus um die konstruktiven Mängel des Schiffes wussten, trieben seine Indienststellung gleichwohl voran, weil sie wussten, dass ihr König mit der „Wasa“ unbedingt bald auf der Ostsee Flagge zeigen wollte.9 Gerne wurden besonders große und prachtvolle Kriegsschiffe in diplomatischer Mission eingesetzt, in dem Bewusstsein, dass sie bei einem ausländischen Publikum Eindruck machen würden. Jakob IV. von Schottland nutzte 1512 die „Great Michael“ als die Bühne, auf der er den neuen französischen Gesandten, Charles de Tocque,

5 Vgl. Colin Thubron: Die Seefahrer des Altertums. Amsterdam 1982, S. 73. 6 Ebd. 7 URL: https://www.marineinsight.com/types-of-ships/top-10-aircraft-carriers-in-the-world (17.08.2020). 8 Benjamin W. D. Redding: Spectacles of the Sea. Warship Decoration and Ideology in Early Modern Europe. In: Claire Jowitt u. a. (Hg.): The Routledge Companion to Marine and Maritime Worlds 1400–1800. London / New York 2020, S. 298–320, Zitat S. 317. 9 Vgl. ebd., S. 306.

Frühneuzeitliche Kriegsschiffe als Medien der (Status-)Konkurrenz

empfing.10 Zehn Jahre später führte Heinrich VIII. dem kaiserlichen Gesandten die „Henry Grâce à Dieu“ vor. Dieser zeigte sich hinterher zuversichtlich, dass die Habsburger im Bündnis mit England Frankreich würden besiegen können.11 Nachdem in England 1613 die Hochzeit Friedrichs V. von der Pfalz mit Elisabeth Stuart gefeiert worden war, ließ der Brautvater Jakob I. das Paar auf der „Prince Royal“ nach Vlissingen übersetzen, von wo sie ihre Reise in Friedrichs Heimat fortsetzten. Die „Prince Royal“ war damals das Prestigeschiff der Stuarts, der erste für die Royal Navy erbaute Dreidecker.12 Das Gemälde „The Arrival of the Elector Palatine at Flushing, 29 April 1613“, das die „Prince Royal“ ganz in den Mittelpunkt stellt, belegt den propagandistischen Wert, der diesem Kriegsschiff in den Augen des Malers Adrian Willaerts zukam (Abb. 1). Philipp II. und Philipp III. nutzten 1581 und 1619 jeweils besonders prachtvolle Galeeren, um ihre Entrée solemnelle in Lissabon zu halten.13 Wie Eugen Rickenbacher in dieser Sektion zeigt, wusste sich auch Ludwig XIV. eines Prestigeschiffs als Mittel der Diplomatie zu bedienen: Er ordnete ausdrücklich an, dass dem osmanischen Gesandten Süleyman Aga auf seiner Rückreise die Kriegsflotte in Toulon gezeigt werde, unter anderem die riesige und reich verzierte „Royal Louis“. Wenn der Zusammenhang zwischen Kriegsschiffen und monarchischem Prestigestreben in der Frühen Neuzeit besonders klar erkennbar ist, so liegt das zum Zweiten daran, dass man nicht nur durch Größe und Bewaffnung zu beeindrucken suchte, sondern auch durch reiche Verzierungen. So war die von Karl I. in Auftrag gegebene, 1637 fertiggestellte „Sovereign of the Seas“ nicht nur das größte und am schwersten bewaffnete Kriegsschiff ihrer Zeit, sondern mit rund 1200 hölzernen Skulpturen auch „probably the most highly decorated ship ever seen“.14 Damit die Verzierungen so exquisit ausfielen, wie es die Würde des jeweiligen Monarchen gebot, wurden prominente Künstler oder Gelehrte mit den Entwürfen betraut. So ließ Philipp II. von Spanien das Bildprogramm jener Galeere, mit der sein Halbbruder Juan d’Austria in die Schlacht von Lepanto segeln würde, von dem humanistisch gebildeten Autor Juan de Mal Lara konzipieren.15 Ludwig XIV. beauftragte Hof-

10 Vgl. Angust Constam: Sovereigns of the Sea. The Quest to Build the Perfect Renaissance Battleship. Hoboken, N. J. 2008. Kindle-Ausgabe, Position 1330. 11 Vgl. Redding, Spectacles of the Sea, S. 302. 12 Vgl. Rif Winfield: British Warships in the Age of Sail 1603–1714. Design, Construction, Careers and Fates, Barnsley 2009, Kindle-Ausgabe, Position 2329–2330. 13 Vgl. Sylvène Édouard: Un songe pour triompher. La décoration de la galère royale de Don Juan d’Autriche à Lépante (1571). In: Revue historique 4 (2005), Nr. 636, S. 821–848, hier S. 846. 14 Constam, Sovereigns of the Sea, Position 4588. 15 Édouard, Un songe pour triompher, S. 827.

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künstler wie Charles le Brun und Jean Bérain mit den Entwürfen für die reich verzierten Bug- und Heckpartien seiner Kriegsschiffe.16 So verwundert es nicht, dass die Kriegsschiffe komplexe Bildprogramme präsentierten, die – gleich jenen von Schlossfassaden oder ephemeren Festarchitekturen – geeignet waren, Herrschaftsansprüche gegenüber konkurrierenden Mächten in einer Weise zu visualisieren, wie es bei modernen Schiffen nicht mehr der Fall ist. Am Galion der unglücklichen „Wasa“ waren die Bildnisse der römischen Kaiser angebracht. Augustus indes fehlte. Seinen Platz nahm als Galionsfigur ein Löwe, Symboltier der schwedischen Könige, ein. Auf diese Weise, so merkt Fred Hocker an, konnte Gustav Adolf als der neue Augustus erscheinen.17 Auf der „Predestinatsia“, dem im Auftrag Peters des Großen erbauten ersten russischen Linienschiff, wurde gezeigt, wie Herkules den Nemeischen Löwen erlegte – eine Allegorie auf Peters Ambitionen, Schweden zu besiegen.18 Im Fall der bereits erwähnten „Sovereign of the Seas“ transportierte bereits der Schiffsname den Anspruch Karls I., die Gewässer rund um Großbritannien zu beherrschen. Ihre Galionsfigur zeigte König Edgar (regierte von 959 bis 975), wie er mit gezücktem Säbel sieben Vasallenkönige niederritt, darunter die von Schottland und Wales. Auf Edgar wurde im 17. Jahrhundert – auf Grundlage einer fehlerhaften Übersetzung einer gefälschten Urkunde – der zur Zeit Karls I. vor allem gegenüber der Niederländischen Republik verfochtene Anspruch der englischen Könige zurückgeführt, als Meeresfürsten über die Gewässer rund um Britannien zu herrschen.19 Die beiden folgenden Beiträge beleuchten in unterschiedlicher Weise den Zusammenhang von Kriegsschiffen und (Prestige-)Konkurrenz: Während Eugen Rickenbacher das Bildprogramm eines einzelnen Schiffes in den Blick nimmt,20 gibt J. David Davies einen Überblick über die Repräsentationsstrategien, die sich an den Kriegsschiffen und Yachten der Stuartkönige Karl II. und James II. nachweisen lassen und die er als Ausdruck einer „naval ideology“ deutet. Beide Beiträge illustrieren, dass in der Frühen Neuzeit mit Schiffsdekorationen wie -namen innenwie außenpolitische Botschaften gesendet werden konnten.

16 Vgl. neuerdings zu den Bildprogrammen der Schiffe Ludwigs XIV. Jan Pieper: Das barocke Schiffsheck als Architekturprospekt. Architectura Navalis im Zeitalter des höfischen Absolutismus. Aachen / Berlin 2019. 17 Vgl. Fred Hocker: Vasa. A Swedish Warship. Stockholm 2011, S. 69. 18 Vgl. Redding, Spectacles of the Sea, S. 314. 19 Vgl. Hendrik Busmann: Sovereign of the Seas. Die Skulpturen des britischen Königsschiffes von 1637. Hamburg 2002, S. 66–68 u. 187–194. 20 Vgl. auch Eugen Rickenbacher: Über den Wellen bin ich einzigartig. Das Skulpturenprogramm am Heck der Royal Louis (1668). Berlin / München 2013.

Frühneuzeitliche Kriegsschiffe als Medien der (Status-)Konkurrenz

Abb. 1 The Arrival of the Elector Palatine at Flushing, 29. April 1613, Ölgemälde von Adam Willaerts aus dem Jahr 1623. Das Gemälde ist Teil eines Bilderzyklus’, mit dem die Hochzeit Friedrichs V. von der Pfalz mit Elizabeth Stuart, Tochter Jakobs I. von England, kommemoriert wird. Die Hochzeit wurde in London gefeiert; das Brautpaar absolvierte anschließend die erste Etappe der Reise in die Pfalz auf der Prince Royal. Diese war das größte und am schwersten bewaffnete Schiff der englischen Flotte. Indem er zahlreiche kleinere Schiffe um sie herum gruppiert, hebt Willaerts ihre imposanten Dimensionen hervor. National Maritime Museum Greenwich, BHC 4176.

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Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV. im Spiegel der Dekorationen der „Royal Louis“ von 1668

Im Sommer 1669 befanden sich zwei Verbände französischer Kriegsschiffe aus Toulon im Auftrag von Ludwig XIV. (1638–1715) auf unterschiedlicher Mission im südöstlichen Mittelmeer, um der Hohen Pforte des Sultans Mehmet IV. (1642–1693) sowohl diplomatische als auch kriegerische Durchsetzungskraft zu demonstrieren. In beiden französischen Geschwadern fuhren jene gut bewaffneten Schiffe, welche der Finanzminister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) in den Jahren nach Ludwigs Proklamation der Selbstregierung 1661 in den Arsenalen Frankreichs im Rahmen eines immensen Flottenbauprogrammes in rascher Folge hatte bauen lassen. Seit über einem Jahrzehnt waren die Beziehungen zwischen Frankreich und dem osmanischen Imperium durch eine Diplomatie im Grenzbereich zu Drohgebärden und durch stellvertretende Kampfhandlungen in ein gefährliches Konkurrenzverhältnis abgeglitten. Alte, privilegierte Handelsbeziehungen standen auf dem Spiel. Die beiden Verbände fuhren ohne das größte und prächtigste der neuen Schiffe zur See. Die „Royal Louis“ blieb damals kurz vor ihrer Vollendung im Arsenal von Toulon zurück. Ihre Heckskulpturen und Dekorationen der Offiziersräume thematisierten Ludwigs Sicht auf das Verhältnis zu den Osmanen, aber auch zum Befehlshaber des größeren der beiden Schiffsverbände, François de Vendôme, Duc de Beaufort (1616–1669), einem Blutsverwandten Ludwigs.1 Während des Adelsaufstandes der Fronde (1648–1653) hatte Beaufort noch auf der Seite von Ludwigs Gegnern gestanden. Der kleinere der beiden Verbände legte als erster wieder in Toulon an. Mit an Bord war Süleyman (Soliman) Aga, ein Gesandter Mehmets, der in dieser angespannten Lage einen Brief für Ludwig mit nach Paris nehmen sollte. Die „Royal Louis“ dürfte in ihrer letzten Bauphase für einen Gast wie Süleyman Aga bereits ein unübersehbarer Blickfang gewesen sein. Colbert wünschte, dass insbesonde-

1 Jean Boudriot u. a.: Les vaisseaux de 74 à 120 canons. Etude historique 1650–1850. Paris 1995, S. 20; Rif Winfield: French Warships in the Age of Sail 1626–1786. Design, Construction, Careers and Fates. Barnsley 2017, S. 57.

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re ausländische Besucher die repräsentativsten der neuen Schiffe in den Häfen Frankreichs zu Gesicht bekommen sollten.2 In welchem Bezug standen nun die Skulpturen und Malereien der „Royal Louis“ zur damaligen innen- wie auch außenpolitischen Situation Ludwigs? Inwiefern konnten die Botschaften dieser Dekorationen noch aktuell sein, als sich die Ereignisse um Beaufort und um den osmanischen Gesandten überschnitten?

Zu den Dekorationen im Heckbereich der „Royal Louis“ von 1668 Die „Royal Louis“ wurde 1666 dem erfahrenen niederländischen Schiffbauer Gédéon Rodolphe3 (nachgewiesen 1646–1671) in Auftrag gegeben, 1668 zu Wasser gelassen und Ende 1669 vollendet. Ihr Aussehen ist im Vergleich zu anderen Schiffen der Zeit gut dokumentiert. 1677 lässt ein gewisser Commissaire Hayet eine Beschreibung von dreißig Seiten drucken, die er anlässlich der Überholung des Schiffes zusammengetragen hatte.4 Das Büchlein beschreibt auf den letzten fünf Seiten die inneren und äußeren Dekorationen, ohne jedoch auf deren spezielle Bedeutung einzugehen. Erhalten sind auch ungewöhnlich viele, weitgehend übereinstimmende Zeichnungen vor allem der Heckdekorationen. Drei davon stammen vermutlich aus der Hand von Pierre Puget (1620–1694), welcher von 1668 bis 1679 die Bildhauerwerkstatt der Werft von Toulon leitete (Abb. 1). Eine weitere, detaillierte Zeichnung des Heckschmucks zeigt ein spätes, aber offenbar nicht endgültiges Entwurfsstadium (Abb. 2).5 Der Auftrag für den Entwurf aller Dekorationen ging noch vor Pugets Ankunft in Toulon an den ersten Hofmaler Ludwigs in Paris, an Charles Le Brun (1619–1690).6 Zwar hatten auch drei Werftbildhauer aus Toulon Entwürfe vorgelegt, Ludwig aber zielte auf eine einheitliche Bildsprache, wie sie Le Brun im Abgleich mit der Petite Académie erarbeiten konnte.

2 Eugen Rickenbacher: Über den Wellen bin ich einzigartig. Das Skulpturenprogramm am Heck der Royal Louis (1668). Berlin 2013, S. 143–144, Anm. 270. 3 Es ist nicht klar, ob Gédéon (Gedeon) oder Rodolphe der Familienname ist. Hayet nennt ihn Rodolphe Gedeon, die Abschrift eines Dokumentes (Bibliothèque nationale de France, Collection Margry, NAF 9481, fol. 326) ist jedoch mit Gedeon Rodolphe signiert. 4 Hayet: Description du Vaisseau le ROYAL LOUIS. Dediée à Messire Pierre Arnoul, Conseiller du Roy en ses Conseils, Intendant general de la Marine de Levant. Marseille 1677. Mir sind nur zwei Exemplare bekannt (Bibliothèque nationale de France, RESP-V-370 mit zwei eingebundenen Zeichnungen und Privatbesitz). 5 Rickenbacher, Über den Wellen, S. 7–28 u. 93–118. Im Folgenden beziehe ich mich auf meine dort gemachten Ausführungen. 6 Charles-Philippe de Chennevières u. a. (Hg.): Archives de l‘art français. Recueil de documents inédits relatifs à l’histoire des arts en France, Reihe I, Bd. IV. Paris 1855–1856, S. 233–239.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

Abb. 1 Pierre Puget, Heckansicht der „Royal Louis“ (1668) vor Anker, 1676 (?), bezeichnet als „Le Grand Monarque dessiné par P. Puget“ (recto), Feder laviert auf Pergament, 46.5x51cm (Ausschnitt), Privatsammlung Europa.

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Abb. 2 Umkreis Charles Le Brun (Werkstatt im Arsenal von Toulon?), Entwurf für die Heckdekorationen der „Royal Louis“ (1668), 1668 (?), bezeichnet als „P.P.F. 1681“ (recto) und „Pujez“ (verso), Bleistift und Feder laviert auf Papier, 58.5x44cm (Ausschnitt), ENSBA Paris.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

Die Heckarchitektur gliederten drei übereinander angeordnete Galerien. Darüber, im Couronnement, dominierte ein thronender, antikisch gerüsteter Feldherr mit Kommandostab das ganze Heck. Die Skulptur stand vermutlich für den mazedonischen Feldherrn Alexander. Auf der Entwurfszeichnung trägt sie aber auch den für Ludwig typischen Oberlippenbart. Gemäß Hayet saß die Figur auf einem „Thrône de Justice“. Vermutlich meinte er damit das Lit de Justice des Pariser Parlamentes, eine Art Thron, auf dem der König das letzte Wort der Rechtsprechung ausübte. Viktorien und trompeteblasende Renommées umrahmten das Couronnement. Wie die weiteren Figuren hatte sie Le Brun als aufwendige Vollplastiken konzipiert. An den Galeriebrüstungen unter der Figur des Feldherrn Ludwig waren dessen eigenes Wappen und darunter jenes seines Flottenkommandanten Beaufort angebracht.7 Beaufort war der Sohn von César Duc de Vendôme (1594–1665), einem Bastard du Roy, der von der großzügigen Protektion durch seinen Vater Heinrich IV. (1553–1610) profitierte. Nach dessen Tod entlud sich das unvermeidliche Misstrauen des engeren Machtzirkels um Ludwig XIII. (1601–1643), dem jüngeren Halbbruder von Vendôme, in Anfeindungen, die zu Festsetzung, Flucht und Exil der beiden Herzöge führten. Schließlich stellte sich Vendôme, anders als Beaufort, desillusioniert in den Dienst des Königs. 1650, während den Kriegswirren der Fronde, konnte sich Vendôme die einträgliche Grande-Maîtrise et Surintendance Générale de la Navigation et du Commerce de France und seinem ungleichen Sohn Beaufort trotz Reibereien die Erbberechtigung auf dieses Amt sichern. Der ungestüme Spross agierte aber noch bis 1652 auf der Seite der Fronde.8 Nach deren Niederschlagung zeigte sich Ludwig dankbar gegenüber Vendôme für seine militärischen Verdienste, Beaufort jedoch begegnete er mit deutlicher Zurückhaltung. Dennoch verlieh er ihm 1661 den Heilig-Geist-Orden, Frankreichs höchste Auszeichnung. Sie war an beiden Wappen des Schiffshecks zu sehen. Beauforts Wappen stand also sowohl für dessen Einbindung wie auch Unterordnung. Beidseits dieses Wappens lagerten laut Hayet zwei Meeresgottheiten, die Nereide Thetis und Neptun. Sie blickten auf zu Ludwig, ließen ihm von zwei Knaben die Reichtümer der Länder und Meere präsentieren und wichen zur Seite, um ihm die Führung über die darunter angebrachten Meerwesen zu übergeben. Diese Sirenen, Tritonen und Seepferde zogen und begleiteten Neptuns Muschelwagen, der zugleich Ludwigs Thron war. Die Präsente der Knaben und ein Füllhorn in den Armen der Thetis sowie deren Haarschmuck deuteten den fruchtbaren Seehandel

7 Die Entwurfszeichnung zeigt an der ersten Galerie noch ein drittes Wappen, jenes des Intendant Général im Hafen von Toulon, Louis Le Roux d’Infreville (um 1600–1672). Weitere Quellen lassen aber vermuten, dass es nicht angebracht wurde (Rickenbacher, Über den Wellen, S. 86–87). 8 Jean-Jacques Renault: Le duc de Vendôme et le duc de Beaufort: quand le fils dépasse le père. In: Bulletin de la société archéologique, scientifique et littéraire du Vendômois, 24.03.2017, S. 109–115.

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an, Neptuns Dreizack dessen bewaffneten Schutz. Hayets Text sagt nichts über einen Kopfschmuck der Nereide. Ein Vergleich der Entwurfszeichnung mit Le Bruns Skizzen für die ein Jahrzehnt später begonnenen Deckenmalereien der Galerie des Glaces (1678–1684) in Versailles lässt aber vermuten, dass Thetis in ihrem Haar die Wuchsformen roter Korallen (Edelkorallen) trug. Mehrere der Deckenbilder Le Bruns zeigen Thetis mit einer Korallenbekrönung, um sie als Repräsentantin des Mittelmeeres zu kennzeichnen. Die Versailler Malereien gehen vermutlich nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in Le Bruns Bildsprache auf die 1650er und -60er Jahre zurück. 1654 trat der jugendliche Philippe d’Orléans (1640–1701), Ludwigs Bruder, in einem höfischen Ballett als einer von zwölf Korallentauchern auf. Zugehörige Zeichnungen von Henri Gissey (1621–1673) zeigen den Duc ebenfalls mit roten Korallen auf dem Haupt.9 Diese begehrten Korallen wurden als rotes Gold bis nach Asien gehandelt und in Marseille zu wertvollen Preziosen verarbeitet. Für die Bestände vor Algier und Tunis konnten französische Handelskompanien mit der Unterstützung des königlichen Hofes schon im 16. Jahrhundert Ernte- und Handelsmonopole vereinbaren.10 Thetis deutete damit auch Frankreichs Handelsverbindungen mit dem osmanischen Reich an, die jeweils in Capitulations (Ahdname) festgehalten wurden. Die Capitulations waren zeitlich begrenzte Abkommen, wie sie der Islam mit Ungläubigen zuließ, um machtpolitische und wirtschaftliche Ziele zu verfolgen. Solche Vereinbarungen wurden immer wieder trotz Konfrontationen und gegenseitiger religiöser Vorbehalte neu verhandelt. Noch deutlicher ist der Verweis auf einer der Zeichnungen Pugets, auf welcher Thetis einen turbanartigen Kopfschmuck trägt (Abb. 1).11 Direkt beim Feldherrn im Couronnement befanden sich zwei zu Boden gezwungene, halbnackte Gefangene, die sich ebenfalls über ihren Kopfschmuck näher bestimmen lassen. Die Entwurfszeichnung (Abb. 2) zeigt den einen mit Oberlippenbart und einem Haarbüschel auf dem sonst kahlen Schädel, den anderen mit einfachem Turban. Hayet schreibt von zwei „Esclave[s]“ (Sklaven), vermutlich um ihre Bestimmung als französische Galeerenruderer anzudeuten. Vergleichbare

9 Isaac de Benserade: Les noces de Pelée et de Thetis. Comedie Italienne en Musique, entre-meslee d’un Ballet sur le mesme sujet, dansé par sa Majeste. Paris 1654, S. 12–13; Aukt.-Kat. Sotheby’s New York: Old Master Drawings, 25.01.2002, Lot 62 (Henry Gissey: Monsieur, le Duc d’Orléans); Rickenbacher, Über den Wellen, S. 29–44. 10 Paul Masson: Histoire du commerce Français dans le levant au XVII siècle. Paris 1896, S. 209–216; Paul Masson: Les Compagnies du Corail. Etude historique sur le commerce de Marseille […]. Marseille 1908, S. 108–126 u. 235; Bernard Bachelot: Louis XIV en Algérie. Gigeri, 1664. Monaco 2003, S. 33 u. 37. 11 Puget variierte auch in anderen Zeichnungen gerne die Details. Vgl. Rickenbacher, Über den Wellen, S. 127.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

Darstellungen von Gefangenen mit Turban finden sich wiederum in einer von Le Bruns Deckenmalereien der Galerie des Glaces in Versailles, im Rétablissement de la Navigation 1663. Pierre Rainssant (um 1640–1689) nennt diese Gefangenen „Corsaires Turcs“ (türkische Seeräuber).12 Mit beiden Darstellungen dürften (nordafrikanische) Freibeuter gemeint sein. Die Trophäen hinter der Skulptur von Ludwig im Couronnement der „Royal Louis“ weisen mit den Abbildungen von Schiffsheck und Kanonen in dieselbe Richtung.13 Die Darstellung weiterer „Turcs“ sowie Bezüge zu Beaufort belegt Hayet auch für die achterlichen Offiziersräume. Noch bevor man eintrat, konnte man am Mastfuß des Besanmastes, der vermutlich auf dem zweiten Geschützdeck stand (und nicht wie viel häufiger auf dem ersten Geschützdeck), eine Devise lesen: Je suis l’unique dessus l’onde. Et mon Roy l’est dedans le monde.14

Die Worte sind offenbar dem Schiff in den Mund gelegt. Beaufort konnte sie aber auch als Ehrung seiner selbst verstehen, denn in unmittelbarer Nähe muss sich der Rudergänger am Kolderstock befunden haben. Damit bediente er das Ruder gemäß den Anweisungen des höchsten der anwesenden Offiziere. Für die Nähe der Devise zu Beaufort sprechen auch die gemalten Wappen von ihm und seinem verstorbenen Vater Vendôme in der Grande Chambre unmittelbar hinter dem Kolderstock, wo sie jenes des Königs flankierten. Die Malereien mit den Türken befanden sich auf dem dritten Deck. Am Schott davor unterhielten sich aufgemalte Wachen beim Spiel oder beim Pfeiferauchen und zeugten mit ihrer Gelassenheit von Ludwigs sicherem Frieden. Daran anschließend führte ein Gang an zwei Offiziersräumen links und rechts vorbei zur reich geschmückten Chambre de Conseil. Hayet schreibt zu diesem Gang:

12 Pierre Rainssant: Explication des tableaux de la galerie de Versailles. Versailles 1687, S. 69; Lydia Beauvais: Histoire allégorisée des dix-huit premières années du règne de Louis XIV. In: Jeanne Faton u. a. (Hg.): La Galerie des Glaces. Histoire et restauration. Dijon 2007, S. 218–219. 13 Hayet, Description, S. 29; Arnold Sigl: Die treibende Kraft – Manpower. Ein Streiflicht auf die Galeere des 16. Jahrhunderts. In: Sabine Haag u. a. (Hg.): Piraten und Sklaven im Mittelmeer. Ausst.-Kat. Schloss Ambras. Innsbruck 2019, S. 65–72, hier S. 66. Einen gleichen Turban trägt übrigens auch ein kniender Bittsteller vor dem thronenden Ludwig auf einem Karton Le Bruns für das 1672–1679 im Schloss von Versailles erbaute und später entfernte Treppenhaus (Escalier des Ambassadeurs). Frachtballen kennzeichnen den Orientalen als Händler, dem Ludwig nun seinerseits in einem Schriftstück ein Abkommen gewährt. 14 Hayet, Description, S. 26. „Über den Wellen bin ich einzigartig, und mein König ist es in der Welt“ (Übersetzung des Autors). Bereits im Textheft zum erwähnten Ballett der Hochzeit von Peleus und Thetis 1654 reimen sich Verse auf „onde“ und „monde“. Interessanterweise drückt dort jedoch ein Meereshalbgott Selbstmitleid mit seinem Halbgottdasein aus. Im selben Stück trat Beaufort als Führer von Angreifern auf; er kannte also zweifellos den Text (Benserade, Noces, S. 13 u. 20).

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[…] on a peint des Turcs qui relevent des rideaux, & qui semblent saluer ceux qui entrent […].15

Hayet führt nicht aus, ob es sich hier um freie oder um unfreie Osmanen handelte. So oder so aber dürfte aus ihrer Herkunft und ihren Begrüßungsgesten über das konkrete Empfangsritual auf dem Schiff hinaus die Symbolkraft einer weitergehenden Einladung an Ludwigs Staatsvertreter und Handelsleute gesprochen haben.16 Im Raum an Steuerbord war ein Gemälde mit Apollo, Midas und Pan angebracht, in jenem an Backbord ein Bild wieder mit Apollo, wie er dem Satyr Marsyas („Martias“, wie Hayet ihn nennt) die Haut abzieht. Die beiden Darstellungen beziehen sich auf zwei bekannte Erzählungen der griechischen Mythologie, in denen Apollo die göttliche Ordnung mit Strafen verteidigt. Marsyas bestrafte er für die Verwegenheit, ihn, den Gott der Künste, mit seiner Flöte zu einem musikalischen Wettstreit herausgefordert zu haben. Dem König Midas zog er die Ohren lang zu Eselsohren, weil dieser, irregeleitet von seiner ungenügenden Wahrnehmung, in einem ähnlichen Wettstreit zwischen Apollo und Pan dem Flötenspiel des Waldgottes den Vorzug gegeben hatte.17 In vergleichbarer Weise legte Ludwig nach den Erfahrungen der Fronde großen Wert darauf, das politische System um das Zentrum des Königs herum zu festigen und Unbotmäßigkeit zu bestrafen. Der Sonnengott Apollo wurde Ludwig zum Selbstbild, und Beaufort wird die Warnung der beiden Gemälde verstanden haben. An seinem Finanzminister Nicolas Fouquet (1615–1680), im Amt über die Maßen reich geworden, hatte Ludwig kurz nach dem Beginn seiner Selbstregierung 1661 mit dessen Einkerkerung ein Exempel statuiert. Kein Untergebener durfte es noch wagen, über seinen eigentlichen Rang hinausgehen zu wollen oder einem solchen Versuch zu applaudieren. In der Chambre de Conseil dahinter sah man die Porträts von Ludwig, dem jungen Thronfolger, der Königin und von Monsieur, dem Bruder des Königs. Schließlich führte der Raum auf die zweite Galerie hinaus, wo das Wappen Beauforts zwischen 15 Hayet, Description, S. 27: „man hat Türken gemalt, die Vorhänge heben und die jene zu grüßen scheinen, die eintreten“ (Übersetzung des Autors). 16 Derbe Türkenköpfe fand man auf Schiffen oft auch an Betingen, Ohrhölzern und an den Geschützrohren. Von Jean Baubé, dem Geschützgießer der „Royal Louis“, ist ein großes Bronzegeschütz mit der Büste eines geketteten türkischen Sklaven anstelle der Geschütztraube erhalten (Anonymus. In: Neptunia. Revue trimestrielle de l’Association des Amis des Musées de la Marine 2013, Nr. 269, S. 61; Boudriot, Vaisseaux de 74 à 120 canons, S. 20; Richard Endsor: The Master Shipwright’s Secrets. How Charles II built the Restoration Navy. Oxford 2020, S. 139). 17 Die Marsyas-Szene erhielt 1571 mit der Häutung des venezianischen Generalgouverneurs von Zypern Marcantonio Bragadin (*1523) durch die türkischen Eroberer ihr profanes, grausames Äquivalent.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

den Skulpturen von Neptun und Thetis befestigt war, den Sinnbildern für die Handels- und die Kriegsmarine.18 Alle diese Bilder ergänzen den Bedeutungsbogen des Hecks: Beaufort dient Ludwig XIV. als sein Werkzeug zur See, damit Frankreich mit aller diplomatischen und militärischen Macht das Verhältnis zur Hohen Pforte klären und deren Ansprüche im gegenseitigen Handel binden kann, so dass die Osmanen seinen Vertretern bereitwillig einen „Vorhang“ öffnen, einen Zugang etwa zu neuen Capitulations. Ludwig wird dabei seiner gottgegebenen Führungsrolle gerecht, in der er nach der Fronde bereits den Frieden und die Ordnung im Innern wiederhergestellt hat. Wer dieser Rolle aber auf den Meeren im Weg steht, muss seine neue Seemacht fürchten. Vier Atlanten, die den Feldherrn Ludwig über zwei Geschosse stützen, und drei große Hecklaternen vertiefen den panegyrischen Sinngehalt. Die Laternen stehen für den wahren Glauben des lichtbringenden Roi très chrétien an den dreifaltigen Gott. Er überstrahlt in Ludwig alle anderen Religionen und leuchtet die vier Erdteile aus (laut Hayet dargestellt von den Atlanten), so dass einem Ebenbild des Königs wie jenem an der „Royal Louis“ – in weltlicher Anlehnung an die göttliche Allgegenwart – nichts verborgen bleibt. Diesen kurzen Ausführungen zu den Dekorationen der „Royal Louis“ kann nun die Schilderung einiger Ereignisse zwischen dem osmanischen und dem französischen Reich gegenübergestellt werden.

Osmanisch-französische Konflikte und der Gesandte Süleyman Aga Von den eingangs erwähnten Geschwadern ankerte das erste, kleinere mit vier Kriegsschiffen gleich nach der Jahreswende bei Istanbul, dem osmanischen Machtzentrum der Hohen Pforte.19 Es sollte den französischen Botschafter Denis de La Haye-Vantelet (im Amt 1665–1670) nach Frankreich zurückholen. Die Hohe Pforte hatte gedroht, ihn zusammen mit Landsleuten, Händlern und Schiffseignern einsperren zu lassen, da französische Korsaren immer wieder unter maltesischer Flagge osmanische Handelsschiffe überfielen, Ludwig aber keine Kompensationszahlungen leisten wollte.20 Bereits 1658 war es zu einer ähnlichen diplomatischen Krise gekommen, als der vorherige französische Botschafter und Vater von Denis de La Haye-Vantelet, Jean de La Haye (im Amt 1639–1665), in Istanbul unter dem Vorwurf der Spionage 18 Hayet, Description, S. 27. 19 Laurent d’Arvieux: Mémoires du chevalier d’Arvieux, envoyé extraordinaire du Roy […], hg. von Jean-Baptiste Labat. Bd. IV. Paris 1735, S. 113. 20 Phil McCluskey: An Ottoman envoy in Paris. Süleyman Aga’s mission to the court of Louis XIV, 1669. In: Osmanli Arastirmalari / The Journal of Ottoman Studies 48 (2016), S. 337–355, hier S. 341.

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für Venedig inhaftiert wurde. Er hatte sich den launischen Großwesir Köprülü Mehmed Pascha (um 1580–1661) zum Feind gemacht, da er sich offenbar das obligate Begrüßungsgeschenk sparen wollte. Die Lage verschärfte sich zusehends. Im kurzen Türkenkrieg von 1663/1664 kämpfte eine französische Einheit an der Seite des Rheinbundes für den Kaiser gegen die Türken, die in habsburgisches Kernland um Wien vorgedrungen waren. Eine prächtig ausgestattete französische Reiterei von etwa 2000 jungen Adligen trug entscheidend zum Sieg in der Schlacht beim kaiserlich-ungarischen Städtchen Gotthard an der Raab (Raba) über die zahlenmäßig weit überlegene osmanische Armee bei.21 1664 fielen die Franzosen in der nordafrikanischen Piratenstadt Djidjelli (Gigeri) ein, welche sie aber wegen Streitereien und unkoordiniertem Vorgehen nicht zu halten vermochten. Die Osmanen kompensierten den gewaltsamen Verlust eigener Seefahrzeuge mit der Beschlagnahme französischer Handelsschiffe für die Überführung von Truppen und Nachschub nach Kreta. Da maltesische Kaperfahrer und Seeräuber ihre Beute immer wieder nach Kreta brachten, hatte 1645 eine große türkische Armee begonnen, die venezianischen Stellungen der Insel aufzurollen, obwohl Venedig seinerseits über Capitulatione mit der Hohen Pforte verfügte.22 Eine dieser Stellungen war die befestigte Stadt Candia (Iraklio), die seit 1648 jahrzehntelang belagert wurde und zu deren Befreiung am 5. Juni 1669 der zweite, deutlich größere französische Flottenverband unter päpstlicher Flagge Segel setzte. Beauforts Befehl unterstanden 18 gut bewaffnete Kriegsschiffe und 17 kleinere Einheiten, unterstützt durch Galeeren aus Marseille. Die Verteidiger Candias, erschöpft vom jahrzehntelangen Widerstand und heimgesucht von Seuchen, vermochten ihre Kapitulation nicht mehr abzuwenden. Es kam nur noch zu einem Aufschub. Beaufort blieb nach Gefechten in der Nacht auf den 25. Juni unauffindbar, und unzureichende Strategien sowie der selbstverschuldete Verlust eines Flaggschiffes führten Ende August zum Abzug der Flotte und zur Übergabe der Festung an den Großwesir Köprülü Fazil Ahmed Pascha (1635–1676), Köprülü Mehmeds Sohn.23

21 Hans-Georg Majer: Kaiser und Sultan im Krieg. Der kurze Türkenkrieg (1663/64). In: Badisches Landesmuseum (Hg.): Kaiser und Sultan. Nachbarn in Europas Mitte 1600–1700, Ausst.-Kat. Schloss Karlsruhe. Baden-Baden 2019, S. 130–133; Klaus Schwartz: Vom Krieg zum Frieden. Berlin, das Fürstentum Brandenburg, das Reich und die Türken. In: Gereon Sievernich u. a. (Hg.): Europa und Orient 800–1900. Eine Ausstellung des 4. Festivals der Weltkulturen im Martin-Gropius-Bau, Berlin. Gütersloh u. a. 1989, S. 271–272; Rainssant, Explications, S. 61–63. 22 d’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 212–215; McCluskey, Ottoman envoy, S. 341. 23 Özkan Bardakçi u. a.: La dernière croisade. Les Français et la guerre de Candie 1669. Rennes 2008, S. 95–125; Nicolae Jorga: Geschichte des osmanischen Reiches. Nach den Quellen dargestellt. Bd. IV. Gotha 1913, S. 129–132; Michel Vergé-Franceschi: Le Masque de fer. La Flèche 2009, S. 173–174, 204 u. 219–226.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

Als der Sultan Anfang 1669 von der Abberufung des französischen Botschafters erfuhr, rief er ihn zu sich auf den Jagdsitz bei Larissa, um ihn dann im April 1669 mit dem Kaymakam (Vertreter des Großwesirs) und späteren Großwesir Mezifonlu Kara Mustafa Pascha (1634/35–1683) Ergänzungen zu den Capitulations erarbeiten zu lassen.24 Offenbar wollte man der konfrontativen Wirkung einer Abberufung entgegenwirken. Nachdem Köprülü Fazil Ahmed davon in seinem Lager vor Candia erfahren hatte, sprach er sich ganz gegen voreilige Erneuerungen der Capitulations aus; zuerst müsse man Ludwigs Haltung erfragen. Man einigte sich, nicht wie vorgesehen einen bedeutenden Mann im Rang eines Botschafters mit den französischen Schiffen zurück nach Frankreich fahren zu lassen, sondern den angesehenen Höfling Süleyman Aga als eine Art Briefbote, und dafür de La Haye-Vantelet in gutem Einvernehmen zurückzubehalten. Dieses Vorgehen entsprach der üblichen, selbstbewussten Regelung der Hohen Pforte, ständige Botschafter anderer Nationen bei sich aufzunehmen, eigene aber nur an sehr ausgesuchte Orte zu entsenden. Für Süleyman setzten die Osmanen nun einen nicht besonders großen Begleitzug zusammen. Die Verzögerungen verleiteten bereits zu Spekulationen, ob die Osmanen die Entwicklung der Dinge vor Candia abwarten wollten, um ihre eigene Haltung daran auszurichten. Schließlich landete die kleine Flotte nach mehrwöchiger Reise mit Zwischenstationen am 4. August in Toulon, wo sich Süleyman vom Empfang der Menschenmenge, den Kriegsschiffen und dem gut gerüsteten Materiallager der Werft beeindrucken ließ.25 Die weiteren, zuweilen peinlichen Ereignisse auf Süleymans Reise sind in jüngeren Aufsätzen aufgezeigt worden.26 Auf beiden Seiten waren Gefühle der Kränkung entstanden, die man mit einem dem Selbstbild gemäßen, würdevollen Auftritt auszugleichen versuchte, um so auf eventuelle Verhandlungsergebnisse einzuwirken. Die Beteiligten achteten dabei ganz besonders auf die symbolische Bedeutung der Details: Während sich Süleyman kaum um die Gebräuche seines Gastlandes kümmerte, plante Ludwig offenbar, dem Besucher ein Abbild des Zeremoniells für (französische) Botschafter an der Hohen Pforte zu bieten. Dies keineswegs, um sich anzubiedern, sondern um Gleichbehandlung und daraus folgend Gleichrangigkeit zu demonstrieren. Da jeweils der Großwesir in Vertretung des Sultans Ludwigs Botschafter empfing, begrüßte Außenminister Hugues de Lionne (1611–1671) Süleyman Aga im No-

24 d’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 120–121. 25 Ebd., S. 116–127; McCluskey, Ottoman envoy, S. 342–343. 26 Garrit Van Dyk: The embassy of Soliman Aga to Louis XIV. Diplomacy, dress and diamonds. In: Electronic Melbourne Art Journal, 9 (2017), S. 1–19; McCluskey, Ottoman envoy, S. 337–355; Adile Ayda: Molière et l’envoyé de la sublime Porte. In: Cahiers de l‘Association internationale des études françaises 9 (1957), S. 103–116; d’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 111–254.

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vember 1669 in Suresnes bei Paris auf einer Art Diwan und in einer dem Ornat des Großwesirs nachempfundenen Kleidung. Süleyman übergab ihm einen Brief des Kaymakams, wollte aber den Brief des Sultans entgegen der Erwartung de Lionnes nur persönlich in die Hände des Königs legen; sein Kopf würde davon abhängen.27 Dennoch entschied sich Ludwig für einen glanzvollen Empfang. Süleyman quartierte man auf seltsam sprechende Weise im Hôtel de Venise ein. Zur Zeremonie am 5. Dezember 1669 in Saint-Germain-en-Laye trug Ludwig einen goldbestickten Mantel mit äußerst wertvollen Diamanten, welche wohl die Reichweite von Frankreichs Handel demonstrieren sollten.28 Der weiß gekleidete Süleyman trat mit dem Brief, aber ohne Geschenke vor, verbeugte sich tief und wartete offensichtlich darauf, dass sich Ludwig für die Entgegennahme erheben würde. Stattdessen ließ Ludwig das Schreiben auf Hinweise zum Status des Gesandten wie das Wort elçi untersuchen, die vermeintliche Bezeichnung für einen türkischen Botschafter. Nach erfolgloser Durchsicht überließ Ludwig den Brief de Lionne, dem Süleyman ihn verweigert hatte. Haben Nachrichten von de La Haye betreffend die Beratungen vor Süleymans Abreise zur Verunsicherung über dessen Status beigetragen?29 Ludwigs Verhalten und die aufdringliche Neugier der vielen Umstehenden verletzten Süleyman in seinem Stolz. Er betonte später gegenüber dem Übersetzer Laurent Chevalier d’Arvieux (1635–1702), der Sultan persönlich würde Ludwigs Briefe öffnen.30 Ludwig selber aber mochte niemanden imitieren. Der Brief des Sultans fragte nach einem Ersatz für den abberufenen Botschafter und bat gleichzeitig um rasche Entlassung Süleyman Agas. Er wurde jedoch zurückbehalten und vom Kontakt mit Landsleuten und türkischen Sklaven abgeschirmt. Laut d’Arvieux wollte man die eben erst eingeleitete Gründung der Compagnie du Levant abschließen und eine Lösung für das gefährliche Vakuum nach dem Abzug von de La Haye-Vantelet finden. Schließlich bestieg Süleyman am 21. August 1670 in Toulon zusammen mit dem designierten Botschafter, dem Marquis de Nointel (1635–1685), ein Schiff nach Istanbul, mit positiven Signalen im Gepäck und – veranlasst von Ludwig – mit Geschenken von französischen Händlern, nicht aber von Ludwig selbst.

Wen erreichten die Botschaften der Dekorationen? Die Dekorationen der „Royal Louis“ verkündeten jedem einheimischen und fremden Betrachter die Botschaft der Macht Ludwigs zur innenpolitischen wie auch 27 D’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 137. 28 McCluskey, Ottoman envoy, S. 343; Van Dyk, Embassy, S. 11–13. Ludwigs Bekleidung soll die enorme Summe von 14 Mio. Ecus gekostet haben. 29 D’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 176; Van Dyk, Embassy, S. 13. 30 D’Arvieux, Mémoires, Bd. IV, S. 155–156 u. S. 174.

Innen- und außenpolitische Konkurrenz zu Ludwig XIV.

außenpolitischen Befriedung. In ihren Nuancen richteten sie sich insbesondere an Beaufort und Besucher wie Süleyman Aga. Aber hatten die beiden sie auch tatsächlich gesehen? Beauforts Anwesenheit in Toulon während der Endphase der Bauzeit der „Royal Louis“ ist belegt. Die Arbeiten an den Skulpturen hatten bereits im Frühling 1668 begonnen.31 Die Innendekorationen wurden wohl um dieselbe Zeit ebenfalls in Angriff genommen. Man kann annehmen, dass Beaufort vor seiner Abreise Anfang Juni 1669 Gelegenheit hatte, ein bereits sehr fortgeschrittenes Stadium der Dekorationsarbeiten zu sehen. Gespräche auf der Werft oder eigene Kenntnisse dürften ihm erlaubt haben, nicht nur die vertikale Anordnung der Wappen und die Devise am Besanmast, sondern auch die mythologischen Szenen um Apollo zu interpretieren. Unsicher ist, ob auch Süleyman Aga die „Royal Louis“ und ihre Dekorationen wahrnahm. Bekannt ist zumindest, dass er während der Rückreise 1670 auf ausdrücklichen königlichen Wunsch die Flotte im Hafen von Toulon besichtigte.32 Die aus Candia zurückgekehrten und die im Bau befindlichen Schiffe ersten bis dritten Ranges besaßen mit der eindrücklichen Zahl von etwa 1400 Geschützen eine Feuerkraft, die für die mediterranen Küstenstädte des osmanischen Großreiches eine ernstzunehmende Bedrohung darstellte.33 Selbst aus dieser Flotte ragte die „Royal Louis“ wohl heraus. Durch den Reisebericht eines hohen englischen Marinebeamten ist bekannt, dass das Schiff den Besucher 1683 gleich hinter der Hafenmole mit seiner Heckansicht empfing. Der aufmerksame Fachmann zeigte sich beeindruckt von dessen Skulpturenschmuck.34 Es ist gut denkbar, dass man bereits Süleyman nicht nur die Flottenstärke Toulons, sondern auch jene auf die Beziehungen zur Hohen Pforte zugeschnittenen Dekorationen des größten und prächtigsten der Schiffe zeigen wollte. Seine Ausschmückung war schließlich in Paris in nächster Umgebung des Königs entworfen worden. Diese Dekorationen hätten erkennen lassen, dass Ludwig dem Austausch über das Mittelmeer – mit dem osmanischen Imperium – mehr Raum geben wollte, aber nicht als Bittsteller, sondern als ebenbürtiger, mächtiger Heerführer und Handelsherr, der dem französischen Handel Beachtung zu verschaffen wusste und die Nadelstiche osmanischer Piraten nicht mehr hinnahm. Die beiden Gefangenen einerseits und andererseits die Attribute der Thetis, das Füllhorn und die roten Korallen, wären vermutlich auch für Süleyman sprechend gewesen. Selbst wenn ihm die Symbolik der westeuropäischen Bildsprache fremd 31 32 33 34

Rickenbacher, Über den Wellen, S. 26–27 u. 121. McCluskey, Ottoman envoy, S. 350. Winfield, French warships, S. 56–60, 79–82, 113–116 u. 120. Sechs Schiffe waren vom 1. Rang. Celina Fox: The Ingenious Mr Dummer: Rationalizing the Royal Navy in Late Seventeenth-Century England, London 2007. In: Electronic British Library Journal 2007, Art. 10, S. 17–18.

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war, wird ihm die friedliche Bedeutung von Füllhörnern aus dem antiken Erbe Istanbuls bekannt gewesen sein. Rote Korallen kannte man dort ebenfalls, etwa als Perlen von Gebetsschnüren oder als Rüstungsschmuck.35 Wie gut aber war Süleyman über den jahrzehntelangen Balanceakt Frankreichs und der nordafrikanischen Hafenstädte zwischen hochschießenden Emotionen und der Erneuerung der Capitulations unterrichtet? Die inneren und äußeren Dekorationen der „Royal Louis“ vermochten den Osmanen und Beaufort Hinweise auf Leitgedanken Ludwigs zu geben. Sie wiesen auf seine Bereitschaft, innen- wie außenpolitisches Misstrauen auszuräumen und ein respektvolles, fruchtbares concurrere (Zusammenlaufen) zu suchen, aber auch auf den Willen, jeder machtpolitischen Konkurrenz mit der Gewalt all seiner Mittel entgegenzutreten. Ludwigs neue Flotte war für die weitere Entwicklung des Austausches mit dem osmanischen Reich zweifellos von Bedeutung. Am 8. März 1670, noch vor Süleymans Abreise, meldete die Gazette de France, dass der Marquis de Martel (um 1607–1681), seit 1656 lieutnant-général des armées du Roy und Schiffskommandant vor Gigeri sowie Candia, mit Algerien einen Friedensvertrag abgeschlossen hatte. Den Frieden und auch die Herausgabe von Sklaven und Beute hatte er allerdings mit einer Flotte von zehn Schiffen erzwungen.36 Auch Süleyman Aga dürfte noch in Frankreich davon erfahren haben. Am 13. August 1672 teilte die Gazette mit, dass Martel auch mit dem „König von Tunis“ einen Friedensvertrag aushandelte, kurz nachdem der Marquis auf der „schönen und berühmten“ „Royal Louis“ im Hafen von Toulon Mitte Mai zu einem Fest zu Ehren einer Madame de Grignan geladen hatte, Tochter der bekannten Briefautorin Marquise de Sévigné (1626–1696).37 Schließlich erneuerte am 5. Juni 1673 Sultan Mehmet IV. die Capitulations mit Ludwig.

35 Majer, Kaiser und Sultan im Krieg, S. 342–343. 36 Table ou abrégé des cent-trente-cinq volumes de la Gazette de France, depuis son commencement en 1631 jusqu’à la fin de l’année 1765. Paris 1768, S. 46; Vergé-Franceschi, Masque, S. 228–229. 37 Charles Athanase Walckenaer: Mémoires touchant la vie et les écrits de Marie […] Marquise de Sévigné. Paris 1852, S. 66; Table ou abrégé 1768, S. 46.

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Great Ships, Prestige and Power in the Naval Ideology of the Later Stuarts

The world of seventeenth century navies provides almost a perfect case study of “Konkurrenz” in both English senses of the term, namely concurrence and competition. On the one hand, the major European navies competed with each other and made strenuous efforts to obtain intelligence of each other’s ships. Spying missions were sent into the dockyards of competitor nations,1 while exchange of technology and ideas was endemic. The major Danish naval shipbuilder of the early seventeenth century was the Scot David Balfour, while from the 1650s to the beginning of the nineteenth century, many of Sweden’s principal men-of-war were designed by Englishmen or those of immediate English descent, the likes of Francis Sheldon in the late seventeenth century and Fredrik af Chapman in the eighteenth.2 Although there were clear differences between nations over preferences in ship design – the English, for example, favoured sterns with a “round tuck”, the Dutch a more angular pattern – there were also marked similarities, a true “concurrence” in the English sense of the word. This was especially true of ship decoration, where all seventeenth century navies, to a greater or lesser extent, adopted the baroque en masse. Of course, there were differences in emphasis between nations, but for much of the seventeenth century, especially in its second half, the major warships of all European navies displayed the same baroque symbolism and design characteristics as royal palaces. This was perfectly deliberate. Large men-of-war were powerful symbols of royal authority, existing to send out clear messages to potential rivals and allies, but unlike palaces, they were mobile; they could literally carry the image of themselves and their nations which monarchs wished to project into other seas or, indeed, other oceans.3

1 For one instance, see J. D. Davies: Chatham to Erith via Dover. Charles II’s Foreign Policy and the Project for New Royal Dockyards, 1667–1672. In: Transactions of the Naval Dockyards Society 8 (2012), pp. 113–130, at p. 115. 2 Martin Bellamy: David Balfour and Early Danish Ship Design. In: The Mariner’s Mirror 92 (2006), pp. 5–22; Jan Glete: Swedish Naval Administration, 1521–1721. Resource Flows and Organisational Capabilities. Leiden 2010, pp. 340–346. 3 Benjamin Redding: A Ship “For Which Great Neptune Raves”. The Sovereign of the Seas, La Couronne and Seventeenth Century International Competition over Warship Design. In: The Mariner’s Mirror 104 (2018), pp. 402–422; id.: Spectacles of the Sea. Warship Decoration and Ideology in Early Modern

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Fig. 1 The stern of the Charles of 1668. This contemporary model was photographed at Trinity House, London, in 1919 by Country Life magazine; it was destroyed by bombing during the Second World War.

Great ships: monarchs and warship decoration All this is demonstrated amply by the case of England. Consider the great ship launched for King Charles I at Woolwich dockyard in 1637.4 It was a leviathan, displacing over 1500 tons and carrying over one hundred guns, the first English ship ever to do so, following a direct order from the king to increase the number originally suggested. It survived as a bulwark of England’s maritime pretensions for nearly

Europe. In: Claire Jowitt et al. (ed.): The Routledge Companion to Marine and Maritime Worlds 1400–1800. London / Amsterdam 2020, pp. 289–320. 4 Unless stated otherwise, this and the following paragraph are based on J. D. Davies: Kings of the Sea. Charles II, James II and the Royal Navy. Barnsley 2017, pp. 31–32.

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sixty years, while its decoration was an astonishing riot of the baroque. The figurehead was of the Saxon King Edgar riding a galloping charger, trampling seven prostrate lesser kings. The semi-mythic claim, derived from Edgar, of English sovereignty over all the seas from Norway to Spain, was a centrepiece of Charles I’s foreign policy agenda in the 1630s, but the ship’s decoration also demonstrated the king’s cultural, classical and dynastic pretensions. The beak was adorned with heraldic imagery, including the Lily of France (because Charles’ titles still included that of “King of France”) and the royal monograms C. R. and H. M., for Carolus Rex and Queen Henrietta Maria.5 The ship’s sides carried representations of weapons and armour of all periods. The uppermost frieze contained the Signs of the Zodiac, alternating with the royal initials and busts of Roman Emperors, surrounded by wreaths of foliage. Jupiter, Mars and Neptune appeared in several places on the hull. The stern was adorned with many sculptures and Latin inscriptions, while the taffrail had a huge representation of Victory. The huge ship cost £65,000: no other British warship would cost as much, in either relative or absolute terms, for well over a century. In one sense, there was nothing unique about the profusion of baroque symbolism adorning the hull of the “Sovereign”. The Swedish ship “Vasa”, famously lost on its maiden voyage in 1628, was similarly (and literally) overloaded with elaborate carvings projecting the “Gothic myth” of Swedish superiority; the great ships built for King Louis XIII of France under the auspices of Cardinal Richelieu were also floating manifestations of the art and architecture pervading the royal court, as well as of the power and ambition of the monarch. Indeed, the “Sovereign of the Seas” was built in direct response to the French ship “La Couronne”.6 In the case of England, though, the Stuart monarchs displayed a relatively consistent personal interest in their navies, so their warships expressed their inner sentiments more directly than those of other nations. For example, Charles I and his eventual successors, his sons Charles II and James II, had strong personal preferences for large warships. A simple comparison of the strength of the fleet at the Restoration in 1660 with that at the downfall of James II in 1688 clearly demonstrates this: the number of warships of the three largest rates,7 carrying between fifty and one hundred guns, almost doubled, increasing from thirty to fifty-nine. These figures also need to be

5 Thomas Heywood: His Majesty’s Royal Ship. A Critical Edition of Thomas Heywood’s “A True Description of His Majesties Royall Ship”. London 2006. A detailed description and analysis of the decoration is provided by Hendrik Busmann: Sovereign of the Seas. Die Skulpturen des Britischen Königsschiffes von 1637. Hamburg 2002. 6 Redding, A Ship for which “Great Neptune Raves”, pp. 404, 407–408, 416–421. 7 During the 17th century, the English navy’s system of rating its ships became increasingly codified, settling on a division into six rates from first, carrying c. 80–100 guns, down to sixth, carrying c. 20 guns. See Rif Winfield: British Warships in the Age of Sail, 1603–1714. Design, Construction, Careers and Fates. Barnsley 2009.

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read with an awareness that the average size of warships in the largest rates, and the weight of their broadsides, also increased markedly between the two dates. There were sound tactical reasons for this preference. Above all, large ships provided the heaviest possible broadside from a “line of battle”, the new method of fighting at sea adopted from the First Anglo-Dutch war (1652–54) onwards. In the later wars, British fleets consistently outgunned their Dutch opponents, the size of whose ships was constrained by the shallow coastal waters they had to navigate. But the preference for large warships was significant in other respects, too. As had been the case with the “Sovereign of the Seas”, large warships were hugely impressive symbols of royal authority, intended to have a deterrent effect, and of that elusive quality which many contemporary writers described as the grandezza of kings: hence the seemingly disproportionate emphasis on carving, gilding and other decoration. A great man-of-war served many purposes. True, it was an instrument of destruction, but it was also a deterrent, a symbol of the monarch’s power and pretensions, and simply a manifestation of their artistic taste. As such, the largest warships were clearly intended to send out overt or coded political signals to both domestic and foreign audiences,8 and very often, as in the case of the “Sovereign of the Seas”, the symbol that conveyed this more potently than any other was the one that was entirely invisible: the ship’s very name. The decoration of royal warships reflected the attitudes of the monarchs who commissioned them. In England, as in other European states, the stern decorations assumed particular significance. The stern was both the “command centre” of the ship, the area where the captain and officers had their cabins and from which they commanded, and also the location of the ensign, the symbol of national authority. Consequently, particular attention was devoted to stern decoration, albeit not to quite the same extent as in France, where exactly the same architectural principles used to create Louis XIV’s palaces were also deployed in his men-of-war.9 In Charles II’s case, these attitudes were expressed forcibly and directly by a scientifically adept monarch whose technical command of the art of shipwrightry was a byword. The king often visited warships under construction, suggested improvements, and in several cases, most notably with the galley frigates of the 1670s, proposed new ship designs himself.10 The king visited the royal dockyards, especially Deptford and Woolwich, several times a year during the 1670s, visits that were

8 Id., p. 420. 9 Maike Priesterjahn / Claudia Schuster: Architectura Navalis – Floating Baroque. In: id. (ed.): Floating Baroque. The Ship as Monumental Architecture. Berlin 2018, pp. 11–25, at p. 20; Jan Pieper: The Iconography of the Royal Baroque Stern Façade. In: ibid., pp. 67–91, at pp. 67–68. 10 These carried all their heavy guns on a single upper deck, leaving the lower deck free for oars. Although the oars became redundant, the basic design principle was eventually adopted for almost all British frigates from the mid-18th to the early 19th centuries (although it remains debatable

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Fig. 2 The royal arms from the Royal Charles, captured by the Dutch in the attack on the Medway in 1667. Author’s photograph at the Rijksmuseum, Amsterdam.

as frequent as every few weeks during the summer months.11 Charles often gave direct verbal orders to officers and workmen of the dockyards for particular works to be done on individual ships, completely bypassing the established hierarchy of the navy. As a result of such interventions, the warships of the Restoration era projected the royal agenda by means of elaborate gilding and spectacular carvings. Under Charles, the style of decoration became increasingly baroque, reflecting both French political influence and the trend in elite court art, which again emphasised Charles’s claim to sovereignty over the so-called British Seas; perhaps the most astonishing example of this is Antonio Verrio’s great painting of 1674, “The Sea Triumph of Charles II”, which foreshadowed his spectacular redecoration of Windsor Castle along similar lines.12 Significantly, the most prominent warships in the backgrounds of both this and the equally flamboyant (and almost exactly contemporary) portrait of the king’s brother James, Duke of York, by Henri Gascar, whether galley frigates were genuine precursors or a false start that was ahead of its time). Davies, Kings of the Sea, pp. 73–75. 11 Davies, Kings of the Sea, p. 68. 12 Tabitha Barber: Restoration. In: id. (ed.): British Baroque. Power and Illusion. London 2020, pp. 15–28, at pp. 22–27.

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Fig. 3 Antonio Verrio, “The Sea Triumph of Charles II”, 1674–1675. The Royal Collection Trust, © Her Majesty the Queen 2020.

are both stern on and flying the royal standard, thus emphasising royal authority and power just as overtly as the three crowns in the foreground of the Verrio.

The practical consequences of royal policy In practical terms, the artistic trend toward the baroque, mirroring the French example,13 led to changes in the decorative scheme of warships. For example, from

13 Charles and James had some first-hand experience of French fashion in warship design, as in 1673 they went aboard “La Superbe”, then lying at Spithead, and were greatly impressed by it. Davies, Kings of the Sea, p. 73.

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the mid-1670s onwards large ships invariably had two rows of stern windows, rather than one; as a result, the royal arms became smaller, but in some cases the traditional lion and unicorn supporters also gave way to female figures. However, other familiar elements of Stuart iconography remained – crowns, roses and thistles (representing the fact that Charles was king of both England and a still independent Scotland), crossed sceptres and intertwined “C”s, alongside the representations of larger-thanlife humans known as quarterpieces. At about the same time, gunports acquired decorative wreaths; the insides had painted lions’ heads, which were revealed when the ports were opened.14 Overall, though, English warship decoration after 1660 was significantly less ornate than that which had adorned the “Sovereign of the Seas”. Just as the upheaval of the civil wars and Interregnum had permanently weakened the monarch’s pretensions to divinity and absolutism, so it also gave a somewhat more chastened perspective to naval architecture; for example, elongated beakheads such as that of the “Sovereign”, with all the opportunities they presented for extravagant decoration, disappeared and were replaced by more utilitarian and foreshortened structures. The emphasis was now overwhelmingly on utility and the power of ships’ broadsides, rather than on their appearances.15 This can be seen clearly in the superb maritime art of the Willem van de Veldes, father and son, who were permanently domiciled in England from 1672. In their countless paintings and drawings of English warships of the age, the eye is invariably drawn to the guns bristling along their sides, not to the stern decorations, which are sometimes relatively indistinct. Although certainly elaborate enough, the £ 895 spent on the decorative work done on Charles’s last First Rate, the “Britannia” of 1682, paled into insignificance compared to the £ 6691 his father had spent on the same features on the “Sovereign of the Seas”. Indeed, the baroque carvings adorning Stuart warships were effectively an illusion, relying on paint rather than gilt, thus unconsciously reflecting the fact that the monarchs’ pretensions to imperial glory and political power were also largely illusory, constrained by inadequate finances and a powerful parliament. The “thirty new ships” built under Charles’s auspices from 1677 onwards were beautifullooking ships, adorned with sumptuous stern carvings and other decorative work, but the carved work on several of them cost only £ 160 out of a total build cost of £ 12,000. Moreover, the contract for this work specified exactly what number of each item was required – twenty-two counter brackets at the stern, fourteen badges on the gallery, one lion figurehead, and so forth – but did not specify which decorative symbols should adorn each element.16 It is possible that this was left to 14 J. D. Davies: Pepys’s Navy. Ships, Men and Warfare 1649–89. Barnsley 2008, p. 71. 15 Jan Pieper: From Ship to Floating Architecture. In: Priesterjahn / Schuster (ed.), Floating Baroque, pp. 27–57, at pp. 49–50. 16 Richard Endsor: The Warship Anne. London 2017, pp. 34, 144.

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Fig. 4 The “crowned lion” figurehead, quarterpieces and gunport wreathes of the Fourth Rate Adventure, shown on a contemporary ship model. Kriegstein Collection.

the carvers’ discretion, based on word of mouth within the dockyard as to what was preferred or acceptable in a specific location on the ship and on precedent copied from existing vessels; on the other hand, given his highly proactive approach to the building of his warships (in marked contrast to that of Louis XIV, who supposedly only saw the sea three times in his life), it is also entirely possible that Charles II issued word-of-mouth orders directly to the craftsmen. The most common form of figurehead on British warships was a crowned lion, an obvious symbol of courage and aggression. But it represented much more than this; above all, the lion was very much a quintessential emblem of England and its monarch. Lions dominated the royal standard, while St Edward’s Crown, which was traditionally used in the Coronation, was used as the template for that which adorned the lion figurehead from 1675 onwards, thus demonstrating the direct connection between crown, country and navy.17 However, there were variations, and some of these conveyed important symbolic and political messages. The largest ships of the Restoration age had dramatic equestrian figureheads, but that of the “Saint Michael” of 1669 possessed a distinctly ambiguous emblem of a bird which seems to have represented the traditional Christian symbol of self-sacrifice, the “pelican in its piety”. This had associations with both Catholicism and the cult of “Gloriana”, Queen Elizabeth I, who had adopted the pelican as a symbol of her self-declared role as the virgin mother of the nation.18 Apart from the figurehead,

17 Alisa Steere: The Evolution of Decorative Work on English Men of War from the Sixteenth to the Nineteenth Centuries. MA thesis, Texas A & M University 2005, p. 37. 18 David Pulvertaft: Figureheads of the Royal Navy. Barnsley 2011, pp. 45–47.

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the other indispensable element of any warship’s decorative scheme was the royal arms, displayed prominently at the transom. These again emphasised the legal truth that warships were technically the property of the monarch, not of the state per se (one legacy of this is the acronym HMS; a British warship is still “Her (or His) Majesty’s Ship”, not the nation’s ship, the usual form in the naval prefixes of many other countries). The importance of the arms is demonstrated by the fact that those of the “Royal Charles”, captured by the Dutch at Chatham in 1667, still hang as a prized exhibit in Amsterdam’s Rijksmuseum; it was the only piece of the ship to be retained when it was broken up, and was one of the “insults” to his honour which constituted Charles II’s ostensible reasons for embarking upon the third Anglo-Dutch War.19 An entirely new category of naval vessel which appeared after the Restoration was the royal yacht. Charles II and his brother James had learned to sail when in exile in the Channel Islands during the British Civil Wars, and during his periods of exile in the Netherlands in the 1640s and 1650s, Charles became an enthusiast for the traditional Dutch vessel, the jacht. When he returned to England, he quickly built up a squadron of these craft. The Stuart yachts formed a “navy within a navy”. By 1685 there were some twenty of them, although only seven were truly “royal”, notionally assigned to the immediate service of the king and the royal family. These vessels were not automatically units of the Royal Navy; they were initially the king’s private property, and were only incorporated into the navy when the king ordered them to be. This gave Charles carte blanche to have the yachts fitted out and adorned as he wished. The cabins of the principal yachts were elaborately decorated; from 1674 onwards, they benefited from the comprehensive programme of refurbishment of royal property undertaken by the Earl of Arlington as Lord Chamberlain, which also saw spectacular new examples of continental art, like the Verrio mentioned earlier, appearing on the walls and ceilings of the king’s palaces. When the “Charlotte Yacht” was built in 1677, the best marine artists of the day, Willem van de Velde the Elder and Younger, were commissioned and paid £ 74 to provide a set of painted panels portraying other warships built in Woolwich dockyard.20 The “Fubbs Yacht” had a four poster bed, gold brocade and costly silks, while in 1673 the “Katherine Yacht” was described as having “a brave hall painted all round with works of art, gilded and decorated with carving”, together with cabins “separated by screens painted with the king’s arms and gilded”.21 The yachts’ exteriors were also elaborately decorated, with a profusion of sculptures and gilding; indeed, they had far more gilt than any of the much larger warships. None of this came cheap. The carvings of the 19 Davies, Kings of the Sea, pp. 202–206. 20 Richard Endsor: The Restoration Warship. The Design, Construction and Career of a Third Rate of Charles II’s Navy. London 2009, pp. 268–273. 21 Quoted in: Davies, Kings of the Sea, p. 84.

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Fig. 5 The stern of the Second Rate Coronation of 1685, the last of the ‘thirty new ships’ built from 1677 onwards. Kriegstein Collection.

“Charlotte” cost over £ 500, the paintwork £ 474 3 s: these were three times the amounts spent on equivalent works on a Third Rate man-of-war, as noted earlier. The reason for these seemingly strange priorities is clear. As well as being for the personal use of the monarch and his family, these vessels were also regularly used for diplomatic missions, such as conveying ambassadors and visiting foreign dignitaries to and from England; the lavish decoration was therefore plainly intended to convey subliminal messages about the king’s image, taste and splendour.

Ship names as ideological statements As stated at the beginning of this paper, the names of warships are undoubtedly the most important symbols that they bear, conveying messages to both foreign and domestic audiences. Warship naming has always been political, sometimes

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markedly so, as in some of the unseemly quarrels in the United States in recent years, where seemingly partisan namings in honour of living politicians, or events and individuals with segregationist or Confederate associations, have stirred considerable controversy.22 In seventeenth-century England, warship naming became notably politicised during the Interregnum, when many warships were named after Parliamentarian victories during the civil wars; the greatest warship built in this period was named “Naseby”, after Cromwell’s decisive victory in 1645.23 This policy was naturally overturned at the Restoration, when the offending names were removed and replaced by more acceptable royalist or historic ones. On 23 May 1660, King Charles II and members of his immediate family boarded the “Naseby”, then the flagship of the fleet that had been sent to bring the king home. After dinner, the king and his brother perused the list of names of the ships in the fleet, changing them as appropriate. To all intents and purposes, this was Charles II’s first executive act as the restored King of England, Scotland, and Ireland: “After dinner the King and Duke altered the name of some of the ships, viz. the ‘Naseby’ into ‘Charles’; the ‘Richard’, ‘James’; the ‘Speaker’, ‘Mary’; the ‘Dunbar’ (which was not in company with us), the ‘Henry’ […]”.24 Several of the new names honoured the king’s siblings, while by replacing “Naseby” with the name he shared with his father, the king who had been decisively defeated in that battle, Charles was making the clearest possible political statement that the old and true order was restored, with the triumphs of the hated Cromwell being literally stricken from the historical record. This process was followed in short order by the taking down of the Commonwealth’s arms, and in the case of the “Naseby” by the removal of a figurehead which had been closely modelled on that fitted to the “Sovereign of the Seas”, with Oliver Cromwell taking the place of King Edgar and trampling his royalist and foreign foes underfoot. Thereafter, naming policy closely followed the precedent laid down in May 1660: a heavy emphasis on names that honoured members of the Stuart family, the dynasty as a whole, or key players in the Restoration, together with the revival of well-established warship names which particularly revived memories of the “glory days” of Elizabethan England. Entirely new names included “Royal Katherine”, after his wife; “Rupert”, after his cousin; “Cambridge” and “Edgar”, after shortlived nephews; “Monmouth”, after his eldest illegitimate son. Other revivals of

22 Navy Ship Names. Background for Congress: URL: https://fas.org/sgp/crs/weapons/RS22478.pdf (22.05.2020) (specific examples include the USS “John Warner”, “John S McCain” and “Chancellorsville”). For the significance of warship naming in the seventeenth century, see also Redding, A Ship “For Which Great Neptune Raves”, pp. 411–413. 23 Michael Seymour: Warships’ Names of the English Republic, 1649–1659. In: The Mariner’s Mirror 76 (1990), pp. 317–324. 24 Robert Latham / William Matthews: The Diary of Samuel Pepys. Vol. 1. London 1970, p. 154 (23 May 1660).

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Elizabethan names to set alongside the likes of the newly rebranded “Dreadnought” and “Revenge” included “Defiance” and “Warspite”. Several of these names already had the mythic potency which they retain to this day, when “Dreadnought” and “Warspite”, for example, are names allocated to new Trident submarines. There was special significance in the name “Royal Oak”, given to a powerful Second Rate launched in 1664. This commemorated the famous incident in 1651 when King Charles hid in an oak tree when on the run from Cromwell’s troops. Already regarded as a traditional, even mystical, symbol of England, as well as being, at a more mundane level, the building material from which royal warships were built, the oak was appropriated by royalists as an emblem of loyalty to the restored regime. Even more complex layers of meaning may have dictated the choice of “St Michael” as the name of a Second Rate launched in 1669. With the obvious exception of the national patrons, English warships since the Reformation had almost never borne the names of saints (in complete contrast to the practice in the Spanish navy). On the simplest level, the launching ceremony was planned for Michaelmas Day, 29 September, which was one of the most important feast days in the royal liturgical calendar. However, the launch of the new ship also coincided with AngloFrench negotiations for a military and naval alliance against the Dutch entering a critical phase, with Charles also expressing privately, but apparently sincerely, a determination to announce his conversion to Roman Catholicism. The choice of the iconographically complex symbol of the pelican in its piety as the ship’s figurehead further hints at a peculiar ambiguity in the thinking surrounding this particular vessel.25 From 1677 onwards, a huge new building programme saw the construction of thirty warships of the First to Third rates to counter French naval expansion. The names largely followed the pattern laid down since the Restoration – family members, friends, revivals of famous Elizabethan names – but there were exceptions, and because Charles II had sole responsibility for the naming of ships, these can tell us a great deal about his mindset at a given moment. For example, the Third Rate launched on Christmas Day 1679 was named “Pendennis”, the name of a relatively small castle guarding Falmouth harbour in Cornwall. Such a name for such a large warship seems inexplicable, but it was chosen shortly after the Earl of Shaftesbury and his newly formed Whig party began a campaign of petitioning to demand that the Parliament should be allowed to sit in order to exclude the king’s Catholic brother, the Duke of York, from the succession to the throne. The choice of this name can only have been a gesture of defiance by Charles toward his critics. Pendennis Castle was the last garrison in England to hold out for Charles I during the civil war, and Charles II had spent his then last days in his homeland

25 Davies, Kings of the Sea, pp. 53–55.

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there before leaving for exile in 1646. It surrendered only after a prolonged siege, so the selection of the name might reflect the king’s determination to persist and resist against overwhelming odds, regardless of the consequences. If all this is so, though, virtually no other piece of surviving historical evidence provides such clear proof of King Charles II’s thinking at the end of 1679. Interestingly, too, the last two great warships that Charles named were the “Britannia” and “Neptune”, the first times that either name had been used in the Royal Navy, and a clear demonstration of the fact that the king’s pretensions to the sovereignty over the seas, far from diminishing as he got older, became even more grandiose. Naming policy changed somewhat after the so-called Glorious Revolution of 1688. For one thing, there was a return to the Commonwealth’s practice of naming warships after military victories. The 1690s saw the appearance of the likes of “Barfleur”, “Boyne” and “Namur”, followed in the early 1700s by several of Marlborough’s triumphs, “Oudenarde”, “Malplaquet”, “Ramillies” and “Blenheim”, these being as much a manifestation of domestic politics (the ascendancy of Marlborough and his Whig friends) as they were an expression of triumphalism over the French. The 1690s also saw a much more extensive adoption of geographical names – “Cornwall”, “Dorsetshire”, and so on – thus mimicking Dutch practice; the five Dutch admiralties had always named many of their ships after towns or provinces. In England, as in Sweden, there was an informal hierarchy of names, with the most prestigious ships bearing names most directly associated with the monarch while the geographical and historic names tended to go to vessels in the next ranks.26 The reign of William III also witnessed several overtly partisan renamings (the “Royal James” became the “Victory”, the “Royal Charles” the “Queen”) and namings: the “Association”, famous for being wrecked on the Scillies in 1707, thus inspiring the great prize for discovering a precise method to establish longitude, was named after the loyal organisation formed in 1696 in response to a plot to assassinate King William. All of these types of names had one thing in common, though, and that was what they were not. Generally speaking, and probably consciously, British warships were not named, as French ones generally were, after classical heroes or personal qualities (that is, the self-perceived personal qualities of the narcissistic Louis XIV): for example, “L’Admirable”, “Le Brave” and “Le Conquérant”. This only began to change in the eighteenth century, when the names of prizes were retained and then perpetuated, as in the cases of such famous names in the Royal Navy’s history as “Invincible”, “Foudroyant”, and “Temeraire”. Thus, until well after 1714,

26 Lars Ericson Wolke: Kingship, Religion and History. Swedish Naval Ideology, 1500–1830. In: J. D. Davies et al. (ed.): Ideologies of Western Naval Power, c. 1500–1815. London 2019, pp. 229–243, at pp. 236–237.

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one of the clearest ideological messages sent out by British warship names was simply that they were not French. To conclude: the later Stuart monarchs, notably Charles II and James II, possessed a complex and multi-faceted naval ideology, which found expression in many areas of national life – in both elite and popular culture, in science, and in imperial expansion.27 But for a nation which lacked the grandiose palaces and huge armies of its continental neighbours and rivals, by far the most potent expressions of this ideology were the appearances and names of the great ships which the royal brothers built. In one sense, the baroque decoration schemes of Stuart warships merely mimicked the practice of other nations, and were certainly far less ostentatious than those which adorned, say, the ships of Louis XIV; but taken together with the names bestowed on them, “Royal Oak”, “Dreadnought”, “Warspite” and all the rest, they projected a uniquely English set of aspirations, even if these were based largely on the myths and downright falsehoods which underpinned the long-held national claim to the sovereignty of the seas. In that sense, English warships were both a part of, and in competition with, broader European thinking about the purpose and appearance of warships: “Konkurrenz” in every sense.

27 J. D. Davies: “Great Neptunes of the Main”. Myths, Mangled Histories and “Maritime Monarchy” in the Stuart Navy, 1603–1714. In: Davies et al. (ed.), Ideologies, pp. 106–121.

Sektion 3: Tiere als Medien und Agenten der Statuskonkurrenz

Christian Jaser, Nadir Weber

Einleitung

Phänomene der Statuskonkurrenz sind in den letzten beiden Jahrzehnten vermehrt in den Fokus der Frühneuzeitforschung geraten. Inspiriert durch die Theorie sozialer Distinktion von Pierre Bourdieu haben Forschende den Sinn scheinbar endloser barocker Rangstreitigkeiten oder immenser Investitionen in höfische Repräsentation genauer entschlüsseln können. Nicht zuletzt im Gefolge der neu profilierten historischen Konkurrenzkulturforschung konnten sie zeigen, dass Fürsten und Adlige, aber auch Gelehrte, Künstler und städtische Korporationen im Medium des Zeremoniells und weiterer Formen symbolischer Kommunikation ihre Position in einem sozialen und politischen Gefüge aushandelten, das von der Idealvorstellung einer hierarchisch stratifizierten ständischen Ordnung geprägt war.1 Damit betrieben die historischen Akteure eine „Status-Ökonomie“, die darauf abzielte, der beanspruchten sozialen und politischen Position der Familie oder Korporation zu sichtbarer Akzeptanz zu verhelfen.2 Da sich eigene Ansprüche und Akzeptanz durch Dritte nicht immer deckten und gewisse Ehrenzeichen sehr exklusiv – und gerade deshalb besonders begehrt – waren, ergaben sich immer wieder Situationen der Konkurrenz, die sich zu handfesten Konflikten ausweiten konnten. Zugleich kam es zur Ausbildung immer neuer Teilfelder, auf denen um symbolisches Kapital und damit um Machtpositionen konkurriert wurde Die in diesem Kapitel versammelten Beiträge fragen nach der Rolle von Tieren als (durchaus eigensinnigen) Medien der Statuskonkurrenz vorwiegend zwischen Fürsten, aber auch zwischen Kommunen. Sie schlagen damit eine Brücke zu einem weiteren Forschungsfeld, das gerade in den letzten Jahren von einer erheblichen Dynamik geprägt gewesen ist: der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen. Bereits in den 1980er Jahren wurde im Zuge des Cultural Turn erkannt, dass nichtmenschliche Lebewesen von Menschen in verschiedenen Zeiten und Räumen

1 Siehe etwa Marian Füssel / Thomas Weller (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005; bilanzierend: Barbara Stollberg-Rilinger u. a. (Hg.): Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Köln u. a. 2013; spezifisch zur Konkurrenz: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main u. a. 2014. 2 Andreas Pečar: Status-Ökonomie. Notwendige Investitionen und erhoffte Renditen im höfischen Adel der Barockzeit. In: Gabriele Jancke / Daniel Schläppi (Hg.): Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden. Stuttgart 2015, S. 91–107.

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unterschiedlich wahrgenommen wurden und damit wie sämtliche kulturellen Erscheinungen historisiert werden müssen.3 Die neueren Ansätze der historischen Human-Animal Studies zeichnen sich darüber hinausgehend dadurch aus, dass sie die tierliche Perspektive stärker in die Analyse einzubeziehen versuchen (etwa durch die Berücksichtigung ethologischer Erkenntnisse) und Tieren potentiell auch einen Akteursstatus in bestimmten sozialen Figurationen zugestehen.4 Im Folgenden sollen beide Ebenen der Rolle von Tieren in der frühneuzeitlichen Statuspolitik in den Blick gerückt werden: die mediale Rolle als kulturelle Sinnträger und die soziale Rolle als interagierende Mitwesen. Inwiefern sind Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Statusökonomie und -konkurrenz zu fassen? Verstehen wir unter Medien ganz allgemein Träger zur Wahrnehmung, Verbreitung oder Formung von Kommunikation,5 so können neben Titeln, Bildern oder zeremoniellen Vorrechten grundsätzlich auch nichtmenschliche Lebewesen mediale Funktionen in der Kommunikation zwischen Menschen einnehmen. Tiere als Medien zu betrachten kann hier etwa heißen: Der Besitz oder das Verhalten eines bestimmten Tiers galt anderen Beobachtern als Zeichen für den Status des Besitzers, oder auch: Die erfolgreiche Interaktion mit einem Tier war Ausweis eines bestimmten Rangs. So repräsentieren Pferde, Jagdhunde und Falken seit dem Mittelalter geradezu eine animalische „Trinität des Adels“.6 Auch exotische Tiere wie Löwen, Tiger und Elefanten fungierten als Statusmarker von frühneuzeitlichen Adligen und Fürsten.7 Nach der 2018 erschienenen Studie von Peter Sahlins waren Tiere im Frankreich Ludwigs XIV. gar wesentlich an der medialen Konstruktion des „Absolutismus“ beteiligt.8

3 Als paradigmatisch gelten etwa die Arbeiten von Thomas Keith, Robert Delort und Harriet Ritvo. Eine wichtige Synthese bietet Linda Kalof / Brigitte Resl (Hg.): A Cultural History of Animals, 6 Bde. Oxford 2007. 4 Siehe dazu etwa Éric Baratay: Le point de vue animal. Une autre version de l’histoire. Paris 2012; Gesine Krüger u. a. (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2015, und nun insbes. Mieke Roscher u. a. (Hg.): Handbook of Historical Animal Studies. Berlin / Boston 2021. 5 Vgl. Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 34/2 (2008), S. 156–224, hier S. 168–171. 6 Werner Paravicini: Gab es eine einheitliche Adelskultur Europas im späten Mittelalter? In: Rainer C. Schwinges u. a. (Hg.): Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur. München 2006, S. 401–434. Zur Rolle der Pferde siehe etwa Daniel Roche: La gloire et la puissance. Essai sur la distinction équestre (La culture équestre occidentale, XVIe–XIXe siècle. L’ombre du cheval, Bd. 2). Paris 2011; Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800). Würzburg 2014. 7 Siehe zuletzt etwa Angelica Groom: Exotic Animals in the Art and Culture of the Medici Court in Florence. Leiden 2018, und die Beiträge in Mark Hengerer / Nadir Weber (Hg.): Animals and Courts. Europe, c. 1200–1800. Berlin / Boston 2020. 8 Peter Sahlins: 1668. The Year of the Animal in France. New York 2017.

Einleitung

In dieser Betrachtungsweise spielt es keine allzu große Rolle, ob die Tiere „real“ oder bloß symbolisch vermittelt beobachtet wurden: Die Grenzen zwischen lebenden, toten, gemalten oder gedruckten Tieren verschwimmen hier in einem intermedialen Dispositiv, das sich um die Repräsentation eines bestimmten Rangs oder Herrschaftsmodells formiert. Dennoch wäre es verkürzt, Tiere in der Frühen Neuzeit analytisch allein als Elemente „binnenhumaner Symbol- und Klassifikationssysteme“ zu betrachten.9 Selbst wenn sie uns über die Distanz von Jahrhunderten vor allem über Schrift- und Bildquellen, d. h. medial vermittelt begegnen (überlieferte Artefakte der Tierhaltung und materielle Überreste von Tierkörpern sind hier wichtige Ausnahmen), liegt die besondere Herausforderung des Themas doch auch in der Tatsache, dass es sich bei Tieren um lebende Medien handelte. Im Gegensatz zu Objekten beeinflussten Tiere damit den Repräsentationserfolg durch ihr Verhalten nicht unwesentlich mit.10 Wenn es auch kaum angebracht wäre, Pferde, Hunde oder Falken als Akteure der Statuskonkurrenz zu bezeichnen, weil ihnen hierbei keine eigenen Ambitionen nachgewiesen werden könnten, so wurden sie doch zumindest für den Zeitraum gezielt inszenierter Ereignisse kompetitiver Interaktion zu Agenten ihrer Herren. Die bereits von Zeitgenossen als concorrentia oder concorrenza bezeichneten Pferderennen in Italien dienten so nicht zuletzt dazu, die Potenz der jeweiligen Besitzer im direkten Wettbewerb miteinander zu vergleichen. Bei höfischen Jagden mit Laufhunden oder Falken galt die kompetitive Auseinandersetzung zunächst primär dem gejagten Wild (das seinerseits als Repräsentant einer sich der Herrschaft widersetzenden Natur auftrat), indirekt aber auch den zu den Jagdereignissen eingeladenen oder über mediale Vermittlungen adressierten Standesgenossen. Bei den teil-öffentlichen und zumindest im Prinzip entscheidungsoffenen Ereignissen agierten die beteiligten Tiere also teilweise als Partner, teilweise als symbolische Vertreter ihrer Besitzer, die zueinander in Konkurrenz um Rang und Ansehen standen. Mochte im Erfolg der herausgehobene Status des Besitzers sinnhaft zum Ausdruck kommen, konnten Misserfolge auch auf diesen zurückfallen und die Statuspolitik konterkarieren. Gerade dieses stadt- oder hoföffentlich exponierte 9 Vgl. die Kritik an einem reinen Repräsentationsansatz von Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität. Wiesbaden 2009, S. 105; in diesem Sinne plädiert die Einleitung des Bandes von Krüger u. a. (Hg.), Tiere und Geschichte, für eine praxeologische Zugangsweise zur Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen. 10 Nadir Weber: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Diplomatie. In: Peter Hoeres / Anuschka Tischer (Hg.): Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2017, S. 160–180. Speziell zu Pferden siehe Magdalena Bayreuther: Pferde in der Diplomatie der Frühen Neuzeit. In: Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz u. a. 2013, S. 227–256. Vgl. dazu allgemein Lisa Jardine / Jerry Brotton: Global Interests. Renaissance Art between East and West. London 2000, S. 133.

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Kontingenz-Moment machte aber, so unsere These, den Reiz solcher Inszenierungen mit lebenden Tieren aus. Und es erklärt zumindest zum Teil die enormen Investitionen in die Zucht, Beschaffung, Haltung und Dressur dieser Tiere, die darauf abzielten, Erfolg beim Ereignis und im Statuswettbewerb wahrscheinlicher zu machen. Erlaubt ein Blick auf Tiere auch, das Phänomen der Statuskonkurrenz in der Frühen Neuzeit anders zu konturieren? Reitturniere, Pferderennen, exotische Tiersammlungen und höfische Jagden sind nur einige ausgewählte Bühnen unter vielen, auf denen die Mächtigen um Ehre und Vorrang konkurrieren konnten, doch treten hier einige Aspekte möglicherweise schärfer zutage als auf anderen Feldern. So zeigt sich an der Rolle von Tieren zum einen deutlich, dass Situationen der Konkurrenz nicht nur die offen oder latent Konkurrierenden involvierten, sondern eine Vielzahl von weiteren Mitspielern und Bedingungsfaktoren. Das Agieren von solchen „indirekten“ Mitspielern konnte nur bedingt gesteuert werden, wirkte sich aber unter Umständen entscheidend auf den Gesamterfolg aus. Umso größer und systematischer wurden in der Frühen Neuzeit die Anstrengungen, die Kontingenz auf ein akzeptables Maß einzudämmen und sich wenn möglich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Durch die Mobilisierung von zootechnischem Wissen, den Aufbau von Organisationsstrukturen und die Schaffung von gesonderten Räumen sollte die Performanz und Steuerbarkeit tierlicher Körper optimiert werden. Aus Situationen der Statuskonkurrenz heraus entstanden so komplexe Figurationen heterogener und interdependenter Elemente, die wir wahlweise auch als Akteur-Netzwerke oder Dispositive bezeichnen können.11 Zum anderen zeigt sich die Bedeutung der Beobachterkonstellationen und von schriftlichen und visuellen Verbreitungsmedien, die das Geschehen vor Ort im Verlauf der Frühen Neuzeit zusehends überlagerten. Die städtischen Paliorennen der italienischen Renaissance machten die Potenz eines erfolgreichen Fürsten oder Söldnerführers für Tausende von Zuschauerinnen und Zuschauern – inklusive Adligen und Diplomaten – unmittelbar erfahrbar, exponierten die Teilnehmer aber auch in besonderer Weise. Die Medici-Großherzöge in Florenz setzten später auch deshalb lieber auf durchorchestrierte Pferdeballetts, die in gedruckten, stark idealisierten Begleitpublikationen auch einer europäischen höfischen Öffentlichkeit vermittelt wurden.12 Die direkte, gleichsam nackte concorrentia auf der Rennbahn oder dem Turnierfeld trat zugunsten eines subtileren Überbietungswettbewerbs in der europäischen Fürstengesellschaft zurück, bei dem Bild- und

11 Im Anschluss an die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour u. a. oder den von Michel Foucault eingeführten Dispositiv-Begriff. Zu Ersterem siehe nun insbes. Tim Neu / Marian Füssel (Hg.): Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft. Paderborn 2021. 12 Dazu Martina Papiro: Choreographie der Herrschaft. Stefano della Bellas Radierungen zu den Reitspektakeln am Florentiner Hof 1637–1661. Paderborn 2016.

Einleitung

gedruckte Schriftmedien eine zentrale Rolle spielten. Der Eigensinn der am einzelnen Ereignis beteiligten Tiere ließ sich zwar nie gänzlich zähmen, auf den Erfolg oder Misserfolg des Fürsten in der interhöfischen Statuskonkurrenz hatte dies aber kaum mehr einen Einfluss. In der longue durée mag man sich jedoch fragen, ob die symbolische Konkurrenz mittels Tieren tatsächlich ein Auslaufmodell darstellte oder nicht auch als frühes Experimentierfeld für den Vergleich der Nationen im Medium des modernen Leistungssports gesehen werden könnte.

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Vrays chiens de roy Jagdhunde als Signaturen der Überbietung in der französischen Herrscherpropaganda Auf „Wettstreit“ als frühneuzeitliche Grundkonstellation sowie die Logiken symbolischer und performativer Überbietung im Rahmen von Herrschaftskonkurrenz ist in der Vergangenheit verschiedentlich eingegangen worden.1 Dank intensivierter Forschung zu symbolisch-rituellen Ebenen des Herrschaftshandelns und zuletzt auch zur nicht zu unterschätzenden Rolle von Tieren in der (inter-)höfischen Kommunikation2 ist hinlänglich bekannt, dass fürstliche Profilierungsmaschinerien immanent auf zeremoniellen bzw. theatralen und oft agonal konnotierten Komponenten gründeten, die Tiere in vielfältiger Form mit einschlossen.3 Zu unterscheiden sind zum einen der performative Akt selbst, bei dem Tiere eingesetzt wurden – etwa bei diplomatischen Zusammentreffen, Tierkämpfen, Hofjagden oder Pferderennen –, zum anderen die visuelle und textliche Verarbeitung ebenjener Sujets in der Herrscherpropaganda. Die Jagd und die mit ihr immanent zusammenhängenden Tierhelfer, zuvorderst Hunde und Greifvögel, nahmen in den Medien höfischer Kommunikation eine herausragende Stellung mit durchaus ambivalenten Signalen ein. Evidente Ikonen, etwa das Motiv „Fürst mit Hund“, provozierten in direkten Konkurrenzsituationen nicht zwangsläufig in sich geschlossene Zeichen-

1 Zu „Wettstreit“ als Epochensignatur siehe Jan-Dirk Müller / Ulrich Pfisterer: Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit. In: Anna K. Bleuler u. a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin / Boston 2011, S. 1–32. Zu Überbietungslogiken des 16. Jahrhunderts siehe die anregende Arbeit von Christine Tauber: Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier. Berlin 2009, der dieser Artikel viele Impulse verdankt. 2 Siehe grundlegend Nadir Weber: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen. In: Peter Hoeres / Anuschka Tischer (Hg.): Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2017, S. 160–180. 3 Siehe zuletzt Mark Hengerer / Nadir Weber (Hg.): Animals and Courts. Europe, c. 1200–1800. München / Berlin 2020. Zur Rolle von Tieren bei der Konstruktion der Herrschaft von Ludwig XIV. siehe die einschlägige Studie von Peter Sahlins: 1668. The Year of the Animal in France. Cambridge 2017. Vgl. speziell zum französischen Hof Joan Pieragnoli: La cour de France et ses animaux (XVI e –XVII e siècles). Paris 2016.

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schlachten. Im Gegensatz zu Karl V.4 ließ sich Franz I. von Frankreich, der über das Jagdwesen in nicht unbeträchtlichem Umfang Macht ausübte,5 in seinen offiziellen Porträts nie so darstellen. Jenseits solch stark ästhetisierender Hervorbringungen, die Tiere wie pittoreske Bestandteile fürstlicher Prachtentfaltung erscheinen lassen, hat es sich in der interdisziplinären Debatte bewährt, bislang weniger beachtete Bild- und Textmedien, in denen Tiere mit, aber eben auch ohne Herrscher vorkommen, stärker mit den lebenspraktischen Wettbewerbskontexten, agonalen Kulturen und ihren Diskursen abzugleichen. Dies hat es erlaubt, Tiere als Medien, sowohl im Sinne fürstlicher Alter Egos als auch im Sinne von bewusst so stilisierten „autonomous performers“6 , zu konzeptualisieren und ihren spezifischen sozialen Aussagewert zu eruieren. Jenseits der an anderen Stellen geführten Debatte um den Akteurstatus von Tieren bietet dieser auf Medialität und Performativität fokussierte Ansatz die Möglichkeit, die soziale Relevanz von Tieren im Zusammenhang mit Statuskonkurrenz quellenmäßig ernst zu nehmen. Insofern erscheint es legitim, Tiere als mit einem konstitutiven Kommunikationsauftrag ausgestattete Medien zu betrachten, die sich aufgrund ihrer Mitwirkung an symbolgenerierenden Praktiken zur Kodifizierung vermeintlicher Machtvorsprünge anboten. Im Folgenden wird von Hunden als „Signaturen der Überbietung“ die Rede sein. Im Sinne dieses Zugangs untersucht der Beitrag mit der Rivalität zwischen Franz I. und Karl V. ein für das 16. Jahrhundert einschlägiges Beispiel von Herrschaftskonkurrenz auf höchster politischer Ebene. Im Zentrum der Analyse steht ein nach bzw. infolge der Niederlage von Franz I. bei der Kaiserwahl 1519 entstandenes, bebildertes Schriftstück, das zum Ziel hatte, das französische Königtum wieder ins rechte Licht zu rücken. Das Manuskript – ein Einzelstück – war nicht auf publizistische Verbreitung angelegt. Interessant ist aber die Wahl des Sujets. Im Zentrum steht die königliche Hundeprominenz, deren herausragende Leistungen im Rahmen einer literarisierten Hetzjagd demonstriert werden. Im Analysegang werden Motivlagen, rhetorische Strategien sowie traditionale Bedeutungsgehalte der Quelle aufgezeigt, die auf das Phänomen der vénerie verweisen, eine stark ritualisierte Jagd auf Distanz, die seit dem Mittelalter eine standesethische Verankerung und

4 Siehe Diane H. Bodart: Frederic Gonzague et Charles Quint. Enjeux politiques et artistiques des premiers portraits imperiaux par Titien. In: Sylvia Ferino-Pagden (Hg.): Tizian versus Seisenegger. Die Portraits Karls V. mit Hund; ein Holbeinstreit. Turnhout 2005, S. 19–34. 5 Zur Rolle der Jagd im Herrschaftskonzept von Franz I. siehe Maike Schmidt: Jagd und Herrschaft. Praxis, Akteure und Repräsentationen der höfischen vénerie unter Franz I. von Frankreich (1515–1547). Trier 2019. Aus der Perspektive der französischen Geschichtswissenschaft siehe zuletzt Cédric Michon: François I er . Les femmes, le pouvoir et la guerre. Paris 2015, S. 109–119. 6 Christian Jaser: Racehorses and the Competitive Representation of Italian Renaissance Courts. Infrastructure, Media, and Centaurs. In: Hengerer / Weber, Animals and Courts, S. 175–194, hier S. 186.

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umfangreiche Verschriftlichung im Genre des didaktischen Fachbuchs erfahren hatte.7 Der Nukleus dieser Jagdform lag in der höchst kontingenten Konfrontation zwischen den von Reitern angeleiteten Meutehunden und dem fliehenden Wild. Der Beitrag soll aufzeigen, welchen Anteil Tiere an der Rehabilitierung prekärer Macht haben konnten.

Jagdhunde als Rangzeichen Insgesamt ist der symbolische Einsatz von Hunden im 16. Jahrhundert, vor allem in der sittenkritischen Publizistik,8 von vielfältigen Paradoxien geprägt. Auf der Ebene der adeligen Standeskodifikation und in der zunehmend medialisierten und zu einer „Übersemiotisierung der Öffentlichkeit“9 tendierenden fürstlichen Repräsentationspraxis erscheint die außerordentliche Prestigeträchtigkeit des Hundemotivs dagegen vollkommen unstrittig. Spätestens seit dem aufwendigen memoria-Programm Maximilians I., der sich 1512 den bescheidenen Beinamen Romani Imperii Supremus Venator gab, lässt sich unschwer erkennen, dass Hunde und Jagd eine langfristig akzeptierte und durchaus provozierende Ästhetik der Macht bedienten.10 Selbst frankreichnationale Historiographen des 19. Jahrhunderts würdigten den römisch-deutschen Kaiser noch als „großen Nemrod der Deutschen“11 . Mit der zwischen 1528 und 1533 entstandenen „Maximilian-Folge“ aus Jagden im Umfeld von Brüssel griff die nächste Generation Habsburger diese Jagdrhetorik auf.12 Die auf zwölf imposanten Tapisserien lebensgroß dargestellten Jagdhunde tragen Halsbänder versehen mit den Säulen des Herkules. Ob das Jagdmotiv ein generelles Kennzeichen der habsburgischen Repräsentationspolitik oder aber eine situative Machtdemonstration ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Angesichts des Triumphes über den französischen König bei Pavia 1525 und der Krönung Karls

7 Zur Phänomenologie und Ablauf der vénerie vgl. Schmidt, Jagd und Herrschaft, S. 55–65 u. 76–96. 8 Vgl. Alison G. Stewart: Man’s Best Friend? Dogs and Pigs in Early Modern Germany. In: Pia F. Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity. Farnham 2014, S. 19–44. 9 Tauber, Manierismus, S. 20. 10 Siehe Harald Wolter-von dem Knesebeck: Jagd. In: Uwe Fleckner u. a. (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 2: Von Imperator bis Zwerg. München 2011, S. 20–25, hier S. 21. 11 „Grand Nemrod d’Allemagne“, siehe Dunoyer de Noirmont: Histoire de la chasse en France depuis les temps les plus reculés jusqu’à la Révolution. Paris 1867, Bd. 2, S. 389. 12 Siehe grundlegend Birgit Franke: Jagd und landesherrliche Domäne. Bilder höfischer Repräsentation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Wolfram Martini (Hg.): Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Göttingen 2000, S. 189–218. Zur Herstellung von Jagdtapisserien am Beispiel der Maximilian-Folge vgl. zuletzt: Romina Westphal: Höfische Jagdkultur. In: Guido von Büren (Hg.): Die Jagd – ein Schatz an Motiven. Petersberg 2019, S. 16–43.

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durch den Papst 1530 in Bologna fällt die Entstehung der Tapisserien durchaus in eine Zeit, in der das Haus Habsburg sich trotz mannigfacher Problemlagen auf dem Weg zu einem Machthöhepunkt befand. Die Beauftragung der Maximilian-Folge war dabei nur eine von vielen Maßnahmen Maria von Ungarns in Brüssel, die imperiale Würde des Hauses in einem systematischen Repräsentationsprogramm auszubreiten.13 Die visuelle Erhöhung militärischer Triumphe stand dabei im Vordergrund, wie sich an der zeitgleich bestellten Tapisserie „La bataille de Pavie“ und vielen nachfolgenden unschwer erkennen lässt. Das einmalig in dieser aufwendigen Form präsentierte Jagdsujet reiht sich somit in das Symbolarsenal militärischer Potenz und genealogisch vorgeprägter, agonaler Standespraktiken ein. Die Hunde, vor der prachtvollen Kulisse vormals burgundischer Residenzen in Brabant jagend, transportierten die Performativität einer herrschenden Sippe und ihrer großen Ahnen. Die enge Verbindung zwischen agonalen Dispositionen der „ritterlich-höfischen Kultur“ (Paravicini) und Tieren rückt die Jagd strukturell – freilich mit analytischen Einschränkungen –14 in die Nähe anderer Formen der festlich inszenierten Statuskristallisation und Hunde in eine funktionale und symbolische Nähe zu Pferden oder Greifvögeln. Bekanntlich fanden sich in fürstlichen Bibliotheken bei den profanen Themengattungen Bücher zu Falknerei, Hippologie und Jagd, die einen Teil aristokratischer Pflichtdisziplinen abdeckten und als Elemente des Standesbewusstseins zu werten sind.15 Solche Textgattungen zeigen daneben auch die Relevanz spezialisierten Wissens. Dieses Wissen bestand je nach Disziplin in rituellen Verhaltensvorgaben, Naturkunde, Fachbegriffen und Therapiemöglichkeiten, insbesondere aber in Zucht und Aufzucht bzw. Abrichtung. Die anzunehmende Professionalisierung von Zuchtpraktiken war ein wichtiger, prestigegenerierender Aspekt, auf den im Zusammenhang mit italienischen Rennpferden16 und dem

13 Siehe Annemarie Jordan Gschwend: The Manufacture and Marketing of Flemish Tapestries in Mid-sixteenth Century Brussels. Two Habsburg Patrons and Collectors: Mary of Hungary and Catherine of Austria. In: Bernardo J. García García / Fernando Grillo (Hg.): Ao Modo da Flandes. Disponibilidade, inovao e mercado de arte na poca dos descobrimentos (1415–1580). Madrid 2005, S. 91–113, hier S. 92–93. 14 Die immer wieder behauptete Nähe der Jagd zum Hoffest (vgl. Michail A. Bojcov: Höfische Feste und ihr Schrifttum. Ordnungen, Berichte, Korrespondenzen. In: Handbuch Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich, Bd. 15.III, S. 179–284, hier S. 230) wird der Komplexität des Phänomens nicht gerecht: Jagd war kein Bestandteil des höfischen Festkanons, sondern eine separat erfasste Abteilung des höfischen Haushalts mit vielfältigem Chargensystem und nichtfestlichen, informellen Praxiskomponenten (vgl. Schmidt, Jagd und Herrschaft, S. 171–216). 15 Vgl. am Beispiel des Buchbestands der Herzöge von Burgund Bernard Bousmanne, Frédérique Johan u. Céline van Hoorebeeck (Hg.): La Librairie des ducs de Bourgogne. Manuscrits conservés à la Bibliothèque royale de Belgique. Turnhout 2003. 16 Vgl. Jaser, Racehorses.

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cane alano der Gonzaga17 hingewiesen wurde: Entsprechend spezialisierte Tiere wurden für Imagepolitik eingesetzt und kamen unweigerlich für die Austragung von Symbolkämpfen auf höchster Ebene infrage.

Mediale Reaktionen auf die verlorene Kaiserwahl von 1519 Im Kontext der Kaiserwahl von 1519 standen sich Karl I. von Spanien und Franz I. von Frankreich als direkte Konkurrenten gegenüber. Es ist hinreichend bekannt, dass der Wahlkampf ressourcen- und streitintensiv war und im aus dem vorausgegangenen Jahrhundert überlieferten Ringen um diverse Ansprüche (Norditalien / Burgund) einen ersten symbolischen Höhepunkt markierte. Wenngleich nicht alle Geschehens- und Kommunikationszusammenhänge der Wahl abschließend erforscht sind, wurde die französische Kandidatur in der deutschen Forschung doch lange als „wenig aussichtsreiches Unterfangen“18 gewertet, das an der Landesfremdheit von Franz und der finanziellen Intervention der Fugger scheitern musste. In der französischen Geschichtswissenschaft herrscht dagegen seit Kurzem die Auffassung vor, die imperialen Aspirationen seien kein von blinder Selbstüberschätzung gezeichnetes Vorhaben, sondern eine in der Logik der Zeit liegende Entscheidung gewesen, eine Art Pflichtkandidatur, die ungeachtet des Ausgangs ein Gegengewicht gegen Karl von Spanien auf der europäischen Bühne setzen sollte, wozu de facto nur der französische König imstande war.19 Wie dem auch sei, bestimmte der imperiale Gedanke die Überzeugung des inner circle um die tief religiöse Königsmutter Luise von Savoyen und den ihr eng verbundenen Präzeptor François Demoulins, die in Erwartung der Erfüllung der dem französischen Königtum prophezeiten Größe eine gewisse, mystische Grundstimmung erkennen ließen und damit die Ausrichtung der Königsherrschaft bis zur Zäsur von Pavia 1525 insgesamt stark prägten.20

17 Armelle Fémelat: Rubino, El Serpentino, Viola, and the Others: Renaissance Portraits of Dogs and Horses at the Court of the Gonzagas. In: Hengerer / Weber, Animals and Courts, S. 195–218, hier S. 203–205. Der cane alano muss, analog zu den französischen alans, einer muskulösen Dogge entsprochen haben. 18 Vgl. dazu kritisch Rainer Babel: Deutschland und Frankreich im Zeichen der habsburgischen Universalmonarchie. 1500–1648. Darmstadt 2005, S. 162–165. In diesem Kontext höchst aufschlussreich ist die Tatsache, dass Franz im Zuge der Wahlwerbung stets seine vermeintlich fränkisch begründete germanitas betonte (ebd., S. 164). 19 Michon, François I er , S. 61: „Son principal succès a été la fragilisation de l’équilibre économique de la monarchie espagnole et de l’ensemble des territoires à la tête desquels se trouvait Charles de Gand à la suite d’une élection très couteuse.“ 20 Das zum Zeitpunkt der Kaiserkandidatur entstehende und ab 1522 oft nachgedruckte Liber mirabilis sagte den französischen Königen die Kaiserwürde und damit die „hégémonie sur la chrétienté et

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Im Nachgang der Wahl eskalierte der habsburgisch-französische Konflikt bekanntermaßen in einer Reihe von militärischen Kollisionen, Propagandaschlägen und Beleidigungen, welche die persönliche Komponente der Rivalität zwischen beiden Herrschern in dieser Schärfe vielleicht erst hervorriefen. Nicht zuletzt die gegenseitigen Provokationen, wie vermeintlich anstehende, aber nie durchgeführte Herrscherduelle (1526/27 bzw. 1536)21 und die Demütigungen, wie beispielsweise der Vertrag von Cambrai 1529, demgemäß Franz Karl dessen Romzug zu finanzieren gehabt hätte, sprechen für die Tragweite der Wahlkonstellation von 1519. All das geschah in einem generellen Klima des gegenseitigen Überbietens, höchster Prunkentfaltung und „stärkstem repräsentativen Muskelspiel“.22 Nach dem Scheitern der imperialen Politik trat die französische Herrscherrhetorik dann in eine neue Phase ein, die auf Strategien der „Exemption vom Kaisertum“23 und einem bis 1525 prononcierten Cäsarismus fußte.24 Exemplarisch dafür steht die zwischen 1518 und 1520 entstandene Manuskriptreihe Commentaires de la guerre gallique,25 die, wenngleich sie als „Trostschrift“ (Robert W. Scheller) interpretiert wurde, durchaus propagandistischen Wert für die Selbstverteidigung des französischen Königtums im europäischen Machtkampf hatte.26 Auf die komplexen Entstehungs- und Rezeptionshintergründe – die Autorenschaft wird dem bereits genannten François Demoulins, Erzieher von Franz und Oberhofkaplan, zugeschrieben –27 ist an dieser Stelle nicht einzugehen. Es sei hier lediglich auf

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donc sur son cœur, l’Italie“ voraus. Jean-Marie Le Gall: La capture de François Ier , une mauvaise nouvelle? In: Parlement[s], Revue d’histoire politique 2017 (25/1), S. 121–140, hier Abschn. 30, URL: https://www.cairn.info/revue-parlements-2017-1-page-121.htm (14.08.2021). Zur „ferveur prophétique“ im Übergang zum 16. Jahrhundert siehe Benoist Pierre: L’entourage religieux et la religion de Louise de Savoie. In: Pascal Brioist u. a. (Hg.): Louise de Savoie (1476–1531), OpenEdition Books, 16.07.2018 [2015], Abschn. 39, URL: https://books.openedition.org/pufr/8372. (22.06.2020). Zur herausragenden Rolle der Vorsehung im Journal von Luise von Savoyen in Bezug auf die Zukunft ihres Sohnes vgl. Nadine Kuperty-Tsur: Le Journal de Louise de Savoie: nature et visées. In: Brioist, Louise de Savoie, URL: http://books.openedition.org/pufr/8390 (14.08.2021). Siehe zur publizistischen Wirksamkeit beider Duellforderungen Tauber, Manierismus, S. 106–130. Tauber, Manierismus, S. 1. Am Wettkampfverhalten hatte bekanntlich auch Heinrich VIII. einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Vgl. dazu die Analyse des Herrschertreffens des Camp du drap d’or in ebd., S. 77–105. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 24 u. 80. François Demoulins: Commentaires de la guerre gallique, 3 Bde., 1518–1520, hier Bd. 2: Bibliothèque nationale de France (BnF), fr 13429. Bzgl. der Abbildungen verweise ich auf das frei zugängliche hochauflösende Digitalisat der BnF unter URL: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10509396p (26.10.2022). Tauber, Manierismus, S. 27. Olivier Bosc; François Hermant: Le siècle de François I er . Du roi guerrier au roi mécène. Paris 2015, S. 107 f. Für eine detaillierte Einordnung in das Repräsentationsprogramm von Franz I. vgl. Anne-

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den zweiten Band verwiesen, der Lektionen über das Herrschen und Kriegführen in eine Hirschjagd einbettet, die sich nicht zufällig im Wald von Fontainebleau, einem der Traditionsforste der Valois, abspielt. Der Text ist nachweislich nach der Kaiserwahl entstanden und steht in direktem Bezug zu ihr, da überreich an Herabwürdigungen des ‚deutschen‘ Wahlkaisertums und der Kurfürsten, deren Stimmrecht jeglicher Legitimationsgrundlage entbehre.28 Die Argumentation wird in einem Zwiegespräch zwischen Franz und Julius Cäsar ausgebreitet, für das der französische König seine Jagd unterbricht. Es handelt sich um eine Jagd nach höfischem Stilideal im Sinne der vénerie. Zwei zentrale Ritualschritte werden in einer initialen und einer finalen Farbzeichnung visualisiert: die Anjagd, in der die Meute auf die Fährte des Hirsches gebracht wird, und der Fangstoß, sprich das Töten des ausgezehrten Tiers durch einen Stoß mit einer Blankwaffe in die Flanke. Der Text enthält spezielle Details, die eigentlich nur Eingeweihte aus dem engeren Umfeld des Königshofes kennen konnten. Neben dem offenbar prominenten Jagdleutnant werden die vom König ausgewählten Meutehunde namentlich erwähnt: „Gaillart zählte dazu, und auch Gallebault. Begleitet wurden sie vom edlen Rameau, Arbault, Gerfaut und Billehaut. Keiner war auf sich allein gestellt, denn auch der weiße Greffier war Teil der Truppe [mittelfranzösisch im militärischen Sinn zu verstehen, M. S.] und nicht zu vergessen, Myrault und Réal.“29

Die Tiere zeichnen sich durch Gehorsam, Ehrfurcht und Liebe zu ihrem Herrn aus und sind deshalb so ungemein erfolgreich beim Aufspüren, Laufen und Halten der Fährte.30 Sie übertreffen mit diesen Eigenschaften, so wörtlich, die Kriegshunde Alexanders. Nachdem Franz von Cäsar etwas über Feldherrenstrategie gelernt hat und sich in der Tatsache bestätigt weiß, dass die Könige von Frankreich Kaiser in ihrem

Marie Lecoq: François I er imaginaire. Symbolique et politique à l’aube de la Renaissance française. Paris 1987, S. 229–243. 28 Siehe BnF, fr 13429, fol. 14v. Dem Wahlmodus hätten weder „les francoys ne les italiens ne les espaignoz“ jemals zugestimmt. 29 BnF, fr 13429, fol. 1v: „Gaillart fust de ce nombre, aussi fust Gallebault, le gentil Rameau, Arbault, Gerfaut et Billehault leur tindrent compaignie. Tout seul ne fust tout seul, car il fust de la bande le blanc greffier, et Myrault et Réal ne furent oubliez.“ Alle folgenden, sinngemäßen Übertragungen ins Deutsche sind frei nach der Autorin vorgenommen. 30 BnF, fr 13429, fol. 2v: „Ihre Ehrfurcht lässt sie zuverlässig jagen, ihre Zuversicht bewahrt sie vorm Scheitern und ihre Liebe [zu ihrem Herrn, M. S.] macht, dass sie ausdauernd und pflichtbewusst laufen“ („Crainte les faict sagement poursuyvir, Créance les garde de faillyr, & Amour les faict longuement & sagement courir“).

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Reich sind („Die Könige Frankreichs sind frei und Kaiser in ihrem Reich“31 ), hat er allerdings auch den Anschluss an die Hirschhatz verloren. Er findet seine Meute aber nahe Fontainebleau wieder, die sich in Abwesenheit des Königs sogar selbst übertroffen hat („Er [der König, M. S.] sah, wie sie besser jagten als zuvor“32 ). Die Hunde überlassen die Beute dem König, der sie eigenhändig erlegt. Das dazugehörige Bild zeigt die beiden Hunde, die den Hirsch gestellt haben: („le gentil“) Arbault und die hier erstmalig erwähnte Hündin („la belle“) Greffiere, zwei Namen, die im Bild überdeutlich durch Spruchbänder zu erkennen gegeben werden. Franz greift zwischen die beiden Geweihstangen an die Stelle, wo man in bekannten Darstellungen des Heiligen Eustachius das Kruzifix vorfindet: Der französische König langt nach Gott, er hat sich niemandem außer Christus unterzuordnen.33 Angesichts dieses notorischen Symbolaufgebots wirkt die Wahlniederlage wie ein tiefer Rückschlag und das Manuskript wie ein unmittelbarer Verteidigungsreflex, der zum Ziel haben musste, das angegriffene Selbstbewusstsein des französischen Königs wieder instand zu setzen und seine Sonderstellung in Abgrenzung zu einem nur gewählten Monarchen, der aber faktisch nun über ein Monumentalreich herrschte, zu profilieren. Die Quelle macht nicht nur die bellizistische Grundauffassung der Monarchie, abgeleitet aus ihrer gallischen Vergangenheit und der Jagd als preludium belli, deutlich. Sie enthält auch das einzige zeitgenössische Bild von Franz I. als Jäger sowie ein spezielles, mit Tiernamen besetztes Referenzfeld, das unter Hinzunahme von Quellen des Fachdiskurses aufgeschlüsselt werden kann.

Abstammungsdiskurse: die Genealogie der königlichen Jagdhunde Das Königreich Frankreich mit seinen illustren Herrschern wurde nicht erst im 19. Jahrhundert als Wiege der vénerie stilisiert. Bereits im 17. Jahrhundert sind Bemühungen erkennbar, diese spezielle Form der Jagd mit ihren Bräuchen und ihrem Fachvokabular für die Identität des französischen Adels und die Verbundenheit zwischen Königreich und seiner Elite zu vereinnahmen.34 In der Tat hat die Hirschjagd auf der Ebene der Fachliteratur frankophone Wurzeln, die weit ins Mittelalter zurückreichen.35 Insbesondere das bis heute von Jagdverbundenen als

31 BnF, fr 13429, fol. 18v: „Les Roys de France sont francs et empereurs en leur Royaulme.“ In der Marginalie: „Rex franciae imperator“. 32 BnF, fr, 13429, fol. 89v: „Il [le roi, M.S.] les vyt myeulx chasser que d’avant.“ 33 BnF, fr 13429, fol. 19v. So bestätigt Cäsar kurz zuvor im Text: „C’est par luy que vous regnez.“ 34 Siehe Schmidt, Jagd und Herrschaft, S. 86–89. 35 Vgl. zur Genese der frankophonen Fachliteratur ebd., S. 76–88. Siehe nach wie vor grundlegend Baudouin van den Abeele: La littérature cynégétique. Turnhout 1996.

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kulturhistorische Referenz angeführte Livre de la chasse von 1389 lässt keinen Zweifel an der tiefen Kenntnis über Hunde, Zucht und Aufzucht, die als Maßstab für den veneur gesetzt wurde. Bereits in einer der Kopien von 1390 findet sich in einer prominenten Miniatur ein Name, der auch im oben besprochenen Manuskript wiederauftaucht: Billehaut.36 Dahinter stand die Lektion des Jagdlehrlings, die Meutehunde alle beim Namen unterscheiden zu lernen, welche sich im Nachgang zu einem langlebigen Topos im Diskurs über das Initiationspotential der Parforcejagd entwickelte.37 Die spezifische Namensgebung der königlichen Meutehunde scheint indes in der Tradition einer gattungsübergreifenden Semantik zu stehen. Die vielbeachtete Abstammungsgeschichte gründet auf einem Versgedicht von 1480, in dem der vermeintliche Urvater der Königshunde vorgestellt wird − Souillard, ein weißer Jagdhund aus der Meute von Ludwig XI., der im Text eigens erklärt, dass er 22 starke Nachkommen gezeugt habe, die einzigen, die in der Lage seien, „den Hirsch ganz allein in jedwedem Wald zu jagen“.38 Dem Aspekt der Eigenständigkeit kann eine gewisse Topik zugemessen werden, taucht er doch auch im obigen Text auf, wo Franz’ Meute sich im Wald von Fontainebleau von ihrem Herrn emanzipiert hat und zu dessen Glück – er vergisst durch die Begegnung mit Cäsar ja die Jagd – selbstständig weiterjagt. Mit der Passage über Souillards Eigenschaften – er zeichnet sich durch Ehrfurcht, Gehorsam und Ergebenheit aus – kann daneben die Übernahme einer ganzen Begriffsfolge aus dem mittelalterlichen Gedicht nachgewiesen werden.39 Die Genealogie, mit der die im obigen Manuskript genannten Hundenamen mit großer Wahrscheinlichkeit assoziiert worden sind, kann dank eines späteren Jagdautors rekonstruiert werden. 1561 widmet der Adelige Jacques du Fouilloux Karl IX. von Frankreich das Kompendium La Vénerie und erbringt dort unter Bezugnahme auf Franz I. den Nachweis über eine lückenlose Familiengeschichte der königlichen Meute angefangen beim legendären Souillard, der Jacques de Brézé, einem Hochadeligen aus dem Umfeld Ludwigs XI., gehört hatte. Aus einer Kreuzung zwischen Souillard und Baude, der Hündin von Anne de Bretagne vom Typ

36 BnF, fr 619, fol. 40r. 37 Vgl. Maike Schmidt: Staghounds and the Making of Excellence. Canine Knowledge and Royal Mastery in Sixteenth-Century France. In: Hengerer / Weber, Animals and Courts, S. 219–239, hier S. 221–223. 38 Le livre de la chasse du grand seneschal de Normandye et les dits du bon chien Souillard, hg. v. Jérôme Pichon. Paris 1858 [1480], S. 29: „Par toutes les forestz prennent leur cerf tous seulz“. 39 Siehe ebd.: „Ich habe meinen Herrn mehr als alle anderen gefürchtet, habe ihm vertraut und ihn geliebt, so sehr wie kein anderer Hund jemals zuvor“ („J’ay craint, creu et aymé sur tous aultres mon maistre, autant que fit oncq chien ne est possible d’estre“).

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der sogenannten braunen Hunde (fauves de Bretagne), seien „six d’excellence“40 namens Clerault, Joubard, Meigret, Marteau, Hoyse und Miraud hervorgegangen, von denen einer wiederum mit einer weißen Hündin aus der Zucht eines Vertrauten von Ludwig XII. gekreuzt worden sei. So entstand der erste Hund der legendären blancs du roi − weiße Laufhunde mit braunen Flecken – der in Erinnerung an des Königs Vertrauten „Greffier“ genannt wurde. Dieser Hundetyp diente Franz I. als Basis für ein weiteres Reproduktionsszenario mit einem reinrassigen Exemplar der genannten bretonischen Hunde aus der Aufzucht von niemand Geringerem als Claude d’Annebault, ein namhafter Karrieremilitär und Vorsteher der Tuchjagd (capitaine des toiles) aus dem Umfeld von Franz I.:41 Dieser habe „Mirault“ geheißen. Die daraus hervorgegangenen „wahrhaft königlichen Hunde“ („vrays chiens de roy“42 ), auch genannt „blancs du roi“ oder „greffiers“,43 stellten fortan die Meuten der französischen Krone. Du Fouilloux erzählt eine Fortschrittsgeschichte, die nicht ohne die lückenlose Abstammungslinie leistungsstarker Hundeahnen auskommt. Franz I. tritt hier posthum als fähiger Zuchtmeister in Erscheinung, der es verstand, exzellente Hunde mit noch besseren zu kreuzen und damit eine Entwicklung zu vollenden, die sich aufgrund der Größe französischer Herrscher bereits seit Jahrhunderten angebahnt hatte. Die Hundenamen sind ein Abstammungsnachweis, ein Teil der Haushistorie. Sie tragen eine standesethische Signatur, die eng an den Stammbaum des Königshauses Valois, seine namhaften Dynasten und hohen Getreuen gebunden ist. Die Idee der generationellen Weitergabe von Talenten bedient freilich ein klassisch aristokratisches Denkmuster, in dessen Mittelpunkt die Ehre des Hauses als Letztwert steht.44 Dieser wird hier um einen angestammten Kulturwert erweitert, 40 Philippe Salvadori: La chasse sous l’Ancien Régime. Paris 1996, S. 93. 41 Siehe grundlegend François Nawrocki: L’amiral Claude d’Annebault, conseiller favori de François I er . Paris 2015. Zum Jagdamt von Claude d’Annebault vgl. Schmidt, Jagd und Herrschaft, S. 180–186. Die Tuchjagd, frz. chasse aux toiles, kann dem Spektrum der Eingestellten Jagden zugerechnet werden. Ihr Prinzip bestand darin, eine größere Anzahl Wild, zumeist Sauen, über mehrere Tage in einem Waldareal zu umstellen und von dort aus durch einen Kanal aus riesigen Tüchern in eine sicher abgegrenzte Arena zu treiben, wo die Tiere unter den Augen des Publikums von Schützen mit Armbrüsten oder Saufedern getötet wurden. Diese kostspielige Fangmethode wird gemeinhin als „Deutsche Jagd“ bezeichnet, siehe Stephan Selzer: Jagdszenen aus Sachsen. Die Jagd als höfisches Fest auf einem Tafelgemälde vom ernestinischen Hof (1540). In: Gerhard Fouquet u. a. (Hg.): Höfische Feste im Spätmittelalter. Kiel 2003, S. 73–90, hier S. 78. Zur französischen Variante vgl. Claude d’Anthenaise: Chasses aux toiles, chasses en parc. In: Ders. / Monique Chatenet (Hg.): Chasses princières dans l’Europe de la Renaissance. Arles 2007, S. 73–100. 42 Jacques du Fouilloux: La Vénerie. Paris 1601 (1561), S. 3. 43 Pieragnoli, La cour de France, S. 16. 44 Martin Wrede: Einleitung: Adel und Nation in der Neuzeit. In: Ders. / Laurent Bourquin (Hg.): Adel und Nation in der Neuzeit. Hierarchie, Egalität und Loyalität, 16.–20. Jahrhundert. Ostfildern 2016, S. 11–28, hier S. 21.

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der auf generationenüberdauerndem Spezialwissen beruht und als Eigenheit des französischen Königtums besonderes Distinktionspotential hat. Insofern sind die namentlich gekennzeichneten Jagdhunde des analysierten Manuskripts nicht nur als einfacher Spiegel der Moral ihres Halters, sondern als Agenten einer fortgeschrittenen Spezialisierung im Fach der vénerie und Signaturen einer kulturellen, historisch-genealogisch begründbaren Überlegenheit französischer Monarchen zu deuten. Die ultimative Zuverlässigkeit der Meute steht für ein prästabilisiertes Herrschaftsverhältnis: Die Kontingenz-Situation – in der Fachliteratur das ultimative Alleinstellungsmerkmal einer Hirschjagd – wird zugunsten des garantierten Jagderfolgs beseitigt, der für den unabwendbaren Triumph des Königs steht.

Kompetitive Aspekte der vrays chiens de roy Zu den Zuchtpraktiken und den tatsächlich am Hof eingesetzten Hundetypen liegen bislang keine belastbaren Informationen vor, da die stark idealisierenden Adelsfachbücher nur bedingt aussagekräftig sind. Joan Pieragnoli vermutet unter Bezugnahme auf das Jagdbuch La Vénerie von 1561, dass die am französischen Hof angewandte Zuchttechnik die Hervorbringung hybrider Hundetypen zum Ziel hatte, auf Hirschjagd spezialisierte Tiere, die über besonders ausgebildeten Spürsinn, Laufstärke und Stimmkraft verfügten.45 Man darf annehmen, dass das Zuchtwissen weit genug entwickelt war, um spezifische Charakteristika beizubehalten. Entsprechend spielte auch die Wahrung der wie auch immer gearteten Reinrassigkeit eine Rolle. So empfahl Du Fouilloux etwa, graue oder schwarz (also nicht braun) gepunktete Exemplare zu beseitigen.46 Einer der wenigen Anhaltspunkte für den Bezug von Hunden am französischen Hof ist das Ardennenkloster Saint Hubert. Zwischen 1533 und 1607 finden sich in Rechnungen tatsächlich Hinweise auf ein offenbar althergebrachtes Übereinkommen zwischen den Königen Frankreichs und dem dortigen Abt, das die jährliche Lieferung von Hunden gegen eine Almosengabe (von 100 livres tournois) vorsah.47 So erinnerte Abt Jean VI de Lamock König Karl IX. 1571 gerne an die althergebrachte Abmachung, indem er ihm ungefragt „(…) einen Leithund und

45 Vgl. Pieragnoli, La cour de France, S. 14–16. Der durch Gebell produzierte Lärm war für die Koordination einer Hirschhatz im offenen Gelände unabdingbar. 46 Ebd., S. 16. 47 Siehe Paul Marichal (Hg.): Catalogue des actes de François I er . Paris 1887–1908, 10 Bde., hier Bd. 2, S. 639, Nr. 6880; Bd. 7, S. 631, Nr. 27805; ebd., S. 467, Nr. 25853; Bd. 8, S. 188, Nr. 31007 u. 31008 sowie Jules Berger de Xivrey (Hg.): Recueil des lettres missives de Henri IV. Paris 1843–1858, 7 Bde., hier Bd. 7, S. 480.

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die zwei schönsten Laufhunde der hiesigen Rasse“ zukommen ließ.48 Es ist anzunehmen, dass Zuchtzentren mit gewissem Ansehen existierten und der Austausch von Zuchttieren in Erwartungsstrukturen der „interhöfischen Gabentauschökonomie“49 eingebunden waren. Mit dem im Nachgang der Kaiserwahl und ganz offensichtlich als Reaktion darauf entstandenen Repräsentationszeugnis von 1519 fand eine sozial wirksame Jagdsemantik, in deren Mittelpunkt namhafte Laufhunde standen, im Herrschaftskonzept Niederschlag. Die vrays chiens de roy eröffneten ein hochspezialisiertes, auf die eigene Dynastiegeschichte rekurrierendes Feld, das retrospektiv über die triviale Ebene der Prachtentfaltung und bellizistischen Kraftdemonstration hinausreicht. Die Hunde treten nicht als bloße Alter Egos in Erscheinung, sondern als dynastische Signatur mit einer in volkssprachlichen Texten des Mittelalters begründeten Abstammungsgeschichte, die eng an den Stammbaum des Hauses Valois selbst anlehnt. Dieser auf eine Spezialdisziplin und transgenerationelle Talente rekurrierende Repräsentationsmodus kam der Mystifizierung des französischen Königtums nach außen zugute. Zum Zeitpunkt des Entstehens befand sich Franz in der Position des Geschlagenen, der mittels einer dynastieeigenen Kompetenz dem kaiserlichen Universalanspruch die Idee einer Superiorität der französischen Krone entgegensetzte und sich damit als Mitkonkurrierender zurück ins Spiel zu bringen suchte. Legitimationsprobleme infolge defizitärer Macht veranlassten die Überbetonung bzw. überhaupt erst die Erfindung von Distinktionsmerkmalen, in denen sich die symbolische Wirkmacht von Tieren, die eng an höfisch-herrschaftliche Wettbewerbspraktiken geknüpft war, entfaltete. Der Beitrag wirft weiterzuverfolgende Fragen auf, z. B. nach der Gültigkeit der mit Tiernamensgebung oft assoziierten Individualisierungsthese,50 die im Fall der hier beschriebenen Namenssemantik, die eher auf ein genealogisches Ganzes und nicht auf Einzigartigkeit zielte, nicht tragfähig ist.

48 BnF, Cinq Cents Colbert 7, fol. 323: „ung lymier et une coupple de chiens courans les plus beaux de la race de ceans [race d’ici, M.S.].“ Der „lymier“ (dt. Leithund), entsprach wohl einem eigenen Hundetyp, der aufgrund seines besonderen Spürsinns vor allem bei der Vorsuche zum Einsatz kam oder dann, wenn die Meute von der Fährte des Wilds abgekommen war. 49 Weber, Geschenke, S. 168. 50 Vgl. Jaser, Racehorses, S. 186 und Fémelat, Rubino, S. 195; 197. Die Individualisierungsfunktion von Namen wurde bereits problematisiert in Paul Münch: Tiere und Menschen. Ein Thema der historischen Grundlagenforschung. In: Ders. (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses. Paderborn 1998, S. 9–34, hier S. 33.

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Geschwindigkeit als Statusfaktor? Städtische Pferderennen und die Konkurrenz von Signori und Fürsten im Italien der Renaissance Im Juli 1514 kam Francesco II. Gonzaga, Markgraf von Mantua, in einem Brief an Giuliano II. de’ Medici auf sein Verhältnis zu dessen Vater, Lorenzo dem Prächtigen, zu sprechen: Mit diesem habe er stets in allen Dingen in friedlichem Einvernehmen gestanden, nur nicht beim höchstdotierten Pferderennen Renaissanceitaliens, dem Florentiner Palio di San Giovanni, der hier in der Rückschau zum singulären Möglichkeitsraum für offenen Wettstreit erklärt wird: „Zur Zeit des Rennens sind wir mit allem Wetteifer vorgegangen, da es sich dabei um eine Frage der Ehre handelte.“1 „Lo interesse di l’honore“ – dass in der italienischen Renaissance städtische Pferderennen um den Preis eines wertvollen Seidenbanners aus Goldbrokat, Damast oder Samt – lat. bravium, ital. palio – als Statuskonkurrenz wahrgenommen wurden, ist auf den ersten Blick wenig verwunderlich. Schließlich erklärte etwa Peter Burke die italienische Hochrenaissance zwischen 1490 und 1530 zum „Zeitalter des Wettstreits“, und jüngst machte Bernd Roeck die Prägung durch Konkurrenzen und den „Wettbewerb unter den Staaten und Stadtrepubliken Italiens“ als entscheidende Faktoren für den Durchbruch der Renaissance aus.2 Für die vor einigen Jahren aus der Taufe gehobene historische Konkurrenzkulturforschung, die spezifische Konstellationen von Werthaltungen, Regeln und Verhaltenserwartungen in den Blick nehmen möchte, bietet sich demnach die italienische Renaissance als Untersuchungsgegenstand durchaus an. Freilich kann sich der konkurrenzgeschichtliche Blick nicht auf dem bloßen Labelling eines Epochenkennzeichens ausruhen, sondern hat im Fokus auf – nach Markus Tauschek – „konkrete kompetitive Performanzen“3 mikrohistorische und praxeologische Forschungsperspektiven

1 Francesco II. Gonzaga an Giuliano II. de’ Medici, Mantua, 31. Juli 1513, Archivio di Stato di Mantova (ASMn), Archivio Gonzaga (AG), busta (b.) 2921, libro (l.) 231, fol. 4v, abgedr. bei Giancarlo Malacarne: Il mito dei cavalli gonzagheschi. Alle origini del purosangue. Verona 1995, S. 78. 2 Peter Burke: Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien. München 2 2012, S. 92–133; Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2017, S. 561; Ders.: Wie die Renaissance begann. Voraussetzungen einer Weltkultur. In: Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Europa in der Renaissance. Metamorphosen 1400–1600, Berlin 2016, S. 19–25, hier S. 23–24. 3 Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte –

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auszuloten. Im Rahmen der intensiven Medienkonkurrenz auf der italienischen Halbinsel in den Jahrzehnten um 15004 boten die seit dem 13. Jahrhundert ausgetragenen Palio-Pferderennen neben der Kunst- und Literaturpatronage eine weitere Bühne zur kompetitiven Statusdemonstration von Stadtstaaten, Fürstenhäusern und Signori. Zugespitzt könnte man sagen, dass neben den klassischen Trägergruppen dieses anhaltenden „Krieg[es] der Zeichen“5 – Humanisten und Künstler – auch die Rennpferde mit ihrer natürlichen Fähigkeit, „ihre Körper stark beschleunigen zu können“, zu den prägendsten kompetitiven Figuren der italienischen Renaissance zu zählen sind.6 Inwiefern die Geschwindigkeitsleistung von Rennpferden für Signori und Fürsten zum Statusfaktor wurde, steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Dabei wird es zunächst darum gehen, das Konkurrenzfeld der italienischen Paliorennen vor allem mit Blick auf Räume, Teilnehmer und Regeln der Wettkämpfe zu skizzieren (I). In einem zweiten Schritt werden dann die Praxis des Wettkampfs und die Rolle der Rennpferde als kompetitive Agenten in der zeitgenössischen Berichterstattung fokussiert (II). Schließlich ist drittens der Frage nachzugehen, wie und in welchen medialen Formen das symbolische Kapital des Gewinnens in onore und Prestige des jeweiligen Patrons übersetzt und verstetigt werden konnten (III).

Die Konkurrenz der Paliorennen: Räume, Teilnehmer, Regeln Im 15. und frühen 16. Jahrhundert fanden in nahezu jeder nord- und mittelitalienischen Stadt Paliorennen statt, die von den jeweiligen Stadtregierungen meist

Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York, S. 33–57, hier S. 38 f. Vgl. Markus Tauschek: Zur Kultur des Wettbewerbs. Eine Einführung. In: Ders. (Hg.): Kulturen des Wettbewerbs. Formationen kompetitiver Logiken. Berlin 2013, S. 7–36, hier S. 14; Renate Prochno: Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Berlin 2006, S. 5. 4 Vgl. Volker Reinhardt: Die Renaissance in Italien. Geschichte und Kultur. München 2 2007, S. 14. Siehe hierzu jüngst exemplarisch zum „perfekt konstruierte[m] Image“ Papst Pius II. als Signum der Renaissance Ders.: Pius II. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie. München 2013, S. 9, 13. 5 Bernd Roeck: Urbanistische Konzepte des Quattrocento. Zu Ideal und Wirklichkeit der Stadtplanung der Frührenaissance. In: Michael Stolleis / Ruth Wolff (Hg.): La bellezza della città. Stadtrecht und Stadtgestaltung im Italien des Mittelalters und der Renaissance. Tübingen 2004, S. 7–28, hier S. 9 f. 6 Simone Derix: Das Rennpferd. Historische Perspektiven auf Zucht und Führung seit dem 18. Jahrhundert. In: Body Politics 2/4 (2014), S. 397–429, hier S. 405; Christian Jaser: Kompetitive Figuren des italienischen Quattrocento: Humanisten, Künstler, Rennpferde. In: Ders. / Harald Müller / Thomas Woelki (Hg.): Eleganz und Performanz. Von Humanisten, Konzilsvätern und Editoren. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag. Köln u. a. 2018, S. 369–388.

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anlässlich von städtischen Patronatsfesten ausgerichtet wurden und soziale, politische und kulturelle Bedeutungen generierten. Diese Geschwindigkeitsvergleiche von Rennpferden, die bereits von den Zeitgenossen als concorrentia oder concorrenza bezeichnet wurden7 , vollzogen sich meist innerhalb der Mauern, häufig die Stadt durchquerend von Tor zu Tor. In der Summe ergab sich aus dieser Kette an jährlich veranstalten und unterschiedlich dotierten Rennerereignissen – von kleinstädtischen Provinzrennen bis zum Florentiner Großereignis des Palio di San Giovanni – ein Rennkalender, der zeitgenössisch bereits in seinem Saisoncharakter reflektiert wurde.8 Meist traten bei diesen Rennkonkurrenzen zehn bis zwanzig Rennpferde unter dem Namen und im Dienst von Rennpatronen an, die mehrheitlich auch ihre Besitzer waren und sie mitsamt der Reiter zu den jährlich stattfindenden Palio- und Scharlachrennen anmeldeten: far correre i cavalli nannten das die Zeitgenossen.9 Auf den italienischen Rennstrecken um 1500 versammelte sich regelmäßig ein illustrer Kreis an einheimischen und auswärtigen Rennpatronen fürstlich-signoriler, adeliger, klerikaler und stadtbürgerlicher Provenienz: Gonzaga, Este, Medici, Bentivoglio, Malatesta, Pico della Mirandola, Borgia, Kardinäle, Erzbischöfe und Äbte. Gerade die höher dotierten Rennen waren ein exklusives Repräsentationsforum politischer, wirtschaftlicher und militärischer Eliten. Bereits die Präsenz im Feld der Palio-Patrone, noch mehr aber der agonale Erfolg waren ein untrügliches Zeichen für ökonomische und soziale Arriviertheit und boten somit eine willkommene Gelegenheit zur Statusdemonstration vor einer großen städtischen Öffentlichkeit. Ganz im Sinne der zeitgenössischen Vorstellung einer lex ludi, eines Regelwerks für Spiele und Wettkämpfe, das allen Teilnehmern gleiche Chancen auf den Sieg einräumte, war auch das Regelwerk der Paliorennen ausdrücklich auf einen störungsfreien Rennverlauf und einen fairen Wettkampf hin ausgerichtet.10 Handlungsleitende Maxime war hier das Prinzip der aequalitas, die im kommunalen

7 Giovanni Borromeo an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 3. Juli 1515, ASMn, AG, b. 1106, fol. 293, abgedr. bei Malacarne: Il mito, S. 86 f.; Girolamo Savonarola: Trattato circa il regimento e governo della città di Firenze. In: Pasquale Villari / Eugenio Casanova (Hg.): Scelta di prediche e scritti di Fra Girolamo Savonarola. Florenz 1898, S. 376. Vgl. zum Begriff der ‚Konkurrenz‘ Prochno, Konkurrenz, S. 5. 8 Vgl. Isabella d’Este an Francesco II. Gonzaga, Mailand, 24. September 1492, ASMn, AG, b. 2991, lib. 2, fol. 68r–v. 9 Savonarola, Trattato circa il regimento, S. 376. 10 Petrus de Trabibus: Quodlibet I. Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Ms. D. 6. 359, fol. 112va, q. 40, zit. nach Giovanni Ceccarelli: Il gioco e il peccato. Economia e rischio nel Tardo Medioevo. Bologna 2003, S. 241, Anm. 100. Siehe dazu auch ebd., S. 239–240. Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1981, S. 21–22; Roger Caillois: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige. Paris 1967, S. 43.

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Ideal der Gerechtigkeit wurzelte11 : „Beim morgigen Paliorennen zu Ehren von Maria Magdalena soll der Gleichheit (equalitas) Genüge getan werden, so dass die Vollkommenheit und Schnelligkeit der teilnehmenden Rennpferde wie auch der Fleiß und das Können der Reiter auf die Probe gestellt und erfahren werden kann“, dekretierte die Sieneser Finanzbehörde im Juli 1493 mit Blick auf das Palioregelwerk.12 Damit war ein normativer Fluchtpunkt formuliert, dem die aus Statuten und Ordnungen hervorgehende Regel- und Verfahrensbindung des Renngeschehens insgesamt unterlag. Das ist an einer Vielzahl von organisatorischen Maßnahmen seitens der Ausrichterstädte im Vorfeld und während des Renngeschehens ablesbar: Herrichtung der Rennstrecke, Beseitigung von Hindernissen, Sicherheitsvorkehrungen, schriftliche Registrierung der Rennpatrone, Pferde und Jockeys, Kontrolle des Wettkampfverhaltens durch städtische Amtsträger.13

Wettkampfpraxis: Rennpferde als kompetitive Agenten Gerade die Spitzenrennen in den größeren Städten waren die Domäne von hochspezialisierten, barberi genannten Rennpferden, die von der nordafrikanischen Berberküste importiert wurden und zum Teil den Ausgangspunkt für eigene Züchtungen auf italienischem Boden bildeten.14 Die unüberbietbare Geschwindigkeitsleistung der Berberpferde brachte der Paveser Reitmeister Claudio Corte 1562 auf den Punkt: Wenn es darum geht, eine höhere Geschwindigkeit zu erbringen und den Rennkurs durchzuhalten, seien die Berberpferde, die aus Afrika kommen, allen anderen überlegen.15 Für die Beobachter an den italienischen Rennstrecken, die im

11 Vgl. dazu Barbara Frenz: Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion. Köln 2000; Dies.: Gleichheitsdenken als Konsequenz aus dem städtischen Grundwert der Gerechtigkeit. In: Petra Schulte u. a. (Hg.): Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters. Berlin 2012, S. 201–222. 12 Regelung der Sieneser Biccherna für die Paliorennen an Mariä Himmelfahrt und am Festtag von Maria Magdalena, 21. Juli 1493, Archivio di Stato di Siena, Biccherna, 804, fol. 6v–7r, abgedr. in: Giovanni Cecchini (Hg.): Palio and contrade. Historical Evolution. In: Alessandro Falassi / Giuliano Catoni (Hg.): Palio. Mailand 1984. S. 348–358, hier S. 353. 13 Siehe dazu und zu den folgenden Zusammenhängen künftig umfassend Christian Jaser: Palio und Scharlach. Städtische Sportkulturen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts am Beispiel italienischer und oberdeutscher Pferderennen. Stuttgart (im Druck). 14 Francesco II. Gonzaga an Giuliano di Lorenzo de’ Medici, 31. Juli 1513, AsMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v; Rita Castagna: Nascita e formazione della scuderia di Gonzaga. In: Civiltà Mantovana 10 (1976), S. 14–34, hier S. 20–28. 15 Corte, Claudio: Il Cavalerizzo. In: Carlo Bascetta (Hg.): Sport e Giuochi. Trattati e scritti dal XV al XVIII secolo, Bd. 1. Mailand 1978, S. 241–256, lib. II, c. 52, S. 246. Zu Claudio Corte siehe Elizabeth Tobey: The Palio Horse in Renaissance and Early Modern Italy. In: Karen Raber / Treva J. Tucker (Hg.):

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Dienst auswärtiger Rennpatrone Hunderte von Verlaufs- und Ereignisberichten verfassten, bestand kein Zweifel daran, dass die entscheidende performative agency16 bei den Paliorennen dem Rennpferd und nicht dem Reiter zufiel. Ein Hinweis auf „Schlauheit und Mut des Reiters“ (per astutia et virtù del regazo), die der Mantuaner Gewährsmann Angelo de Maximis als ausschlaggebend für den positiven Ausgang des römischen Karnevalrennens von 1514 erachtete, kann dabei Seltenheitswert beanspruchen.17 Weitaus häufiger geraten die Rennen in der Berichterstattung zu einem Leistungsmonopol der namentlich bekannten Rennpferde, wie hier in einem Bericht vom Florentiner Palio di San Pietro von 1509: Beim Eintritt in die Porta del Prato war das Pferd des Kardinals von Mantua vorne. Alle anderen Pferde lagen eng beisammen bis zum Borgo d’Ognissanti, mit Ausnahme Eures Renegato Giovine, der auf dieser Straße alle anderen passierte und sich bis zum Palio einen derart großen Vorsprung herausarbeitete, so dass, als er das Ziel erreicht hatte, die anderen Pferde gerade einmal beim Haus des Herzogs von Ferrara waren.18

Diese Rolle als kompetitive Agenten korrespondiert auch mit dem spezifischen Regelwerk der italienischen Paliorennen, das auch den Zieleinlauf eines Pferdes scosso, d. h. ohne seinen Reiter, als gültiges Resultat wertete.19 Berücksichtigt man ferner, dass manche Städte auch Leerrennen ohne Jockeys ausrichteten, wird der Charakter der Paliokonkurrenzen als animalische Exklusive noch einmal unterstrichen. Entsprechend war es nur konsequent, wenn ein erfolgreicher Rennpatron wie Francesco Gonzaga seine größten Rennerfolge der virtù seiner Pferde zuschrieb.20

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Culture of the Horse: Status, Discipline and Identity in the Early Modern World. New York u. a. 2005, S. 63–90, hier S. 64. Gesine Krüger u. a.: ‚Animate History. Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren. In: Dies. (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2014, S. 9–33, hier S. 14 f.; Stefan Zahlmann: Tiere und Medien. In: Ebd., S. 153–170. Vgl. dazu auch Mieke Roscher: Human-Animal Studies, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.01.2012, URL: https://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies (07.06.2020). Angelo de Maximis an Federico Gonzaga, Rom, 4. März 1514, ASMn, AG, b. 862, fasc. VI, fol. 270r. Giovanfrancesco da Crema an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 30. Juni 1509, ASMn, AG, b. 2475, fol. 393r. Vgl. Maurizio Gattoni: Palio e contrade nel Rinascimento. I cavalli dei Gonzaga marchesi di Mantova al Palio di Siena. Siena 2010, S. 50–57; Marino Zampieri: Il palio, il porco e il gallo. La corsa e il rito del „drappo verde“ tra Duecento e Settecento. Verona 2008, S. 62–65. Francesco II. Gonzaga an Giuliano di Lorenzo de’ Medici, 31. Juli 1513, AsMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v. Vgl. Malacarne, Il mito, S. 78 f. u. 238; Francesco II. Gonzaga an Alessandro Gabbioneta, Mantua, 5. März 1514, ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 80v–81r. Zum virtù-Begriff der italienischen Renaissance siehe Guido Ruggiero: The Renaissance in Italy. A Social and Cultural History of the Rinascimento. Cambridge 2015, S. 16, 446; Ders.: Mean Streets, Familiar Streets, or the Fat Woodcarver and the Masculine Spaces of Renaissance Florence. In: Roger J. Crum / Jont T. Paoletti (Hg.): Renaissance

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Im kompetitiven Interaktionsgeflecht der Paliorennen ist virtù eine prinzipiell relationale Kategorie, die mit agonaler Durchsetzungsfähigkeit und einem Geschwindigkeitsüberschuss im Feld der Wettkampfteilnehmer zu übersetzen ist. Entsprechend häufig finden sich in der zeitgenössischen brieflichen Berichterstattung vergleichende Geschwindigkeitssemantiken und dromologische Superlative: Zum Beispiel Distanzangaben zwischen den teilnehmenden Pferden mittels Pferdelängen – 20 cavalli, 10 cavalli, 5 oder 6 cavalli21 – oder bekannten Wegmarken, der Vergleich mit Tieren, Naturgewalten und mythologischen Figuren – Falken und anderen Vögeln, dem Westwind, Pegasus, Cyllarus22 –, schließlich Metaphern des Fliegens – „geflogen wie ein Pfeil“ usw.23

Der „zentaurische Pakt“: Mediale Aneignungen der Rennpferde Grundlage dafür, dass die Leistungskonkurrenz der Rennpferde zugleich eine Statuskonkurrenz der Rennpatrone entfaltete, war der „kentaurische Pakt“ zwischen Patron und Rennpferd.24 Die Rolle des Pferdes als Stellvertretertier und hippisches alter ego25 des jeweiligen Patrons bzw. Besitzers war durch die Zuordnung in den Teilnehmerlisten bereits vorprogrammiert. Im Rückgriff auf antike Narrative weisen auch zeitgenössische Anekdoten wie diejenige über den Palio-Patron Lorenzo de’ Medici aus der Feder seines Biographen Niccolò Valori in diese Richtung: Das Rennpferd Morello, von so großer Schnelligkeit, dass es aus allen Wettkämpfen siegreich hervorgegangen sei, habe sich, sobald es krank oder erschöpft gewesen

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Florence. A Social History. Cambridge 2006, S. 293–310, hier S. 294; Jana Graul: „Tanto lontano da ogni virtù“. Zu Konkurrenz, Neid und falscher Freundschaft in Vasaris Vita des Andrea del Castagno und Domenico Veneziano. In: kunsttexte.de, 1.2012, S. 1–40, hier S. 2. Gianfrancesco da Crema an Francesco II. Gonzaga, Mantua 30. Juni 1509, ASMn, AG, b. 2475, fol. 393r; Francesco Malatesta an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 14. Juni 1500, ASMn, AG, b. 1103, fol. 72v–73r; Gian Filippo Salarolo an Lorenzo de’ Medici, Bologna, 20. Juni 1481, Archivio di Stato di Firenze, Mediceo avanti il Principato, XXXVIII, 226. Isidoro del Lungo (Hg.): Prose volgari inedite e poesie latine e greche edite e inedite di Angelo Ambrogini Poliziano. Florenz 1867, S. 130. Zur Tradition der hippischen Geschwindigkeitsmetaphorik siehe Friedrich Ohly: Die Pferde im „Parzival“. In: L’uomo di fronte al mondo animale nell’alto medioevo. 7–13 aprile 1983, Bd. 2. Spoleto 1985, S. 849–927, hier S. 905; André Sauvage: Étude de thèmes animaliers dans la poésie latine. Le cheval – les oiseaux. Brüssel 1975, S. 84–87. Alessandro Gabbioneta an Francesco II Gonzaga, Rome, 19. Februar 1515, ASMn, AG, b. 876, fol. 121r: Giovanfrancesco da Crema an Francesco II Gonzaga, Florence, 30. Juni 1509, ASMn, AG, b. 2475, fol. 393r. Zur „anhaltende[n] Tendenz zur Anthropomorphisierung von Rennpferden“ in der Moderne siehe Derix, Rennpferd, S. 403. Patricia M. Franz: The Horseman as a Work of Art: The Construction of Elite Identities in Early Modern Europe, 1550–1700. Ungedr. Diss. City University of New York, 2006, S. 107.

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sei, nur von Lorenzo persönlich füttern lassen, und jedes Mal, wenn Lorenzo ihm nähergekommen sei, habe es freudig gewiehert und sich auf den Boden gelegt.26 Im Sinne dieser identifikationsstiftenden Stellvertreterkonstellation konnten sich die Rennpatrone die Erfolge ihrer „Geschwindigkeitstiere“27 auf vielfältige Weise medial aneignen. So konstituierten sich nach einem Paliosieg regelmäßig an Ort und Stelle „akustische Gemeinschaften“28 bestehend aus Gefolgsleuten und Anhängern, die lautstark dem siegreichen Patron – Mantua, Mantua, Gonzaga, Gonzaga29 – akklamierten und das gewonnene symbolische Kapital in der Echokammer der städtischen Anwesenheitsgesellschaft multiplizierten. Über ephemere Akklamationsrufe hinaus begünstigte der serielle Charakter der jährlich in vielen Städten stattfindenden Paliorennen Formen einer diachronen Leistungsmemoria, die an die Rolle des Rennpferdes als kompetitiver Leistungsträger und „mediales Tier“ rückgebunden waren.30 In Mantua gab Markgraf Francesco II. Gonzaga 1512 einen Libro dei Palii vinti31 in Auftrag, der die Erfolgsgeschichte der Gonzaga-Rennpferde in Text und Bild verewigen sollte.32 Entsprechend sind in diesem aufwendig gestalteten Kodex 34 Rennpferde mit insgesamt 197 Paliosiegen zwischen 1499 und 1518 zu besichtigen, die allesamt als Zelebritäten des Rennsports inszeniert werden: Als Überschrift jeweils der Name des Pferdes, darunter eine Abbildung des Rennpferds dal naturale vor einer Phantasielandschaft und – mit einer Ausnahme – ohne ihre Jockeys, in der unteren Seitenhälfte schließlich die Auflistung der Paliosiege jedes einzelnen Rennpferds.33 In der agonalen, komplexitätsreduzierenden Evidenz von Sieg, Platzierung und Niederlage verbarg sich die kurzzeitige Bestätigung, Revision oder Inversion von

26 Niccolò Valori: Laurentii Medicei Vita, Florenz 1749, S. 49. Vgl. Michael Mallett: Horse-Racing and Politics in Lorenzo’s Florence. In: Ders. / Nicholas Mann (Hg.): Lorenzo the Magnificent. Culture and Politics. London 1996, S. 253–262, hier S. 260. 27 Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. München 2015, S. 16. 28 Jan-Friedrich Mißfelder: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 21–47, hier S. 37; R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Mainz 2010, S. 350–351. 29 Alessandro Gabbioneta an Francesco II. Gonzaga, Rom, 26. Februar 1514, ASMn, AG, b. 862, fasc. I.1., fol. 35r–26r, abgedr. bei Malacarne, Il mito, S. 195–196. Vgl. auch Alessandro del Cardinale an Francesco II. Gonzaga, Rom, 15. Februar 1510, ASMn, AG, b. 858, fol. 534r–v; Floriano Dolfo an Francesco II. Gonzaga, Bologna, 4. Oktober 1493, ASMn, AG, b. 1143, abgedr. bei Floriano Dolfo: Lettere ai Gonzaga, hg. v. Marzia Minutelli. Rom 2002, Nr. I, S. 3. 30 Zahlmann, Tiere und Medien, S. 153. 31 Siehe eine kodikologische Beschreibung des Libro dei palii vinti in Malacarne, Il mito, S. 88–95. Vgl. Galeazzo Nosari / Franco Canova: Il Palio nel Rinascimento. I cavalli di razza dei Gonzaga nell’età di Francesco II Gonzaga 1484–1519. Reggiolo 2003, S. 209–216; David Sanderson Chambers / Jane T. Martineau (Hg.): Splendours of the Gonzaga. Catalogue. London 1981, S. 147. 32 Vgl. Malacarne, Il mito, S. 87 f. 33 Vgl. ebd., S. 93.

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bestehenden Status- und Ranghierarchien. Nach Francesco Gonzaga lag die „Ehre unseres Sieges“ (honor de la nostra vittoria)34 in einer symbolischen Eroberung der jeweiligen Ausrichterstadt, wie er etwa gegenüber der Medici-Konkurrenz freimütig und augenzwinkernd bekannte: Aufgrund der virtù seiner Pferde sei die Excellentissima Repubblica di Fiorenza ja beinahe jedes Jahr zu seinen Untertanen zu zählen.35 Entsprechend wurden in diplomatischen Korrespondenzen auch Platzierungen im Rennklassement politisch im Sinne von Auf- und Abstiegsnarrativen gedeutet, wie verschiedene Briefe Gian Filippo Salarolos über die Leistungen des Berberhengstes Fulgore aus dem Rennstall des Bologneser Stadtherren Giovanni Bentivoglio offenbaren: Vom Ferrareser Palio im Mai 1481 berichtete Salarolo beispielsweise, dass Fulgore zwar nur den dritten Platz erreicht hatte, aber zur Zufriedenheit Bentivoglios wenigstens vor dem viertplatzierten Pferd der Malvezzi gelandet war, einer mit den Bentivoglio verfeindeten Bologneser Familie.36 Der „zentaurische Pakt“ brachte aber nicht nur das Potential triumphalistischer Aneignung mit sich. Neben dem intrinsischen Kontingenzmoment eines Hochgeschwindigkeitsrennens barg die agency der Rennpferde auch das Risiko von Fehlleistungen: Rennunfälle, Stürze, Kollisionen mit Mauleseln und Menschen, aber auch das Verlassen der Rennstrecke aufgrund von hippischen Orientierungsschwächen im städtischen Straßengeflecht.37 Derart begründete Misserfolge endeten jedoch höchst selten in einem – nach Erving Goffman – „Status-Blutbad“38 der Patrone, sondern wurden als ludisches Missgeschick einfach zur Kenntnis genommen. Emotionale Ausbrüche unterlegener Rennpatrone zielten eher auf angebliche oder tatsächliche Manipulationen des Renngeschehens ab, die mit einer Hyperagonalität von Konkurrenten begründet wurde: che volendo sempre vincere o per uno modo o per un altro, „Lorenzo will immer gewinnen, koste es, was es wolle“, wetterte

34 Francesco Gonzaga an Alessandro Gabbioneta, Mantua, 4. März 1514, ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 78v. 35 Francesco II. Gonzaga an Giuliano II. de’ Medici, Mantua, 31. Juli 1513, ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v. Vgl. Malacarne, Il mito, S. 78 f. 36 Gian Filippo Salarolo an Lorenzo de’ Medici, 16. Mai 1481, ASF, MAP, XXXVIII, 182. Vgl. Mallett, Horse-Racing, S. 261. 37 Siehe z. B. Simone an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 15. Juli 1498, ASMn, AG, b. 2452, fol. 686r; Bernardino cavallaro an Francesco II. Gonzaga, Bologna, 29. Juni 1503, ASMn, AG, b. 1145, unpag.; Giovanni Borromeo an Francesco II. Gonzaga, Florenz, 14. Juni 1512, ASMn, AG, b. 1106, fol. 121r. Vgl. dazu auch Christian Jaser: Merkur, Fortuna und San Giovanni. Pferderennen, Wetten und merkantiles Kalkül im Florenz der Renaissance. In: Benjamin Scheller (Hg.): Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin 2019, S. 229–249, hier S. 240 f. 38 Erving Goffman: Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction. Indianapolis 1961, S. 78; Clifford Geertz: „Deep play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983, S. 202–260, hier S. 236.

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etwa Isabella d’Este 1491 gegen Lorenzo de’ Medici nach einem angeblichen Betrug beim Rennstart, der das Leistungsprinzip der Paliorennen ad absurdum führte und damit den Statusgewinn des Rennsiegers entwertete. Nur im Falle eines regulären Rennverlaufs konnte die virtù der Rennpferde also in den onore der Patrone konvertiert, konnte hippische Geschwindigkeit zum Statusfaktor werden. Dann wurde dem „zentaurischen Pakt“ aus Siegerpferd und -patron ein Aufmerksamkeitsüberschuss zuteil, den Giovanni Maria Butteri Ende des 16. Jahrhunderts bildlich in Szene setzte: Dem Rennpferd Il Secento – benannt nach dem hohen Kaufpreise von 600 Goldgulden und bekannt als Sieger beim Florentiner Hauptrennen – gelten alle Blicke und Fingerzeige in den Gassen von Florenz. Seine Statusrelevanz wurde nach Auskunft des Humanisten Vincenzo Borghini am Arno bald sprichwörtlich, tuschelte man doch regelmäßig über Personen, die in übertrieben luxuriöser Kleidung durch die Stadt stolzierten: „Er hält sich wohl für Sechshundert“ (gli par essere il secento).39

Fazit Das Rennpferd war der Dreh- und Angelpunkt einer Geschwindigkeitskonkurrenz in Form von städtischen Paliorennen, die im Italien der Renaissance als kommunaler Wettkampfsport par excellence gelten können. Bereits die Regelwerke und organisatorischen Rahmenbedingungen waren darauf angelegt, den teilnehmenden Pferden wie auch ihren Reitern einen fairen Wettkampf und Chancengleichheit nach dem Leitprinzip der aequalitas zu gewährleisten. Die concorrentia der Rennpferde entfaltete sich als – im Sinne des modernen Konkurrenzbegriffs – ein sozialer Handlungs- und Interaktionsmodus40 , der gemäß den städtischen Statuten einer engmaschigen, schriftgestützten Kontrolle städtischer Amtsträger unterzogen wurde. Indem die Leitungsgremien der Ausrichterstädte hier vor aller Augen Autorität, administrative Expertise und – über die materielle Beschaffenheit der Rennpreise – ökonomische Potenz zur Schau stellen konnten, bilden die Paliorennen einen performativen Austragungsort jener Konkurrenz der Staaten und Stadtrepubliken, die gemeinhin zu den Epochenkennzeichen der italienischen Renaissance gezählt wird. Gerade die Offenheit dieser Wettkämpfe für in- und auswärtige Rennpatrone aus dem Kreis der politischen, sozialen und ökonomischen Führungsschichten ließ das an sich eher schlichte Gegeneinanderlaufen von Rennpferden in Form eines

39 Vincenzo Borghini: Della moneta fiorentina. In: Discorsi di Monsignore Vincenzo Borghini. Florenz 1755, S. 167. Vgl. dazu Tobey, Palio Horse, S. 78. 40 Ralph Jessen: Konkurrenz in der Geschichte. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte, S. 7–31, hier S. 10; Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan 34.1 (2006), S. 82–104.

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Flachrennens zu einer italienweit beachteten Statuskonkurrenz werden. Über den „zentaurischen Pakt“ zwischen Patron und Rennpferd, über die hippische Stellvertreterfunktion, konnte jeder Sieg und jede günstige Platzierung als Ehrgewinn des Patrons verbucht und in mediale Statusrepräsentationen übersetzt werden. Warum wurden die Eliten Renaissanceitaliens in den Jahrzehnten um 1500 von städtischen Rennkonkurrenzen derart in den Bann gezogen, dass sie sich um agonale Teilhabe in Gestalt eines extrem kostspieligen Stellvertretertiers bemühten und sich darüber in zahlreichen Korrespondenzen berichten ließen? Neben ökonomischen Interessen ist hier vor allem ein sozialgeschichtliches Spezifikum Renaissanceitaliens in Rechnung zu stellen: In einer Welt, in der konkurrierende Statusdemonstrationen und volatile Ranghierarchien an der Tagungsordnung waren41 , war die öffentlichkeitswirksame Evidenz und meritokratische Ausdeutung von Palio-Erfolgen in höchstem Maße attraktiv. Auf den Rennstrecken tummelten sich dementsprechend Aufsteigerfiguren, Söldnerführer und prekäre Signori, die weniger auf Geburtsvorrechte als auf individuelle Leistungskraft und Durchsetzungsstärke verweisen konnten.42 In der virtù schneller Pferde als agonaler Leistungsträger spiegelte sich demnach in der zeitgenössischen Wahrnehmung die virtù des Patrons, so dass gleichsam kentaurisch die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier, sportlichem Wettkampf und politischer Statuskonkurrenz, zum Verschwinden gebracht wurde.

41 Vgl. Isabella Lazzarini: Communication and Conflict. Italian Diplomacy in the Early Renaissance, 1350–1520, Oxford 2015, S. 164. 42 Roeck: Der Morgen der Welt, S. 561; Ders.: Voraussetzungen, S. 23–24.

Nadir Weber

Elatus tendet in altum Jagdfalken und dynastische Konkurrenz im Alten Reich (17. und 18. Jahrhundert) Das Heilige Römische Reich war um 1700 ein Schauplatz intensiver dynastischer Statuskonkurrenz. Vor dem Hintergrund einer sich konsolidierenden europäischen Mächteordnung strebten die großen deutschen Fürstenhäuser nach Rangerhebungen und insbesondere nach der exklusiven Königskrone. Konstitutiver Bestandteil der Statuspolitik, die in den Rang vollwertiger Völkerrechtssubjekte führen und den Abstand zum Haus Habsburg verringern sollte, waren die honores regii.1 Diese Zeichen der Anerkennung königlichen Ranges durch Dritte wurden insbesondere im diplomatischen Zeremoniell vergeben, konnten sich aber auch in mehr oder weniger alltäglichen Interaktionen manifestieren. In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, dass in diesem Kontext auch die Jagd mit abgerichteten Greifvögeln zu einem Spielfeld der reichsfürstlichen Statusökonomie und -konkurrenz wurde. Der Verweis auf die Beizjagd mag erstaunen, gelten das 17. und 18. Jahrhundert in der Jagdhistoriographie doch als große Zeit der Eingestellten Jagd und der Parforce-Jagd als Sinnbildern des höfischen „Absolutismus“.2 Die Falknerei war dagegen gemäß dem gängigen Narrativ nach ihrer goldenen Zeit im Hoch- und Spätmittelalter im stetigen Niedergang begriffen. Begründet wurde dies unter anderem mit dem Aufkommen von Jagdflinten, welche die Falken als Jagdwaffe für den

1 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit. In: Johannes Kunisch (Hg.): Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation. Berlin 2002, S. 1–26, und André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz u. a. (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und dem Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32. – Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Falken in der Höfischen Gesellschaft: Interspezifische Interaktionen und symbolische Repräsentation von Königsherrschaft in Europa (17. und 18. Jahrhundert)“, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wird (SNSF Ambizione, Projekt Nr. 179935). Die Literaturnachweise sind aufgrund der beschränkten Seitenzahl knapp gehalten. 2 Siehe etwa Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit. Düsseldorf 2004, S. 278–304, und zuletzt Andrea Merlotti (Hg.): Le cacce reali nell’Europa dei principi. Florenz 2017. Bei den sog. Eingestellten Jagden wurde eine große Zahl von Jagdwild in einen abgesperrten Bereich getrieben und dort von der fürstlichen Jagdgesellschaft mit Gewehren oder auch Spießen und anderen Waffen getötet. Zur Parforce-Jagd (französisch chasse à courre) siehe den Beitrag von Maike Schmidt.

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Luftraum gewissermaßen substituierten. In Bezug auf den breiteren Adel scheint diese These tatsächlich zuzutreffen.3 Auf der Ebene der Fürsten lässt sich aber trotz des Bedeutungsgewinns der neuen höfischen Jagdformen auch ein gegenteiliger Trend ausmachen, der sich eben gerade aus den Handlungslogiken einer „Ökonomie der Ehre“ heraus erklären lässt: Die kosten- und personalaufwendige Beizjagd wurde exklusiver und damit erst recht zu einem geeigneten Medium sozialer und politischer Distinktion. Insbesondere die Jagd im „Hohen Flug“, bei denen abgerichtete Großfalken durchziehende Reiher oder Milane von oben attackierten und zu Boden brachten, erlebte an den Höfen des 17. Jahrhunderts einen Boom. Ausgehend vom Modell Frankreichs wurden die höfischen Falknereien reorganisiert, Gebäude zur Falkenhaltung errichtet, professionelle Falkner angeworben, Greifvögel aus fernen Gegenden angekauft und vor einem höfischen Publikum große Falkenjagden veranstaltet. Von etwa 1680 bis 1760 erlebte das Alte Reich damit – so meine These – nachgerade ein zweites goldenes Zeitalter der Falknerei. Einige allgemeine Aspekte dieses Phänomens werden im ersten Abschnitt dieses Beitrags knapp beleuchtet. Danach wird am Beispiel der Jagd mit und nach weißen Gerfalken und anhand der Frage nach der vergleichenden Beobachtung von Erfolg und Misserfolg aufgezeigt, wie die höfische Beizjagd zu einem Konkurrenzfeld dynastischer Statuspolitik im Alten Reich wurde.

Die Verhöflichung der Falkenjagd Der neue Bedeutungsaufschwung und -wandel der Falknerei im Zeitalter des Barock spiegelt sich zunächst im Diskurs der Falknereitraktate. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im frühen 17. Jahrhundert wurden zahlreiche Abhandlungen über die Beizjagd gedruckt.4 Humanistisch gebildete Autoren wie Charles d’Arcussia – dessen 1598 erstmals gedruckte Fauconnerie 1617 auch in deutscher Übersetzung erschien –, adressierten mit ihren Werken auch Angehörige des breiteren Adels, die auf ihren Landsitzen im „Niederen Flug“ auf Rebhühner oder Hasen jagten. Bereits in den späteren Auflagen der Werke d’Arcussias nehmen die am Königshof praktizierten Formen der Beizjagd jedoch immer größeren Raum ein. Die

3 Vgl. die differenzierte Darstellung bei Richard Grassby: The Decline of Falconry in Early Modern England. In: Past and Present 157 (1997), S. 37–62, insbes. S. 50–62. Zur Globalgeschichte der Falknerei siehe nun insbes. Karl-Heinz Gersmann / Oliver Grimm (Hg.): Raptor and Human. Falconry and Bird Symbolism throughout the Millennia on a Global Scale, 4 Bde. Kiel 2018. 4 Vgl. dazu die Zusammenstellung in Kurt Lindner: Bibliographie der deutschen und niederländischen Jagdliteratur von 1480 bis 1850. Berlin u. a. 1976, sowie Ingrid A. De Smet: La fauconnerie à la Renaissance. Le Hieracosophion (1582–1584) de Jacques Auguste de Thou. Genf 2013.

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Beizjagd wurde dabei mit einer Beherrschung des Luftraums durch den Souverän in Bezug gesetzt. Während der Strom an Falknereitraktaten allmählich versiegte, richteten sich die wenigen Neuerscheinungen des späten 17. und 18. Jahrhundert schließlich vor allem an die an Höfen tätigen Spezialisten. Auch die erstmalige deutsche Übersetzung des mittelalterlichen Werks De arte venandi cum avibus von Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen entstand als fürstliche Auftragsarbeit.5 Insgesamt löste sich damit die frühneuzeitliche Beizjagd von der Vorstellung des landadligen Amateurs und wurde primär zu einem Aktionsfeld fürstlicher Repräsentation und höfischer Vergemeinschaftung. Parallel zu diesen Diskursen wandelte sich auch die visuelle Repräsentation der Falknerei.6 Den Porträts von Adligen und Patriziern entflogen die im 16. und frühen 17. Jahrhundert noch vielfach anzutreffenden Greifvögel zusehends, während sich Reichsfürsten – die auch rechtlich ein Monopol auf die nun maßgebende Jagd im Hohen Flug auf Reiher und Milane innehatten – nun umso häufiger als Falkner, jedoch betont gravitätisch in Jagduniform und mit verkappten Großfalken auf der Faust, darstellen ließen. Hinzu kamen großformatige Gemälde höfischer Falkenjagden, wie sie etwa Kurfürst Maximilian II. Emmanuel von Bayern um 1690 beim Hofmaler Giovanni Battista Curlando in Auftrag gab oder später Landgraf Friedrich II. von Hessen bei Johann Heinrich Tischbein dem Älteren (1764).7 Solche Darstellungen zeigten den Fürst als dirigierende Zentralfigur von spektakulären Luftkämpfen, die sich auf der weiten Bühne des Landschafts- und Luftraums vor einem detailliert porträtierten höfischen Publikum abspielten.8 Auch hier kreiste die Repräsentation um ein Herrschaftsverständnis, das sich in die dritte Dimension erstreckte und die wagemutig-treuen Greifvögel als Symbol des perfekten Fürstendieners erschienen ließ.

5 Vgl. Kurt Lindner: Ein Ansbacher Beizbüchlein aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1967, S. 79–86. 6 Zur Ikonographie der Falknerei in der Frühen Neuzeit siehe insbes. Christian Antoine de Chamerlat: La fauconnerie et l’art. Paris 1986, S. 134–161, und Yannis Hadjinicolaou: Macht wie die des Königs. Zur politischen Ikonographie der Falknerei. In: Maurice Saß (Hg.): Hunting without Weapons. On the Pursuit of Images. Berlin / Boston 2017, S. 87–106, sowie nun die entsprechenden Beiträge in Yannis Hadjinicolaou (Hg.): Visual Engagements. Image Practices and Falconry. Berlin / Boston 2020, und Oliver Grimm (Hg.): Raptor on the fist. Falconry, its imagery and similar motifs throughout the millennia on a global scale, 2 Bde. Kiel / Hamburg 2020. 7 Zu Letzterem vgl. Andreas Dobler: Die Reiherbeize Landgraf Friedrichs II. von Hessen-Kassel im Jahr 1763. In: Höfische Jagd in Hessen. Ereignis, Privileg, Vergnügen. Petersberg 2017, S. 133–151. 8 Ähnliche Beobachtungen lassen sich in Bezug auf die höfische Jagd mit Hundemeuten anstellen; vgl. Nadir Weber: Die Macht der Meuten. Zur politischen Metaphorik jagender Hunde im Umfeld des französischen Königshofes (17. und 18. Jahrhundert). In: Jan Marco Sawilla / Rudolf Schlögl (Hg.): Jenseits der Ordnung? Zur Mächtigkeit der Vielen in der Frühen Neuzeit. Berlin 2019, S. 261–289.

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Der neue Aufschwung der fürstlichen Beizjagd manifestierte sich in der Schlossund Landschaftsarchitektur. Ab 1686 ließ Kaiser Leopold I. sein Lustschloss in Laxenburg nach seiner teilweisen Zerstörung während der osmanischen Kriege im Hinblick auf die Durchführung der kaiserlichen Beizjagden umgestalten.9 Das Ensemble aus Schloss und Park beinhaltete neben den Gebäuden für Hof und Pferde eigene Räume zur Unterbringung der Jagdfalken sowie Reiherstände und später eine Fasanerie, in denen das für die Jagd benötigte Federwild gehegt und herangezogen wurde. Die Beizjagd selbst wurde im weitläufigen Park praktiziert, der neben Forstbeständen sowie stehenden und fließenden Gewässern auch mehrere Wiesen beinhaltete, auf denen die berittenen Falkner das Geschehen in der Luft verfolgen konnten, und der zudem Platz für den Aufbau von Schaupavillons bot.10 In ähnlicher Weise wurden etwa auch Schloss Wabern in Hessen (1704–1707 erbaut und später unter Landgraf Friedrich II. erweitert) oder das sinnigerweise „Falkenlust“ genannte Jagdschloss bei Brühl (1729–1737 im Auftrag des Kölner Kurfürsten Clemens August I. errichtet) im Hinblick auf die höfische Beizjagd gestaltet. Damit entwickelte sich eine eigene Schloss- und Gartenarchitektur, die ganz auf die funktionalen Erfordernisse der höfischen Beizjagd „im hohen Flug“ ausgerichtet war. Schließlich war für die Abrichtung und Haltung der Vögel und die Durchführung der Jagden spezialisiertes Personal von Nöten. Dieses rekrutierte sich für die niedereren Dienste als Falkonierknecht, Uhu- oder „Cage“-Träger aus der lokalen Gesellschaft, während an den deutschen Höfen dienende berittene Falkoniere und Falkenmeister oftmals aus den Niederlanden stammten.11 Die Personalbestände der höfischen Falknereien schwankten, waren aber – analog zu anderen Teilen des Hofstaats der expandierenden Höfe – um 1700 tendenziell im Steigen begriffen. Manche Fürsten wie der Markgraf von Ansbach leisteten sich noch Mitte des 18. Jahrhunderts ein Heer von über fünfzig Falknern, die sich jeweils exklusiv mit der Reiher-, Milan-, Krähen- oder Hasenjagd beschäftigten.12 Erhebliche Aufwendungen waren schließlich auch mit dem Erwerb von geeigneten Jagdfalken verbunden, der im nächsten Abschnitt noch genauer in den Blick gerückt wird. Denn in der Frühen Neuzeit mussten die sensiblen Vögel stets von Neuem in der

9 Vgl. Quirin Ritter von Leitner (Hg.): Monographie des Kaiserlichen Jagdschlosses Laxenburg. Wien 1878, insbes. S. 9–12, und zur Nutzung: Karin Schneider: Der Alltag der Séjours und das „Fuhrpartikular“. Die Organisation imperialer Repräsentation im Jagdschloss Laxenburg in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Martin Scheutz u. a. (Hg.): Orte des Wissens. Bochum 2004, S. 205–224. 10 Zu dieser Problematik eingehender: Nadir Weber: Zahmes Wild? Zu den organisatorischen Hintergründen der spektakulären Jagderfolge frühneuzeitlicher Fürsten. In: Tierstudien 8 (2015), S. 93–103. 11 Johannes Martinus Petrus van Oorschot: Vorstelijke vliegers en Valkenswaardse valkeniers sedert de zevendtiende eeuw. Tilburg 1974. 12 Vgl. Lindner, Ansbacher Beizbüchlein, S. 16.

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Nähe der Brutplätze oder beim Durchzug gefangen und auf langen Wegen an die Höfe transportiert werden. Das „zweite goldene Zeitalter der Falknerei“ ging also mit einer Professionalisierung der Falknerei sowie einer europaweiten Zirkulation von Experten und gefangenen Falken einher. Aus diesen Stichworten lässt sich unschwer erahnen, dass mit der Beizjagd sehr hohe Kosten verbunden waren. Insbesondere die dem Haus Wittelsbach angehörigen Kurfürsten von Bayern und von Köln versuchten im frühen 18. Jahrhundert, durch massive Investitionen in die Falknerei zu den maßgebenden Modellen des Kaiserhofs und des französischen Königshofs aufzuschließen.13 Die Fürsten aus den verschiedenen Linien des Hauses Wettin, dessen albertinische Linie mit der sächsischen Kurfürstenwürde und dem Besitz der ehemals unabhängigen Markgrafschaft Meißen auch das Amt des Erzjägermeisters beanspruchte, unterhielten ebenfalls umfangreiche Falknereien.14 Auch einige mittelgroße Fürstenhäuser wie die bereits genannte Ansbacher Linie des Hauses Brandenburg und das Haus Hessen leisteten sich phasenweise große Falknereien, um sich auf diesem ausgewählten Feld höfischer Repräsentation besonders hervorzutun.15 Andere Fürsten traten dagegen kaum als Falkner in Erscheinung oder verabschiedeten sich nach einer Weile aus dem kostspieligen Geschäft um die Organisation, Durchführung und Repräsentation höfischer Beizjagden – so der preußische König Friedrich Wilhelm I., der 1730 seine Hoffalknerei abschaffte.16 Nicht alle großen Reichsfürsten spielten also auf dem entstehenden Feld der höfischen Beizjagd mit. Unter jenen, die es taten, kam es aber bald auch Situationen der Konkurrenz – etwa um die begehrten weißen Gerfalken.

13 Vgl. etwa die eindrückliche Quellensammlung von Robert Seidenader: Kulturgeschichte der Falknerei mit besonderer Berücksichtigung von Bayern. Datensammlung, 3 Bde. Hohenbrunn 2007, sowie Alfred Beckers: Die kurkölnische Falknerei unter Clemens August. Ein Beitrag zur Geschichte der Beizjagd im 18. Jahrhundert. In: Frank Günter Zehnder (Hg.): Eine Gesellschaft zwischen Tradition und Wandel. Köln 1999, S. 247–270. 14 Dazu knapp: Robert Berge: Die Falknerei am Dresdner Hofe. In: Bunte Blätter aus dem Sachsenlande für Jugend und Volk 3 (1900), S. 66–76. 15 Vgl. u. a. Wolfgang Wüst: Jagd, Falknerei und höfische Repräsentation. In: Georg Seiderer (Hg.): Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach (1712–1757) – der „wilde Markgraf “? Ansbach 2015, S. 63–76; Alfred Beckers: Glanz und Niedergang der Falknerei in Hessen-Kassel unter den Landgrafen Friedrich II. und Wilhelm IX. In: Greifvögel und Falknerei. Jahrbuch des Deutschen Falkenordens (2003), S. 207–214. 16 Vgl. Hans-Jürgen Dreyer: Die landesherrliche Falknerei in Preußen. In: Westpreußen-Jahrbuch 33 (1983), S. 81–93.

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Weiße Gerfalken als Statuszeichen Zur Abrichtung für die Beizjagd kann im Prinzip auf eine Vielzahl von Greifvögeln – das heißt auch Habichte und Adler – zurückgegriffen werden. Für die Jagd im Hohen Flug eignen sich aber nur Falken. Am häufigsten wurde dabei der in Europa weit verbreitete und zugleich hoch effiziente Wanderfalke (Falco peregrinus) eingesetzt, aber auch mit Lannerfalken, Sakerfalken oder kleineren Turm- und Baumfalken wurde gebeizt. Blicken wir auf die höfische Bildproduktion im Alten Reich des 17. und 18. Jahrhunderts, so finden wir vor allem eine Falkenart deutlich überrepräsentiert: den aus dem hohen Norden stammenden Gerfalken (Falco rusticolus) mit weißer Gefiederfärbung. Dieser Umstand lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass diese kraftvollen Großfalken besonders geeignet waren für die Jagd auf Graureiher oder Milane. Die weiße Färbung des Gefieders der dargestellten Gerfalken ließ sich zusätzlich auch als Verweis auf den königsgleichen Rang der dargestellten Fürsten lesen. Denn zum einen stand die Farbe Weiß für Reinheit, Gottesnähe und besonderer Würde, weshalb sich Souveräne gerne mit weißen Begleittieren umgaben.17 Zum anderen waren gerade diese Vögel ein ungemein knappes Gut und damit als Distinktionsmittel besonders geeignet. Bei den weißen Gerfalken, die an frühneuzeitliche Fürstenhöfe gelangten, handelte es sich nämlich meist um Zugvögel aus Grönland, die ausschließlich auf Island gefangen wurden. Das Monopol auf den Fang und Vertrieb dieser Vögel hatte der König von Dänemark inne: Seit den 1660er Jahren wurden die sogenannten grauen, halbweißen und weißen Gerfalken jeweils im Spätsommer nach Kopenhagen gebracht und von dort als diplomatische Geschenke an die europäischen Fürstenhöfe verteilt.18 Die jährlichen Fangzahlen variierten erheblich; die Zahl der weißen Gerfalken lag im Durchschnitt aber nur bei etwa vier Exemplaren pro Jahr. Und da die Oldenburger bei der Verteilung ihrer Falkengeschenke stets auch auf den Rang der Empfänger achteten – beginnend mit dem Kaiser und dem französischen Königshaus, die jeweils gleich viele Vögel erhielten – konnten sich nur wenige Fürstenhäuser überhaupt Hoffnungen machen, je einen solchen Vogel zu erhal-

17 Vgl. zu dieser Farbsymbolik etwa Martin Kintzinger: Der weiße Reiter. Formen internationaler Politik im Spätmittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 37 (2000), S. 315 –353, hier S. 323–329; Agostino Paravicini Bagliani: Il bestiario del papa. Turin 2016, S. 58–60; Ders.: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit. München 1997, S. 90–98. 18 Vgl. Sigurður Ægisson: Icelandic Trade with Gyrfalcons. From Medieval Times to the Modern Era. Siglufjörður 2015, mit Tabellen zu den Fangzahlen. Zu Tieren als diplomatischen Geschenken vgl. Nadir Weber: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Diplomatie. In: Peter Hoeres / Anuschka Tischer (Hg.): Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2017, S. 160–180, und Ders., Diplomatic History. In: Mieke Roscher u. a. (Hg.): Handbook of Historical Animal Studies. Berlin / Boston 2021, S. 197–211, insbes. S. 197–201.

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ten. Weiße Gerfalken wurden so zu einem Rangindikator, der Schenkakt zu einer Form königlicher Ehrerbietung. Gerade deshalb intervenierte etwa König Ludwig XIV. von Frankreich 1706 am dänischen Königshof, um für seinen Enkel und umstrittenen König von Spanien Philipp V. solche Falkengeschenke zu erwirken.19 Unter den deutschen Fürstenhäusern konnte nur das Kaiserhaus auf regelmäßigen Nachschub von weißen Gerfalken zählen, womit sich die österreichischen Habsburger einen weiteren Statusvorteil gegenüber ihren Rivalen innerhalb des Reichs sicherten. Die anderen Fürstenhäuser mussten sich in der Regel mit grauen oder halbweißen Gerfalken aus Island begnügen – wenn sie überhaupt auf die Liste der Empfänger gelangten. Um dies zu erwirken, zogen manche Kur- und sonstige Reichsfürsten sämtliche Register ihrer Diplomatie.20 Wer auf direktem Wege beim dänischen Hof nicht weiterkam, musste andere Wege suchen. So erhielt Markgraf von Ansbach Carl Wilhelm Friedrich von Brandenburg über seinen Schwiegervater Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der 1731 ein Geschenk aus Dänemark weiterleitete, endlich auch einen weißen Gerfalken. Der mit Verweis auf den Schenkenden „Berliner“ genannte Greifvogel wurde sodann nicht nur im Porträt verewigt, sondern auf anderen Gemälden gleichsam virtuell multipliziert und damit über seine (kurze) Lebensspanne hinaus am markgräflichen Hof präsent gehalten.21 Dass die weißen Gerfalken in der Bilderwelt deutscher Fürstenhöfe so zahlreich vorhanden waren, konnte damit auch eine kompensatorische Funktion für die begrenzte reale Präsenz haben. Umso deutlicher wurde dabei ihre Rolle als Statuszeichen und -attribut hervorgehoben. Manche Fürsten ließen sich wie Christian Ludwig von Braunschweig-Lüneburg oder die Kurfürsten von Bayern und Köln in personam mit weißen Gerfalken porträtieren.22 Andere Fürsten ließen weiße Gerfalken auf den erwähnten großformatigen Jagdgemälden darstellen oder diskreter am Rande auf den Deckengemälden ihrer Residenzen platzieren. Wieder andere hängten wie der Landgraf von Hessen in ihren Schlössern ganze Porträtserien ihrer Greifvögel aus, worunter den „isländischen“ Falken – die regelmäßig den Namen „Landgraf “ bzw. „Landgräfin“ oder auch „Herzog“, „Prinzess“ und

19 Vgl. Pierre Charliat: Les oiseaux du Nord et la Fauconnerie royale. In: Revue de l’histoire de Versailles et de Seine-et-Oise 31 (1929), S. 118–129, hier S. 122. 20 Die entsprechende Korrespondenz mit dem dänischen Hof verteilt über mehrere Konvolute; vgl. Dänisches Nationalarchiv, Kopenhagen, Rigsarkivet, 303 Overjægermesteren, 333.644–648. 21 Vgl. Lindner, Ansbacher Beizbüchlein, S. 22–25. Ger- und Wanderfalken können in freier Natur mehr als zwölf Jahre alt werden, in den frühneuzeitlichen Falknereien überlebten die oftmals von Lungenkrankheiten heimgesuchten gefangenen Falken aber im Durchschnitt wohl kaum mehr als zwei, drei Jahre. 22 Vgl. Chamerlat, La fauconnerie et l’art, S. 150; Wilfried Hansmann: Die Schlösser Augustusburg und Falkenlust in Brühl, 2 Bde. Worms 2002, Bd. 2, S. 20 u. a.

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„König“ trugen – ein Sonderplatz zukam (Abb. 1).23 Solchen Bildserien lag nicht nur eine individuelle „Jagdbegeisterung“ des jeweiligen Fürsten zugrunde, wie sie in biographischen Studien geradezu topisch konstatiert wird. Wer unter den Voraussetzungen struktureller Knappheit mit weißen Gerfalken jagen konnte, unterstrich vielmehr den Anspruch auf „königliche Hoheit“ für sich und seine Dynastie.

Performanz im interhöfischen Vergleich Der primäre Grandmesser für Rang und Ehre blieb aber das Jagdereignis selbst, das auf vielfältige Art medial verwertet wurde. Eine fürstliche Falkenjagd dürfen wir uns nicht als eine einsame Angelegenheit vorstellen und schon gar nicht als eine von allen Zwängen der höfischen Repräsentation entlastete Begegnung mit der Natur. Wenn etwa die Kaiserin oder ein Reichsfürst zu einer „Lustbeiz“ reiste, war das Terrain bereits sorgsam präpariert. Die in den Reiherständen aufgezogenen Reiher oder eigens angekaufte Milane standen als Jagdwild bereit. Falknerknechte waren im Gelände postiert, um das Federwild notfalls – unterstützt von Hunden – im richtigen Moment zum Losfliegen zu bewegen. Für die versammelten Höflinge und hochrangigen Besucher wurden Zelte oder kleine Tribünen aufgestellt, von wo aus die Kämpfe in der Luft und die berittenen Falkner im Gelände gut beobachtet werden konnten. Wenn der Fürst dann die Falken von der Hand ließ (oder den Befehl dazu gab) und diese hoch oben in der Luft kreisten, um ihre herbeifliegenden Opfer zu attackieren und nach wildem Kampf zu Boden zu bringen, untermalte die Hofkapelle den dramatischen Jagdverlauf noch zusätzlich mit Pauken und Trompeten.24 Trotz dieses stark inszenatorischen Charakters war der Ausgang einer einzelnen Jagd nie ganz vorherzusehen. Denn einiges konnte schiefgehen. Vergleichsweise harmlos war die Rückkehr der Beizvögel ohne Beute oder der verschiedentlich dokumentierte Tod eines Falken bei der Jagd. Symbolisch weit ungünstiger war es jedoch, wenn die Falken selbst wegflogen, statt zu jagen und zurückzukehren, konterkarierte dies doch den Versuch, den höfischen Beobachtern das Ausmaß

23 Vgl. Hans-Albrecht Hewicker: Die Falkenporträts im Schloß Fasanerie in Eichenzell bei Fulda. In: Greifvögel und Falknerei. Jahrbuch des Deutschen Falkenordens (2018), S. 28–97 (mit Abbildung der kompletten Serie von 22 Greifvogelportäts). 24 Vgl. dazu etwa den Tagebuch-Eintrag des italienischen Reisenden Alessandro Bichi-Ruspoli, der 1696 einer kurfürstlichen Reiherbeize bei Potsdam beiwohnte, zit. bei Franz Genthe: Die Falknerei unter den Hohenzollern. Nach den Akten des Geheimen Staats- und Königlichen Haus-Archivs. In: Hohenzollern-Jahrbuch 13 (1909), S. 283–287, hier S. 285.

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Abb. 1 Christoph Wilhelm Grote, Porträt des Jagdfalken „Landgraf/Kayser“, Öl auf Leinwand, 1778 (ergänzt 1780). © Kulturstiftung des Hauses Hessen / Museum Schloss Fasanerie, Fulda, Inv.-Nr. FAS B 498. Das Porträt des weißen Gerfalken ist eines von 22 erhaltenen Greifvogelporträts aus der Falknerei des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel (reg. 1760–1785), dessen Initiale auf der Haube abgebildet ist. Gemäß Aufschrift wurde der „unvergleichlige gute Isländische Falcke“, der seit 1772 im Besitz des Reichsfürsten war, 1780 „seiner besondern Schönheit halber“ von „Landgraf “ in „Kayser“ umbenannt.

fürstlicher Disziplinarmacht vor Augen zu führen.25 Gerade dies aber kam immer wieder vor; die Falknereitraktate enthalten dementsprechend auch Ratschläge, wie entflogene Falken mit lautem Rufen, Ködern und viel Geduld wieder einzuholen seien, während Fürsten ihren Untertanen für die Meldung von Ausreißern

25 Mit dem Aspekt der Disziplinarmacht in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Falknereitraktaten beschäftigt sich das Dissertationsprojekt von Severin Bruttin (Zürich) näher.

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Belohnungen in Aussicht stellten.26 Solche unwillkommeneren Effekte konnten vor allem dadurch ausgeglichen werden, dass jeweils mehrere Duzend Falken auf Holztragegestellen („Cages“) ins Feld mitgenommen wurden. Einzelne Ausreißer fielen dann im Vergleich zu einer Mehrzahl kooperierender Vögel nicht zu sehr ins Gewicht. Nur in vereinzelten Fällen wie in der kaiserlichen „Sommerpaiz“ des Jahrs 1779 war der Misserfolg offenbar dermaßen eklatant, dass der Oberstfalkenmeister im Anschluss daran mehrere Posten im Falknereikorps umbesetzen musste.27 Während Erfolg und Misserfolg einer höfischen Falkenjagd für das anwesende Publikum augenfällig waren, stellte sich die Frage, wie Performanz über das Ereignis hinaus festgehalten und vermittelt werden konnte – und wem sie zugerechnet wurde. Eine mediale Form, die sich ab dem 17. Jahrhundert an verschiedenen Orten finden lässt, ist das fürstliche Jagdjournal. Von Ferdinand II. bis Karl VI. notierten etwa sämtliche Habsburger Kaiser eigenhändig die gefangenen oder getöteten Wildtiere: Hunderte, ja Tausende über die Jahre hinweg.28 Einzelne Formulierungen in diesen Quellen weisen die Agency dabei den tierlichen Jagdhelfern zu, wenn etwa davon die Rede ist, wie viele Reiher „meine Falken […] für Unns […] gefangen“ hätten.29 Analog dazu wurden individuelle Fangerfolge der Beizvögel teilweise auch auf Porträts festgehalten – so etwa bei „Königin GeerFalk“, die allein im Jahr 1736 dreißig Reiher für den Kurfürsten von Köln vom Himmel geholt haben soll.30 Spätestens in den statistischen Zusammenfassungen wurden diese Erfolge dann aber auf die Person des Fürsten umgemünzt und mit der eigenhändigen Unterschrift quasi offizialisiert. Kaiser Karl VI. brachte es damit allein im Zeitraum von 1712 bis 1726 auf 186 Milane, 434 Krähen und ganze 1654 gebeizte Reiher.31 Die alle Sinne ansprechenden Luftspektakel gerannen so zu nackten, aber beeindruckenden Zahlen. Für sich genommen war und ist der Aussagewert solcher Zahlen beschränkt, und wohl auch deshalb konnte die Forschung mit solchen Jagdtagebüchern bisher wenig anfangen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass andere Fürsten wie etwa

26 Vgl. etwa Lindner, Ansbacher Beizbüchlein, S. 46 f. 27 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (AT-OeStA), Wien, HHStA HA OJäA 857: Alte Falknerey-Faszikel (1778–1784), Nr. 21, Saint-Julien an den Kaiser, Wien, 9.8.1779. 28 Die Erforschung dieser Quellen stellt weiterhin ein Desiderat dar; vgl. knapp Karl Ausserer: Die Jagdtagebücher der Österreichischen Nationalbibliothek. In: Josef Stummvoll (Hg.): Die Österreichische Nationalbibliothek. Festschrift. Wien 1948, S. 228–238. 29 AT-OeStA, HHStA HausA Familienakten 88, Nr. 5: Schreibkalender Ferdinands II. 1629, Eintrag vom 29.4.1629. 30 Abgebildet in Hansmann: Die Schlösser Augustusburg und Falkenlust, Bd. 2, S. 21. 31 Vgl. AT-OeStA/HHStA HausA Sammelbände 2: Tagebücher Kaiser Karls VI., „Eigenhändige Abschusstabellen Kaiser Karls VI.“ (Der nachträglich hinzugefügte Titel zu den von Karl VI. eigenhändig erstellten Tabellen ist irreführend, weil darin auch andere Jagdformen wie eben die Falknerei enthalten sind. Insgesamt kam der Kaiser auf über 34.000 erlegte Wildtiere im selben Zeitraum.)

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Maximilian Emmanuel von Bayern zur selben Zeit das Gleiche taten,32 erscheinen diese tabellarischen Verzeichnisse aber doch als mehr als eine familiäre Marotte: Der Erfolg der kaiserlichen Beizjagden wurde wohl nicht zuletzt deshalb so genau festgehalten, um den Vorrang gegenüber dynastischen Konkurrenten auch auf diesem Feld zu behaupten. Periodisch gelangten die Erfolgszahlen denn auch über hofnahe Publikationsorgane an eine weitere Öffentlichkeit. Am 23. Juni 1731 berichtete etwa das Wienerische Diarium, dass „der Regierende Kaisrl. Hof die Reiger-Peitz zu Laxenburg“ am 21. Juni beendet habe, wo insgesamt „113. Reiger, 28. Haasen, 53. Alstern, 38. Krähen, 42. Wild-Enten, 13. Mandel-Krähen, 41. Raben, 2. Geyer und 24. Millan gefangen und gefället worden“ seien.33 Am selben Tag berichtete die Zeitung auch knapp über eine Beizjagd des Kurfürsten von Köln bei Brühl. Die wechselseitige Beobachtung zwischen den Höfen sowie die Verbreitung der Erfolgsmeldungen im Medium quantifizierter – und zugleich nach gejagter Spezies differenzierter – Angaben war damit fest einkalkulierter Bestandteil der fürstlichen Beizjagden, die in einem virtuellen Wettbewerb zueinander standen. Einzelne Fürsten wie der bereits erwähnte Ansbacher Markgraf Carl Friedrich Wilhelm nahmen diesen Wettbewerb besonders ernst und ließen ihre Beizstatistiken in toto abdrucken – mit der beachtlichen Gesamtsumme von 34.429 gebeizten Tieren in 25 Jahren.34 Kaum weniger beeindruckend sind die Ausgaben für die höfische Falknerei von 452.855 Gulden zwischen 1730 und 1747, die maßgeblich zur hohen Verschuldung des markgräflichen Haushalts beitrugen.35 Bei der Erklärung dieser intensiven Jagdtätigkeit gilt es zu berücksichtigen, dass der „wilde Markgraf “ erbrechtlich nicht weit vom preußischen Königsthron entfernt war und damit durchaus Ambitionen für sich oder seine Nachkommen hegen konnte; seine Gattin Friederike Louise konnte den Titel „Königliche Hoheit“ bereits führen. Die hohen Kosten für die fürstliche Falknerei war in diesem Kontext eine Investition in symbolisches Kapital. Als Erinnerung gab der Markgraf den Besuchern seiner Falkenjagden dementsprechend Golddukaten oder Silbertaler mit auf den Weg, deren über einem Falken prangender Wahlspruch den Zusammenhang zwischen Beizjagd und Statuspolitik recht deutlich zum Ausdruck brachte: „ELATUS TENDET IN ALTUM“ – „[In die Luft] geworfen, wird er in die Höhe steigen“.36

32 Vgl. Martin Knoll: Umwelt – Herrschaft – Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert. St. Katharinen 2004, S. 39, 41–44. 33 Wienerisches Diarium, Nr. 50 (1731), 23.6.1731, digitalisiert auf URL: http://anno.onb.ac.at (11.06.2020). 34 Reproduziert in Lindner, Ansbacher Beizbüchlein, S. 40. 35 Vgl. ebd., S. 29. 36 Die Golddukaten wurden 1753 geprägt, auf der Rückseite ist ein berittener Falkner zu sehen und darüber ein Falke, der einen Reiher attackiert. 1755 gaben markgräfliche Münzmeister zwei Serien von Silbertalern heraus, die auf der einen Seite das Porträt des Markgrafen, auf der anderen Seite

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Schluss Die Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass Falknerei im 17. und 18. Jahrhundert mehr war als ein persönliches Pläsir der Fürsten. Über das Jagen mit trainierten Gerfalken „im Hohen Flug“ wurden symbolisch Ansprüche auf Zugehörigkeit zur Fürstengesellschaft erhoben. Dabei kam es zu Situationen der direkten Konkurrenz um knappe Güter, die rasch auch den Charakter einer Konkurrenz um Vorrang annehmen konnte, sowie zu einem zwar spielerisch-sportlichen, aber doch bedeutungsgeladenen Wettbewerb zwischen den fürstlichen Falknern, der im Medium möglichst spektakulärer Jagden oder von Beizstatistiken ausgetragen wurde. Natürlich gilt es dieses Feld der Statuskonkurrenz in seiner Bedeutung nicht überzubewerten – es war eines unter mehreren Feldern, auf denen symbolisches Kapital gesammelt werden konnte, ein Feld zudem, das sich aufgrund seiner Kostspieligkeit wachsender kameralistischer Kritik ausgesetzt sah. Nicht zufällig reduzierten die meisten Reichsfürsten die Falknerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und setzten dem „zweiten Goldenen Zeitalter der Falknerei“ in den Jahren um 1790 fast zeitgleich ein Ende. Bis dahin aber waren die Falkenjagd und mit ihr zahlreiche Greifvögel, Hunde und Pferde sowie das Beizwild in den Parks integraler Teil des Hoflebens, sowohl in den alltäglichen Interaktionen wie in deren medialer Repräsentation.37 Die Falken hatten dabei eine Doppelrolle als Agenten und Medien fürstlicher Statuspolitik. Auch wenn die zweite Funktion die erste zusehends überlagerte, konnte ihr individuelles Verhalten in bestimmten Situationen doch den Unterschied machen. Manche Individuen wie die „Königin GeerFalk“ sicherten sich damit einen Ehrenplatz in den höfischen Porträtgalerien, während andere solchen symbolischen Aneignungsversuchen im wörtlichen Sinne entflogen.

einen Falkner bei der Falkenjagd oder den Falken mit dem oben erwähnten Wahlspruch aufführten. Der Ausdruck elatus tendet in altum findet sich in Jacques Auguste du Thou: Hieracosophion. Sive de re accipitriae libri tres. Paris 1584, S. 47 und 48; vgl. dazu De Smet, La fauconnerie à la Renaissance. 37 Zu den Implikationen solcher Befunde für die Analyse höfischer Sozialität siehe auch Nadir Weber: Das Bestiarium des Duc de Saint-Simon. Zur „humanimalen Sozialität“ am französischen Königshof um 1700. In: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 27–59.

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Kommentar

Als sich eine Bamberger Studentin im Rahmen einer Wien-Exkursion sowie eines begleitenden Hauptseminars zur Habsburgermonarchie im Jahre 2005 besonders für die Spanische Hofreitschule interessierte, mochte dieses Thema aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive noch als eher randständig erscheinen; die Zahl einschlägiger Publikationen zur Geschichte des Mensch-Tier-Verhältnisses war damals zumindest im deutschsprachigen Raum noch sehr überschaubar.1 Besagte Studentin, Magdalena Bayreuther, hatte damit jedenfalls ihr Themenfeld gefunden: Ein einjähriger Auslandsaufenthalt an der Universität Granada mündete in eine Examensarbeit über das spanische Pferd in der zwischenhöfischen Diplomatie und Reitkultur der Frühen Neuzeit.2 Nachdem sie ihren zunächst skeptischen Betreuer mit diesen Arbeiten überzeugt hatte, dass Pferde tatsächlich ein für die Herrschafts- und Kulturgeschichte relevantes Thema sind, erschien ihr Wunsch, über barocke Pferdekultur an fränkischen Fürstenhöfen des 17. und 18. Jahrhunderts zu promovieren, nur folgerichtig. Bayreuthers 2014 erschienene Dissertation Pferde und Fürsten lotet die überragende Bedeutung des Pferdes als höfisches Statussymbol und Herrschaftszeichen – in Architektur und Ausstattung der Marställe, in der distinktiven Wirkung von Fellfarben, in Bedeutung und Wandel von Pferdenamen, in der fürstlichen Reitausstattung sowie im Rahmen der klassischen Reitkunst und höfischer Feste – ebenso umfassend aus wie die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen höfischer Pferdehaltung sowie das durch eine hippologische Fachliteratur und einschlägige Experten konstituierte Wissensfeld.3 Nach meinem persönlichen equinen Lernprozess als Betreuer dieser Arbeiten würde ich heute keine Wien-Exkursion mehr ohne die Hofreitschule als Programmpunkt planen. Zwischen 2005 und dem Erscheinen von Pferde und Fürsten hatte sich aber auch der Stellenwert der Tiergeschichte innerhalb der deutschsprachigen Geschichtswis-

1 Vgl. bes. Paul Münch / Rainer Walz (Hg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses. Paderborn 1999; Peter Dinzelbacher (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stuttgart 2000. 2 Wesentliche Ergebnisse sind zusammengefasst in Magdalena Bayreuther: Pferde in der Diplomatie der frühen Neuzeit. In: Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hg.): Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz / München 2013, S. 227–256. 3 Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600–1800). Würzburg 2014.

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senschaft im Allgemeinen und der Frühneuzeitforschung im Besonderen grundlegend gewandelt: Angeregt durch die interdisziplinären Human-Animal-Studies und inspiriert durch Pionierarbeiten aus dem französischen und englischen Sprachraum hatte sich mittlerweile eine ganze Reihe von Historikerinnen und Historikern Aspekten des Mensch-Tier-Verhältnisses zugewandt und nicht nur die Allgegenwart von Tieren in vergangenen Lebenswelten in den Fokus gerückt, sondern auch den Übergang „[v]on einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte“ vollzogen.4 Die Integration von Tieren in die Historiographie der Frühen Neuzeit ist seither weiter fortgeschritten und hat sich insbesondere für höfische Gesellschaften als ausgesprochen fruchtbar erwiesen.5 Der frühneuzeitliche Fürstenhof lässt sich im Lichte neuerer Arbeiten nunmehr auch „als eine soziale Figuration interdependenter und miteinander kommunizierender Lebewesen“ beschreiben, innerhalb derer Tiere zu einem signifikanten „Faktor im Spiel um den Zugang“ zum Herrscher werden konnten.6 Dass sich über das Mensch-Tier-Verhältnis zudem wichtige Aspekte des Wandels der herrscherlichen Repräsentation aufzeigen lassen, hat jüngst Andreas Rutz am Beispiel der ersten drei preußischen Könige vorgeführt. Während Friedrich I. mit der Einrichtung des Berliner „Hetzgartens“ seinen Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit anderen europäischen Monarchen unterstreichen wollte, ließen seine Nachfolger Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. durch die Umgestaltung des Geländes sowie durch ihren eigenen Umgang mit Tieren veränderte persönliche und politische Präferenzen – militärische Ordnung und Geometrisierung bzw. die Selbststilisierung als aufgeklärter Herrscher – erkennen. Bei Friedrich Wilhelm I. äußerte sich dies in seiner Vorliebe für die wohlgeordnete Parforcejagd in einer domestizierten Natur, während Friedrich II. zwar die Jagd als dekadente Zeitverschwendung verachtete, zugleich aber Ausrottungskampagnen gegen als schädlich betrachtete Wildtiere wie Bären, Biber oder Wölfe anordnete.7

4 So Mieke Roscher: Geschichtswissenschaft: Von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte. In: Reingard Spannring u. a. (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal-Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen. Bielefeld 2015, S. 75–100; vgl. ferner Aline Steinbrecher: Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren. In: Westfälische Forschungen 62 (2012) [Themenband „Mensch und Tier in der Region“], S. 9–29; Gesine Krüger u. a. (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2014. 5 Vgl. etwa Nadir Weber: Das Bestiarium des Duc de Saint-Simon. Zur „humanimalen Sozialität“ am französischen Königshof um 1700. In: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 27–59; Ders.: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen. In: Peter Hoeres / Anuschka Tischer (Hg.): Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Köln u. a. 2017, S. 160–180; Andreas Rutz: Wilde Tiere und herrschaftliche Repräsentation in BrandenburgPreußen. In: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 334–361; Mark Hengerer / Nadir Weber (Hg.): Animals and Courts. Europe, c. 1200–1800. Berlin / Boston 2019. 6 Weber, Bestiarium, S. 32 u. 39. 7 Rutz, Wilde Tiere, passim.

Kommentar

Der Wandel der Rolle von Tieren „als kulturelle Sinnträger“ sowie „als interagierende Mitwesen“8 steht auch im Zentrum von Peter Sahlins’ Buch 1668. The Year of the Animal in France, das hier als Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu dieser Sektion dienen soll. Sahlins beschreibt darin die starke Präsenz von Tieren im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Ludwigs XIV. als Medien der Herrschaftsrepräsentation – im Neubau der Menagerie von Versailles (die dem eigentlichen Schlossbau bezeichnenderweise voranging), in literarischen Werken und Publikationen der Akademie der Wissenschaften sowie auf Gemäldeserien und Gobelins. Damit verknüpft er die These, dass sich um das Jahr 1668 eine tiefgreifende Veränderung in der Wahrnehmung von und im Umgang mit Tieren vollzogen habe. Zum einen seien die Tiere im Park von Versailles (bzw. deren Repräsentationen) Agenten eines Zivilisierungsprozesses gewesen: Statt Wild- und Raubtieren ließ Ludwig XIV. primär „zahme“ Tiere – insbesondere Vögel – in die Menagerie bringen, die Eleganz, Schönheit und Harmonie ausstrahlen und somit gleichsam als Vorbilder für die erwünschten Verhaltensweisen der höfischen Gesellschaft dienen sollten, die der König in Versailles um sich zu versammeln gedachte. Dass das Zusammenleben unterschiedlichster Tiere auf engem Raum keineswegs immer friedfertig und harmonisch verlief, wird dabei nicht verschwiegen. Im Hinblick auf das Thema Statuskonkurrenz ist zudem interessant, dass ein Großteil des in den 1660er Jahren mit der Repräsentation des Herrschers beauftragten Teams von Künstlern, Literaten und Gelehrten vorher im Dienst Nicolas Fouquets gestanden hatte – also jenes Finanzministers, dessen glanzvolle Repräsentation in Schloss und Park von Vaux den König derart provoziert hatte, dass er ihn entmachtete, vor Gericht stellen und verbannen ließ.9 Zum anderen konstatiert Sahlins einen Epochenwechsel vom „Humanimalismus“ der Renaissance zum Naturalismus der klassischen Epoche. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert – der Ära des „Renaissance-Humanimalismus“ – seien demnach vor allem die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Tieren und Menschen betont worden. Tiere galten als beseelte und zu Gefühlen befähigte Lebewesen, die häufig bestimmte Tugenden verkörperten und damit den Menschen gleichsam den Spiegel vorhielten.10 Im Zuge der Rezeption von René Descartes’ mechanistischer Naturphilosophie seien Tiere jedoch in der zweiten Hälft des 17. Jahrhunderts abgewertet und zu zwar perfekt konstruierten, aber seelen- und gefühllosen „lebenden Maschinen“ umgedeutet worden.

8 So Christian Jaser und Nadir Weber in ihrer Einleitung zu dieser Sektion. 9 Peter Sahlins: 1668. The Year of the Animal in France. New York 2018. 10 Vgl. dazu auch den instruktiven Aufsatz von Juliana Schiesari: Pedagogy and the Art of Dressage in the Italian Renaissance. In: Pia F. Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity. Farnham / Burlington 2014, S. 375–389.

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Bezieht man Sahlins’ Interpretation auf die Beiträge dieser Sektion, so fallen die von Maike Schmidt vorgestellten königlichen Jagdhunde und die von Christian Jaser behandelten italienischen Palios in die Epoche des „Renaissance-Humanimalismus“. Dazu scheint die Beobachtung zu passen, dass die Jagdhunde Franz’ I. von Frankreich einen „adeligen“ Stammbaum aufwiesen und sich durch „humane“ Eigenschaften wie „Gehorsam, Ehrfurcht und Liebe zu ihrem Herrn“ auszeichneten. Und dazu passt auch, dass Siege in Palio-Rennen eher dem Pferd als dem Jockey zugeschrieben wurden und Rennpferde als alter ego ihrer Besitzer fungierten. Gleichwohl bietet diese Sektion auch Anhaltspunkte dafür, dass Sahlins den Wandel vom „Humanimalismus“ der Renaissance zu den „lebenden Maschinen“ im Zeitalter Ludwigs XIV. möglicherweise zu schematisch beschreibt; verwiesen sei hier nur auf Nadir Webers Beobachtung, dass regelmäßig ein Teil der in der fürstlichen Jagd des Barockzeitalters eingesetzten Falken nicht zurückkehrte. Somit dürfte die von Abel A. Alves für Spanisch-Amerika formulierte Beobachtung einer Pluralität von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen, die sich bestenfalls partiell mit bestimmten Zeitabschnitten sowie mit ständischen oder ethnischen Kategorien in Einklang bringen lassen,11 auch für das frühneuzeitliche Europa zutreffen. Zudem weisen die Palio-Pferde der Renaissance und die Jagdfalken des Barock einige frappierende Parallelen auf: In beiden Fällen handelte es sich bei den wertvollsten Tieren um „Exoten“ (Berberpferde bzw. isländische Gerfalken), die aufgrund ihrer Seltenheit als überaus wirkungsvolle Statussymbole fungierten, ohne deswegen gänzlich außer Reichweite gut vernetzter und finanziell potenter Interessenten zu sein. Italien wie das Heilige Römische Reich waren ferner durch eine Vielzahl an Herrschaftsträgern geprägt, die untereinander fortwährend um Macht und Einfluss konkurrierten. In diesem Kontext fungierten die schnellen Berberpferde und die isländischen Jagdfalken als Medien eines Prestigewettstreits, der parallel auch auf anderen Feldern ausgetragen wurde; es erscheint bezeichnend, dass sowohl Jaser als auch Weber der Kategorie „Sieg“ bzw. „Erfolg“ große Bedeutung beimessen und auf die hohen Investitionen hinweisen, die italienische und deutsche Fürsten für besonders repräsentative und leistungsstarke Tiere aufbrachten.12 Ein Aspekt, den man dabei noch stärker in den Blick nehmen könnte, sind transnationale Austausch- und Transferprozesse. So ließe sich mit Blick auf Maike Schmidts Beitrag fragen, ob Karl V., Franz I. und gegebenenfalls weitere europäische Herrscher mit ihren Selbstinszenierungen als Besitzer edler Jagdhunde auch direkt aufeinander Bezug nahmen und welche Rolle der großräumige Austausch

11 Alex A. Alves: Individuality and the Understanding of Animals in the Early Modern Spanish Empire. In: Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity, S. 271–290. 12 Das große persönliche und finanzielle Engagement der Fürsten betont auch Magdalena Bayreuther: Breeding Nobility. Raising Horses at Early Modern German Courts. In: Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity, S. 109–129.

Kommentar

von Jagdhunden spielte. Die Korrespondenz des Augsburger Patriziers Hans Fugger aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zeigt jedenfalls, dass dieser sich regelmäßig um englische und niederländische Hunde bemühte.13 Im Fall der italienischen Palios wäre es interessant, die Verbreitung dieser Form des Wettbewerbs außerhalb des italienischen Kulturraums weiterzuverfolgen und zu untersuchen, inwiefern seine Rezeption mit anderen Transfers des „Modells Italien“14 im Zeitalter der Renaissance einherging. Im Herzogtum Pfalz-Neuburg beispielsweise führte der Landesherr Ottheinrich 1532 ein jährliches Pferderennen ein, das sich zwar unmittelbar am Vorbild Münchens orientierte, das aber offenbar auch italienische Modelle adaptierte. Ottheinrich erwarb selbst Pferde aus Mantua auf dem Wege des diplomatischen Geschenkverkehrs mit Federigo II. Gonzaga, doch konnten in Neuburg auch Bauernpferde an den Start gehen, was den dortigen Rennen einen sozial inklusiveren Charakter verlieh als den italienischen Palios.15 Analoge Fragen zu transnationalen Verflechtungen ließen sich für die fürstliche Falkenjagd im Heiligen Römischen Reich formulieren. Die Rekonstruktion der Agency von Tieren aus historischen Quellen schließlich stellt bekanntermaßen ein methodisch schwieriges Problem dar.16 Die Beiträge von Christian Jaser und Nadir Weber bieten dafür zumindest einschlägige Hinweise: Jaser zeigt, dass Palio-Pferde von Zeitgenossen als „kompetitive Agenten“ aufgefasst wurden und ihren Weg durch die Straßen italienischer Städte mitunter auch ohne Reiter fanden, und Weber präsentiert den bereits erwähnten Befund, dass sich Falken bei der Jagd mitunter verselbstständigten. Insgesamt wird das Postulat von Erica Fudge, durch die Fokussierung von „human-animal shared worlds“ auch Perspektiven einer umfassenderen Art von Geschichtsschreibung zu eröffnen,17 im Hinblick auf das Phänomen frühneuzeitlicher Statuskonkurrenz in dieser Sektion nach meinem Eindruck jedenfalls überzeugend eingelöst.

13 Vgl. Christl Karnehm (Bearb.): Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher im Fuggerarchiv. 2 Bde. in 3 Teilbänden. München 2003, bes. die zahlreichen Registereinträge in Bd. 2/2, S. 1718 f. 14 Vgl. Fernand Braudel: Modell Italien 1450–1650. Berlin 2003. Vgl. dazu in Zukunft umfassend Christian Jaser: Palio und Scharlach. Städtische Sportkulturen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts am Beispiel italienischer und oberdeutscher Pferderennen (Habilitationsschrift, Humboldt-Universität zu Berlin, 2018), im Druck. 15 Vgl. Miriam Hall Kirch: „For Amusement, Merrymaking, and good Company“. Horse Racing at a German Princely Court. In: Cuneo (Hg.): Animals and Early Modern Identity, S. 89–107. 16 Vgl. dazu Steinbrecher, Auf Spurensuche, S. 16–22 u. 28 f.; Roscher, Geschichtswissenschaft, S. 81, 83–86 u. 90 f. (mit weiterer Literatur). 17 Erica Fudge: Milking other Man’s Beasts. In: History and Theory 52/4 (2013), S. 13–28, hier S. 23.

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Sektion 4: Erste sein: Wettbewerbsorientierte Migrations- und Missionspraktiken im Umfeld der Hallenser Pietisten im 18. Jahrhundert

Thomas Grunewald, Stefano Saracino, Holger Zaunstöck

Einleitung

Die von August Hermann Francke 1695 in Glaucha bei Halle gegründeten karitativen und pädagogischen Anstalten hatten von Anfang an eine globale und missionarische Dimension.1 Schriften wie Franckes „Project zu einem Seminario Universali“ (1701) oder die Korrespondenz mit seinem polyglotten Unterstützer Heinrich Wilhelm Ludolf zeugen von diesen Ambitionen. Die Augen waren auf die ganze Welt gerichtet.2 Versuche, diese in globaler Dimension geplanten Projekte in die Tat umzusetzen, hatten unweigerlich Migrationen zur Folge. Sie erzeugten Bewegungen von Personen, von Wissen und von Dingen.3 Pietistische Missions-, Transfer- und Propagandaaktivitäten, die sich ab der Wende zum 18. Jahrhundert von Halle aus über verschiedene Kontinente (u. a. nach Nordamerika, Südindien, ins Osmanische Reich und nach Russland) ausdehnten, sind von der Forschung

1 Die Autoren der vier Beiträge, die hier eingeleitet werden, haben zeitgleich als Dr. Liselotte-KirchnerStipendiaten 2018 der Franckeschen Stiftungen in Halle geforscht. Im Zuge der Stipendienkolloquien und des täglichen anregenden Austausches ist die Idee für die vorliegende auf dem Rostocker Frühneuzeittag (2019) vorgestellte Sektion entstanden. Alle Beiträge präsentieren Ergebnisse, die im Rahmen der Stipendienaufenthalte erarbeitet worden sind. 2 August Hermann Francke: Projekt. Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines PflantzGartens, von welchem man einer realen Verbesserung in allen Ständen in und ausserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zu gewarten. In: Ders.: Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 108–115. Ludolf, der sein religiös-spirituelles Reformprojekt unter das Schlagwort der Ecclesia Universalis stellte, schreibt etwa in Bezug auf seine Vorstellungen zum Ausbau des Einflusses auf die „orientalische Kirche“: „Hoffe Gott werde seine allmächtige Barmherzigkeit nach dergleichen projecta möglich machen, ob sie gleich in der welt augen fantastisch scheinen, wie auch der höchste bey ihnen zu Halle gethan“ (Brief Ludolf an Francke, aus Amsterdam, 2. September 1700, Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle (AFSt)/H D 71, Bl. 45–48, hier Bl. 46r). Vgl. Hermann Goltz: Ecclesia universalis – Bemerkungen über die Beziehungen H. W. Ludolfs zu Russland und zu den orientalischen Kirchen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 28/6 (1979), S. 19–37. 3 Brigitte Klosterberg / Heike Liebau / Andreas Nehring (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Halle 2010; Thomas Ruhland: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (1755–1802). Herrnhut 2018. Vgl. zur Mobilität von Objekten Kim Siebenhüner: Die Spur der Juwelen. Materielle Kultur und transkontinentale Verbindungen zwischen Indien und Europa in der Frühen Neuzeit. Wien u. a. 2018.

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intensiv und unter vielerlei Gesichtspunkten untersucht worden.4 Was rechtfertigt deren erneute Thematisierung? Die hier versammelten Studien verstehen sich als Beitrag zu aktuellen Ansätzen, die die Migrations- und Missionspraktiken der Halleschen Pietisten stärker im Zusammenhang von Interaktionen mit anderen missionarischen Akteuren beleuchten und sie im Kontext von interkonfessionellen Grenzüberschreitungen diskutieren.5 Die Pietisten um Francke mussten auf die vorangegangenen institutionalisierten Anstrengungen katholischer Missionen reagieren, die im Kontext der gegenreformatorischen Neuausrichtung bereits ab dem 16. Jahrhundert zustande gekommen waren; man denke an die Gründung des Jesuitenordens (1540), der in den Kolonialreichen Portugals, Spaniens und Frankreichs weltumspannende Missionsnetzwerke errichtet hatte, an das auf die Ausbildung und Konversion Griechisch-Orthodoxer ausgerichtete Athanasius-Kolleg in Rom (1577), das von ähnlichen Institutionen für andere Ostchristen flankiert wurde, an die Gründung der Propaganda Fide (1622) oder an den Ospizio die Convertendi (1673), der zur Bekehrung von Protestanten gegründet wurde.6 Der zeitliche Vorsprung der missionarischen Erschließung konnte dabei je nach geographischem Raum stark divergieren; bisweilen musste eine Missionierung unter der Bedingung der Gleichzeitigkeit erfolgen. Ziel der Halleschen Missionare war aber auch, in Gesellschaften zu wirken, die bis dahin noch gar nicht oder nur geringfügig mit christlichen Missionen in Berührung gekommen waren. In Ergänzung zur Konfessionalisierungsthese und ihrer Fokussierung auf die konfessionelle Lager- und Blockbildung haben zuletzt Forschungen zur Interkonfessionalität die porösen Grenzen zwischen den Konfessionskulturen der Katholiken, Lutheraner (zu denen die Hallenser Pietisten zu zählen sind) und Reformierten betont. Solche Durchlässigkeiten und die sie begleitenden Ambiguitäten wurden im Hinblick auf religiöse Praktiken, wissensgeschichtliche Transferprozesse, aber auch

4 Siehe exemplarisch: Johannes Wallmann / Udo Sträter (Hg.): Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Halle 1998; Anne Schröder-Kahnt / Claus Veltmann (Hg.): Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Halle 2018. Vgl. auch die Literaturangaben in den einzelnen Beiträgen. Zu den pietistischen Verbindungen nach Nordamerika siehe unten Anm. 9. 5 Siehe die von Markus Friedrich und Holger Zaunstöck in den Franckeschen Stiftungen organisierte Tagung „Jesuit and Pietist Missions during the long Eighteenth Century in Cross-confessional Perspective“, 28./29. November 2019, deren Ergebnisse in den „Halleschen Forschungen“ erschienen sind: Markus Friedrich / Holger Zaunstöck (Hg.): Jesuit and Pietist Missions in the Eighteenth Century. Cross-confessional Perspectives (= Hallesche Forschungen Bd. 62). Wiesbaden 2022 6 Antonis Fyrigos: Il collegio greco di Roma. Ricerche sugli alunni, la direzione, l’attività. Rom 1983; Ricarda Matheus: Konversionen in Rom in der Frühen Neuzeit. Das Ospizio dei Convertendi, 1673–1750, Berlin / Boston 2012; Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München 2016, S. 395–447.

Einleitung

auf die Aushandlung und Überschreitung von Grenzen in Kunst und Literatur erforscht.7 Die Bedeutung von Migration für konfessionelle Grenzüberschreitungen wird hingegen in der Forschung weniger beachtet. Bedenkt man, dass frühneuzeitliche Gesellschaften ein erstaunliches Ausmaß an Mobilität aufwiesen, waren Migrationen ein wichtiger Motor konfessioneller Grenzüberschreitungen.8 Im Folgenden werden vier Fallstudien präsentiert, die den Fokus auf die Migration innerhalb pietistischer Missionsnetzwerke legen:9 Im Beitrag von Stephan Steiner geht es um die Migration in den Südosten des Alten Reichs, nämlich in die kaiserliche Residenzstadt Wien, und um die Entstehung einer pietistischen Präsenz an den dortigen Legationen protestantischer Mächte während der Regierungszeit des um konfessionelle (katholische) Homogenität ringenden Kaisers Karl VI. (r. 1711–1740). Stefano Saracino geht der mit missionarischen Projekten verbundenen Migration von Franckes Agenten in die Hauptstadt des Osmanischen Reichs Konstantinopel zwischen 1699 und 1705 nach, während Daniel Haas die Migration von Pietisten und Herrnhutern in andere osmanische Territorien, vor allem nach Alexandria und Kairo in Ägypten, in den 1750er Jahren beleuchtet. Die Vielfalt christlich-missionarischer Interaktionen im indischen Madras fokussiert der Beitrag von Gabriele Bellinzona. Neben der Zielgruppe der Indigenen, die von den europäischen Christen als „Heyden“ verstanden wurden, bemühten sich pietistische Missionare hier auch um die Missionierung bzw. Konversion von Katholiken und Thomaschristen. Gemeinsam ist allen Beiträgen ihr Fokus auf die missionarische Konkurrenz. Neben dieser (im konfessionellen Zeitalter gewissermaßen systemimmanenten) interkonfessionellen Konkurrenz, den reziproken Reaktionen und Beeinflussungen pietistisch-lutherischer und katholischer Missionare, geht es in 7 Kaspar von Greyerz u. a. (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Gütersloh 2003; Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2013; Markus Friedrich / Alexander Schunka (Hg.): Reporting Christian Missions. Communication, Culture of Knowledge, and Regular Publication in the Eighteenth Century. Wiesbaden 2017; Luisa Coscarelli / Rogier Gerrits / Thomas Throckmorton (Hg.): Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit. Kontexte und Konkretionen. Frankfurt am Main u. a. 2018. 8 Vgl. Matthias Asche: Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit. Versuch einer Typologie. In: Geschichte, Politik und Didaktik 32 (2004), S. 74–89. 9 Zu den Migrationen pietistischer Netzwerke nach Nordamerika exemplarisch: Jonathan Strom / Hartmut Lehmann / James van Horn Melton (Hg.): Pietism in Germany and North America: 1680–1820. Farnham, Surrey u. a. 2009; Hermann Wellenreuther u. a. (Hg.): The Transatlantic World of Heinrich Melchior Mühlenberg in the Eighteenth Century. Halle 2013; Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger. Halle 2013; Alexander Pyrges: Das Kolonialprojekt EbenEzer. Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2015; Markus Berger: „Das Band der Einigkeit zu erhalten“. Johann Christoph Kunze und die zweite Generation hallischer Pastoren in Nordamerika, 1770–1807. Halle 2019.

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dieser Sektion aber dezidiert auch um die Kehrseite dieser „Konkurrenzmedaille“: um Koexistenzen und Kooperationen. Gerade weil die Beiträge (abgesehen von der Studie von Stephan Steiner) die missionarische Erschließung von außereuropäischen und nicht christlich dominierten Räumen untersuchen, ist zu fragen, ob die gemeinsame Situation als christlicheuropäische Migranten auch Verbindungen erzeugte, die die Rivalität abmilderten (wie etwa im Beitrag von Daniel Haas) und Konstellationen der Kooperation entstehen ließen. Es ist auch zu fragen, ob gelehrte Praktiken und kritisch-historische Verfahren zwischen Konkurrenzkampf und Kooperation changierten.10 Die Beiträge fragen auch danach, ob die mit den missionsbedingten Migrationen verbundenen Normenkonflikte zwischen christlichen Migranten und Angehörigen der Einwanderungsgesellschaft die konfessionellen Friktionen der konkurrierenden missionarischen Netzwerke untereinander in den Hintergrund drängten.11 Wenig verblüffend ist schließlich, dass die „konkurrenzgeschichtliche“ Neubetrachtung pietistischer Missionspraktiken ein erhebliches Maß an „binnenprotestantischer“ Konkurrenz zum Vorschein bringt. Ob man an anglikanische Legationsprediger im Osmanischen Reich denkt, an englische Händler in Indien, an Herrnhuter hier wie dort, in allen Fällen stellt sich auch die Frage nach den Interaktionen Hallescher Pietisten mit protestantischen „Rivalen“.12 Ferner ist der Aspekt der Schnelligkeit – das im Titel angesprochene Bemühen darum, Erster zu sein – zu reflektieren. Denn in den untersuchten geographischen Räumen missionarischer Aktivität, dem habsburgischen Wien, dem osmanischen Raum und dem indischen Subkontinent, war das Feld von (binnen)konfessionellen Konkurrenten bereits in unterschiedlicher Intensität „bearbeitet“ worden, als die Halleschen Pietisten auf den Plan traten. Das Beispiel des von katholischer Seite missionarisch noch nicht intensiv durchdrungenen Osmanischen Reichs zeigt etwa, dass Pietisten in Konstantinopel und in Ägypten auf geringeren Widerstand stießen und ungehinderter operieren konnten als in Wien oder in Indien. Zudem zeigt das Beispiel Wien, dass konfessionellen Minderheiten zugestandene Schutzräume (wie protestantische Gesandtschaften) Eigendynamiken auszulösen vermochten. Denn solche Schutzräume konnten nicht auf einen fest definierten Raum – weder

10 In Wien engagierten sich pietistische Legationsprediger, wie Stephan Steiner herausstellt, im Kontext gelehrter Interaktionen gemeinsam mit Katholiken in epistemischen Praktiken. Das von Gabriele Bellinzona vorgestellte Beispiel zeigt hingegen, dass der pietistische Missionar Schultze kritischhistorische Verfahren verwendete, um die (katholische) Thomas-Legende zu dekonstruieren. 11 Alexander Schunka: Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit. In: Karl Peter Krauss (Hg.): Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2014, S. 29–55. 12 Dazu Ruhland: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte.

Einleitung

physisch noch mental – begrenzt werden. Die in ihnen entfalteten Aktivitäten beeinflussten auch andere Stadträume. Die so gefassten Handlungsspielräume hingen natürlich generell entscheidend von den makrogeschichtlichen Rahmenbedingungen und ihren konkreten Ausprägungen vor Ort ab. Mochten die pietistischen Ambitionen universal sein, so waren deren praktische Umsetzungen stark von lokalen Gegebenheiten bestimmt – wie insbesondere den Zielgruppen missionarischer Aktivitäten und den politischen Macht- und Protektionsverhältnissen. Der Weg zur lutherischen Universalkirche pietistischer Prägung war weit und friktionsreich, von den Mühen der Ebene geprägt und letztlich aussichtslos.

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Konkurrenz belebt das Geschäft Protestantische Prediger und Hauslehrer im Wien des 18. Jahrhunderts Wer sich die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (nicht ganz zu Unrecht) als Apotheose barocker katholischer Volksfrömmigkeit1 und habsburgischer Pietas Austriaca2 imaginiert, mag erstaunt sein, dass die Stadt gleichzeitig auch ein Ort war, an dem – in scharfem Kontrast zu allen anderen Teilen der Österreichischen Erblande – evangelischer Gottesdienst vollkommen legal und mit ausgebildeten Geistlichen abgehalten werden durfte.3 Seit den 1660er Jahren hatten sich nämlich in der dänischen, schwedischen und niederländischen Gesandtschaft sogenannte „Legationsprediger“ etabliert, die diplomatische Räumlichkeiten als Kapellen nutzen durften. Eine zahlenmäßig schwer zu bestimmende Schar von Gemeindemitgliedern – zeitgenössische Angaben über die Gesamtzahl der Evangelischen in Wien schwanken zwischen 2.000 und 8.000 Personen4 – traf

1 Martin Scheutz: Kaiser und Fleischhackerknecht. Städtische Fronleichnamsprozessionen und öffentlicher Raum in Österreich während der Frühen Neuzeit. In: Thomas Aigner (Hg.): Aspekte der Religiosität in der Frühen Neuzeit. St. Pölten 2003, S. 62–125; Karl Vocelka: Barocker Katholizismus – die Fallstudie Wien. In: Österreich. Geschichte Literatur Geographie 1 (2018), S. 4–17. 2 Anna Coreth: Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich. Wien 1959. 3 Ausführlich und mit zahlreichem, bislang unerschlossenem Quellenmaterial wird die Geschichte der Gesandtschaftskapellen sowie ihrer Prediger und Gemeinden in der vom Autor verfassten Monographie „Das Reich Gottes hier in Wien. Evangelisches Leben in der Reichshauptstadt während der Regierungsjahre Kaiser Karls VI.“ dargestellt, die 2021 erschienen ist. Wesentliche Teile der Recherche dafür wurden durch ein Dr. Liselotte-Kirchner-Stipendium der Franckeschen Stiftungen zu Halle ermöglicht. Holger Zaunstöck danke ich in diesem Zusammenhang für die freundliche Aufnahme und seinem Team für die hervorragende Betreuung. 4 Für das Jahr 1716 bezifferte der dänische Gesandte Weyberg die Gesamtzahl der Evangelischen A. C. in Wien mit „über 2000. Persohnen […] minder oder mehr“ [RA, 301 Tyske Kancelli, Udenrigske Afdeling, Kejseren: Weybergs gesandtskabsarkiv: Kopibøger Relationer (Protocollum Relationum) 1715–1719, pag. 57: Eintrag v. 31. 10. 1716]. Für das Jahr 1728 wird eine Zahl von 8.000 genannt [Johann Hieronymus Chemnitz: Vollständige Nachrichten von dem Zustande der Evangelischen und insonderheit von ihrem Gottesdienste bey der Königlich Dänischen Gesandschafts Capelle in der Kayserlichen Haupt und Residenzstadt Wien. O. O. 1761, S. 12]. Beide genannten Zahlen liegen im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung (um 1700 ca. 115.000) im einstelligen Prozentbereich (vgl. Herbert Knittler: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen. Wien u. a. 2000, S. 28).

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sich dort zu Gottesdiensten, Taufen, Heiraten und anderen Feierlichkeiten.5 Diese bis zum Toleranzpatent von 1781 geübte Praxis fußte auf dem diplomatischen Prinzip der Gegenseitigkeit. Wollte der Kaiser seinen Gesandten in Kopenhagen, Stockholm oder Den Haag den Besuch katholischer Messen ermöglichen, so musste er umgekehrt ein, wenn auch sehr eingeschränktes, evangelisches Leben in Wien gestatten. Über das Problem, damit ausgerechnet in einer der Hochburgen der Katholizität eine evangelische Enklave dulden zu müssen, konnte ein wenig hinwegtrösten, dass das Prinzip des Völkerrechts, Gesandtschaftsräumlichkeiten nicht als Teil des eigenen Staatsgebietes zu betrachten, zunehmend Akzeptanz fand. Jegliche dort geübte, von der katholischen Mehrheitskonfession abweichende Glaubenspraxis konnte vom Landesherrn als nicht unter seiner Verfügungsgewalt stehend angesehen werden.6

Legationsprediger als fünfte Kolonne Die meisten Wiener Legationsprediger stammten aus nicht-habsburgischen Territorien im Alten Reich und eine erkleckliche Zahl von ihnen sah man im Wien des 18. Jahrhunderts kommen und gehen, mindestens zwölf waren es allein in den Regierungsjahren Kaiser Karls VI. Fast alle waren im Guten wie im Schlechten ausgeprägte Charaktere, viele waren Publizisten und einige auch Gelehrte, die sich mit Naturwissenschaften, Philosophie oder Philologie befassten.7 Rechtlich waren sie in ihrem Amt zwar abgesichert, im Alltag manövrierten sie jedoch durch ein Minenfeld, das ihnen beständig verdeutlichte, welch Anomalie ihre Tätigkeit in 5 Am einflussreichsten und zahlenmäßig bedeutendsten war die dänische Gesandtschaftsgemeinde, die ebenso wie die schwedische lutherisch ausgerichtet war; die niederländische hingegen war reformiert. Über Letztere ist nur wenig bekannt und die Ausführungen in diesem Aufsatz gelten für sie nur bedingt. Detaildarstellungen bieten Christian Stubbe: Die Dänische Gesandtschaftsgemeinde in Wien und ihre letzten Prediger. Ein Stück Diasporaarbeit vor dem Gustav-Adolf-Verein. Kiel 1932; Hermann Rippel: Die holländische Gesandtschaftskapelle als Vorgängerin der reformierten Gemeinde in Wien. In: Peter Karner (Hg.): Die evangelische Gemeinde H. B. in Wien. Wien 1986, S. 27–45. 6 Garrett Mattingly: Renaissance diplomacy. New York 1988 [ND Boston 1955], S. 326; Benjamin J. Kaplan: Diplomacy and domestic devotion. Embassy chapels and the toleration of religious dissent in Early Modern Europe. In: Journal of Early Modern History 6 (2002), S. 341–361, hier S. 345 f. 7 Christian Kortholt, dänischer Gesandtschaftsprediger in Wien von 1736 bis 1742, edierte etwa eine zweitausendseitige Ausgabe der Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz; Christoph Friedrich Tresenreuter, schwedischer Gesandtschaftsprediger in Wien von 1733 bis 1737, setzte sich eingehend mit dem spätantiken Schriftsteller Libanios auseinander; Johann Hieronymus Chemnitz, dänischer Gesandtschaftsprediger in Wien von 1757 bis 1768, war ein wichtiger Muschelforscher. Vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz: Epistolae Ad Diversos. 4 Bde., hg. von Christian Kortholt. Leipzig 1734–1742 oder Johann Hieronymus Chemnitz: Kleine Beyträge zur Testaceotheologie, oder, Zur Erkäntniß Gottes aus den Conchylien in einigen Sendschreiben herausgegeben. Nürnberg 1760.

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den Österreichischen Erblanden darstellte. Diese waren von Seiten der Obrigkeit strikt monokonfessionell konzipiert und imaginiert worden, und besonders die Regierungsjahre Karls VI. und Maria Theresias waren geprägt von einer aggressiven Religionspolitik gegenüber den letzten Überbleibseln der Reformationszeit. Der österreichische Untergrundprotestantismus,8 der in ländlichen Regionen noch immer vorhanden war, sollte besonders in den 1730er- und in den 1750er Jahren mit Mission, Repression und Deportation endgültig zum Verschwinden gebracht werden.9 Während dieser Phasen wurden die evangelischen Prediger in Wien wohl als eine besondere Zumutung empfunden, jedenfalls aber als Fremdkörper, die im Verdacht standen, geheime Informationen über die Unterdrückungsmaßnahmen an ihre ausländischen Dienstherren und Korrespondenten weiterzugeben oder gar das Geschehen im Lande zugunsten der Verfolgten beeinflussen zu wollen10 . Einen Ruf als fünfte Kolonne hatten die Wiener Legationsprediger auch deshalb, weil ihre Stellen seit den 1720er Jahren mehrheitlich von in Halle ausgebildeten oder zutiefst vom halleschen Gedankengut geprägten Pietisten besetzt wurden.11 Deren ebenso innovative wie rigide Frömmigkeit steigerte den latenten Unmut in der katholischen Geistlichkeit, bis er sich 1736 in Gravamina des Wiener Erzbischofs

8 In der Forschungsliteratur des letzten Jahrhunderts wurde zumeist von „Geheim“ oder „Kryptoprotestantismus“ gesprochen, aber in aktuelleren Publikationen wird zunehmend meinem Vorschlag gefolgt, diese Gruppe von Widerständigen den Fakten entsprechender als „Untergrundprotestanten“ anzusprechen. Denn „geheim“ war an deren Wirken nur wenig, vielmehr war ihre abweichende Glaubenspraxis den Gegnern im Dorf, in der Lokalverwaltung und in den Landesbürokratien durchaus bewusst. 9 Martin Scheutz: Die „fünfte Kolonne“. Geheimprotestanten im 18. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie und deren Inhaftierung in Konversionshäusern (1752–1775). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte 114 (2006), S. 329–380; Ders.: Seelenjäger und „umgekehrte Wallfahrten“. Volksmissionen und Missionare als Druckmittel gegenüber Geheimprotestanten – eine universelle und eine regionale Geschichte. In: Rudolf Leeb u. a. (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien 2009, S. 395–429; Stephan Steiner: Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien u. a. 2014, S. 243–298. 10 So wurden etwa Vorgänge im Ungarn der 1730er Jahre, wo Protestanten zunehmend in Bedrängnis gerieten, detailreich nach Halle weitergemeldet (vgl. Stephan Steiner: Ungarn-Hilfe aus Wien. Mobile Protestantische Prediger im 18. Jahrhundert. In: Gert Polster (Hg.): Auswanderung. Einwanderung. Binnenwanderung: Migration und regionale Mobilität im pannonischen Raum. Teil 1. Tagungsband der 39. Schlaininger Gespräche. 16. bis 19. September 2019. Eisenstadt 2020, S. 43–52). 11 Dieser Umstand dürfte einerseits auf Entwicklungen in den Entsendeländern Dänemark und Schweden, andererseits auf Wünsche von einflussreichen Wiener Gemeindemitgliedern zurückgehen. Briefe von pietistischen Predigern aus Wien finden sich zahlreich in Zoltán Csepregi (Hg.): Pietas Danubiana / Pietismus im Donautal 1693–1755. 437 Schreiben zum Pietismus in Wien, Preßburg und Oberungarn. Budapest 2013. Diese Arbeit ist eine sehr umfangreiche und auch für den vorliegenden Aufsatz unverzichtbare Quellenedition.

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Sigismund Kollonitsch Luft machte. Darin beschuldigte Kollonitsch die Legationsprediger der Überschreitung aller nur denkbaren Grenzen. Er forderte den Kaiser auf, ihre Aktivitäten auf ein absolutes Minimum zu reduzieren und die Einhaltung derartiger Beschränkungen rigoros zu kontrollieren.12 Die katholische Seite ärgerte besonders, dass der Kreis der bei den Gottesdiensten Erscheinenden denjenigen der tatsächlich Privilegierten (im Wesentlichen Diplomaten, ihre Familien und ihre Entourage sowie einige Handelsleute13 ) angeblich bei Weitem überschritt, so dass sich alles „aus dem Protestantischen Hauffen“ dabei einstellte, was „nur gehen oder kriechen“ konnte.14 Als Reaktion auf Kollonitschs Gravamina wurde eine in der Literatur oft unterschätzte, hochrangig mit geistlichen und weltlichen Vertretern besetzte Kommission eingerichtet, die unter anderem darauf abzielte, Privilegien protestantischer Handwerker abzuerkennen und damit ein wesentliches Segment des lokalen Protestantismus zu eliminieren. Nur nach langem Hin und Her wurde von einem solchen Schritt aus ökonomischen Erwägungen Abstand genommen.15

Wettkampf um die Seelen Ohne dies einzugestehen, belegt das Beschwerdeschreiben jedenfalls eine konfessionelle Konkurrenzsituation, in der der Erzbischof die Evangelischen ernst genug nahm, um sich beim Kaiser über sie zu beschweren. Aus seiner Perspektive war in der lebensweltlichen Praxis der Aktionsradius der lutherisch-pietistischen Prediger über den völkerrechtlich akzeptablen Kontext hinaus ausgedehnt worden. So setzte der Erzbischof alles daran, den Legationspredigern die Ausübung ihres Amtes so schwer wie möglich zu machen. Um jede einzelne Seele wurde dabei verbissen gerungen. Angriffsflächen boten sich genug. Ein besonders markantes Beispiel stellen gemischtkonfessionelle Familien dar, in denen der evangelische Vater verstorben war und dessen Kinder damit leicht zu Spielbällen verwandtschaftlicher Streitigkeiten werden konnten. Wenn geistliche oder weltliche Obrigkeiten intervenierten, war selbst eine Kindeswegnahme

12 Sigismund Kollonitsch: GRAVAMINA Religionis Catholicae & in specie Archi-Dioeceseos Viennensis Contra Haereticos accrescentes, &c. O. O. 1736. 13 Eine detailliertere Darstellung dieses Kreises findet sich in Martin Scheutz: Legalität und unterdrückte Religionsausübung. Niederleger, Reichshofräte, Gesandte und Legationsprediger. Protestantisches Leben in der Haupt- und Residenzstadt Wien im 17. und 18. Jahrhundert. In: Leeb u. a. (Hg.), Geheimprotestantismus, S. 209–236. 14 Kollonitsch, GRAVAMINA, S. 4. 15 AFSt/H C 522:12 Christian Kortholt an Gotthilf August Francke, Wien, 2. 7. 1738; AFSt/H C 522:14 Christian Kortholt an Gotthilf August Francke, Wien, 25. 11. 1738.

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möglich.16 Dabei wurde keinerlei Rücksicht auf die Glaubensgewohnheiten der Kinder genommen. Zwei protestantisch erzogene Mädchen aus einer Beamtenfamilie etwa wurden 1734 nach langem Tauziehen zwischen Verwandten den Jesuiten übergeben. Laut den Protokollbänden der dänischen Gesandtschaft zwangen diese die Schwestern so harsch zu Beichte und Kommunion, dass sie „wegen des ihnen […] angethanen religionszwangs in unabläßlichen thränen fast zerfließen“.17 Besser erging es dagegen einer Gräfin Auersperg, die nach einigem Gerangel mit den Behörden schlussendlich über diese triumphierte: Der Witwe sollte 1740 ihr zehnjähriger Sohn weggenommen werden, weil sein Vormund im Gegensatz zur Gräfin Katholik war und seinen Schützling unbedingt in diesem Glauben aufwachsen sehen wollte. Flehentlich erbat sie den Beistand des dänischen Gesandten, der tatsächlich beim Obersthofkanzler für sie intervenierte und im Falle eines negativen Entscheids mit reichspolitischen Konsequenzen drohte. Mit Erfolg, denn der Gräfin wurde nicht nur das weitere Zusammenleben mit ihrem Sohn, sondern sogar die Anstelllung eines protestantischen Hofmeisters erlaubt.18 Der Kampf um jede einzelne Seele wurde von der Wiege bis zur Bahre ausgetragen. Kam es zu den letzten Dingen, entbrannte immer wieder Streit darüber, ob sich die Legationsprediger an das Kranken- oder Sterbebett ihrer Glaubensgenossinnen und -genossen begeben dürften19 . Auch ob sie befugt waren, ihre seelsorglichen Tätigkeiten in katholischen Haushalten auszuüben, in denen Protestanten als Einlieger oder Dienstboten bloß mitwohnten, war umstritten und führte oft zu verbalen, aber auch physischen Attacken. Ein dänischer Legationsprediger beklagte 1761 bitter, dass man für „Verrichtungen bey Delinquenten, Kranken und Sterbenden beschimpft, beunruhigt, von der Stadtwache aufgegriffen, gefänglich eingezogen, mit den bittersten Vorwürfen gequälet, ja als ein Verwirrer und Verführer des Volks angesehen und behandelt“ würde.20 Verstellung war in einer solchen Situation das Mittel der Wahl, denn nur „unter andern Namen, in gefärbten Kleidern, mög-

16 Zu religiös motivierten Kindeswegnahmen siehe Ute Küppers-Braun: „Kinder-Abpracticirung“. Kinder zwischen den Konfessionen im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 208–225. 17 København, Rigsarkivet, 2-0522 Wien, diplomatisk repræsentation 1691–1865 Diverse sager: Species facti v. 5.11.1734. 18 København, Rigsarkivet, 301 Tyske Kancelli, Udenrigske Afdeling, Kejseren: Berckentins gesandtskabsarkiv: Kopibog 1734–1740, S. 148–149 u. 151: Einträge v. 16.3.1740 u. 26.3.1740. 19 Ein solcher Fall ist etwa belegt in AFSt/H C 383:26 Johann Christian Lerche an Gotthilf August Francke, Wien, 14. 6. 1732 (evtl. auch als 24. 6. lesbar) (= MF 60a). 20 Johann Hieronymus Chemnitz: Vollständige Nachrichten von dem Zustande der Evangelischen und insonderheit von ihrem Gottesdienste bey der Königlich Dänischen Gesandschafts Capelle in der Kayserlichen Haupt und Residenzstadt Wien. O. O. 1761, S. 8.

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lichster Vorsicht, Stille und Heimlichkeit“ waren nach den Aussagen des Predigers derartige Besuche überhaupt möglich.21

Keine (letzte) Ruhe Auch bei den Gottesdiensten selbst mussten die Legationsprediger Vorsicht walten lassen: Katholiken fühlten sich durch die aus den Gesandtschaftsräumlichkeiten dringende Musik gestört und angegriffen, was von protestantischer Seite immer wieder zur Klage darüber führte, dass die Zusammenkünfte „in aller Stille und fast wie ein Werk der Finsterniß und Geheimnis der Boßheit“ gehalten werden mussten, „um von der Wuth eines aberglaubischen und leicht erhizten Pöbels“ verschont zu bleiben.22 Selbst über den Tod hinaus gab es Spannungen zwischen den Konfessionen, denn auch um die Oberhoheit über den angeblich schönsten Friedhof Wiens wurde in der Bevölkerung mit großer Ausdauer gestritten. Der „Kayserliche Gottes=Acker vor dem Schottenthor“23 war eine wirkliche Besonderheit, denn nur durch eine Mauer getrennt befand sich in seinem vorderen Bereich ein katholischer, in seinem hinteren jedoch ein evangelischer Friedhof. Bei Begräbnissen mussten deshalb evangelische Trauerkondukte durch die katholische Abteilung ziehen, was bei katholischen Friedhofsbesuchern zu etlichem Unmut führte. Die Doppelnutzung bestand – sieht man von einer teilweisen Zerstörung während der Türkenbelagerung 1683 ab – durchgehend seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Auflassung und Überbauung (ab 1784).24 Überhaupt war der Transport der Särge evangelischer Verstorbener durch die Stadt wohl der Moment, an denen das evangelische Leben in der Stadt am deutlichsten sichtbar wurde und bei dem immer mit Zusammenstößen mit katholischen Eiferern gerechnet werden musste. „Bey den Leichen geringer Leute“ mussten sich die Leichenbegleiter angeblich allerhand Schimpf und Spottreden von mutwilligen und unverständigen Pövelvolk mit anhören, ja auch wohl manchmal mit Steinen und Koth sich bewerfen lassen […]. Denn wenn sie sehen, daß der Sarg mit keinen Bildern der Heiligen besezt, noch von einen

21 Ebd., S. 9. Die gefärbten Kleider waren anscheinend zur Tarnung bestimmt. 22 Ebd., S. 15. 23 Vgl. die Beschriftung des entsprechenden Stiches in Salomon Kleiner: Des florirenden vermehrten Wiens Fernere Befolgung oder Wahrhaffte und genaue Abbildung Derer in dieser Kayserl. ResidenzStatt ingleichen in denen umliegenden Vorstätten so wohl Geistlich- als auch Weltlichen meistens neu aufgeführten Gebäuden […]. Augsburg 1737. 24 Leopold Senfelder: Der kaiserliche Gottesacker vor dem Schottenthor. In: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 36/37 (1902), S. 215−271.

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Catholischen Geistlichen begleitet werde: so errathen sie es sogleich, es müsse eine Evangelische Leiche seyn.25

„Proselytenmacherei“ und Ausreisehilfe Unter agonalen konfessionellen Konkurrenzverhältnissen kamen Versuche zur Glaubensabwerbung häufig vor. In seinen Gravamina erhob der Wiener Erzbischof gegen die Protestanten den schweren Vorwurf der „Proselytenmacherei“ und hatte – in begrenztem Ausmaß – auch durchaus Recht damit. Sein Verdacht fiel auf protestantische Handwerksmeister, die ihre Lehrlinge vermeintlich dem Katholizismus abspenstig machten. Das ist nicht undenkbar, wenn auch schwer belegbar. Was der Erzbischof wohl kaum für möglich gehalten hätte, läßt sich hingegen zweifelsfrei aus Archivalien rekonstruieren: Trotz ihrer prekären Diasporasituation wagten es die Legationsprediger selbst, wenn auch oft zögerlich, einen aktiven Part in der Abwerbung von Katholiken zu spielen, für die sie im Weiteren manchmal sogar eine Ausreise ins Reich organisierten und ihr Netzwerk um Unterstützung der Neuankömmlinge ersuchten.26 Dies ist umso erstaunlicher, als sich die Prediger damit bewusst zu gefährlichem illegalem Handeln hinreißen ließen. Den Gesandtschaften selbst konnten daraus größte Probleme erwachsen, denn so „viel ist wahr/ daß ein Gesandter dieses seines Rechts nicht zum Nachtheil eines Staats sich gebrauchen dürffe/ welches geschicht/ wenn er seinen Priestern erlauben wollte/ die Leute zu bekehren und von ihrer Religion abwendig zu machen.“27

Ökumene der Bücher Geschäftsbelebend wirkte die zwischen früher Toleranz28 und dem Anziehen der Repressionsschraube oszillierende Religionspolitik gegenüber den Gesandtschaftsgemeinden auf ein Segment des Handels, das in dieser Hinsicht nur wenig un-

25 Chemnitz, Nachrichten, S. 33 f. 26 Unter den zahlreich vorhandenen Dokumenten seien hier nur Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle – Hauptarchiv (im Folgenden AFSt/H) C 348:2 Christoph Friedrich Tresenreuter an Gotthilf August Francke, Wien, 15.8.1736 und AFSt/H C 522:4 Christian Kortholt an Gotthilf August Francke, Wien, 13.2.1737 genannt. 27 Adam Friederich Glafey: Vernunfft= Und Völcker=Recht, Worinnen Die Lehren dieser Wissenschafft auf demonstrative Gründe gesetzet/ und nach selbigen die unter souverainen Völckern/ wie auch denen Gelehrten biß daher vorgefallene Strittigkeiten erörtert werden […]. Frankfurt am Main u. a. 1723, S. 262. 28 Die Toleranzpatente Josephs II. wurden erst 1781 erlassen.

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tersucht wurde: den Wiener Buchmarkt. In den bereits erwähnten Gravamina behauptete der Erzbischof, dass verbotene protestantische Lektüre „schockweise“ eingeführt würde und Kramerläden und Bibliotheken gleichermaßen fülle. Wenn im Weiteren gesagt wird, dass die aus protestantischen Ländern „ohnedem gemeiniglich mit mehreren Lastern als Tugenden“ zurückkehrende Jugend, „fast kein ander Buch mehr lesen will, als welches in den uncatholischen Ländern verfasset“ wurde, dann wird hier ganz offen ein massiver Konkurrenzdruck eingestanden. Selbst katholische Räte hätten „gantze Kisten und Kästen“ voll mit protestantischer Literatur. Von den Buchhandlungen Wiens wäre etwa ein Drittel in protestantischer Hand, unter dem Ladentisch werde dort mit verbotener Literatur gehandelt.29 Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Wiener Legationspredigern und Halle lässt weiters unschwer erkennen, dass auch die Legationsprediger über die Zeit zu regelrechten Drehscheiben für die Verbreitung protestantischer Druckwerke geworden waren und ihre Gemeindemitglieder regelmäßig mit Büchern und Zeitungen aus dem Waisenhausverlag der Halleschen Anstalten versorgten. Oft erhielten die Prediger Sammelsendungen, die dann unter weiteren Abnehmern verteilt wurden, wobei es unter diesen „Abonnenten“ manchmal zu einem regelrechten Gerangel kam. So schreibt etwa ein Legationsprediger 1734 nach Halle: „Weil aber derer personen, unter welche die nachrichten sollen vertheilet werden, 5 gewesen, […] folglich dan mir kein exemplar übrig geblieben ist, so will mir etwa bey nächster gelegenheit wiederum eines ausgebeten haben“.30 Wie überzeugt die Protestanten von der Qualität ihrer aus Halle importierten Bücher waren, zeigt die nachgerade spektakuläre Aktion eines weiteren Wiener Pietisten, der den Kaiser selbst mit einem Prestigeprodukt aus den Franckeschen Druckereien beschenkte: der sogenannten „Malabarischen Bibel“, einer Übersetzung des Neuen Testaments ins Tamilische.31 Deren Überreichung zeugt gewiss von Selbstbewusstsein, sie könnte aber noch zusätzlich mit der Hoffnung auf eine größere Spende verbunden gewesen sein. Niemand Geringerer als der Hofbibliothekar Johann Baptist von Garelli war dabei der Mittelsmann, und er war es auch, der immer wieder ganze Bücherpakete aus Halle für sich selbst und für die von ihm betreute Bibliothek orderte. Zumindest an dieser bedeutenden Einrichtung des Wiener Geisteslebens war eine Ökumene der Bücher bereits verwirklicht.32

29 Kollonitsch, GRAVAMINA, S. 5. 30 Christian Nicolaus Möllenhoff an [Gotthilf August Francke], Wien, 1.12.1734, abgedruckt in Csepregi (Hg.), Pietas Danubiana, S. 425. 31 AFSt/H A 168:97 Christoph Nikolaus Voigt an August Hermann Francke, Wien, 10.10.1715. 32 Johann Christian Lerche an Gotthilf August Francke, Neustadt/Aisch, 9.12.1733, abgedruckt in Csepregi (Hg.), Pietas Danubiana, S. 409.

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Interkonfessionelle Neugierde Das Zusammenkommen bzw. Aufeinanderprallen der Konfessionen führte in verschiedensten gesellschaftlichen Sphären zu unerwarteten Konstellationen. Ein Beispiel aus der Elitenkultur ist der ebenso intime wie gelehrte Disputierzirkel des Prinzen Eugen. Dieser verschloss sich Protestanten keineswegs und Gottfried Wilhelm Leibniz, der in seiner letzten Lebensphase die Stelle eines protestantischen Reichshofrats in Wien bekleidete, war dort gern gesehener Gast. Leibniz wiederum wurde zum Türöffner für eine Reihe weiterer diskussionsfreudiger Lutheraner und insbesondere Pietisten, deren Bemerkungen und Reflexionen im illustren Kreis durchaus willkommen waren.33 Durch Leibniz erhielt etwa Christoph Nicolaus Voigt, ein dezidierter Pietist, der einst als Hauslehrer in Wien gewirkt hatte und nach einigen Zwischenstationen erfolglos versuchte, dort einen Posten als Gesandtschaftsprediger zu erhaschen, Zugang zu dieser Runde.34 Auch der später als Jurist berühmt gewordene Johann Jacob Moser geriet während seiner von 1721 bis 1726 in Wien verbrachten Jahre in einen elaborierten interkonfessionellen Diskurs. Seiner damals angestrebten politischen Karriere stand sein protestantisches Bekenntnis entschieden im Wege und so wurde ihm von allerhöchster Stelle nachdrücklich eine Konversion ans Herz gelegt.35 Eine äußerst vorteilhafte Heirat wurde ihm durch den Abt von Göttweig im Falle seines Wohlverhaltens gleich mit in Aussicht gestellt. Seine potentielle katholische Zukunft malte man ihm dabei so wortreich und in derart schillernden Farben, dass sich Moser zu folgender spitzfindiger Bemerkung veranlasst sah: „Da Er mir […] gegen Vertauschung meiner Religion mit der seinigen, zu der seinigen so vil zulege, müsse seine Waare schlechter seyn, als die meinige.“36 Daran knüpfte sich wohl ein geistreicher Dialog, der aber keine nachhaltigen Folgen hatte: Moser reiste 1726 endgültig aus Wien ab, immer noch evangelisch.

33 Christoph Nicolaus Voigt an August Hermann Francke, Wien, 7.4.1714, abgedruckt in Csepregi (Hg.), Pietas Danubiana, S. 141; Eduard Winter: Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie. Wien 1971, S. 95; Margot Faak: Leibniz als Reichshofrat, hg. v. Wenchao Li. Berlin u. a. 2016 [Dissertation von 1966]. 34 Der geniale Netzwerker Voigt war eine skandalumwitterte Person: Als Pfarrer von Teschen wurde er 1710 mit Aufenthalts- und Predigtverbot belegt, als Schulrektor wurde er 1713 aus Sibiu / Hermannstadt ausgewiesen. Grund dafür war in beiden Fällen sein streitbarer und oft aneckender Pietismus. Vgl. Richard Kammel: August Hermann Franckes Auslandsarbeit in Südosteuropa. In: Auslanddeutschtum und evangelische Kirche (1939), S. 121–203, hier besonders S. 127–134 u. S. 169. 35 Umfassend zu Konversionen: Ines Peper: Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700. Wien u. a. 2010. 36 Johann Jacob Moser: Lebensgeschichte Johann Jacob Mosers, von ihme selbst beschriben. O. O. 1768, S. 20–35.

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Polemischer Disput zwischen den Konfessionen war aber nicht auf die Oberschichten beschränkt, sondern konnte durchaus auch in alltäglichere Sphären vordringen. 1725 etwa berichtete der pietistische Hauslehrer Georg Wenndrich über einen Pater Rochus, der Sonntag für Sonntag im Kreuzgang seines Klosters vor einer Masse von Menschen predigte, am liebsten vor Nicht-Katholiken, die er danach aufforderte, ihm zu widersprechen. In Sachen Abendmahl tat dies eine Frau, die von den Reformierten zu den Lutheranern übergetreten war, so fundiert, dass es dem Pater Rochus fast die Sprache verschlug und er nicht anders mehr zu parieren wusste, als sie unter großem Gelächter der Zuhörerschaft eine „flaschelträgerin“37 zu nennen. Daraufhin intervenierte ein ebenfalls anwesender Pietist, der in Wien als Hauslehrer tätig war, und beschloss, dem Pater einen „stachel ins gewißen zu drücken, den er nimmer mer“ herausbringen würde. „In aller bescheidenheit“ fragte er ihn, ob er seine Witzelei denn wirklich verantworten könne, vor dem Jüngsten Gericht werde er schließlich Rechenschaft geben müssen. Diesen Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit parierte der Pater mit der spitzen Bemerkung: „Ey, wollen die herren lutheraner so heilig seyn?“ Ja, das wollten sie, bekräftigte der Hauslehrer, sie würden geradezu der Heiligung nachjagen, denn ohne sie gäbe es kein Himmelreich, letztlich auch nicht für den Pater. Und dann ein erstaunlicher Moment – der Pater gab klein bei: „Wenn ich also höre, daß sich jemand ärgert, so will ich nicht mehr so machen.“ Mit nachdrücklicher Freundlichkeit wurde der Hauslehrer nun zu weiteren Disputen eingeladen. Fazit des Hauslehrers: „So unverschambt, frech und verwegen nun die meisten unter dem clero sind, so finden sich doch viele unter den ordensleüthen, welche in vielen sticken ein feines erkäntnus haben.“38

Gelehrter Wettstreit Vertreter der verschiedenen Konfessionen trafen sich bisweilen auch unter dem Banner einer res publica litteraria. Zu den wohl seltsamsten und bemerkenswertesten Kontakten von Protestanten gehörte einer in das Stift Göttweig, das über die Jahrhunderte auch zur Sammelstelle für (zumeist wohl konfiszierte) protestantische Literatur geworden war. Die dortigen Bestände konnten nach Voranmeldung aber auch von Evangelischen eingesehen werden und es ist durchaus bemerkenswert,

37 Als „Flaschelträger“ bezeichnete man Leute, „die stets wohl leben, und auf das Fasten sich nicht viel verstehen“. Angeblich stand der Ausdruck im Zusammenhang mit einer Redewendung, wonach jeder Sechste, dem man in Wien begegnete, eine Weinflasche trug. Vgl. Realis (= Walter von CöckelbergheDützele): Curiositäten und Memorabilien=Lexicon von Wien. Bd. 1. Wien 1846, S. 441. 38 AFSt/H A 116, 529–532 Georg Wenndrich an August Hermann Francke, Wien, 15.12.1725.

Konkurrenz belebt das Geschäft

dass zumindest in diesem Fall ein gemeinsames Interesse an Büchern die Polemik zwar nicht gänzlich ausschloss, aber doch deutlich in den Hintergrund drängte.39 Ähnlich entgegenkommend gegenüber Anfragen Evangelischer verhielt sich der gelehrte Benediktiner Hieronymus Pez, der – man höre und staune – das Buchprojekt „Erläutertes Evangelisches Oesterreich“ mit Materialien aus seiner Melker Bibliothek unterstützte. Diese erste umfassende und bis heute bedeutende protestantische Kirchengeschichte Österreichs, die zwischen 1732 und 1741 im Druck erschien, stammte vom Hamburger Prediger Bernhard Raupach, der sich schon seit seinen Studienjahren für die Materie interessiert hatte und unermüdlich Originaldokumente sammelte.40 Raupach konnte auch auf Zuträger aus dem Umkreis der Wiener Gesandtschaftsgemeinden zurückgreifen, die ihn mit seltenen Druckschriften und Archivalien versorgten. Einen solchen Mitarbeiter ließ Pez bereitwillig in seine Buch- und vielleicht auch Manuskriptbestände Einblick nehmen. Eine bissige Bemerkung konnte sich Pez allerdings nicht verkneifen. Nach ausgiebigen Dankesworten des Besuchers und in Anspielung auf den Titel von Raupachs Opus bemerkte er süffisant: „Es ist schon gut. Hätte ich zeit, so hätte ich lust ‚Das vom lutherischen unflat gesäuberte Oesterreich‘ zu schreiben“.41 Ausgerechnet hinter Stifts- und Klostermauern wurde konfessionelle Konkurrenz manchmal geradezu neckisch in Szene gesetzt. Derartiges berichtet etwa der später als vehementer Religionskritiker bekannt gewordene Johann Christian Edelmann aus seiner Zeit als pietistischer Hauslehrer in Wien. Mehrere Besuche in österreichischen Klöstern führten ihn mit Vertretern der katholischen Kirche zusammen und diese Begegnungen waren durchaus offenherzig und manchmal geradezu ausgelassen. Bei den Minoriten in Tulln diskutierte er etwa eifrig über Höllendarstellungen und konnte, sehr zu seinem Erstaunen, einen Pater freimütig eingestehen hören, „dass dergleichen Vorstellungen […] nur um der einfältigen willen“42 gemacht würden. Geradezu karnevalesk war hingegen eine andere Begegnung: Frater Michael, der ein Schneider war, […] präsentirte mir unvermuthet eine Mönchs=Kutte, mit dem Bedeuten, […] ich möchte sie doch zum Spaß einmal anziehen.

39 Dokumentiert ist ein solcher Kontakt etwa in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg (SUB), Cod. theol. 1745, fol. 466v Christoph Friedrich Tresenreuter an [Bernhard Raupach], Wien, 28.11.1736. 40 Zu Raupachs initialem Interesse vgl. eine Bemerkung in Bernhard Raupach: Evangelisches Oesterreich, das ist, Historische Nachricht von den vornehmsten Schicksahlen der Evangelisch=Lutherischen Kirchen in dem Ertz=Hertzogthum Oesterreich. Aus bewährten Scribenten und glaubwürdigen Urkunden gesammlet, und in Ordnung gebracht. Hamburg 1732, S. 43.. 41 SUB, Cod. theol. 1745, fol. 302r+v Johannes Richey an [Bernhard Raupach], Frankfurt am Main, 17.5.1734. Die Anführungszeichen im Zitat wurden vom Autor dieses Aufsatzes hinzugefügt. 42 Joh[ann] Chr[istian] Edelmann: Selbstbiographie. Geschrieben 1752, hg. v. Carl Rudolph Wilhelm Klose. Berlin 1849, S. 76.

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Hätte ich diese leichtfertige Masque einmal an meinen Leib gebracht, so würde ich auch so gewiß ein Bettel=Mönch haben bleiben müßen, als gewiß ist, daß sie diesen Sclaven=Habit dergestalt heilig halten, daß sie ihn Keinem erlauben, der sich nicht in seinem Leben, entweder zu ihren Orden bekennet, oder, nach seinem Tode, um eine desto sichere Himmelfahrt zu halten, in selbigen einkleiden läßet. […] Ich hatte aber noch so viel Verstand übrig, die Folgen von einer solchen Kurzweil einzusehen, lehnte also das höfliche Anerbieten des Frater Michaelis mit gleichmäßiger Höflichkeit ab, und spielte dargegen lieber mit den Mönchen, nach der Tafel, eins im Brete.43

Konkurrenz als Travestie.

Fazit In einem ansonsten monokonfessionell definierten Territorium schufen die Wiener Gesandtschaftsgemeinden trotz ihrer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung geringen Zahl von Mitgliedern durch ihr Vorhandensein, ihre alltäglichen Praktiken und ihre Neugierde eine konfessionelle Konkurrenzsituation.44 Derartige Konkurrenz bestand sowohl in bloßer Koexistenz als auch in Agonalität. Auswirkungen des Wettbewerbs waren auf allen hierarchischen Ebenen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen spürbar. Aber auch die Überwindung von Spannungen war möglich, wo immer interkonfessionelle Neugierde die konfessionelle Rigidität ausstach. Konkurrenz belebte jedenfalls die Geschäfte, mochten sie nun eher weltlicher oder geistlicher Natur sein. Im schlimmsten Fall stachelte sie zu gesteigerter Verfolgung an, in der Sphäre der Gedanken konnte sie aber auch zu elaborierten Disputationen anregen, die sich bis zu einer Art ökumenischem Gespräch avant la lettre hochschrauben konnten. Gesandtschaftsgemeinden waren merkwürdige Zwitterwesen, privilegiert und bedroht zugleich. Privilegiert insofern, als ihnen im Herzen der Haupt- und Residenzstadt erlaubt war, wonach die Untergrundprotestanten in den übrigen österreichischen Erblanden erfolglos und verlustreich verlangten. Bedroht, weil weder ranghohe Vertreter des Katholizismus noch der weltlichen Obrigkeit eine schleichende Liberalisierung der Religionsagenda einfach hinzunehmen bereit waren und in Phasen einer aufgeladenen Atmosphäre agonaler Konfessionskonkurrenz

43 Ebd., S. 78–79. 44 Auf die zusätzliche, gleichsam ‚interne‘ Konkurrenzsituation zwischen Pietisten und orthodoxen Lutheranern in Wien kann hier nicht eingegangen werden. In der in Anm. 3 erwähnten Monographie ist sie ausführlicher nachzulesen.

Konkurrenz belebt das Geschäft

nur auf eine Überspannung des gesetzlich vorgegebenen Bogens warteten, um darauf mit Entschlossenheit reagieren zu können. In ruhigen Zeiten waren die Wiener Gesandtschaftsgemeinden eine gleichsam freundliche (wenn auch nicht immer ironiefreie) Konkurrenz, ein Gegenentwurf zur Mehrheitskonfession, eine geschützte Gegenwelt, in bewegteren Momenten oszillierten sie zwischen gerade noch wahrnehmbarer Subkultur und verstecktem Underground. Dadurch bildete sich ein einzigartiges Milieu, das, weit über religionsgeschichtliche Aspekte hinaus, ein bemerkenswertes Licht auf die österreichischen Verhältnisse vor dem Toleranzpatent zu werfen vermag.

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Franckes Geheimagenten am Bosporus Ein pietistischer Außenposten in Istanbul und die Konkurrenz mit anderen missionarischen Akteuren (1699–1705) Am 4. Mai 1739 wurde in Halle, auf dem Friedhof bei der Glauchaschen Kirche, eine Osmanin von Studenten der Universität zu ihrer letzten Ruhestätte geleitet. Es handelte sich um eine „gebohrne Türckin […] die in der belagerung Ofens gefangen genommen, und nach Teütschland, durch den Herrn v. Groten mitgebracht, und sich zur Lutherischn Religion bekand hat“. Auch wenn die Quelle uns den Namen der im Alter von 72 Jahren verstorbenen Frau vorenthält, erfahren wir, dass sie nach der Eroberung Budas (1686) als Kriegsgefangene des niedersächsischen Obersts Johann Ernst von Groten ins Alte Reich gebracht wurde, zum Luthertum konvertierte und in der „Hauptstadt des Pietismus“ ihr Leben beschloss.1 Das Osmanische Reich und dessen Vielfalt an Sprachen, Religionen, Konfessionen und Kulturen waren in Halle in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf vielfache Weise präsent. Den „Orient“ an die Saale zu holen, diente unterschiedlich gelagerten Zielen und Anliegen, von der Förderung von Mehrsprachigkeit und der Kultivierung der studia orientalia über die Bekehrung von Juden, Muslimen und Ostorthodoxen bis hin zu handfesten kommerziellen Interessen wie die Zusammenarbeit mit europäischen Handelskompanien in der Levante.2 Kaum zu überschätzen ist hierbei der Einfluss, den anwesende Personen aus diesem Reich in Franckes „Schulstadt“ ausüben konnten; so die griechisch-orthodoxen Studenten am 1701 gegründeten Collegium Theologicum Orientale, deren Rekrutierung uns noch beschäftigen wird, aber auch die in Halle weilenden Syrer und Arabischlehrer Salomon Negri und Carolus Rally Dadichi, die als Melkiten ebenfalls dem

1 Verzeichnis derer Leichen so von Studiosis Theologiae vom 4ten November 1734 an getragen worden bis 21tn April 1755, Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle (AFSt)/W XIX/II/14. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Dr. Thomas Grunewald herzlich. Vgl. Markus Friedrich: Türkentaufen. Zur theologischen Problematik und geistlichen Deutung der Konversion von Muslimen im Alten Reich. In: Alexander Schunka (Hg.): Orientbegegnungen deutscher Protestanten in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2014, S. 47–74. 2 Mark Häberlein / Holger Zaunstöck (Hg.): Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit im langen 18. Jahrhundert. Halle 2017; Christian Bochinger: Zur Geschichte des Institutum Judaicum et Muhammedicum (1728–1792). In: Eveline Goodman-Thau / Walter Beltz (Hg.): Von Halle nach Jerusalem. Halle 1994, S. 45–60; Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736). Tübingen 2004.

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millet-i-rum (der Gemeinschaft orthodoxer Christen) angehörten und dem Konstantinopolitaner Patriarchat unterstanden. Das Wissen und die Sprachkenntnisse, die Negri und Dadichi ihrem jungen Studenten Johann Heinrich Callenberg vermittelten, wirkten sich nachhaltig auf den nachmaligen Leiter des 1728 gegründeten Institutum Judaicum et Muhammedicum aus.3 Auf den im Folgenden zu schildernden Kontaktaufnahmen (von 1699 bis 1705) zum Osmanischen Reich bauten die Reisen und missionarischen Praktiken des späteren Leiters des Institutum Stephan Schultz und seines Gefährten Albrecht Friedrich Woltersdorf in den 1750er Jahren auf.4 Es soll nun herausgestellt werden, dass die Rekrutierung von Osmanen für die Halleschen Bildungsanstalten auf wettbewerbsorientierten Migrations- und Missionspraktiken gründete und dass diese von den Pietisten direkt im Osmanischen Reich betrieben wurden. Gerechtfertigt ist dies auch deshalb, weil die Mission pietistischer Akteure im osmanischen Territorium und ihre Migration dorthin bisher weniger erforscht worden sind als etwa die pietistischen missionarischen Praktiken im indischen Subkontinent oder die Anwesenheit von Osmanen in Halle. Bevor diese aber an die Saale kamen, wanderten Pietisten ins Osmanische Reich und begründeten pietistische Netzwerke in Konstantinopel. Dieses Migrationsmuster und die damit einhergehenden Konkurrenzsituationen sollen im Folgenden am konkreten Beispiel der Bemühungen der Pietisten um die Griechisch-Orthodoxen veranschaulicht werden. Konkurrenz stellte sich nicht zuletzt ein, weil die Orthodoxen neben anderen Ostchristen eine umworbene Zielgruppe katholischer Missionare darstellten. Die Geschichte dieses osmanisch-pietistischen Migrationsnetzwerks entwickelte sich in einem von Wettbewerb gekennzeichneten Kräftefeld, in dem Wechselwirkungen zwischen den Aktivitäten verschiedener missionarischer Akteure am Werk waren; auch die „protestantische“ Binnenkonkurrenz mit englischen Missionaren oder Herrnhutern spielte dabei eine Rolle.

3 Zu den griechischen Studenten am Collegium Theologicum Orientale, die u. a. an der Edition des neugriechischen Testaments (gedruckt 1710 in Halle) mitwirkten, vgl. Ulrich Moennig: Die griechischen Studenten am Hallenser Collegium orientale theologicum. In: Johannes Wallmann / Udo Sträter (Hg.), Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Halle 1998, S. 299–329. Zu Negri und Dadichi vgl. Christian Bochinger: Abenteuer Islam. Zur Wahrnehmung fremder Religion im Hallenser Pietismus im 18. Jahrhundert. München 1996, S. 68–78; John-Paul Ghobrial: The Life and Hard Times of Solomon Negri. An Arabic Teacher in Early Modern Europe. In: Jan Loop u. a. (Hg.): The Teaching and Learning of Arabic in Early Modern Europe. Leiden / Boston 2017, S. 310–331. 4 Daniel Haas: Von Halle in den Orient. Stephan Schultz auf Reisen im Osmanischen Reich in den Jahren 1752 bis 1756. In: Anne Schröder-Kahnt / Claus Veltmann (Hg.): Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Halle 2018, S. 67–79.

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Die Ausgangssituation: Ein Markt der Konfessionen im Osmanischen Reich? Ein Zugang, mit dem der Begriff „Konkurrenz“ erfasst werden kann, ist jener des ökonomischen Wettbewerbs. Er wird von der Religionssoziologie für die Analyse moderner Phänomene des pluralistischen Wettbewerbs zwischen Religionen genutzt.5 Die Analogie zum ökonomischen Warenmarkt weist zwar bei seiner Projektion auf die Konkurrenz der Konfessionen im Osmanischen Reich Unzulänglichkeiten und Anachronismen auf, da es den Akteuren im Widerstreit der Konfessionen schließlich nicht primär um Profit oder ökonomisches Nutzenkalkül ging. Doch besaß das millet-System, auf dem das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen dort basierte, ungeachtet des privilegierten Status, den es dem Islam zusprach, ein Pluralisierungspotential. Unter der Voraussetzung, dass NichtMuslime, die Untertanen des Sultans oder permanente Bewohner seiner Territorien waren – neben Orthodoxen auch Juden, Armenier und Katholiken – den haraç bzw. die Steuer für Nicht-Muslime zahlten, wurde ihnen obrigkeitlicher Schutz und als millet ein erhebliches Maß an religiösen Privilegien und körperschaftlicher Selbstverwaltung zugesprochen.6 Unter den geschilderten Voraussetzungen intensivierten katholische Missionare im 17. Jahrhundert ihre Aktivitäten unter den Griechisch-Orthodoxen, wobei vor allem die französischen Ordensprovinzen der Kapuziner und der Jesuiten ihre Präsenz auf den Ägäis-Inseln, in Smyrna und Konstantinopel sukzessive ausbauten. Nach ähnlichem Muster wie in anderen osmanischen Räumen, die missionarisch erschlossen wurden, errichteten die Jesuiten 1609 in Istanbul im Kloster von St. Benoît (Galata) mit der Unterstützung des diplomatischen Apparats der französischen Krone einen Außenposten.7 Die alltäglichen Praktiken und Aufgaben der Jesuitengemeinde Istanbuls wurden bestimmt von seelsorgerischen Dienstleistungen und pädagogischen Einrichtungen. Eine Konversionsmethode, die die Jesuiten einsetzten und die sich bei der einheimischen Bevölkerung großer Beliebtheit erfreute, war dabei das Theater.8 Ferner engagierten sich die Jesuitenpatres in der Seelsorge für

5 Thomas Kern / Insa Pruisken: Was ist ein religiöser Markt? In: Zeitschrift für Soziologie 47/1 (2018), S. 29–45. 6 Benjamin Braude / Bernhard Lewis: Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. 2 Bde. New York 1982. 7 Adina Ruiu: Conflicting Visions of the Jesuit Missions to the Ottoman Empire, 1609–1628. In: Journal of Jesuit Studies 1 (2014), S. 260–280; Walter Puchner: Jesuit Theatre in Constantinople and the Archipelago (1600–1750). In: Ders., Greek Theatre between Antiquity and Independence. A History of Reinvention from the Third Century BC to 1830. Cambridge 2017, S. 196–245; Cesare Santus: Conflicting Views: Catholic Missionaries in Ottoman Cities between Accomodation and Latinization. In: Nadine Amsler u. a. (Hg.), Catholic Missionaries in Early Modern Asia: Patterns and Localization. New York 2020, S. 96–109. 8 Puchner, Jesuit Theatre, S. 204 f.

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christliche Sklaven, die in den Internierungslagern Konstantinopels (dem kleinen und dem großen bagno) untergebracht waren; 1714 waren unter den Internierten 5000 Katholiken.9 Die Betreuung von Sklaven oder ehemaligen Sklaven christlichen Bekenntnisses gehörte auch, wie gezeigt werden soll, zum Aktionsfeld der Pietisten. Stark mit den Tätigkeiten der Levant Company (gegründet 1592) verbunden war hingegen der Vorstoß der anglikanischen Kirche ins Osmanische Reich.10 Angehörige der englischen diplomatischen und kommerziellen Netzwerke und ihrer gelehrten Geistlichen fungierten auch als Unterstützer der Migration von Pietisten dorthin, agierten aber ebenso als Konkurrenten der Hallenser, was weiter unten thematisiert werden soll.11 Ohnehin bestanden – nicht zuletzt über Heinrich Wilhelm Ludolf – enge Kontakte zwischen Franckes pietistischen Netzwerken und dem Umfeld des englischen Hofes.12 Vorbildcharakter für das Unternehmen, griechische Studenten nach Halle zu holen, hatte das auf den geschilderten Netzwerken aufbauende Greek College in Oxford, das unter der Leitung von Benjamin Woodroffe 1699 ins Leben gerufen worden war.13 Die neuen kommunikativen und logistischen Infrastrukturen, die durch die kommerziellen und proto-imperialen Aktivitäten Englands, aber auch Frankreichs und der Niederlande in der Levante geschaffen wurden, führten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem gesteigerten Interesse europäischer Theologen und Gelehrter an der Orthodoxie und zu dem, was Cornel Zwierlein als „Orientalization of the Eucharist debate“ bezeichnet hat.14 Der beschriebene missionarische Aktionismus, dem sie von katholischer und protestantischer Seite ausgesetzt war, führte in der orthodoxen Kirche zu Abgren-

9 Brief von Pater Tarillon an den Marineminister Pontchartrain vom 4. März 1714. In: Nouveaux mémoires des Missions de la Compagnie de Jesus dans le Levant. Bd. 1. Paris 1715, S. 5 f. 10 Simon Mills: A Commerce of Knowledge. Trade, Religion, and Scholarship between England and the Ottoman Empire, c. 1600–1760. Oxford 2020. 11 Der englische Unternehmer in Smyrna John Turner, dessen Sohn die Schulanstalten in Halle besuchte, ebenso wie der englische Kaplan Edmund Chishull in Smyrna waren Anlaufstellen für die Hallenser, um Informationen über Waren und Preise sowie Transportdienstleistungen zu erhalten. Nach der Auflösung des pietistischen Außenpostens kehrten deren Mitglieder auf einem „Englischen Schiffe, welches dem Hn Turnern zustehet“ nach Venedig zurück (Brief Adelung an Francke, vom 7. Januar 1706; aus „Venedig aus dem Lazareth“, Stab/F 6,2/34: 42/II); vgl. Brief Francke an Chishull, 24. November 1703, Stab/F 1a/1A: 1 und die Liste von Waren und Preisen im Brief Adelungs an Francke, 23. Januar 1705, aus Smyrna, Stab/F 6,2/34: 21. 12 Alexander Schunka: Ein neuer Blick nach Westen. Deutsche Protestanten und Großbritannien (1688–1740) (Jabloniana, 10). Wiesbaden 2019. 13 Peter Doll: Anglicanism and Orthodoxy. 300 Years after the „Greek College“ in Oxford. Oxford 2006. 14 Zwierlein untersucht am Beispiel Englands und Frankreichs, wie man angesichts neu aufkeimender Debatten verstärkt die ostchristlichen abendmahlstheologischen Standpunkte (strategisch gefiltert) einbezog (Cornel Zwierlein: Imperial Unknowns. The French and British in the Mediterranean, 1650–1750. Cambridge 2016, v. a. S. 124–134).

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zungen und einem Konfessionalisierungsschub.15 Welche Rolle spielten die Pietisten in diesem weitgreifenden Wettbewerb der Konfessionen in Konstantinopel und in anderen Kontaktzonen mit Griechisch-Orthodoxen in der Levante?

Heinrich Wilhelm Ludolf als Mastermind: Die Orientreise von 1698/99 und die Wahrnehmung von Konkurrenz Das Fundament für den Aufbau pietistischer Netzwerke im Osmanischen Reich legte der Wahlengländer Heinrich Wilhelm Ludolf. „Die Griechische Kirche sehe ich vor die wichtigste an, umb welcher erbauung man sich zu bewerben habe“, so Ludolf an Francke unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem „Orient“.16 Für den Neffen des Äthiopisten und „armchair Orientalisten“ Hiob Ludolf, der für den diplomatischen Apparat des dänischen Gemahls der englischen Königin Anne arbeitete, lassen sich viele Attribute finden: Fremdsprachengenie, Weltreisender, pietistischer Netzwerkbilder. Ludolf war von 1692 bis 1694 ins Zarenreich gereist und hatte dort Kontakte zu orthodoxen Klerikern knüpfen können, die für seine spätere Reise ins Osmanische Reich hilfreich waren. 1695 gab er eine russische Grammatik heraus.17 Von größtem Belang sind hier Texte, die Ludolf während und nach seiner Reise ins Osmanische Reich verfasste und an die „Zentrale“ nach Halle schickte (er weilte im Winter 1698/99 in Smyrna, war im Sommer 1699 in Konstantinopel, bis er im Herbst nach Jerusalem aufbrach und anschließend über Kairo und Alexandrien nach Europa (Livorno) zurückkehrte).18 Viel mehr als um Reisejournale handelt es sich bei diesen Texten um präzise Instruktionen, die er Francke zuschickte, um den zu Jahresbeginn 1698 im Gespräch zwischen Ludolf und Francke in Halle gefassten Plan in die Tat umzusetzen, einen pietistischen Außenposten in Konstantinopel zu errichten.19 Um die Verwertung seiner Infor-

15 Repräsentativ hierfür ist das Auftreten des konfessionellen Scharfmachers Dositheos von Jerusalem; vgl. Gerhard Podskalsky: Griechische Theologie in der Zeit der Türkenherrschaft (1453–1821). Die Orthodoxie im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionen des Westens. München 1988, S. 284–291. 16 Ludolf an Francke, 2. September 1700, aus Amsterdam, AFSt/H D71, fol. 45–48, hier fol. 46v. 17 Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953; Joachim Tetzner: H. W. Ludolf und Russland. Berlin 1955; Hermann Goltz: Ecclesia universalis. Bemerkungen über die Beziehungen H. W. Ludolfs zu Russland und zu den orientalischen Kirchen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 28/6 (1979), S. 19–37. 18 Zu Ludolfs Reise vgl. Anne Schröder-Kahnt: Heinrich Wilhelm Ludolfs Reise in den Orient. In: Dies. / Veltmann, Durch die Welt, S. 161–173. 19 Dem in Anm. 16 zitierten Brief aus Amsterdam hängte Ludolf für Francke zwei Denkschriften an, deren Inhalte redundant sind, betitelt als Denen nach Constantinopel reisenden ist zu recommendiren

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mationen im „Hauptquartier“ in Halle zu erleichtern, markierte er für den Leser darin die migrationstechnisch besonders relevanten Informationen.20 In diesen Briefen und Denkschriften gibt er den nach Konstantinopel zu Entsendenden wertvolle praktische Hinweise. Er teilt mit, welche diplomatischen Akteure protestantischer Mächte an der Pforte Hilfe und Protektion anbieten können, v. a. empfiehlt er den Kontakt zum Händler Isaak Rombout, dem Schwager des holländischen Gesandten Jacobus Colyer.21 Weiterhin informiert er, welche orthodoxen Amtskleriker in Konstantinopel den Pietisten wohlgesonnen seien (etwa der Sekretär des Jerusalemer Patriarchen, der Abt von Melos Papamakarios) oder wie man sich den Lebensunterhalt verdienen könne. Er instruiert künftige Missionare bezüglich der landesüblichen neugriechischen Aussprache, die von der an den Universitäten gelehrten Aussprache des Altgriechischen abwich. Und er thematisiert die Konkurrenz katholischer Missionare. Bereits aus Smyrna warnt er die Hallenser vor dem Aktionismus der Jesuiten und anderer katholischer Orden („Jesuitae et Capucini Gallici, Zaccolanti Itali“), die sich für die Bildung der jungen Griechen engagierten.22 Er erwähnt aber auch seinen „guten Freund, Pad[re] Hyacinto“, einen Dominikaner und gebürtigen Griechen aus Chios, den die Nachreisenden nicht bloß von ihm grüßen sollen, sondern von dem sie allerhand „Kundschaft“ erhalten könnten. Dem armenischen Priester „Papa Petro“ sei hingegen nicht zu trauen, da er „an den Jesuiten henget“.23 In Kairo wurde dann ein Franziskaner sein Gesprächspartner, der ihn über die katholischen Missionierungspläne in „Abessinien“ informierte.24 Aber auch die Erfolge des anglikanischen Proselytismus kommen zur Sprache, etwa aus dem „englischen Stützpunkt“ in Smyrna, wo er in Erfahrung bringen konnte, dass die Engländer fünf

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und Pro memoria der nach Constantinopel reisenden (vgl. AFSt/H D 71, fol. 47r/v und 55r–57v). Vgl. die Briefe aus Smyrna (14./24. November 1698 und 22. Februar 1699, fol. 11–13), aus Konstantinopel (30. August 1699, 13. September 1699, fol. 20r–21v, 24 r/v), „auf dem Englischen Schiffe the Drake genandt zwischen Cyprus und Jaffa“ (3. Oktober 1699, fol. 25 r/v), aus Jerusalem (19. Oktober 1699, fol. 26 r/v), aus Kairo (20. Dezember 1699, fol. 27 r/v). Der nächste Brief, vom 15. April 1700, ist bereits aus Livorno verfasst. „Was ich mit NB. notire, kann zur nachreise der anhero reisenden dienen“ (wie Anm. 19, Konstantinopel, 30. August 1699). Ludolf, Pro memoria der nach Constantinopel reisenden. Die Annahme, dass Rombouts Legationsprediger gewesen sei, wird von Cornelissen in Zweifel gezogen (Marloes Cornelissen: The World of Ambassador Jacobus Colyer. Material Culture of the Dutch ‘Nation’ in Instanbul during the first Half of the 18th century. Diss. Phil. Instanbul 2015, S. 471 f.). Wie Anm. 19, Smyrna, vom 14./24. November 1698. AFSt/H D 71, fol. 47r, 56v. Wie Anm. 19, Kairo, 20. Dezember 1699.

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griechische Jünglinge („pueri Graeci“) für das Greek College in Oxford rekrutieren konnten.25 Ihm selbst blieb der Zugang zu den katholischen Netzwerken am Bosporus hingegen wohl verwehrt. So erfuhr er von Plänen der Jesuiten, dort mit der Unterstützung des französischen Botschafters eine Bildungsanstalt zu gründen, nur aus einem Buch – und zwar aus François Pétis de La Croix’ Traktat von 1695. Laut La Croix sollten im geplanten Jesuitenkolleg junge Missionare in den orientalischen Sprachen ausgebildet werden. Interessant erscheint, dass er Francke die von La Croix empfohlene Methode zur sprachlichen Ausbildung der Kollegiaten präzise beschreibt, um sie im halleschen Collegium Orientale zu implementieren.26 Schließlich stellt Ludolf Maximen für den Umgang mit den Konkurrenten, katholischen Missionaren oder feindlich gesinnten Ostchristen, auf. Er empfiehlt interkulturelles Fingerspitzengefühl sowie die Strategie der Dissimulation und rät dazu, auf die Sprache und Konfessionskultur der Zielgruppe zuzugehen: 3) Je weniger mann sich vermerken läßet, daß mann restaurationem Ecclesiae suche, je eher findet mann gehör bey leüten von andern secten, welche insgemein desto mehr in das Harnisch gejaget werden, wenn sie meinen mann wolle ihnen seine eigne secte aufschwazen. Viele von den Papisten selbst haben mich umb so viel williger gehöret, wenn ich den verfall der lutherischn Kirche mit beklaget, und gestanden, es seyen auch unter den Protestanten die jenigen dünn gesäet, die nicht nur dem nahmen nach sondern auch in der That Christen weren. Die hieher zielenden Sprüche, auf Griechisch aus dem neuen testamente citiret, haben bey den Griechen desto mehren nachtruck. Wie auch bey den Jüden die passagen aus den Psalmen und Propheten, so um die beschaffenheit einer durch Buße Liebe und Vertrauen Gott gefälligen seele handeln, viel mehr ingressum finden, wenn sie auf hebreisch citiret werden. 4) Mit den Papistischen missionariis ist sehr behutsam umbzugehen, wie auch mit denen orientalischen so sich zu ihnen halten. Es ist nicht wohl zu begreiffen, was für boßheit bey manchen aus dem fleischlichen eyfer für ihrer kirchen interesse entsteht. Die Liebe zu fremden Sprachen wird wohl der beste Vorwand seyn, warumb mann sich in orient aufhalte.27

In einem Notizbuch notierte Ludolf weiterhin unter der Überschrift „Seminario Ecclesiae Orientalis“, dass es günstig sei, wenn man „einen oder andern Griechischn Patrem sich wohl bekandt machte, auch eine oder andere gute Sentenz

25 Wie Anm. 19, Smyrna, vom 14./24. November 1698. 26 Wie Anm. 19, Smyrna, vom 22. Februar 1699; vgl. François Pétis de La Croix: État présent des nations et églises grecque, armenienne, et maronite en Turquie. Paris 1695, S. 261–266. 27 Pro memoria der nach Constantinopel reisenden, fol. 55v–56r.

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daraus auswendig lernet, weil solches bey ihnen eine große captatio benevolentiae. Chrysostomus und Nazianzenus sind bei ihnen absonderlich beliebt“.28 Beispiele für seine aus strategischen Gründen dissimulative Kommunikation mit orthodoxen Klerikern liefern sein Bericht von seiner Begegnung mit dem Patriarchen von Jerusalem Dositheos II. (einem vom „secten eyfer“ völlig eingenommenen „alten Greiß“) und seine auf Neugriechisch verfassten Briefe an Abt Papamakarios.29 Aber nicht bloß gegenüber katholischen Missionaren und orthodoxen Einheimischen, sondern auch gegenüber den Engländern riet er zu einem bedeckten Auftreten: Selbst dem englischen Legationsprediger gegenüber dürfe man nicht „verlauten laßen, daß mann propter rei Ecclesiae die reise angetreten. Die betreibung an fremden Sprachn und umbgange mit entlegenen nationen muß alle zeit der vorwand seyn“.30 Das Vermeiden dogmatischer Streitpunkte, die Kompromisse mit der Kultur und Tradition der lokalen Bevölkerung, das Gebot zur Geheimhaltung und Dissimulation – bei diesen Gesichtspunkten fühlt man sich an katholische (jesuitische) Missionierungsmethoden erinnert. Es lässt sich fragen, ob der laut Alexander Schunka post- oder sogar anti-konfessionell orientierte Ludolf mit seiner eigenwilligen und bestimmt nicht für den Hallenser Pietismus allgemein gültigen Vision einer Ecclesia Universalis – zumindest was die Wahl der Mittel anbelangt – bei den päpstlichen Kontrahenten in die Schule gegangen ist. Der Konkurrenz standhalten zu können, blieb das Ziel hinter den Bemühungen, talentierte Griechen nach Halle zu holen. Sie sollten Fähigkeiten erwerben und in ihre Heimat zurückbringen, um „auch würcklich alle Pabstische Missionarios über den Hauffen zu disputiren“.31

Der pietistische Außenposten in Konstantinopel von 1700 bis 1705 In der multikulturellen Metropole Konstantinopel begegneten sich Türken, Griechen, Juden, Armenier, aber auch westeuropäische Händler und Missionare sowie unlängst im Krieg mit den Habsburgern versklavte Deutsche, Österreicher und Ungarn. In dieses „bunte Treiben“ gesellte sich von 1700 bis 1705 eine Gruppe von

28 AFSt/H B71a, fol. 42. 29 Brief aus Konstantinopel, 30. August 1699, AFSt/H D71, fol. 20r–21 und Brief Ludolf an Papamakarios, 14. Oktober 1702, AFSt/H D 23, fol. 56v–57v. 30 Aus Amsterdam, 2. September 1700. 31 Ludolf an Francke, 27. Februar 1703, AFSt/H D 23, 127r. Vgl. Alexander Schunka, „An England ist uns viel gelegen“. Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712) als Wanderer zwischen den Welten. In: Holger Zaunstöck / Andreas Gestrich / Thomas Müller-Bahlke (Hg.), London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert (Hallesche Forschungen 39). Halle 2014, S. 65–86.

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Halleschen Pietisten. Nachdem Francke die Instruktionen Ludolfs erhalten und beherzigt hatte, entsandte er 1700 zwei Absolventen der Theologie an den Bosporus, den Thüringer Anhard Adelung und den Pommeraner Carl Salchow. Später, nachdem Adelung im Sommer 1703 in Begleitung von zwei Griechen (Anastasios Michail und Nikolaos Michalitsis) nach Halle zurückgereist war, folgten zwei weitere, Christian Wilhelm Heering aus Sonderhausen und Georg Friedrich Hollstein aus Durlach, die Adelung zurück an den Bosporus begleiteten. Der in Konstantinopel die Stellung haltende Salchow war in Adelungs Abwesenheit dort verstorben und auf dem holländischen Teil des protestantischen Friedhofs in Konstantinopel beigesetzt worden.32 Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, unterhielten die Hallenser eine Arztpraxis oder einen Apothekerladen (in den Quellen ist auch von „Hekim-Laden“ von Türkisch „Hekim“ für „Arzt“ die Rede). Dass sie keine medizinische Hochschulausbildung genossen hatten, braucht dabei nicht außergewöhnlich erscheinen angesichts der Vielfalt von Heilpraktikern, die für den Gesundheitsmarkt in der Frühen Neuzeit typisch war. Auch hierbei folgte man übrigens Ludolfs Rat, der beteuert hatte, dass europäische medizinische Praktiken hohes Ansehen genössen und deshalb eine Art „Türöffner“ waren, um in der osmanischen Gesellschaft Fuß zu fassen.33 Die genaue Lage des Ladens, der von der halleschen Waisenhausapotheke mit Arzneikisten und Medikamentensets versorgt wurde, ist nicht bekannt.34 Adelung zufolge lag er „mitten in d[er] Stadt, wo der meiste Handel u. wandel ist“, demnach nicht im „Europäerviertel“ Galata, wo die meisten katholischen und protestantischen Akteure ihre Stützpunkte hatten und wo auch die Pietisten regelmäßig ihre wichtigen Unterstützer in der Residenz der holländischen Gesandtschaft aufsuchten.35 32 Martin Kriebel: Das pietistische Halle und das orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel, 1700–1730. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 3 (1955), S. 50–70, hier S. 59. Zu den zwei Griechen und weiteren Rekrutierungserfolgen der Pietisten vgl. Moennig, Die griechischen Studenten. 33 So im Brief Ludolfs an Francke aus Amsterdam, 2. September 1700, fol. 46v. Adelung und Salchow erhielten dank der Hilfe des holländischen Gesandten einen „Firman von dem Guberneur in Const[antino]p[e]l […] krafft dessen wir freyheit bekommen allhier ungescheuet zu practiciren“ (Adelung an Francke, Konstantinopel, 25. Juli 1701, Stab/F 6,2/34: 7). Zum Arzneimittelgeschäft siehe die Briefe Adelungs an Francke, vom 9. April 1705 und 30. Mai 1705, Stab/F 6,2/34: 31–32; Brief Hollstein an Francke, vom 10. Februar 1705, AFSt/H C102: 1. Vgl. Miri Shefer-Mossensohn: Ottoman Medicine. Healing and Medical Institutions, 1500–1700. Albany, NY 2009. 34 Zu einer Medikamentenkiste aus Halle, die an der Grenze in Belgrad stecken geblieben war, den Brief von Adelung an Francke, aus Konstantinopel, 22. Juni 1705, Stab/F 6,2/34: 34. Vgl. Jürgen Helm: Die Medikamente des Waisenhauses. Ein Beispiel für die Etablierung und Verbreitung therapeutischer Praktiken im 18. Jahrhundert. In: Ders. / Renate Wilson (Hg.): Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century. A Transatlantic Perspective. Stuttgart 2008, S. 113–133. 35 Brief Hollstein an Francke, 10. Februar 1705, AFSt/H C102: 1; Adelung an Francke, 30. Mai 1705, Stab/F 6,2/34: 32. Zur Residenz der holländischen Gesandtschaft in Galata Cornelissen, The World.

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Als Sprachstudenten und medizinische Gewerbetätige getarnt, engagierten sich die Hallenser auf verschiedenen missionarischen Operationsfeldern, und zwar der Verteilung von neugriechischen Bibeln (genauer des von Ludolf 1703 in London auch im Hinblick auf den neuen Außenposten gedruckten vernakularen Neuen Testaments), dem „Headhunting“ zur Rekrutierung von Studenten, die nach Halle geschickt werden sollten, sowie der Pflege von Beziehungen zum orthodoxen Amtsklerus.36 Im Sommer 1704 reiste Adelung nach Palästina und besuchte u. a. Jerusalem und die Maroniten am Berg Libanon. Ein weiteres Betätigungsfeld war die Betreuung und Unterstützung christlicher Sklaven. Bereits dem ersten Griechen, den Adelung und Salchow 1702 nach Halle schickten, der jedoch niemals dort ankam, weil er auf seiner Reise in Venedig von pro-katholischen Akteuren abgeworben worden war, wurde ein zurückkehrender ehemaliger Sklave als Begleiter mitgegeben. Es handelte sich um einen jungen deutschen Katholiken, dessen Reiseziel Halle war, wobei unklar ist, ob er es erreichte. Er habe die türkische Sprache beherrscht und sei in den zwölf Jahren seiner Gefangenschaft fast „vollends ein Türck“ geworden.37 In den Quellen erfährt man, dass sich in der Unterkunft der Pietisten eine Gruppe von ca. einem Dutzend Personen versammelte; vom „griechischen Knecht“, der im Apothekerladen arbeitete, über mehrere Personen aus „Teutschland“ und Ungarn, die im Türkenkrieg gefangengenommen worden waren, bis hin zu einem als Gönner und Unterstützer häufig erwähnten türkischen Arzt namens Abdullah. Zwischen Adelung und einer versklavten Ungarin namens Anna, deren Frömmigkeit er Francke brieflich schilderte, scheint sich eine enge Beziehung entwickelt zu haben. Die ehemaligen Sklaven und der Arzt Abdullah samt Familie reisten 1705, nachdem inzwischen sowohl Heering als auch Hollstein Opfer einer Pestepidemie geworden und auf dem Friedhof der holländischen Gemeinde beigesetzt worden waren, mit Adelung zurück nach Halle.38 Diese letzte Aktion des Istanbuler Außenpostens barg eine erhebliche Brisanz, denn bei einigen der von Adelung außer Landes Gebrachten handelte es sich um Personen, die „Türken“ geworden, also während ihrer Zeit als Sklaven zum Islam 36 Ludolf sandte 1703 an den englischen Legationsprediger Williams 50 Exemplare für „Mr. Salchov a Countryman of mine“ sowie 100 Exemplare zur freien Verfügung von Williams, wobei er diesem zu einer umsichtigen Verteilung riet, denn „some amongst the Chief of their Church […] are averse to the putting the Bible into Laymen’s hands, as the Pope at Rome“ (Brief Ludolf an Williams, 16. April 1703, AFSt/H D23, fol. 9v). Später orderte Adelung weitere 100 Exemplare aus Halle, vgl. Brief an Francke vom 22. Juni 1705. Vgl. zur Edition von 1703 Moennig, Die griechischen Studenten. 37 Heinrich Wilhelm Bilstein an Francke, aus Augsburg, 8. Januar 1703, AFSt/H F14, fol. 435. Zur Abwerbung des ersten Rekruten, eines dreißigjährigen Griechen, Moennig, Die griechischen Studenten, S. 307. 38 Adelung an Francke, aus Konstantinopel, 9. August 1705, Stab/F 6,2/34: 38 sowie aus Venedig, 5. Februar 1706, Stab/F 6,2/34: 47.

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konvertiert waren. Deren Rekonversion stellte eine schwere Straftat dar. Auch für das schwierige Unterfangen, mit möglichst hochrangigen Klerikern am ökumenischen Patriarchenhof in Kontakt zu treten, hatte Ludolf bereits den Boden bereitet. Er hatte während seiner Orientreise Kontakte zu unterstützungswilligen Klerikern geknüpft, den Kontakt nach seiner Rückreise in einer auf Neugriechisch geführten Korrespondenz gepflegt, ja noch mehr: Er hatte bei Rombouts Geschenke (Briefe und Bücher) hinterlegt, die die halleschen Agenten in seinem Namen an griechische Kleriker übergeben sollten, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.39

Fazit Es bleibt festzuhalten, dass die Angehörigen des von halleschen Pietisten in der Hauptstadt des Osmanischen Reichs unterhaltenen Außenpostens auf denselben Aktionsfeldern tätig waren wie ihre katholischen Konkurrenten. Dass sie sich mit medizinischen Dienstleistungen die Unterstützung der Einwanderungsgesellschaft erwarben, baute ebenfalls auf erprobten Vorbildern katholischer Missionierung auf.40 Neben der Konkurrenz zu den Katholiken, die vor allem im Briefwechsel Ludolf-Francke thematisiert wird, lassen sich auch Spuren einer Binnenkonkurrenz mit protestantischen Akteuren identifizieren. In den Briefen Adelungs und seiner Begleiter ist von katholischen oder protestantischen Konkurrenten hingegen selten die Rede.41 Außerdem konnten wir beobachten, dass es – ungeachtet der polemischen Rhetorik – bei den Interaktionen mit den Konkurrenten im osmanischen Raum zu pragmatischen Formen der Koexistenz, ja der Zusammenarbeit kam. Weiterhin hatten die missionierenden Katholiken, Anglikaner und lutherischen Pietisten gemein, dass sie nicht einfach „Fremde“ waren, sondern „transimperiale Akteure“, die in den Kontaktzonen zwischen verschiedenen Reichsgebilden kulturelle Grenzen, aber auch kulturelle Durchlässigkeiten aushandelten.42 Die Analysekategorie der „Konkurrenz“ ermöglicht es schließlich, die missionarischen Projekte des Pietismus, ja dessen Charakter als weltverändernde Utopie, aus einem

39 Papamakarios sollten sie Briefe und „4. Griechische Neue Testamente“ überreichen, dem Patriarchen von Jerusalem Dositheos hingegen „des Macarii Aegyptij Homilias, Graece et Latine“ (Pro memoria der nach Constantinopel reisenden, fol. 57v). 40 Siehe zur Medizin als Türöffner für die Jesuitenmission auf dem Athos Georg Hofmann: Die Jesuiten und der Athos. In: Archivum Historicum Societatis Iesu 8 (1939), S. 3–33, v. a. S. 20. 41 Adelung mahnt Francke, die Post der in Halle weilenden Griechen kontrollieren zu lassen, weil deren Verwandte in der Heimat womöglich von katholischen Missionaren beeinflusst würden (Brief vom 23. Januar 1705 aus Smyrna). 42 Ella N. Rothman: Brokering Empire. Trans-Imperial Subjects between Venice and Istanbul. Ithaka / London 2012.

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anderen Blickwinkel zu beleuchten. Ein Blickwinkel, der zum Vorschein bringt, dass die pietistische Bereitschaft zur Innovation und stärker noch zur Anpassung an und Nachahmung von Konkurrenten, wie den katholischen Missionaren, Hand in Hand gingen.

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Zu Gast bei der Konkurrenz Begegnungen von Emissären des halleschen Institutum Judaicum et Muhammedicum und der Herrnhuter Brüdergemeine in Ägypten, 1753 Am 18. Juni 1753 kamen Stephan Schultz (1714–1776) und Albrecht Friedrich Woltersdorf (1729–1755), zwei Reisende im Auftrag des vom Halleschen Pietismus geprägten Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle, mit einem Schiff vor der Hafenstadt Alexandria an der ägyptischen Mittelmeerküste an. Eine tödliche Seuche – die Pest – verhinderte zunächst ihren Landgang.1 Auch der ursprüngliche Plan des Verfassers dieses Beitrags, die Tagebuchaufzeichnungen der Gefährten über ihren Aufenthalt in Ägypten mit denen eines Emissärs der Herrnhuter Brüdergemeine im Land, Friedrich Wilhelm Hocker (1713–1782), zu vergleichen, wurde durch eine gefährliche Infektionskrankheit – COVID-19 oder „Corona“ – vereitelt. Daher bietet der vorliegende Beitrag zugegebenermaßen einen einseitigen Blick auf eine bemerkenswerte Wohngemeinschaft der genannten konkurrierenden Akteure, gerichtet durch die Brille hallesch-pietistischer Quellen. Erhalten blieb aber das initiale Ansinnen, mittels eines Beispiels auf die Analysekategorie „Konkurrenz“ als ein Desiderat der Auseinandersetzung mit dem Institutum Judaicum et Muhammedicum hinzuweisen. Johann Heinrich Callenberg (1694–1760), Professor in Halle und ehemaliger Sekretär August Hermann Franckes (1663–1727), hatte diese Einrichtung im Jahr 1728 gegründet. Sie existierte bis 1791/92. Eine eigene Druckerei produzierte an Juden, Muslime und orientalische Christen gerichtete Missionsschriften. Angehörige von Callenbergs internationalem Netzwerk sowie für das Institut reisende studiosi dienten als Distribuenten der Drucke. Die sehr reichhaltige Forschungsliteratur über das Institut behandelt hauptsächlich seine Zielgruppenaktivitäten und seine Verortung innerhalb des Halleschen Pietismus.2 Dem Verhältnis zu Mitbewerbern

1 Siehe unten am Beginn des folgenden Abschnitts. 2 Standardwerk über das Institut ist noch immer Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736). Halle / Tübingen 2004. Leider unveröffentlicht blieb Christoph Bochinger: Abenteuer Islam. Zur Wahrnehmung fremder Religion im Hallenser Pietismus des 18. Jahrhunderts. Habil.-Schr., LudwigMaximilians-Univ. München, 1996. Eine Darstellung der auf orientalische Christen zielenden Aktivitäten fehlt bisher. Hierzu arbeitet der Verfasser im Rahmen seiner Dissertation. Weitere grundlegende Literatur ist verzeichnet in Daniel Haas: Von Halle in den Orient. Stephan Schultz auf Reisen im

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auf dem vielfältigen „Markt der Missionen“ – neben der Herrnhuter Brüdergemeine sind hier insbesondere die diversen katholischen Akteure zu nennen, etwa Jesuiten, Franziskaner und die Sacra Congregatio de Propaganda Fide – kam bislang nur wenig Aufmerksamkeit zu. Bezüglich der Reisetätigkeit seiner Mitarbeiter dachte Callenberg schon früh auch an Regionen mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.3 Aber erst 1752 verließen mit Stephan Schultz und Albrecht Friedrich Woltersdorf erstmals (und zugleich letztmals) zwei seiner studiosi europäischen Boden und reisten in das Hoheitsgebiet des Osmanischen Reiches.4 Auf einer ausgedehnten Reise5 wollten sie die Lage von Juden, Muslimen und orientalischen Christen erkunden, Sprachen studieren und Drucke aus dem Institutsverlag verteilen. Die Herrnhuter Brüdergemeine unter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), die mit dem Halleschen Pietismus einen globalen Wirkungsanspruch gemein hatte, richtete ihre Tätigkeiten ebenfalls gen Osten.6 Für die Brüdergemeine ging 1752 Friedrich Wilhelm Hocker7 nach Ägypten, um Kontakte zur koptisch-orthodoxen Kirche aufzubauen und über diese einen Zugang nach Äthiopien zu bahnen. Damals un-

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Osmanischen Reich in den Jahren 1752 bis 1756. In: Anne Schröder-Kahnt / Claus Veltmann (Hg.): Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Halle 2018, S. 67–79, hier S. 79, Anm. 5. Zu ergänzen sind: Kwartalnik Historii Żydów 220 (2006); Grit Schorch / Brigitte Klosterberg (Hg.): Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. Halle 2019. Bochinger, Abenteuer Islam, S. 97–100; Rymatzki, Hallischer Pietismus, S. 222 f. Als dem Älteren und Erfahreneren kam Schultz, der später auch Nachfolger Callenbergs in der Direktion des Instituts wurde, die Leitungsfunktion im Reiseteam zu. In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Artikeln über ihn erschienen. Exemplarisch seien genannt: Jan Schmidt: ‘Guided by the Almighty’. The Journey of Stephan Schultz in the Ottoman Empire, 1752–6. In: Christine Woodhead (Hg.): The Ottoman World. London / New York 2012, S. 332–336; Daniel Haas: „Was zur Religion gehört, Hast Du nicht nur allhie gelehrt; Auch ists in Asien und Africa geschehen!“ Stephan Schultz’ Reise von Halle in das Osmanische Reich (1752–1756). In: Jutta Eckle (Hg.): Erlebte Fremde. Reiseberichte aus der Frühen Neuzeit in der Marienbibliothek zu Halle an der Saale. Halle 2018, S. 55–79; Ders., Von Halle in den Orient; Ralf Elger: Hallesche Judenmission und Orientalistik. Stephan Schultz’ Bericht über seine Reisen im Nahen Osten von 1752 bis 1756. In: Grit Schorch / Brigitte Klosterberg (Hg.): Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. Halle 2019, S. 99–122. Die wichtigsten Stationen der Reise waren: Konstantinopel (h. Istanbul), Smyrna (h. Izmir), Alexandria, Kairo, Aleppo, Jerusalem. Woltersdorf starb 1755 in Akkon (Ptolemais) an den Folgen einer Verletzung. Schultz machte daraufhin einen Abstecher nach Damaskus, bevor er nach Halle zurückkehrte. Als weitere Stationen waren ursprünglich vorgesehen u. a.: Armenien, Persien (Isfahan), Indien, Äthiopien. Einen Überblick bietet Peter Vogt: Graf Zinzendorfs orientalische Initiativen – Mission oder Ökumene? In: Martin Tamcke / Arthur Manukyan (Hg.): Protestanten im Orient. Würzburg 2009, S. 33–51. Zu Hocker siehe mit weiteren Literaturhinweisen unten, im Abschnitt zu Kairo.

Zu Gast bei der Konkurrenz

terstanden die orthodoxen Christen Äthiopiens noch dem Papst und Patriarchen der koptisch-orthodoxen Kirche. Dies ist der historische Hintergrund für das hier gewählte Fallbeispiel: Schultz und Woltersdorf lernten in Alexandria zunächst einen weiteren vermeintlichen Gesandten der Herrnhuter kennen, bevor sie in Kairo für einige Wochen in einer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft mit Hocker lebten. Beide Episoden werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Da die Quellen der herrnhutischen Seite im Unitätsarchiv – wie am Beginn des Beitrags geschrieben – nicht berücksichtigt werden konnten, liegt dem Folgenden ein Auszug aus dem Diarium von Stephan Schultz8 und die auf seinen Tagebüchern basierende Lebensbeschreibung „Der Leitungen des Höchsten nach seinem Rath auf den Reisen durch Europa, Asia und Africa“9 zugrunde. Damit ergänzt dieser Beitrag die wenigen Zeilen über das hallesch-herrnhutische Zusammentreffen in Arthur Manukyans „Konstantinopel und Kairo“, der umfangreichsten Publikation über Hockers Wirken in der ägyptischen Hauptstadt.10

Alexandria: Ein „herrnhutischer“ Graf und sein „unzüchtig geiles Weib“ Aus Smyrna kommend, erreichten Schultz und Woltersdorf am 18. Juni 1753 also den Hafen von Alexandria, konnten das Schiff aber aufgrund der Pest einstweilen nicht verlassen.11 Erst am 29. Juni war ihnen der Landgang möglich. Durch Briefe hatten sie unterdessen nach einer Unterkunft in der Stadt gesucht, und schließlich eine Bleibe bei dem englischen Vizekonsul, Francis Brown, gefunden.12 Einige 8 Universiteitsbibliotheek (UB) Leiden, Acad. 196. Hierbei handelt es sich um den einzigen überlieferten originalen Tagebuchauszug von Schultz. Er setzt kurz vor der Abreise nach Ägypten in Smyrna ein und endet während des Aufenthalts in Kairo. 9 Stephan Schultz: Der Leitungen des Höchsten nach seinem Rath auf den Reisen durch Europa, Asia und Africa […] Theil. Aus eigener Erfahrung beschrieben; und auf vieles Verlangen dem Druck übergeben von M. Stephanus Schultz […]. Tl. 1–5. Halle im Magdeburgischen 1771–1775. Die Reise in das Osmanische Reich ist Thema der Teile 4 (1774) und 5 (1775). Ein weiterer Bericht nach den Tagebuchaufzeichnungen ist abgedruckt in: Ders.: Fernere Nachricht von der zum Heil der Juden errichteten Anstalt, nebst den Auszügen aus den Tagebüchern der reisenden Mitarbeiter. Stk. 1–15. Halle 1762–1776, hier Stk. 2–8. 10 Arthur Manukyan: Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur Koptischen Kirche. Interkonfessionelle und interkulturelle Begegnungen im 18. Jahrhundert. Würzburg 2010, S. 252–254, hier 280. 11 UB Leiden, Acad. 196, S. 651–653; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 278 f. 12 UB Leiden, Acad. 196, S. 682–685; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 280 f. Ursprünglich wollten Schultz und Woltersdorf zunächst nach Aleppo und von dort weiter nach Ägypten reisen. Mangels einer passenden Transportmöglichkeit entschied Schultz kurzfristig, direkt Ägypten anzusteuern. Siehe UB Leiden, Acad. 196, 577–579.

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Wochen nach der Ankunft der beiden halleschen Emissäre, am 13. Juli, traf auch „der Graf de Neuwall“ mit seinem mehr als zehnköpfigen Gefolge in Alexandria ein – „alle Zinzendorfische Brüder“, wie Schultz in seiner Lebensbeschreibung hervorhob. Der Graf und seine Entourage befanden sich, so erfuhr Schultz, auf dem Weg nach Äthiopien.13 Pierre Joseph Le Roux Comte d’Esneval (gest. 1756), „der Graf de Neuwall“, hatte zuvor bereits mehrfach – und mutmaßlich besonders auf der Suche nach Ruhm und Geld – versucht, nach Äthiopien vorzudringen. Eine von ihm 1737/38 im Auftrag des dänischen Königs Christian VI. (1699–1746) unternommene Expedition nach Äthiopien war in Nubien gescheitert;14 durch den Reisebericht des Teilnehmers Frederik Ludvig Norden (1708–1742) erhielt sie später dennoch eine gewisse Bekanntheit.15 1744 war eine zweite Unternehmung d’Esnevals, diesmal unter spanischer Flagge, bereits vor den Kapverden in einem Scharmützel mit Engländern geendet.16 Am Anfang der 1750er Jahre hatte er dann Verhandlungen aufgenommen, um mit Unterstützung der Brüdergemeine eine Siedlung in Äthiopien zu gründen. Mit seinem Plan scheiterte er allerdings wohl aufgrund der für die Brüdergemeine nicht akzeptablen Forderungen nach exklusiven Privilegien und finanzieller Beteiligung an allen Einkünften. Immerhin lieh man ihm für die Reise Geldmittel in bar und als Kreditbrief.17 Mit der finanziellen Unterstützung des Grafen hatte sich die Brüdergemeine jedoch keinen Gefallen getan. Friedrich Wilhelm Hocker, der nachfolgend in den Fokus rückende offizielle Vertreter Herrnhuts in Ägypten, hatte Schwierigkeiten, sich von d’Esneval zu distanzieren, denn der Graf präsentierte sich mit Verweis auf die pekuniäre Förderung als Beauftragter der

13 UB Leiden, Acad. 196, S. 731 f.; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 293 (Zitat). Notabene: a. a. O. ist die Ankunft des Grafen auf den 18. Juli datiert (Satzfehler). Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 220, Anm. 69 datiert die Ankunft auf den 13. April. Warum die Angabe von der bei Schultz abweicht, konnte nicht geklärt werden. 14 Frits Hammer Kjølsen: Rokokogreven Pierre d’Esneval og Christian VIs etiopiske project. Count d’Esneval and King Christian VI’s Etiopien Project, 1736–1739. Aarhus 1968. 15 Frederic Louïs Norden: Voyage D’Egypte Et De Nubie. Bd. 1–2. Copenhague 1755. Deutsche Übersetzung: Friederichs Ludewigs Norden […] Beschreibung seiner Reise durch Egypten und Nubien mit den Anmerkungen des D. Tempelmann nach der englischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt und mit einem Vorberichte versehen von Johann Friederich Esaias Steffens […]. Zwey Theile. Übersetzt von Johann Friederich Esaias Steffens. Breslau / Leipzig 1779. 16 Ein um 1750 gedruckter Bericht über die Ereignisse liegt vor unter dem Titel Memoire Contenant une Relation exacte des contre-tems qui on traversés la Navigation du Comte Desneval en Ethiopie, ohne Ortsangabe, ohne Datierung (z. B. in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Siehe auch Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 212 f. 17 Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 212–221.

Zu Gast bei der Konkurrenz

Brüdergemeine.18 Auch Schultz nahm d’Esneval entsprechend als herrnhutischen Emissär wahr.19 Schultz zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild von den Neuankömmlingen. Besonders die mitreisende Gemahlin d’Esnevals wird zum Ziel spöttischer Darstellung. Bereits beim Landgang war sie ihm negativ aufgefallen: „Ich sahe sie [den Grafen und seine Entourage, DH] aus dem Bot ans Land steigen, dabey kam mir der Frau Gräfin ihr Bezeugen auf der Straße mehr frech, als frey für.“20 Anna Barbara von Rollingen, die Gattin des französischen Grafen, erscheint in Schultz’ Berichten als eine exzentrische, bisweilen obszöne Persönlichkeit, die im Kreise der in der Alexandria lebenden Ausländer für einen handfesten Eklat sorgte:21 Am 14. Juli statteten Schultz und Woltersdorf dem Grafen zusammen mit ihrem Gastgeber Brown einen Besuch ab. Zur Begrüßung drückte die Gemahlin d’Esnevals dem Engländer einen Kuss auf, wodurch die Anwesenden – darunter auch der französische Konsul mit Frau und Tochter – „bestürzt wurden“.22 In England, so habe sich Anna Barbara von Rollingen zu erklären versucht, sei dies üblich. Schultz aber, der sich einige Jahre zuvor selbst in England aufgehalten hatte, erinnerte sich, daß es unter bekannten Freunden nicht übelgenommen wird, wenn ein Mann des andern sein Weib küsset, doch geschiehet solches auch gar selten, wie auch Herr Browne, der ein gebohrner Engelander ist, bezeugete, aber wenn ein Weibsbild den Mann zu erst küsset oder zum Kuß auffordert, so hält man solche Person auch in Engeland für eine Hure und unzüchtig geiles Weib.23

Auch der Graf selbst, der weitschweifend von seinen Abenteuern erzählte, machte einen zweifelhaften Eindruck auf Schultz. Den Bericht d’Esnevals, „daß er bereits eine Reise bis an das Abyssinische Reich gethan habe, und daß er selbst mit dem

18 Ebd., S. 220, Anm. 69: „D’Esneval gab doch noch lange vor, dass er ‚auf der Unitaet ordre gienge‘ und die Brüder ihn nun ‚sitzen ließen‘ dabei konnte er sich auf das von der Brüdergemeine geliehene Geld beziehen […]. Hockers unaufhörliche Entgegensetzung, d’Esnevals Sache wäre ‚keine GemeinSache‘, konnte nicht viel an dieser eingeprägten Argumentation ändern […]. Graf d’Esneval unterließ auch nicht, Hocker immer wieder für seine Pläne zu vereinnahmen, und hatte bereits bei seiner Ankunft in Alexandrien verbreiten lassen, Hocker sei von Zinzendorf nach Ägypten geschickt worden, um dort Arabisch zu lernen und in Kairo auf ihn[,] d’Esneval, zu warten. […] Hockers Hoffnung, wenn d’Esneval ihn nur nicht verraten sollte, so wolle er in Ägypten anonym bzw. nur als englischer Medicus bekannt bleiben, wurde damit ein Ende gesetzt.“ 19 UB Leiden, Acad. 196, S. 820 f. 20 UB Leiden, Acad. 196, S. 732. 21 Vgl. die folgende Darstellung nach UB Leiden, Acad. 196, S. 735–739 mit der in Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 293 f. 22 UB Leiden, Acad. 196, S. 735. 23 UB Leiden, Acad. 196, S. 735 f.

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Kayser [also dem nəguśä nägäśt, dem ‚König der Könige‘ Äthiopiens, DH] gesprochen habe“,24 hielt er – mit ziemlicher Sicherheit zu Recht25 – für unglaubwürdig. Schultz resümierte seine Begegnungen mit d’Esneval und dessen Entourage entsprechend negativ: „Mir scheinet der Graf mit seiner Sache und Geschlag nicht der richtigste zu seyn; ich möchte ihnen auf einer Landstraße nicht allein begegnen“.26 Auf weitere Gesprächseinladungen ging er nicht ein.27 Festzuhalten ist, dass Schultz in seinen Aufzeichnungen die sehr negative Darstellung von d’Esneval und dessen Gefolge nicht mit einer allgemeinen anti-herrnhutischen Polemik verband.

Kairo: Eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft Schultz und Woltersdorf verließen am 22. Juli 1753 Alexandria und reisten über Rosette (Rašīd) in Richtung Kairo. Als sie am 28. des Monats die Stadt erreichten, wurden sie von „Hrn. Hocker, Doctor Medicinæ“ in Empfang genommen.28 Friedrich Wilhelm Hocker hielt sich bereits seit dem August des Vorjahres für die Herrnhuter Brüdergemeine in Ägypten auf.29 In den Monaten vor dem Eintreffen der beiden halleschen Emissäre hatte er – mit eingeschränktem Erfolg – versucht, 24 UB Leiden, Acad. 196, S. 760. 25 Ib Friis: Travelling Among Fellow Christians (1768–1833). James Bruce, Henry Salt and Eduard Rüppell in Abyssinia. In: Ders. u. a. (Hg.): Early Scientific Expeditions and Local Encounters. New Perspectives on Carsten Niebuhr and ‘The Arabian Journey’. Proceedings of a Symposium on the Occasion of the 250th Anniversary of the Royal Danish Expedition to Arabia Felix. Copenhagen 2013, S. 161–194, hier S. 163, Anm. 16: „There is no evidence that the French count, Pierre Josef le Roux d’Esneval, who persuaded the Danish King Christian VI to send an expedition lead by him and F. L. Norden up the Nile towards Abyssinia in 1737–1738, had any contact with Iyasu II, then still a very young Abyssinian Emperor, nor with the regent, Mantuab, widow of the former Emperor Bakaffa.“ 26 UB Leiden, Acad. 196, S. 763. 27 Auch der Graf reiste von Alexandria weiter nach Kairo, wo es noch zu vereinzelten Begegnungen mit den Hallensern kam: UB Leiden, Acad. 196, S. 874 f., 888 f., 905. Der Versuch d’Esnevals, nach Äthiopien vorzustoßen, misslang auch diesmal. 28 UB Leiden, Acad. 196, S. 777 u. 796; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 300, hier 304 (Zitat). 29 Zu Hockers Werdegang vor seinem hier relevanten Ägyptenaufenthalt ab 1752 siehe Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 223–234 und vgl. Schultz’ Angaben zu seiner Biographie in UB Leiden, Acad. 196, S. 801–805. Hocker absolvierte für die Brüdergemeine, abgesehen von einem früheren kurzen Aufenthalt auf dem Rückweg aus Persien, drei Ägypten-Missionen: von 1752 bis 1755, von 1756 bis 1761 und schließlich von 1768 bis zu seinem Tod im Jahr 1782. Zu Hockers Wirken in Ägypten siehe ausführlich Manukyan, Konstantinopel und Kairo, außerdem Ders.: Herrnhuter Präsenz in Kairo und Behnesse 1752–1783. Eine inhaltliche Bestandsaufnahme. In: Martin Tamcke / Arthur Manukyan (Hg.): Protestanten im Orient. Würzburg 2009, S. 53–80 sowie Ders.: „Inzwischen lerne ich arabisch, das mir die haar wehe tun.“ Der Lern- und Arbeitsalltag eines Europäers in Kairo in den 1750er Jahren. In: Ralf Elger / Ute Pietruschka (Hg.): Marginal Perspectives on Early Modern Ottoman Culture. Missionaries, Travellers, Booksellers. Halle (Saale) 2013, S. 61–74.

Zu Gast bei der Konkurrenz

sich zur Finanzierung seines Lebensunterhalts als Arzt in Kairo zu etablieren sowie Arabisch zu lernen.30 Bereits von Alexandria aus hatte Schultz schriftlich mit Hocker die Unterbringung der Hallenser in dessen Wohnung vereinbart. Der Kontakt war durch Francis Brown zustande gekommen. Brown hatte Hocker zwei studiosi aus Halle angekündigt, die zum Sprachenstudium nach Ägypten gekommen seien.31 Rasch war beiden Parteien klar, wo das jeweilige Gegenüber einzuordnen war: Bereits für den ersten Tag des Aufenthalts in Kairo notierte Schultz einen ausführlichen biographischen Bericht über Hocker, der gegenüber den Hallensern seine Anbindung an die Brüdergemeine nicht verschwieg. Schultz seinerseits gab Hocker „so weit [er] es für dienlich erachtete nähere Nachricht“ über das Callenberg’sche Institut, „[w]eil er bereits etwas von dem Instituto wuste“.32 So berichtete Schultz seinem Gastgeber, dass das Sprachenstudium eines der zentralen Anliegen der Reise war, wohingegen er sich im Hinblick auf andere Ziele und Tätigkeiten – ähnlich wie Hocker – bedeckt hielt. Vielleicht äußerte er gegenüber Hocker, wie bei anderen Gelegenheiten, dass die Gefährten nicht zur Bekehrung von Juden (und anderen) reisten, „sondern nur [um] zu untersuchen, wie weit man sich mit ihnen wird einlassen können“.33 Bis zum 8. Oktober hielten sich Schultz und Woltersdorf bei Hocker in Kairo auf.34 Angesichts der engen Lebensgemeinschaft, die die drei über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten eingingen, liegen erstaunlich wenige Aussagen in Schultz’ Aufzeichnungen vor, die eine Bestimmung der Entwicklung des Verhältnisses zwischen ihnen ermöglichen. Hocker war für die Gefährten aus Halle sicherlich in einigen Punkten ein hilfreicher Kontakt. Man speiste wohl regelmäßig zusammen in der Wohnung des Gastgebers und bei gemeinsamen Einladungen bei anderen Europäern in der Stadt.35 Auf besonderes Interesse stießen bei Schultz Hockers Erzählungen über dessen Aufenthalt in Persien, denn Isfahan stand bei der „orientalischen“ Reise der Hallenser ebenfalls als eine künftige Station auf der

30 Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 249–252; Ders., Inzwischen lerne ich arabisch, S. 61–59. 31 UB Leiden, Acad. 196, S. 725–727. Vgl. Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 253, Anm. 144. 32 UB Leiden, Acad. 196, S. 803. Vgl. Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 304: Die biographischen Angaben über Hocker und ein Hinweis auf dessen herrnhutischen Hintergrund fehlen in den „Leitungen“. 33 Vgl. Schultz’ Unterhaltung mit dem englischen Botschafter in Konstantinopel, James Porter (1710–1776) in Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 106–108. Zitat von ebd., S. 107. „Erstlich habe ich nicht gesagt, daß ich hergekommen sey, die Juden zu bekehren, sondern nur zu untersuchen, wie weit man sich mit ihnen wird einlassen können; weil dieses aber nicht der einige Zweck unsers Hierseyns ist, zu dem, ihn auch nicht jedermann fassen kan, so halten wir solchen billig stille, und sagen ihn sonst niemand, als wo es nöthig ist.“ 34 Die Zeit in Kairo behandelt Schultz in Leitungen, Tl. 4, S. 304–345. Das Leidener Diarium schließt Ende September wenige Tage vor der Abreise aus der Stadt. 35 UB Leiden, Acad. 196, passim und Schultz, Leitungen.

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Agenda.36 Auch gab es gemeinsame explorative Unternehmungen, zum Beispiel einen Ausflug zum alljährlichen feierlichen Durchstich des Kairo durchziehenden Großen Kanals (al-Ḫalīǧ al-Mis.rī) und zur festlich nach Mekka aufbrechenden Pilgerkarawane.37 Schultz und Woltersdorf konnten für ihre arabischen Sprachstudien auch Handschriften und Drucke aus der Bibliothek ihres Hausherrn nutzen.38 Hocker organisierte ihnen außerdem einen Einheimischen als Arabischlehrer.39 Allerdings dürfen diese Unterstützungsakte Hockers nicht überbewertet werden: Sie waren nützlich, aber nicht elementar für einen erfolgsgekrönten Aufenthalt der Hallenser in Kairo. Wichtig war vielmehr ein anderer Faktor, nämlich der Zugang zu hochstehenden Personen der orientalischen Kirchen – und hier bestand eine direkte Konkurrenz zwischen Hocker auf der einen sowie Schultz und Woltersdorf auf der anderen Seite. Für Hocker war insbesondere die Kontaktaufnahme mit dem koptisch-orthodoxen Patriarchen Markus VII. (im Amt 1745–1769) ein wesentliches Ziel seines Aufenthaltes. Bis dahin war er diesen Schritt jedoch noch nicht angegangen, da er zuvor seine Fähigkeiten im Arabischen ausbauen wollte.40 Schultz und Woltersdorf planten ebenfalls Markus und andere Kirchenvertreter zu treffen, zu einer „Lageerkundung“ und auch um Empfehlungsschreiben für die weitere Reise zu erhalten. Hocker versprach den Hallensern verschiedentlich Unterstützung bei der Kontaktaufnahme, half letztlich aber nicht: „Er verspricht zuweilen uns hier und dort hinzuführen, und hernach [wird] nichts draus.“41 Hockers Verhalten kann als eine stille Sabotage durch Untätigkeit verstanden werden. Durch Beistand aus dem englischen Konsulat gelangten die halleschen Emissäre allerdings doch kurz vor ihrer Abreise zu dem koptisch-orthodoxen Patriarchen.42 Abgesehen von den Klagen über Hockers Untätigkeit enthalten Schultz’ Aufzeichnungen kaum negative Aussagen über den Gastgeber. Vor allem fehlt auch

36 UB Leiden, Acad. 196, S. 834–836, 863 u. 891–894; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 321. Zu Hockers Reise nach Persien siehe Arthur Manukian: Zinzendorfs und Herrnhuts Interesse an Persien. Ein Missionsversuch der Brüdergemeine in den Jahren 1738 und 1747–1749. In: Martin Tamcke (Hg.): Christliche Gotteslehre im Orient seit dem Aufkommen des Islams bis zur Gegenwart. Beirut / Würzburg 2008, S. 157–174 und Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 229–234. 37 Durchstich des Kanals: UB Leiden, Acad. 196, S. 821–828; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 308–311. Mit der Nilschwemme wurde der Kairo durchziehende Kanal zur Wasserversorgung der Stadt geöffnet. Pilgerkarawane: UB Leiden, Acad. 196, S. 869–873; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 314–318. 38 UB Leiden, Acad. 196, S. 845 f., 889 f. 39 UB Leiden, Acad. 196, S. 841 f. 40 Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 252–254. 41 UB Leiden, Acad. 196, S. 908. Siehe ähnlich S. 847, 862 u. 932 f. 42 Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 341–344. Schultz und Woltersdorf hatten ein einmaliges Gespräch mit dem Patriarchen und erhielten ein Empfehlungsschreiben für Jerusalem. Hocker besuchte ihn erst im November, erreichte aber einen längerfristigen Kontakt und einen Briefwechsel zwischen Markus und Zinzendorf. Siehe Manukyan, Konstantinopel und Kairo, passim in Abschnitt II.

Zu Gast bei der Konkurrenz

in diesem Abschnitt eine allgemeine anti-herrnhutische Polemik. Nur sporadisch werden theologische Differenzen deutlich.43 Am Abend des 11. August kam es beispielsweise zu einem Streit zwischen Woltersdorf und Hocker. Ausgehend von den Quellen im Herrnhuter Unitätsarchiv schreibt Manukyan darüber: [Es gab] einen heftigen theologischen Streit zwischen Hocker und Woltersdorf, dem als Anlaß die Verkündigung Hockers an einen deutschen Juden in Kairo diente. Er predigte diesem ‚von dem Schöpfer aller Welt, wie der einen menschlichen leib habe angenommen und sich zum Korban [= Opfer]44 vor Juden und heyden und auch vor Ihn gegeben hatte‘: Woltersdorf hielt die Tatsache, dass man ‚den heyland zum eigentlichen Schöpfer der Welt‘ macht, für unlutherisch und häretisch. Er habe dies, so aber die Entgegnung Hockers, ‚von Kindesbeinen an in der Lutherischen Kirche zumahlen auf Weynachten mit viel Vergnügen gesungen; und wenn das auch nicht wäre, so stehts ja sonst auf allen blattern in der bibel, und wenn ich das zu glauben aufhören sollte, so wäre ich die unseeligste Creatur auf Erden.‘ Daraufhin sahen sie sich die Bibelstellen an, was nicht zu einer Einigung führte, und der Streit eskalierte. Zugleich war der Hallenser nicht gut auf ‚etliche venerable brüder‘ zu sprechen, ohne dass im Brief-Tagebuch Hockers konkrete Namen genannt wurden, worauf Hocker dem Hallenser antwortete, ‚Er wäre noch viel zu gelb um den Schnabel, um von solchen Männern Gottes zu reden‘. Seitdem sprachen sie nicht mehr über dieses Thema, so Hocker.45

Schultz hingegen widmete der Auseinandersetzung nur einen knappen Satz: „Am Abend kam der Hr. W[oltersdorf] mit Hr. D. H[ocker] in zimlich harten Disput wegen des Schöpfers der Welt; da Hr. Hokker behaupten wolte, daß der Sohn excluso Patre der Schöpfer sey.“46 Angesichts der deutlich ablehnenden Haltung, die Schultz an anderen Stellen seines (gedruckten) Berichts gegenüber der Brüdergemeine einnimmt,47 ist die weitgehende Absenz kritischer Worte bei der Schilderung einer so unmittelbaren Konfrontationssituation – und bei der Schilderung der Kontakte mit d’Esneval und Hocker überhaupt – bemerkenswert. Warum haben Schultz und Wolterdorf auf der einen und Hocker auf der anderen Seite als Vertreter konkurrierender Auftraggeber ihre Rivalität nicht offen ausgetragen? Die Präsenz missionarisch tätiger Akteure in Kairo war während

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Neben dem folgend geschilderten Disput siehe auch UB Leiden, Acad. 196, S. 907. Text in eckigen Klammern an dieser Stelle nach der Vorlage. Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 253, Anm. 144. UB Leiden, Acad. 196, S. 855. Z. B. Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 108: „Hierauf fragte der Botschafter [der englische Botschafter James Porter in Konstantinopel, DH]: ob wir Anhänger des Grafen Zinzendorfs (Herrnhuther) wären? Wir sagten: daß uns diese Leute wohl bekannt seyen, wir aber bisher genugsame Ursachen gefunden hätten, mit ihnen in keine Gemeinschaft einzutreten.“

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des 18. Jahrhunderts geprägt von regelmäßigen Auseinandersetzungen nicht nur untereinander, sondern auch mit den autochthonen Religionsgemeinschaften. Während des Aufenthalts von Schultz und Woltersdorf in der Stadt erwirkte etwa der griechisch-orthodoxe Patriarch von Alexandria, Matthäus (im Amt 1746–1766), bei der Hohen Pforte einen Erlass gegen die Franziskaner, der sogar zur zeitweisen Festnahme einiger Mönche führte.48 Sowohl Schultz und Woltersdorf als auch Hocker standen als Protestanten unter der Protektion des englischen Konsuls.49 Dass sie ihre Konkurrenz nicht offen austrugen, kann vor diesem Hintergrund so gedeutet werden, dass die Beteiligten einerseits ihrem Verhältnis zu den Schutz bietenden Engländern nicht schaden und andererseits im Kontext der bestehenden interkonfessionellen Konflikte keine Angriffsfläche bieten wollten. Beide Seiten versuchten als Bildungsreisende beziehungsweise als Arzt50 möglichst unauffällig zu bleiben. Ein offener Schlagabtausch hätte für beide Seiten wahrscheinlich mehr Nach- als Vorteile gebracht – oder Gefahr für Leib und Leben bedeutet. Räumliche Nähe, wie sie bei der vorgestellten ungewöhnlichen Wohngemeinschaft durch einen temporär geteilten Lebens- und Arbeitsraum gegeben war, ermöglichte zudem die unmittelbare Beobachtung von Rivalen. Mit einem „zärtlich genommenen Abschied“ fand am 8. Oktober die halleschherrnhutische Wohngemeinschaft in Kairo ihr Ende.51

48 UB Leiden, Acad. 196, S. 897 f. 901–906; Schultz, Leitungen, Tl. 4, S. 322 f. Vgl. Thomas Philipp / Moshe Perlmann (Hg.): ‘Abd-al-Rah.mān al-Jabartī’s History of Egypt. ‘Ajā’ib alāthār fī ’l-tarājim wa’l-akhbār. Bd. 1/2: Text. Stuttgart 1994, S. 307. 49 UB Leiden, Acad. 196, S. 807; Manukyan, Konstantinopel und Kairo, S. 244. 50 Siehe Anm. 18. 51 Schultz in Leitungen, Tl. 4, S. 345.

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Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg Die dänisch-englisch-hallesche Mission in Indien und ihre Beziehung zu den Akteuren anderer christlicher Konfessionen Am 21. Dezember 1728 berichtete der pietistische Missionar Benjamin Schultze (1689–1745) an Christian Benedict Michaelis (1680–1764) in Halle, dass er einen Traktat zu schreiben begonnen habe, der in Form eines Gesprächs zwischen einem Katholiken und einem Protestanten über die angeblichen Wunder des Kreuzes des heiligen Thomas in Meliapor informiere: Inzwischen habe ich alles deutlicher untersuchet, und es also befunden, als ich damals zu muthmaßen veranlaßet worden. Damit ich denn desto beßer nutzen möchte, so habe es in der Portugiesischen Sprache beschrieben, und ein Gespräch daraus gemacht. Ich habe es alhier einigen Freunden bereits zu lesen communiciret, und es hat ihnen so wohl gefallen, daß sie es sich abzucopiren ausgebeten haben. Könnte es zum Druck befördert werden, […] so […] würden manchen Catholicken die Augen eröffnen, und folglich zu unserer Kirche verhelfen. […] Die [deutsche, G.B.] Übersetzung ist von Wort zu Wort deutlich gegeben.1

Ziel des Traktates war es zum einen, die Katholiken Indiens zu einem Wechsel zum evangelischen Glauben zu bewegen, und zum anderen, auf eine 1722 gegen die Protestanten gerichtete Schrift des ehemaligen katholischen Paters Vicarius von Tranquebar, also des Vorstehers der dortigen katholischen Pfarrei, Juan Fernández de Guevara, zu reagieren.2 Viele Exemplare dieses Buches wurden unter den Portugiesisch sprechenden Einwohnern der dänischen Kolonie, die größtenteils der katholischen Kirche angehörten, ausgeteilt.3 Das Streitgespräch Schultzes trägt

1 AFSt (Archiv der Franckeschen Stiftungen)/M 2 H 3 : 10, Brief von Benjamin Schultze an Christian Benedict Michaelis (Madras, den 21.12.1728). 2 Juan Fernández de Guevara: Motivos que facem creivel, e quasi evidente a qualquer homẽ leygo â certeza, è infalivilidade da Religiaõ Catholica Romana […]. Manila 1722. 3 „Der vorige Römische Pater, Don Juan Fernandes de Guevarra, der Adlern mit sich nahm, hat, nachdem er nach Manilla gekommen, eine schrift in Portugiesicher Sprache herausgegeben, so 1 alph. und 8 bogen in 410 ausmacht, und auf Sinesisch papier, dergleichen auch eingelegtes blätgen ist, gedruckt ist. Der titul heißt Motivos que facem creivel e quasi evidente a qualquer homen leygo a certeza e infalivilidade de Religiaõ Catholica Romana: e que mostraõ o engano, e erro dos Sectarios, e Reformados. Escrita, e offerecida a os Reformados, ou sejaõ Lutheranos, ou Calvinistas, que moraõ

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den Titel: „Das neue Wunder des Kreutzes auff dem St. Thomas-Berg oder Die Geschichte von Herrn Jacob Mascarenho, welcher durch die Wahrhaffte Erzehlung deßen bekehret worden“.4 Soweit bekannt, wurde das Gespräch nicht in den „Halleschen Berichten“, der ersten protestantischen Missionszeitschrift, publiziert.5 Neben diesem bisher unbekannten Dialog, dessen vermutlich einziges erhaltenes, vom Portugiesischen ins Deutsche übersetztes Exemplar im Archiv der Franckeschen Stiftungen aufbewahrt wird, liegen diesem Beitrag die Tagebücher und Briefe von Schultze zugrunde. Meine folgenden Ausführungen beschränken sich auf das Wirkungsgebiet der Mission in Madras, die 1726 als Filiale der dänisch-halleschen Mission von Tranquebar entstand. Die Auswertung des Quellenmaterials verfolgt dabei das Ziel, die Rolle von Konkurrenz in diesem Missionsgebiet zu rekonstruieren. Zunächst ist es aber geboten, auf die konfessionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen in Madras und allgemein auf dem indischen Subkontinent einzugehen, die aus einer komplexen, verflochtenen Geschichte europäischer Kolonialisierung und Missionierung und der Begegnung mit indigenen Christen und Nicht-Christen hervorgegangen sind.

Das Christentum in Indien und die Entstehung der ersten lutherischen Mission Die pietistischen Missionare interagierten in Madras mit einer Vielzahl von Konfessionen und missionarischen Akteuren. Diese Vielfalt verdankte sich der spezifischen kolonial- und missionsgeschichtlichen Entwicklung dieser Region. Außerhalb der unter dänischer Suprematie stehenden Kolonie in Tranquebar bekamen es die Hallenser Missionare, abgesehen von Hindus und Thomaschristen, mit portugiesischen und englischen Obrigkeiten sowie mit römisch-katholischen und anglikanischen Missionaren zu tun.

nestas terras da India. Manila, Año de 1722. Es wurden viele exemplaria davon auch diese Küste gesandt, und unter die Römisch-Catholische ausgetheilet. Hätten wir papier gehabt, so hätten wir können die Differencia de Christiandade dagegen auflegen laßen, weil die Catholicken sich sehr gegen die unsrigen damit brüsten“; AFSt/M 1 H 3 : 18; Brief von Nikolaus Dal an August Hermann Francke (Tranquebar, den 30.09.1723). 4 AFSt/M 2 G 4 : 3; Benjamin Schultze, Das neue Wunder des Kreutzes auff dem St. Thomas-Berg oder Die Geschichte von Herrn Jacob Mascarenho, welcher durch die Wahrhafter Erzehlung deßen ist bekehrt worden. Ein Gespräch zwischen einem Catholiquen und Evangelischen von dem welches sich auff dem grosen Berge /: gemeiniglich der St. Thomas-Berg genant / befindet, Madras, 1728. 5 Zu den „Halleschen Berichten“: Heike Liebau: Controlled Transparency. The Hallesche Berichte and Neue Hallesche Berichte between 1710 and 1848. In: Markus Friedrich / Alexander Schunka (Hg.): Reporting Christian Mission in the Eighteenth Century. Communication, Culture of Knowledge and Regular Publication in a Cross-Confessional Perspective. Wiesbaden 2017, S. 133–148.

Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg

In Meliapor, heute ein Stadtviertel von Madras, befindet sich das angebliche Grab des Apostels Thomas. Schon in der vorportugiesischen Zeit waren die von Thomas gegründeten christlichen Gemeinden Indiens mit den Kirchen ostsyrischer Tradition verbunden gewesen. Als Vasco da Gama 1498 als erster Europäer den Seeweg nach Indien befuhr, waren die Portugiesen auf der Suche nach Gewürzen, aber auch nach Christen. Sie suchten nach abgelegenen christlichen Gemeinden, um gemeinsam mit diesen die Muslime zu besiegen und sich zugleich den Landweg nach Indien zu sichern. Als die Portugiesen der Existenz von christlichen Gemeinden in Indien gewahr wurden, waren sie überzeugt, dass die dortigen sogenannten Thomaschristen der Lehre der Urkirche treu geblieben waren. Bei der Wiederanknüpfung der Beziehungen zu den Thomaschristen erhofften sich die Portugiesen zudem, dass ihnen die Führungsrolle bei der Errichtung des Fünften Weltreiches (Quinto Império do Mundo) vorbehalten war. Die mystisch-chiliastische Utopie des Fünften Reiches ist eine spätestens im 15. Jahrhundert entstandene Ideologie auf der Grundlage des Buches Daniels (2, 44), der zufolge die portugiesische Nation von Gott auserwählt war, den Glauben auf dem gesamten Erdboden zu verbreiten und ein universelles christliches Reich zu errichten, in dem Frieden und Harmonie herrschen würden.6 Im 16. Jahrhundert fand die Vereinnahmung der Mission durch ökonomische Interessen mit der Einführung des portugiesischen Patronats (padroado) einen Höhepunkt. Die Könige Portugals übernahmen damit die Pflicht, den christlichen Glauben in den Gebieten zu verbreiten, die von ihnen erobert worden waren. Die erste lutherische Mission in Indien begann im heutigen Tamil Nadu im Südosten des Subkontinents. Bedeutendster Förderer dieser Mission war der dänische König Friedrich IV. (1671–1730), der über die kleine Hafenstadt Tranquebar als Handelskolonie verfügte. 1705 übertrug der König den Halleschen Pietisten um August Hermann Francke (1667–1727) den Auftrag, eine protestantische Mission in Südostindien durchzuführen. Geleitet wurde diese Mission durch das Missionskollegium in Kopenhagen. Die ersten lutherisch-pietistischen Missionare, Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1676–1752), trafen

6 Zu den Thomaschristen in Indien und zu missionarischen Aktivitäten dort vgl. Wilhelm Germann: Die Kirche der Thomaschristen. Gütersloh 1877; István Perczel: Syriac Christianity in India. In: Daniel King (Hg): The Syriac World. London 2019, S. 653–697; Placid J. Podipara: The Thomas Christians. London 1970. Zur Utopie der Gründung eines christlichen universellen Königreiches unter der Führung von Portugal vgl. Luís Filipe Thomaz / Jorge Santos Alves: Da Cruzada ao Quinto Império. In: Francisco Bethencourt / Diogo Ramada Curto (Hg.): A Memória da Nação. Lissabon 1991, S. 81–165; Luísa Trias Folch: O Quinto Império do mundo segundo a profecia de Daniel (2, 1–46) em Gonzalo Tenorio e António Vieira. In: Cristina Almeida Ribeiro u. a. (Hg.): Letras, sinais. Para David MourãoFerreira, Margarida Vieira Mendes e Osório Mateus. Lissabon 1999, S. 381–389.

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bereits 1706 in Indien ein.7 Blicken wir nun auf das Verhältnis von Katholiken und Lutheranern, aber auch auf die binnenprotestantische Konkurrenzsituation.

Benjamin Schultze und die dänisch-englisch-hallesche Mission in Madras Zu den wichtigsten pietistischen Missionaren in Indien zählt Benjamin Schultze, der die erste protestantische Mission in Madras, etwa 250 Kilometer nördlich von Tranquebar gelegen, gründete. Der aus der Neumark stammende Missionar wurde 1718 nach Indien entsandt und siedelte sich zunächst in Tranquebar an. In der dänischen Handelsstadt kam es jedoch zu Konflikten mit den anderen halleschen Missionaren, was ein Grund für Schultzes Entschluss gewesen sein mag, sich 1726 in Madras niederzulassen, wo er in den Dienst der englischen Society for Promoting Christian Knowledge trat, die älteste anglikanische Missionsorganisation. Da sich Madras in einem Gebiet befindet, wo die dravidische Sprache Telugu eine der Lokalsprachen war und bis heute ist, sah sich Schultze gezwungen, diese Sprache zu erlernen. In den darauffolgenden Jahren übersetzte er eine Vielzahl von christlichen Texten und verfasste auch eine Grammatik, die sogenannte „Grammatica Telugica“.8 Schließlich beschäftigte sich Schultze noch mit dem Hindustani. Seine Grammatik dieser Sprache wurde im Jahre 1745 in Halle herausgegeben.9 Wegen seines durch wiederkehrende asthmatische Anfälle verschlechterten Gesundheitszustandes kehrte er 1743 nach Halle zurück, wo er 1760 starb.10 Schultzes Tätigkeiten waren aber nicht nur auf die Aneignung der Sprache und Kultur der tamilischen Zielgruppe fokussiert, sondern auch durch Interaktionen mit missionarischen Konkurrenten geprägt. Aus einem Brief von August Hermann Francke, dem Direktor des Waisenhauses in Halle, geht hervor, dass dieser Schultze, der Teile des „Book of Common Prayer“ ins Tamilische übersetzte, ermahnte, „alle

7 Heike Liebau u. a. (Hg.): Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Halle 2010. 8 Gérald Duverdier: L’oeuvre en télugu de Benjamin Schultze. In: Bulletin de l’Ecole française d’ExtrêmeOrient 63 (1976), S. 265–312; Adapa Satyanarayana: The Contribution of Benjamin Schultze to Telugu Language and Learning. In: Andreas Gross u. a. (Hg.): Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Bd. 3. Halle 2006, S. 1163–1180; Ders.: Benjamin Schultze (1689–1760). The Foremost Telugu Linguist. In: Liebau u. a., Mission und Forschung, S. 239–255. 9 Heike Liebau: Die „Grammatica hindostanica“ von Benjamin Schultze und ihr Platz in der Erforschung der Entwicklungsgeschichte des Hindustani. In: Buchard Brentjes (Hg.): Wissenschaftsbeziehungen zwischen Halle und Indien in Tradition und Gegenwart. Halle 1987, S. 7–17; Heike Pelikan: Die „Grammatica hindostanica“ des Benjamin Schultze. Quelle zur Erforschung des Dakkhini des 18. Jahrhunderts. Halle 1987. 10 Heike Liebau: Deutsche Missionare als Indienforscher. Benjamin Schultze (1689–1760) – Ausnahme oder Regel? In: Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 111–133, hier S. 124.

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Religionsmengerei zu verhüten“. In Halle fürchtete man, dass die erste lutherische Mission in Madras „anglikanisiert“ würde.11 Dies ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass man in Halle auch andere protestantische Akteure als Konkurrenten wahrnahm. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die dänisch-hallesche Mission in Tranquebar entstand, bildeten die dem heutigen Tamil Nadu zugehörigen Gebiete bereits eine multireligiöse Region. In Madras, wo die englische Krone 1640 das Fort St. George errichtet hatte, wirkten neben den zur Malabar-Provinz gehörigen Jesuitenpatern auch die unter dem Schutz der Engländer stehenden französischen Kapuziner, deren Arbeit durch die mangelnde Unterstützung der Portugiesen erschwert wurde. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als sich Schultze in Madras niederließ, zählte die dortige katholische Gemeinde über tausend Gläubige, die zumeist als Dienstpersonal in den Residenzen der in Madras ansässigen Engländer angestellt waren: Die Catholiquen sind auf 1200 hier gerechnet, fast aller Engeländer Haußer sind mit Catholischen Bedienten angefüllet. Die Jesuiten merken es schon voraus was für ein Abbruch ihnen geschehen werden, wenn die Ketzer (so nennen sie uns honorifice) Fuß setzen solten: Es hat ihnen bis dato gar treflich gelangen weil die Engländer alles frey passiren laßen und aus der Religion nichts machen.12

Als die lutherische Gemeinde in Madras durch die Tätigkeit von Schultze mehr und mehr anwuchs, entwickelte sich ein großer Widerstand seitens der römischkatholischen Missionare, die die Aktivitäten der Protestanten mit Argwohn betrachteten und sie, wo immer möglich, zu verhindern suchten. Als Schultze etwa eine Schule für Kinder aller Religionen eröffnete, warnten die Katholiken die Hindus davor, ihre Kinder dorthin zu schicken. Es kursierten Gerüchte, dass die „heidnischen“ Kinder von den Protestanten ohne Kenntnis der Eltern getauft würden.13

11 Wilhelm Germann: Johann Philipp Fabricius. Seine fünfzigjährige Wirksamkeit im Tamulenlande und das Missionsleben des 18. Jahrhunderts daheim und draussen, nach handschriftlichen Quellen geschildert. Erlangen 1865, S. 133–134; vgl. Hans-Werner Gensichen: Die konfessionelle Stellung der dänisch-halleschen Mission. In: Evangelische Missionszeitschrift für Missionswissenschaft und evangelische Religionskunde 13 (1956), S. 1–19, hier S. 15. 12 AFSt/M 2 H 2 : 15; Brief von Benjamin Schultze an Friedrich Michael Ziegenhagen (Madras, den 04.12.1727). 13 „Was mir aber die Römisch-Catholische vom ersten Anfange an bis auf diese Stunde für grossen Widerstand zu thun gesuchet, ist fast nicht zu beschreiben […]. Nachdem aber die Schule mit der heydnischen Jugend angefangen war, bemühten sich die Römisch-Catholischen abermal, den Heyden zu widerrathen, daß niemand seine Kinder zu mir schicken solte, welches ihnen auch bey einigen gelungen […]: so kam ein unbekanter Mönch zu mir, und fragte mich nach meiner Schule […]. Ich dimittirte ihn aber mit Bescheidenheit. Weil ihnen nun dieses alles nicht gelingen

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Die Spaltung und Konkurrenz zwischen den beiden christlichen Konfessionen (Schultze verwendet hier den Begriff „Parthey“) blieb den Einheimischen nicht verborgen: „Die Heyden merken auch wohl, daß der fleischliche Haß, der zwischen diesen Partheyen auch in Indien nicht verborgen bleibt […], entschuldigen sich auch, daß sie ja nicht wissen könnten, zu welcher Parthey sie sich begeben sollten“.14 Nun waren Konflikte mit der römisch-katholischen Kirche im Alltagsleben der Mission gang und gäbe. Insbesondere die Verehrung der Jungfrau Maria und der Heiligen betrachteten die pietistischen Missionare als „Götzendienst“ und Werk des Teufels. Darüber hinaus bestand für sie kein wirklicher Unterschied zwischen Katholiken und „Heiden“. Der Missionar Johann Zacharias Kiernander in Cuddalore beschreibt die zwei Gruppen folgendermaßen: Wenn man sich in diesen Gegenden das Papstthum und das Heydenthum recht ansiehet, so sind sie einander so gleich, als wenn sie zwey Kinder eines Vaters […] wären, und differiren in wol in keinem Stück mehr, als etwa darinnen, daß die Römischen ihren Gottesdienst noch viel bunter, abergläubischer und auch unvernünftiger machen können als die heiden.15

Jedes Jahr im Dezember versammelten sich die Katholiken auf dem Thomas-Berg bei Meliapor, um den Apostel Thomas zu feiern, der zu dieser Jahreszeit das Martyrium erlitten hatte. Im Jahre 1732 begegnete Schultze auf dem Großen Berg bei Meliapor zwei Priestern der Thomaschristen, die aus der Westküste Indiens, dem heutigen Kerala, stammten. Sie gehörten zur „römischen Parthey“, waren also Anhänger der römisch-katholischen Konfession, und verwendeten Syrisch als ihre Sakralsprache.16 Das war die erste Begegnung von Schultze mit den Thomaschristen.

wolte, so gaben sie aller Orten vor, daß ich bald würde davon gehen müssen, weil ich kein Geld mehr hätte, auch weiter keines bekommen würde. Wodurch denn auch einige confus gemacht und bewogen wurden, ihre Kinder zurück zu nehmen“; Hallesche Berichte, Dritter Theil, Zwey und dreyßigste Continuation. Halle 1732, S. 861. 14 Hallesche Berichte, Dritter Theil, Sieben und zwanzigste Continuation. Halle 1731, S. 199. 15 AFSt/M 2 K 11: 6; Brief von Johann Zacharias Kiernander an Eberhard David Hauber (Cuddalore, den 22.01.1742). 16 Hallesche Berichte, Dritter Theil, Vier und dreyßigste Continuation. Halle 1734, S. 1152 f.

Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg

Die Thomaschristen zwischen portugiesischen und protestantischen Missionaren Schultzes Tätigkeit als Missionar lässt sich nur vor dem Hintergrund der Vorgeschichte der Beziehungen zwischen einheimischen Christen und früher eingewanderten europäischen Missionaren begreifen. Die Thomaschristen führen ihren Ursprung auf die Tätigkeit des Apostels Thomas an den südlichen Küsten Indiens zurück. Der große Umschwung in ihrer Geschichte erfolgte durch das Auftreten der Portugiesen in Indien, die auf der Synode von Diamper (1599), die von dem Erzbischof von Goa Alexius de Menezes einberufen wurde, die Jurisdiktion der Thomaschristen usurpierten und die indische Christenheit dem padroado-System unterwarfen. Die malabarische Liturgie wurde latinisiert, obschon die Beschlüsse der Synode vom Papst in Rom nie bestätigt wurden. Im Laufe des 17. Jahrhunderts entrüstete sich ein großer Teil der Thomaschristen über die Latinisierung durch die portugiesischen Bischöfe. Am 3. Januar 1653 erreichte der Widerstand gegen die Latinisierung der indischen Christenheit seinen Höhepunkt im Schwur am Koonen Kreuz in Mattancherry, wo sich eine Versammlung von Thomaschristen weigerte, den Missionaren des padroado zu gehorchen. Papst Alexander VII. (1599–1667) entsandte nun mehrere Karmeliten unter der Leitung des Apostolischen Kommissars Giuseppe Maria Sebastiani (1623–1689) nach Indien. Diesem gelang es, vierzig Gemeinden der Thomaschristen zur erneuten Anerkennung des Papstes und zur Union mit Rom zu bewegen. Als 1663 die reformierten Niederländer Cochin eroberten, mussten einige katholische Ordensleute, darunter die Jesuiten, vorübergehend die Region Kerala verlassen. Nur den Karmeliten wurde es gestattet, in Indien unter den Thomaschristen zu bleiben. Im Jahre 1665 entsandte der ostsyrische Patriarch von Antiochien einen Bischof namens Gregorios. Seine Anhänger wurden Puthankuttukar („die neue Partei“) genannt, während die romtreuen Thomaschristen, die noch die Mehrheit bildeten, Pazhayakuttukar („die alte Partei“) hießen.17 Die Priester, denen Schultze bei Meliapor begegnete, gehörten zu der zweiten Gruppe. Sie erkenneten die Oberrschaft des Pabsts, und dependirten von den Portugisischen Bischof, […] die Messe hielten sie nach dem römischen Missali, jedoch in Syrischer Sprache, und erklärten dem Volck etwas in Malabarischer Sprache, weil sie die gemeinen Leute und Weiber nicht Syrisch verstünden […]. Die Priester dürften nicht heyrathen, und würden alle aus dem Geschlecht der Cassanaren, welche von alten Zeiten her Priester gewesen, genommen. Das heil. Abendmahl dispensirten sie unter einerley Gestalt. Die

17 Stephen Neill: A History of Christianity in India. The Beginnings to AD 1707. Cambridge 1985, S. 321–332.

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Heiligen beten sie an, und sagten, nicht Thomas, sondern Petrus sey der vornehmste unter denselben.18

Schon wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Indien kamen die ersten protestantischen Missionare in Tranquebar mit den Thomaschristen in Kontakt. Ziel der protestantischen Akteure war es, den Einfluss der römischen Kirche einzudämmen und somit den Weg für die protestantische Mission unter den Thomaschristen zu ebnen.19 Der pietistische Missionar Schultze trat in Madras somit mit mehreren konfessionellen Gruppen in Kontakt (römisch-katholischen Missionaren, anderen protestantischen Missionaren – wie den anglikanischen Predigern –, Thomaschristen, Hindus). Welche Rolle spielte nun der von ihm verfasste Dialog in diesem Kräftefeld missionarischer Aktivität und Konkurrenz?

Die Legende des St. Thomas-Bergs aus Sicht von Benjamin Schultze Der Überlieferung nach entdeckten die Portugiesen 1517 einige Knochen, die Spitze einer Lanze und Teile eines Wanderstockes am vermeintlichen Ort des Martyriums von Thomas.20 Auch die Entdeckung eines alten Kreuzes auf dem Großen Berg (periya malai) ist überliefert, wo Thomas angeblich bestattet wurde, nachdem er auf dem Kleinen Berg (cinna malai) gestorben war. Als die Portugiesen Mitte des 16. Jahrhunderts eine neue Kirche errichten wollten, gruben sie ein Steinkreuz aus. Rundherum waren einige für sie unverständliche Inschriften eingraviert. Schultze berichtet, dass er die Geschichte der Entdeckung des Kreuzes in der 1651 in Lissabon gedruckten „Vida de D. João de Castro“ von Jacinto Freire de Andrada gelesen habe. Der Protestant als Gesprächsfigur in dem uns nun interessierenden Streitgespräch ist fest überzeugt, dass die Portugiesen Betrüger seien, die das Kreuz zunächst versteckt hätten, um dann dessen Entdeckung zu feiern:

18 Hallesche Berichte, Dritter Theil, Vier und dreyßigste Continuation. Halle 1734, S. 1152–1153. 19 Vgl. Martin Tamcke: Lutheran Contacts with the Syrian Orthodox Church of the St. Thomas Christians and with the Syrian Apostolic Church of the East in India. In: Gross u. a. (Hg.), Halle and the Beginning, Bd. 2, S. 831–878; Ders.: Konstruktion lutherisch-syrischer Gemeinsamkeiten in der Frühphase lutherischer Mission in Indien. In: Ders. (Hg.): Construction of the Other, Identification of the Self. German Mission in India. Zürich / Berlin 2012, S. 1–11; Ders.: Mar Thoma. Eine indische Stimme der syrischen Thomaschristenheit in der Interaktion mit deutschen und niederländischen Protestanten. In: Ciprian Burlacioiu (Hg.): Veränderte Landkarten. Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums. Festschrift für Klaus Koschorke zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2013, S. 95–110. 20 Germann, Die Kirche der Thomaschristen, S. 277 f.

Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg

die Portugiesischen Missionarii [haben], als Sie zuerst hier kamen, Betrug geschmiedet […]. Sie funden ein Kreuzt von Stein, an demjenigen Ort, wo Sie es wenig Tage vorher verstecket hatten.21

Der Protestant präsentiert nachfolgend 18 Thesen, mit denen er zu beweisen versucht, dass der Apostel Thomas nicht der Urheber des Kreuzes sein könne, da er nie in Indien gewesen sei und folglich das am steinernen Kreuz gefundene Blut nicht von ihm stammen könne. Das vermeintliche Kreuz von Thomas sei kein Werk aus der Zeit des Apostels. Denn die Portugiesen führten zum Beweis für die Authentizität auch die Blutstropfen an, die auf dem Kreuz nachweisbar gewesen sein sollen. Doch laut dem Protestanten hatte sich der Steinmetz, der das Kreuz im Auftrag der Portugiesen mit der Figur einer Taube und der Inschrift verziert habe, bei der Anfertigung an den Fingern verletzt. Daher hätten die Portugiesen sofort die Gelegenheit ergriffen, ein Wunder zu erfinden, um das katholische Volk in Indien zu betrügen. Auf die Frage des Katholiken, ob man sich denn jemals mit der Inschrift des Kreuzes beschäftigt habe, antwortet der Protestant, dass einige Brahmanen herbeigerufen worden seien, um das Kreuz zu untersuchen. Doch sie hätten nicht einmal die Buchstaben entziffern können. Dass eine Sprache nicht gesprochen oder verstanden wurde, gilt 1728 für Schultze hier leichtfertig als Beweis, dass sie nie existiert habe. Wie aus einem Brief von Schultze an den Professor für orientalische Sprachen in St. Petersburg Georg Jakob Kehr (1692–1740) hervorgeht, gelangte Schultze 1739 jedoch zu der Meinung, dass die Inschrift auf dem Kreuz nur ein „Sigmentum der Portugiesen seyn müße, welche bey ihrer Ankunft in Indien dergleichen Dinge geschmiedet haben“ und die unverständlichen Buchstaben „eine Mixtur von vielen Sprachen“ seien.22 Tatsächlich handelt es sich um eine Inschrift in Pahlavī, einer mittelpersischen Sprache. Die Einritzungen auf der Platte beweisen somit die Verbindung der indischen Christenheit mit ihrer Mutterkirche in Persien, insbesondere mit dem Katholikos von Seleukeia-Ktesiphon. In der vorportugiesischen Zeit waren die christlichen Gemeinden Indiens mit den Kirchen ostsyrischer Tradition kirchlich verbunden, die während des gesamten europäischen Mittelalters Missionare und Bischöfe von Seleukeia-Ktesiphon nach Indien entsandten.

21 AFSt/M 2 G 4 : 3; Benjamin Schultze: Das neue Wunder des Kreutzes auff dem St. Thomas-Berg oder Die Geschichte von Herrn Jacob Mascarenho, welcher durch die Wahrhafter Erzehlung deßen ist bekehrt worden. Ein Gespräch zwischen einem Catholiquen und Evangelischen von dem welches sich auff dem grosen Berge /: gemeiniglich der St. Thomas-Berg genant :/ befindet. Madras 1728. 22 AFSt/M 1 C 18 : 45, Brief von Benjamin Schultze an Georg Jakob Kehr (Madras, den 12.01.1739).

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Ähnliche Kreuze wurden in verschiedenen Orten in Südindien, etwa in Kottayam, Kadamattam, Muttuchira und Alangad, gefunden.23 Im konstruierten Gespräch im Traktat verwirft Schultze keineswegs die Arbeit des Apostels Thomas bei der Evangelisierung der „heidnischen“ Völker. Vielmehr versucht er, dessen Vita nach kritischer Sichtung von falschen Mirakellegenden zu reinigen. Wie die Forschungsarbeiten zu portugiesischen Chronisten zeigen, wurde in damaliger Zeit großer Wert auf die Auffindung der Gebeine des heiligen Thomas gelegt.24 Bei den Portugiesen galt die Entdeckung des Grabs in Meliapor im 16. Jahrhundert als ein wichtiges Ereignis in der Geschichte ihres Vorstoßes nach Osten.25 Man kann vermuten, dass sich die Figur des heiligen Thomas in besonderem Maße als Bindeglied zwischen Portugal und seinen fernen Kolonialgebieten in Indien eignete. Durch die vorgebliche Auffindung der Gebeine und die Errichtung einer Reliquienstadt in Meliapor gelang es den Portugiesen, die Eroberung durch das Anknüpfen an einen christlichen Gründungsmythos zu legitimieren.26

Die Legende im Spannungsfeld der Konfessionen Trotz der Anwesenheit vieler portugiesischer Geistlicher traten parallel dazu auch Kleriker anderer Herkunft in Indien auf. Wie bereits erwähnt, ließen sich 1642 französische Kapuziner in Madras nieder. Ihre Anwesenheit verursachte Unmut bei den von den Portugiesen beschützten Jesuiten. Schultze berichtet, dass um 1729, zur Zeit des portugiesischen Jesuitenpaters José Pinheiro (1669–1744), Bischof von Meliapor, das Grab des heiligen Thomas erneut geöffnet wurde, um den Zustand der Reliquien festzustellen:

23 Eugene Tisserant: Eastern Christianity in India. A History of the Syro-Malabar Church from the Earliest Time to the Present Day. Bombay u. a. 1957, S. 17. 24 Thomaz / Alves, Da Cruzada ao Quinto Império, S. 129. Vgl. Maria Cristina Osswald: A Coroa Portuguesa e o Culto de S. Tomé Apóstolo. In: Carlos Guardado da Silva (Hg.): História do sagrado e do profano. Lissabon 2008, S. 77–88; José Pereira da Costa: Gaspar Correia e a lenda do Apóstolo S. Tomé. In: Luís de Albuquerque u. a. (Hg.): II Seminário internacional de história indo-portuguesa. Actas. Lissabon 1985, S. 851–868; Luís Filipe Thomaz: A lenda de S. Tomé Apóstolo e a Expansão Portuguesa. In: Lusitania Sacra 3 (1991), S. 349–418. 25 Vgl. hierzu: Ines G. Županov: Une ville reliquaire, Saõ Tomé de Meliapor. La politique et le sacré en Inde portugaise au XVIe siècle. In: Philippe Boutry u. a. (Hg.): Reliques modernes. Cultes et usages chrétiens des corps saints des Réformes aux révolutions. Bd. 2. Paris 2009, S. 705–729. 26 Vgl. Paolo Aranha: From Meliapor to Mylapore, 1662–1749. The Portuguese Presence in São Tomé between the Qutb Shāhī Conquest and Its Incorporation into British Madras. In: Laura Jarnagin (Hg.): Portuguese and Luso-Asian Legacies in Southeast Asia, 1511–2011. Bd. 1: The Making of the Luso-Asian World. Intricacies and Engagement. Singapore 2011, S. 67–82.

Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg

Nun […], als der ietzige Bischoff damahls nemlich angeckommen war, wollte Er doch auch der Sache mehr gewiß werden wegen den heil. Thomas, und ließ in der Kirche zu Meilappur den Grund aufgraben, das Thomas Grab visitiren, um zu sehen, was sie doch finden würden. Sie gruben ziemlich tief in die Erde hinein, funden aber anfangs nichts […]. Daher Sie schlüßig wurden, so tief und lang hinunterzugraben biß Sie etwas fänden […]. Als Sie nun ihren Uhrtheil gemäß, noch immer tiefer graben ließen, siehe! Da war ein Grab Stein, St. Thomas war darauf ausgehauen, und hatte ein Buch unter dem Arm. Was Freude und Vergnügen entstand darüber bey allen herumstehenden Patribus! Allein der hiesige Pater Thomas [de Poitiers], ein Barfüßer seines Ordens und ein Francose von Gebuhrt […] war auch zugegen, dieser observirte also bald daß St. Thomas unter dem Arm ein Buch in quarto hielt […]: zu der Apostelzeiten hat man keine weder in quarto noch octavo gehabt, sondern vor 200 Jahren hat man erst solche Art Bücher erfunden. Als die übrigen dies gehöret, ward ihre Freude über den gefunden Schatz der großen Rarität, sehr gehemmet, Sie sahen nun selbst, daß Sie betrogen wären, ließen also bald das Grab wieder zu schützen und haben kein Wort deswegen damals nehmen wollen.27

Aus der Aussage des Kapuziners Thomas de Poitiers lässt sich ersehen, wie groß die Spannungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche und zwischen verschiedenen ihrer missionarischen Akteure waren. Festzuhalten ist, dass sich die französischen Kapuziner in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts scharf gegen die „Akkomodationsversuche“ der Jesuiten wandten, indem sie die Letzteren bezichtigten, falsche Pastoralmethoden und eine verfälschte Form des Christentums zu praktizieren. Als accomodatio wurde eine von dem zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Südindien tätigen Jesuitenmissionar Roberto de Nobili entwickelte Missionsstrategie bezeichnet, welche die Lehre des Christentums an die lokalen Begriffe und Bräuche anpasste und dafür wiederholt auf heftige Kritik stieß.28 1701 sandte Rom Carlo Tomaso Maillard de Tournon als päpstlichen Legaten nach Indien, um den Vorwürfen nachzugehen. 1744 lehnte Papst Benedikt XIV. den sogenannten Malabarischen Ritus schließlich ab.29 Dass im 18. Jahrhundert der Zustand der römisch-katholischen Mission in Indien kritisch hinterfragt wurde, gab den pietistischen Missionaren Anlass, ihre heftige Kritik gegen die katholische Kirche zu verschärfen. Diese Kritik spitzte sich durch die Hinzuziehung einiger Punkte der traditionellen antikatholischen Propaganda

27 AFSt/M 2 J 7a : 13, Brief von Benjamin Schultze an Theophil Siegfried Bayer (Madras, den 25.10.1737). 28 Peter R. Bachmann: Roberto Nobili 1577–1656. Ein missiongeschichtlicher Beitrag zum christlichen Dialog mit Hinduismus. Rom 1972, S. 106–112. 29 Stephen Neill: A History of Christianity in India. 1707–1858. Cambridge 1985, S. 78. Vgl. Paolo Aranha: Sacramenti o sam . skārāh.? L’illusione dell’accommodatio nella controversia dei riti malabarici. In: Cristianesimo nella storia 31 (2010), S. 621–646.

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weiter zu, in welchen der Katholizismus als die „papistische“ oder „antichristliche“ Kirche dargestellt wurde. Zunächst begegnet uns bei Schultze die Aussage, dass sich die katholischen Missionare mehr um den „Bauch, als vor die Seelen der Menschen“ sorgen und „nichts umsonst thun“. Eng verbunden mit der Frage der Geldgier des Klerus ist die Frage des Priesterzölibats: „Zwey und mehr Kinder zeugen von der Keuschheit eines Rom. Missionarii […]. Der grösste Theil von Ihnen [ist] abgericht zur Fortpflanzung wo nichts des Evangelien dennoch des Menschlichen Geschlechts“.30 Auch in der Argumentation des Protestanten im Dialog von Schultze steht die Rolle des Papstes innerhalb der Kirche im Zentrum der Kritik. So zeichnet dieser im Gespräch nach, dass die Heilige Schrift, deren Lektüre bei den Katholiken nicht erlaubt sei, in ihrer Sinnfülle den Anspruch des Papstes widerlege, Haupt der universellen Kirche zu sein. Erwartungsgemäß ist der Katholik, der am Ende des Gesprächs schlicht als Conversus (als Bekehrter) bezeichnet wird, nach diesem regen Dialog von der Wahrheit der evangelischen Lehre überzeugt und fühlt sich zum Glaubenswechsel animiert. Das Ziel Schultzes war es, mittels der literarischen Strategie des Dialogs, durch die der Autor zudem das Interesse seiner Leser wecken wollte, den Inhalt einer alten Legende zu dekonstruieren. Sowohl die römisch-katholischen als auch die protestantischen Missionare, die überwiegend aus Europa stammten, machten sich die Legende der Kreuzesentdeckung des heiligen Thomas zunutze, auf dessen Tätigkeit in Indien die Thomaschristen ihren Ursprung zurückführen. Sie taten dies nicht nur, um ihre Präsenz in Indien zu legitimieren, sondern auch, um die Schwäche des jeweiligen Konkurrenten aufzuzeigen. Bei ihrer Ankunft in Indien hatten sich die portugiesischen Katholiken das alte Symbol der Christenheit Indiens, welche 1599 bei der Synode von Diamper in die römische Kirche eingegliedert wurde, angeeignet. Im 18. Jahrhundert geriet dieser Umgang mit den Wurzeln des indischen Christentums durch die Instrumentalisierung der Legende seitens der Portugiesen ins Visier der antikatholischen Propaganda, die Schultze entfalten wollte. Obschon Schultze durchaus Interesse an den ostsyrischen christlichen Gemeinden hatte, die tief in der Geschichte Indiens verankert waren und die er nicht als Konkurrenten betrachtete, wird zugleich schnell seine Überzeugung deutlich, dass der evangelische Glaube der einzig wahre war. Da eine zahlenmäßig nicht unbedeutende Menge der Mitglieder der neu gegründeten evangelischen Gemeinde in Madras indo-portugiesischer Abstammung und vom Katholizismus zum Protestantismus übertreten war,31 wollte Schultze durch die scharfe Kritik an der römisch-katholischen Kirche und den angeblichen Wundern, die in Meliapor

30 AFSt/M 2 G 4 : 3; B. Schultze, Das neue Wunder des Kreutzes auff dem St. Thomas-Berg […]. 31 Andreas Gross: Madras and the English-Halle Missionaries. In: Ders. u. a. (Hg.), Halle and the Beginning, Bd. 3, S. 311–344, hier S. 324.

Das Wunder des Kreuzes auf dem St. Thomasberg

am Grab des Thomas geschehen waren, den Glauben der protestantischen Konvertiten festigen. Schultzes Hauptziel war es, die Gefahr zu vermeiden, dass die Neubekehrten zum römischen Katholizismus und damit zur Partei der wichtigsten Konkurrenten zurückkehrten.

Fazit Wo – wie im Madras des 18. Jahrhunderts – so viele unterschiedliche Konfessionen und Religionen aufeinandertrafen, sind Auseinandersetzungen und Konflikte unvermeidlich. An dieser Stelle soll noch einmal hervorgehoben werden, dass im indischen Kontext sowohl die katholischen als auch die evangelischen Missionare ihre jeweiligen konfessionellen Identitäten betonten und beide Seiten diese Identität kampfesmutig zur Schau stellten. Hinzu traten auch Gegensätze und Spaltungen innerhalb des Katholizismus und zwischen den verschiedenen protestantischen Richtungen. So erschwerten beispielsweise die aus Frankreich stammenden romtreuen Kapuziner die Arbeit der Jesuiten, die als indische Mönche getarnt im Landesinneren missionierten und fast als Häretiker angesehen wurden.32 Die Halleschen Pietisten wiederum betrachteten die Herrnhuter als Abweichler und stellten bei den Anglikanern theologische Unzulänglichkeiten fest (etwa wegen des angeblichen religiösen Indifferentismus englischer Akteure).33 Die Konkurrenz war überall präsent und es ging deshalb darum, Strategien zu entwickeln, um sich gegenüber den Rivalen Vorteile zu verschaffen. Die Vereinnahmung der Thomaschristen und ihrer Traditionen war ein Wettbewerbsvorteil für die Katholiken im Hinblick auf die halleschen Missionsbemühungen. Schultzes Schrift stellte den Versuch der Halleschen Pietisten dar, den Katholiken diesen Vorteil zu nehmen.

32 Vgl. Paolo Aranha: „Les meilleures causes embarrassent les juges, si elles manquent de bonnes preuves“. Père Norbert’s Militant Historiography on the Malabar Rites Controversy. In: Thomas Waldig u. a. (Hg.): Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin / Boston 2012, S. 239–270. 33 Vgl. Thomas Ruhland: The Moravian Brethren and the Danish-Halle Mission in Tranquebar. In: Gross u. a. (Hg.), Halle and the Beginning, Bd. 2, S. 743–766, hier S. 747; Ders.: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südindienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Hallesche Mission (1755–1802). Herrnhut 2018; Daniel O’Connor: The Church of England and the Mission in India. In: Gross u. a. (Hg.), Halle and the Beginning, Bd. 1, S. 129–138; Ders.: Lutherans and Anglicans in South India. In: Gross u. a. (Hg.), Halle and the Beginning, Bd. 2, S. 767–782.

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Sektion 5: Dynamiken der Gesandtenpolitik zwischen Konsens und Konkurrenz

Stefanie Freyer

Einleitung

Das grundlegende Prinzip frühneuzeitlicher Reichsversammlungen lässt sich treffend mit dem disparaten Bedeutungsspektrum des lateinischen Begriffs concurrere erfassen: Die Glieder des Reichs kamen zusammen, stritten, rivalisierten, diskutierten, verhandelten und fanden am Ende idealerweise zu einem gemeinsamen Einvernehmen. Konkurrenz, verstanden als Kampf um knappe Güter, und Konsens im Sinne von einigender Übereinstimmung gingen hier Hand in Hand eine Art „Komplementärverhältnis“1 ein. Der Reichstag diente als Forum des Aushandelns und Ausgleichs und konnte daher nicht nur Gesetze und Steuern beschließen, sondern zum Beispiel auch Konflikte um knappe Ressourcen klären.2 Da die Reichsstände als Dritte darüber entschieden, welche Lösungen für das Reich tragbar waren, entfalteten friedlich ausgetragene Konkurrenzen auf Reichsversammlungen eine nicht unerhebliche integrative, „vergesellschaftende“ Wirkung.3 Der Reichstag musste dazu Konkurrenzen nicht zwangsläufig entscheiden; er konnte sie auch einhegen, indem er sie dauerhaft in der Schwebe hielt und ritualisierte.4 Dafür war es allerdings nötig, dass alle die grundlegenden Regeln, das Verfahren sowie entsprechende sozial und kulturell kodierte Handlungsmodi akzeptierten.5 War dies – wie beispielsweise bei den Reichstagen 1608 und 1613 – nicht (mehr) der Fall, konnten Streitigkeiten nicht austariert und der Reichsabschied kaum noch erreicht

1 Karl-Joachim Hölkeskamp: Konsens und Konkurrenz. Die politische Kultur der römischen Republik in neuer Sicht. In: Klio 88/2 (2006), S. 360–396, Zitat S. 377. 2 Vgl. z. B. Georg Schmidt: „Aushandeln“ oder „Anordnen“. Der komplementäre Reichs-Staat und seine Gesetze im 16. Jahrhundert. In: Maximilian Lanzinner / Arno Strohmeyer (Hg.): Der Reichstag, 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten. Göttingen 2006, S. 95–116. 3 Zur integrativen Wirkung vgl. Hölkeskamp, Konsens und Konkurrenz, S. 34 f.; Ders.: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven historischer Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenzen in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014, S. 33–57. Darauf aufbauend Dorothée Goetze u. a.: Der Immerwährende Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen. In: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 331–341. 4 Vgl. z. B. Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags. In: Johannes Kunisch (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Berlin 1997, S. 91–132. 5 Hölkeskamp, Sozialer Handlungsmodus, S. 41 f.

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Stefanie Freyer

werden.6 Konkurrenzen galt es in einem geregelten Verfahren einer Eskalation zu entziehen, da sie letztlich nur so lange produktiv und integrierend wirkten, wie Kaiser und Reichsstände fähig waren, (Partikular-)Interessen im Konsens aufgehen zu lassen und gemeinsam Reichspolitik zu betreiben. Bemerkenswert ist, dass sich die Reichsstände schon vor der immerwährenden Verstetigung des Reichstages,7 besonders in Konfliktzeiten, zunehmend nicht mehr in persona versammelten, sondern Vertreter entsandten.8 Die Gründe dafür waren ebenso divers wie die Rollen und Interessen, für die es einzutreten galt. Allerdings provozierte es Streit, wenn nicht diejenigen persönlich erschienen, die aus eigenem Recht die Reichspolitik mit aushandelten. Im Gegensatz zu Gesandten ausländischer Herrscher wurden reichsständische Bevollmächtigte nicht ohne Weiteres als „Stellvertreter im vollen Sinne“ anerkannt. Konkret wurde bezweifelt, dass die Entsender auf das vom Vertreter abgegebene Votum (selbst-)verpflichtend festgelegt werden können, und ob und inwieweit gerade ständisch unebenbürtige Vertreter von Fürsten tatsächlich in jeder Hinsicht wie ihre Dienstherren zu behandeln seien.9 Auf dem Westfälischen Friedenskongress gipfelte die Praxis der Stellvertretung dennoch in einer beinahe reinen Gesandtenversammlung, die trotz internationaler Teilnehmer und Verhandlungsgegenstände in mancher Hinsicht einem „Quasi-Reichstag“ entsprach.10 Das wirft die Fragen auf, welche (Ver-)Hand-

6 Vgl. z. B. Harriet Rudolph: Auf dem Weg zum Religionskrieg? (Un-)Kulturen des Konfliktaustrags auf den Regensburger Reichstagen vor dem Dreißigjährigen Krieg (1594–1613). In: Dies. (Hg.): Die Reichsstadt Regensburg und die Reformation im Heiligen Römischen Reich. Regensburg 2018, S. 71–98; Grundlegend Moriz Ritter: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreissigjährigen Krieges (1555–1648). 2. Bd. (1586–1618). Darmstadt 2 1962, bes. S. 376–386. 7 Zum immerwährenden Reichstag vgl. z. B. Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Stadt, Reich, Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg, 1663–1806. Regensburg 2015; Michael Rohrschneider: Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zur Klientelpolitik und Parteibildung (1745–1763). Göttingen 2014; Michael Rohrschneider (Hg.): Der Immerwährende Reichstag im 18. Jahrhundert. Bilanz, Neuansätze und Perspektiven der Forschung. zeitenblicke, Themenheft 11/2 (2012). URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/2 (03.03.2021); Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007. 8 Selbst wenn (Kur-)Fürsten vor Ort waren, ließen sie sich oft bei Verhandlungen vertreten. Vgl. Maximilian Lanzinner: Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486–1654. In: Friedrich Battenberg (Hg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Köln u. a. 2010, S. 351–384, bes. S. 359–362. 9 Vgl. z. B. Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 50–54, Zitat S. 52. 10 Anton Schindling: Der Westfälische Frieden. Europäischer Frieden und Staatsgrundgesetz des Alten Reiches. In: Osnabrücker Jahrbuch 11 (1995), S. 291–297, Zitat S. 291. Ebenso Konrad Repgen: Die Westfälischen Friedensverhandlungen. Überblick und Hauptprobleme. In: Klaus Bußmann / Heinz Schilling (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textbd. 1. Münster 1998, S. 355–372, Zitat S. 357.

Einleitung

lungsspielräume das Entsenden von Vertretern eröffnete oder verstellte, welche Rolle Vertreter bzw. Gesandte speziell im Streit um knappe Güter spielten und in welcher Art und Weise durch sie das Ringen um den Konsens auf den periodischen Reichsversammlungen dynamisiert wurde. Welche Konkurrenzen konnten Vertreter entschärfen, welche wurden durch sie verstärkt und welche taten sich durch ihren Einsatz neu auf? Zudem interessiert, um welche Güter mit welchen Mitteln und Methoden konkurriert wurde, und wie die Herausgeforderten und Dritten darauf reagierten, wie sie Konflikte (de-)eskalierten, Angriffe erfolgreich abwehrten und unter welchen Bedingungen sie sich geschlagen geben mussten. Die Beiträge dieser Sektion bieten eine exemplarische Annäherung, indem sie fokussiert auf die konfliktreiche erste Hälfte des 17. Jahrhunderts das Phänomen der Konkurrenz für drei unterschiedliche Spielarten der Repräsentanz akteurszentriert untersuchen: (a) die reichsständische Vertretung von Regenten in absentia, (b) die vormundschaftliche Vertretung minderjähriger Fürsten sowie (c) die diplomatische Vertretung eines ausländischen Herrschers, der freilich weder Sitz noch Stimme am Reichstag hatte, vor Ort aber als Protektor, Lobbyist, Berater, Vermittler oder Berichterstatter wirken konnte. Im Mittelpunkt stehen die Reichstage von 1608 und 1613 sowie der Westfälische Friedenskongress. Das Ringen um das Gegen- und Miteinander wurde dort in ganz eigener Weise durch Gesandte dynamisiert, auch und insbesondere auf dem Friedenskongress, wo die internationale Dimension zunächst für ein Mehr an Konkurrenzen sorgte, zugleich aber auch neue Handlungsoptionen eröffnete. Grundsätzlich sind Vertreter auf periodischen Reichsversammlungen erst in Ansätzen erforscht. Deren Sozialtypologie, Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata gelten ebenso wie ihre Wirkung und Rezeption als Desiderat.11 Gesandte des Westfälischen Friedenskongresses und Vertreter auswärtiger Mächte auf periodischen Reichstagen ziehen allerdings zunehmend das Interesse auf sich.12

11 Grundlegend mit Hinweisen auf bestehende Studien vgl. Maximilian Lanzinner: Arbeitsfelder und Forschungsfragen zum Immerwährenden Reichstag. In: zeitenblicke 11/2 (2013). URL: http://www. zeitenblicke.de/2012/2/Lanzinner/index_html (15.09.2020); Ders.: Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486–1654. In: Battenberg, Reichskammergericht, S. 351–384; Ders.: Fürsten und Gesandte als politische Akteure beim Reichstag 1566. In: Bernhard Löffler / Karsten Ruppert (Hg.): Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Festschrift für Winfried Becker zum 65. Geburtstag. Köln u. a. 2006, S. 55–82. 12 Vgl. z. B. Christoph Nonnast: Mindermächtiger Fürstenstaat und große Politik. Sachsen-Altenburg auf dem Westfälischen Friedenskongress. Masch.-Diss. Jena 2017; Tina Braun: Der welfische Gesandte Jakob Lampadius auf dem Westfälischen Friedenskongress (1644–1649). Bonn 2015, URL: https:// bonndoc.ulb.uni-bonn.de/xmlui/handle/20.500.11811/6360 (11.02.2022); Guido Braun (Hg.): Diplomatische Wissenskulturen der Frühen Neuzeit. Erfahrungsräume und Orte der Wissensproduktion. Berlin u. a. 2018; Ders.: Imagines imperii. Die Wahrnehmung des Reiches und der Deutschen durch die römische Kurie im Reformationsjahrhundert (1523–1585). Münster 2014.

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Entsprechend aufschlussreich sind sodann auch die Erkenntnisse der neuen Diplomatiegeschichte, die das Verhältnis zwischen Vertretern und Entsendern sowie die dabei zum Tragen kommende, häufig konfliktbehaftete individuelle Rollenvielfalt beider Seiten in den Blick rücken. Das Auseinanderdividieren von Obrigkeit und Gesandten zeigt, dass Vertreter unterschiedlich stark an die Politik ihrer Dienstherren gebunden waren und ihr personales Verhältnis durchaus von Interessen-, Normen- und Ideenkonkurrenzen geprägt sein konnte.13 Instruktionen, Memoriale oder auch die regelmäßige Berichterstattung an den Regenten und (vormundschaftliche) Regentinnen ad absentia sollten zwar das Agieren der Vertreter steuern, begrenzen und kontrollieren. Dennoch resultierten nicht zuletzt aus den „schwerfälligen und zeitaufwendigen Kommunikation- und Reisewegen der Zeit“ Spielräume hinsichtlich der Entscheidungsfindung, Kommunikation, Wissenszirkulation, Informationsverwaltung und (zeremoniellen) Wahrnehmung.14 Die Gefahr von Rollenkonkurrenzen potenzierte sich, je mehr Rollen der Auftraggeber selbst innehatte,15 aber auch je mehr Dienstherren ein Vertreter gleichzeitig verpflichtet war und insbesondere, wenn er dazu noch diverse eigene Interessen vertreten wollte – so wie dies bei Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg der Fall war, den Volker Arnke in seinem Beitrag untersucht. Dissonanzen zwischen Fürsten und Vertretern konnten aber auch genutzt werden, wenn es darum ging, Konkurrenten abzuwehren. Stefanie Freyer zeigt, dass dies Kaiser Matthias I. zumindest versuchte, als er den englischen Gesandten bei Jakob I. diskreditierte, um ihn aus dem Reich zu drängen und seine kaiserlichen Entscheidungsbefugnisse zu schützen. Dass aber nicht alle Vertreter eine Konkurrenz eröffnen konnten und nicht jede Konkurrenz angenommen und ausgefochten werden musste, belegt das von Marcus Stiebing vorgestellte Beispiel Maria Dorotheas von Sachsen-Weimar. Ihr Ringen um die

13 Vgl. z. B. Florian Kühnel: Chamäleon oder Chimäre? Rollen und Intersektionen des frühneuzeitlichen Gesandten. In: Saeculum 68 (2018), S. 161–190; Hillard von Thiessen: Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit. In: Niels Grüne / Simona Slanička (Hg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 205–220; Ders.: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive. Epfendorf 2010; Heinz Schilling: Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660. Paderborn u. a. 2007, bes. S. 136 f. et passim; Matthias Köhler: Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen. Köln u. a. 2011, S. 159–297; Christian Wieland: Diplomaten als Spiegel ihrer Herren? Römische und florentinische Diplomatie zu Beginn des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 358–379. 14 Vgl. Schilling, Konfessionalisierung, Zitat S. 135; Lanzinner, Juristen, S. 373 f.; Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte, S. 51–53. 15 Vgl. z. B. Lena Oetzel: Zwischen Dynastie und Reich. Rollen- und Interessenkonflikte Ferdinands III. während der Westfälischen Friedensverhandlungen. In: Katrin Keller / Martin Scheutz (Hg.): Die Habsburger Monarchie und der Dreißigjährige Krieg. Köln u. a. 2020, S. 161–176.

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innerdynastische Präzedenz ihres Sohnes lief auf dem Reichstag 1608 ins Leere, da weder die übrigen Reichsstände noch der Kaiser reagierten.

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Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten Die katholischen Reichsstände in der Endphase des Westfälischen Friedenskongresses Standen bei der Erforschung des Westfälischen Friedenskongresses (1643–1649) lange vor allem die beteiligten Großmächte – der Kaiser, Frankreich und Schweden – im Vordergrund, nimmt seit einigen Jahren das Interesse an der Rolle der Reichsstände zu. Dies zeigt sich unter anderem an jüngst abgeschlossenen Dissertationen zu Jakob Lampadius (1593–1649), Gesandter des Hauses Braunschweig-Lüneburg, zur Gesandtschaft Sachsen-Altenburgs und zu den sogenannten katholischen Maximalisten, die sich um Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg (1593–1661) gruppierten.1 Zudem arbeitet die Forschung derzeit immer klarer heraus, dass die Reichsstände für das Zustandekommen des Friedens von besonderer Relevanz waren. So wird mittlerweile davon ausgegangen, dass die Reichsstände die Verhandlungsführung im Jahr 1648 in die Hand nahmen und auf diese Weise einen entscheidenden Faktor für den Abschluss des Westfälischen Friedens darstellten.2

1 Tina Braun: Der welfische Gesandte Jakob Lampadius auf dem Westfälischen Friedenskongress (1644–1649). Masch.-Diss. Bonn 2015. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5-41046 (16.08.2020); Christoph Nonnast: Mindermächtiger Fürstenstaat und große Politik. Sachsen-Altenburg auf dem Westfälischen Friedenskongress. Unveröff. Diss. Jena 2017; Heinz A. Hartke: Franz Wilhelm von Wartenberg und die katholischen Maximalisten bei den Westfälischen Friedensverhandlungen. Masch. Diss. Bonn 2019. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:5-55148 (16.08.2020). Zuvor ist bereits die Politik Hessen-Kassels auf dem Westfälischen Friedenskongress in den Blick genommen worden: Kerstin Weiand: Hessen-Kassel und die Reichsverfassung. Ziele und Prioritäten landgräflicher Politik im Dreißigjährigen Krieg. Marburg 2009. Vgl. zu den Reichsständen auf dem Westfälischen Friedenskongress demnächst auch Alexander Gerber: „Viel ungereimbtes dings“? Argumentationsstrategien reichsständischer Gesandter auf dem Westfälischen Friedenskongress im Vergleich. In: Volker Arnke / Siegrid Westphal (Hg.): Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. Berlin / Boston 2021. 2 Hervorgehoben wird in diesem Kontext vor allem die Bedeutung der sogenannten Dritten Partei der Reichsstände, die dazu beitrug, die letzten großen Probleme des Kongresses zu lösen. Mit dem Begriff „Dritte Partei“ bezeichnet die Forschung eine überkonfessionelle und in vielerlei Hinsicht kompromissbereite Gruppierung reichsständischer Gesandtschaften, die in der Endphase des Friedenskongresses im Jahr 1648 besonders aktiv war und die Verhandlungen in den letzten offenen Streitpunkten bestimmte. Vgl. hierzu demnächst Volker Arnke: Zwischen Vermittlung, Reichs- und Eigeninteressen. Zur Rolle und zum Selbstverständnis der „Dritten Partei“ des Westfälischen Friedenskongresses. In: Ders. / Westphal, Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden sowie zahlreiche weitere Beiträge desselben Sammelbandes; Ders.: Die Dritte Partei des Westfälischen Friedenskon-

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Von besonderer Bedeutung für den Durchbruch zum Frieden waren aufgrund ihrer Nähe zum Kaiser die katholischen Reichsstände. Unter diesen zeigten sich die katholischen Maximalisten, die die Mehrheit der katholischen Reichsstände stellten, lange Zeit als tonangebend. Ihre Friedensstrategie hatte „die Stärkung des Katholizismus im Reich und die Verteidigung der katholischen Interessen“ zum Ziel.3 Ihre Haltung zeichnete sich durch Unnachgiebigkeit aus. Ein Zugehen auf die protestantischen Reichsstände lehnten sie ab. Dominierend in dieser Gruppe waren Franz Wilhelm von Wartenberg, Johann Leuchselring (1585–1659) und Adam Adami (1610–1663), die zusammen auch als „Triumvirn“ bezeichnet wurden. Insbesondere Wartenberg galt als einflussreicher Akteur. Als Fürstbischof von Osnabrück, Minden und Verden führte er die diesbezüglichen Stimmen persönlich, zugleich aber auch die Voten zahlreicher Reichsstände stellvertretend, darunter die gewichtige Stimme des Kurfürstentums Köln. Auf diese Weise vereinte Wartenberg zeitweise die Voten von 16 katholischen Reichsständen4 und befand sich damit in einer erheblichen Rollenpluralität als sich selbst repräsentierender Fürst und Stellvertreter zahlreicher Reichsstände.5 In der Endphase des Kongresses traten die Gesandtschaften von Kurmainz und Kurbayern in Konkurrenz zu den Maximalisten. Beide Reichsstände verfügten über einflussreiche Positionen. So hatte der Kurfürst von Mainz das Amt des Reichserzkanzlers inne, mit dem das Reichstagsdirektorium und die Sitzungsleitung auf dem Westfälischen Friedenskongress verbunden waren. Kurbayern hingegen war unter den Reichsständen der potenteste militärische Bündnispartner des Kaisers. Aufgrund ihres großen Einflusses werden diese beiden Reichsstände zu den sogenannten Prinzipalisten, den mächtigeren unter den katholischen Reichsständen, gresses und die Frage, wie der Frieden möglich wurde – ein Forschungsdesiderat. In: Stefanie Freyer / Siegrid Westphal (Hg.): Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie. Berlin / Boston 2020, S. 165–186; Siegrid Westphal: Der Westfälische Frieden. München 2015, S. 8, 46 f., 64 f., 88 f. u. 93–97. 3 Hartke, Wartenberg, S. 389. 4 Wartenberg war Fürstbischof von Osnabrück, Minden und Verden und vertrat Kurköln, die Stifter Eichstätt, Augsburg, Chur, Lüttich, Hildesheim, Paderborn, Münster und Regensburg (in Letzterem war er zugleich Koadjutor), die Fürstabtei Stablo-Malmedy sowie die Fürstpropsteien Berchtesgaden und Ellwangen. Bis November 1646 führte er auch das Votum der Landgrafen von Leuchtenberg. Vgl. Hartke, Wartenberg, S. 172. 5 Vgl. Volker Arnke: Akteur*innen der Friedensstiftung und -wahrung. In: Irene Dingel u. a. (Hg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit – Handbook of Peace in Early Modern Europe. Berlin / Boston 2021, S. 511–527, bes. S. 519–523; Lena Oetzel: Zwischen Dynastie und Reich. Rollen- und Interessenkonflikte Ferdinands III. während der Westfälischen Friedensverhandlungen. In: Katrin Keller / Martin Scheutz (Hg.): Die Habsburgermonarchie und der Dreißigjährige Krieg. Wien 2020, S. 161–176. Zur Rollenvielfalt von Gesandten und den damit z. T. verbundenen Konflikten demnächst Dorothée Goetze: Frieden um (fast) jeden Preis. Die Politik Ferdinands III. (1608–1657) in der Schlussphase des Westfälischen Friedenskongresses zwischen Rollenkonkurrenz, Prinzipientreue und dogmatischem Pragmatismus. In: Arnke / Westphal, Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden.

Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten

gezählt. Sie verfolgten eine kompromissorientierte Friedensstrategie, die auf Verhandlungsbereitschaft und Kooperation mit den protestantischen Reichsständen setzte. Damit konkurrierten die zwei katholischen Gruppen der Maximalisten und Prinzipalisten6 miteinander um den einzuschlagenden Weg zum Frieden; sie verfolgten zwei grundverschiedene Strategien: Maximalforderungen versus Kompromissbereitschaft. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die beschriebene Konkurrenz unter den katholischen Ständen konkret darstellte, entwickelte und auf den Friedensschluss auswirkte. Bei der Beantwortung ist die Positionierung der Gesandten von besonderem Interesse. Handelten sie stets im Sinne ihrer Dienstherren? Befanden sie sich in einer Rollenvielfalt, die ihr Handeln vereinfachte, verkomplizierte oder sogar zum Scheitern brachte? Wirkten sich derlei Rollenvielfalten wiederum auf die Konkurrenz der zwei katholischen Friedensstrategien aus?

Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalt Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen stellen die Ablehnung des Friedensvertragsentwurfs (Trauttmansdorffianum) des kaiserlichen Gesandtschaftsführers Maximilian Graf von Trauttmansdorff (1584–1650)7 sowie dessen Abreise vom Kongress im Sommer 1647 dar. Beides gilt als wesentlicher Einschnitt in das Kongressgeschehen, der den Beginn einer gewissen Krisen- bzw. Stillstandsphase der Verhandlungen markiert.8 Trauttmansdorff selbst machte neben den auswärtigen Kronen Frankreich und Schweden unter den Reichsständen insbesondere die katholischen Maximalisten für das Scheitern seines Friedensentwurfes verantwortlich. Namentlich in Franz Wilhelm von Wartenberg, dem führenden Vertreter der Gruppe, sah Trauttmansdorff den „Kopf des Widerstandes“ gegen sein Trauttmansdorffianum.9 Und tatsächlich trat Wartenberg als einer der Initiatoren eines Gutachtens vom Oktober 1647

6 Zu den Begriffen „Prinzipalisten“ und „Maximalisten“ vgl. Konrad Repgen: Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit. In: Ders.: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. v. Franz Bosbach / Christoph Kampmann. Paderborn ³2015, S. 968–1009, hier S. 986 f.; Ders.: Fabio Chigi und die theologische Verurteilung des Westfälischen Friedens. Ein Zirkulare aus dem Jahre 1649. In: Ders., Dreißigjähriger Krieg, S. 789–812, hier S. 792. 7 Zu Trauttmansdorff vgl. Konrad Repgen: Maximilian Graf Trauttmansdorff. Chefunterhändler des Kaisers beim Prager Frieden und beim Westfälischen Frieden. In: Guido Braun / Arno Strohmeyer (Hg.): Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Münster 2013, S. 210–228. 8 Vgl. Christoph Kampmann: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart 2008, S. 162–164. 9 Vgl. Hartke, Wartenberg, S. 289–298, Zitat S. 402.

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in Erscheinung, das dem Friedensvertragsentwurf die Legitimität absprach und wesentlich dazu beitrug, dass dieser nicht in einen gültigen Vertrag umgewandelt wurde. Damit wird deutlich, dass die katholischen Maximalisten das Ziel verfolgten, den Krieg so lange fortzusetzen, bis der von ihnen als „Häresie“ bezeichnete Entwurf des kaiserlichen Gesandtschaftsführers Trauttmansdorff nach streng katholischer Lesart nachgebessert werden würde. Unterstützung erhielten die Maximalisten dabei vom päpstlichen Nuntius Fabio Chigi (1599–1667), dem späteren Papst Alexander VII.10 Im Sommer 1647 stellten die Maximalisten das dominierende Element und Sprachrohr der katholischen Reichsstände dar. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass die Triumvirn, Wartenberg, Adami und Leuchselring, zahlreiche Stimmen katholischer Reichsstände auf sich vereinten.11 Selbst wenn diese hohe Stimmenkonzentration der Triumvirn allein noch nicht die Mehrheit der katholischen Reichsstände repräsentierte, gelang es ihnen doch, die politische Haltung der katholischen Reichsstände insgesamt zu dominieren. Auf dem Höhepunkt ihres Einflusses im Sommer 1647 verstanden sie es, zahlreiche weitere katholische Gesandte hinter sich zu bringen, die ihre intransigente Friedensstrategie mitverfolgten. Diese orientierte sich streng an Vorgaben des kanonischen Rechts und päpstlichen Forderungen.12 Um die folgenden Entwicklungen nachvollziehen zu können, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Franz Wilhelm von Wartenberg auf dem Westfälischen Friedenskongress eine Ausnahmeerscheinung darstellte. Im Gegensatz zu der überwiegenden Zahl der Akteure, die als Gesandte agierten, war er Reichsfürst und Gesandter in einer Person. Als Fürstbischof von Osnabrück, Minden und Verden vertrat er die diesbezüglichen Interessen persönlich, führte zugleich aber als Stellvertreter Voten anderer katholischer Reichsstände.13 Dadurch kumulierte er nicht nur Einfluss, mit dem er die Gruppe der katholischen Maximalisten bedeutend stärkte, sondern

10 Vgl. Ebd., S. 401–404. Fabio Chigi agierte zuvorderst als neutraler Mediator auf dem Kongress. Seine Unterstützung für die Triumvirn erfolgte daher unterschwellig. 11 Vgl. hierzu Hartke, Wartenberg, S. 92–96, 100–102, 172, 176 f. und 391 f. 12 Zeitgenössische theologische Abhandlungen des Dillinger Jesuiten Heinrich Wangnereck sind Ausdruck und Bestätigung dieses kompromissunwilligen Kurses der katholischen Maximalisten. Dreh- und Angelpunkt war das Reichsreligionsrecht, das im Friedensvertragsentwurf (Trauttmansdorffianum) Zugeständnisse an die Protestanten umfasste, die nach Auffassung der katholischen Maximalisten gegen das katholische Kirchenrecht verstießen. Heinrich Wangnereck: Iudicium theologicum super quaestione, an pax, qualem desiderant Protestantes sit secundum se illitica? o. O. 1646. Zu dieser und einer weiteren, offenbar nicht publizierten Schrift („Ponderatio“), die eine unmittelbare Reaktion auf das Trauttmansdorffianum vom Sommer 1647 darstellte, sowie zur Haltung der Intransigenten vgl. Hartke, Wartenberg, S. 298–314; Konrad Repgen: Die katholische Kirche und der Westfälische Friede. In: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, S. 501–527; Fritz Dickmann: Der Westfälische Frieden. Münster 7 1998 [1959], S. 413 f. 13 Vgl. Anm. 4 des vorliegenden Beitrags sowie Hartke, Wartenberg, S. 172.

Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten

befand sich zugleich in einer ausgeprägten Rollenpluralität. Zweifellos konnte er die Voten seiner eigenen Fürstbistümer als Fundament seiner Politik nutzen. Die ihm angetragenen Vertretungen waren aber mitunter mit Interessen verbunden, die Wartenbergs eigener Haltung weniger entsprachen. In jedem Fall hatte er aufgrund der Votenhäufung zahlreiche unterschiedliche Positionen zu berücksichtigen.14 Zum Problem wurde dies insbesondere bezüglich der miteinander konkurrierenden Friedensstrategien unter den katholischen Reichsständen, die sich seit Spätsommer 1647 abzeichneten. Zu diesem Zeitpunkt formierte sich innerhalb des Corpus Catholicorum zunehmend Widerstand gegen die intransigente Haltung der Triumvirn. Insbesondere die Gesandtschaft Kurbayerns strebte im Auftrag ihres Dienstherrn Maximilian I. von Bayern (1573–1651) zusammen mit weiteren kompromissbereiten katholischen Ständen15 zunehmend danach, einen Kompromissfrieden mit den Protestanten auszuhandeln. Eine wichtige Ursache hierfür war die akute militärische Bedrohung der bayerischen Stammlande. Aufgrund seines zeitweiligen Militärbündnisses mit Kaiser Ferdinand III. (1608–1657) besaß Bayern einen besonders großen Einfluss auf den Kriegsverlauf und die changierenden Machtverhältnisse.16 Die Kontaktsuche der bayerischen Gesandten mit Vertretern der protestantischen Reichsstände führte letztlich zu einer Kooperation,17 die das katholische Bayern deutlicher als zuvor in eine unmittelbare Konkurrenz zu den katholischen Maximalisten treten ließ, die einen Kompromissfrieden, der protestantischen Forderungen entgegenkam, auch in der Endphase des Kongresses noch strikt ablehnten. Der endgültige Bruch der bayerischen Gesandtschaft mit Franz Wilhelm von Wartenberg lässt sich auf ein konkretes Datum terminieren, den 29. August 1647, als die bayerische Gesandtschaft vergeblich versuchte, Wartenberg von seinem intransigenten Kurs abzubringen.18

14 Wie divers Wartenberg beispielsweise seine Ablehnung des Trauttmansdorffianums entsprechend der verschiedenen Vorgaben der katholischen Reichsstände, die er vertrat, ausdrücken musste, beschreibt Hartke, Wartenberg, S. 305 f. 15 Diese Gruppe – bisweilen auch als „katholische Friedenspartei“ bezeichnet – umfasste laut Heinz Adrian Hartke zu diesem Zeitpunkt Bayern, Österreich, Freising, Salzburg und die fränkischen Bischöfe. Vgl. Hartke, Wartenberg, S. 300, Anm. 2107. 16 Vgl. Dorothée Goetze: Kaiserliche und bayerische Bündnispraxis in der Endphase des Westfälischen Friedenskongresses. In: Braun / Strohmeyer, Frieden und Friedenssicherung, S. 259–290. Zur Zeit vor dem Ulmer Waffenstillstand von März 1647 vgl. Gerhard Immler: Kurfürst Maximilian I. und der Westfälische Friedenskongreß. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand. Münster 1992. 17 Vgl. zur Rolle Bayerns in der Endphase des Westfälischen Friedenskongresses auch Arnke, Die Dritte Partei, S. 179–182; Goetze, Bündnispraxis. 18 Vgl. Hartke, Wartenberg, S. 307 f.

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In der Folge strebte Maximilian I. von Bayern danach, Wartenbergs Einfluss zu schmälern. Zwar gelang es ihm nicht, dafür zu sorgen, dass sein Bruder, der Kölner Kurfürst Ferdinand von Bayern (1577–1650), Franz Wilhelm von Wartenberg das Kurkölner Votum offiziell entzog. Doch wurde offenbar aufgrund von Maximilians Drängen die Kurkölner Stimme seit November 1647 nicht mehr uneingeschränkt von Wartenberg geführt. Stattdessen wurde der Kurkölner Sekundargesandte Peter Buschmann (ca. 1604–1673) im Februar 1648 mit einer Geheiminstruktion ausgestattet, welche ihn stärker an den kompromissbereiten Kurs der Prinzipalisten heranführte.19 Das Kurkölner Votum wurde auf diese Weise dem Einfluss der Triumvirn entzogen. Anhand dieser Entwicklung wird deutlich, dass die Rollenvielfalt Wartenbergs zu Konflikten führte. Zunächst konnte der Fürstbischof aufgrund seiner Stimmenfülle das katholische Lager mit seiner unnachgiebigen Haltung dominieren. Das änderte sich jedoch in der Endphase des Kongresses, als Bayern immer stärker auf einen Ausgleich mit den Protestanten drängte. Innerhalb Wartenbergs Rollenvielfalt brach eine grundlegende Interessenkollision auf, ausgelöst vom Umschwung seines Kölner Dienstherrn Ferdinand von Bayern. Die intransigente Haltung Wartenbergs stand im Widerspruch zu der nunmehr passiven Haltung Kölns, die Kurfürst Ferdinand auf Drängen seines Bruders Maximilian I. eingenommen hatte. Schließlich sollte eine weitere Positionsverschiebung innerhalb des Lagers der katholischen Reichsstände dazu führen, dass sich die Erfolgsaussichten der Friedensstrategie der kompromissbereiten Akteure, der Prinzipalisten, wesentlich verbesserten. Es handelt sich dabei um die Nachfolge im Kurfürstentum Mainz, also den Übergang des Mainzer Erzstuhls auf Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) im November 1647. Schönborn war bereits als Würzburger Fürstbischof als kompromissbereiter Akteur aufgefallen. Als Mainzer Kurfürst erhielt er nun allerdings ungleich größeren Einfluss, weil das Kurfürstentum Mainz über eine Schlüsselfunktion in Form des Amtes des Reichserzkanzlers verfügte. Mit diesem Amt konnte Schönborn als „zweite[r] Mann[…] im alten Reich“20 auf die Verhandlungsführung Einfluss nehmen, indem er das Reichsdirektorium führte und etwa Tagesordnungspunkte vorgab. Auch in Folge des Herrschaftswechsels in Kurmainz kam es zu Reibungspunkten hinsichtlich der Rolle eines Gesandten. So hatte der Kurmainzer Kanzler Nikolaus Georg Reigersberger (ca. 1592–1652) bereits unter Schönborns Vorgänger Anselm

19 Hartke, Wartenberg, S. 316 f.; Dieter Albrecht: Maximilian I. von Bayern 1573–1651. München 1998, S. 1045 f.; Joachim F. Foerster (Bearb.): Acta Pacis Westphalicae. Serie 3 Abteilung C: Diarien, Bd. 3: Diarium Wartenberg, T. 1: 1644–1646. Münster 1987, S. XLVI. 20 Peter C. Hartmann (Hg.): Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im alten Reich. Stuttgart 1997, Zitat aus dem Titel entnommen.

Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten

Casimir Wambolt von Umstadt (1579–1647) gedient und dessen an den Maximalisten orientierte Politik auf dem Friedenskongress vertreten. Nach dem Herrschaftswechsel befand sich Reigersberger nun in einem Loyalitätskonflikt und trug die auf einen Ausgleich mit den Protestanten ausgerichtete Politik seines neuen Dienstherrn Schönborn nur widerwillig mit. Bisweilen gab er geheime Informationen über die Verhandlungen der kompromissbereiten Stände an die kaiserlichen Gesandten weiter. Seine persönliche Verpflichtung gegenüber den Habsburgern dürfte auch auf eine private Pension zurückzuführen sein, die ihm der spanische König aufgrund seiner Verdienste und der Fürsprache Kaiser Ferdinands III. gewährt hatte.21 Am Beispiel Reigersbergers zeigt sich der Rollenkonflikt eines Stellvertreters, der zum einen aufgrund der persönlichen Verbundenheit zur Politik seines vormaligen Dienstherrn und zum anderen wegen seines Patron-Klient-Verhältnisses im Widerspruch zur neuen, kompromissorientierten Politik des aktuellen Mainzer Kurfürsten Schönborn stand. Damit verschärfte Reigersberger in gewisser Weise die Konkurrenzsituation zwischen den katholischen Maximalisten und den Prinzipalisten. Letztlich stellten derlei Konflikte zwischen Dienstherr und Stellvertreter bei den beiden einflussreichsten kompromissbereiten katholischen Reichsständen Kurbayern und Kurmainz aber eher die Ausnahme dar. Grundsätzlich lässt sich ein reger Austausch zwischen den Gesandten und ihren jeweiligen Dienstherren beobachten, der Maximilian I. von Bayern und Johann Philipp von Mainz an den Geschehnissen vor Ort teilhaben ließ. Das heißt, ihre Gesandten – für Bayern etwa Georg Christoph von Haslang (1602–1684) und Johann Adolf Krebs (1624–1670) sowie für Mainz bzw. Würzburg Sebastian Wilhelm Meel (ca. 1597–1666) und Johann Philipp von Vorburg (1596–1660) – waren eng an die beiden Fürsten rückgebunden, was sich anhand der Korrespondenz zwischen den Gesandten und ihren Dienstherren sowie derjenigen, die die Fürsten untereinander führten, zeigen lässt.22 Neben den zwei beschriebenen Machtverschiebungen im Lager der katholischen Reichsstände führte noch eine weitere Entwicklung dazu, dass sich die Position der katholischen Maximalisten abschwächte und jene der kompromissbereiten katholischen Prinzipalisten verbesserte. In der Hoffnung, die kaiserlichen Gesandten dem Einfluss der Schweden und der protestantischen Reichsstände in Osnabrück

21 Vgl. Maria-Elisabeth Brunert (Bearb.): Acta Pacis Westphalicae. Serie 3 Abteilung A: Protokolle, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, T. 6: Juni–Juli 1648. Münster 2009, S. LVII f., auch Anm. 85; Dies. (Bearb.): Acta Pacis Westphalicae. Serie 3 Abteilung A: Protokolle, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, T. 7: Juli–September 1648. Münster 2013, S. XLVII, auch Anm. 58; Karsten Ruppert: Die kaiserliche Politik auf dem westfälischen Friedenskongress (1643–1648). Münster 1979, S. 99. 22 Die relevanten Aktenbestände liegen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (Mainzer Erzkanzlerarchiv), im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München sowie im Bayerischen Staatsarchiv Würzburg.

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entziehen und ihrem eigenen Einfluss unterziehen zu können, betrieben die katholischen Maximalisten gemeinsam mit dem päpstlichen Nuntius Fabio Chigi die vollständige Verlagerung des Friedenskongresses ins katholische Münster. Da sie sich damit aber nicht durchsetzen konnten und die entscheidenden Lösungen in der Endphase des Kongresses dennoch in Osnabrück ausgehandelt wurden, beraubten sich die Maximalisten mit diesem Schritt selbst ihrer Einflussmöglichkeiten und gerieten in die Isolation.23 Diese Konstellation nutzten die Prinzipalisten wiederum aus, indem sie die Maximalisten über das Mainzer Verhandlungsdirektorium mitunter zeitverzögert und nicht vollständig über die Vorgänge in Osnabrück unterrichteten. Diese teils selbstverschuldete, teils aktiv von den kompromissbereiten Akteuren der Osnabrücker Gesandtschaften verstärkte Isolation der katholischen Maximalisten in Münster war ein wesentlicher Schritt in Richtung Friedensvertrag, auch wenn der Fürstbischof Wartenberg seinen Protest nicht aufgab und gemeinsam mit der römischen Kurie die religionsrechtlichen Bestandteile des im Oktober 1648 geschlossenen Friedensvertrages nicht akzeptieren sollte.24

Fazit Der Umgang der Gesandten mit der Konkurrenz der Friedensstrategien, die zwischen katholischen Maximalisten und Prinzipalisten bestand, führte zu einem deutlichen Fortschritt auf dem Weg zum Friedensschluss. Zunächst wandten sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1647 die kompromissbereiten Gesandtschaften von Kurmainz und Kurbayern sukzessive von den intransigenten katholischen Maximalisten ab, die aufgrund dessen an Einfluss verloren. Zugleich förderten die kurmainzischen und die kurbayerischen Gesandten durch ihr Zugehen auf die Protestanten den interkonfessionellen Ausgleich und damit das Zustandekommen eines Kompromissfriedens. Der Kopf der Maximalisten, Franz Wilhelm von Wartenberg, der sich als Fürst und Gesandter zahlreicher Reichsstände in einer Person in einer außergewöhnlichen Rollenpluralität befand, wurde wider Willen zu einer Schlüsselfigur auf dem Weg zum Westfälischen Frieden. Er vertrat bis zum Ende des Kongresses und darüber hinaus katholische Maximalforderungen und war dabei selbst ein wesentlicher Träger der Konkurrenzsituation zwischen Maximalisten und Prinzipalisten. Erst als Wartenberg an Einfluss verlor, indem ihm die Ausübung seiner vielleicht wichtigsten Rolle – die Vertretung Kurkölns – verwehrt wurde, löste sich die Konkurrenz

23 Vgl. Hartke, Wartenberg, bes. S. 330–336, 363–367. 24 Vgl. Ebd., S. 379–386.

Konkurrierende Friedensstrategien und Rollenvielfalten

der Friedensstrategien zwischen den katholischen Maximalisten und Prinzipalisten auf und der Abschluss des Westfälischen Friedens rückte in greifbare Nähe. Als sich Wartenberg schließlich noch zusammen mit den katholischen Maximalisten im Münsteraner Kongressabseits in zunehmender Isolation befand, wo er von der Mainzer Reichsdiktatur nur sporadisch und zeitverzögert über die entscheidenden Vorgänge in Osnabrück informiert wurde, war der Weg zum Friedensschluss über den Weg des Kompromisses und des Ausgleichs endgültig frei geworden. Damit war es den katholischen Reichsständen Kurbayern und Kurmainz, d. h. den wichtigsten Vertretern der Prinzipalisten gelungen, ihre seit Sommer bzw. Herbst 1647 verfolgte Strategie des Ausgleichsfriedens in Konkurrenz zu den katholischen Maximalisten durchzusetzen. Die Entwicklungen zeigen, dass die Stellvertreterpolitik der beteiligten Reichsstände und die damit verbundenen Rollenvielfalten einiger Gesandter die Konkurrenzen in erheblichem Maße beeinflussten.

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Abgewehrte Konkurrenz Die Reaktion von Kaiser Matthias I. auf die englische Gesandtenpolitik unter Jakob I. Im Spätherbst 1613 erreichte König Jakob I. von England ein Gesandtenbericht aus Regensburg mit brisantem Inhalt: Stephen Lesieur empörte sich darin über die Art und Weise, wie der neu gewählte Kaiser Matthias I. ihn, den offiziell bevollmächtigten und akkreditierten „Ambassador“ des englischen Souveräns im Reich, behandele. Der Umgang entspräche eher dem Gebaren „between Princes in hostillitie, much less between those that profess amitie the one towards the other“.1 Grund war ein kaiserliches Verbot für den Gesandten, die Reichsstadt Regensburg zu betreten und am Reichstag zu erscheinen.2 Lesieur erfuhr davon nach eigenem Bekunden erst, als er in Regensburg bereits angekommen war und viele Wochen auf eine Audienz bei Matthias I. habe warten müssen. Sowohl das Zutrittsverbot zur Stadt als auch die Verweigerung einer Audienz, die ausländischen Gesandten in der Regel unmittelbar nach ihrer Ankunft in Rangreihenfolge gewährt wurde, empfand Lesieur für seinen König als außerordentlich herabwürdigend und feindselig. Die Zurückweisung Lesieurs war Teil einer heiklen Abwehrstrategie des Kaisers, der sich einer – von englischer Seite eröffneten – Konkurrenz und unerwünschten Einmischung in seine Angelegenheiten entziehen wollte, ohne grundsätzlich Unfrieden zu stiften. Bei dem immateriellen Gut, das Jakob I. begehrte, aber Matthias I. unter keinen Umständen zu teilen oder gar aus der Hand zu geben gedachte, handelte es sich um die richterliche Entscheidungshoheit über (konfessionelle) Konflikte im Inneren des römisch-deutschen Reiches.3 Der englische Gesandte 1 Lesieur an Jakob I., Regensburg, 17./27.09.1613, The National Archive (TNA), State Papers foreign series (künftig: SP) 80/3, f. 39v. 2 Der Reichstag war für den April 1613 angekündigt, begann jedoch erst im August 1613. Das Zutrittsverbot war gemeinhin bekannt. Vgl. z. B. Ludwig Camerarius an Christian von Anhalt, 19.08.1613. In: Briefe und Akten zur Geschichte des Dreissigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie für Wissenschaften (künftig: BuA). Bd. XI: Anton Chroust: Der Reichstag 1613. München 1909, S. 666–669. 3 Zur Stellung des Kaisers als Reichsoberhaupt und obersten Richter vgl. z. B. Eva Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657). Köln u. a. 2001, bes. S. 35–39; Stefan Ehrenpreis: Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikte. Der Reichshofrat unter Rudolph II. Göttingen 2006; Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Mainz 2006.

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wähnte sich im Auftrag des englischen Königs in der Rolle eines (Schieds-)Richters, der den Kaiser belehren durfte, wie Frieden und Recht im Reich bewahrt werden müsse. Er griff damit die grundlegende Idee des Kaisertums an und eröffnete aus soziologischer Sicht eine Konkurrenz, bei der beide Beteiligten ein knappes Gut nur auf Kosten des andern erlangen konnten und sich dieses Ansinnen auch gegenseitig unterstellten.4 Das Besondere an diesem Fall war allerdings, dass das begehrte Gut nicht frei verfügbar war, sondern rechtskräftig einer Seite, nämlich dem Kaiser, gebührte und von ihm ausgeübt wurde. Im Folgenden wird zunächst geklärt, in welcher Art und Weise England mit dem Kaiser konkurrierte und was konkret gefordert wurde. Die konfessionellen Auseinandersetzungen in Aachen und der Erbfolgestreit um Jülich, Kleve und Berg spielten dabei eine tragende Rolle. Darauf aufbauend kann die kaiserliche Abwehrstrategie analysiert und gezeigt werden, dass der Kaiser akteursdifferenziert auf die englischen Angriffe reagierte. Er unterschied klar zwischen dem englischen König und seinem Gesandten und konzentrierte seine Abwehr geradezu ausschließlich auf die Person des Gesandten, obwohl – oder gerade weil – er aus kursächsischen Berichten entnehmen musste, dass Lesieur mit seinem Dienstherrn im Gleichklang agierte. Das Ab- und Ausweisen des Vertreters galt der kaiserlichen Partei als Ausweg, um den Einfluss der Engländer im Reich zu begrenzen und den Konsens auf dem anstehenden Reichstag 1613 zu retten. Das Beispiel zeigt, mit welchen Mitteln einer Konkurrenz auf internationaler Ebene friedlich entgegnet werden konnte, aber auch, wie stark das Resultat von der Reaktion des Konkurrenten und der mittelbar betroffenen Dritten abhing, die in diesem Fall auf dem Reichstag zu einem Konsens geführt werden sollten.

Die englische Aggression Kaiser Matthias I. gewährte dem englischen Gesandten Stephen Lesieur am 14. Januar 1613 eine Audienz. Danach muss ihm bewusst gewesen sein, dass er von einem Konkurrenten herausgefordert wurde: Der hervorragend vorbereitete Engländer überrumpelte ihn geradezu mit einer umfangreichen Proposition, die er mit nachdrücklicher Bitte um Antwort in Italienisch verschriftlicht überreichte.5 Das

4 Vgl. Tobias Werron: Formen und Typen der Konkurrenz. In: Ders. / Karin Bückert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019, S. 19–44. 5 Vgl. Lesieur an Jakob I., Wien, 06./16.01.1612/13, TNA SP 80/2, f. 228–236 (Anlage). Die Sprache war mit Bedacht gewählt. Lesieur wollte sichergehen, dass ihn der Kaiser selbst richtig verstand. Er selbst beherrschte nachweislich zudem Deutsch, Englisch, Französisch und Latein.

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Schreiben konfrontierte den Kaiser mit „freundschaftlichen“ Empfehlungen im Namen des englischen Königs, die verklausuliert alle eins gemein hatten: Sie forderten ihn auf, zugunsten des Friedens im Reich „la vera justica“ zur Geltung kommen zu lassen, auf Waffengewalt zu verzichten, in Güte zu urteilen und seine Autorität ausschließlich unparteiisch zu nutzen.6 Deutlich wurde dabei unterstellt, dass dies bisher noch nicht der Fall gewesen sei – und der Kaiser einer entsprechenden Beratung bzw. Anweisung Englands bedürfe. Vor allem die kaiserliche Rechtsprechung im Fall Aachen bedachte der englische Gesandte mit vielen Zeilen. In der einst katholischen Reichsstadt hatten Protestanten seit 1574 die Mehrheit im Rat erobern können, obwohl ein Statut von 1560 eigentlich nur Katholiken zuließ.7 Als der Rat lutherische und reformierte Gottesdienste freigab, löste dies heftige Diskussionen um das ius reformandi der Reichsstädte aus. Der Kaiser lehnte diese Entwicklung ab, ließ das alte Ratsstatut vom Reichshofrat bestätigen und 1598 einen neuen, ausschließlich katholischen Rat einsetzen, der aber 1611 seine Macht de facto einem protestantischen Ausschuss abtreten musste. Diesen Machtwechsel ratifizierte Johann von Pfalz-Zweibrücken, der nach dem Tod Rudolphs II. als Administrator der Kurpfalz und Reichsvikar amtierte. Kaiser Matthias I. musste nun nach seinem Amtsantritt entscheiden, ob er als Reichsoberhaupt und Stadtherr diesen Vikariatsrezess – der den vorhergehenden Urteilen des alten Kaisers widersprach – bestätigte oder verwarf. Er sandte eine Kommission nach Aachen, die noch nichts bestimmen, wohl aber die Gemüter beruhigen und vor allem Zeit gewinnen sollte, um diese konfessionell brisante Angelegenheit nicht auf dem anstehenden Reichstag regeln zu müssen, sondern auf die Zeit danach vertagen zu können.8 In diese schwebende Entscheidung schaltete sich Stephen Lesieur ein und verlangte unverblümt vom Kaiser, gut qualifizierte und friedliebende Vertreter beider Konfessionen im Aachener Magistrat zuzulassen, d. h. den Rezess des Pfälzers zu bestätigen. Er habe erfahren, dass Matthias I. das Vikariatsurteil ablehnen wolle

6 Vgl. Ebd., f. 230r. 7 Für Folgendes vgl. Thomas Kirchner: Katholiken, Lutheraner und Reformierte in Aachen 1555–1618. Konfessionskulturen im Zusammenspiel. Tübingen 2015; Walter Schmitz: Verfassung Bekenntnis. Die „Aachener Wirren“ im Spiel der kaiserlichen Politik (1550–1616). Frankfurt am Main 1983; Heinz Schilling: Bürgerkämpfe in Aachen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 175–231; Hansgeorg Molitor: Reformation und Gegenreformation in der Reichsstadt Aachen. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 98/99 (1992/93), S. 185–204; Mathias Classen: Die konfessionelle und politische Bewegung in der Reichsstadt Aachen zu Anfang des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 28 (1906), S. 286–442. 8 Vgl. Schmitz, Wirren, S. 292–311.

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und die Restitution des katholischen Rates in Aachen anstrebe. Der Kaiser solle dies nicht wagen, ansonsten werde der anstehende Reichstag im Argen enden.9 Dass Lesieur mit seiner expliziten Forderung dem ausstehenden Urteil vorweggriff, muss Matthias I. ebenso überrascht haben wie dessen Informationsstand. Die Kurfürsten hatten dem Kaiser die Aachener Sache zur Entscheidung anheimgestellt, nachdem dieser in der Wahlkapitulation angekündigt hatte, den Rezess zu bestätigen, wenn es sich denn „wollgezümbt unnd gebüert“.10 Die Berater des Kaisers waren aber darüber zerstritten. Es wusste daher nur ein sehr kleiner Kreis, dass Matthias I. auf dem Reichstag zwar eine Versöhnung aller Reichsstände wünschte, danach aber die Vikariatsakte tatsächlich zu kassieren gedachte.11 Lesieur lag also richtig und der Kaiser musste sich umso mehr düpiert fühlen, dass der Engländer ihn und den Kurpfälzer Administrator wie zwei streitende Parteien behandelte, die eines Schiedsspruches bedurften. Darum hatte Matthias I. nie gebeten. Das Urteil über Aachen stand ihm zu und er allein wollte es auch fällen. Der englische Gesandte maßte sich jedoch an, sich wie ein Arbiter darüber hinwegzusetzen. Weit subtiler, dafür umso aggressiver wurde der Kaiser mit den englischen Erwartungen im Erbfolgestreit um Jülich, Kleve und Berg konfrontiert.12 Der Streit um das Territorium des kinderlos verstorbenen, katholischen Herzogs Johann Wilhelm war 1609 offen ausgebrochen und wurde erbittert geführt, da das Gebiet geostrategisch überaus günstig im äußeren Westen am Rhein lag und auf der sogenannten Spanischen Straße das Reich mit den Spanischen Niederlanden, den Generalstaaten und Frankreich verband. Für die machtpolitischen Verhältnisse Europas war es entscheidend, ob es in die Hand eines Freundes oder Feindes der Habsburger kam und welcher Konfession es zufiel. Der Kurfürst von Brandenburg und die Pfalzgrafen von Neuburg schufen deshalb rasch Tatsachen, besetzten das Territorium und vereinbarten, es bis auf Weiteres gemeinsam zu verwalten.13 Mit

9 Änderungen gelte es zudem mit dem Vikar abzusprechen. Vgl. Lesieur an James, Wien, 06./ 16.01.1612/13, TNA SP 80/2, f. 228–236 (Anlage). Im August 1613 forderten die Protestantischen tatsächlich, die Urteile des Vikariats zu belassen, auch wenn sie den Mandaten Rudolphs II. widersprächen. Vgl. Gravamina der korrespondierenden evangelischen Stände. In: Gottfried Lorenz (Hg.): Quellen zur Vorgeschichte und zu den Anfängen des Dreissigjährigen Krieges. Darmstadt 1991, S. 157–174, hier S. 163 f. 10 Wolfgang Burgdorf (Bearb.): Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792. Göttingen 2015, Zitat S. 106 (§ XXXIV); Schmitz, Wirren, S. 177, 288 u. 298. 11 Vgl. Schmitz, Wirren, bes. S. 300. 12 Grundlegend Hermann J. Roggendorf: Die Politik der Pfalzgrafen von Neuburg im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit. In: Düsseldorfer Jahrbuch 53 (1968), S. 1–211; Alison D. Anderson: On the Verge of War. International Relations and the Jülich-Kleve Succession Crises (1609–1614). Boston 1999; Winfried Schulze: „Wir stunden gegeneinander wie zwei Blöcke“. Die Krise des Reichs in den Jahren 1608/1609. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 10 (2009), S. 3–28. 13 Der Dortmunder Rezess datiert auf den 10. Juni 1609. Abgedruckt in: Lorenz, Quellen, S. 81–85.

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dieser Inbesitznahme schlossen sie andere Prätendenten, darunter Kursachsen, aus und stellten sich gegen bereits erlassene kaiserliche Mandate. Rudolph II. besaß als oberster Lehnsherr formal das Recht, die jülich-klevischen Länder als erledigte Lehen einzuziehen und neu zu vergeben, und gedachte dieses Recht als Interimsverwalter auszuüben.14 Er ließ dazu die Stadt Jülich einnehmen, befestigen und aufrüsten.15 Dieses gewaltsame Vorgehen provozierte das Eingreifen der Könige von Frankreich und England.16 Ihnen galt der Kaiser als Partei, der zu Recht von den Possedierenden in „seiner kaiserlichen Schiedsrolle in Frage“ gestellt wurde.17 Beide Könige befürchteten eine Vergabe des Erbes zum Vorteil der Habsburger, reagierten auf protestantische Hilfegesuche aus dem Reich und vertrieben zusammen mit der Union und den Generalstaaten in einem koordinierten Feldzug die kaiserliche Armee aus Jülich.18 Unter mehrfacher Beteuerung, den Frieden im Reich sichern und „gran danno di tutta l’Europa“19 abwenden zu wollen, riet Lesieur dem neuen Kaiser nun nachdrücklich zu einer Lösung des Erbfolgestreites auf dem Rechtsweg ohne Waffengewalt. Der englische König vertraue vollends darauf, dass sich Matthias I. nicht zu Gewalt oder Parteilichkeit gegen irgendeinen protestantischen Fürsten hinreißen lasse und die ständische Libertät gemäß der Reichsverfassung wahren werde. Als Bestärkung für das Reichsoberhaupt war dies aber nicht misszuverstehen, da Lesieur einleitend behauptete, England und Frankreich seien Mitglieder der protestantischen Union geworden. Er stellte dem Kaiser damit jene internationale Allianz vor Augen, die kaum zwei Jahre zuvor die kaiserlichen Truppen geschlagen hatte. Vor dieser Drohkulisse verkehrte sich die vermeintlich wohlwollende Vertrauensbekundung in eine verwegene Warnung: Wenn Matthias I. wie sein Vorgänger richten wolle, gegen die Protestanten vorgehe und dabei gar zu den Waffen greife, müsse er mit einem internationalen Militärschlag rechnen. Der Kaiser solle im

14 Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 166–168 u. 85. 15 Erzherzog Leopold zog im Juli 1609 in die Stadt, die den Possedierenden, d. i. der Kurfürst von Brandenburg und die Pfalzgrafe von Neuburg, Gegensatz zu den anderen Ständen nicht gehuldigt hatte. Vgl. z. B. Ebd., S. 93 f. u. 98; Ernst Hinrichs: Frankreich in der Krise der Jahre 1609/10. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 10 (2009), S. 29–40, hier S. 30; Friedrich Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände. Berlin 2005, bes. 380 f. 16 Rudolf II. lehnte Frankreichs und Englands Vermittlung ab. Vgl. Beiderbeck, Religionskrieg, S. 382. 17 Ebd., S. 381–384 (Zitat); Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 106. Ob der Kaiser parteiisch war, ist fraglich. Die Wahrnehmung reichte aber für Heinrich IV. aus, die Rechts- und Friedenswahrfunktion des Kaisers abzulehnen. 18 Im Mai / Juli 1609 baten einige deutsche Protestanten Jakob I. um Hilfe. Zögerlich bot er diese an. Im September 1610 zogen die ausländischen Truppen aus den Jülicher Ländern wieder ab. Vgl. TNA, SP 81/9, f. 202–205 u. 213–218; Anderson, War, S. 78; Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 139. 19 Lesieur an Jakob I., Wien, 06./16.01.1612/13, TNA SP 80/2, f. 229r.

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jülich-klevischen Konflikt keine Entscheidung treffen und die protestantischen Fürsten den Streit unter sich regeln lassen.20 Zwar verzichtete Lesieur auf konkrete Lösungsvorschläge wie im Aachener Fall und positionierte sich nicht selbst als Arbiter; allerdings suchte er den Kaiser durch Einschüchterung aus der Rolle des höchsten Richters im Reich zu verdrängen und im Namen des englischen Königs wiederum zu bestimmen, wer Recht sprechen dürfe. Dies richtete sich gegen ein Verhandeln der Sache auf dem Reichstag, auf dem die Katholiken die Stimmenmehrheit besaßen, aber auch gegen die wenig später in Erfurt tagende kaiserliche Schiedskommission, bestehend aus Vermittlern, die – wie der katholische Herzog von Bayern – vom Kaiser bestimmt worden waren.21 Nach langem Ringen hatte Matthias I. seine Rechte als Lehnsherr formal zurückgestellt, aber gesichert. Er war bereit, die Inbesitznahme der Possedierenden anzuerkennen; dafür sollten sich die Prätendenten unter Ausschluss der Religionssachen in der Kommission versöhnen und vergleichen.22 So sollte die Erbfolge rasch geregelt, ein Krieg zwischen Pfalz-Neuburg und Kurbrandenburg vermieden und der Weg für einen Konsens auf dem Reichstag freigemacht werden.23 England untergrub das Vorhaben, beteuerte aber, die Autorität des Kaisers und Frieden im Reich bewahren zu wollen, in der väterlichen Sorge um die bald mit dem pfälzischen Kurfürsten verheiratete englische Prinzessin.24

Die kaiserliche Abwehr Die englische Proposition kam für Matthias I. zur Unzeit. Wenige Tage zuvor hatte er für April 1613 hoffnungsvoll einen Reichstag einberufen und den Reichsständen signalisiert, das gelähmte Reich politisch wieder einen zu wollen. Deshalb setzte er nicht wie sonst üblich die Türkenhilfe, sondern die Ordnung der Justiz bzw. die Konfessionsproblematik als ersten Punkt auf die Tagesordnung.25 Der letzte

20 Ähnliches wurde drei Monate später vom Unionstag beschlossen. Vgl. Protokoll des Uniontages zu Rotenburg ob der Tauber, 24.03.–09.04.1613. In: BuA XI, S. 233–284. 21 Vgl. z. B. Hauptstaatsarchiv Dresden (HStA Dresden), 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 08809/04 sowie Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 161. 22 Vgl. Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 168. 23 Als die Kommission scheiterte, wollte der Kaiser den Fall mit kursächsischer Hilfe auf dem Reichstag wiederaufnehmen. Wegen der katholischen Stimmmehrheit wurde dies von England und Kurbrandenburg abgelehnt. Vgl. Bericht von Joachim Ernst von Ansbach, Dresden, 29.04.1613. In: BuA XI, S. 410–412. 24 Lesieur an Jakob I., Wien, 06./16.01.1612/13, TNA SP 80/2, f. 228v. 25 Vgl. z. B. Harriet Rudolph: Auf dem Weg zum Religionskrieg? (Un-)Kulturen des Konfliktaustrags auf den Regensburger Reichstagen vor dem Dreißigjährigen Krieg (1594–1613). In: Dies. (Hg.): Die Reichsstadt Regensburg und die Reformation im Heiligen Römischen Reich. Regensburg 2018,

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Reichstag war desaströs ohne Abschied beendet worden; nun schien ein Konsens möglich.26 Das Reich sollte wieder voll funktionsfähig und die Macht des Kaisertums gestärkt werden. Die aggressive Intervention Englands brachte diese Pläne in Gefahr, da sie die protestantischen Reichsstände ermunterte, sich kompromisslos zu zeigen und den Kaiser offen infrage zu stellen. Der Kaiser musste handeln. Matthias I. verweigerte Lesieur zunächst eine Antwort und suchte verdeckt zu klären, inwieweit er tatsächlich eine protestantische Union mit ausländischen Königen und insbesondere ein aggressives katholisches Frankreich zu fürchten hatte. Nachdem die Aussagen des französischen Botschafters in Wien nicht eindeutig genug ausfielen, wurde ein Kurmainzer Rat nach Paris gesandt, um die Sache im Stillen aufzuklären.27 Es dauerte viele Wochen, bis dem Kaiser mit Sicherheit bestätigt wurde, dass Frankreich nicht der Union beigetreten war und sich die vormundschaftlich regierende Maria de Medici nicht mehr wie ihr verstorbener Gatte Heinrich IV. gegen die Habsburger stellte, sondern sich mit der spanischen Linie durch eine Doppelhochzeit der Thronfolger dynastisch verband.28 Lesieur hatte mit falschen Angaben operiert29 – und das auch im Falle Englands. Jakob I. hatte zwar im Frühjahr 1612 eine Defensivallianz mit einigen Unionsfürsten geschlossen.30 Die Städte der Union waren jedoch nicht beteiligt. England war daher wie Frankreich kein Mitglied der Union.31 Parallel zu diesen Erkundigungen hatte sich Matthias I. um Rat und Unterstützung im Reich bemüht und Lesieurs Schreiben an die geistlichen Kurfürsten, Kursachsen und Bayern weitergeleitet. Ein von Kurköln verfasstes Gutachten befand es als empörend, dass sich ein ausländischer Potentat „fremder Sachen“ im

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S. 71–98, hier S. 90; Moriz Ritter: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreissigjährigen Krieges (1555–1648). 2. Bd. (1586–1618). Darmstadt 2 1962, S. 390. Besonders Melchior Khlesl vertrat die Idee der Komposition. Vgl. jüngst Ronald Asch: Vor dem großen Krieg. Europa 1589–1620. Darmstadt 2020, bes. S. 289–295; grundlegend Ritter, Deutsche Geschichte, bes. S. 376–386. Vgl. Baugy an Bruslart de Puysieulx, Wien, 23.01.1613. In: BuA XI, S. 37–40, bes. S. 39 f.; Bericht des kurmainzischen Rates von Efferen über seine Verrichtungen in Frankreich, o. O., ca. 01.03.1613. In: BuA XI, S. 152–156. Vgl. z. B. Michael Hayden: Continuity in the France of Henry IV and Louis XIII. French Foreign Policy, 1598–1615. In: The Journal of Modern History 45 (1973), S. 1–23. Dazu Stefanie Freyer: Lügen im Namen des Friedens. Strategien der englischen Diplomatie vor Beginn des Reichstages 1613. In: Dies. / Siegrid Westphal (Hg.): Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie. Berlin / Boston 2020, S. 103–133. Vgl. Alligantia inter Regem & Electores Germania. In: Thomas Rymer / Robert Sanderson (Hg.): Foedera, Conventiones, Literae (…). Bd. 16. London 2 1727, S. 714–719. Vor allem die englische Forschung nimmt irrig an, dass Jakob I. 1612 der Union beitrat. Die Rolle der unierten Reichsstädte wird bisher unterschätzt. Vgl. Freyer, Lügen, S. 116 f.; William B. Patterson: King James VI and I and the Reunion of Christendom. Cambridge 2000, S. 156; Ritter, Deutsche Geschichte, S. 361.

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Reich, die noch im Recht befangen seien, so ernstlich annehme.32 Lesieur wolle „die Administrationem Justitia im Reich den protestierenden Fürsten attribuieren“ und greife dem Kaiser damit „ins schwerdt“.33 Seine Werbung sei in allen Punkten zurückzuweisen, insbesondere aber mit Blick auf Aachen. Die Rechtskontinuität müsse gewahrt werden. Die Stellung des Kaisers im Reich drohe großen Schaden zu nehmen, wenn Urteile durch Nachfolger aufgehoben werden würden und jedermann besorgt sein müsse, dass bei Interregna kaiserliche Rechtssprüche kassiert werden.34 Niemand würde sich an des Kaisers oder seiner Nachfolger Urteil mehr halten. Kurköln erkannte im englischen König einen Konkurrenten, der die kaiserliche Autorität, dessen Urteilskraft und die Reichsverfassung angriff. Als Grenzgebiet zu den Generalstaaten und katholische Bastion im Nordwesten hatte das Erzbistum eigene Interessen, die vom Kaiser mit entsprechenden Urteilen in Aachen und Jülich-Kleve hätten geschützt werden können. Das Gutachten erwog daher nicht ganz uneigennützig, dass die Autorität des Reichsoberhaupts auf einer überpersonalen, mithin verlässlichen Rechtsprechung beruhe. Dass Lesieur seinen König als weisungs- und entscheidungsberechtigt über dem Kaiser wähnte, weckte jedoch ganz grundsätzlich Zweifel, ob dies wirklich dem Auftrag Jakobs I. entsprach. Kurköln unterschied somit zwischen der Person des Königs und der Person des Gesandten und lieferte Matthias I. den entscheidenden Baustein für seine Abwehrstrategie. Die Spekulation über einen Alleingang Lesieurs waren nicht abwegig. Zwischen Gesandten und ihren Dienstherren konnte es Verständigungsprobleme geben – schon allein wegen der Entfernung, der dadurch verlangsamten Kommunikation und nicht zuletzt wegen des nicht unüblichen Abfangens von Briefen. Die Instruktion Lesieurs zeigt jedoch, dass er den dienstherrlichen Wünschen in den Grundlinien gefolgt war.35 Selbst bei der Wahl der diplomatischen Praktiken scheint Lesieur im Gleichklang mit Jakob I. agiert zu haben: Etwa zwei Monate zuvor hatte sich nämlich Jakob I. selbst mit drohendem Unterton als weisungsberechtigter Schiedsrichter gegenüber Kursachsen aufgespielt und Johann Georg I. kühn befohlen, er solle zugunsten seiner Glaubensverwandten auf den Mitbesitz der Jülich-Klever Lande verzichten und sich stattdessen mit einer Geldsumme zufrieden geben.36 Jakob I.

32 Hauptstaatsarchiv München (HStA München), Kasten schwarz 6970, f. 12–14, Zitat f. 12r. Gleiches schreibt Kurmainz an Kursachsen, 06.02.1613. In: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Mainzer Erzkanzlerarchiv, Religionssachen, 17/1, No. 59, f. 285–286. 33 HStArch München, Kasten schwarz 6970, Zitat f. 12r. 34 Ebd., f. 13r–13v; auch BuA XI, S. 13, Anm. 4. 35 Vgl. Lesieurs Instruction, 09./19.09.1612, TNA, SP 80/2, f. 211–214. 36 Konzept, 2.11.1612, TNA SP 80, f. 47r–48v. Gesendeter Brief 3./13.11.1612, HStA Dresden 10024 Geheimer Rat, loc 08810/02, f. 152–154. Brief erwähnt in BuA XI, S. 760, Anm. 2.

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riet zwar parallel allen Prätendenten zu neuen Verhandlungen mit Kursachsen, nahm das Urteil aber vorweg und ignorierte zwei kaiserlich ratifizierte Beschlüsse, die Kursachsen den Mitbesitz zusprachen.37 Ohne dass ihn die Streitparteien einvernehmlich und freiwillig um sein Urteil gebeten hatten, gebärdete sich der englische König als Arbiter und stellte seine Rechtsauffassung und Interessen über alles andere.38 Lesieur tat es ihm gleich im Umgang mit dem Kaiser. Matthias I. dachte jedoch nicht daran, sich von England bevormunden zu lassen. Unterstützt von den mächtigsten katholischen Reichsständen und Kursachsen versuchte er, Lesieur loszuwerden und den englischen Einfluss im Reich zumindest für die Zeit des Reichstages zu unterbrechen.39 Der Kaiser wählte dafür eine doppelte Kommunikationsstrategie: zum einen ließ er den Gesandten zwei Monate auf eine nächste Audienz warten, zum anderen eröffnete er unter Umgehung des Gesandten mehrere Kommunikationskanäle nach London. So ließ er zum Beispiel Melchior Khlesl über die Kurpfalz an Jakob I. berichten, dass man an einer Kooperation interessiert sei, der Kaiser aber nichts mehr mit Lesieur zu tun haben wolle. Dessen Verstrickungen beim Passauer Einfall in Prag 1611 „imprinted so ill an opinion“ bei Matthias I., dass er ihn als „adversary“ betrachte.40 Eine Zusammenarbeit sei nicht möglich. Lesieur müsse ausgetauscht werden. Um zu verstecken, dass der Kaiser sich angegriffen fühlte, wurde der Gesandte also mit einem rechtlich brisanten Vorfall auf einer seiner früheren Missionen im Reich geschmäht. Im persönlichen Kontakt bewahrte der Kaiser aber Contenance. Bevor er Ende März 1613 nach Preßburg abreiste, empfing er die in Wien anwesenden Gesandten und verabschiedete sich auch von Lesieur, der die Gelegenheit zur erneuten Attacke nutzte. Er kritisierte das kaiserliche Vorgehen in weiteren Konflikten im Reich und beschwerte sich, dass er so lange keine Audienz und auch keine Antwort auf seine Proposition erhalten habe.41 Matthias I. wich dem aus und teilte mit, dass er sich noch beraten müsse. Keine zehn Tage später verschärfte er seine Abwehrstrategie, sandte ein offizielles Schreiben nach London und forderte nun direkt von Jakob I.,

37 Im Juli 1610 erhielt das Gesamthaus Sachsen eine Eventualbelehnung. Der Jüterboger Vertrag war ohne Pfalz-Neuburg geschlossen und im Dezember 1611 von Rudolph II. ratifiziert worden. Vgl. z. B. Roggendorf, Erbfolgestreit, S. 126 u. 149; Frank Göse: Fürstentag zu Jüterbog 1611. Publiziert am 20.03.2018. In: Historisches Lexikon Brandenburgs. URL: http://www.brandenburgikon.de (16.08.2019). 38 In Dresden wurde dies als infame Drohung verstanden. Vgl. Lesieur an Jakob I., 15./21.04.1613, TNA, SP 80/2, f. 281v. 39 Vgl. z. B. Ludwig Camerarius an den Administrator der Kurpfalz, Regensburg, 11.08.1613. In: BuA XI, S. 557–560, bes. S. 560. 40 Vgl. Secretary of State an Lesieur, o. O., 30.03./09.04.1613. In: SP 80/2, f. 272–277, Zitat 272v; Elmer Adolph Beller: The Negotiations of Sir Stephen Le Sieur. In: The English Historical Review 40 (1925), S. 22–33. 41 Vgl. Lesieur an Jakob I., Wien, März 1612/1613, TNA SP 80/2, f. 278–280.

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Lesieur abzuziehen; es könne gern ein anderer Gesandter geschickt werden.42 Der Kaiser nahm damit den englischen König als diplomatischen Akteur unmittelbar in die Pflicht. Es war der gütliche Versuch, England qua Vertreterpolitik zu bändigen. Da Lesieur nicht abzog und weiter mit manch unlauteren Praktiken Konflikte im Reich zu lenken suchte, änderte der Kaiser schließlich seine Taktik. Statt auf die Reaktion Jakobs I. zu warten, ergriff er eigene Machtmittel und verbot Lesieur vor Beginn des Reichstages den Zutritt zur Tagungsstadt.43 Angeblich aus Unwissenheit setzte sich der englische Gesandte darüber hinweg. Dass er letztlich nicht seines Quartiers verwiesen und aus der Stadt geworfen wurde, lag zum einen am Zögern des für die Exekution zuständigen Reichsmarschalls und zum anderen an Lesieur, der nur Weisungen seines Königs zu befolgen gewillt war – Jakob I. hatte ihm zuvor erklärt, persönliche Befindlichkeiten, Abneigungen und Wünsche des Kaisers seien irrelevant; Gesandte gelte es zu akzeptieren, „in the condition they are sent“.44 Dem Kaiser blieb daher nur noch der soziale Ausschluss über das Zeremoniell. Ausländische Gesandte besaßen weder Platz noch Stimmrecht im Reichstag und waren von den Beratungen und Verhandlungen der Reichsstände ausgeschlossen. Dennoch durften sie prinzipiell am Tagungsort anwesend sein und durch persönliche Absprachen mit den Reichsständen oder deren Vertretern Einfluss ausüben. Sie unterlagen dabei der zeremoniellen Erwartung, erst dann am gesellschaftlichen Leben und an den für Absprachen wichtigen Empfängen im Umfeld des Reichstages teilzunehmen, wenn ihnen der Kaiser eine Audienz gewährt hatte.45 Matthias ließ Lesieur sechs Wochen warten und zwischenzeitlich Vertreter von Fürsten niederen Ranges vortreten.46 Zur Schmälerung des englischen Einflusses war dies ein wirkungsvolles, aber zeitlich begrenztes Mittel. Als Matthias I. Lesieur schließlich in Regensburg empfing, attackierten seine anwesenden Räte den Gesandten scharf:47 Der Engländer habe sich erdreistet, dem

42 Im Juli und August wurde dies auch unter den Reichsständen breiter bekannt. Lesieur bezweifelte offen die Existenz des Briefes. Vgl. Matthias I. an Jakob I., Wien, 14.02.1613, TNA SP 80/2, f. 253 f.; Matthias I. an Jakob I., Wien, 02.04.1613, TNA SP 80/2, f. 270; Ludwig Camerarius an den Administrator der Kurpfalz. In: BuA XI, bes. S. 555 f. 43 Ausweisungen galten als legitim. Vgl. Hugo Grotius: Vom Kriegs- und Fridens-Recht. In welchem Das Recht der Natur und der Völcker vorgestellet, übers. v. Johann Heinrich Schweitzer. Zürich 1718, S. 125–129. 44 Vgl. Secretary of State an Lesieur, o. O., 30.03./09.04.1613. In: SP 80/2, f. 273r; Ludwig Camerarius an den Administrator der Kurpfalz, Regensburg, 08.08.1613. In: BuA XI, S. 551–556, bes. S. 555 f.; Lesieur an Jakob I., Regensburg, 17./27.09.1613, TNA SP 80/3, f. 41v et passim. 45 Vgl. Anton Chroust: Abraham von Dohna. Sein Leben und sein Gedicht auf den Reichstag von 1613. München 1896, S. 283. 46 Vgl. Lesieur an Jakob I., Regensburg, 17./27.09.1613, TNA SP 80/3, f. 39v. 47 Vgl. Ebd., f. 39r sowie Lesieur an den Administrator der Kurpfalz, Regensburg, 23.09.1613. In: BuA XI, S. 914–919, hier 915.

Abgewehrte Konkurrenz

Kaiser Vorschriften in Reichssachen zu machen. Er habe ihn bedroht, über die Verhältnisse der Union gelogen und später sogar in Kurbrandenburg fälschlich vorgegeben, mit kaiserlicher Erlaubnis als Schiedsrichter im jülich-klevischen Konflikt agieren zu dürfen. Die Vorwürfe zielten auf die Person des Gesandten, nicht auf den englischen König. Deutlich wird das vor allem an dem weiteren Vorwurf, Lesieur habe unerlaubt Konventikel in Wien veranstaltet. Derartiges Fehlverhalten konnte schwerlich als diplomatischer Auftrag des englischen Königs gerechtfertigt werden. Matthias I. und seine Räte differenzierten demnach zwischen König und Gesandten, um die Konkurrenz und übergriffige Einmischung Englands in kaiserliche Rechte abzuwehren. Jakob I. wurde nicht direkt angegriffen, so dass diplomatische Kommunikation weiterhin möglich war. Allerdings nicht mehr über Lesieur – den strafte der Kaiser schon bei dieser Audienz mit Schweigen.48

Fazit Der englische König und der römisch-deutsche Kaiser wollten beide den Frieden im Reich sichern, hatten aber höchst unterschiedliche Ansichten, wie die schwelenden Konflikte zu lösen seien und vor allem, wer die Lösung bestimmen dürfe. Matthias I. verstand sich als rechtsprechendes Reichsoberhaupt und sprach Jakob I. jede Einmischung ab. Tatsächlich hatte der englische König im Reich verfassungsrechtlich kein Mitbestimmungsrecht. Als Schiedsrichter hätte er zwar fungieren können, dafür bedurfte es aber der freiwilligen und einvernehmlichen Zustimmung aller Konfliktparteien.49 Das war nie der Fall. Der Kaiser, katholische Reichsstände und auch das protestantische Kursachsen lehnten dies ab. Stephen Lesieur fühlte sich als englischer Gesandter dennoch berufen, dem Kaiser Vorschriften zu machen, ihm Rechtsurteile vorzugeben und ihm Entscheidungsbefugnisse unter Drohungen abzusprechen. Matthias I. wertete dies als Angriff auf seine kaiserliche Autorität und als gefährliches Hindernis für den 1613 dringlich benötigten Konsens auf dem anstehenden Reichstag. Er brauchte die Zustimmung der Protestanten, die Lesieur gegen ihn aufwiegelte. Vier unterschiedliche Abwehrtaktiken sollten dem ein Ende setzen: Matthias I. reduzierte den Kontakt mit dem Gesandten auf ein Minimum, ließ das internationale Drohszenario abklären, sicherte sich kaisertreue Unterstützer und

48 Es sprachen nur die kaiserlichen Räte. Vgl. Lesieur an Jakob I., Regensburg, 17./27.09.1613, TNA SP 80/3, 41v. 49 Vgl. Christoph Kampmann: Art. Schiedsgerichtsbarkeit. Erstmals online publiziert: 2014. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online. URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_ edn_a3765000 (16.08.2019); Wolfgang Sellert: Art. Schiedsgericht. In: Adalbert Erler u. a. (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1386–1393.

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suchte den Gesandten aus dem Reich zu drängen, um den Einfluss Englands vor Ort zu beschneiden. Matthias I. differenzierte dazu zwischen Gesandtem und König, verlagerte die Kommunikation zurück zum Fürsten und diskreditierte Lesieur bei seinem Dienstherrn. Als Jakob I. nicht reagierte, versuchte er den Gesandten mit einem Stadtbetretungsverbot und zeremoniellen Schranken vom Reichstag fernzuhalten. Dafür erklärte er dessen Handeln, nicht das des englischen Königs, als illegitim und unredlich. Der Gesandte fand das feindselig, zog aber nicht ab und intrigierte weiter. Letztlich hielt der Kaiser die Konkurrenz aus und riskierte keinen diplomatischen Eklat.

Marcus Stiebing

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung Dorothea Maria von Sachsen-Weimar und der Regensburger Reichstag von 1608 Der Reichstag war der zentrale Nachrichten-Hotspot, Hort der Selbstinszenierung, Entscheidungs- und Beratungsforum der Reichsstände sowie institutioneller Austragungsort vielfältiger und sich verdichtender Konkurrenzsituationen.1 Drei übergreifende Funktionen und zugleich Herausforderungen bestimmten deren Verlauf: Die Reichsstände bzw. ihre Vertreter vor Ort mussten erstens eine Übereinkunft darüber finden, was die genauen Problemgegenstände waren und welche Prioritäten sie setzen wollten, sie mussten zweitens die einzelnen Partikularinteressen in einen Konsens für das Reich zusammenführen und drittens bestehende oder neu geschaffene Konkurrenzen nivellieren.2 Auf und neben dem Reichstag, der sich seit dem 16. Jahrhundert sukzessive von einer „Fürsten- zur Deputiertenversammlung“ wandelte3 , traten zahlreiche Vertreter in- und ausländischer Akteure in verschiedenen Rollen und mit divergierenden Zielen auf.4 Ferner kollidierten nicht nur politische, konfessionelle und dynastische Ansichten, sondern auch Vorstellungen über die Verfahrens- und Verhandlungsmodi, die konkret zu behandelnden Sachprobleme und die Art und Weise, wie diese zu lösen seien. All dies konnte Aus- und Verhandlungsprozesse stimulieren oder diese blockieren, wie der im Januar 1608 eröffnete, aber ohne Abschied auseinandergegangene Regensburger Reichstag zeigt.5

1 Vgl. Tobias Werron: Form und Typen der Konkurrenz. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019, S. 18–44. 2 Vgl. allgemein z. B. Maximilian Lanzinner / Arno Strohmeyer (Hg.): Der Reichstag 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeit. Göttingen 2006. 3 Guido Braun: Reichstage und Friedenskongresse als Erfahrungsräume päpstlicher Diplomatie. Kulturelle Differenzerfahrung und Wissensgenerierung. In: Ders. (Hg.): Diplomatische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Erfahrungsräume und Orte der Wissensproduktion. Berlin / Boston 2018, S. 89–111, Zitat S. 91. 4 Vgl. z. B. Stefanie Freyer: Lügen im Namen des Friedens. Strategien der englischen Diplomatie vor Beginn des Reichstages 1613. In: Dies. / Siegrid Westphal (Hg.): Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie. Berlin / Boston 2020, S. 103–133. 5 Vgl. Harriet Rudolph: Auf dem Weg zum Religionskrieg? (Un-)Kulturen des Konfliktaustrags auf den Regensburger Reichstagen vor dem Dreißigjährigen Krieg (1594–1618). In: Dies. (Hg.): Die Reichsstadt Regensburg und die Reformation im Heiligen Römischen Reich. Regensburg 2018, S. 71–99.

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Kaiser Rudolf II. (reg. 1576–1612) hatte in der Proposition erklärt, dass während des Reichstages keine Partikularfragen verhandelt würden, weil vorangegangene Reichsversammlungen dadurch erheblich behindert worden seien. Er forderte die Parteien auf, sich vorab untereinander zu verständigen.6 Einzelne Reichsstände räumten dennoch regional-dynastisch definierten Belangen Vorrang ein. Auch die Herzoginwitwe Dorothea Maria von Sachsen-Weimar (geb. Anhalt, 1574–1617) missachtete Rudolfs II. Vorgaben. Der Fall ist brisant, denn für den 1608 noch minderjährigen Herzog Johann Ernst d. J. von Sachsen-Weimar (1594–1626) war nicht seine Mutter als Vormund bestellt worden, sondern der sächsische Kurfürst Christian II. (1583–1611).7 Die Beziehungen zwischen ihr und dem Kurfürsten waren zudem seit 1605 aufgrund eines innerdynastischen Streites angespannt.8 Christian II. hatte in diesem Konflikt Partei für den ebenfalls minderjährigen Herzog Johann Philipp von Sachsen-Altenburg (1597–1639) ergriffen und damit für den unmittelbaren dynastischen Konkurrenten des Weimarer Herzogs. Die Herzoginmutter hatte dies nicht hinnehmen wollen und trat deswegen an den kaiserlichen Reichshofrat heran. Sowohl die Vormundschaft als auch der innerdynastische Konflikt waren bereits zuvor juristisch zugunsten Dresdens bzw. Altenburgs durch Kaiser Rudolf II. entschieden worden.9 Dorothea Maria akzeptierte diese Entscheidungen allerdings nicht und trat der dominanten Position des in allen Reichsangelegenheiten für die minderjährigen Herzöge entscheidungsbefugten kursächsischen Vormundes offen entgegen, um den Platz ihres Sohnes in der dynastischen Rangfolge zu sichern. Sie ging davon aus, dass sie ein Appellationsrecht habe und dass der Reichstag befugt sei, kaiserliche Entscheidungen im Zweifelsfall revidieren zu können. Sie ergriff daher im Jahr 1608 – gestützt auf ein eigenes Netzwerk – zwei politische Mittel: einerseits supplizierte sie direkt an das Reichsoberhaupt und den Reichshofrat in Prag; andererseits entschied sie sich, parallel dazu eine Gesandtschaft nach Regensburg abzufertigen, um die Ansprüche ihres Sohnes vor Kaiser und Reich zu bringen sowie diese durch den Reichstag dokumentieren und anerkennen zu lassen. Die Herzoginmutter

6 Proposition Rudolfs II. für den Reichstag, [Prag], 2./12. Januar 1608, Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), C340, 173v–210v, hier bes. fol. 206r u. fol. 207v. 7 Vgl. Pauline Puppel: Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700. Frankfurt am Main / New York 2004, S. 34–139. 8 Vgl. Thomas Ott: Präzedenz und Nachbarschaft. Das Albertinische Sachsen und seine Zuordnung zu Kaiser und Reich im 16. Jahrhundert. Mainz 2008, S. 920. 9 Zur Weimar vgl. Vera Faßhauer: Streiterin „wider allen willen“? Aktionsspielräume und Argumentationsstrategien der Herzoginwitwe Dorothea Maria von Sachsen-Weimar im Altenburger Präzedenzstreit. In: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 70 (2016), S. 101–115. Zu Altenburg vgl. Marcus Ventzke: Zwischen Kaisertreue und Interessenpolitik. Sachsen-Altenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 69 (1998), S. 49–73.

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung

konkurrierte also um ein Gut, das Kursachsen und Altenburg rechtskräftig vom Kaiser zugesprochen worden war. Im Folgenden stehen die Reichstagsgesandtschaft nach Regensburg sowie die Handlungsspielräume und -grenzen ihrer eigensinnigen Vertreterpolitik im Mittelpunkt. Es wird (1) die konkrete Konkurrenzsituation in der vormundschaftlichen Vertretung des minderjährigen Herzogs beim Reichstag skizziert, (2) der Eingriff Christians II. in die Organisation der offiziellen Reichstagsgesandtschaft nachgezeichnet und (3) werden die Reaktionen Dorothea Marias umrissen.

Die Konkurrenzsituation vor dem Reichstag von 1608 Die Beziehungen zwischen den Weimarer Ernestinern und den Dresdner Albertinern lassen sich als die Geschichte eines Konkurrenzverhältnisses beschreiben. Zentraler Fixpunkt war der Transfer der Kurwürde von den Ernestinern auf die Albertiner 1546/48,10 der auch auf das Verhältnis zwischen Christian II. und Dorothea Maria nachwirkte. Die Konflikte zwischen ihnen entspannen sich konkret an der parteiischen Haltung Kursachsens während des Primogenitur- und Präzedenzkonflikts zwischen Sachsen-Weimar und Sachsen-Altenburg nach 1600.11 Dresden stützte sich auf die im Juli 1602 bzw. im Oktober 1605 angetretenen Vormundschaften über die ältesten Prinzen in Altenburg und Weimar. Die Herzoginmutter deutete das kursächsische Vorgehen als politische Bevormundung, die aus ihrer Perspektive darauf hinauslief, ihren ältesten Sohn und künftigen Regenten Johann Ernst d. J. kleinzuhalten. Sie artikulierte dies gegenüber ihren Räten, indem sie wahlweise von einer „gefahr“ für die oder von einer „benachtheiligung“ der Weimarer Linie als Resultat der kursächsischen Vormundschaft sprach oder klagte, dass Christian II. während der innerernestinischen Auseinandersetzungen die Neutralität „beym wenigsten vortretten“ habe.12 In dem 1605 ausgebrochenen Streit ging es konkret darum, welche der ernestinischen Linien beim Aussterben der albertinischen Linie die sächsische Kurwürde für sich beanspruchen konnte und wer das Recht hatte, die gemeinsame Stimme

10 Vgl. mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg: Georg Schmidt: Die ernestinische Alternative. Wahres Luthertum und aggressive Politik. In: Lutherjahrbuch 83 (2016), S. 71–88. 11 Ausführlich hierzu vgl. Marcus Stiebing: Regionale Entscheidungsfindung zum Krieg. Die Weimarer Herzöge zwischen fürstlicher Beratung und gelehrtem Diskurs (1603–1623). Münster 2023. 12 Instruktion Dorothea Marias für Heinrich von Rosenthal, Reinhardsbrunn, 22. November 1607, ThHStAW, Ausw. Angel. II DS217, fol. 84r–87v, fol. 85r.

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beim Reichstag zu führen.13 Die Herzoginmutter und der kursächsische Vormund trugen den Streit dabei stellvertretend für die minderjährigen Prätendenten aus. Im September 1607 sprach Rudolf II. die Primogenitur und die Präzedenz Altenburg zu. Während aus Sicht Dresdens der Fall damit abgeschlossen war, sah Dorothea Maria das kaiserliche Dekret als Unrecht an.14 Sie vertrat die Auffassung, dass ihr juristisch gut begründeter Standpunkt nicht ausreichend durch das Reichsoberhaupt und den Reichshofrat angehört worden sei. Nachfolgende Versuche, am Kaiserhof eine (vorläufige) Suspension des Urteils zu erreichen, scheiterten. Sie plante deshalb, die Angelegenheit auf dem Reichstag untersuchen zu lassen. Sie wollte zumindest erreichen, dass die Weimarer Rechtsposition das Kurfürstenkolleg und die kaiserlichen Kommissare, die Rudolf II. vertraten, erreichte.

Die Vorbereitung des Regensburger Reichstages von 1608 Die Beschickung der Reichsversammlungen lag in der gemeinsamen Verantwortung der Altenburger und der Weimarer Herzöge.15 Gewöhnlich wählten sie aus dem Kreis ihrer Hofräte je einen Vertreter aus, den sie mit einer für beide Herzogtümer gültigen Instruktion ausstatteten. Bis 1603 führte der regierende Altenburger Herzog als der Ältere die Stimme und hatte den Vorrang auf der Reichsfürstenbank, was von Weimar weitgehend akzeptiert worden war. Die seit 1599 verhandelte Landesteilung sah nun formal zwei eigenständige Linien vor, wobei aber an der gemeinsamen Organisation der Reichstagsgesandtschaft festgehalten wurde. Die

13 Vgl. zum Begriff der Präzedenz: Thomas Ott: Präzedenz und Nachbarschaft. Das Albertinische Sachsen und seine Zuordnung zu Kaiser und Reich im 16. Jahrhundert. Mainz 2008, hier S. 9–20 u. 426–429. 14 Hierzu heißt es im Dekret vom 27. September 1607: „So solle auch […] die itzige altenburgische Linie, welche ihren Vrsprung von Weiland Friedrich Wilhelm […] als hertzog Johanni Wilhelmi erstgeborenen Sone hatt, fur [= vor, M. St.] den Weymarischen, das ist weiland hertzogk Joannsen, das Secundo geniti, Söhnen, die praecedentz oder vorgang sambt allen, was die Erstgeburtts Gerechtigkeitt mit sich bringet billich behalten, vnd dauon nicht gedrungen werden.“ Vgl. Dekret Rudolfs II. im Primogenitur- und Präzedenzstreit, Prag, 27. September 1607, ThHStAW, Ausw. Angel. II DS161, fol. 250r–253r, Zitat fol. 252v (Kopie). Abgedruckt bei Gottfried Theodor Stichling: Die Mutter der Ernestiner. Ein Lebensbild von der Grenzscheide des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Weimar 1860, hier S. 83–85. 15 Vgl. Erb undt theilungs Vertrag zwischen hertzog Johann zu Sachsen Weimar, und den nachgelassenen Söhnen seines verstorbenen bruders, h. Friedrich Wilhelms vom Jahr 1603. In: Bernhard G. H. von Hellfeld: Beiträge zum StaatsRecht und der Geschichte von Sachsen. 3 Teile. Eisenach 1785–1790, hier Teil 2 (1788), S. 187–196.

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung

Hofräte erkannten hierin frühzeitig ein Konfliktpotential, weswegen sie zwei verschiedene Modelle zur Diskussion stellten.16 Der erste Vorschlag knüpfte an die bisherigen Regelungen an und sah vor, dass Weimar und Altenburg je einen Vertreter bestimmten, die sie mit einer von beiden Seiten gleichermaßen ausgehandelten Instruktion versahen. Beide Herzogtümer wären dadurch paritätisch vertreten gewesen. Allerdings ging dieser Vorschlag davon aus, dass die regierenden Herzöge Einigkeit über die Instruktion erlangten. Legte man sich ferner auf zwei Gesandte fest, konnte dies zu Differenzen zwischen den Vertretern führen und die Verhandlungen vor Ort blockieren. So beklagte der Kaiserhof unter Eindruck der vorangegangenen Reichsversammlungen u. a. die unterschiedlichen „erweckte[n] differentien [der Gesandten, M. St.] [, die] ganz bekümmerlich vndt fremdt“ seien.17 Die Räte regten daher an, ob nicht ein Gesandter abgefertigt werden könne, der aber je eine Instruktion für die Herzöge mit sich führe. Inhaltliche Auseinandersetzungen, etwa über die Tagesordnungspunkte, fielen damit weniger ins Gewicht. Daneben bot diese Variante den Vorteil, dass spezifische Einzelinteressen berücksichtigt und etwaige Rollen- und Interessenkonflikte der Vertreter vermindert werden konnten. Nach langwierigen Verhandlungen verständigten sich Weimar und Altenburg schließlich auf den ersten Vorschlag und eine „insgesamt instruction“ für die Gesandten.18 Durch den Tod der regierenden Herzöge und die damit einsetzende kursächsische Vormundschaft veränderte sich die Ausgangssituation für die Reichstagsvertretung grundlegend.19 Zum einen mussten die Vertreter nicht nur die Interessen der noch minderjährigen Herzöge, sondern auch jene Kursachsens berücksichtigen. Zum anderen konnte Christian II. nun die personelle und inhaltliche Ausgestaltung der Reichstagsgesandtschaft bestimmen. Nachdem Rudolf II. im August 1606 ihm gegenüber den Reichstag angekündigt hatte,20 kamen die Weimarer und Altenburger Räte im September 1606 in Naumburg zusammen, um über die Gesandtschaft zu beraten. Die Teilnehmer verständigten sich darauf, Elias Förster (1567–1627) für Altenburg und Hans Mel-

16 Vgl. Gutachten der Räte über die vorgeschlagenen Teilungsartikel, Weimar, 15. September 1600, ThHStAW, Ausw. Angel. DS144, fol. 176r–183r. 17 Der Röm. Kay. Mait. Allergned. Resolution wegen vffschiebung vnnd porrogation des Reichstages, den Churf. Fursten vnnd andern Stenden zu diesem Reichstag verordneten Rethen, Pottschaften und Gesandtten zuzustellen, Regensburg, 7. Mai 1608, ThHStAW, C344, hier fol. 619r–622r, Zitat fol. 619v. 18 Teilungsvertrag November 1603, S. 193. 19 Vgl. Wolfgang Huschke: Politische Geschichte von 1552–1775. In: Hans Patze / Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. V / I,1. Köln / Wien 1982, hier S. 55–59 u. S. 99–105. 20 Vgl. die Ankündigung zum Reichstag: Rudolf II. an Christian II., Prag, 8. August 1606, ThHStAW, C340, fol. 4v–6v (Kopie).

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chior von Witten (um 1608) für Weimar abzufertigen.21 Demgegenüber entschied Christian II., dass er die minderjährigen Prinzen durch „[a]ltenburgisch[e] Rethe“ vertreten lassen wolle.22 Der Altenburger Rat Georg von Vippach (um 1608) ersetzte schließlich auf kurfürstliche Anweisung von Witten. Der Kurfürst begründete seine Entscheidung zwar nicht näher, aber zwei Gründe dürften ausschlaggebend gewesen sein. Einerseits zielte er auf ein geschlossenes Auftreten des Hauses Sachsen beim Reichstag ab. Die Festlegung auf die Altenburger Gesandten konnte verhindern, dass der innerdynastische Zwist von Weimarer Seite vor die Reichstagsöffentlichkeit gebracht wurde. Christian II. hätte, falls tatsächlich ein Weimarer Vertreter teilgenommen hätte, Dorothea Maria die Möglichkeit eröffnet, auf offiziellen Wegen den Konflikt am Reichstag anhängig zu machen. Dresden untermauerte andererseits seinen Anspruch, als caput familiae und als Vormund in Reichsangelegenheiten entscheidungsbefugt zu sein. Daher wirkte Christian II. auch auf die Ausarbeitung der Instruktion ein. Als Grundlage diente eine kurfürstliche Resolution, die die inhaltlichen Leitlinien vorgab und festlegte, wie die Vertreter bei einzelnen Fragen der Proposition (im Zweifelsfall) votieren sollten. Während der Naumburger Verhandlungen kam es mehrfach zu Streitigkeiten zwischen den Räten. Die Räte bezichtigten sich gegenseitig beispielsweise der bewussten Verzögerung oder Sabotage der Verhandlungen sowie der Vorenthaltung von Akten, die für die Ausarbeitung der Instruktion notwendig waren.23 Für die Herzoginmutter waren die Dresdner Eingriffe ein deutliches Indiz, dass Christian II. die politische und dynastische Hierarchie der ernestinischen Herzöge nachdrücklich und sichtbar zu untermauern suchte. Aus ihrer Sicht verstieß der Kurfürst damit gegen den Teilungsvertrag, in dem festgelegt worden war, dass beide Linien bei den Reichs- und Kreisversammlungen paritätisch vertreten sein sollten.24 Wie reagierte nun Dorothea Maria, die am Reichstag und den offiziellen Verhandlungen in den Kurien selbst nicht als Herzogin von Weimar teilnahm?

Die Reichstagsgesandtschaft Dorothea Marias Gemessen an den eigenen Möglichkeiten und unter den Bedingungen der kursächsischen Vormundschaft hatte Dorothea Maria seit 1605 ein breites Netzwerk am Prager Kaiserhof aufgebaut, das die Grundlage für ihre Vertreterpolitik beim

21 Vgl. Räte Altenburg an die Räte Weimar, Altenburg, 18. September 1606, ThHStAW, C340, fol. 1r–2r. 22 Christian II. an die Räte Weimar und die Räte Altenburg, Schleusingen, 8. September 1606, ThHStAW, C340, fol. 3v. 23 Vgl. hierzu die umfangreichen Bestände im Weimarer Hauptstaatsarchiv, beispielsweise „Auswärtige Angelegenheiten II“ und „Kaiser und Reich“. 24 Vgl. Teilungsvertrag November 1603, S. 193.

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung

Reichstag 1608 bildete. Sie beschränkte sich nicht nur auf eine Korrespondenz, sondern sandte ohne Rücksprache mit Dresden Leander Ruppel (um 1608) als Agent nach Prag. Ursprünglich als kurzzeitige Mission angelegt, verstetigte sich die Gesandtschaft bis zu seinem Tod im Jahr 1621. Ruppel, der seit 1607 auch als Kurpfälzer Agent tätig war, wirkte als Scharnier zwischen dem näheren kaiserlichen Umfeld, dem Reichshofrat und der Herzoginmutter.25 Zu ihren wichtigsten Prager Korrespondenzpartnern, die zum Teil durch Ruppel vermittelt worden waren, zählten Landgraf Georg Ludwig von Leuchtenberg (1563–1631) und Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg (1564–1613), welche die Verhältnisse am Reichshofrat kannten, dem engsten Umfeld Rudolfs II. angehörten und 1608 am Reichstag teilnahmen.26 Leuchtenberg übte mit Unterbrechungen zwischen 1594 und 1609 das Amt des Reichshofratsvizepräsidenten aus. 1608 war er einer von drei Vertretern Rudolfs II. in Regensburg. Heinrich Julius war zeitweise Direktor des kaiserlichen Geheimen Rates, Korrespondenzpartner Leuchtenbergs und führte in Prag selbst einen Prozess gegen die Stadt Braunschweig.27 Sie versprachen Dorothea Maria mehrfach, sie in ihren Belangen zu unterstützen. So versicherte beispielsweise Leuchtenberg, dass er an seinem „Zuthun nichts […] ermangelen“ lassen wolle.28 Der Braunschweiger Herzog ermunterte sie schließlich, sich an die Regensburger Reichsversammlung zu wenden, weil Leuchtenberg, der „sehr hart wieder [sic!] solche[s] Decret streite“, und einige Reichshofräte vor Ort sein würden.29 Sie fertigte daher Paul Prückner (1558–1621), Schweinfurter Jurist und Weimarer Rat von Haus aus, nach Regensburg ab.30 Er interagierte mit dem von ihr bevollmächtigten Juristen Heinrich von Rosenthal (Tod 1625),31 der in Diensten des Braunschweiger Herzogs und des dänischen Königs Christians IV. (reg. 1588–1648) 25 Vgl. hierzu demnächst: Marcus Stiebing: Kommentieren – Streichen – Ergänzen – Übersetzen. Überlegungen zur Konzeption des Schriftverkehrs Dorothea Marias von Sachsen-Weimar (geb. von Anhalt, 1574–1617) mit dem Kaiserhof (um 1608). Der Beitrag erscheint im Ergebnisband der Salzburger Tagung „Die Medialität des Briefes“, die Ende Oktober 2020 in Salzburg stattfand. 26 Vgl. Stefan Ehrenpreis: Der Reichshofrat unter Rudolf II. Göttingen 2006, S. 303–304. 27 Hilda Lietzmann: Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg (1564–1613). Persönlichkeit und Wirken für Kaiser und Reich. Langenhagen 1993, S. 43–68. 28 Georg Ludwig von Leuchtenberg an Dorothea Maria, Prag, 14. November 1607, ThHStAW, Ausw. Angel. II, 217, fol. 66r. 29 Georg Winter an Dorothea Maria, o. O., 13. November 1607, ThHStAW, Ausw. Angel. II DS198, fol. 34v. 30 Für das Folgende vgl. Protocoll vber mein Paulus Prückners […] gehaltene verrichtung vfe Reichstag zu Regenspurg Anno 1608 […], ThHStAW, Ausw. Angel. II DS217, fol. 139r–176v. 31 Daneben plante Dorothea Maria, den braunschweig-lüneburgischen Geheimrat Andreas von Knichen (1560–1621) als zweiten Gesandten zu entsenden, der – wie Rosenthal – zuvor als Rechtsgutachter von ihr hinzugezogen worden war. Die Instruktion für Rosenthal nennt ihn, in die Verhandlungen war er – soweit dies aus den Protokollen hervorgeht – offenbar nicht involviert. Vgl. Dorothea Maria

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stand und sich bereits vor der Ankunft Prückners in Regensburg aufhielt.32 Die beiden Juristen hatte sie in den vorangegangenen dynastischen Streitigkeiten als Rechtsberater konsultiert. Ziel der Herzoginmutter war es, über Rosenthal und den kaiserlichen Vertrauten Leuchtenberg die Belange Weimars vor den Reichstag zu bringen bzw. an die kaiserlichen Kommissare zu übermitteln. In ihrer Instruktion vom November 1607, die sie unmittelbar als Reaktion auf das kaiserliche Dekret verfassen ließ, stellte sie klar, dass die Loyalität der Vertreter ihr und ihrem ältesten Sohn und nicht dem Vormund gelte. Das „wieder [sic!] gedachte vnsere Söhne abgefaßte“ Dekret Kaiser Rudolfs II. müsse bis zur Volljährigkeit der Prinzen (1615 bzw. 1618) ausgesetzt werden.33 Bis zur endgültigen Klärung der aus Weimarer Sicht offenen Fragen schlug sie eine Alternation beim Sitz- und Stimmrecht vor. Rosenthal sollte sich diesbezüglich entweder an einzelne Stände oder die jeweiligen Kurien wenden. Weitere Vorgaben über das Vorgehen erhielt er nicht, sondern sie stellte dies in sein „freymechtiges bedencken“.34 Dies eröffnete ihm weitreichende Handlungsspielräume. Damit er diese aber in ihrem Interesse nutzte, schickte sie in regelmäßigen Abständen über einen Boten Schriften mit Anweisungen an Prückner, der diese an Rosenthal weitergab. Der Weimarer Rat wurde zudem instruiert, strikt auf die Session bei der Reichsversammlung zu achten. Dies stand im Widerspruch zur kursächsischen Vorgabe, dass Altenburg die Stimme führen solle. Wie interagierten die beiden Bevollmächtigten während der Verhandlungen in der Reichstagsstadt? Prückner kam am 10. März 1608 in Regensburg an und nahm sein Quartier in der gleichen Unterkunft wie Rosenthal. Während der knapp fünf Wochen, die er in Regensburg weilte, trafen sie sich insgesamt 13 Mal persönlich. Prückner setzte ihn genauestens über den bisherigen Verlauf der Streitigkeiten ins Bild und er informierte ihn darüber, was und warum er der Herzoginmutter bisher gegen das Dekret geraten hatte. Rosenthal trat als Vertreter und Berater in Erscheinung, der gemeinsam mit Prückner mehrere Appellations- und Supplikationsschriften der Herzoginmutter korrigierte, überarbeitete und auch Empfehlungen aussprach, an wen diese weitergeleitet werden sollten.35 Rosenthal riet Prückner beispielsweise, dass er die Beschwerden der Herzoginmutter nicht nur konkretisieren solle, sondern auch auf eine breitere juristische

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an Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg [, Weimar, Oktober / November 1607], ThHStAW, Ausw. Angel. II DS198, fol. 37r–38v (Konzept). Der Braunschweiger Herzog leitete die Anfrage Dorothea Marias an den dänischen König weiter. Vgl. Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg an Dorothea Maria, o. O., 19. Dezember 1607, ThHStAW, Ausw. Angel. II DS198, fol. 49r. Instruktion für Rosenthal November 1607, fol. 84r. Ebd., fol. 87r. Vgl. Protokolle Regensburg März / April 1608, fol. 139r–143v u. fol. 157r–158r.

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung

Basis stellen müsse. Den anwesenden Kur- und Reichsfürsten müsse verdeutlicht werden, dass der ernestinische Streit einen Präzedenzfall für das Reich darstelle. Die Vertreter Dorothea Marias müssten, falls sie eine Anhörung ihrer Klagen erreichen wollten, den Streitfall als eine Sache darstellen, die im „interesse publicum“ sei, weil die Reichsstände „propter privatim“36 nichts unternehmen würden. Daneben empfahl er nicht nur, eine Suspension der kaiserlichen Entscheidung bis zur Volljährigkeit, sondern eine vollumfängliche Rücknahme des Dekrets anzustreben. Rosenthal ermunterte Prückner daher, beim kaiserlichen Rat Leuchtenberg um eine Audienz zu ersuchen und ihm die bisherigen Schriften zu übermitteln, weswegen dieser mehrfach an seinen Kanzler herantrat. Aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen ging die Herzoginmutter davon aus, dass Leuchtenberg bei Rudolf II. und den ihn in Regensburg vertretenden Kommissaren großen Einfluss habe. Leuchtenberg machte klar, dass Christian II. über die „Session vnnd votation für beede theil[e]“ entscheide und man beim Reichstag nicht viel ausrichten könne.37 Mehr als den Ratschlag, dass sich Weimar direkt an die kaiserlichen Vertreter wenden solle, konnte (oder wollte) er nicht geben. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass das kaiserliche Dekret zu diesem Zeitpunkt bereits publiziert und damit rechtskräftig war. Die anhaltinischen Gesandten, mit denen Prückner am 16. März 1608 zusammengekommen war, mutmaßten hingegen, dass Leuchtenberg in Prag „in schlechten respect“ stehe. Sie rieten daher auch, nicht weiter auf ihn zu vertrauen38 und stellten damit seine Eignung und (indirekt) die von Dorothea Maria getroffene Gesandtenauswahl infrage. Ein weiteres Problem war, bei wem die Herzoginmutter ihre Forderungen am ehesten vorbringen solle: im Kurfürsten- oder im Reichsfürstenrat, in beiden Kurien oder nur bei einzelnen Vertretern? Rosenthal und Prückner kamen überein, dass die Weimarer Forderungen dem Kurfürstenrat vorgelegt werden sollten. Sie betonten weniger die Frage der Session, sondern die durch das kaiserliche Dekret Altenburg zugesprochene Anwartschaft auf die Kur, worüber Rudolf II., so die Weimarer Deutung, nicht allein befinden dürfe. Deswegen sollte der Mainzer Kurfürst Johann Schweikhard von Kronberg (1553–1626) gewonnen werden, mit dem die Herzoginmutter bereits zuvor korrespondiert und der ihr versichert hatte, die Weimarer Ansprüche prüfen zu lassen. Rosenthal gab zwar zu verstehen, dass er sich nicht auf eine Unterredung einlassen werde. Nichtsdestoweniger trat er an den Mainzer Kanzler heran und übergab ihm die Abschrift des kaiserlichen Dekrets, mehrere Protestationsschreiben und schließlich vier der im Laufe dieser Auseinandersetzung entstanden Rechtsgutachten unterschiedlicher juristischer

36 Ebd., fol. 156r. 37 Ebd., fol. 150r. 38 Ebd., fol. 146v.

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Marcus Stiebing

Fakultäten. Daneben übermittelte man entsprechende Akten an die Vertreter der Kurpfalz, Kurtriers, Kurbrandenburgs und Kurkölns. Im Kurfürstenrat blieben die Weimarer Bedenken aber ungehört.39 Leuchtenberg vertrat hingegen die Auffassung, dass Dorothea Maria auch an den Fürstenrat herantreten solle. Vorab müsse man sich aber vergewissern, dass die anwesenden reichständischen Vertreter nicht gegen Weimar votieren würden. Der Herzoginmutter fehlte es unterdessen an Rückhalt. Selbst die Anhaltiner Verwandtschaft hielt sich zurück. Ihr Bruder Christian I. von Anhalt (1568–1630) erklärte, dass sich die Anwesenden beim Reichstag aufgrund dringlicher Angelegenheiten nicht mit dem Fall befassen könnten und würden. Er gab vor, nicht weiter dazu beitragen zu wollen, dass der Streit im Reich bekannt werde. Schließlich werde es kaum gelingen, weitere potentielle Unterstützer für Weimar (und damit gegen Kursachsen) zu gewinnen. Es bleibe nichts anderes übrig, als sich unmittelbar an den Kaiser zu wenden.40 Die Strategie Dorothea Marias, das kaiserliche Dekret durch den Reichstag verhandeln zu lassen, schlug fehl. Aus Sicht der Teilnehmer handelte es sich im Weimarer Fall um eine von vielen dynastischen Streitsachen, an denen sie kein Interesse hatten.

Fazit In dem untersuchten Beispiel trat Dorothea Maria stellvertretend für ihren Sohn in Konkurrenz zu Christian II. Konkreter Streitgegenstand war die Primogenitur und die Präzedenz, also die Führung des Reichstagsvotums, das Kaiser Rudolf II. aus Weimarer Sicht zu Unrecht an Altenburg vergeben hatte. Die Herzoginmutter akzeptierte dieses Urteil nicht, weil sie darin eine Parteinahme des Reichsoberhauptes sah. Ihre Handlungsspielräume wurden durch den weisungsberechtigten Vormund im Vorfeld der Regensburger Reichsversammlung eingeschränkt. Christian II., der politisch, juristisch und gestützt auf Rudolf II. aus der Position des Stärkeren agierte, war in allen Reichsangelegenheiten, so auch im Hinblick auf die Reichstagsgesandtschaft, entscheidungsbefugt. Er sah darin ein Mittel, die dynastische Einheit des Hauses zu wahren, seinen politischen Alleinvertretungsanspruch nach außen zu unterstreichen und etwaige Weimarer Forderungen im Keim zu ersticken. Die Herzoginmutter sah hierin eine Kleinhaltung ihrer Linie, die der rechtlichen Grundlage entbehrte.

39 Vgl. Ebd., fol. 159r–168v. 40 Vgl. Ebd., fol. 162v–164v u. fol. 169r–170r.

Konkurrenz und dynastische Interessenvertretung

Beim Reichstag 1608 ging es Dorothea Maria nicht darum, politisch an Reichsfragen zu partizipieren, sondern darum, die künftige Stellung ihres minderjährigen Sohnes als Reichsfürst zu sichern. Sie sah bei der Reichsversammlung eine Möglichkeit, das rechtskräftige Urteil Rudolfs II. vom September 1607 vor das Reich zu bringen, dieses – Unterstützung vorausgesetzt – zu revidieren, es wenigstens aber bis zur Volljährigkeit der Prinzen auszusetzen. Die Herzoginmutter griff daher bewusst auf das Mittel der Reichstagsvertretung zurück, um die Konkurrenzsituation zwischen Johann Ernst d. J. und dem Altenburger Konkurrenten im Sinne ihres Sohnes zu entscheiden. Die Gesandtschaft nach Regensburg war Teil einer breiter angelegten Vertreterpolitik, mit der sie bereits an den Prager Kaiserhof herangetreten war. Grundlage hierfür war ein Netzwerk, das sie seit 1605 jeweils vor Ort über ihren Agenten Ruppel sukzessive aufgebaut hatte. Sie wählte mit Rosenthal und Prückner mit Bedacht zwei Vertreter aus, die schon länger als Rechtsberater für sie tätig waren und die die Verhältnisse in Prag kannten. Mit der weitläufig ausgestellten Vollmacht sollte Rosenthal die Weimarer Positionen in den Reichstag einbringen. Der kurze Zeit nach ihm in Regensburg angelangte Prückner sollte hingegen als Informationsübermittler und als Kontrollinstanz fungieren. Beide agierten außerhalb der Reichstagsverhandlungen und als Mittler zu ihrem dritten Vertrauten, dem Landgrafen von Leuchtenberg, der als kaiserlicher Vertreter vor Ort war. Die Gesandten der Herzoginmutter waren sich einig, dass der Konflikt um die Primogenitur und Präzedenz als reichischer Präzedenzfall behandelt werden müsse. Es galt daher, insbesondere die Kurfürsten für den Weimarer Vorschlag zu gewinnen. Bis zu einer aus ihrer Sicht akzeptablen Lösung plädierte Dorothea Maria dafür, Sitz und Stimme auf dem Reichstag zu alternieren. Sie hielt nach dem Reichstag 1608 unbeirrt an ihrer Strategie fest. Nachdem es misslungen war, die durch Dresden forcierte Aufnahme des Dekrets in die Lehensbriefe zu verhindern und die kursächsische Vormundschaft über ihren nunmehr achtzehnjährigen Sohn Johann Ernst d. J. 1611 aufzulösen, trat sie beim Reichstag 1613 wieder an den Kaiser und die Kurfürsten heran. Kaiser Matthias arbeite bei seiner ersten Reichsversammlung unterdessen auf einen Konsens für das Reich hin. Auf Empfehlung Zacharias Geizkoflers (1560–1617), Reichspfennigmeister und Berater des Kaisers, schenkte er dem Streit zwischen Weimar und Altenburg keine weitere Beachtung. Diese neuerliche Bestätigung der Entscheidung Rudolfs II. bildete in der Folge eine wesentliche Leitlinie für die Politik ihres ältesten Sohnes, der 1615 die Landesregierung antrat und dem sie in ihrem 1611 verfassten Testament aufgetragen hatte, diesen Konflikt nicht auf sich beruhen zu lassen.

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Siegrid Westphal

Kommentar

Der Anspruch der Sektion bestand darin, die Vertreterpolitik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in den Blick zu nehmen, und zwar auf den nicht ständig tagenden Reichstagen sowie dem Westfälischen Friedenskongress, der als „Quasi-Reichstag“ gilt. Drei Formen der Repräsentanz wurden dabei vorgestellt. Im Zentrum stand die Frage, wie das Gesandtschaftswesen und unterschiedlichste Formen von Konkurrenzen miteinander korrelierten. Beförderte die Absendung von Gesandten angesichts konkurrierender politischer Interessen und daraus resultierender Rivalitäten der Dienstherren die Konsensfindung in Verhandlungen? Oder produzierte sie gar neue Konkurrenzen, welche die Konsensfindung erschwerten? Insgesamt knüpft die Sektion an Tendenzen der neueren Diplomatiegeschichte an, die unter dem Stichwort „akteurszentrierte Perspektive“ auf den wichtigen Umstand aufmerksam gemacht hat, dass „Staatswesen nicht wie geschlossen handelnde Individuen untersucht werden“ können.1 Es gelte vielmehr, das Handeln einzelner Akteure in den Außenbeziehungen in den Blick zu nehmen, ihre politischen Überzeugungen und Denkmuster sowie ihre unterschiedlichen Rollen und sozialen Verflechtungen zu analysieren. Das Verhältnis zum Dienstherrn wird dabei als patrimoniales Herrschaftsverhältnis begriffen, bei dem – neben Sachkompetenz – Treue und Zuverlässigkeit gegenüber dem Herrn eine zentrale Tugend darstellten. Gesandte galten als Abbild ihrer Dienstherren, sollten deren Interessen vertreten und sie auch repräsentieren. Dennoch waren ihre Verhaltensweisen nicht so festgeschrieben, dass ihnen keine Spielräume mehr verblieben. In den normativen Anforderungen wurden die Gesandten zwar als „reines Medium zur Vermittlung des Willens“ ihrer Dienstherren definiert,2 in der politischen Praxis begriffen diese den Fürstendienst jedoch als Teilhabe an Herrschaft sowie den Ressourcen ihrer Dienstherren und agierten entsprechend selbstbewusst. Nicht zuletzt deshalb sollten verschiedene Kontrollmechanismen dafür Sorge tragen, dass die Gesandten ihre Handlungsspielräume nicht überschritten.

1 Hillard von Thiessen / Christian Windler: Einleitung. Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive. In: Dies. (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln u. a. 2010, S. 1–12, hier S. 5. 2 Ebd., S. 8.

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Diese für ständige Gesandtschaften entwickelten Ansätze lassen sich, wie man an den vorgestellten Beispielen gesehen hat, nicht so einfach auf zeitlich befristet tagende Reichstage oder Friedensverhandlungen übertragen, bei denen die Gesandten eng begrenzte Weisungen für aktuelle Problemlagen erhielten und nur für diesen Auftrag entsandt wurden. Mikropolitische oder akteurszentrierte Studien sind häufig schon deshalb nicht möglich, weil über die Reichstagsgesandten oder Gesandten auf den Friedenskongressen wenig bekannt ist. Außer den Berichten und Korrespondenzen mit ihren Dienstherren existieren kaum aussagekräftige Quellen. Nicht zuletzt deshalb hat die historische Friedensforschung die Gesandten des Westfälischen Friedenskongresses lange Zeit nicht als Akteure wahrgenommen. Selbst ein so wichtiger Protagonist wie der kaiserliche Gesandte, Maximilian Graf von Trauttmansdorff, der aufgrund des sogenannten Trauttmansdorffianum als der eigentliche Verfasser des Westfälischen Friedens gilt, wurde erst vor wenigen Jahren wieder stärker ins Zentrum der Forschung gerückt.3 Er ist ein sehr gutes Beispiel dafür, inwiefern die unterschiedlichen Rollen, die ein Fürst oder Monarch in sich vereinte, auch eine Herausforderung für ihre Gesandten darstellten.4 Rollenkonkurrenz führte zu Interessenkonkurrenz, die wiederum mehrere Handlungsoptionen für den Gesandten zuließ. Die dadurch ermöglichten Handlungsspielräume sollten durch eine klare durch den Dienstherrn vorgegebene Priorisierung der konkurrierenden Interessen eingegrenzt werden. Dies bedurfte in erster Linie eines intensiven Kommunikationsprozesses zwischen Herrn und Gesandtem, was die Konsensfindung in Konkurrenzsituationen nicht unbedingt beförderte. Nicht zuletzt unkluge Priorisierungen bargen die Gefahr, politisch ins Abseits zu geraten, wie alle drei Beiträge beispielhaft verdeutlichen können. Für den erfolgreichen Abschluss des Westfälischen Friedens spielten in der letzten Verhandlungsphase ab Januar 1648 die reichsständischen Gesandten, und zwar insbesondere diejenigen der sogenannten Dritten Partei eine zentrale Rolle.5 Auch wenn es sich dabei um eine fluide Gruppe handelte, so ist doch bemerkenswert, dass protestantische und katholische Gesandte das gemeinsame Ziel verfolgten, dem Friedensschluss endlich zum Durchbruch zu verhelfen, auch wenn man sich dabei über konkurrierende Interessen anderer Parteien hinwegsetzen musste. Interessant ist dabei – wie Volker Arnke zeigen kann – das spannungsvolle Verhältnis

3 Konrad Repgen: Maximilian Graf Trauttmandorff. Chefunterhändler des Kaisers beim Prager Frieden und beim Westfälischen Frieden. In: Guido Braun / Arno Strohmeyer (Hg.): Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Münster 2013, S. 210–228. 4 Lena Oetzel: Zwischen Dynastie und Reich. Rollen- und Interessenkonflikte Ferdinands III. während der Westfälischen Friedensverhandlungen. In: Katrin Keller / Martin Scheutz (Hg.): Die Habsburger Monarchie und der Dreißigjährige Krieg. Köln u. a. 2020, S. 161–176. 5 Volker Arnke / Siegrid Westphal (Hg.): Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. Berlin / Boston 2021.

Kommentar

innerhalb der Gruppe der katholischen Reichsstände auf dem Friedenskongress, die sich gegen Ende der Verhandlungen immer stärker ausdifferenzierte. Die zwischen den friedensunwilligen katholischen Maximalisten und den kompromissbereiten katholischen Prinzipalisten als Mitgliedern der Dritten Partei auftretenden Spannungen spiegeln eine Verschiebung der Interessen wider, die letztlich neue Konkurrenzverhältnisse schuf. Während die Maximalisten an den katholischen Maximalforderungen festhielten, rückten die Prinzipalisten davon ab und orientierten sich vorrangig an landesherrlichen und Reichsinteressen. Für die in der Dritten Partei versammelten protestantischen und katholischen Reichsstände entfaltete das nun vorrangige Argument der Rettung des Reichs vor dem Untergang integrative Wirkung. Mitunter reizten die Gesandten der Dritten Partei dabei ihre Handlungsspielräume sehr weit aus und zogen sich aufgrund dessen den massiven Unwillen des Kaisers sowie der katholischen Maximalisten zu. Der Kaiser sah in ihnen die Hauptursache dafür, dass seine Gesandten immer stärker isoliert und seine Interessen zurückgedrängt wurden. Diese Schuldzuweisung an die Gruppe der Gesandten der Dritten Partei und der Vorwurf ihrer Eigenmächtigkeit ermöglichten es ihm aber auch, weiterhin mit ihren Dienstherren zu kommunizieren, so dass der Westfälische Frieden letztlich unter Einbeziehung des Kaisers geschlossen werden konnte. Wie problematisch es zudem sein konnte, wenn in Aushandlungsprozessen keine Gesandten dazwischengeschaltet waren, sondern der Fürst direkt in eigener Sache verhandelte, kann Volker Arnke am Beispiel des katholischen Maximalisten Franz Wilhelm von Wartenberg auf dem Westfälischen Friedenskongress nachweisen, der aufgrund seiner unnachgiebigen konfessionellen Haltung letzten Endes isoliert und übergangen wurde. Der Reichstag repräsentierte das hierarchische Herrschaftssystem des römischdeutschen Reiches, in dem jeder Reichsstand einen bestimmten Rang einnahm. Die als gottgewollt verstandene Rangordnung war keinesfalls statisch, sondern wurde agonal ausgefochten und konstituierte sich im Zeremoniell. Besondere Bedeutung kam dabei dem Alter und dem Ansehen der Dynastie zu. Aber nicht nur die Konkurrenz zwischen den Dynastien, sondern auch die innerdynastische Konkurrenz erwies sich als dynamisierender Faktor auf der politischen Bühne des Reichstags, wie Marcus Stiebing am Beispiel der Ernestiner zeigen kann. Die Konkurrenz zwischen Sachsen-Weimar und Sachsen-Altenburg um den Vorrang bei der Führung des Reichstagsmandats und die Anwartschaft auf die sächsische Kurwürde spielte sich in einem Geflecht von konkurrierenden Interessen unterschiedlicher Akteure ab, wobei dem sächsischen Kurfürsten als Vormund der ernestinischen Prinzen eine maßgebliche Rolle zukam. Dass diese Konkurrenzsituation 1608 im Umfeld des Reichstages an der Frage der gesandtschaftlichen Vertretung eskalierte, scheint symptomatisch zu sein. Die Angst des sächsischen Kurfürsten und des Kaisers, dass die Gesandten Sachsen-Weimars durch die Verfolgung ihrer dynastischen Interessen auf dem Reichstag die Reichstagsgeschäfte behindern könnten, zeigt

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die große Bedeutung, die man dem Einfluss der Gesandten auf die Reichspolitik beimaß. Nicht zuletzt deshalb wurden die weimarischen Gesandten gezielt ausgeschaltet und von den Reichstagsgeschäften ferngehalten. Im Hintergrund spielte dabei sicher auch eine andere Konkurrenzsituation eine Rolle, nämlich die Funktion des Kaisers als Quelle allen Rechts und höchstrichterlicher Instanz, die von den Reichsständen zunehmend infrage gestellt wurde. Der Versuch von Dorothea Maria von Sachsen-Weimar, ein für ihren Sohn nachteiliges Urteil des kaiserlich gesinnten Reichshofrats am Reichstag anhängig zu machen, musste von Seiten des Kaisers als Angriff auf seine höchstrichterliche Autorität interpretiert werden, so dass er gar nicht anders handeln konnte, als Sachsen-Weimars Versuche der Revision des Urteils durch den Reichstag zu verhindern. In ähnlicher Weise trifft dies auch auf das von Stefanie Freyer geschilderte Beispiel zu. Auswärtige Kronen hatten offiziell keinen Zugang zum Reichstag, dennoch entsandten sie Vertreter, um auf unterschiedlichen Wegen Einfluss auf die Reichspolitik zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist der englische Gesandte Stephen Lesieur auf dem Reichstag von 1613. Den Hintergrund bildeten die problematische Situation in der Reichsstadt Aachen und der Jülich-Klevische Erbfolgestreit, der das Reich in einen umfassenden Krieg zu führen drohte. Lesieur sollte dafür Sorge tragen, dass der englische König als Schiedsrichter im Erbfolgestreit anerkannt wird. Ein entsprechender Vorstoß des englischen Gesandten, der mit gezielten Fehlinformationen agierte, wurde von kaiserlicher Seite als Affront aufgefasst, da der Anspruch des englischen Königs als Vermittler mit der kaiserlichen Rolle als höchstrichterliche Instanz im Reich kollidierte. Diese aggressiven Praktiken Lesieurs waren offenbar durch die Instruktion des englischen Königs gedeckt und wurden – trotz kaiserlichen Insistierens beim englischen Hof – nicht geahndet. Lesieur handelte im Sinne des englischen Königs, dennoch konnte der Kaiser zwischen Dienstherr und Gesandten eine Interessenkonkurrenz konstruieren und den Letzteren damit als allein Schuldigen an der Provokation ausmachen. Dieses für den englischen König gesichtswahrende Verhalten ermöglichte es dem Kaiser, weiterhin mit ihm diplomatische Beziehungen zu pflegen. Ein kurzes Fazit: Gesandte konnten von ihren Dienstherren gezielt eingesetzt werden, um z. B. Extrempositionen auszuloten, divergierende Optionen zu sondieren, Entscheidungsfindungsprozesse zu verlangsamen oder um Kontakte mit anderen Reichsständen herzustellen, mit denen man offiziell konkurrierte. Dabei besaßen sie durchaus Handlungsspielräume. Wenn diese jedoch aus Eigenmächtigkeit überschritten wurden oder sich die Konkurrenten brüskiert fühlten, dann war es auch möglich, die Gesandten zum „Sündenbock“ zu machen und sie im Ernstfall abzuziehen, um Verhandlungen nicht zum Scheitern zu bringen. Der Einsatz von Gesandten konnte mit Blick auf unterschiedliche Konkurrenzsituationen also beides bewirken: den Konsens fördern, aber auch bestehende Konkurrenzsituationen verschärfen, wenn nicht sogar neue Konkurrenzen produzieren.

Sektion 6: Fetisch Konkurrenz: Digitale Spiele als Inszenierung frühneuzeitlicher Konfliktfelder

Josef Köstlbauer, Eugen Pfister, Tobias Winnerling

Piraten, Ninja und Strategen! Digitale Spiele als hyperkompetitive Inszenierung frühneuzeitlicher Konfliktfelder

Geschichte: Ein Wettstreit? Wie ist es eigentlich gewesen, damals in der Frühen Neuzeit? Digitale Spiele wie „Empire: Total War“1 und „Europa Universalis IV“2 geben darauf unbekümmert eine eindeutige Antwort: Geschichte ist in hier gleichbedeutend mit Krieg, Eroberung, Konkurrenz. Formen medialer Repräsentation von Geschichte sind maßgebend für das Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit in unserer Gesellschaft, ob wir wollen oder nicht. Gerade digitale Spiele sind derartige Diskursmaschinen, die Politik, Gesellschaft und Kultur reflektieren und ihren diskursiven Rahmen (mit-)bestimmen.3 Die Frage, wie Geschichtsbilder in digitalen Spielen konstruiert werden, ist deshalb von zentraler Relevanz für die Geschichtswissenschaft, weil sie Aufschluss über in der jeweiligen Öffentlichkeit verbreitete Geschichtsverständnisse gibt. Was für Darstellungen der Frühen Neuzeit lassen sich also in Spielen finden, und wie können Frühneuzeithistoriker*innen sich ihnen produktiv annähern? Inwieweit handelt es sich bei den historischen Settings in Spielen um den Versuch einer Rekonstruktion der frühneuzeitlichen Gegebenheiten, inwiefern um den einer möglichst konsumentengefälligen Inszenierung derselben, und lassen sich diese Bestrebungen angesichts der dabei entstandenen Produkte überhaupt voneinander trennen? Geschichte im digitalen Spiel erscheint vor allem als Ereignisgeschichte, meist als Militärgeschichte. Was aber ist der Grund dafür? Das Agonale, der Wettstreit, ist – auch historisch betrachtet – das Grundprinzip der meisten Spiele (was nicht heißt, dass es in jedem Spiel auftreten muss):4 Schach, Dame, Go, Mensch Ärgere Dich Nicht – in vielen, deutlich agonal ausgerichteten Spielen ringen zwei oder

1 Empire: Total War: Sega / Creative Assembly (Linux, MacOS, Windows) 2009. 2 Europa Universalis IV: Paradox Interactive/Paradox Development (Linux, MacOS, Windows) 2013. 3 Rolf Nohr: The Game is a Medium: The Game is a Message. In: Tobias Winnerling / Florian Kerschbaumer (Hg.): Early Modernity and Video Games. Newcastle-upon-Tyne 2014, S. 2–23; hier S. 14–16; Josef Köstlbauer: Editorial. In: Computer – Spiele – Geschichte. Historische Sozialkunde 34/4 (2013), S. 4–5. 4 Roger Caillois definierte 1955 âgon als eines der vier grundlegenden Elemente des Spiels. Vgl. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt am Main 1982, S. 22–24. Johan

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mehr Konkurrent*innen in klar definierten Situationen miteinander um den Sieg. Am Ende gibt es Gewinner*innen und Verlierer*innen, Sieger*innen und Besiegte. Damit eine Seite gewinnen kann, müssen eine oder mehrere andere verlieren. Mit der massenweisen und weltweiten Verbreitung digitaler Spiele seit den 1980er Jahren hat sich dieses Konkurrenzparadigma im Spiel nicht grundlegend gewandelt. Vielmehr scheint die Übersetzung von Spielideen in eine binäre Notierung digitaler Codes zu einer Stärkung des agonalen Prinzips geführt zu haben. Auch wenn die Möglichkeiten, die Spielsituationen auszugestalten, mit fortschreitenden technischen Entwicklungen des Mediums immer weiter gewachsen sind, ist es doch auch heute noch so, dass zumeist entweder der Wettkampf zwischen menschlichen Spieler*innen (mittels des Programms) oder zwischen menschlichen Spieler*innen und Programm inszeniert wird. Ein solches agonales Verhältnis liegt auch dort vor, wo das Spiel darin besteht, in Kooperation mit anderen Spieler*innen gegen das Programm zu bestehen. Trotz – oder eigentlich gerade wegen – dieser Ubiquität des Agonalen in unseren Spielen ergibt es Sinn, sich die Umsetzung dieses (Wett-)Kampfs in digitalen Spielen genauer anzusehen, denn sie ist Ausdruck einer bestimmten Sichtweise des Historischen. Die leitende These dieses Beitrags ist, dass historisierende Spiele, also jene Spiele, deren prägendes Merkmal eine bewusst historisch angelegte Inszenierung ist,5 zutiefst vom Paradigma der Konkurrenz geprägt sind und eine Vorstellung von Geschichte als inhärent kompetitivem Geschehen perpetuieren. Dabei gehen wir hier der Frage nach, ob solche historisierenden Spiele nicht über den bereits spielinhärenten agonalen Moment hinaus eine „Hyperkompetitivität“ inszenieren. Unter diesem Begriff verstehen wir eine durch Spielprinzip und -erzählung klar vorgegebene Konkurrenzsituation, die von den Spielenden nicht umgangen werden kann und ein binäres Ergebnis (Sieg oder Nicht-Sieg) zur Folge hat. „Hyperkompetitivität“ ist dabei ursprünglich ein Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft, der einen durch besonders rasche und aggressive Wettbewerbsmanöver geprägten Markt bezeichnen soll, in dem es zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen notwendig ist, die der Mitbewerber*innen zu zerstören, da aufgrund der Rahmenbedingungen friedliche Koexistenz nicht möglich sei.6 Das

Huizinga hatte 1938 dem agonalen Element einen weniger eindeutigen kategorialen Wert zugemessen. Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur. Reinbek 22 2011, S. 84–89. 5 Vgl. Florian Kerschbaumer / Tobias Winnerling: Postmoderne Visionen des Vor-Modernen. Des 19. Jahrhunderts geisterhaftes Echo. In: Dies. (Hg.): Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2014, S. 11–24, hier S. 14; kritisch dazu Nico Nolden: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme. Berlin 2019, S. 65–66. 6 Laure Dikmen u. a.: L’instabilité des relations coopératives dans un environnement hypercompétitif. Le Cas Sony—Nintendo. In: Vingtième Conférence de l’Association Internationale de Management Stratégique (AIMS). Nantes 2011. URL: http://www.strategie-aims.com/events/conferences/4-xxeme-

Piraten, Ninja und Strategen!

trifft nicht nur auf den international umkämpften Markt für digitale Spiele zu,7 es beschreibt auch die prozessualen und Handlungsbedingungen innerhalb der einzelnen Spiele sehr treffend. Gerade im Fall historisierender Spiele zeigt sich die langfristige Dominanz jenes Konflikt- beziehungsweise Konkurrenz-Paradigmas. In strategischen Simulationen geht es nach wie vor in den meisten Spielen darum, mittels ständiger Eroberung und Expansion die strategische (Welt-)Karte in der eigenen Farbe einzufärben. Aber auch historisierende Wirtschaftssimulationen werden durch ein (oft ahistorisches) Konkurrenz-Paradigma geprägt: dynastisch, ständisch oder zünftig geprägtes Denken wird von der Spielmechanik zugunsten eines modernen, hochkapitalistischen Effizienz-, Produktivitäts- und Expansionsdenkens verdrängt.8 Am Ende erlaubt der Code auch hier nur Sieger*innen und Besiegte. Friedliche Koexistenz und enge Kooperation mit den Nachbar*innen wird von den wenigsten Spielen als Erfolg belohnt. Seit den späten 1970er Jahren wurden in historisierenden digitalen Spielen vor allem zwei Stränge von Konkurrenzsituationen modelliert: Individualisierte Konflikte, in denen Spieler*innen in die Rollen einzelner Protagonist*innen schlüpfen, und generalisierte Konflikte, in denen Organisationseinheiten wie Handelskompanien, Armeen oder Staaten durch die Spieler*innen einander gegenübergestellt wurden. Die jeweils inszenierten historischen Zusammenhänge erscheinen so im Speziellen oder Allgemeinen als Teile eines – hyperkompetitiven – Kampfs ums Dasein, der keine Zwischenpositionen und keine Verhandlungen kennt, sondern nur die Alternative, den*die Gegner*in zu vernichten oder selbst vernichtet zu werden.9 In einer derartigen Umgebung wird die Akkumulation möglichst großer Macht auf Kosten aller anderen Beteiligten und ohne Rücksicht auf Verluste als einzige sinnvolle Strategie erkennbar – und diegetisch damit implizit als zentrale Hintergrund- und Motivationsfolie historischer Prozesse und Handlungsweisen inszeniert. Entsprechend wird auch Geschichte in digitalen Spielen dargestellt, als ein ewiger Wettstreit um die Vorherrschaft. Die drei Beispiele für frühneuzeitliche Settings in digitalen Spielen, anhand derer wir im Folgenden exemplarisch die Umstände dieser Beziehung nachzeichnen – Piraten; Ninja; große Feldherren und

conference-de-l-aims/communications/1251-quand-la-cooperation-est-creatrice-de-la-rivalite-lecas-sony-nintendo/download (28.08.2020), S. 1–24, hier S. 5. 7 Vgl. Dominic Arsenault: Super Power, Spoony Bards, and Silverware. The Super Nintendo Entertainment System. Cambridge (MA) 2017, S. 20. 8 Vgl. Stefan Baur: Historie in Computerspielen: „Anno 1602 – Erschaffung einer neuen Welt“. In: Werkstatt Geschichte 23 (1999), S. 83–91. 9 Tobias Winnerling: Sicherer Berg, gefährlicher Feind. Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit. In: Christoph Kampmann / Ulrich Niggemann (Hg.): Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation. Köln u. a. 2013, S. 712–727, hier S. 724–725.

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Josef Köstlbauer, Eugen Pfister, Tobias Winnerling

ihre Schlachten –, sind unseren jeweiligen akademischen Biographien geschuldet. Das so entstandene Korpus erlaubt uns aber einen vergleichenden Blick auf die Repräsentation von Konflikt und Konkurrenz in den untersuchten Titeln. Pirat*innen sind in Spielen ständig bemüht, ihre Flotte und Mannschaft zu vergrößern, um noch größere Städte überfallen zu können; Ninja müssen im Kampf gegen unzählige Gegner*innen über sich hinauswachsen; allgemein wird Geschichte zur immerwährenden Schlacht, ein Nullsummenspiel. Die übergreifende analytische Frage lautet dann, worin das begründet liegt.

Geschichte: Ein Unique Selling Point Unserer Ansicht nach muss die Begründung nicht in den digitalen Spielen selbst gesucht werden, sondern in der Form ihrer Produktion. Als Produkte beziehungsweise Waren auf einem globalisierten Markt treten Spiele zueinander in Wettbewerb um die Gunst der Käufer*innen. Das gilt naturgemäß auch für Spiele mit einem historischen Setting. Geschichte funktioniert in dieser Logik vor allem als Verkaufsargument, sie wird zur Marke10 beziehungsweise zum Unique Selling Point.11 Damit treten auch die in den einzelnen Titeln präsentierten Geschichtsbilder gegeneinander in Konkurrenz. Eine für Historiker*innen spannende Frage ist also, welche historischen Ereignisse sich erfolgreicher verkaufen lassen als andere. Während sich etwa zum spanischen und österreichischen Erbfolgekrieg jeweils nur vereinzelte Spieletitel finden,12 gibt es ein gutes Dutzend zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, über dreißig zur sengoku-Zeit und über vierzig zu den napoleonischen Feldzügen.13 Hier zeigt sich also bereits deutlich, dass gewisse historische Kriege erfolgreicher im kollektiven Gedächtnis verankert sind – und somit besser als Verkaufsargument funktionieren – als andere. Der Grund liegt darin, dass, ganz ähnlich wie im Film, bestimmte nationale Narrative und Erinnerungsorte in digitalen Spielen sehr viel prominenter vertreten sind als andere. Die US-amerikanische Spieleindustrie dominiert den amerikanischen und weite Teile des europäischen

10 Vgl. Benedikt Schüler u. a.: Geschichte als Marke. Historische Inhalte in Computerspielen aus der Sicht der Softwarebranche. In: Angela Schwarz (Hg.): „Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?“ Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte in Computerspiel. Münster 2010, S. 199–216. 11 Vgl. Eugen Pfister: Why History in Digital Games Matters. Historical Authenticity as a Language for Ideological Myths. In: Martin Lorber / Felix Zimmermann (Hg.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past. Bielefeld 2020. 12 Cossacks 3: Koch Media GmbH / GSC Game World (Linux, Windows) 2016; Wars of Succession: Slitherine / AGEod (Windows) 2018. 13 Eugen Pfister: Von Krieg und Spielen. In: WASD 13 (2018), S. 34–38.

Piraten, Ninja und Strategen!

Spielemarkts und sorgt so – genauso wie Hollywood14 – für die Globalisierung amerikanischer Geschichtsnarrative und -mythen.15 Auch Ereignisse und Themen anderer nationaler Geschichten finden sich so vor allem als Spiegelungen amerikanischer Diskurse in Produktionen digitaler Spiele wieder. In ähnlicher Weise beherrschen japanische Produzenten den japanischen und damit verbunden auch den erweiterten pazifischen Markt für digitale Spiele, was dazu führt, dass dort in ähnlicher Weise japanische Stereotype und Geschichtsbilder vorherrschen.16 So werden dort die aus japanischer Perspektive problematisch zu thematisierenden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts wesentlich weniger spielförmig remedialisiert als die Übergangszeit vom japanischen Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, das sengoku (die Periode der „Streitenden Reiche“, 1477–ca. 1600).17 Was sich hier zeigt und was wir in den folgenden Fallstudien näher betrachten, ist, dass die kommerziellen Konkurrenzlogiken des digitalen Spielemarkts des späten 21. Jahrhunderts die erinnerungskulturellen Logiken der Darstellung der Frühen Neuzeit nicht nur thematisch bestimmen, sondern diskursiv überprägen. Es finden sich zwar durchaus immer wieder Beispiele für geschichtsbewusste Entwickler*innen: Das Handbuch zum ursprünglich 1987 erschienenen Spiel „Pirates!“18 belegt etwa, dass sich Sid Meier ausführlich mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Monographien zur Geschichte der Piraterie auseinandergesetzt hatte.19 Der Produktions- und Entwicklungskonzern Ubisoft verfügt mittlerweile über einen eigenen Historiker und sucht für die Spiele der „Assassin’s Creed“-Reihe vermehrt die Kooperation mit universitär angebundenen Historiker*innen.20 Uns interessiert aber vor allem die geschichtskulturelle Einbettung frühneuzeitlicher Phänomene in die so entstehenden hochmodernen Medienprodukte. Die zeitge-

14 Vgl. Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America’s Advance through 20th -Century Europe. Cambridge (MA) 2006. 15 Tanine Allison: The World War lI Video Game, Adaptation, and Postmodern History. In: Literature Film Quarterly 38/3 (2010), S. 183–193, hier S. 183, Richard Slotkin: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in 20th Century America. Norman 1998, S. 624–626; vgl. auch: Lawrence A. Kreiser / Randal W. Allred (Hg.): The Civil War in Popular Culture. Memory and Meaning. Lexington 1993; Noel Sturgeon: Environmentalism in Popular Culture. Gender, Race, Sexuality, and the Politics of the Natural. Tucson 2009. 16 Vgl. Rachael Hutchinson: Japanese Culture Through Videogames. Oxford / New York 2019, S. 96. 17 Hutchinson, Japanese Culture, S. 191–192. 18 (Sid Meier’s) Pirates!: MicroProse Software (PC Booter) 1987. 19 Sid Meier / Arnold Hendrick: Pirates! Chase Fame & Fortune on the High Seas, Tetbury 1987. Vgl. auch Gunnar Sandkühler: Sid Meier’s PIRATES! In: Kerschbaumer / Winnerling, Frühe Neuzeit, S. 181–194; Eugen Pfister: „Don’t eat me I’m a mighty pirate.“ Das Piratenbild in Videospielen. In: ebd., S. 195–210. 20 Eugen Pfister: Der Pirat als Demokrat: Assassin’s Creed IV: Black Flag – eine Rezension. In: Frühneuzeit-Info 26 (2015), S. 289–290.

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schichtliche Rückkopplung der inszenierten Phänomene an die jeweiligen Konsumwelten steht dabei in einem immer zu beachtenden Spannungsverhältnis zur Art und Weise der Inszenierung. Sid Meier räumte den Errol-Flynn-Piratenfilmen der 1950er Jahre ebenso viel Raum bei der Gestaltung von „Pirates!“ ein wie seiner Sekundärliteratur.21 Gerade diese Spannung lässt aber erst die ganz spezifische Interpretation frühneuzeitlicher Phänomene durch die Linse des hyperkompetitiven Gewinner-Verlierer-Paradigmas digitaler Spiele ertragreich werden für Historiker*innen, die sich mit diesen Phänomenen üblicherweise ganz anders auseinandersetzen.

Geschichtswissenschaft und historisierende Spiele Die häufig zuallererst gestellte Frage, ob denn die in den Spielen dargestellten Sachverhalte historisch gesichertem Wissen entsprechen, ist dabei – wie auch bei der Behandlung historischer Filme und Romane22 – weitgehend sinnlos. Digitale Spiele stellen im Normalfall keinen Wahrheitsanspruch. Das zeigt sich besonders eindrücklich an Ubisofts „Assassin’s Creed“-Reihe, in der zwar zum einen bekannte historische Episoden nach dem neuesten Stand der Forschung rekonstruiert werden sollen, zugleich aber eine fantastische Geschichte von Geheimbünden und außerirdischen Artefakten erzählt wird.23 Ansprüche auf historische Treue in Spielen sind deshalb nicht nur problematisch, weil sie eine grundsätzliche Ignoranz gegenüber den besonderen medialen Bedingungen und Prägungen der Spiele einerseits und der sie befragenden Geschichtswissenschaft andererseits bedeuten, sondern auch, weil sie stattdessen die Möglichkeit einer vorgeblich direkten, wahrhaftigen Repräsentation von Vergangenheit insinuieren. Stattdessen ist zu fragen, ob Geschichte im Verständnis einer sinnstiftenden Erzählung der Vergangenheit überhaupt spielbar ist. Was macht das Spiel mit der erzählten Vergangenheit? Sind diese beiden apriorischen Instanzen menschlicher Kultur überhaupt miteinander vereinbar? Spiel, so der niederländische Philologe Johan Huizinga (1872–1945), ist „ein freies Handeln“24 – wie lässt sich das vereinbaren mit der Geschichte, wo doch die Vergangenheit abgeschlossen ist und unumkehrbar? Man könnte einwenden, dass jeder Akt der Geschichtserzählung,

21 Sid Meier / Jennifer L. Noonan: Sid Meier’s Memoir! A Life in Computer games, New York, NY / London 2020, S. 74. 22 Josef Köstlbauer / Eugen Pfister: Vom Nutzen und Nachteil einer Historie digitaler Spiele. In: Christoph Hust (Hg.): Digitale Spiele. Interdisziplinäre Perspektiven zu Diskursfeldern, Inszenierung und Musik. Bielefeld 2018, S. 89–106, hier S. 89 f. 23 Erster Titel der Serie war: Assassin’s Creed: Ubisoft (PlayStation 3, Xbox 360) 2007. 24 Huizinga, Homo ludens, S. 16.

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einschließlich der wissenschaftlichen, ein schöpferischer Akt ist, Geschichte also immer wieder neu entsteht. Gleichzeitig bleiben aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive historische Fakten und Sachverhalte unhintergehbar, selbst wenn sich ihre Interpretation mit Fortschritt des Wissens notwendig ändert. Das Spiel hingegen beharrt auf dem Element der Kontingenz. Das Spiel beginnt jedes Mal aufs Neue, jeder Sieg, jede Niederlage, jeder Abbruch bleibt daher vorläufig. Mit jedem Neubeginn beziehungsweise Neustart sind neue Strategien, neue Gegebenheiten möglich.25 Das Spiel birgt daher auch immer den Aspekt der Probehandlung, die immer neu angepasst wird, bis tatsächliches und erwünschtes Ergebnis einer Handlung einander entsprechen.26 In intradiegetischen Konkurrenzsituationen bedeutet das für die Spieler*innen, die jeweilige Herangehensweise so lange zu optimieren, bis die Situation zu ihren Gunsten entschieden, der „Kampfpreis“ errungen wurde.27 Gerade in dieser Perspektive werden Spiele mit einem historischen Setting zu lohnenden Quellen: Die Art und Weise, wie die Kriege der Frühen Neuzeit, wie das „Goldene Zeitalter“ der karibischen Piraterie oder die Endphase des japanischen sengoku im Spiel inszeniert, remedialisiert oder reiteriert werden, reflektiert – wenn auch nicht bewusst – immer einschlägige öffentliche Diskurse. Wir sehen unsere Aufgabe hier daher darin, die vermittelten Geschichtsbilder in Spielen und ihre immer wieder neu referenzierten Bestandteile als solche zu identifizieren, ihre Herkunft und Wirkung zu erforschen und uns damit als Historiker*innen selbst in Bezug zu den Geschichtsbildern zu setzen, die außerhalb der Geschichtswissenschaft hervorgebracht werden.28 Das gilt es nun anhand unserer Beispielfälle einzulösen.

25 Vgl. Tobias Winnerling: The Eternal Recurrence of All Bits. How Historicizing Video Game Series Transform Factual History into Affective Historicity. In: Eludamos. Journal for Computer Game Culture 8/1 (2014), S. 151–170, hier S. 155–156; Josef Köstlbauer: Spiel und Geschichte im Zeichen der Digitalität. In: Wolfgang Schmale (Hg.): Digital Humanities. Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität. Stuttgart 2015, S. 95–124. 26 Alison Gazzard / Alan Peacock: Repetition and Ritual Logic in Video Games. In: Games and Culture 6 (2011), S. 499–512, DOI: 10.1177/1555412011431359, hier S. 506. 27 Vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 33–58, hier S. 34. 28 Vgl. Florian Kerschbaumer: (Post-)koloniale Narrative in Computerspielen. Globalhistorische Perspektiven und -potentiale. In: Josef Köstlbauer u. a. (Hg.): Weltmaschinen. Digitale Spiele als globalgeschichtliches Phänomen. Wien 2018, S. 124–148.

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„Sail Ho!“ Pirat*innen in digitalen Spielen Die Darstellungen von Pirat*innen in digitalen Spielen sind insofern eine besonders spannende Quelle, weil sich hier deutlich ein Bruch mit einer traditionellen historisierenden Medialisierung zeigt. Schon Pirat*innen-Erzählungen im Theater, Roman und Film bedienten zumeist einen zentralen agonalen Moment, indem sie den edlen Freibeuter dem ruchlosen Piraten gegenüberstellten. Während frühe Spiele diesen Topos noch recht getreu auch als Spiel umsetzten, ging dieser aber im Laufe der Zeit immer mehr verloren. Er wurde von einem anderen agonalen Moment – der kapitalistischen Konkurrenz unter Pirat*innen – verdrängt. Piraten als kultureller Topos feierten bereits im siebzehnten Jahrhundert mit Theaterstücken wie Paul Scarrons (1610–1660) „Le Prince Corsaire“ (1662) erste Erfolge. Erstaunlich ist, dass Piratenerzählungen dabei über die Jahrhunderte – also von den ersten Dramen bis zu den Hollywood-Verfilmungen der Piratenromane Rafael Sabatinis (1875–1950) – vom Narrativ her erstaunlich konsistent blieben. Erzählt wurde fast immer die Geschichte eines tragischen Helden, der unverschuldet zum Piraten wird, dabei aber bemüht ist, einem eigenen Ehrenkodex gerecht zu werden. Angesichts des konstanten narrativen Modells ist die Frage nach der Funktion der Historisierung angebracht. Dieselbe Geschichte würde mit minimalen Veränderungen auch in ganz anderen Kontexten funktionieren. Es stellt sich also die Frage, ob der geschichtliche Hintergrund hier eine die Aussage legitimierende Funktion einnimmt.29 Die Historisierung des Narrativs naturalisiert die Erzählung, sie wird im Sinne von Roland Barthes’ (1915–1980) „Mythologies“ somit nicht mehr infrage gestellt, weil sie als „historisch“ wahrgenommen wird.30 Für uns von Interesse ist dabei, dass schon in dieser stereotypen Erzählung ein Moment der Konkurrenz eine zentrale Rolle spielt. Dabei handelte es sich hierbei weniger um einen Wettstreit Gleicher als um eine Entscheidung zwischen zwei Wegen: Dem ehrbaren Freibeuter stand fast immer ein ruchloser Pirat als andere Seite der Medaille gegenüber: Einem tugendhaften Captain Blood stand ein ruchloser Capitaine Le Vasseur gegenüber. Die moralische Aussage der Piratenerzählung war für alle – auch aufgrund der regelmäßigen Wiederholung – unmittelbar verständlich. Von Theaterstücken wie „Le Prince Corsaire“ über Abenteuerromane wie Emilio Salgaris (1862–1911) „Il Corsaro Nero“ (1898), Sabatinis „Captain Blood“ (1922) bis zu den ausgesprochenen erfolgreichen Verfilmungen von Michael Curtiz (Mihály Kertész, 1886/88–1962) wie „Captain Blood“ (1935) und „The Sea Hawk“ (1940): Der bis in die 1950er Jahre fast ausschließlich männliche Held ist meist 29 Vgl. Eugen Pfister: Why History in Digital Games Matters. In: Martin Lorber / Felix Zimmermann (Hg.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past, Bielefeld 2020, S. 47–72, hier S. 65–66. 30 Roland Barthes: Mythologies. Paris 2014, S. 236.

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ein Adeliger oder stammt zumindest aus einem gehobenen Stand. Er wird ohne eigenes Verschulden, etwa als Opfer einer Intrige wie im „Schwarzen Korsaren“, in ein vogelfreies Leben als Krimineller gezwungen. Darin ist er zwar als Pirat äußerst erfolgreich (wobei nur sehr selten auf Überfälle auf Handelsschiffe eingegangen wird), unterscheidet sich aber von den wirklich kriminellen Piraten durch die Einhaltung eines strikten Ehrenkodex’. Nur dadurch bietet sich ihm gegen Ende der Geschichte die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren: Indem er die Tochter des Gouverneurs rettet oder eine Kolonie verteidigt, wird er schließlich wieder in den Schoß der Gesellschaft eingegliedert. Eine Erzählung mit einer sozialdisziplinierenden Funktion,31 nur mit mehr Rum und Erotik. Die Digitalen Spiele der 1980er und 1990er Jahre bezogen sich noch sehr direkt auf diese Erzähltradition. Besonders eindeutig lässt sich das in narrativen Spielen wie „Plundered Hearts“,32 einem text adventure, erkennen. Gerade in diesen frühen Spielen zeigten sich besonders deutlich die transmedialen Transferprozesse. Als interaktiver Text schloss sich „Plundered Hearts“ sehr eng an die Tradition der Piraten-Romanzen an. Die Entwicklerin des Spiels, Amy Briggs, erklärte dazu: „Plundered Hearts is about as historically accurate as an Errol Flynn Movie.“33 Gerade in Digitalen Spielen als vergleichsweise neuem Medium war der Rückbezug auf mediale Piratenbilder wichtiger als jener auf historische Vorbilder, was sich besonders in den Adventure-Satiren von Lucasfilm Games (später Lucas Arts), „The Secret of Monkey Island“ und „Monkey Island 2: Le Chuck’s Revenge“, zeigte34 – eben dadurch, dass sie sich über so viele medial einstudierte Topoi lustig machten. Möglich war das, weil diese Motive in den 1990er Jahren, lange nach dem Höhepunkt des Piratenfilms, noch im kollektiven Bewusstsein verankert waren. Ein Vergleich von Spielen mit historisierendem Piratensetting zeigt, dass dieses jahrhundertealte sozialdisziplinierende Motiv aber zunehmend an Bedeutung verlor. Erstmals zeigte sich das unserer Ansicht nach bei Sid Meiers „Pirates!“, das – gemessen an den technologisch beschränkten Möglichkeiten der frühen Spiele – eine erstaunlich detailgetreue und gut recherchierte Simulation einer Piratenkarriere in der Karibik war. Der Entwickler Sid Meier war dabei bemüht, auch dem

31 Eugen Pfister: „What did you say your occupation was? – I’m a grog-swilling, foul-smelling pirate“. Das Piratenbild in „alten“ und „neuen“ Medien. In: Andreas Obenaus u. a. (Hg.): Schrecken der Händler und Herrscher. Piratengemeinschaften in der Geschichte. Wien 2012, S. 248–269, hier S. 266. 32 Plundered Hearts: Infocom (Amiga, Amstrad CPC, Amstrad PCW, Apple II, Atari 8-bit, Atari ST, Commodore 64, DOS, MacOS), 1987. 33 Jimmy Maher: Plundered Hearts. In: The Digital Antiquarian, 23.10.2015. URL: https://www.filfre. net/2015/10/plundered-hearts/ (31.08.2020). 34 The Secret of Monkey Island: Lucasfilm Games (Amiga; Atari ST; PC: MS-DOS, Mac OS; FM Towns; Sega Mega-CD) 1990; Monkey Island 2: LeChuck’s Revenge: LucasArts (Amiga, PC: MS-DOS, Mac OS; FM Towns) 1991.

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populärkulturellen Piratenbild gerecht zu werden, indem elegante Degenduelle und Romanzen mit Gouverneurstöchtern eingebaut wurden: „We must confess to adding a few minor elements of romance and adventure. After all, no voyage would be complete without buried treasure maps, evil Spaniards, and beautiful women!“35 Dabei können wir aber schon hier – also 1987 – eine inhaltliche Neuorientierung des Piraten-Narrativs erkennen: Anstelle moralischer Anstrengung und der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zeichnete das Spiel Piraten als erfolgreiche und individualistische Abenteuer-Kapitalisten.36 Eine Inszenierung wirtschaftlicher Konkurrenz ersetzte die bisherige Darstellungsweise. Eine moralische Konvergenz – die Wiederaufnahme des unfreiwilligen Renegaten in die Gesellschaft – war nun nicht mehr möglich, lediglich eine kapitalistische Konvergenz. Je nach Reichtum bekam man zum Abschluss des Spiels einen höheren Stand in der Gesellschaft zugesprochen: vom Bettler bis zum Vizekönig. Das Spiel wurde von der Kritik gelobt, vor allem für die historische Detailgetreue: „This exiting new package gives you not only the opportunity to pretend that you’re a pirate or a buccaneer, but also the chance to take part in a carefully assembled historical simulation that recaptures an era and places you at its center“, las man etwa in „Compute!’s Gazette“ vom Oktober 1987.37 Zugleich ist das Spiel aber in seiner Mechanik als Wirtschaftssimulation, die die Spieler*innen mittels ihrer Angebotsstruktur38 zu einem möglichst ökonomischen, das heißt effizienten und gewinnmaximierenden Spielen motiviert, im Grunde genommen ahistorisch. Lässt man die Seegefechte und Degenduelle, die sich in „Pirates!“ wie kleine zusätzliche Spiele im Spiel spielen, außer Acht, bleibt ein Wirtschaftsmodell, das Spieler*innen lehrt, möglichst kostengünstig zu kaufen und teuer zu verkaufen und dabei die Betriebskosten (Mannschaft, Ausrüstung) niedrig zu halten. Die Avatar-Piraten inszenierten nicht mehr die Versöhnung des Individuums mit der Gesellschaft, sondern den Triumph des Individuums über das gesellschaftliche oder wirtschaftliche System. „Pirates!“ war dabei so erfolgreich, dass es in den nächsten drei Jahrzehnten zweimal überarbeitet und neu aufgelegt39 und mehrfach auch von der Konkurrenz mehr oder weniger direkt kopiert wurde. Neben plagiierenden Kopien wie „Sea Dogs“40

35 Meier / Hendrick, Pirates!, S. 82–83. 36 Vgl. Eugen Pfister: „In a world without gold, we might have been heroes!“ Cultural Imaginations of Piracy in Video Games. In: Forum for Inter-American Research 11/2 (2018), S. 30–43. 37 Keith Ferrell: Pirates! In: Compute!‘s Gazette 10 (1987), S. 59. 38 Adam Chapman: Digital Games as History. How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice. New York 2018, S. 173 f. 39 Pirates! Gold: Microprose/MPS Labs (Amiga CD32, DOS, Genesis, MacOS, Windows) 1993; Sid Meier’s Pirates!: Firaxis, (MacOS, Windows, iOS, XBOX, Playstation Portable, Wii) 2004. 40 Sea Dogs: Bethesda Softworks (Windows) 2000.

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inspirierte das Spiel unter anderem die erfolgreiche „Port Royale“-Spielreihe,41 die in der Tradition der „Patrizier“-Spiele stehend den Charakter einer Wirtschaftssimulation mit dem diskreten Charme einer Tabellenkalkulation noch verstärkte. Der Erfolg dieser neuen diskursiven Aussage, der des Piraten als individuellen Entrepreneurs im Mantel eines historisierenden Piratenbilds, lässt sich daran erkennen, dass sie sich nicht länger nur auf Wirtschaftssimulationen beschränkte: Mit „Assassin’s Creed: Black Flag“ hat diese Aussage in abgeschwächter Form auch Einzug in ein Actionspiel gefunden.42 Zwar finden sich auch hier noch Überreste des alten Piratennarrativs in Form korrupter Gouverneure und zu rettender Frauen, aber es geht nicht mehr um Rehabilitation. Stattdessen wird eine historisierende Piratenfigur nun als Inbegriff des Individualismus inszeniert, indem der Protagonist zum Vorkämpfer eines demokratischen Widerstandes gegen eine übermächtige Verschwörung stilisiert wird.43 Wenn es gilt, eine eigene Piratenflotte zu managen und den eigenen Piratenstützpunkt auszubauen, stellt sich „Black Flag“ dabei in die Tradition der Wirtschaftssimulationen. Piratenüberfälle werden so schnell mehr zu Arbeitsprozessen als zu Abenteuern. Das Beispiel der historisierenden Piraten in digitalen Spielen zeigt anschaulich, dass Geschichtsbilder zum einen hervorragende Quellen für die Ideengeschichte ihrer Zeit sind, zum anderen aber, dass die jeweilige Spielmechanik von zentraler Bedeutung für die Aussagen ist, die aus dem jeweiligen Titel intra- und extradiegetisch abgeleitet werden können.44 Interessant festzuhalten ist dabei, dass in den meisten digitalen Spielen – hier im eindeutigen Gegensatz zu den historischen Vorbildern – eine Kooperation mit anderen Pirat*innen nicht vom Programm vorgesehen und somit auch unmöglich ist. Jede*r raubt für sich alleine.

Nimmermüde Krieger und nationale Narrative – Ninja-Spieletitel Aber nicht nur Pirat*innen wurden als populärkulturelle Figuren in digitalen Spielen zum verkaufsförderlichen Symbol für die Überlegenheit des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Strukturen kodiert. Was für die westliche, vor allem US-amerikanische Spieleindustrie die Piraten waren, das waren für die japanische Spieleindustrie von den 1980ern bis in die 2000er Jahre die Ninja (忍者). Diese traten vor allem in den sogenannten sengoku jidai gēmu auf, also Spielen, die im

41 Port Royale: Gold, Power and Pirates: Tri Synergy / Ascaron (Windows) 2003. 42 Assassin’s Creed IV: Black Flag: Ubisoft (PlaySation 4, PlayStation 4, Wii U, Windows, Xbox 360, Xbox One) 2013. 43 Pfister, Der Pirat als Demokrat. 44 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Paderborn 3 2010, S. 147–152.

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Japan der Zeit der „Streitenden Reiche“ angesiedelt sind,45 und außerdem in beat ‘em up-Spielen, die mit einem martial arts-Hintergrund arbeiten.46 Im sengoku vollzog sich der Übergang von der Muromachi-Zeit (ca. 1336–1573), dem japanischen Spätmittelalter, um in europäisierenden Kategorien zu sprechen, zur globalen Periode der Frühen Neuzeit (in Japan ungefähr koextensiv mit der Edō-Zeit, ca. 1600–1868). Die Verortung im sengoku lieferte ein Etikett für ein ikonographisch und populärkulturell gut verankertes Zeitalter, für das im japanischen Publikum genügend Vorwissen bestand, um es als Kaufanreiz nutzen zu können, und das zugleich wegen seiner hohen Konfliktdichte viele spielerisch verwertbare Anknüpfungspunkte bot.47 Sengoku jidai gēmu unterscheiden sich dabei insofern von der Mehrzahl der in Japan produzierten digitalen Spiele, als sie bewusst nicht ohne klare national-kulturelle Verortung (mukokuseki) erstellt wurden, sondern eine als konkret und distinkt erscheinende Japanizität inszenieren.48 Dabei konnte eine möglichst detailreiche Simulation zu einem stabilen Kassenmagneten werden, wie die seit drei Jahrzehnten sehr populäre Serie „Nobunaga’s Ambition“.49 Hierbei handelt es sich um ein klassisches Strategiespiel gleich den im folgenden Abschnitt näher beleuchteten Beispielen, das seit 1986 in immer neuen Versionen wieder auf den Markt gebracht wird und durchaus auch außerhalb des japanischen Marktes erfolgreich verkauft wurde und wird. Die Figur des Feudal- und Kriegsherren Oda Nobunaga (織田 信長, 1534–1582) wird dabei als an der japanischen Reichseinigung tragisch gescheitertes Vorbild inszeniert, dem Spieler*innen nacheifern sollen. Aber was hat das alles mit den Ninja zu tun? Die ersten digitalen Spiele, die Ninja inszenierten, waren noch sehr unspezifisch. Ein Arcade-Automatentitel wie „Sasuke vs. Commander“50 nutzte sie 1980 nur als gesichtslose Antagonisten, vor denen die Spieler*innen einen sehr generisch dargestellten Shogun beschützen mussten.

45 Claudia Bonillo Fernández: Oda Nobunaga en los videojuegos de Japón. Imágenes de un personaje histórico. In: Juan F. Jiménez Alcázar / Gerardo F. Rodríguez (Hg.): Videojuegos e historia. Entre el ocio y la cultura. Murcia 2018, S. 35–59, hier S. 36. 46 Vgl. Chris Goto-Jones: Is „Street Fighter“ a Martial Art? Virtual Ninja Theory, Ideology, and the Intentional Self-Transformation of Fighting-Gamers. In: Japan Review 29 (2016), S. 171–208, hier S. 185–186. 47 Claudia Bonillo Fernández: El fantasma del Japón exótico. Approximación a la ambientación de Total War: Shogun 2 (Creative Assembly, 2011). In: e-tramas 5 (2020), S. 1–20. URL: http://e-tramas.fi. mdp.edu.ar/index.php/e-tramas/article/view/20 (20.08.2020), hier S. 2. 48 Victor Navarro Remesal / Antonio Loriguillo López: What Makes Gêmu Different? A Look at the Distinctive Design Traits of Japanese Video Games and Their Place in the Japanese Media Mix. In: Journal of Games Criticism 2/1 (2015), S. 1–18, hier S. 5. 49 Erster Titel war: Nobunaga‘s Ambition / 信長の野望・全国版 (Nobunaga no yabō: zenkokuban): KOEI (NES, PC) 1986. 50 Sasuke vs. Commander / サスケ VS コマンダ: SNK Corporation/Tose Co., Ltd. (Arcade) 1980.

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Bereits Mitte der 1980er Jahre jedoch inszenierten Titel wie „Ninja Kage“51 und „Ninja Jajamaru-kun“52 auch die Spieler*innen als Ninja, nicht nur die computergenerierten Antagonisten. Es gelang allerdings keinem westlichen Spieleproduzenten, auf dem Markt für Ninja-Titel gegenüber der japanischen Konkurrenz echte Erfolge zu erzielen.53 Untereinander standen die japanischen Produzenten in harter Konkurrenz, da vor allem finanzstarke Konzerne in das Geschäft mit digitalen Spielen eingestiegen waren, die nach Profitmaximierung strebten.54 Das Spielprinzip der daraus resultierenden Titel blieb relativ simpel: Durch das Besiegen gegnerischer Ninja, Krieger, samurai, manchmal auch Dämonen und Geister erwarben sowohl Spieler*innen wie Avatare neue Fähigkeiten, um schließlich zum ninjutsu (忍術)-Meister aufzusteigen.55 Was sich allerdings änderte, war die historische Zuschreibung, die immer spezifischer wurde. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist der Titel „Inindō“ der japanischen Entwicklerfirma KOEI aus dem Jahr 1991.56 KOEI produziert auch die „Nobunaga’s Ambition“-Reihe und hat sich insgesamt stark auf historisierende digitale Spiele mit japanischem Hintergrund spezialisiert. Historisch konkretisiert wird die Verortung durch die Zuschreibung der Spieler*innen zu den Ninja der Provinz Iga, die als eigenständiger politischer Faktor galten und möglicherweise im Zug seiner Eroberungspläne von Oda Nobunaga bekämpft wurden.57 Obwohl KOEI darauf Wert legt, festzustellen, dass die Spiele der „Nobunaga’s Ambition“-Reihe stets dem aktuellen Forschungsstand zum Thema entsprechen würden,58 gilt auch für diese, dass sie – ganz ähnlich wie die bereits diskutierten westlichen Piraten-Titel – wesentlich stärker auf den historischen Romanen des seinerzeit sehr populären und mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichneten japanischen Autors Shiba

51 Ninja Kage / 忍者影: Kuma Computers Ltd. / Hudson Soft Ltd. (MSX) 1984. 52 Ninja Jajamaru-kun / 忍者じゃじゃ丸くん: Jaleco (Arcade, MSX) 1985. 53 Gary Cross / Gregory Smits: Japan, the U. S. and the Globalization of Children’s Consumer Culture. In: Journal of Social History 38/04 (2005), S. 873–890, hier S. 886. 54 Martin Picard: The Foundation Of Geemu. A Brief History Of Early Japanese Video Games. In: Game Studies 13/2 (2013). URL: http://gamestudies.org/1302/articles/picard (21.08.2020), hier Abs. 11–12 u. 18. 55 Goto-Jones, „Street Fighter“, S. 188. 56 Inindō – Way of the Ninja/ 伊忍道 打倒信長 (Inindō – datō Nobunaga): KOEI (DOS, FM Towns, MSX, PC-88, PC-98, Sharp X68000, SNES) 1991. 57 Ein belastbarer Nachweis, dass 1581 bei der Invasion in Iga von Ninja-Clans beherrschte Dörfer ausgelöscht wurden, lässt sich nicht führen: Bonillo Fernández, Oda Nobunaga, S. 38. 58 Claudia Bonillo Fernández: Desde la yoroi hasta los kimonos de la Corte. Los personajes de Nobunaga’s Ambition: Sphere of Influence. In: e-tramas 2 (2019), S. 11–50. URL: http://e-tramas.fi.mdp. edu.ar/index.php/e-tramas/article/view/17 (20.08.2020), hier S. 17–18.

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Ryōtarō (司馬 遼太郎, eig. Fukuda Teiichi 福田 定一, 1923–1996) basieren.59 Für das nicht dieser Reihe angehörende „Inindō“ gibt es keine Angaben bezüglich der Recherchemethoden des Herstellers, nur eine knappe Definition des Spielziels: „In the end, you must seek revenge on Nobunaga, the powerful ruler who destroyed your village in his ruthless quest to become Shogun.“60 Den Spieler*innen musste gelingen, was sie in „Sasuke vs Commander“ noch hatten verhindern müssen: Ein Ninja-Anschlag auf das Leben des Shōgun – hier konkretisiert als Oda Nobunaga. Für eine Einzelperson ein schwieriges Unterfangen, aber, so die Umverpackung weiter: „Times are tough, but remember, you are a ninja, and anything is possible.“61 Das war nicht nur eine intradiegetische Anweisung, sondern galt auch für den Umgang des Spiels mit dem inszenierten historischen Hintergrund. Bereits der englische und der japanische Untertitel differierten deutlich voneinander: Hieß es im Englischen einfach „Way of the Ninja“, stand im Japanischen „datō Nobunaga“ (打倒信長): „Stürze Nobunaga“.62 Was „Inindō“ beispielhaft vorführte, war das Erzählmuster, das für Ninja-Titel quasi verbindlich wurde: Es galt, den „Evil Lord Nobunaga“ zu bekämpfen.63 Die Ninja wurden damit zu heldenhaften Widerstandskämpfern gegen ein brutales Unterdrückungsregime stilisiert, die Spieler*innen wurden vom Programm dazu gebracht, als Individuen ihre Fähigkeiten im Kampf gegen computergenerierte Gegner zu vervollkommnen, um sie dann für den Sieg des moralisch Guten einzusetzen. Dafür waren dann selbstverständlich alle Mittel erlaubt, und Gegner durften hundert- und tausendfach beseitigt werden. Mit den historisch belegten Ninja, die mehr Spione als Attentäter waren, die im Dienste von Fürsten handelten und eben nicht selbstständig agierten, hatte dieses Bild nur wenig zu tun. Es war allerdings populärkulturell durch die Romane Shiba Ryōtarōs oder die Filme Kurosawa Akiras (黒澤明, 1910–1998)64 hinreichend abgestützt, dass es sich gut erzählen ließ, und lieferte so heldenhafte Outlaws als Protagonisten. Samurai und Ninja wurden dabei gezielt ausgewählt, weil mit ihnen bestimmte Typen von Handlungen und Eigenschaften auf semiotischer Ebene

59 Claudia Bonillo Fernández: La literatura histórica y el videojuego. El caso de Nobunaga’s Ambition: Sphere of Influence (KOEI, 2013). In: e-tramas 3/7 (2019), S. 1–19. URL: http://e-tramas.fi.mdp. edu.ar/index.php/e-tramas/article/view/32 (20.08.2020), hier S. 2–3. 60 Scans der Umverpackung durch Mobiusclimber und FAM: Trypticon u. a. In: Inindo: Way of the Ninja, auf: Mobygames.com. URL: https://www.mobygames.com/game/inindo-way-of-the-ninja/ cover-art (24.08.2020). 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Vgl. Rocco Mangieri: La Danza del Samurai. Semiótica del videogame y de los entornos virtuales contemporáneos. In: Tonos. Revista electrónica de estudios filologicos 21/6 (2011). URL: https:// www.um.es/tonosdigital/znum21/secciones/tritonos-2-samurai.htm (20.08.2020). 64 Vgl. Bonillo Fernández, El fantasma, S. 10–11.

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bereits verknüpft waren, die dann abgerufen werden konnten.65 Voraussetzung dafür war allerdings ein gewisses historisches oder meist vielmehr populärkulturelles Vorwissen. Ohne entsprechende Vorkenntnisse lieferten solche Produkte ihren Spieler*innen nur semi-strukturierte Handlungsfolien, was zur Erklärung beitragen mag, weshalb sie außerhalb des japanischen Marktes einen gewissen Anlauf brauchten, um populär zu werden, weil dieses Vorwissen fehlte. Deutlich langfristiger attraktiv waren daher strategische Simulationen wie die „Nobunaga’s Ambition“-Serie, die eine andere Art von Konkurrenzsituation spielerisch remedialisierten.

Geschichte als Kampf um Macht und Vorherrschaft Pirat*innen wie auch Ninja eignen sich besonders gut als frühneuzeitliche historische Settings für digitale Spiele, weil hier auf populärkulturell fest verankerte Narrative oder Typen zurückgegriffen wurde. Hyperkompetitive Geschichtsbilder werden jedoch auch ohne solch eingespielte populär-kulturelle Vehikel transportiert. Denkt man an Konkurrenz in Spielen mit historischem Setting, dann sind es vor allem Strategiespiele und taktische Kriegsspiele – Schlachtensimulationen im wahrsten Sinne–, die als Erstes in den Sinn kommen. Anhand der Spiele, die Konflikte der Vergangenheit zum eigentlichen Gegenstand erheben (oder dies vorgeben), wollen wir deshalb abschließend die eingangs für individuelle Konfliktdarstellungen gezeigte These an kollektiven Konfliktdarstellungen überprüfen. Bieten doch gerade Kriegsspiele, aufgrund ihrer in die Frühe Neuzeit oder noch weiter zurückreichenden Tradition, die Gelegenheit einer Historisierung: Wie sehr sind die digitalen Kriegs- und Strategiespiele durch die zuvor nicht vorhandenen medial-technischen Möglichkeiten des Digitalen geprägt, und inwieweit haben wir es mit einem Überführen und Fortsetzen kulturell bereits fest etablierter Formen des Spiels in neuen technischen Medien zu tun? Wie eingangs angesprochen, blicken insbesondere (digitale) Strategiespiele auf eine ehrwürdige, weit über die digitale Ära zurückreichende Tradition zurück. Tabletop-Spiele, Brettspiel-Kriegssimulationen („Wargames“) und Ähnliches wurden bereits früh ins Digitale übersetzt, auch wenn die analogen Formen bis heute neben dem digitalen Spiel Bestand haben.66 Gerade bei Strategiespielen muss Konkurrenz als natürlicher Bestandteil der Spielmechanik erscheinen. Schließlich traten

65 Vgl. Mangieri, La Danza. 66 Vgl. Josef Köstlbauer: The Strange Attraction of Simulation: Realism, Authenticity, Virtuality. In: Matthew Kapell / Andrew B. R. Elliott (Hg.): Playing with the Past. Digital games and the simulation of history. New York u. a. 2013, S. 169–184; Ders.: Do Computers Play History? In: Winnerling / Kerschbaumer, Early modernity and video games, S. 25–36.

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auch in den historischen Vorbildern meist zwei oder mehr Seiten gegeneinander an. Allerdings führte die Abstraktion zum Spiel hier auch zu einer Verschiebung: Kampf und Krieg ist nicht ein Mittel (von vielen) zum Zweck, das Staaten oder Fürst*innen zur Verfügung steht, vielmehr erscheinen sie im Spiel als die eigentliche oder notwendige Form der Austragung von Konkurrenz. Alternative Perspektiven auf historische Konflikte, die nicht, oder nicht nur, von Konkurrenzparadigmen ausgehen, bleiben dabei außen vor. Der Anspruch sowohl der Produzent*innen als auch der Konsument*innen solcher Spiele an „Authentizität“ – wie auch immer diese letztendlich verstanden wird – ist hoch. Daraus resultieren häufig steile Lernkurven von Spieler*innen, auch sind sie nicht notwendigerweise durch ein ausgewogenes Verhältnis von Herausforderung und Belohnung gekennzeichnet. Diesen Kriterien folgen auch kommerziell erfolgreiche, das Genre definierende Titel, wie jene der „Total War“-Reihe, deren erster Titel „Shogun: Total War“ thematisch und vom Anspruch her ein westliches Pendant zu „Nobunaga’s Ambition“ darstellen sollte – natürlich nur echt mit Ninja.67 In späteren Folgetiteln verlagerten sich die inszenierten historischen Kriegsszenarien in die europäische Geschichte. „Medieval II: Total War“ bezog Spätmittelalter und Frühe Neuzeit bis hin zum sechzehnten Jahrhundert ein,68 „Empire: Total War“ das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert. Zum anderen werden besonders Spiele wie die „Europa Universalis“-Reihe von Paradox Interactive,69 die mit einem expliziten Anspruch darauf antreten, als aufwendige Simulation historischer Prozesse gelten zu können, einen deutlich engeren Marktsektor bedienen.70 Die ersten Titel beider Reihen erschienen kurz hintereinander zu Anfang des Jahrtausends und waren auf dieselbe Kernzielgruppe von Spieler*innen ausgerichtet, standen also am Markt in direkter Konkurrenz zueinander.71 Während „Europa Universalis IV“ ein echtzeitbasiertes Grand Strategy-Spiel ist, innerhalb dessen die Spieler*innen die strategische Ebene nicht verlassen, beinhal-

67 Shogun: Total War: Electronic Arts / Creative Assembly (Windows) 2000. 68 Medieval II: Total War: Sega / Creative Assembly (Linux, MacOS, Windows) 2006. 69 Erster Titel war: Europa Universalis: Strategy First / Paradox Entertainment (Windows) 2001. Zu Europa Universalis IV siehe: Claas Henschel: Warum die Azteken nicht England unterwarfen. Die spielmechanische Umsetzung teleologischer Vorstellungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit in Europa Universalis IV. In: Köstlbauer, Weltmaschinen, S. 141–157, hier S. 142–143; Chapman, Digital Games, S. 9–10. 70 Vgl. Heiko Brendel: Historischer Determinismus und historische Tiefe – oder Spielspaß? Die Globalechtzeitspiele von Paradox Interactive. In: Schwarz, „Pestverseuchte Kühe“, S. 107–135. 71 Abgesehen von Verkaufszahlen sind belastbare statistische Daten zu Spieler*innen bestimmter Spiele schwer zu bekommen. In besonderem Maße trifft das für Spiele abseits der großen Titel zu. Entsprechend bleiben Umfang, Zusammensetzung und Charakteristika der Spieler*innen beziehungsweise Konsument*innen eines bestimmten Spieles meist unbekannte Größen. Weiterführende Aussagen über Zielgruppen oder Konsument*innengruppen eines Spieles sind daher nur begrenzt möglich.

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ten die „Total War“-Spiele sowohl eine rundenbasierte strategische Ebene als auch eine echtzeitbasierte taktische Simulation.72 Letzteres, die Simulation von Schlachten, macht vermutlich für viele Spieler*innen den eigentlichen Anreiz aus: Hübsch animierte Infanteristen treten in Schlachtformation an, von Trompetensignalen begleitetet reitet die Kavallerie ihre Attacken, Kanonen donnern im Hintergrund.73 Die strategische Ebene ist dabei aber keineswegs ein Anhängsel, das nur dazu dient, auf das Geschehen auf taktischer Ebene hinzuführen. Stattdessen darf man wohl von einer durchaus geglückten, eminent spielbaren Verbindung der beiden Ebenen sprechen. Trotzdem ist der militärische Konflikt hier weniger die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln im Clausewitzschen Sinn, sondern mutiert zum bevorzugten Mittel der Politik.74 Obwohl das Spiel auch Aspekte wie Diplomatie, Spionage, technischen Fortschritt, dynastische Politik und anderes mehr modelliert, ist eine expansive, konfrontative Spielweise in der Struktur des Spieles angelegt. In diesem Sinne ist der Titel der Reihe, „Total War“, durchaus angemessen. „Europa Universalis IV“ hingegen fokussiert wohl Strategie, dem militärischen Konflikt kommt jedoch im möglichen Aktionsspektrum eine ganz andere Bedeutung zu. Beide angeführten Beispiele kennzeichnen Szenarien, in denen Politik auf ein konkurrierendes Ringen zwischen einigen wenigen monarchischen Akteur*innen reduziert wird. Spielprinzip ist das imperialistische Streben nach der Errichtung eines universalen Reichs oder der Erringung totaler Dominanz. Hier wird den Spieler*innen auf kollektiver Ebene aufgetragen, was in Piraten- und Ninja-Titeln auf individueller Ebene zu erreichen ist: Die Ausschaltung aller Mitbewerber*innen als Siegesbedingung. Es handelt sich um vorprogrammierte Hyperkompetitivität: Aufstieg oder Fall, dazwischen liegt nichts. Das ist nicht nur in den Spielmechaniken – bei aller Unterschiedlichkeit in deren Details – angelegt, auch die Hersteller bedienen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit diese Szenarien. Auf der Paradox-Webseite wurde „Europa Universalis IV“ mit folgender Charakterisierung beworben: „The empire building game Europa Universalis IV gives you control of a nation to guide through the years in order to create a dominant

72 Grand Strategy Game oder Globalstrategiespiel: fokussiert auf Strategie und den militärischen Konflikt, aber auch auf die politische und ökonomische Entwicklung; die Spieler*innen kontrollieren hier ganze Staaten beziehungsweise Reiche. 73 Vgl. Stefan Droste: After Action Reports. Zur Narrativierung des Strategiespielens. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 20 (2016), S. 53–82. 74 Tobias Winnerling: Einleitung. In: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 20 (2016), S. 5–12, hier S. 8.

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global empire.“75 Werbevideos forderten die Zuseher auf: „Fulfill your quest for global domination!“76 Wer die „Europa Universalis“-Reihe kennt, mag vielleicht einwenden, dass angesichts der Komplexität und des enormen Zeitaufwands das Ziel, ein Imperium zu errichten, eher illusorisch bleibt. Tatsächlich schlägt das deutsche Handbuch vorsichtigere Töne an: „Dies ist nicht nur ein Spiel um simple Eroberungen. Sicher, wenn ihr gut genug seid und Glück habt, könnt ihr die ganze Welt erobern, doch die wahre Kunst besteht darin, euer Reich mächtig und intakt zu halten.“77 Gleichwohl bleibt der agonale Charakter ungebrochen: „Ihr müsst die Macht eurer Herrscher vorsichtig mit den Begierden eurer gierigen Nachbarn balancieren[…].“78 Das Handbuch zu „Empire: Total War“ rief hingegen vollmundig zur Eroberung der ganzen Welt auf: „Kontrollieren Sie das Land, herrschen Sie über die Meere, verhelfen Sie einer neuen Nation zum Aufstieg und erobern Sie die Welt!“79 In gewisser Weise wird dieser Anspruch auch eingelöst. Bei allen Unterschieden handelt sich um gefällige, gut abgestimmte Spiele, die das Erringen der Weltherrschaft zum „casual imperialism“, zum kurzweiligen Zeitvertreib, machen. Dabei ist es ein in vielerlei Hinsicht traditionelles beziehungsweise veraltetes Geschichtsund Politikverständnis, das dabei bedient wird – implizit in den Modellierungen, explizit in den Narrativen. Es erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bestreben, auf Bekanntes zu rekurrieren, eben um durch das Anknüpfen an Vorwissen und Erwartungshaltungen für die Spielenden besonders attraktiv zu erscheinen, um sich einen Verkaufsvorteil zu sichern. Die grundlegende Unterscheidung zwischen individualisierten und generalisierten Konflikten lässt sich auch hier aufrechterhalten – als zwei Dimensionen, die gleichzeitig in Grand Strategy Games und taktischen Simulationen gegeben sind. Auf strategischer Ebene wird der Konflikt als Ringen der Fürsten individualisiert, in der Schlacht kann er als Messen der Feldherren und militärischer Technik gesehen werden. Gerade im Fall der Strategiespiele, deren Kampagnen Jahrhunderte umfassen, mag das erstaunen. Anstatt die Spieler*innen zu anonymen, gottgleichen Pilot*innen am Steuerpult eines simulierten Staates zu machen, bieten sowohl die „Total War“-Titel als auch die Paradox Interactive-Spiele Identifikationsmöglichkeiten durch die Implementierung dynastischer Elemente. Es handelt sich insgesamt um ein stark verengtes Geschichtsbild, das sich auf agonale Aspekte historischer

75 Paradox Store. Europa Universalis IV. URL: https://www.paradoxplaza.com/europa-universalis-all/ (01.07.2020). 76 Paradox Interactive, Europa Universalis IV Anouncement Trailer, 2012, 0:45. 77 Paradox Interactive, Handbuch Europa Universalis IV (2013), S. 4. 78 Ebd. 79 Empire: Total War, online verfügbar auf: Steam.com. URL: https://store.steampowered.com/app/ 10500/Total_War_EMPIRE__Definitive_Edition/?l=german&ref=driverlayer.com (01.07.2020).

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Verhältnisse konzentriert und diese zumindest deutlich hervorhebt – die diskursive Überprägung der Spielinhalte in Richtung Hyperkompetitivität durch die Marktsituation, in der sie entstanden, tritt auch hier deutlich zutage.

Inszenierung des Historischen, historische Inszenierungen In der Zuspitzung auf ein Ringen zwischen Fürsten, Staaten oder Feldherren liegt eine besonders augenfällige Parallele zur medialen Inszenierung zwischenstaatlicher Beziehungen in der Frühen Neuzeit selbst. Die Metaphorik der Frühen Neuzeit, die die Metaphern des Spiels, des Theaters oder des Tanzes verwendete, wird von den digitalen Spielen in der Regel nicht aufgegriffen, deren Sprache im Vergleich – siehe oben – recht unverblümt erscheint. Frühneuzeitliche Geschichts- und Nachrichtenwerke wie das „Theatrum Europaeum“ oder diverse Flugschriften arbeiteten mit intermedialen Verschränkungen von Bild und Text, in denen Monarch und Reich in eins zu fallen schienen: Ihr Verhältnis zueinander bestimmte die politischen Horizonte.80 Es bleibt die Frage, inwieweit es sich hier um parallele Medienphänomene handelt beziehungsweise wie weit mediale Formen der Frühen Neuzeit tatsächlich in digitale Spiele hineinwirken. Frühneuzeitliches Bildmaterial steht Entwicklern und Graphikern heute jedenfalls mit einem Mausklick in Hülle und Fülle, und zumeist lizenzfrei, zur Verfügung. Etwas anders liegt die Sache bei der Frage nach dem Einfluss frühneuzeitlicher Konzeptionen auf die grundlegende Darstellung von Politik und Krieg in digitalen Strategiespielen. Bei aller Beschwörung historischer Authentizität ist nicht davon auszugehen, dass die Rekonstruktion historischer politischer Handlungsräume oder die Vermittlung historischer Wahrnehmungshorizonte leitende Ideen bei der Spielentwicklung sind. Auch ist zweifelhaft, ob der etablierte Formen- und Designkanon von Strategiespielen das leisten kann. Auf philosophischer Ebene lassen sich ebenfalls Bezüge herstellen. Die Politik als Konkurrenz zwischen den Staaten, der Zwang zur Machtpolitik, wie er in den Spielen oder den zugehörigen Werbematerialien zum Ausdruck kommt. Paradox Interactives Aufforderung „Conspire! Conquer!“81 mag einerseits als Echo von

80 Siehe etwa Johann M. Probst: Theater der kriegenden Potentaten. Augsburg 1756. Zit. n.: Marian Füssel: Theatrum Belli. Der Krieg als Inszenierung und Wissensschauplatz im 17. und 18. Jahrhundert. In: metaphorik.de 14 (2008), S. 205–230, hier S. 212–213; J. P. Kandt: Faro-Spiel der im Krieg begriffenen Herren Officier. Augsburg 1756; Johann M. Will: Der Neu eröffnete Politische Masquirte Ball der kriegenden Pouissancen in Germania. Augsburg 1758. Vgl. Lucas H. Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ä.. Bd. 3. Hamburg 1993. 81 Paradox Interactive, Developer’s Diary Europa Universalis IV: Conquest of Paradise – Colonial States, 2013. URL: https://www.youtube.com/watch?v=PZHyVdVrcUI (01.07.2020).

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der von Niccolò Machiavellis (1469–1527) beschworenen virtù des Fürsten gelesen werden, verstanden als politische Tüchtigkeit, Interessen durchzusetzen und Möglichkeiten zu nutzen. Andererseits verweist sie auf das bald kritische, bald ironische Schlagwort der raison d‘etat beziehungsweise des ratio status, das im siebzehnten Jahrhundert Gegenstand einer reichen Publizistik war.82 Üblicherweise aber werden digitale Spiele nicht als Proben historischer politischer Philosophie konzipiert. Machiavelli zumindest ist prominent genug, um Produzenten wie Spielenden als Referenz zu dienen. So verkaufte Paradox Interactive „Europa Universalis IV“ zusammen mit E-Book-Versionen von Machiavellis „Il Principe“ und Sunzis (孫子, c. 544–496 v. d. Z.) „Kunst des Krieges“. Spieler*innen diskutierten die intradiegetische Anwendbarkeit der Theoreme Machiavellis auf Reddit- und Paradox Interactive-Foren. Machiavelli erscheint dabei als Chiffre für eine wirklichkeitsnahe, „authentische“ Spielkonzeption. Dies stützt den Befund einer vor allem agonalen Geschichtsauffassung.83

Ewig streiten die Reiche: Frühe Neuzeit, mit breitem Pinsel getuscht In den vorgestellten drei Skizzen scheint auf, dass Geschichte in diesen und für diese Titel nicht nur eine Funktion erfüllt, sondern dass die so bedienten Funktionen strukturell analog sind. Geschichte funktioniert als Marke, als Unique Selling Point. Das zeigt sich auch daran, dass nur historische Episoden als Setting gewählt werden, die bereits gut im populärkulturellen Bewusstsein verankert sind: Piraten, sengoku, epische Schlachten. Unbewusst erfüllt Geschichte so auch eine identitätsstiftende Funktion, hier werden Geschichts- und Weltbilder vermittelt, die sinnstiftend funktionieren. Handelt es sich denn überhaupt um frühneuzeitlich inszenierte Titel, wenn das Historische darin vor allem instrumentell genutzt wird, nämlich als Mittel zur Erringung eines Wettbewerbsvorteils? Wir behaupten: Ja, und zwar gerade weil es in dieser Weise instrumentell genutzt werden kann. Schließlich führte diese Strategie beim Publikum digitaler Spiele in den hier betrachteten Titeln zuverlässig

82 Vgl. Andreas Cless: Curiosa, nec non politica vagabundi per Europam, vulgo sic dicti, Rationis-Status, de praesenti tempore Nugae-Somnia. Nürnberg 1675; Hans J. C. von Grimmelshausen: Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status. Nürnberg 1670; Henri II. de Rohan: De l’Interest des princes et estats de la chrestiente. Paris 1635. 83 Vgl. Posting auf Reddit: Luqueasaur, Machiavelli’s „The Prince“ basically works as an EU IV guide and this tells a lot about the game. In: Reddit: EU4, 07.02.2018. URL: https://www.reddit.com/r/eu4/ comments/7vvtkp/machiavellis_the_prince_basically_works_as_an/ (01.07.2020); Marco Dandolo: Italian matters. In: Paradox Forum: Europa Universalis IV. URL: https://forum.paradoxplaza.com/ forum/threads/italian-matters.714976/page-5#post-16028617 (01.07.2020).

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zu großen Verkaufserfolgen und provozierte keinerlei Widerspruch. Über der Frühen Neuzeit in digitalen Spielen hängt also die Maxime „Alles ist erlaubt“. Sowohl in Strategiespielen, die bedenkenlos Kolonialisierung und Eroberungen um des Ruhmes willen inszenieren können, als auch in Piraten- und Ninja-Titeln, die ihre „Helden“ vor allem für ihr Überschreiten sozialer Schranken und Konventionen sowie ihre unbekümmerte Gewaltausübung feiern. Dabei waren die intradiegetischen Konkurrenzsituationen stets in extradiegetische Konkurrenzen der einzelnen Titel und Firmen eingebettet und können nicht davon losgelöst betrachtet werden. Die Popularität von Ninja-Titeln etwa ist seit den 2000er Jahren stetig gesunken. Das liegt aber nicht daran, dass die damit verbundenen Epochen oder Erzählstrategien weniger populär geworden wären. Es ist vor allem darin begründet, dass sie durch die nunmehr paradigmatisch mit dem von ihnen propagierten Narrativ assoziierte Spielereihe „Assassin’s Creed“ verdrängt wurden, der es gelang, westliche Piraten- und japanische Ninja-Motive miteinander zu verschmelzen. Nach dem ersten Titel, der zur Zeit der Kreuzzüge spielte, verlagerte diese Reihe ihre Inszenierungen bis 2014 in die Frühe Neuzeit, was immense Verkaufserfolge nach sich zog.84 Der Rückgang an Ninja-Titeln ist also durch die Konkurrenzlogiken der Marktsituation bedingt, nicht durch eine Konkurrenz der historischen Inhalte oder Interpretationen. Die Strategiespiele der „Nobunaga’s Ambition“-Reihe dagegen blieben davon unberührt, weil sie nicht nur einem anderen Genre, sondern auch einem anderen Narrativ folgten, nämlich nicht dem des Kampfes des Individuums gegen das Kollektiv, sondern dem des Kampfes der Kollektive untereinander. Sie waren aber in gleicher Weise von Hyperkompetitivität durchzogen, denn sie konkurrierten am Markt mit spiegelgleichen Titeln wie „Shogun: Total War“ und „Total War: Shogun 2“.85 Alle diese Titel instrumentalisierten weiterhin sehr erfolgreich die Faszination der kontrafaktischen Geschichtssimulation in einem spezifisch japanischen Ambiente, das dafür und darin stark fiktionalisiert wurde,86 durch diese Bearbeitung aber ökonomischen Erfolg im Wettbewerb der Firmen untereinander erzielte. Zwischen 1984 und 1994 war KOEI der einzige japanische Spieleproduzent, der seine Titel zeitgleich sowohl für Nintendos Konsolen NES (Famicom) und SNES (Super Famicom) anbot, als auch für PC und andere Systeme, was wegen Nintendos monopolartiger Stellung auf dem japanischen Markt und seiner drako-

84 Zuzüglich einiger Nebentitel vor allem: Assassin’s Creed II: Ubisoft (PlayStation 3, Xbox 360) 2009; Assassin’s Creed III: Ubisoft (PlayStation 3, Wii U, Windows, Xbox 360) 2012; Assassin’s Creed IV: Black Flag: Ubisoft (PlaySation 4, PlayStation 4, Wii U, Windows, Xbox 360, Xbox One) 2013; Assassin’s Creed: Rogue, Ubisoft (PlayStation 3, Windows, Xbox 360) 2015; Assassin’s Creed: Unity (PlayStation 4, Windows, Xbox One) 2014. 85 Total War: Shogun 2: Sega / Creative Assembly (Linux, MacOS, Windows) 2011. 86 Hutchinson, Japanese Culture, S. 188.

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nischen Lizenzbedingungen sehr schwierig war.87 Unter den wenigen Spielen, die in dieser Dekade von anderen Systemen auf Nintendo-Konsolen portiert wurden (und umgekehrt), fanden sich gleich drei „Nobunaga’s Ambition“-Titel.88 Dass Firmen wie KOEI mit ihren Produkten beides inszenierten, Oda Nobunaga als Meisterstrategen und Reichseiniger einerseits und als Unterdrücker und – manchmal – sogar bösen Hexenmeister andererseits,89 deutet darauf hin, dass das Historische hier vor allem Wettbewerbsargument war: ein verkaufsfördernder Faktor. Die verschiedenen historischen Erzählungen konkurrierten nicht miteinander, sondern funktionierten komplementär und waren vor allem auf die Marktkonkurrenz zu anderen Spielefirmen angelegt. Die Hyperkompetitivität des Marktes wurde diskursiv auf die in diesem Markt vertriebenen Produkte übergeprägt und deren Erzählungen dadurch strukturiert und determiniert. Es zeigt sich aber auch, dass die Frühe Neuzeit in Digitalen Spielen als Kategorie weitaus weniger eindeutig funktioniert als etwa die Antike und das Mittelalter. Das mag mit dem – in West wie Ost – fehlenden genaueren Wissen um die historischen Umstände zusammenhängen: Während das Mittelalter mit strengen Rollenbildern assoziiert ist und die Zwänge der Moderne noch in die eigene Lebenswelt hineinreichen, ist das Dazwischen in digitalen Spielen zu einem utopischen Raum geworden, in dem alle Ordnungen herausgefordert werden dürfen und nichts verbindlich ist. Eine Zeit, in der Spieler*innen – ob als Strateg*innen, Pirat*innen oder Ninja – ohne inneren Widerspruch alles erreichen können: „anything is possible.“ Ob in Japan, Europa oder den USA. Dort, wo das historische Hintergrundwissen bei Spieler*innen nur bruchstückhaft vorhanden ist und der akademische geschichtswissenschaftliche Diskurs nicht hinreicht, treten populärkulturelle, medial vermittelte Geschichtsbilder an dessen Stelle. In einem sarkastischen Forumbeitrag zu „Shogun: Total War“ wurde beispielsweise über die für viele Spieler*innen ungewohnte Darstellung japanischer Rückenschilde, horo (母衣), gestritten: „Tom Cruise, the last and most important of all samurai did not wear one. Therefore they should not be in this game.“90 Der ge-

87 Masayoshi Maruyama / Kenichi Ōkita: Platform Strategy of Video Game Software in Japan, 1984–1994: Theory and Evidence. In: Managerial and Decision Economics 32/2 (2011), S. 105–118, hier S. 108. 88 Ebd., S. 109–110; Titel: Nobunaga‘s Ambition, 1986; Nobunaga’s Ambition II / 信長の野望・戦 国群雄伝 (Nobunaga no yabō – sengoku gunyūden): KOEI (DOS, FM-7, FM Towns, MSX, NES, PC-88, PC-98, PlayStation, Sharp X1, Sharp X68000, SEGA Saturn) 1988; Nobunaga’s Ambition: Lord of Darkness / 信長の野望 武将風雲録 (Nobunaga no yabō – bushō fū’unroku): KOEI (FM Towns, Genesis, MSX, NES, PC-88, PC-98, PlayStation, Sharp X68000, SNES, TurboGrafx CD) 1990. 89 Bonillo Fernández, Oda Nobunaga, S. 49. 90 Pulpnonfiction: Re: The Great Horo Misunderstanding, 25. 03. 2011. In: DakkaDon: The Great Horo Misunderstanding (the back balloons for the uninformed), auf: Total War Forum, 2011. URL: https://

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schichtswissenschaftliche Diskurs wird zugleich nicht völlig ignoriert; immer dann, wenn historischer Realismus zum Verkaufsargument wird oder Entwickler*innen persönliches Interesse daran entwickeln, ergaben und ergeben sich produktive Berührungspunkte. Zugleich bleibt aber ein ernüchternder Schluss: Die Übersetzung der Geschichte der Frühen Neuzeit bedient nämlich vor allem anderen eine Geschichte perpetuierter Konkurrenz. Digitale Spiele strukturieren die ihren Spieler*innen weitgehend unvertraute Geschichte der Frühen Neuzeit durch das Paradigma eines ständigen, hyperkompetitiven Wettstreits um Dominanz. Durch die Abstraktion historischer Konflikte auf eine idealtypische, also spielbare Konkurrenz, vor allem aber durch die Ausblendung aller anderen wirtschafts-, sozial-, politikhistorischen usf. Aspekte wird so ein anachronistisches Geschichtsverständnis bedient, das, sicherlich unbeabsichtigt, starke Parallelen zu einer auf Kriege und Allianzen fixierten Ereignisgeschichte des 19. Jahrhunderts aufweist. Mangels alternativer Problemlösungsansätze sind Konflikte somit nicht mehr „die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln“, sie sind das einzige Mittel. Ob nun historisierende Schlachtensimulationen, Ninja oder Pirat*innen – Kampf und Konkurrenz als treibende Kräfte der Geschichte werden so als beherrschende Vorstellungsmuster für die Epoche naturalisiert, die historischen Inhalte hyperkompetitiv überprägt. Das ist insbesondere dann problematisch, wenn solche ahistorischen Aussagen, dergestalt stabilisiert, über das Medium digitaler Spiele unwidersprochen in populäre Geschichtsvorstellungen zurückgespiegelt werden und von dort aus möglicherweise weitere gesellschaftliche Prozesse beeinflussen.

www.twcenter.net/forums/showthread.php?437802-The-Great-Horo-Misunderstanding-(the-backballoons-for-the-uninformed)&p=9247767&viewfull=1#post9247767 (10.07.2022). Die Anspielung durch die/den Benutzer*in pulpnonfiction bezieht sich auf Tom Cruises Rolle in: Edward Zwick: Last Samurai (USA) 2003.

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Sektion 7: Migration und Konkurrenz in der Frühen Neuzeit

Martin Biersack, Jorun Poettering

Einleitung

Ein Zusammenhang von Migration und Konkurrenz scheint naheliegend: Einwanderer erhöhen die Konkurrenz um knappe Güter, seien diese Nahrung, Wohnraum, Arbeitsplätze, Aufstiegsmöglichkeiten oder Kunden. Diese Verknüpfung von Migration und Konkurrenz ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig, vielmehr wird sie erst diskursiv hergestellt. In den Beiträgen dieser Sektion lassen sich unterschiedliche Motive feststellen, warum die „Fremdheit“ bzw. „Nicht-Zugehörigkeit“ einer Person oder Gruppe in einer Konkurrenzsituation behauptet wurde. Gemeinsam ist den Fällen, dass die Akteure, die eine solche Zuschreibung relevant machten, dadurch ihre Position verbessern wollten. So erhofften sie sich einen Wettbewerbsvorteil, wenn es ihnen gelang, Konkurrenten als Fremde auszugrenzen, oder sie versuchten, ihre Machtposition zu stärken, indem sie regulatorische Kompetenz ausübten. Die Kategorisierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft ist Ergebnis einer sozialen Praxis, der eine Auswahl und wertende Zuordnung zugrunde liegt.1 Dies ist in Bezug auf die historische Verwendung der Begrifflichkeiten zu problematisieren; aber auch bei der Verwendung als Analysekategorie stellt sich die Frage, was als Migration und wer als Immigrant zu gelten hat. In dieser Sektion wird ein sehr umfassender Migrationsbegriff zugrunde gelegt. Er umfasst auch Personen, die nicht selbst migrierten. Es genügt, wenn ihre Zugehörigkeit infrage stand, etwa weil sie als Nachfahren versklavter Menschen aus Afrika galten. In anderen Fällen lag die Migrationserfahrung schon Jahre oder Jahrzehnte zurück, als die Zugehörigkeit im Zusammenhang mit einer Konkurrenzsituation thematisiert wurde. Selbstverständlich konnte die Zugehörigkeit aber auch bereits im Moment der Ankunft einer Person an einem neuen Ort zum Gegenstand von Aushandlungen werden. Eine solche Zuordnung konnte weitreichende soziale, wirtschaftliche und juristische Folgen für den jeweils In- oder Exkludierten haben. Die Exklusion reichte von der Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Teilbereichen bis hin zur physischen Ausweisung. Es gibt allerdings keine Exklusion ohne die zumindest theoretische Möglichkeit der Inklusion.2 Auf rechtlicher Ebene äußerte sich diese durch die 1 Stefan Hirschauer / Tobias Boll: Un/doing Differences. Zur Theorie und Empirie eines Forschungsprogramms. In: Stefan Hirschauer (Hg.): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist 2017, S. 9. 2 Herbert Uerling / Iulia-Karin Patrut: Inklusion/Exklusion und die Analyse der Kultur. In: Dies. (Hg.): Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur

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Klassifizierung als „Bürger“, „Einheimischer“ oder „Untertan“.3 Doch nicht alle Immigranten wünschten einen solchen Status, denn Inklusion bedeutete nicht nur, dass ihnen Rechte zugestanden, sondern auch Pflichten aufgebürdet wurden, in den Städten etwa der Militärdienst, die Übernahme von Ämtern oder die Einhaltung korporativer Vorgaben. Es waren deshalb oft die lokale Obrigkeit oder die Korporationen, die die Inklusion der Immigranten einforderten, um sie ihrer Regelungskompetenz unterwerfen zu können. Gerade vor dem Hintergrund von Konkurrenzsituationen waren Konflikte um die Inklusion von Immigranten ein Wesensmerkmal frühneuzeitlicher Migrationsregulierung, bei der oft weniger ihre Anwesenheit an sich infrage stand, als vielmehr ihre Ansprüche, Rechte und Pflichten.4 Aus der Perspektive der Obrigkeit waren die mit Migrationsprozessen verknüpften Konkurrenzsituationen sowohl ein Problem als auch eine Chance. Problematisch war die destabilisierende Wirkung der Konkurrenz, wenn die Anwesenheit von Personen, die als nichtzugehörig markiert waren, als Angriff auf das Gemeinwohl oder die Privilegien und Interessen der Einheimischen interpretiert wurde. Die Obrigkeit musste dann agieren, weil sie andernfalls Gefahr lief, ihre Legitimation als gute Regierung einzubüßen. Für sie bestand in diesem Fall das übergeordnete gesellschaftspolitische Ziel darin, das Konfliktpotential zu minimieren bzw. bestehende Konflikte beizulegen. Doch genau darin lag auch eine Chance: Die Obrigkeit wurde oftmals zur Regulierung von Zugehörigkeit angefragt und um Intervention in Konflikten gebeten. Dadurch konnte sie sich innerhalb der Pluralität existierender Institutionen legitimieren, profilieren und behaupten und ihre Gestaltungsmacht ausweiten.5 Der Beitrag von Anke Fischer-Kattner demonstriert, wie in der Festung Philippsburg Einwanderer aus dem Gefolge der französischen Besatzungsmacht das Bürgerrecht der Stadt erwarben und damit auch einen Teil der kriegs- und besatzungsbedingten Lasten übernehmen mussten. Die konfliktive Form der Konkurrenz ist nach ihrer Interpretation allenfalls eine Seite der Medaille, auch wenn sie in

Gegenwart. Köln 2013, S. 9–46, hier S. 9. Zur Theorie der Inklusion und Exklusion als Modell zur Beschreibung von Nichtzugehörigkeit siehe: Rudolf Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016, S. 179–188. 3 Simon Karstens: Ständeordnung und Territorialstaat. Die Rechte Fremder in der Frühen Neuzeit. In: Lutz Raphael / Altay Coskun (Hg.): Fremd und rechtlos? Zugehörigkeitsrechte von Fremden von der Antike bis zur Gegenwart im mediterran-europäischen Raum. Köln u. a. 2014, S. 241–268. 4 Bert De Munck / Anne Winter: Regulating Migration in Early Modern Cities. An Introduction. In: Dies. (Hg.): Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities. Farnham, Surrey 2012, S. 1–22, hier S. 18. 5 André Holenstein: Introduction. Empowering Interactions. Looking at Statebuilding from Below. In: Wim Blockmans u. a. (Hg.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Aldershot 2009, S. 1–31.

Einleitung

den rahmengebenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Königreich Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich zunächst hervorzustechen scheint. Daneben steht jedoch die vergesellschaftende Wirkung des „concurrere“ im eigentlichen Wortsinn, also des „Zusammenkommens“. Kapitulationsvereinbarungen zur Beendigung von Belagerungen legten nicht nur Grundlagen für ein reguliertes Miteinander, sondern ermöglichten auch, dass sowohl die Kategorien der Zugehörigkeit als auch die Normen von Handel und Gewerbe im Sinne einer lebendigen Konkurrenzkultur ausgehandelt werden konnten. Immigranten kam damit eine zentrale Stellung im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess zu, in dem Konkurrenz auf komplexe Weise sowohl differenzierend als auch vereinheitlichend wirken konnte. Bei Konkurrenzsituationen, die in Zusammenhang mit Migrationsprozessen stehen, können oft zwei Konfliktebenen unterschieden werden. Eine Ebene stellt die Konkurrenz zwischen Akteuren dar, die sich als einem Gemeinwesen zugehörig bezeichnen, und solchen, die als Nichtzugehörige problematisiert werden. Dem übergeordnet ist die institutionelle Ebene der Regulierung, auf der unterschiedliche institutionelle Akteure um die Kompetenz konkurrieren, Zugehörigkeit und die damit verbundenen Rechte und Pflichten festzusetzen. So untersucht Hanna Sonkajärvi in ihrem Beitrag einen zwei Jahrzehnte andauernden Rechtsstreit, bei dem es um die städtische Zugehörigkeit eines in Bilbao niedergelassenen Bruderpaars von Kaufleuten französischer Herkunft ging. Während der Kastilienrat darauf drang, die vecindad der Brüder und damit die Gleichstellung mit den Bürgern (vecinos) der Stadt Bilbao anzuerkennen, pochte die Provinzialregierung auf die Beibehaltung des Status als huésped, also als Gast, solange nicht nachgewiesen sei, dass die Betroffenen in den letzten drei Generationen keine protestantischen, jüdischen oder maurischen Vorfahren gehabt hätten. Die Auseinandersetzung in Bilbao ist somit auch ein Beispiel für die Spannung zwischen einer lokalen und einer zentralistisch gesteuerten Bestimmung von Zugehörigkeit.6 Im Zentrum des Beitrags von Martin Biersack steht ein Kompetenzkonflikt zwischen dem Protomedikat von Neuspanien und der ebenfalls in Mexiko-Stadt ansässigen königlichen Chirurgenschule. Auslöser des Konflikts war das Gesuch eines französischen Militärchirurgen, in Neuspanien praktizieren zu dürfen. Als der Direktor der Königlichen Chirurgenschule ihm dies ohne erneute Examinierung gewähren wollte, stellte er dadurch das Vorrecht des Protomedikats infrage, Chirurgen zu prüfen und zu approbieren. Das Protomedikat beschwerte sich deshalb beim Vizekönig. Letztlich führte der Kompetenzkonflikt nach der Intervention 6 Siehe zu unterschiedlichen „repertoires of belonging“ allgemein: De Munck / Winter, Regulating Migration, S. 16. Siehe zur Spannung zwischen lokaler Zugehörigkeit (vecindad) und Zugehörigkeit zur spanischen Monarchie (naturaleza): Tamar Herzog: Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America. New Haven 2003.

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Martin Biersack, Jorun Poettering

des Königs dazu, dass die Rechte des Protomedikats zwar formal bestätigt wurden, de facto allerdings gewann die vizekönigliche Regierung bei der Zulassung ausländischer Mediziner auf Kosten des Protomedikats an Einfluss. Kommt in einer Konkurrenzsituation die Herkunft der beteiligten Personen nicht zur Sprache, bedeutet dies keinesfalls, dass sie von den beteiligten Akteuren als irrelevant erachtet wurde. Vielmehr konnten Personen bestimmter Herkunft in Konkurrenzsituationen auch stillschweigend bevorzugt oder benachteiligt werden. Die systematische Bevorzugung oder Benachteiligung von Akteuren wird dann erst in der historischen Analyse sichtbar. Dies betrifft den von Jorun Poettering dargestellten Fall aus dem kolonialen Brasilien, bei dem es um die Auswahl von Experten für den Bau von Brunnen in Rio de Janeiro geht. In diesem Fall wählte die portugiesische Regierung Personen, die als Ausländer bzw. Nachfahren versklavter Menschen nicht den kolonialen Eliten zugehörig waren. Gerade ihre Rolle als Außenseiter stellte Poettering zufolge einen Wettbewerbsvorteil dar. Die Krone bevorzugte sie, weil sie davon ausging, dass „fremde“ beziehungsweise „schwarze“ Experten den königlichen Interessen gegenüber loyaler wären als Personen, die mit den lokalen Eliten eng verbunden und möglicherweise deren Intentionen verpflichtet waren. In den Entscheidungen wurden somit gemeinhin als Schwächen geltende Eigenschaften von Außenseitern zu Kriterien für ihren Erfolg. Insgesamt verdeutlichen die Beiträge, wie komplex die Verknüpfungen von Migration und Konkurrenz in der Frühen Neuzeit waren – und bis heute sind. An die Stelle einer einfachen Gleichsetzung von Immigranten mit unerwünschter Konkurrenz muss daher die Detailanalyse der diskursiven und praktischen Herstellung von In- und Exklusion treten.

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Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt Der Umgang mit kriegsbedingter Migration in Philippsburg Als Hieronymus Nopp im späten 19. Jahrhundert die Geschichte seiner Stadt, der ehemaligen Reichsfestung Philippsburg, schrieb, fasste er Konkurrenz ganz selbstverständlich als dauerhaften dyadischen Zustand.1 Er leitete sie aus dem grundlegenden Antagonismus ab, der seine Erzählung durchzog, dem zwischen nationalistisch voneinander abgegrenzten Deutschen und Franzosen. Eine zweite Konfliktlinie zog Nopp zwischen militärischer Besatzung und ziviler Bevölkerung.2 Zwischen diesen Gruppen herrschte angeblich ein ständiger Kampf. Wo dieser sich nicht direkt in physischer Gewalt entlud, nahm er die Form von Konkurrenzen um als begrenzt verstandene Ressourcen an.3 In dieser Gedankenwelt waren Grenzüberschreitungen verdächtig, denn Migrationsbewegungen durchkreuzten die klaren Fronten. So waren immigrierte Franzosen, deren Existenz jenseits der Militärgesellschaft Nopp in seiner detaillierten Quellenarbeit durchaus wahrnahm, allenfalls Profiteure im „Raub- und Erpressungssystem ihrer Landsleute“.4 Aus Belagerungen und französischer Besatzungsherrschaft erwuchs den Philippsburgern im 17. und 18. Jahrhundert also „fremde Concurrenz“, wenn „eine Menge französischer Lebensmittelhändler, Wirthe und Marketender“ die Festungsstadt überschwemmte.5 Nicht-militärische Migration erschien so als vorübergehender

1 Hieronymus Nopp: Geschichte der Stadt und ehemaligen Reichsfestung Philippsburg von ihrem Entstehen aus der Burg und dem Dorfe Udenheim bis zum Anfalle derselben an Baden. Speyer 1881. Mit dieser Auffassung von Konkurrenz entsprach Nopp der zeitgenössischen neoklassischen Wirtschaftswissenschaft, vgl. Ralph Jessen: Konkurrenz in der Geschichte. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 7–32, hier S. 11. 2 Vgl. zur Problematik der Kategorien „Soldaten“ und „Zivilisten“ in der Frühen Neuzeit, als z. B. auch Nicht-Kombattanten wie Soldatenfrauen als Militärangehörige einem eigenen Rechtsbereich zugehörten: Erica Charters u. a. (Hg.): Civilians and War in Europe, 1618–1815. Liverpool 2012. 3 Vor derselben Folie entfaltet auch der Soziologe Georg Simmel seine Ideen von Konkurrenz als indirektem Kampf. (Georg Simmel: Soziologie der Konkurrenz. In: Neue Deutsche Rundschau 14/10 (1903), S. 1009–1023.) 4 Nopp, Geschichte, S. 218. 5 Ebd., S. 405.

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ökonomischer Nebeneffekt des nationalistischen und militärisch-zivilen Grundkonflikts. Doch zeigt eine Episode, die Nopp als Ausweis französischer Benachteiligung der deutschen Bevölkerung liest, dass sein dyadischer Konkurrenzbegriff, der nur den Konflikt betont, für die Betrachtung von Migration und Konkurrenz in der Frühen Neuzeit zu kurz greift. Am 16. März 1675 verpflichtete sich der Soldat Charles de la Ruelle, den Mist aus den Ställen der Dragonerkavallerie in Philippsburg täglich abzutransportieren und im Schlossgraben zu entsorgen.6 Die entstehenden Kosten in Höhe von 1050 Livres sollten „les bourgeois francais [sic] et allemands de cette ville“ anteilig tragen.7 Vorwurfsvoll führt Nopp an, dass die deutschen Bürger davon 650 Livres, die französischen „Kaufleute und Spekulanten“ nur 400 zahlen sollten.8 Doch lässt sich die Quelle auch anders lesen: Seit Beginn der französischen Besatzungsherrschaft 1644 hatten so viele eingewanderte Franzosen das Bürgerrecht in Philippsburg erworben, dass sie immerhin knapp 40 % der Gesamtsumme übernehmen sollten. Ein zweiter Blick auf die historisch spezifischen sozialen Praktiken, Regeln und Institutionen von Konkurrenz, wie ihn z. B. Karl-Joachim Hölkeskamp fordert, ist also angeraten.9 Damit eröffnen sich neue Perspektiven auf das Zusammentreffen bzw. Zusammenlaufen (lat. concurrere) von Menschen, die der frühneuzeitliche Belagerungskrieg und die aus ihm resultierende Besatzungsherrschaft in Bewegung gesetzt hatten. Wer historische Konkurrenzen in diesem Sinne beobachten möchte, kommt nicht umhin, konkrete Orte in den Blick zu nehmen. Gerade die (Re-)Konstituierung von Herrschaft im Krieg bietet ein ideales Untersuchungsfeld für die mikrohistorische Frage, wie soziale und politische Strukturen „in Verhandlungen und Konflikten“ entstehen und verändert werden.10 Ein heftig umkämpfter und medial stark präsenter befestigter Platz wie die (Reichs-)Festung Philippsburg am Rhein bietet hierzu

6 Stadtarchiv Philippsburg [StadtA P]: A 811, Urkunde des Notars Bessier (und angeheftet deutsche Zusammenfassung), 16. März 1675. 7 Ebd. 8 Nopp, Geschichte, S. 218. 9 Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz in der Geschichte, S. 33–57. 10 Jürgen Schlumbohm: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte. In: Ders. (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel? Göttingen 1998, S. 7–32, hier S. 22. Vgl. auch für eine Untersuchung der Produktion von Lokalität im frühneuzeitlichen Italien Angelo Torre: Production of Locality in the Early Modern and Modern Age. Places. Abingdon / New York 2020. Die zugrunde liegenden theoretisch-methodologischen Überlegungen finden sich kondensiert in dem Aufsatz Angelo Torre: Empowering Interactions and Intertwining Jurisdictions. In: Wim Blockmans u. a. (Hg.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Aldershot 2009, S. 319–326.

Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt

einen perfekten Beobachtungsraum. Das Beispiel verbindet Konkurrenz und Migration mit dem Krieg, dessen Rolle als Motor für Bevölkerungsbewegungen in Bezug auf Vertriebene und Soldaten bereits untersucht worden ist.11 Doch welche Konkurrenzformen erwuchsen aus frühneuzeitlichen Belagerungen und der mit ihnen verbundenen militärischen Besatzung für die Einwohner einer Festungsstadt?12 Wie wirkten militärische und städtische Obrigkeiten, aber auch die Untertanen auf das Konkurrenzgefüge ein? Um diese Fragen zu beantworten, werden hier neben städtischen Quellen, die das Zusammenleben mit der Festungsbesatzung beleuchten, erstmals auch die Kapitulationsvereinbarungen (zeitgenössisch: „Akkorde“) in Bezug auf Regelungen für die Zivilbevölkerung untersucht.13 Nach einer kurzen Vorstellung Philippsburgs werden dazu drei französische Besatzungsperioden in den Blick genommen, die durch Belagerungsoperationen beendet wurden (1676) oder begannen (1688 und 1734). Indem Akkordregelungen und städtische Quellen im Zusammenhang betrachtet werden, erschließt sich, wie zivile und militärische Akteure vor Ort mit den Wettbewerbssituationen umgingen, die durch Migrationsbewegungen in Folge von Machtwechsel und Besatzung entstanden. Dabei werden unterschiedliche, sich teilweise überlagernde „Figuren des Dritten“ in der Konkurrenzbeziehung sichtbar, wie sie aktuelle Forschungen in Anlehnung an Georg Simmel hervorheben.14 Nicht nur Migrierende schufen sich Handlungsspielräume zwischen den Fronten. Auch die lokal verwurzelten Stadtbürger erwiesen sich als gewandte Verhandler, die ihre Identitäten und Positionen der sich wandelnden Lage anpassten. Zudem wird deutlich, dass eine induktive, prozessuale Alternative zu Nopps dyadisch-deduktivem Konkurrenzmodell, dessen

11 Vgl. Matthias Asche u. a. (Hg.): Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Berlin 2008. 12 Zur Dominanz der Operationsform der Belagerung im Krieg der Frühen Neuzeit siehe Frank Tallett: War and Society in Early-Modern Europe, 1495–1715. London 1992, S. 3; Jeremy Black: Fortification and Siegecraft. Defense and Attack through the Ages. Lanham u. a. 2018, S. 65–169. Vgl. auch die intensiven Forschungen zur Besatzungsherrschaft (z. B. Jörg Rogge / Markus Meumann (Hg.): Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Münster u. a. 2006). 13 Vgl. zu Kapitulationen mit militärischem Fokus Paul Vo-Ha: Rendre les armes. Le sort des vaincus XVIe–XVIIe siècles. Ceyzérieu 2017; John Childs: Surrender and the Laws of War in Western Europe, c. 1660–1783. In: Holger Afflerbach / Hew Strachan (Hg.): How Fighting Ends. A History of Surrender. Oxford u. a. 2012, S. 153–168; Christopher Duffy: Fire and Stone. The Science of Fortress Warfare 1660–1860. Vancouver 1975, S. 151–153. 14 Vgl., auch für einschlägige Literaturangaben: Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 34 f. Stark auf Simmel bezieht sich auch Tobias Werron, z. B. bereits in: Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der „Soziologie der Konkurrenz“ (Workingpaper des Soziologischen Seminars 05/09). Luzern 2009; Ders.: Form und Typen der Konkurrenz. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019, S. 17–44.

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Ursprung in der nationalistischen Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts deutlich hervortritt, den komplexen Dynamiken von Krieg und Migration in der Frühen Neuzeit besser gerecht wird.15

Reichsfestung Philippsburg Philippsburg, etwa 10 km südlich von Speyer am Rhein gelegen, erhielt seinen Namen, nachdem der speyerische Bischof Philipp Christoph von Sötern seine Residenzstadt Udenheim zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges im modernen Bastionärstil befestigen lassen hatte.16 Die neue Festung wurde bald zur begehrten Schlüsselposition im umstrittenen Grenzraum zwischen dem Königreich Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Wann immer sich der Kaiser und der französische König in den großen Kriegen der Frühen Neuzeit feindlich gegenüberstanden, geriet auch Philippsburg ins Visier. Bis die Festung im Winter 1800/1801 auf Geheiß Napoleons geschleift wurde, spielten sich fünf große Belagerungsoperationen (1634, 1644, 1676, 1688, 1734), ein erfolgreicher Überrumpelungsangriff (1635) und eine Folge von vier zerstörerischen, aber militärisch erfolglosen Blockaden durch die französische Revolutionsarmee (1799) um sie ab. Wenngleich diese Kampfhandlungen nicht die Prominenz der Zerstörung Magdeburgs (1631) oder der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen (1683) erreichten, erregten auch sie hohe mediale Aufmerksamkeit.17 Durch die wiederholten gewaltsamen Machtwechsel erhielt Philippsburg im Laufe der Zeit einen besonderen Status in der kollektiven Erinnerung.18 Nachdem Kaiser und Reich die Festung, für die der französische König im Westfälischen Frieden das 15 Vgl. auch für die Prozesshaftigkeit von Konkurrenz am Beispiel aktueller ökonomischer Theorien Jessen, Einleitung, S. 11. 16 Die Bedeutung der trace-italienne-Befestigung unterstreicht Geoffrey Parker: The Military Revolution. Military Innovations and the Rise of the West, 1500–1800. New York u. a. 1988. 17 Vgl. zu Magdeburg Birgit Emich: Bilder einer Hochzeit. Die Zerstörung Magdeburgs 1631 zwischen Konstruktion, (Inter-)Medialität und Performanz. In: Gabriela Signori / Birgit Emich (Hg.): Kriegs/ Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2009, S. 197–235; zu Wien Andrew Wheatcroft: The Enemy at the Gate. Habsburgs, Ottomans and the Battle for Europe. New York 2008. 18 Stadtgeschichtliche Darstellungen mit einem Schwerpunkt in der „Festungszeit“ bieten, alle auf Grundlage von Nopps Werk, Karl Heinz Jutz / Josef M. Fieser: Philippsburg. Geschichte der Stadt und ehemaligen Reichsfestung. Philippsburg 1966; Karl Heinz Jutz: Die sterbende Reichsfestung Philippsburg und ihr Kommandant, Rheingraf von Salm-Grumbach. Philippsburg 1965; Uli Pfitzenmeier: Das Bollwerk. Ein Denkmal Philippsburger Geschichte. Herbstein 1999; Stadt Philippsburg (Hg.): Philippsburg. 1225 Jahre, redigiert von Ekkehard Zimmermann. Philippsburg / Karlsruhe 2009. Den Status der Festung als Erinnerungsort belegt z. B. angesichts der französischen Eroberung 1688 die Flugschrift: Die In der Untern Pfalz/ am Rhein ligende Bischofflich-Speyerische Residenz-Stadt/ und Schloß Udenheim/ Oder Philippsburg […]. Augsburg 1688. Digitalisat: BSB München: Signatur: 4

Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt

Besatzungsrecht zugesprochen bekommen hatte,19 1676 zurückerobert hatten, wurde sie, trotz erneuter französischer Besatzung (seit 1688), mit dem Frieden von Rijswijk am Ende des Neunjährigen Krieges (1697) an das Reich zurückgegeben und explizit als „Reichs-Festung“ bezeichnet.20 Eine Garnison aus Kreistruppen verteidigte das Bollwerk. Allerdings kam es auch im Polnischen Thronfolgekrieg (1733–1735/38) noch einmal zur Einnahme und Besetzung durch die französische Armee. Die drei französischen Besatzungsperioden sollen nun im Hinblick auf die gesellschaftlichen Wirkungen von Migrationsbewegungen und Konkurrenzen genauer in den Blick genommen werden.

Besatzungsherrschaft bis zur Eroberung durch die Reichsarmee 1676 Nachdem der Westfälische Frieden dem französischen König das ius praesidii in der Festung Philippsburg zugestanden hatte, blieb eine französische Garnisonstruppe in der Stadt stationiert. Städtische Suppliken an deren militärischen Kommandanten im Dienste des französischen Königs und an den Bischof von Speyer als Landesherr belegen unterschiedliche Formen des Konfliktes um Ressourcen und wirtschaftliche Chancen. Hieraus entstanden Konkurrenzverhältnisse, welche die französische Garnison, die bischöflich-speyerische Landesherrschaft und die Stadt in unterschiedliche Beziehungen zueinander setzten. So konkurrierten zum Beispiel Garnisonskommandant und Kriegskommissar mit der landesherrlichen Regierung um die Ressourcen der Stadt, wenn sie unter Bezug auf das Recht der Eroberung durch Condé und Turenne 1644 von den Einwohnern Quartier, Servis, Verpflegung und andere Leistungen erzwangen.21 Die fürstbischöfliche Verwaltung verlangte

Germ.sp. 338, URN: urn:nbn:de:bvb:12-bsb10003426-7. Vgl. zum Konzept kollektiver Erinnerung den Klassiker von Maurice Halbwachs: La mémoire collective. Paris 1950. 19 Instrumentum Pacis Monasteriensis [IPM] § 77. (Eine Online-Edition der Vertragstexte bieten die Acta Pacis Westphalicae: URL: http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/index.html (25.06.2020).) 20 Z. B. in Der Europäische Postilion, Mit sich bringend allerhand Curieuse Begebenheiten/ so sich in Europa hin und wieder zu Wasser und Land zugetragen […], Ersten Jahrs Anderer Theil. Erste Tour. Augsburg 1723. Digitalisat: BSB München, Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12bsb10408131-5, S. 564. Die Irritation des Erzbischofs von Trier, der als Bischof von Speyer Landesherr über Philippsburg war, über diese Tatsache ist dokumentiert in Generallandesarchiv Karlsruhe [GLA]: Bestand 218, Nr. 262: „Prädikat der Stadt Philippsburg als kaiserliche Reichsfestung / 1726“. 21 Vgl. die Klageschrift, welche die Bürgerschaft dem Gouverneur d’Espenan überreichte: GLA: 125, Nr. 257, Dok. 1: Dezember 1644, sowie Nopp, Geschichte, S. 152–154. Zu Servis-Leistungen (Unterkunft, Mitbenutzung der Küche mit Salz und Gewürzen, Feuerholz und Lichter) für einquartierte Soldaten, wenngleich in der stärker regulierten Form des 18. Jahrhunderts, siehe Ralf Pröve: Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713–1756. München 1995, S. 208 f.

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demgegenüber die althergebrachten Abgaben, aber auch Beiträge zu den besonderen Belastungen der Nachkriegszeit (v. a. zu den Satisfaktionszahlungen für die schwedischen Truppen). Sie hatte daher ein Interesse daran, dass ihre Untertanen von anderer Seite nicht zu sehr beansprucht wurden.22 Soldaten und Stadtbewohner konkurrierten wiederum um Wohnraum, Gartenflächen und das Holz der Stadtwaldungen, wobei hier der Landesherr die Position eines „Dritten“ einnahm. Der Stadtrat versuchte, durch Eingaben bei der fürstbischöflichen Verwaltung die Interessen der Bürger und Einwohner gegenüber den französischen Truppen zu stärken.23 Schließlich wurde in den städtischen Beschwerdeschriften aber auch eine Form der Konkurrenz verhandelt, in welcher der Kommandant der Garnison nicht als Teil der konkurrierenden Gruppe, sondern als rahmensetzende Partei erschien.24 Dies war der Fall, wenn es um Geschäftsmöglichkeiten für Händler und Gewerbetreibende ging. Die Stadt warf dem Kommandanten, der als Gouverneur auch für das Verhältnis der Militärangehörigen zur Bürgerschaft verantwortlich war,25 vor, er räume Marketendern und zugewanderten Handwerkern unrechtmäßig (Gewerbe-)Freiheiten ein. Hieraus geschehe der Stadt wie der fürstbischöflichen Herrschaft „ein merckhlicher Abgang undt Eintrag“.26 Der Eingriff der militärischen Autorität zugunsten ziviler Einwanderer schwäche also die städtische Wirtschaftskraft.27 Ganz im Sinne des zeitgenössischen ökonomischen Denkens bestand das eigentliche Problem hier in schlechten Regelungen der Konkurrenzsituation. Eine Autorität, die als obrigkeitliche Instanz im Grunde das Auskommen aller Beteiligten mit Hilfe gerechter Preise sichern sollte, schädigte durch Freiheiten für die Zugewanderten die Interessen der Alteingesessenen und ihres bischöflichen Landesherrn.28 Die Philippsburger störten sich nicht grundsätzlich an der

22 Dies hebt z. B. die Abschrift einer Supplikation und der landesherrlichen Antwort darauf im Ratsprotokollbuch (1601–1695 [Einträge bis 1654]) der Stadt hervor: Stadtarchiv Philippsburg [StadtA P: Abteilung Ba (Ratsprotokolle): Karton 1, Ba 1 [im digitalisierten Findbuch fälschlich Karton 24, Bc 50], S. 370–372. 23 Nopp, Geschichte, S. 170 f. 24 Vgl. z. B. die Abschrift einer Supplik im Ratsprotokollbuch (1665–1696): StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 3 [Bc 49], S. 4–6. 25 Vgl. z. B. schon die Übertragung der Verantwortung über alle „habitants de quelque qualite ou condition qu’ils soyent“: Service Historique de la Défense, Vincennes [SHD]: GR A1 96, Nr. 194: Commission de Gouverneur de Philisbourg pour M. de la Claviere, 18. Mai 1646. Die üblichen Formeln bei der Ernennung zum Gouverneur führt auch auf [N.N.] du Sault: Nouveau Stile des Lettres des Chancelleries de France. Paris 1684, S. 720 und 737. 26 StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 3 [Bc 49], S. 6. 27 Vgl. aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts hierzu Nopp, Geschichte, S. 171. 28 Vgl. Alexander Engel: Konzepte ökonomischer Konkurrenz in der longue durée. Versprechungen und Befürchtungen. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozial-

Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt

Einwanderung fremder Konkurrenten im Gefolge der Besatzung. Vielmehr beklagten sie die Eingriffe des Gouverneurs, der die vergesellschaftende Wirkung des (gut geregelten) Handels durch die unerhörte Gewährung von Privilegien für die Zuwanderer unterminierte. Er schuf damit zwei Gruppen von Verkäufern, die durch unterschiedliche Abgabenbelastungen ihre Waren den Konsumenten nicht unter gleichen Bedingungen anbieten konnten. Die städtische Beschwerde richtete sich also nicht gegen existenzielle „Akteurskonflikte“, sondern postulierte einen „normative[n] Konflikt“, dessen Einhegung durch Regeln möglich war.29 Die dyadische Separierung von Einheimischen und Zugewanderten sollte so aufgelöst werden. Die Neuankömmlinge sollten in die lokale Konkurrenzkultur eingepasst werden, die sich selbst wiederum den Bedingungen von Besatzungsherrschaft und Migration anpassen musste. Freilich änderten sich mit der Eroberung Philippsburgs im Holländischen Krieg (1672–78/9) die Bedingungen des Zusammenlebens grundlegend. Dem trugen der abziehende französische Gouverneur du Fay und die kaiserlichen Befehlshaber der Belagerungstruppen Rechnung, als sie in Artikel 11 des Akkords von 1676 festlegten, dass alle Bürger Philippsburgs, „tant Francois, qu’Allemands“, sowie alle Einwohner das Recht haben sollten, entweder sofort mit der Garnison auszuziehen oder noch innerhalb von vier Monaten die Stadt mit ihrem Hab und Gut zu verlassen.30 In der langen Besatzungszeit hatte sich eine begüterte deutsch-französische Elite gebildet, deren Mitgliedern in der prekären Situation des Machtwechsels eine gewisse Sicherheit gewährt werden sollte. Französische Namen in den städtischen Aufzeichnungen über Abgabenleistung und Amtsträger sowie von Heiratspartnern, Taufpaten oder verstorbenen Gemeindegliedern in den Kirchenbüchern von Philippsburg weisen auch nach 1676 darauf hin, dass eine vollständige Entflechtung der entstandenen Einwanderungsgesellschaft trotz der Eroberung durch Kaiser und Reich nicht stattfand.31 „Französische Bürger“ waren wie die übrigen Bürger und Einwohner den städtischen Regelungen unterworfen. Wer das Bürgerrecht mit den damit verbundenen

wissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019, S. 45–85. Zur Unterscheidung bezeichnet er das historische Konzept als „concurrens“ (S. 48). 29 Diese Unterscheidung trifft Georg Elwert: Anthropologische Perspektiven auf Konflikte. In: Julia M. Eckert (Hg.): Anthropologie der Konflikte. Georg Elwerts konflikttheoretische Thesen in der Diskussion. Bielefeld 2004, S. 26–38, S. 30–31. 30 [Le François De Rigauville]: Iovrnal Veritable Dv Siege De Philipsbovrg. Dedié A Monseignevr De Lovvois, Freiburg im Breisgau 1679. Digitalisat: Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz, URN: urn:nbn:de:0128-1-22998, S. 255. Nopp nennt hingegen nur eine Frist von 4 Wochen: Nopp, Geschichte, S. 213. 31 Vgl. hierfür neben den Akten und Amtsbüchern des Stadtarchivs auch Erzbischöfliches Archiv Freiburg: Kirchenbucharchiv, Philippsburg, St. Maria, Totenbuch 1581–1683 / Taufbuch 1607–1683 / Ehebuch 1581–1665.

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Rechten und Pflichten anstrebte und nach dem Abzug der französischen Truppen in der Stadt verblieb, war nicht nur ein opportunistischer Eindringling. Die Differenzierung nach ‚nationalen‘ Kriterien (im frühneuzeitlichen Sinne also nach Herkunft und Muttersprache) wurde durch die Integration von Migrierten in die städtische Gesellschaft nachrangig. Hier war offensichtlich eine gemeinsame Konkurrenzkultur entstanden.

Besatzung im Neunjährigen Krieg (1688–1697) Zu Beginn des Neunjährigen Krieges wandelten sich die Machtverhältnisse in Philippsburg erneut. Im Herbst 1688 eröffnete die Hauptarmee Ludwigs XIV. unter dem Kommando des Dauphins ihren Feldzug im Reich mit der Belagerung der Festung, die der kaiserliche Kommandant, Maximilian von Starhemberg, mit Akkord vom 30. Oktober übergeben musste. Während Nopp in Anlehnung an die gedruckte Darstellung des „Theatrum Europaeum“ keine Regelungen zur städtischen Bevölkerung in der Kapitulationsvereinbarung erwähnt,32 zeigt eine handschriftlich überlieferte französische Relation, dass Starhemberg die städtischen Interessen durchaus berücksichtigt hatte: Der Dauphin und die französische Generalität gewährten Starhembergs Bitte, dass der Akkord auch „les bourgeois chretiens et juifs“ einschließen sollte; ihre Privilegien sollten erhalten bleiben und sie erhielten Erlaubnis, die beweglichen Güter der abziehenden Offiziere und Soldaten zu kaufen, sofern diese sie nicht mitnehmen könnten.33 Die verbliebenen französischen Immigranten waren nun mit der übrigen christlichen Bevölkerung Philippsburgs verschmolzen, eine Abgrenzung erfolgte nurmehr von jüdischen Bürgern.34 Dabei liefert die ausdrückliche Erwähnung dieses Bevölkerungsteils in der Festungsstadt einen Hinweis darauf, dass jüdische Handelsnetze im ausgehenden 17. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle bei der Armeeausstattung spielten.35 Ihr Verbleib

32 Vgl. Theatrum Europaeum. Bd. 13. Frankfurt am Main 1698. Digitalisat UB Augsburg, URN: urn:nbn:de:bvb:384-uba000248-2, S. 317. 33 SHD: GR 1M 57, „Relation du siège de Philipsbourg en 1688, sans nom d’auteur“, S. 45 f. 34 Der genaue Status der „jüdischen Bürger“ markiert ein Desiderat der Forschung. Entgegen der Vorstellung von der Randständigkeit jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit (Vgl. z. B. Bernd Roeck: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit. Göttingen 1993, S. 23–41.) könnte im Fürstbistum Speyer die mittelalterliche Tradition eines, wenn auch eingeschränkten, Bürgerrechtes für Juden (vgl. Alfred Haverkamp: „Kammerknechtschaft“ und „Bürgerstatus“ der Juden diesseits und jenseits der Alpen während des späten Mittelalters. In: Michael Brenner / Sabine Ullmann (Hg.): Die Juden in Schwaben. München 2013, S. 11–40.) im 17. Jahrhundert wieder aufgegriffen worden sein. 35 Vgl. z. B. für die Rolle portugiesisch-jüdischer Handelshäuser Alan J. Smyth: The Role of Civilians in Military Supply During the Williamite-Jacobite War in Ireland, 1689–91. In: Aaron Graham / Patrick

Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt

war daher auch für die Eroberer besonders wünschenswert. Aufgrund der bereits etablierten, religiös unterlegten Abtrennung der wirtschaftlichen Betätigungsfelder ergab sich hier keine Konkurrenzsituation, die in den Quellen greifbar würde. Doch nicht nur bereits lokal ansässige Gewerbetreibende nutzten die wirtschaftlichen Chancen der neuen französischen Besatzung. Erneut wanderten im Gefolge der Garnison Zivilpersonen ein. Neben dem nun mit französischen Einträgen ergänzten Ratsprotokollbuch, das z. B. für 1691 die Einbürgerung von Henri („Heinrich“) De Foy und Pierre („Peter“) Togné vermeldet,36 sowie den Kirchenbüchern zeigen dies nun auch die erhaltenen Stadtrechnungen: Ein Pflasterer namens Jacques Rosin arbeitete 1694 für die Stadt.37 Im Jahr darauf erhielten der Glaser Antoine („Antonio“) Scanart und der Schmied Philippe Dupré („Debre“) Aufträge, während Laurent Sales der Stadt Steine verkaufte.38 Ein undatiertes „Memoire des habitants de Philisbourg“ listet in lateinischer Schrift über 60 französische Personen und ihre Berufe zusammen mit in deutscher Kurrent ergänzten Angaben zu ihrer Wohnstätte auf.39 Ein Hauptfeld der wirtschaftlichen Konkurrenz, das in den Quellen seit dieser Besatzungsperiode hervortrat, war der Weinausschank. Die Marketender (Cantiniers) der Garnison beanspruchten ein Monopol auf die Versorgung der Truppen und verlangten von den lokalen Wirten und Lebensmittelhändlern Entschädigungszahlungen für den Verkauf von Wein an Soldaten. Laut Nopp führte diese Erhebung von „Cantinegeld“ in Kombination mit dem von der Stadt erhobenen, traditionellen „Ungelt“ dazu, dass die örtlichen Unternehmer „mit den Markedentern [sic] nicht mehr konkurriren“ konnten.40 Als sich die Einwohner, Wirte und Lebensmittelhändler von Philippsburg bei Jacques de la Grange, dem Intendanten in Elsass und Breisgau, darüber beschwerten, dass die Cantiniers sie „au préjudice de la liberté publique“ davon abhielten, Wein zum Weiterverkauf zu erstehen, oder Geld für dieses Recht verlangten,41 stellte sich der französische Amtsträger gegen die Marketender. Er nahm die ihm angetragene Rolle als rahmensetzende Instanz jenseits der drei anderen erkennbaren Parteien des Konkurrenzverhältnisses (lokale Wirte,

36 37 38 39 40 41

Walsh (Hg.): The British Fiscal-Military States, 1660–c. 1783. London / New York 2016, S. 61–81, hier S. 62. StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 3 [Bc 49], S. 144. StadtA P: Abt. Stadtrechnung, Karton 4, Bürgermeister-Rechnung 1694, S. 22. Ebd., Bürgermeister-Rechnung 1695, S. 10 und 11. StadtA P: Akten, Abt. IX. Kriegs- und Militärsachen, A 812, Nr. 13. Nopp, Geschichte, S. 240 f. StadtA P: Akten, Abt. IX. Kriegs- und Militärsachen, A 812, Nr. 10 (Antwort des Intendanten de la Grange, Philippsburg, 10. April 1691, unten ergänzt durch Kommissar Fontmort, Philippsburg, 19. April 1691).

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Cantiniers, Weinkonsumenten) an und verfügte, dass zwar die Rechte des Platzmajors auf einen festgesetzten Anteil an allem ausgeschenkten Wein zu wahren seien, die darüber hinaus gehenden Forderungen der Cantiniers jedoch unrechtmäßig erhoben würden.42 Für Nopp lag der Grund für dieses Zugeständnis allein darin, dass „[e]ine allgemeine Zahlungsunfähigkeit […] gegen das Interesse der fremden Blutsauger gewesen“ wäre.43 Doch führt die dyadisch-nationalistische Vorstellung hier wieder in die Irre. Als sich die Bürger und Einwohner Philippsburgs nach der Eroberung ihrer Stadt durch die Armee des Dauphins im Oktober 1688 an den siegreichen Feldherrn gewandt hatten, um eine Bestätigung ihrer Privilegien zu erbitten, hatten sie nicht nur die französische Sprache verwendet, sondern sich auch als „supplians estant néz La pluspart francois“ bezeichnet.44 Nopp vermag hier nur „klägliche, allen Patriotismus verläugnende“ Züge zu erkennen.45 Doch lässt sich die opportunistische Selbstbezeichnung auch als Ausdruck des flexiblen vormodernen Umgangs mit Identitäten im Zuge von Machtwechsel und Migration in der Festungsstadt lesen. Die Philippsburger hielten es nicht für opportun, in ihren Suppliken die Ansprüche der Cantiniers wegen deren Fremdheit abzulehnen. Vielmehr wehrten sich die Stadtbewohner in erster Linie, weil sich die Fremden eine privilegierte Position jenseits der Normen der städtischen Konkurrenzkultur anmaßten.

Besatzung im Zuge des Polnischen Thronfolgekriegs (1733–1735/8) Auf ihre Erfahrung mit französischer Besatzungsherrschaft konnten und mussten die Einwohner Philippsburgs auch im 18. Jahrhundert noch einmal zurückgreifen. Auf dem rheinischen Kriegsschauplatz des Polnischen Thronfolgekrieges rückte die Festung 1734 durch eine große Belagerungsaktion erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Als der erhoffte Entsatz durch Prinz Eugen ausblieb, musste der kaiserliche Gouverneur Wutgenau am 19. Juli die Kapitulationsvereinbarung unterzeichnen.46 Die französischen Eroberer stimmten seinem Vorschlag zu, dass der Akkord sich „ebenmäßig auch auf die Burger, Christen und Juden“, beziehen sollte.47 So erhielt in Artikel 9 des Vertrags „Jedermann […], er sei Christ oder

42 43 44 45 46 47

Ebd. Nopp, Geschichte, S. 241. StadtA P: Akten, Abt. IX. Kriegs- und Militärsachen, A 812, Nr. 1 (Entwurf der Supplikation). Nopp, Geschichte, S. 239. Nopp, Geschichte, S. 384–388. Staatsarchiv Wien: Kriegsarchiv, Alte Feldakten, Hauptreihe, Akten 438, Nr. 113a: Entwurf und französische Kommentare zu „Capitulations-Puncta“.

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Jude, desgleichen auch alle Bedienten, wer sie immer sein mögen“, das Recht, unbehelligt wegzuziehen. Wer „Haus und Hof “ besaß, sollte zwei Monate Bedenkzeit erhalten. Zugleich versicherte Artikel 15: „Die Bürger bleiben im Besitze ihres Vermögens, ihrer Aemter und Privilegien.“48 Wie schon 1688 wurde in der Regelung des Herrschaftsübergangs nicht mehr nach Nationalität, sondern nach Religionszugehörigkeit unterschieden. Hinzu kam eine Differenzierung nach Ständen, die verdeutlichte, dass der Abzug Bediensteter im Gefolge der Garnison erlaubt sein sollte, während die Bürger durch Bestätigung ihrer Privilegien vor Ort gehalten werden sollten. Im Laufe der bis zum 8. Februar 1737 dauernden Besatzungszeit entspannen sich wie schon 1688–1697 Konkurrenzen um die Geschäfte mit der Garnisonskundschaft, vor allem um den Weinausschank. Hier wird einmal mehr deutlich, dass selbst ein triadisches Konkurrenzmodell, das einen Wettbewerb um die Gunst der Soldaten als Konsumenten zwischen ortsansässigen und – im Gefolge der Garnison – zugewanderten Lebensmittelverkäufern beschreibt, der Ergänzung bedarf. Erneut erweist sich die Militäradministration als weiterer wichtiger Referenzpunkt für die Regelung der Konkurrenzdynamiken.49 Mittlerweile war das Privileg der „Cantine“ auf die Versorgung der französischen Truppen fest etabliert. Das hieß jedoch nicht, dass lokale Händler von dem Geschäft ausgeschlossen bleiben sollten – ohne lokale Ressourcen wäre die Versorgung der stehenden Garnisonstruppen gar nicht möglich gewesen. Vielmehr bot der Festungskommandant de la Javellière im Dezember 1734 dem Philippsburger Rat das Recht zum Verkauf von Lebensmitteln an die Soldaten für eine (erhebliche) Pauschalsumme zum Kauf an.50 Zunächst versuchte der Stadtrat, mit dem Kommandanten eine Verringerung der geforderten Zahlung zu vereinbaren. Doch die Drohung Javellières, das Privileg der Truppenversorgung stattdessen an jüdische Unternehmer zu verpachten, die dafür von den städtischen Gewerbetreibenden noch höhere Summen fordern würden, brachte den Rat dazu einzulenken. Die Stadt und das Amt, also die fürstbischöfliche Verwaltung, zogen das Geld in vierteljährlichen Raten von den Berufsgruppen ein, die von der Garnison profitierten, und gaben es an die Kommandantur weiter. Das Ratsprotokollbuch führt die Namen der Zahlenden und ihre Beiträge auf:51 Den größten Anteil trugen 17 (männliche und weibliche) Krämer, die insgesamt 2000 Gulden aufbrachten. Bäcker, Metzger und Biersieder waren mit geringeren Summen beteiligt.52

48 49 50 51 52

Siehe auch Nopp, Geschichte, S. 393. Vgl. Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 38 und 47–49. StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 4 [Ba 1], Ratsprotokollbuch 1695–1737, S. 122. Ebd., S. 123 f. Vgl. Nopp, Geschichte, S. 403.

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Wenn die zahlenden Geschäftsleute gehofft hatten, sich durch ihre Abgabe gegen ungeregelte Konkurrenz zu schützen und eine umfassende Regulierung des Marktes zu erkaufen, wurden sie enttäuscht. Obwohl die Militärverwaltung zugesichert hatte, kompetitive Elemente zu kontrollieren, entwickelten sich in der Praxis doch wieder Wege, die Regelungen zu umgehen. So mussten die Wirte, die an der Sondersteuer nicht beteiligt waren, erst durch den Rat verpflichtet werden, Branntwein nur bei den zahlenden Krämern einzukaufen.53 Offensichtlich gab es alternative Bezugsquellen. Außerdem klagten die städtischen Gewerbetreibenden nun tatsächlich über zugewanderte Konkurrenz: Am 26. November 1736 wurde eine Deputation der Stadt an den französischen Platzmajor entsandt, die Beschwerde darüber führen sollte, dass „sich so viel Marquetender[,] mezger, beker und Wirth dahie der Statt einnistheten, welche allerley nahrung treiben, und dardurch dem bürger die nahrung entziehen thäten“.54 Die Beschwerde des Philippburger Rates rief diesmal gezielt Vorstellungen einer dyadischen Konkurrenz um „Nahrung“, also um die Lebensgrundlage, auf. Allerdings lag die Lösung für die städtischen Vertreter auch jetzt nicht in der Ausweisung der Immigranten oder darin, Migration generell zu unterbinden. Vielmehr beriefen sie sich auf die Versprechungen des Gouverneurs „bey gemachtem accord wegen der Cantin“, denn darin sei festgelegt worden, dass sich zuwandernde Händler bei der Stadt registrieren und den städtischen Regeln sowie Abgaben unterwerfen müssten. Statt sich auf angeblich durch das Garnisonskommando gewährte Freiheiten zu berufen, sollten die eingewanderten Händler „alles wie ein Bürger leiden und tragen“.55 So erweist sich die dyadische Konkurrenz um „Nahrung“ in einem Nullsummenspiel, bei dem der Gewinn einer Seite notwendig der Verlust der anderen war, als rhetorische Strategie, um Handlungsdruck bei den rahmensetzenden Obrigkeiten zu erzeugen. In demselben Kontext bemühte sich der Philippsburger Rat um gleiche Verkaufsbedingungen und Maßeinheiten für alle. Daran wird erneut deutlich, wie die Aushandlung einer umfassenden Konkurrenzkultur vergesellschaftende Wirkung entfaltete. Indem zusätzlich zu einheimischen Händlern und französischen Cantiniers sowie militärischen und zivilen Konsumenten weitere Parteien, v. a. die unterschiedlichen Obrigkeiten (die landesherrlich-zivile und/oder die militärische), zur Regelung der Situation hinzugezogen wurden, wurde eine gemeinsame Einbettung der vielfältigen Konkurrenz-Dynamiken möglich.

53 StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 4 [Ba 1], Ratsprotokollbuch 1695–1737, S. [129 f.], ohne Paginierung; vgl. Nopp, Geschichte, S. 405. 54 StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 4 [Ba 1], Ratsprotokollbuch 1695–1737, S. 194. 55 Ebd.

Belagerung, Besatzungsherrschaft und Konkurrenzen in der Festungsstadt

Fazit Obwohl Konkurrenzen in den erhaltenen Akkorddokumenten nicht explizit behandelt wurden, steckten die Kapitulationsvereinbarungen den Rahmen dafür ab, wie sich Handel und Gewerbe nach dem jeweiligen Machtwechsel entwickeln würden. Der Wandel in den Kategorien der in den Akkorden aus Philippsburg explizit aufgeführten zivilen Akteure (von deutschen und französischen Bürgern zu Christen und Juden) weist darauf hin, dass sich die militärische Führung mit Problemfeldern beschäftigte, die die gesamtgesellschaftliche Ordnung und damit auch die Konkurrenzkultur in der Stadt prägten. Städtische Quellen beleuchten dann konkrete Praktiken im Umgang mit Migration in Folge der Herrschaftswechsel und mit daraus entstehenden Konkurrenzdynamiken. Sie zeigen, dass die historischen Akteure Konkurrenz nicht als Konsequenz eines nationalistisch konzipierten Gegensatzes zwischen „Deutschen“ und „Franzosen“ betrachteten. Vielmehr dominierte in den Suppliken die Forderung, Alteingesessene und Neuankömmlinge den gleichen Regeln und Belastungen zu unterwerfen. Darüber hinaus konnten je nach argumentativem Bedarf in unterschiedlichen Kontexten neben kultureller Fremdheit auch militärisch-zivile Gegensätze, religiöse Unterscheidungen, gesellschaftliche Positionsdifferenzen oder wirtschaftliche Interessen hervorgehoben werden. Schon lange vor dem aktuell diagnostizierten Zeitalter einer „Konkurrenzgesellschaft“ wurden, wie sich beim Blick auf diskursive und ökonomische Praktiken unter Bedingungen von Herrschaftswechsel und Besatzung erweist, spaltende Konkurrenzen auch von Aspekten des „concurrere“ im Wortsinn, des Zusammenkommens, der Vergesellschaftung begleitet.56 Als entscheidend hierfür erweisen sich stets neu auszuhandelnde sozio-kulturelle Rahmungen des Geschehens, „Konkurrenzkulturen“, die dem Wettbewerb gemeinsame Regeln gaben.57 Georg Elwert, dessen anthropologischer Theorieentwurf die Verbindung zwischen Krieg und Konkurrenz mit Hilfe der übergreifenden Kategorie des Konflikts herstellt, spricht von „soziale[r] Einbettung“ durch ein „Ensemble von moralischen Werten, Normen und institutionalisierten Arrangements“.58 Eine solche regulative Rahmung, die mit Hilfe wechselnder zusätzlicher Parteien (Obrigkeiten) vorgenommen wurde, ermöglichte die wirtschaftliche, gesellschaftliche und letztlich auch politische Integration der Migranten in der frühneuzeitlichen Festungsstadt. Indem die historischen Akteure in Philippsburg diesen Rahmen absteckten, machten sie aus Kon56 Vgl. zur Zeitdiagnostik der Gegenwart Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan 34/1 (2006), S. 82–104. 57 Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 38. 58 Elwert, Anthropologische Perspektiven, S. 29.

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fliktkonstellationen, die aus Krieg, Herrschaftswechsel und Migration erwuchsen, gesellschaftlich handhabbare, wenn auch komplexe Konkurrenzsituationen. Die auszuhandelnden umfassenden Normen sollten faire Bedingungen, also idealerweise gleiche Maße, Vorgaben und Abgabenbelastungen, herstellen. Immigrierte, die sich diesen Bedingungen unterwarfen, konnten Teil der lokalen Bevölkerung werden. Sie erwarben als Bürger, Einwohner oder Hintersassen Rechte und Pflichten, die sie Teil der städtischen Gesellschaft werden ließen. Manch einer der Migranten ging diesen Weg, wie die Bürgerlisten von Philippsburg zeigten.59 So trug 1688 einer der beiden Männer, die das hochangesehene Amt des Bürgermeisters bekleidete, den französischen Namen Delacour.60

59 Vgl. dazu Nopp, Geschichte, S. 165. 60 StadtA P: Abt. Ba, Karton 2, Ba 3 [Bc 49], S. 100.

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Von kooperierenden Gästen zu niedergelassenen Konkurrenten Konflikte um den Status als Gast (huésped) in der Provinz Vizcaya im 18. Jahrhundert Der Wirtschaftssoziologe Jens Beckert definiert Marktaktion als eine Form sozialer Interaktion, die sich nur im weiteren Kontext der institutionellen Rahmenbedingungen, sozialen Netzwerke und Erwartungshorizonte der beteiligten Marktakteure erklären lässt.1 Institutionelle Rahmenbedingungen und Konventionen des Handels beeinflussen einerseits das Verhalten der Akteure, werden aber ihrerseits von den jeweiligen Akteuren bedingt und ggf. neu definiert. Zu den institutionellen Rahmenbedingungen des Handels zählte in der baskischen Provinz Vizcaya der Frühen Neuzeit die Institution des Gasts (huésped). Das huésped-Wesen diente zur zeitweiligen Beherbergung von fremden Kaufleuten, die mit eingeschränkten (Handels-)Rechten und Pflichten in der Provinz ihren Geschäften nachgingen. Es begünstigte den Aufbau von Verbindungen zu einheimischen Kaufleuten, die als Gastgeber agierten, sollte aber auch – aus der Sicht der lokalen Behörden – den Aktionsraum der fremden Händler einschränken und deren Überwachung ermöglichen. Um das huésped-Wesen entstanden Konkurrenzsituationen und Konflikte zwischen den Kaufleuten, aber auch zwischen königlichen, Provinz- und Stadtbehörden, sobald die „kooperierenden Gäste“ keine Gäste mehr sein wollten und aus dem Status als huéspedes ausbrachen. Denn damit beanspruchten sie eine Gleichbehandlung mit den baskischen Untertanen des spanischen Königs, welchen vor allem außerhalb der baskischen Provinzen eine Vielzahl von Sonderrechten und Privilegien zukam. Begünstigt durch ihren Status als hidalgos (Niederadlige) sowie durch die fueros (Sonderrechte) der baskischen Provinzen, genossen die Basken in der Frühen Neuzeit weitgehende politische und wirtschaftliche Privilegien in Spanien und den spanischen Kolonien. Dieser privilegierte Status ermöglichte den baskischen Eliten seit dem 16. Jahrhundert einen Aufstieg in Ämter der königlichen Verwaltung, des Militärs und der Kirche sowie den Aufbau von prosperierenden Handelsnetzwerken auf der Iberischen Halbinsel und zwischen den baskischen Heimatgemeinden und

1 „Market action to be a form of social interaction that […] only [can be explained, H.S.] by the institutional structures, social networks, and horizons of meaning within which Market actors meet“, Jens Beckert: The Social Order of Markets. In: Theory and Society 38 (2009), S. 245–269, hier S. 247.

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dem Kolonialreich. Der Erfolg der Basken wurde unterstützt durch verschiedene Organisationen, die in den baskischen Provinzen agierten und den Handel von dort aus zu koordinieren und zu regulieren versuchten. Behörden wie der Consulado von Bilbao oder die Provinzialversammlungen der Juntas y Regimientos der drei Provinzen Vizcaya, Guipúzcoa und Álava koordinierten den Handel regional, aber darüber hinaus auch auf der Iberischen Halbinsel und in den Überseegebieten.2 Insbesondere Regina Grafe3 hat in ihrer Arbeit über die spanische Marktintegration der Frühen Neuzeit darauf hingewiesen, dass lokale politische Entscheidungen und Strukturen für diese Integration entscheidend sein konnten.4 Ein lokales Rechtsinstrument, das ganz wesentlich mit der Inklusion und Exklusion von fremden Kaufleuten und der Koordination des Handels zu tun hatte, war das sogenannte huésped-Wesen. Diese auf das Mittelalter zurückgehende Institution zur Beherbergung von fremden Kaufleuten existierte zumindest in den Städten Bilbao und San Sebastián bis ins späte 18. Jahrhundert. Dort konnten fremde Händler keinen Hausbesitz erwerben oder selbstständig wohnen, sondern mussten von Einheimischen aufgenommen werden.5 Zusätzlich zu eventuellen Mietzahlungen bekam der Gastgeber oder die Gastgeberin ein Prozent der Handelsgewinne. Im

2 Vgl. Tamar Herzog: Private Organizations and Global Networks in Early Modern Spain and Spanish America. In: Luis Roniger / Dies. (Hg.): The Collective and the Public in Latin America: Cultural Identities and Political Order. Brighton 2000, S. 117–133; Alberto Angulo Morales: La Real Congregación de San Ignacio de Loyola de los Naturales y Originarios de las tres provincias vascas en la Corte de Madrid, 1713–1896. In: Amaya Garritz (Hg.): Los Vascos en las regiones de México, siglos XVI a XX. Bd. 5. Mexiko 1996, S. 15–34. 3 Vgl. Regina Grafe: Distant Tyranny. Markets, Power, and Backwardness in Spain, 1650–1800. Princeton 2011. 4 Es gibt zahlreiche Untersuchungen zu den baskischen Netzwerken außerhalb des Baskenlandes, aber keine systematischen Untersuchungen zu Inklusion und Exklusion von fremden Kaufleuten im Baskenland in der Frühen Neuzeit. Álvaro Aragón Ruano: Con casa, familia y domicilio. Mercaderes extranjeros en Guipúzcoa durante la Edad Moderna. In: Studia historica. Historia moderna 31 (2009), S. 155–200, und Jean-Philippe Priotti: Bilbao et ses marchands au XVIe siècle. Genèse d’une croissance. Lille 2004, gehen nicht auf das huésped-Wesen ein. Regina Grafe: Entre el mundo ibérico y el atlántico. Comercio y especialización regional 1550–1650. Bilbao 2005, und Xabier Lamikiz: Trade and Trust in the Eighteenth-Century Atlantic World. Spanish Merchants and Their Overseas Networks. Woodbridge u. a. 2 2013, erwähnen es nur kurz. Xabier Alberdi Lonbide: Conflictos de intereses en la economía marítima guipuzcoana. Siglos XVI–XVIII. Unveröffentl. Doktorarbeit. Universidad del País Vasco, Victoria-Gasteiz 2006, behandelt ab S. 687 die Regulationen für den Handel, geht aber nicht auf den huésped ein. 5 Enriqueta Sesmero Cutanda u. a. (Hg.): Juntas y Regimientos de Bizkaia. Actas de Villas y Ciudad. Bd. 3. Bilbao, o. D., S. 428, Regimiento General de Villas y Ciudades de Señorío de Vizcaya, 14 Noviembre de 1595.

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Gegenzug musste er oder sie als Bürge für die auswärtigen Kaufleute auftreten.6 Das huésped-System ermöglichte die Überwachung von fremden Händlern und erzeugte durch die Bürgschaften Vertrauen, womit es potentiell auch dem Aufbau weitreichender Handelsnetzwerke förderlich war. Laut Xavier Lamikiz beherbergten gerade die wichtigsten Händler Bilbaos fremde Händler und halfen ihnen bei der Vermarktung ihrer Waren und der Herstellung von Kontakten zu Lieferanten von Wolle und Eisen.7 Da die Basken nicht über Handelskontakte in England und Nordamerika verfügten, blieb der nordatlantische Handel mit diesen Waren zwischen dem Baskenland, England und Nordamerika unter englischer Kontrolle, aber durch das huésped-System ergab sich trotzdem eine Gewinnbeteiligung für sie.8 Den Dynamiken von Inklusion und Exklusion fremder Kaufleute soll anhand des Beispiels der französischen Brüder Douat nachgegangen werden, deren Status als huéspedes ungefähr ab 1773 von der Provinz Vizcaya infrage gestellt wurde. Der Fall zeigt die Besonderheiten der Definition von Fremden in der Provinz Vizcaya auf und bringt zugleich neue Erkenntnisse über das huésped-Wesen. Die Konkurrenzsituationen, die im Zusammenhang mit der Definition, wer als „Fremder“ und wer als „Einheimischer“ gelten konnte, entstanden, waren nicht nur ökonomischer Natur, sondern spiegeln auch den Rechtspluralismus9 und den polyzentrischen Aufbau10 der spanischen Monarchie in den Frühen Neuzeit wider.

Die Brüder Douat und das huésped-Wesen Die baskischen Hafenstädte, insbesondere Bilbao und San Sebastián, waren in der Frühen Neuzeit wichtige Handelsplätze und Knotenpunkte für den Transport von Waren. Die baskischen Häfen fungierten als Umschlagplätze für den Handel mit der Nordsee-Region und England. Händler aus dem Baskenland beteiligten sich indirekt, über Sevilla und Cádiz, am Amerika-Handel. Darüber hinaus gab es einen aktiven Kurzstreckenhandel, vor allem mit baskischen und französischen Schiffen, der häufig mit Schmuggelgeschäften und dem verbotenen Export von

6 Grafe, Mundo, S. 205. Der fremde Händler konnte in der Praxis auch bei Dritten unterbracht werden, wenn die Gastgeber mit ihm im gleichen Haushalt wohnten, d. h. Vermieter und Bürge mussten nicht die gleiche Person sein. 7 Lamikiz, Trade, S. 36. 8 Ebd., S. 34. 9 Vgl. Richard Jeffrey Ross / Philip J. Stern: Reconstructing Early Modern Notions of Legal Pluralism. In: Lauren A. Benton / Richard Jeffrey Ross (Hg.): Legal Pluralism and Empires, 1500–1850. New York 2013, S. 109–141. 10 Vgl. Pedro Cardim u. a. (Hg.): Polycentric Monarchies. How Did Early Modern Spain and Portugal Achieve and Maintain a Global Hegemony? Brighton, u. a. 2012.

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Edelmetallen aus Spanien zusammenhing.11 In Bilbao und in San Sebastián gab es sowohl dauerhaft etablierte Händler ausländischer Herkunft als auch solche, die sich dort nur kurzzeitig aufhielten. Laut Xavier Lamikiz waren in Bilbao im 18. Jahrhundert zwischen 200 und 250 Händler tätig, davon 15 bis 20 Prozent ausländischer Herkunft.12 In der Regel gelang es den englischen Kaufleuten, insbesondere nach dem spanisch-englischen Vertrag von Cobham-Alba (1576),13 ihre Geschäfte in beiden baskischen Städten relativ unproblematisch durchzuführen. Xavier Lamikiz zufolge war die Mehrheit der englischen und der niederländischen Händler in Bilbao protestantisch und siedelte sich nicht dauerhaft an. Aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit konnten sie die vecindad (lokale Bürgerschaft) nicht erlangen, auch wenn sie ihre hidalguía (Adeligkeit) durch die limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“, d. h. eine Abstammung ohne jüdische oder muslimische Vorfahren) nachgewiesen hätten.14 Ihre Anzahl verringerte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts deutlich.15 Dagegen scheint die Anwesenheit der zahlenmäßig viel größeren Gruppe der französischen Händler, die sich in der Regel für längere Zeit niederließen, von den lokalen Behörden und Händlern kontrovers gesehen worden zu sein. Dies kann eine Folge des Wettbewerbs zwischen auswärtigen und lokalen Händlern gewesen sein. In Vizcaya beschränkten sich insbesondere die Franzosen selten auf den Großhandel, sondern mischten sich gegen die Bestimmungen der Behörden auch in den Detailhandel ein. Scherten diese Händler aus dem huésped-Wesen aus, suchten sich also eine von einem kaufmännischen Gastgeber unabhängige Unterkunft, hatten bürgende Händler weder die Chance

11 Vgl. Susana Truchuelo García: Contrebandiers de monnaie et autorités locales sur les côtes basques au début du XVIIe siècle. In: Criminocorpus [En ligne], Figures de faux-monnayeurs du Moyen Âge à nos jours, mis en ligne le 17 février 2014, URL : http://criminocorpus.revues.org/2666 (10.05.2022). 12 Lamikiz, Trade, S. 35. Laut Michael Zylberberg: Une si douce domination. Les milieux d’affaires français et l’Espagne vers 1780–1808. Paris 1993, S. 107, gab es in Bilbao im Jahr 1767 insgesamt 244 Großhändler, 145 Detailhändler und 22 Kommissionshändler. Im Jahr 1740 gab es in Bilbao zehn französische Handelshäuser und in den 1760er Jahren 22 Handelshäuser derselben Nation. Elf dieser französischen Händler hatten den Status eines huésped. Laut Mercedes Mauleón Isla: La población de Bilbao en el siglo XVIII. Valladolid 1961, S. 88–92, gab es in Bilbao im Jahr 1763 40 Kaufleute ausländischer Herkunft, von denen 18 das lokale Heimatrecht (vecindad) erhalten hatten. Von diesen 40 Händlern waren 24 französischer (zwölf vecinos und zwölf huéspedes), 9 irischer (drei vecinos und sechs huéspedes) und vier deutscher Herkunft (alle huéspedes). Weiterhin zählten dazu jeweils ein Händler savoyardischer (vecino), englischer (huésped) und niederländischer Herkunft (huésped). Im Jahr 1791 gab es 45 Händler ausländischer Herkunft in Bilbao und von diesen waren 17 mit baskischen Frauen verheiratet, ebd. S. 284–288. 13 Carlos Gómez-Centurión Jiménez: Pragmatismo económico y tolerancia religiosa: Los acuerdos Cobham-Alba de 1576. In: Cuadernos de Historia Moderna y Contemporánea 8 (1987), S. 57–81. 14 Lamikiz, Trade, S. 35. 15 Ebd., S. 39.

Von kooperierenden Gästen zu niedergelassenen Konkurrenten

auf Gewinnbeteiligung noch hatten sie Sicherheiten für den Fall, dass der fremde Händler plötzlich aus der Stadt abreiste, ohne seine Schulden zu begleichen.16 Im Archivo Historico Nacional in Madrid ist ein langjähriger Konflikt zwischen der Provinz (Señorio) von Vizcaya und den französischen Brüdern Beltrán und Claudio Douat überliefert.17 Im Zentrum dieses Konflikts stand die Frage, inwiefern die Brüder sich von ihrem Status als huéspedes lossagen durften. Der Konflikt wurde von ungefähr 1773 bis zumindest 1793 ausgetragen, ohne dass es zu einer Beilegung kam, trotz wiederholter Interventionen des königlichen Consejo Real de Castilla (Kastilienrats) und verschiedener französischer Gesandter. In diesem Fall traten die lokalen Definitionen dessen, was ein Fremder und Einheimischer sein sollte, in Konkurrenz mit Definitionen der Krone. So operierte der Kastilienrat seit einer königlichen Verordnung aus dem Jahr 1764 mit einer Differenzierung zwischen transeuntes, domiciliados und avecindados,18 d. h. einerseits solchen Fremden, deren Verbleib temporär war, und andererseits längerfristig angesiedelten, geduldeten Fremden, und schließlich solchen, die durch andauernde Ansässigkeit, familiäre Bindungen und Dienste für die Gemeinschaft, Land- oder Hauseigentum die lokale Bürgerschaft der vecindad erwarben. Dagegen hatte die Provinz Vizcaya für alle fremden Kaufleute – potentiell auch Auswärtige aus den Nachbarprovinzen – die eigene gewohnheitsrechtliche Kategorie des Gastes (huésped) entwickelt, welche nicht nur auf der Idee der temporären Anwesenheit beruhte, sondern durch das Konzept der baskischen hidalguía bedingt wurde. Der kollektive Status als Adelige (hidalguía universal) war Anfang des 16. Jahrhunderts vom spanischen König für alle aus den Provinzen Vizcaya (1526) und Guipúzcoa (1562) stammenden Personen anerkannt worden. Er galt für die gesamte spanische Monarchie und basierte im Wesentlichen auf der Idee, dass die Basken ihre limpieza de sangre im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsteilen auf der Iberischen Halbinsel bewahrt hätten. Aufgrund dieser Logik konnte ein Fremder nicht so leicht wie in anderen Regionen vom Fremden zum Einheimischen „mutieren“. Wie Tamar Herzog zeigt, reichten auf der Iberischen Halbinsel und in Spanisch-Amerika Ansässigkeit kombiniert mit einem Bekenntnis zum neuen Heimatort weitgehend aus, um aus einem fremden Händler einen Bürger

16 Ebd., S. 36. 17 Archivo Histórico Nacional, Madrid [AHN], Estado, legajo 203, cajas 1 und 2. Die Gebrüder Douat werden von Zylberberg, Domination, S. 207, 285, erwähnt. Er verweist auf eine weitere Quelle, welche für diesen Aufsatz konsultiert wurde: Archives Nationales, Paris [AN], EA III 334. Mémoire des négociants français de Bilbao (1773). 18 Die transeuntes waren bereits 1716 von der Junta de Extrangeros definiert worden als vorübergehend niedergelassene fremde Untertanen, welche der Konsular- und Militärjustiz ihrer jeweiligen Nation unterlagen. Pérez Sarrión: Península, S. 168.

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der Gemeinde (vecino) zu machen.19 Im Fall von Vizcaya und Guipúzcoa hörte ein Fremder auf, huésped zu sein, wenn er vecino wurde, aber um vecino in den beiden baskischen Provinzen sein zu können, musste er seine Tauglichkeit zur hidalguía, d. h. seine limpieza de sangre, vor lokalen Richtern nachweisen, und zwar über drei Generationen. Wenn er seine limpieza de sangre nicht nachweisen wollte oder konnte, geriet er aus Sicht der lokalen Behörden in eine rechtliche Grauzone, bei der nicht klar war, wie man ihn kategorisieren sollte. Die Brüder Douat konfrontierten den Señorio genau mit diesem Dilemma: Sie scherten aus dem huésped-Status aus, ohne den Status der vecino erlangen zu wollen. Sie waren in den 1760er Jahren aus der französischen Stadt Saint-Jean-de-Luz nach Bilbao gezogen und hatten im Groß- und Kommissionshandel hauptsächlich mit kastilischer Wolle gearbeitet. Sie waren zudem als Bankiers tätig und verfügten über ein umfangreiches Handelsnetzwerk auf der Iberischen Halbinsel und im Ausland.20 Als sie nach Bilbao zogen, mieteten sie zunächst ein Haus vom Marquis de Solar, einem einflussreichen Großgrundbesitzer. Dabei fungierten lokale Händler, Amtsträger und Witwen, welche auf Kosten der Brüder mit ihnen unter einem Dach wohnten, als Gastgeber. Im Jahr 1773 zogen die Brüder jedoch in ein anderes Haus, und, so der Vorwurf des Señorio, verzichteten auf einen Gastgeber.21 Daraufhin forderten der höchste königliche Vertreter der Provinz (corregidor) und die Juntas y Regimientos de Vizcaya von den Brüdern, dass sie innerhalb von sechzig Tagen ihre hidalguía nachzuweisen hätten. Aus der Sicht der Stadt Bilbao waren sie nun weder huéspedes noch vecinos, und um als vecino anerkannt zu werden – was die Brüder aber gar nicht wollten22 – hätten sie in einem langwierigen und teuren Prozess nachweisen müssen, dass sie nicht Neukonvertiten waren, d. h. von Juden oder Morisken abstammten.

Eine auf Gewohnheit oder Statuten beruhende Institution? Bereits im August 1775 wies eine königliche Verordnung die Provinz an, auf die Prüfung der hidalguía zu verzichten und die Brüder Douat unbehelligt in der

19 Die Anerkennung geschah oft implizit, denn in den wenigsten Fällen ließen sich die Fremden ihre vecindad durch Behörden schriftlich bestätigen. Siehe Tamar Herzog: Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America. New Haven 2003. 20 Zylberberg, Domination, S. 285, erwähnt die Gebrüder Douat unter den ersten Aktionären der Banco de San Carlos im Jahr 1782. 21 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 3. 10v–11r. 22 Die Brüder argumentierten, sie hätten nie den Status des huésped verlassen, und verwiesen auf die Witwe eines Seefahrers als ihre neue Gastgeberin.

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Stadt agieren zu lassen.23 Nichtsdestotrotz berief sich der Señorio weiterhin auf die fueros, die Privilegien der Provinz Vizcaya, und versuchte, gegen die Entscheidung Berufung einzulegen. Dabei mussten die Repräsentanten der Provinz zugeben, dass Artikel 13 der fueros von 1511, auf den sie sich beriefen, das Problem nicht wirklich löste, da er den huésped-Status nicht erwähnte. Stattdessen hielt dieser Artikel einfach fest, dass aufgrund der limpieza de sangre kein neu zugezogener Neukonvertit, d. h. Jude oder Maure in der Provinz Vizcaya vecino werden konnte.24 Angesichts dieses Problems versuchten die Provinzrepräsentanten andere, allgemeinere Argumente vorzubringen, wie die Treue, welche Generationen von vizcaynos den kastilischen Königen entgegengebracht hätten.25 Noch wichtiger sei, so die Abgeordneten der Juntas y Regimientos, dass die Deklarierung von fremden Untertanen als vecinos oder ständige Einwohner in den Städten der Provinz das Risiko bergen würde, dass die neuen vecinos, sobald sie Frauen aus der Provinz heirateten, typisch baskische Namen erwerben würden. Sie könnten dann in andere Teile des Königreichs ziehen und sich als adelige vizcaynos ausgeben, ohne dass sie jemals dazu verpflichtet worden seien, ihren Status als hidalgo nachzuweisen.26 Damit würden diese aus der Sicht der Basken nicht legitimen „Neu-Basken“ zu einer Konkurrenz für die rechtlich und ökonomisch privilegierten baskischen hidalgos im spanischen Hoheitsgebiet. Ein weiteres vom Señorio genanntes Problem war, dass Fremde in Ämter und Würden gewählt werden konnten, wenn aus ihnen vecinos wurden. Laut Álvaro Aragón Ruano war die Frage der Ämterbesetzung neben Fragen des kommerziellen Wettbewerbs und persönlicher Konflikte einer der Gründe, die auch in der Nachbarprovinz Guipúzcoa dazu führte, dass die dortigen Autoritäten gegen auswärtige, aber auch gegen lokale Beamte vorgingen, welche die Regeln des huésped-Wesens nicht respektierten.27 Das Hauptargument der Brüder Douat lautete, dass die später als die fueros entstandenen Friedensverträge die huésped-Institution in ihrer Geltung ausgesetzt hätten. Sie konstatierten, dass es in Vizcaya Häuser niederländischer und englischer Kaufleute gebe, was gar nicht möglich wäre, wenn Artikel 13 der fueros von 1511, 23 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 1, f. 15v–16v. 24 „Ley XIII. Que em Vizcaya no se auezindē los q fuerē de linje de Indios, & morros, & como los q venieren han de dar informacion de su linaje”, El Fuero: priuilegios franquezas y libertades de los caballeros hijos dalgo del Señorio de Vizcaya: confirmados por el rey don Felipe IIII nuestro Señor y por los Señores Reyes sus predecessores. Bilbao 1644, URL: http://www.cervantesvirtual.com/ obra/el-fuero-priuilegios-franquezas-y-libertades-de-los-caballeros-hijos-dalgo-del-senorio-devizcaya-confirmados-por-el-rey-don-felipe-iiii-nuestro-senor-y-por-los-senores-reyes-suspredecessores (25.04.2020). 25 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 1, f. 27v. 26 Ebd., f. 28r–v. 27 Aragón Ruano, Casa, S. 165.

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welche die Niederlassung von Protestanten untersagte, noch in Kraft wäre.28 Tatsächlich gewährte der Pyrenäenvertrag von 1659 zusammen mit einer zusätzlichen Erklärung vom 6. März 1669 und einem ergänzenden Dekret vom 2. Dezember 1670 französischen Kaufleuten in Spanien die gleichen Privilegien wie englischen, hansischen und einigen anderen Gruppen von Kaufleuten.29 Die Douat-Brüder behaupteten auch, dass es in der Stadt Bilbao mehrere irische, deutsche und französische Händler gebe, die ihre eigenen Häuser und Geschäfte gemietet hätten, ohne auf Gastgeber zurückzugreifen, und dass diese nie von den örtlichen Behörden behelligt worden seien.30 Die Dokumentation zum Fall der Gebrüder Douat suggeriert, dass es in Vizcaya keinerlei schriftliche Regelung des huésped-Wesens gegeben hätte.31 Es basierte, laut der Darstellung des Señorio, auf Gewohnheit, und die Behörden selbst erläuterten in einem ihrer Schreiben an den Kastilienrat, dass es schwierig sei festzustellen, wer huésped sei und wie viele dieser Individuen es jeweils in Bilbao gebe. So hätte im Jahr 1763 zwar auf königlichen Befehl eine Auflistung der huéspedes stattgefunden, in der auch Béltran Douat erwähnt worden sei, eine solche Erhebung sei aber niemals wiederholt worden. Vielmehr gebe es nur wenige Indizien, aufgrund derer man feststellen könne, ob jemand huésped sei oder nicht. Diese bestanden, laut Señorio, darin, dass die huéspedes eine Steuer namens prebostad (eine Konsumsteuer auf Essen, Getränke und Brennholz) entrichten mussten und im Gegensatz zu Einwohnern nicht zu Wachdiensten am Hafen von Bilbao eingezogen wurden.32 Ein Memorandum, das französische Kaufleute zur Unterstützung der DouatBrüder 1773 verfassten, stellt jedoch die Version des Señorio infrage, wonach es keine schriftlichen Regelungen für die Provinz Vizcaya gebe. Denn wie die Franzosen gleich zu Beginn des Memorandums festhielten, sei es der Stadt Bilbao 1699 gelungen, ein Dekret von Karl II. zu erhalten, demzufolge Fremde in Vizcaya weder Häuser im eigenen Namen mieten noch Kommissionshandel innerhalb des spanischen Königreichs tätigen durften. Dieses Dekret sei aber im Jahr 1700 vom König

28 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 1, f. 12r–13r. 29 Laut Guillermo Pérez Sarrión: La península comercial. Mercado, redes sociales y Estado en España en el siglo XVIII. Madrid 2012, S. 146, änderte der Vertrag von Nimwegen von 1679 nichts an diesen Regelungen. 30 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 3, f. 12r–12v.; Teófilo Guiard y Larrauri, Historia de la Noble Villa de Bilbao. Bd. 3. Bilbao 1908, S. 218. 31 Im Gegensatz zu Vizcaya hatte es Guipúzcoa geschafft, im Jahr 1752 das huésped-Wesen vom Kastilienrat explizit erneut anerkennen zu lassen, AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 1, f. 20r. Bereits am 14. November 1595 war eine erste königliche Verordnung erlassen worden, die besagte, dass Auswärtige bei den Einwohnern untergebracht werden mussten, AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 3, f. 12r–12v.; Guiard y Larrauri, Historia, S. 218. Zylberberg, Domination, S. 108, erwähnt, dass das huésped-Wesen in San Sebastián bereits vor 1740 an Bedeutung verloren hätte. 32 AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 1, f. 74v–75r.

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widerrufen worden, weil es gegen die Bestimmungen des Pyrenäenvertrages verstoßen habe. Die Bestimmungen seien jedoch am 21. Juni 1723 wieder eingeführt worden und seither durch die lokalen Behörden umgesetzt worden.33 Es ist auffallend, dass die Juntas y Regimientos von Vizcaya diese Dekrete von 1699 und 1723 in keiner der Beschwerden, die sie an den Kastilienrat richteten, erwähnten. Die Organisation verfügte über ein gut organisiertes Archiv in der Stadt Guernica und wusste von den Aktenbeständen Gebrauch zu machen, um Präzedenzfälle zu finden. Eine Erklärung für das Schweigen über das Dekret von 1699 sowie dessen Wiedereinführung könnte darin liegen, dass der Señorio, wenn er diese Entscheidungen zitiert hätte, implizit dem Argument der Franzosen zugestimmt hätte, dass das huésped-Wesen gegen internationale Verträge verstieß. Der Historiker Teófilo Guiard y Larrauri erwähnt, dass von der Junta General in Guernica am 17. Juli 1758 Kommissare ernannt wurden, um neue Regeln für die Erlangung der lokalen Bürgerschaft (avecindamiento, vecindad) und die Prozeduren des Nachweises der limpieza de sangre auszuarbeiten. Diese Regeln sahen vor, dass die Stadt, in der ein Fremder vecino werden wollte, einen ihrer vecinos zusammen mit dem Rechtsverwalter (sindico procurador) der Juntas y Regimientos oder einem anderem durch diese Körperschaft ernannten Vertreter zum Heimatort des Kandidaten zu schicken hatte. Die Gesandten sollten jeweils vor Ort Zeugenaussagen von 15 bis 30 Personen aufnehmen. 1759 erbaten die Juntas y Regimientos erfolgreich die Bestätigung dieser neuen Regelung durch den König.34 Die Juntas y Regimientos scheinen jedoch schnell begriffen zu haben, dass diese neue Regelung kaum umsetzbar war. Bereits im Jahr 1759 wurde sie einem Praxistest unterzogen, als jeweils ein Vertreter der Stadt Bilbao und einer der Provinz Vizcaya den Franzosen Luis de Essartz zu seinem Geburtsort Bragelonne in der Champagne begleiteten. Die Erkundungsreise erwies sich nicht nur als langwierig und teuer, sondern endete auch mit einer Strafanzeige der Stadt Bilbao gegen Essartz, der beschuldigt wurde, die Ehre der Stadt Bilbao und der Vertreter der Provinz beschädigt zu haben.35 Die ständige Verwaltung der Juntas y Regimientos (Diputación) beanspruchte die alleinige Entscheidungskompetenz in der Sache. Dies wiederum befeuerte einen langjährig schwelenden Konflikt zwischen der Stadt Bilbao und den Juntas y Regimientos, obwohl die Stadt ihnen mittlerweile selbst angehörte.36 Die Konkurrenz zwischen den beiden Behörden führte dazu, dass der Richter (alcalde) von Bilbao und sein Berater für den Zeitraum von sechs

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AN, EA III 334. Mémoire des négociants français de Bilbao (1773). Guiard y Larrauri, Historia, S. 214–218. Ebd., S. 220. Bis 1630 tagten die Juntas y Regimientos der Städte und der ländlichen Gemeinden grundsätzlich separat voneinander. Siehe dazu: Gregorio Monreal Cía: Las Instituciones Publicas del Señorío de Vizcaya (hasta el siglo XVIII). Bilbao 1974, S. 97–112.

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Jahren von allen öffentlichen Ämtern des Señorio ausgeschlossen wurden, weil sie ein Justizgutachten verfasst hatten, welches die Zuständigkeit der städtischen Behörden als erster Justizinstanz gegenüber den Juntas y Regimientos und dem Corregidor verteidigte. Tatsächlich konnte dieser Streit erst beigelegt werden, als der königliche Gerichtshof der Real Chancillería de Valladolid sich einschaltete und im Jahr 1764 schließlich eine königliche Verordnung erlassen wurde, welche die Rechtssouveränität der Stadt bestätigte. Die Juntas y Regimientos gaben nach und zogen die gegen die städtischen Beamten ausgesprochenen Sanktionen zurück. Die Frage der Überprüfung der Herkunft von Fremden führte jedoch weiterhin zu Spannungen zwischen der Stadt und der Provinz.37 In diesem Kontext scheinen die Juntas y Regimientos dafür optiert zu haben, die Regelung von 1758 zu ignorieren, obwohl sie sie selbst geschaffen hatten und sie durch den König bestätigt worden war. Zumindest erwähnen ihre Vertreter diese Regelung nirgends in der umfangreichen Dokumentation des Falles der Douat-Brüder. Obwohl der Fall im August 1775 vom König klar zugunsten der Brüder Douat entschieden worden war, wandte sich der Señorio auch noch im Folgenden mit Beschwerden an den Kastilienrat. Im Jahr 1783 ging der Señorio gegen den französischen Handelspartner von Béltran Douat, Pedro Labat, vor. Dieser hatte eine Frau aus Deusto geheiratet und fiel dadurch aus der Kategorie des huésped, ohne jedoch vecino sein zu können, solange er seine limpieza de sangre nicht nachwies. 1791 beschwerte sich Beltrán Douat beim Kastilienrat, dass er nicht für die Wahl zum Justizverwalter in Bilbao zugelassen worden sei.38 Noch im gleichen Jahr wurde Beltrán Douat vom König geadelt, mit der Begründung, dass er die Stadt Bilbao in Zeiten der Lebensmittelknappheit mit Weizen beschenkt habe. Schließlich stattete der Consejo Real Beltrán Douat mit einem Naturalisierungsbrief aus.39 Dennoch scheint die Stadt dieses Rechtsinstrument nicht respektiert zu haben, denn der Consejo Real musste den Corregidor des Señorio de Vizcaya zwei Jahre später ermahnen, die Brüder nicht weiter zu belästigen.40

Schluss Beim baskischen Vizcaya (wie auch bei Guipúzcoa) handelte es sich um eine Provinz mit weitreichenden Sonderrechten, welche den Umgang mit fremden Kaufleuten beeinflussten und bewirkten, dass Konflikte häufig im größeren Zusammenhang

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Ebd., S. 224–228. AHN, Estado, legajo 203, caja 1, fasc. 4, f. 1r. AHN, Estado, legajo 203, caja 2, fasc. 2, f. 6r–v. AHN, Estado, legajo 203, caja 2, fasc. 1, f. 192r.

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der Verteidigung der fueros und der hidalguía universal standen. Das huéspedWesen ist ein Beispiel dafür. Anders als in Spanien und Spanisch-Amerika üblich, waren fließende Übergänge zur vecindad in Bilbao und San Sebastián nicht möglich. Denn in den beiden baskischen Städten konnten die ehemaligen huespédes nicht zu vecinos werden, ohne eine langwierige Prozedur zur Überprüfung ihrer limpieza de sangre zu durchlaufen. Die Funktionsweise des huésped-Wesens in Bilbao liegt weitgehend im Dunklen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass oft Witwen als Gastgeberinnen dienten, was darauf hindeuten könnte, dass über das huésped-Wesen familiäre Bindungen und Handelsnetzwerke aufgebaut wurden.41 Dennoch ignorieren bisher alle Studien zur Geschichte der Frauen in der Provinz diese Institution, obwohl sie die Rolle der Frauen im Handelswesen, in Bezug auf die Errichtung und Aufrechthaltung der Familiennetzwerke sowie die Verwaltung der Geschäfte in der Heimat betonen. Insgesamt bietet das huésped-Wesen Zugang zu zwei weiteren wichtigen Themen: einerseits zum Verständnis der Vielfältigkeit von Handel betreibenden Gruppen und deren unterschiedlichen Handelsinteressen und andererseits zum Verständnis, wie interpersonelle Beziehungen im lokalen Bereich zur Förderung von dauerhaften Geschäftsbeziehungen über lange Distanzen benutzt werden konnten.42 In diesem Zusammenhang fungierten sowohl die Gastgeber als auch die Gäste als Vermittler.43 Xavier Lamikiz geht so weit zu behaupten, dass „thanks to the huésped institution and the tough process of acquiring citizenship, the foreigners of Bilbao were much closer to the local community than was the case anywhere else in Spain and Portugal.“44 Durch die wenigen dokumentierten Konfliktfälle wird deutlich, dass es sich beim huésped-Wesen, zumindest im 18. Jahrhundert, mehr um eine potentiell abrufbare gewohnheitsrechtliche Kategorie als um eine tatsächlich konsequent in der Praxis umgesetzte Institution handelte. Es diente zur Verteidigung der fueros und dazu,

41 Weder Luis M. Bernal Serra: Responsabilidades y conflictividad de las mujeres en las localidades portuarias (Vizcaya, 1550–1808). In: Itsas Memoria. Revista de Estudios Marítimos del País Vasco 7 (2012), S. 197–210, noch José Maria Imízcoz Beunza / Oihane Oliveri Korta (Hg.): Economía doméstica y redes sociales en el Antiguo Régimen. Madrid 2010, kommen auf die huésped zu sprechen. 42 Álvaro Aragón Ruano: Discrepancias en el seno de la burguesía guipuzcoana en torno a la libertad de comercio y el traslado de aduanas durante los siglos XVIII y XIX. In: Hispania 73/245 (2013), S. 761–788, hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die traditionelle Gegenüberstellung von Großund Kleinhändlern in der baskischen Historiographie nicht überzeugt. Es gibt auch eine bemerkenswert detaillierte Forschung zu Netzwerken, ohne dass diese Netzwerke mit den Institutionen des Handels zusammengebracht werden, vgl. Priotti, Bilbao. 43 Vgl. Olivia Remie Constable: Housing the Stranger in the Mediterranean World. Lodging, Trade, and Travel in Late Antiquity and the Middle Ages. Cambridge 2004. 44 Lamikiz, Trade, S. 40. Er geht diesen Verbindungen jedoch nicht detailliert nach.

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die Konkurrenz von bestimmten fremden Händlern – besonders wenn es um die Handelsprivilegien außerhalb der baskischen Provinzen ging, oder wenn sich die Händler in die lokalen Ämter inserieren wollten – abzuwehren. Damit war das huésped-Wesen also ein potentielles, aber nicht grundsätzlich eingesetztes Instrument, um Zugehörigkeit und ökonomische Konkurrenz zu regulieren. Aufgrund der internen Spaltung der Juntas y Regimentos de Vizcaya führte auch der Versuch, die Tradition der Überprüfung der limpieza de sangre im Jahr 1758 neu zu definieren, nicht zur Bildung eines stabilen und regelmäßig ausgeführten Verfahrens. Die Franzosen, die vom Señorio bezüglich des Verlassens des huésped-Status behelligt wurden, bildeten eine Minderheit innerhalb der Gruppe der französischen Händler. Ein systematischer Ausschluss war hier vielleicht gar nicht erwünscht, weil auf diese Weise lokal flexibel reagiert werden und damit auch auf dem Markt interveniert werden konnte, aber eben nur so lange, wie eine von der Krone sanktionierte und auch durchgesetzte Systematisierung nicht stattgefunden hatte.

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Reform durch Konkurrenz Kompetenzkonflikte zwischen kreolischen Ärzten und europäischen Chirurgen im kolonialen Mexiko

Ärzte versus Chirurgen Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden europaweit spezielle Schulen, an denen Chirurgie gelehrt wurde.1 In Spanien gründete der König zuerst in Cádiz (1748) und Barcelona (1760) Kollegien, um die für Marine und Militär benötigten Chirurgen auszubilden. 1768 richtet er auch eine Real Escuela de Cirugía in MexikoStadt ein, die in Kompetenz und Ausstattung jedoch hinter Cádiz und Barcelona zurückblieb. Die Chirurgenschulen wurden zum Instrument der Reform für die Ausbildung der Mediziner im spanischen Imperium, denn die Universitäten hatten die Initiative des Königs zurückgewiesen, der klinischen Arbeit mit Patienten und der chirurgischen Praxis mehr Raum im Studium zu geben. Stattdessen blieb an den spanischen Universitäten das theoretische Studium von Hippokrates, Galen oder Avicenna zentral, während an den Chirurgenschulen eine praxisnahe Ausbildung im Vordergrund stand.2 Die Gründung der Real Escuela de Cirugía in Mexiko-Stadt war zwar ganz im Sinne der Bevölkerung, die gute medizinische Versorgung wünschte, führte aber zu Jurisdiktions- und Nationalitätenkonflikten mit dem Protomedikat von MexikoStadt, der für Neuspanien zuständigen Ärztekammer. Diese vertrat die Interessen der Ärzteschaft, die aufgrund der Konkurrenz der Chirurgen um Privilegien und Status fürchtete.3 Die Konkurrenz zwischen Ärzten und Chirurgen wurde dadurch 1 Dieser Aufsatz ist im Rahmen eines von der Gerda Henkel Stiftung und der Alexander von HumboldtStiftung finanzierten Forschungsprojekts entstanden. 2 Francisco A. Flores: Historia de la medicina en México. Desde la época de los indios hasta la presente. Bd. 2. Mexiko-Stadt 1886, S. 143–165; Luz María Hernández Sáenz: Learning to Heal. The Medical Profession in Colonial Mexico 1767–1831. New York 1997, S. 75–81; Verónica Ramírez Ortega: El Real Colegio de Cirugía de Nueva España, 1768–1833. La profesionalización e institucionalización de la enseñanza de la cirugía. Mexiko-Stadt 2010, S. 21–66; Alba Dolores Morales Cosme u. a.: Los cirujanos-médicos en México, 1802–1838. In: Llull 29 (2006), S. 95–120, hier S. 96–99; John T. Lanning: The Royal Protomedicato. The Regulation of the Medical Professions in the Spanish Empire. Durham 1985, S. 270–273; Michael E. Burke: The Royal College of San Carlos. Surgery and Spanish Medical Reform in the Late 18th Century. Durham 1977, S. 20–48. 3 In Europa bestand bereits im Spätmittelalter ein Konkurrenzverhältnis zwischen Wundärzten (chirurgi) und Ärzten (medici). Wundärzte nahmen chirurgische Eingriffe vor und wurden den Handwerkern

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verkompliziert, dass sich in ihr der Konflikt zwischen europäischen Immigranten und den in Amerika geborenen Spaniern, den sogenannten Kreolen, manifestierte, der in Neuspanien besonders virulent war. Im Dienste des spanischen Heeres und der Marine kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viele in Europa ausgebildete Chirurgen ins Vizekönigreich Neuspanien.4 Darunter befanden sich nicht nur Spanier, sondern auch extranjeros (Ausländer),5 vor allem Franzosen und vereinzelt Italiener, seltener auch Angehörige anderer Nationen.6 Die europäischen Chirurgen konnten oft Zeugnisse prestigeträchtiger Schulen vorweisen, weshalb sie den Anspruch der mexikanischen Ärzteschaft auf Vorrang infrage stellten, der sich auf einem Universitätsstudium und ethnischer Herkunft gründete. Um in Neuspanien als Arzt zugelassen zu werden, musste ein universitärer Abschluss nachgewiesen werden sowie die limpieza de sangre (Reinheit des Blutes), das heißt, der Kandidat durfte nicht von Indigenen oder Afrikanern abstammen. Wer an der Universität von Mexiko-Stadt zum Arzt ausgebildet worden war, entstammte folglich fast zwangsläufig der kreolischen Elite des Landes.7 Das gesellschaftliche Prestige und die fachliche Anerkennung der in Mexiko ausgebildeten Chirurgen lag weit unter denen der Ärzte, denn sie übten einen nichtakademischen Beruf aus, der sozial und ethnisch breiteren Schichten offenstand.8 Dagegen betrachteten sich die europäischen Chirurgen gegenüber den mexikanischen Ärzten als nicht nur gleichwertig, sondern aufgrund eines Studiums, das Theorie und Praxis verband, für überlegen. Den Absolventen der Schulen von Cádiz und Barcelona wurde wie den universitären Ärzten die Anrede Don gestattet, sie durften Uniform tragen und

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zugerechnet. Als solche genossen sie weniger Ansehen als die akademisch ausgebildeten Ärzte, denen die Behandlung innerer Krankheiten vorbehalten war. Mit dem Interesse an der Anatomie änderte sich seit dem 16. Jahrhundert der Status der Chirurgen, die ihren Berufsstand nun von den Barbieren abgrenzten und professionalisierten. Das Vizekönigreich Neuspanien mit der Hauptstadt Mexiko-Stadt umfasste neben dem heutigen Mexiko auch den Süden der USA und reichte bis nach Mittelamerika. Ausländer (extranjeros) waren im juristischen Sinne alle Personen, die nicht in den spanischen Königreichen Kastilien (zu dem formal auch Spanisch-Amerika gehörte), Aragón oder Navarra geboren wurden. Spanier, die aus Europa stammten, galten in Mexiko folglich de jure nicht als extranjeros. María Luisa Rodríguez-Sala: Los cirujanos del mar en la Nueva España, siglos XVI–XVIII ¿estamento o comunidad? In: Cirujía y Cirujanos 70 (2002), S. 468–474; Hernández Sáenz, Learning to Heal, S. 104 f. Kreolen (criollos) waren die in Amerika geborenen Spanier, wohingegen die in Europa geborenen Spanier als peinsulares oder europeos bezeichnet wurden. Ethnisch grenzten sich die Spanier (españoles) europäischer und amerikanischer Herkunft von den Indigenen (indios) und der aus Afrika stammenden Bevölkerung (negros) ab. Luz María Hernández Sáenz: Medicos Criollos y Cirujanos Peninsulares. Criollo Nationalism and the Medical Profession in Colonial Mexico. In: Canadian Journal of Latin American and Caribbean Studies 25 (2000), S. 33–51, hier S. 35–44.

Reform durch Konkurrenz

bezeichneten sich als cirujanos latinistas, um ihre wissenschaftliche Ausbildung zu unterstreichen.9 In diesem Beitrag wird die durch die Immigration europäischer Chirurgen hervorgerufene Konkurrenzsituation unter dem Blickwinkel der kolonialen Herrschaft betrachtet. Wie gelang es der spanischen Regierung in Madrid und Mexiko-Stadt, die medizinische Versorgung in Neuspanien durch die Immigration gut ausgebildeter Mediziner zu verbessern, ohne die Herrschaft zu destabilisieren, weil die Anwesenheit der Europäer zu Konflikten mit der einflussreichen Ärzteschaft von Mexiko-Stadt führte?

Konkurrenz und Konflikt Das Protomedikat von Mexiko-Stadt übte die Kontrolle über das Medizinwesen in Neuspanien aus. Es hatte das Privileg, Ärzte, Chirurgen und Apotheker zu prüfen und zuzulassen, ihre Berufsausübung zu überwachen und bei Streitfällen Recht zu sprechen. Anders als in Madrid, wo das Protomedikat 1780 von Karl III. dreigeteilt wurde und je eine eigene Audiencia (Gerichtshof) für Ärzte, Chirurgen und Apotheker geschaffen worden war, unterblieb eine entsprechende Reform in Amerika bis zum Ende der Kolonialzeit, die Chirurgen und Apothekern mehr Autonomie gegenüber den Ärzten gegeben hätte.10 Da sich das Protomedikat von MexikoStadt aus der Ärzteschaft der dortigen Universität rekrutierte, fungierte es als deren Interessenvertretung. Als solche wachte es darüber, dass der Anspruch der Ärzte auf Vorrang gewahrt und die Abgrenzung zu den Chirurgen aufrechterhalten blieb. Jede Form der Behandlung innerer Krankheiten sollte den universitär ausgebildeten Ärzten, den sogenannten médicos latinistas, vorbehalten bleiben, was das Protomedikat damit begründete, dass für die korrekte Anwendung von Medikamenten theoretisches Wissen und Lateinkenntnisse nötig seien. So wurde beispielsweise der Chirurg Leandro Sánchez Serrano 1753 inhaftiert, weil er einer Frau, die an einem Geschwür erkrankt war, ein starkes Abführmittel verschrieben und ihr dadurch große Schmerzen zugefügt hatte. Solch eine Behandlung gehörte nach Ansicht des Protomedikats in den Bereich der „Wissenschaft der Medizin“ („la ciencia de la medicina“) und stand damit einem Chirurgen ohne Lateinkenntnisse, einem cirujano romancista, nicht zu. Gerügt wurde zudem der Apotheker, welcher der

9 Ramírez Ortega, El Real Colegio de Cirugía de Nueva España, S. 63–69. 10 Lanning, The Royal Protomedicato, S. 116; Abraham Zavala Batlle: El protomedicato en el Perú. Del curanderismo empírico a la profesión médica. Lima 2008, S. 47–50.

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Patientin das Abführmittel verkauft hatte, obwohl das Rezept von einem Chirurgen und nicht von einem Arzt ausgestellt worden war.11 Die Königliche Schule für Chirurgie in Mexiko-Stadt versuchte sich seit ihrer Gründung aus der Unterordnung unter das Protomedikat zu lösen. An ihrer Spitze standen zwei Spanier aus dem Mutterland, Andrés Montaner y Virgili als Direktor und Manuel Antonio Moreno, der das Amt eines Prosektors ausübte. Beide wollten nicht nur die Ausbildung der Chirurgen, sondern auch deren Prüfung und Approbation eigenständig handhaben, weshalb Montaner 1772 Vizekönig Antonio María de Bucareli darum bat, die Real Escuela unabhängig vom Protomedikat zu machen. Dessen Vertreter intervenierte aber erfolgreich in Madrid gegen diese Initiative, so dass sie schließlich zurückgewiesen wurde und die Real Escuela unter der Jurisdiktion des Protomedikats blieb.12 Das Protomedikat demonstrierte in der Folgezeit seinen Vorrang, indem es die Prüfung und Approbation von Chirurgen unabhängig von der Real Escuela durchführte. So wurde 1782 José Mariano de Vera in Chirurgie examiniert, obwohl er weder einen Nachweis für die obligatorische vierjährige Ausbildungszeit noch Zeugnisse bzw. eine Stellungnahme zu seiner Eignung von der Real Escuela vorgelegt hatte. Die Approbation von Vera war ein besonderer Affront, weil er zuvor aufgrund mangelnder Eignung von der Real Escuela verwiesen worden war13 Der Konflikt zwischen Protomedikat und Real Escuela bzw. zwischen kreolischen Ärzten und europäischen Chirurgen entzündete sich erneut, als zu Beginn des Jahres 1783 Juan Morin, ein Chirurg französischer Herkunft, einen Antrag beim Protomedikat in Mexiko-Stadt stellte, geprüft und zugelassen zu werden. Morin war kurz zuvor aus Louisiana eingereist, wo er als Militärchirurg in den Diensten des spanischen Königs gestanden hatte. Louisiana war am Ende des Siebenjährigen Krieges von Frankreich an Spanien gefallen und seine französischen Einwohner, sofern sie es wünschten, Untertanen Karls III. geworden. Formal blieben sie in der spanischen Monarchie aber Ausländer (extranjeros). Der Promotor fiscal („Anwalt“) des Protomedikats, Miguel Fernández de Sierra, nutzte diesen Umstand, um Morin Prüfung und Approbation zu verwehren, denn als Ausländer bedürfe er hierfür der Naturalisierung durch den König. Der Rechtsassessor des Protomedikats verwies

11 Martha Eugenia Rodríguez: Legislación sanitaria y boticas novohispanas. In: Estudios de historia novohispana 17 (1997), S. 151–169, hier S. 163 f. 12 Ramírez Ortega, El Real Colegio de Cirugía de Nueva España, S. 167 f. 13 Lanning, The Royal Protomedicato, S. 117. Zur Prüfung der Chirurgen durch den Protomedikat siehe: Alicia Hernández Torres: Los exámenes de los cirujanos ante el protomedicato en México. In: Revista de la Facultad de Medicina 8 (1966), S. 61–71 und Flores, Historia de la medicina en México, S. 177–184.

Reform durch Konkurrenz

Morin allerdings an den Vizekönig, weil jener ihm einen Dispens ausstellen könne, um trotz fehlender Naturalisierung zum Examen zugelassen zu werden.14 Morin beantragte daraufhin den entsprechenden Dispens, über dessen Erteilung die Audiencia von Mexiko zu befinden hatte. Jene wusste in dieser Situation nicht, wie sie verfahren sollte, denn anders als bei früheren Fällen, in denen ausländische Ärzte oder Chirurgen einen Dispens beantragt hatten, war Morin in dem Moment, in dem er sein Gesuch einreichte, noch nicht vom Protomedikat geprüft worden. Somit hatten die Juristen der Audiencia keinen Anhaltspunkt, um zu entscheiden, ob Morin als Chirurg fähig war und seine Anwesenheit in Mexiko aus diesem Grund gewährt werden könne. Sie forderten ihn deshalb auf, seine Zeugnisse bei Manuel Antonio Moreno vorzulegen, der dazu Stellung nehmen sollte. Einen Professor, der die Ausbildung der Militärchirurgen vor Ort leitete, über die Kompetenz eines ausländischen Militärchirurgen zu befragen, schien zwar naheliegend, traf in dieser Situation aber einen wunden Punkt, weil Moreno sein Gutachten nutzte, um die Kompetenz des Protomedikats über die Zulassung der Militärchirurgen infrage zu stellen. Er hielt es nicht für notwendig, dass jemand, der wie Morin seine Fähigkeiten beim Eintritt in den königlichen Dienst bereits bewiesen habe, nochmals geprüft werde. Morin musste sich nach Meinung Morenos auch nicht naturalisieren lassen, denn jener „habe als Spanier zu gelten, solange er in königlichem Dienst stehe“.15 Das Protomedikat protestierte umgehend bei Vizekönig Matías de Gálvez, dass Morenos Gutachten seine Jurisdiktion beschneide, denn weder hätten die Examen Morins aus Frankreich Gültigkeit im spanischen Herrschaftsbereich, noch befähige der Militärdienst zur Ausübung der Chirurgie im zivilen Rechtsbereich. Das Protomedikat schlussfolgerte deshalb für den Vizekönig: Jeder Ausländer ist geprüft worden, und derjenige, der keine Naturalisierungsurkunde vorlegen konnte, wurde nicht approbiert, bis er einen Dispens vorzeigen konnte, der ihm von den Herren Vizekönigen, Ihren Vorgängern, provisorisch gegeben wurde.16

Der Streit um die Zulassung Morins landete nun auf dem Schreibtisch des Kronanwalts (Fiscal) Ramón de Posada y Soto. Dieser stellte die bisherige Praxis infrage, denn den Gesetzen nach könne nur „nützlichen mechanischen Handwerkern“ („oficiales mecánicos útiles“) der Aufenthalt in den Indias gewährt werden. Die

14 Instancia de Juan Morin para que se le dispense de extranjero a fin de incorporarse en el Real Protomedicato. Archivo Histórico Nacional, Madrid (AHN): Estado, 4190, fols. 7–24. 15 „Debiendo ser reputado por español mientras que continue en el Real servicio“. Stellungnahme von Manuel Antonio Moreno, 24.4.1783, AHN: Estado, 4190, fol. 14. 16 „Todo extranjero se ha examinado, y el que no ha presentado Carta de naturaleza no se ha recibido hasta ver la dispensa que provisionalmente se les ha dado por los señores virreyes antecesores“. Protomedikat an den Vizekönig, 24.5.1783. Ebd., fols. 15–17.

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Chirurgie sei aber kein Handwerk, sondern gehöre zu den artes liberales. Die Kompetenz, hier einen Dispens zu gewähren, liege deshalb nicht beim Vizekönig, sondern allein beim König. Unabhängig davon, was bisher praktiziert worden sei, könne Morin folglich nicht vom Protomedikat zur Prüfung zugelassen werden.17 Fiscal Posada begründete die Zurückweisung Morins und die Kritik an der in Neuspanien üblichen Praxis, ausländische Ärzte und Chirurgen ohne königliche Zustimmung zu dulden, mit den Befindlichkeiten der patricios [der kreolischen Oberschicht Neuspaniens]. Diese reagierten angeblich sehr sensibel darauf, dass sich Ausländer, die bei den einfachen Leuten hoch angesehen seien, in Neuspanien niederlassen und dann wohlhabend in ihre Heimat zurückkehren würden. Posada forderte deshalb nicht nur, dass Morin zurück zu seinem Regiment nach Louisiana solle, um dort Dienst zu tun. Er wollte auch alle anderen ausländischen Ärzten und Chirurgen ausweisen lassen, die ohne explizite königliche Lizenz in Neuspanien praktizierten.18 Der kreolischen Ärzteschaft stellte sich das Problem, dass die Bevölkerung das Universitätsstudium und die Prüfung und Approbation durch das Protomedikat von Mexiko-Stadt als bürokratische Voraussetzung zur Ausübung der Medizin ansah, nicht aber als Qualitätsmerkmal für einen guten Arzt. Die Zulassung war nicht mit der Aussicht auf bessere Heilung gekoppelt, weshalb der gute Ruf eines Arztes wichtiger war als seine Zeugnisse und Lizenzen.19 Diesen guten Ruf genossen vor allem die europäischen Ärzte und Chirurgen. Deren fachliche Fähigkeiten waren in Neuspanien hoch angesehen, weshalb sie häufig den kreolischen Ärzten vorgezogen wurden. Besonders französische Ärzte waren gefragt und konnten auch mehr Geld für eine Behandlung verlangen.20 Gegen die Konkurrenten aus Europa machte sich das Protomedikat den kreolischen Diskurs zu eigen. So hatte es die Einrichtung der Real Escuela de Cirugía zu verhindern versucht, indem es davor warnte, dass sie ausschließlich mit peninsulares, also Spaniern aus Europa, besetzt würde. Die von der Real Escuela ausgehenden Reformbestrebungen wies das Protomedikat als modas extranjerizantes (ausländische Moden) zurück.21 Diese Ressentiments gegen extranjeros und peninsulares

17 Posada bezog sich auf ein Edikt Philipps IV. aus dem Jahr 1621. Recopilación de leyes de los reynos de las Indias, Libro 9, Título 27, Ley 10. Nach dem Diccionario castellano con las voces de ciencias y artes, Bd. 1, Madrid 1786, waren die „artes mecánicas“ definiert als „aquellas en que trabaja más el cuerpo que el alma, o las manos que la razón.“ Gutachten des Fiscal Ramón de Posada, 6. 10. 1783. Ebd., fols. 19–21. Der seit dem Spätmittelalter bestehenden Tradition, die Chirurgie den artes mechanicae zuzuordnen, widersprach Posada in dem Gutachten. 18 Ebd. 19 Hernández Sáenz, Learning to Heal, S. 248 und 255. 20 Ebd., S. 56–61 und S. 109 f. 21 Morales Cosme u. a., Los cirujanos-médicos en México, S. 100.

Reform durch Konkurrenz

waren eine diskursive Waffe, um den aus Europa stammenden Konkurrenten der einheimischen Ärzte und Chirurgen den Zugang zur medizinischen Praxis zu erschweren. Posadas Gutachten zielte darauf, den kreolischen Diskurs, der sich gegen die Konkurrenz aus Europa richtete, auf die Anwesenheit ausländischer Mediziner zu lenken. Dagegen ließ er die Spanier aus dem Mutterland, die ja ebenfalls Gegenstand kreolischer Kritik waren, unerwähnt. Der Vizekönig ordnete daraufhin an, bis zu einer endgültigen Entscheidung des Königs allen ausländischen Ärzten und Chirurgen das Praktizieren zu verbieten. Spanier aus Europa waren von dieser Maßnahme nicht betroffen, denn diese galten dem kreolischen Diskurs zum Trotz in Neuspanien de jure nicht als Ausländer. Der König antwortete schließlich am 18. Mai 1784 mit einem Dekret, in dem er lediglich wiederholte, was Posada gefordert hatte: Der Vizekönig sollte nicht nur Juan Morin ausweisen, falls er sich noch in Mexiko befände, sondern so auch „mit jedem anderen Ausländer verfahren, der dort ohne ausdrückliche königliche Lizenz einreist oder sich aufhält“. Zusätzlich befahl der König, Manuel Antonio Moreno scharf zu rügen für sein den Regeln widersprechendes Gutachten.22 Jener hatte es für unnötig gehalten, einen Chirurgen mit guten Zeugnissen und jahrelanger praktischer Erfahrung erneut prüfen zu lassen, obwohl dies ein Privileg des Protomedikats war. Dem spanischen König als oberstem Rechtsherrn oblag es, die Rechte seiner Untertanen zu schützen, wenn diese missachtet wurden.23 Dies tat der König, indem er Moreno zurechtwies.

Konfliktregulierung und Nebenwirkungen Die Bestätigung der Privilegien des Protomedikats und die Rüge für Moreno waren kontraproduktiv in Hinblick auf die Reform des Gesundheitswesens, die Madrid mit der Gründung der Chirurgenschulen vorantreiben wollte, denn sie stärkten genau diejenigen Kräfte, die in Opposition zur Real Escuela de Cirugía standen. Die Stabilität des Imperiums wog aber schwerer als konkrete Reformvorhaben, weshalb der König die Privilegien der kolonialen Eliten in Mexiko-Stadt gegen ihre Infragestellung durch einen seiner europäischen Amtsträger verteidigte, anstatt Reformen durchzusetzen und die in medizinischer Hinsicht sinnvolle Öffnung

22 „Y lo mismo debe practicar V.E. con cualquier otro extranjero que vaya o este en el sin expresa Real licencia“. Real orden vom 18.5.1784. AHN: Estado, 4190, fol. 20. Siehe allgemein zum Einfluss der Petitionen, die aus Amerika an den Indienrat gesendet wurden, auf die konkrete Ausformulierung von Gesetzen: Adrian Masters: A Thousand Invisible Architects. Vassals, the Petition and Response System, and the Creation of Spanish Imperial Caste Legislation. In: Hispanic American Historical Review 98 (2018), S. 377–406, hier S. 382 f. 23 Ricardo Zorraquín Becú: La función de justicia en el derecho indiano. Buenos Aires 1948, S. 17 f.

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Neuspaniens für erfahrene ausländische Ärzte und Chirurgen anzuordnen. In Madrid fürchtete man spätestens seit der Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien von Großbritannien, die amerikanischen Untertanen des spanischen Königs könnten dem Beispiel der Angloamerikaner folgen, weshalb Reformen nun nicht mehr gegen, sondern mit den lokalen Eliten durchgeführt werden sollten.24 Das königliche Dekret erreichte noch im August 1784 Mexiko-Stadt. Seine Umsetzung gab den lokalen Behörden viel Spielraum, um die Schärfe der Anordnung an die lokalen Umstände anzupassen.25 Diese Aufgabe bürdete der Vizekönig demjenigen auf, der sie initiiert hatte: Fiscal Posada. Allerdings wurde die Ausweisung nie vollzogen, obwohl Indienminister José de Gálvez den Vizekönig und den Fiscal 1785 nochmals ermahnte, den Ausweisungsbeschluss umzusetzen. Acht Jahre später hatte Posada keine Erinnerung mehr daran, dass ihm die Anordnung der Ausweisung je vorgelegen hätte.26 Die Kolonialregierung in Mexiko-Stadt beabsichtigte keineswegs, ausländische Ärzte oder Chirurgen, die ohne königliche Lizenz in Neuspanien lebten, grundsätzlich auszuweisen. Genauso wie anderswo in Amerika fehlten auch im Vizekönigreich Mediziner. Zwar gab es in großen Städten einen gewissen Konkurrenzdruck in Hinblick auf die Behandlung zahlungskräftiger Patienten. Außerhalb der großen Städte herrschte aber oft großer Mangel an Ärzten, Chirurgen und Apothekern.27 Das Dekret des Jahres 1784 war jedoch nur ein scheinbarer Erfolg für das Protomedikat. Da es sich unter Berufung auf das königliche Dekret weigerte, ausländische Mediziner, die nicht naturalisiert waren, zur Prüfung zuzulassen, die Vizekönige aber weiterhin Dispense gaben, wurde der Einfluss des Protomedikats letztlich geschwächt. Während es bis dato die Inkorporation der Ausländer über die Prüfung weitgehend gesteuert hatte, da der vizekönigliche Dispens – nach Meinung des Protomedikats – immer gegeben und somit Formsache gewesen war, lag nach 1784 die eigentliche Entscheidung bei den Vizekönigen. Jene mussten sich nun unabhängig vom Protomedikat von den Fähigkeiten eines Mediziners überzeugen, den sie dispensieren wollten, um ihn dann gegebenenfalls zur Prüfung durch das

24 Gabriel Paquette: Enlightenment, Governance, and Reform in Spain and its Empire 1759–1808. London 2008, S. 128; Horst Pietschmann: Consciencia de identidad, legislación y derecho. Algunas notas en torno al surgimiento del ‘individuo’ y de la ‘nación’ en el discurso político de la monarquía española durante el siglo XVIII. In: Revista de estudios histórico-jurídicos 26 (2004), S. 1341–1362, hier S. 1345 f. 25 Siehe zur Praxis des derecho indiano, die Norm an die Umstände anzupassen: Víctor Tau Anzoátegui: Casuismo y sistema. Indagación histórica sobre el espíritu del derecho indiano. Buenos Aires 1992, S. 512–529. 26 Fiscal Posada, 28.8.1784. AHN: Estado, 4190, fol. 23. Königliches Dekret an den Vizekönig Neuspaniens, 16.6.1785 und Befragung von Fiscal Posada am 7.6.1793. Ebd., fols. 6v–8r. 27 José Ortiz Monasterio: Agonía y muerte del Protomedicato de la Nueva España, 1831. La categoría socioprofesional de los medicos. In: Historias 57 (2004), S. 35–50, hier S. 41.

Reform durch Konkurrenz

Protomedikat zuzulassen. Dies schränkte den Spielraum des Protomedikats ein, denn einen vom Vizekönig empfohlenen Mediziner durch die Prüfung fallen zu lassen, bedurfte einer besonderen Rechtfertigung. Beispielhaft für das veränderte Prozedere ist der Dispens, den Vizekönig Marqués de Branciforte 1796 dem ohne Lizenz eingereisten italienischen Zahnarzt Juan Gaeta gab. Branciforte informierte sich auf informellem Weg über die Fähigkeiten von Gaeta und ließ ihn dann von Veracruz nach Mexiko-Stadt kommen. Dort wurde er nun offiziell vom Protomedikat geprüft, woraufhin ihm Branciforte schließlich die Erlaubnis erteilte, in Mexiko-Stadt zu praktizieren.28 Ein vom Vizekönig gegebener Dispens für einen Mediziner war seit 1784 nur noch provisorisch und nun an die Zustimmung des Königs gebunden, die Branciforte dem Ersten Staatsminister, seinem Schwager Manuel Godoy, nahelegte. Ihm teilte er mit, der Beruf des Zahnarztes sei „bislang in diesen Ländern unbekannt und sehr notwendig“, und zudem könne Gaeta zum Wohle der Bevölkerung weitere Zahnärzte ausbilden.29 Madrid gewährte ausländischen Ärzten und Chirurgen, deren Fähigkeiten nachgewiesen wurden, normalerweise den Aufenthalt in den Indias, weil ihre Anwesenheit als nützlich angesehen wurde. So riet der fiscal des Indienrates 1774 in einem Gutachten, den portugiesischen Franziskaner und Arzt Daniel Botello in Chile zu dulden, denn „in Hinblick auf die Motive und Zielsetzung des Gesetzes kann die Ausnahme [vom Verbot, in den Indias zu leben,] auf nichtmechanische [Berufe] ausgeweitet werden“.30 Für die in Neuspanien praktizierenden Ausländer bedeutete das Dekret von 1784 eine Verschlechterung ihrer Situation. Bislang war die Prüfung und Approbation durch den Protomedikat ein Weg gewesen, ihre Tätigkeit und ihren Aufenthalt zu legalisieren. Dieser Weg war ihnen nach 1784 versperrt. Nun gab nur noch eine vom König gewährte Naturalisierung bzw. Lizenz diese Sicherheit, deren Erhalt ein langwieriges und kostspieliges Verfahren vorausging, dem sich die meisten ausländischen Mediziner nicht unterzogen. Wer von ihnen nicht durch eine königliche Urkunde geschützt war, musste damit rechnen, in einer Konkurrenzsituation angezeigt zu werden und sich dann gegen eine drohende Ausweisung zur Wehr setzen zu müssen. Zum Vollzug einer Ausweisung kam es allerdings nur selten, denn selbst dort, wo es Konkurrenz um die Behandlung angesehener und zahlungskräftiger Patienten gab, wurden ausländische Mediziner häufig von hohen

28 Branciforte an Godoy, 27.12.1796. Archivo General de Indias, Sevilla (=AGI): Estado, 25, n. 83. 29 Ebd. 30 „Aunque por otra parte, y en atención a los motivos, y fines de la ley, se puede extender la exepción a los no mecánicos“. Der fiscal des Indienrates, 10.2.1774. AGI: Chile, 253, exp. 9, fols. 647 f. und 663–668.

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Regierungsbeamten und den Mitgliedern der lokalen Eliten protegiert, die sich und ihre Familien bevorzugt von ihnen behandeln ließen.31 Der französische Botaniker Juan Bautista Dionisio Boinest beispielsweise, der ohne königliche Lizenz eine Apotheke in Mexiko-Stadt betrieb, beantragte 1808 beim Protomedikat, ein von ihm hergestelltes Beruhigungsmittel verkaufen zu dürfen. Dies wurde mit dem Hinweis abgelehnt, es sei verboten, dass sich Ausländer ohne königliche Erlaubnis in der Medizin oder einem ihrer Zweige betätigen würden. Zudem hatte das Protomedikat Zweifel an der Wirksamkeit des Heilmittels, das nicht die von Boinest behauptete Wirkung haben könne, denn die Anwendung bedürfe des Urteilsvermögens eines Apothekers oder Arztes. Als Boinest dennoch auf der Lizenz insistierte, wurde ihm diese nicht nur verweigert, sondern ihm als Ausländer das Betreiben einer Apotheke verboten und er selbst ausgewiesen.32 Anders als die Situation der ausländischen Mediziner verbesserte sich nach 1784 die Situation der aus Spanien stammenden Chirurgen. Das Protomedikat versuchte zwar, ihr Tätigkeitsfeld einzuschränken. Allerdings gelang ihm dies nur bedingt, denn der König erweiterte die Kompetenzen der Chirurgen kontinuierlich. So gestattete er 1795 den Absolventen der königlichen Chirurgenschulen, Angehörige des Militärs auch bei „inneren Krankheiten“ zu behandeln. 1799 wurde diese Erlaubnis auf die zivile Bevölkerung ausgeweitet bei Fällen, in denen kein Arzt zur Verfügung stand. Als 1809 die Chirurgen Florencio Pérez Camoto und Joaquín Ablanedo angezeigt wurden, weil sie als Ärzte praktizierten, obwohl sie nur Chirurgen waren, nahm Madrid keine Grenzziehung zwischen dem Aufgabenbereich der Ärzte und Chirurgen vor, sondern stellte lediglich fest, die beiden dürften medizinische Chirurgie praktizieren.33

Fazit Der Kolonialregierung gelang es, die medizinische Versorgung Neuspaniens zu verbessern, indem sie die Immigration europäischer Mediziner förderte und das Tätigkeitsfeld der an den neuen Kollegien ausgebildeten Chirurgen erweiterte. Die daraus resultierende Konkurrenz zwischen kreolischen Ärzten und europäischen Chirurgen war für die imperiale Herrschaft Spaniens widersprüchlich zu bewerten. Zum einen ermöglichten sie es dem König, steuernd in die koloniale Ordnung einzugreifen. Unklare Kompetenzen und daraus resultierende Konflikte führten dazu, dass sich die betroffenen Akteure an den König wandten, indem sie sich 31 Hernández Sáenz, Learning to Heal, S. 56–61. 32 AGN: Indiferente Virreinal, Caja 455, exp. 19, fols. 1 f. 33 Luz María Hernández Sáenz: Carving a Niche. The Medical Profession in Mexico, 1800–1870. London 2018, S. 100 f.

Reform durch Konkurrenz

über konkurrierende Amtsträger beschwerten oder eine Entscheidung anmahnten. So kam die Metropole in die privilegierte Position, informiert zu werden und entscheiden zu können.34 Die Konkurrenzsituation hatte aber auch das Potential, die Herrschaft des Königs zu destabilisieren, denn die Unzufriedenheit der Kreolen aufgrund der Konkurrenz durch Spanier aus dem Mutterland und andere Europäer gefährdeten die Akzeptanz der kolonialen Ordnung. Um den Interessen der kreolischen Ärzteschaft entgegenzukommen, erschwerte die Regierung in Madrid ausländischen Medizinern de jure den Zugang zum Praktizieren in Neuspanien. Da ihre Zulassung nun aber de facto von den Vizekönigen ausgeübt wurde, die sie meist im Sinne der ausländischen Mediziner bzw. zum Wohle der an ihrer Anwesenheit interessierten Bevölkerung handhabten, konnten ausländische Mediziner weiterhin – wenn auch unter prekären Bedingungen – praktizieren. Gleichzeitig forcierte Madrid die Konkurrenzsituation zwischen Ärzten und Chirurgen durch Anordnungen, die bewusst uneindeutig waren und viel Raum zur Auslegung ließen. Reform war in den Worten Wolfgang Reinhards Revolution, weshalb es die Regierung in Madrid vorzog, die Jurisdiktion des Protomedikats und die Privilegien der kreolischen Ärzte unangetastet zu lassen und eine neue Institution wie die Real Escuela de Cirugia zu schaffen in der Hoffnung, dass sich Letztere in den zu erwartenden Kompetenzkonflikten mit Hilfe der Zentralregierung durchsetzen würde.35 Formal blieb die Kompetenz des Protomedikats, alle Praktizierenden der Heilberufe zu prüfen, zu approbieren und in der Ausübung ihres Berufes zu überwachen, bis zum Ende der Kolonialzeit bestehen. Das Protomedikat war sich sehr wohl bewusst, wem es seine Position verdankte und an wen sie gebunden war. Obwohl es kreolisch dominiert war, hielt es im Unabhängigkeitskrieg treu zum spanischen König.36 Jener war der Garant seiner Privilegien. Folgerichtig wurde das Protomedikat kurz nach der Unabhängigkeit Mexikos im Jahr 1831 abgeschafft.

34 José de la Puente Brunke: La Real Audiencia de Lima, el virrey y la resolución de apelaciones contra actos de gobierno. In: Revista Chilena de Historia del Derecho 22 (2010), S. 593–602, hier: S. 597 f.; Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln 2009, S. 177–187; Horst Pietschmann: El Estado y su evolución al principio de la colonización española de América. Mexiko-Stadt 1989, S. 135 f. 35 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 140. 36 Hernández Sáenz, Learning to Heal, S. 48.

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Konstruktive Konkurrenz Wasserbauexperten im kolonialen Rio de Janeiro Konkurrenz wird häufig als Wettbewerb nach festen Regeln, mit gleichen Ausgangsbedingungen und einem eindeutig bestimmten Ziel definiert; als Schiedsrichter fungiert ein umworbener Dritter, der die Leistungen der Konkurrenten vergleicht und über den Sieger entscheidet.1 Bei dieser Definition handelt es sich um eine Idealvorstellung, die Gerechtigkeit postuliert und die Unterlegenen für ihr Scheitern selbst verantwortlich macht. Der Glaube an diese Idealvorstellung hegt soziale Konflikte ein und wirkt damit vergesellschaftend. Doch in der sozialen Praxis existiert diese „faire“ Form der Konkurrenz nicht. So sind weder gleiche Ausgangsbedingungen möglich, noch sind die Regeln, nach denen Wettbewerb im sozialen Kontext stattfindet, jemals vollständig bekannt oder überhaupt a priori festgelegt; der Schiedsrichter kann schon aus diesem Grund nicht „objektiv“ entscheiden und in vielen Fällen stellt er auch gar keinen eindeutigen Sieger fest. Den meisten Menschen dürfte dies auch bewusst sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass Konkurrenz nicht trotzdem herrschafts- und gesellschaftsstabilisierend wirken und entsprechend eingesetzt werden kann. Dann nämlich, wenn es einer Person (oder Institution) gelingt, eine Situation herzustellen, in der mehrere Konkurrenten eine realistische Chance sehen, sich im Erreichen eines Ziels zu bewähren, und in der ihnen zudem die mit dem Erreichen des Ziels verbundene Belohnung begehrenswert erscheint. Dies motiviert sie, ihr Können unter Beweis und gegebenenfalls auch dauerhaft zur Verfügung zu stellen, selbst wenn sie wissen, dass die Situation nicht „fair“ ist. Durch die geschickte Festlegung der Regeln (gegebenenfalls auch deren nachträgliche Ergänzung oder Änderung) kann es dieser Person gelingen, die Konkurrenten auch zum Erreichen von Zielen einzusetzen, die nicht mit dem Ziel des Wettbewerbs beziehungsweise der Wettbewerber übereinstimmen müssen, sondern sich gewissermaßen als Nebenfolgen aus der Konkurrenzsituation ergeben. Die Person erzeugt dann eine Situation des divide et impera, in der sie selbst die Rolle des Dritten beziehungsweise Herrschers übernimmt und die Konkurrenten 1 Diese Überlegungen beruhen auf der Definition der Konkurrenz und der Figur des Dritten von Georg Simmel; vgl. dazu auch Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 33–57. In Bezug auf den gesamten Beitrag danke ich den Sektionsteilnehmenden und Kilian Harrer für ihre konstruktive Kritik.

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sich als Beherrschte aus Eigeninteresse an der Durchsetzung des Herrscherwillens beteiligen. Ist die Person an einer dauerhaften Herrschaft interessiert, versucht sie, die Konkurrenzsituation nicht endgültig abzuschließen. So kann sie etwa mehrere (Teil-)Sieger bestimmen und/oder neue Ziele ausrufen. Auf diesen Überlegungen aufbauend möchte ich erläutern, wie die koloniale Herrschaft in Brasilien im 18. Jahrhundert über die Auswahl von Experten gesichert wurde. Die Experten wurden von der Krone beziehungsweise deren lokal agierenden Vertretern ausgewählt, um bestimmte Infrastrukturprojekte umzusetzen – in diesem Fall zwei Brunnen in Rio de Janeiro. Wenig überraschend war die fachliche Qualifikation (beziehungsweise das Bild, das die Experten von ihrer Qualifikation vermittelten) ein zentrales Kriterium für ihre Auswahl. Ich stelle hier jedoch die These auf, dass eine beispielsweise durch ausländische Herkunft oder nichtweiße Hautfarbe bedingte marginale gesellschaftliche Stellung ein weiteres entscheidendes Kriterium für die Auswahl von Experten in kolonialen Zusammenhängen (oder allgemeiner: in Zusammenhängen fragiler Staatlichkeit) war. Hierbei handelte es sich allerdings um eine unausgesprochene und damit schwer zu antizipierende Regel des Wettbewerbs. Die Experten, die um die Durchführung der Arbeiten konkurrierten, traten nicht unter gleichen Ausgangsbedingungen an; vielmehr nahmen sie unterschiedliche Positionen innerhalb der hierarchisierten frühneuzeitlich-kolonialen Ständegesellschaft ein. Da die Auswahlentscheidungen dieser Hierarchie teilweise entgegenstanden, indem sie zugunsten von Personen mit geringerem Rang getroffen wurden (ohne dass diese unbedingt als fachlich qualifizierter galten), könnte der Wettbewerb in mehrfachem Sinne als „unfair“ bezeichnet werden. Dennoch trug die Konkurrenzsituation ebenso wie die Auswahl der Experten zur Stabilisierung der Kolonialherrschaft bei und erfüllte damit ein Ziel, das über die fachgerechte Errichtung von Brunnen weit hinausging. Denn tatsächlich ging es nicht darum, „den Besten“ zu finden, sondern ein Reservoir potentiell passender Experten zu generieren, die über unterschiedliche Eigenschaften verfügten und durch den Wettbewerb nicht nur in ihrer Bemühung um Leistung, sondern insbesondere auch in ihrer Loyalität zur Kolonialmacht bestärkt wurden. Nur wenn die Konkurrenten gemeinsam eine Entscheidung des Schiedsrichters boykottiert und ihre Loyalität verweigert hätten, hätten sie die Herrschaft gefährden können; dies war jedoch gerade aufgrund der sozialen Unterschiede relativ unwahrscheinlich. Die Wettbewerber hatten zwar innerhalb des Rahmens ihrer individuellen Passung durchaus Handlungsmacht; doch im Zuständigkeitsbereich, der auf den fachlichen Qualifikationen beruhte, die sie mit anderen teilten, blieb ihre Macht beschränkt. Zugespitzt formuliert: „Faire“ Konkurrenzsituationen würden Herrschaft erschweren; die Gleichstellung von Ausländern und anderen marginalisierten Menschen würde Konkurrenzkämpfe einhegen und damit Herrschaftsoptionen verringern.

Konstruktive Konkurrenz

Gründung von Akademien für Militärarchitektur Seit der Eroberung durch die Portugiesen waren in Brasilien ausländische Experten tätig.2 In der Kolonialzeit galt dies insbesondere für die Militäringenieure; zu nennen wären etwa der italienische Ingenieur Bautista Antonelli für das 16. Jahrhundert, die französischen Ingenieure Michel de l’Escole, Philippe de Quitan und Pierre Pellefigue für das 17. und unzählige weitere für die folgenden Jahrhunderte.3 Häufig wird ihre Präsenz im kolonialen Brasilien mit dem Mangel an entsprechend qualifizierten portugiesischen Experten erklärt. In der letzten Zeit haben jedoch einige Studien auf die große Bedeutung portugiesischer und brasilianischer Militäringenieure hingewiesen.4 Mit der Ende des 17. Jahrhunderts erfolgten Gründung von Akademien für Militärarchitektur (Aulas de Fortificação e Arquitetura Militar) im Königreich Portugal, in Übersee und insbesondere im portugiesischen Amerika – nämlich in Salvador da Bahia (1696), Rio de Janeiro (1697), São Luís do Maranhão (1699), Recife (1701) und Belém (1758) – wurde die Möglichkeit einer kontinuierlichen Versorgung von vor Ort ausgebildeten Ingenieuren geschaffen.5 Dies ist nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil Portugal, anders als die anderen europäischen Kolonialmächte, die Gründung von Universitäten in seinen Kolonien grundsätzlich verboten hatte. Durch die Goldfunde im Landesinneren seit dem Ende des 17. Jahrhunderts war die Bedrohung der Kolonie durch rivalisierende europäische Angreifer deutlich größer geworden. Um den Bedarf an sachkundiger militärischer Befestigung zu decken, war die Regierung zunehmend bereit, entgegen der sonst üblichen Strategie des divide et impera eine innerkoloniale Integration in Kauf zu nehmen. Zwar bestanden nicht alle der genannten Akademien über längere Zeit, doch die in Rio de Janeiro existierte wahrscheinlich das gesamte 18. Jahrhundert hindurch. Die Kurse wurden vom Obersten Militäringenieur des jeweiligen Ortes abgehalten, häufig unter Mithilfe eines Assistenten. Das Studium dauerte fünf Jahre,

2 Mit Ausländern meine ich entsprechend der portugiesischen Perspektive nichtportugiesische Europäer. 3 Manuel C. Teixeira / Margarida Valla: O urbanismo português, séculos XIII–XVIII. Portugal-Brasil. Lissabon 1999, S. 229; Gilberto Ferrez (Hg.): O Rio de Janeiro e a defesa do seu porto, 1555–1800. Bd. 1 (Documentos). Rio de Janeiro 1972, S. 156–178. 4 Beatriz Piccolotto Siqueira Bueno: Desenho e desígnio. O Brasil dos engenheiros militares (1500–1822). São Paulo 2011; Claudia Damasceno Fonseca: Arraiais e Vilas d’El Rei. Espaço e poder nas Minas setecentistas. Belo Horizonte 2011; Júnia Ferreira Furtado: História da Engenharia. In: Heloisa M. Murgel Starling / Lígia B. de Paula Germano (Hg.): Engenharia. História em construção. Belo Horizonte 2012, S. 21–69, hier 74 f. 5 Bueno, Desenho e desígnio, S. 138 f., 206, 220; Dies.: Entre teoria e prática. In: Terra Brasilis 7-8-9 (2007), URL: http://terrabrasilis.revues.org/271 (23.04.2016).

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wobei die Studierenden ein Stipendium erhielten, wenn sie die jährlichen Prüfungen bestanden. Abgesehen von den drei bis zwölf offiziell eingeschriebenen Militärangehörigen konnten weitere Interessenten ohne finanzielle Unterstützung am Unterricht teilnehmen.6 Damit war die Voraussetzung für die Ausbildung eigener Kandidaten gegeben, um die notwendige koloniale Infrastruktur umzusetzen. Dennoch stellte der portugiesische König auch nach der Gründung der Akademien ausländische Militäringenieure ein. Um die Gründe hierfür nachzuvollziehen, stelle ich zwei Fälle von Brunnenbauten in Rio de Janeiro vor, bei denen jeweils ein gut integrierter (also in die lokalen Netzwerke eingebundener), ortskundiger portugiesischer beziehungsweise brasilianischer Experte mit einem ausländischen Experten, der über wenig lokales Wissen verfügte, konkurrierte.7

Konkurrenz von Alpoim und Martell Der erste Fall betrifft den Entwurf und die Herstellung des Brunnens, der um 1750 auf der Praça do Carmo (heute: Praça XV), dem zur Guanabara-Bucht hin offenen Hauptplatz von Rio de Janeiro, errichtet wurde. Der eine Vorschlag für diesen Brunnen kam von José Fernandes Pinto Alpoim, dem Obersten Ingenieur von Rio de Janeiro, der zugleich Lehrer an der dortigen Akademie für Militärarchitektur war und während seines 27-jährigen Aufenthalts in Rio zwei bedeutende Lehrbücher veröffentlichte, den Exame de Artilheiros und den Exame de Bombeiros.8 Alpoim hatte dem Platz vor dem Carmo-Kloster mit der Instandsetzung des Gouverneurspalasts an der einen Längsseite und der Errichtung weiterer herrschaftlicher Gebäude wie etwa der imposanten Residenz der Familie Teles de Meneses an der anderen Längsseite sein repräsentatives Gesicht verliehen. Das harmonische Ensemble sollte nun mit einem zentralen Brunnen vervollständigt werden, der

6 Bueno, Desenho e desígnio, S. 138 f., 220. 7 Rosauro M. Silva: A luta pela água. In: Fernando Nascimento Silva (Hg.): Rio de Janeiro em seus quatrocentos anos. Formação e desenvolvimento da cidade. Rio de Janeiro 1965, S. 311–337; José de Souza Reis: Arcuatum Opus. Arcos da Carioca. In: Revista do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional 12 (1955), S. 9–108; Francisco A. Noronha Santos: Aqueduto da Carioca. In: Revista do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional 4 (1940), S. 7–53; Ders.: Fontes e Chafarizes do Rio de Janeiro. In: Revista do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional 10 (1946), S. 7–133. Für eine allgemeine Geschichte der Stadt: Armelle Enders: Histoire de Rio de Janeiro. Paris 2000. 8 Carlos A. L. Filgueiras / Teresa C. C. Piva: O engenheiro setecentista luso-brasileiro José Fernandes Pinto Alpoim. In: Sebastião J. Formosinho / Hugh D. Burrows (Hg.): Sementes de Ciência. Livro de homenagem a António Marinho Amorim da Costa. Coimbra 2011, S. 119–138; Margareth da Silva Pereira: Visão de cidade e do território no período joanino. A acção do brigadeiro Alpoim. In: Walter Rossa u. a. (Hg.): Universo Urbanístico Português, 1415–1822. Actas do Colóquio Internacional. Lissabon 2001, S. 369–381; Bueno, Desenho e desígnio, S. 231–235.

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sein Wasser von dem neu gebauten Aquädukt beziehen würde, der bisher nur den etwas peripher gelegenen Carioca-Brunnen mit Wasser speiste, aber noch keinen Ausfluss im Zentrum der Stadt hatte. Schon bevor Alpoims Plan in Lissabon vorlag, hatte der Überseerat den lokalen Gouverneur darauf hingewiesen, dass Rio de Janeiro weder über die für den Entwurf eines solchen Brunnens erforderliche „Intelligenz“, also das technische Wissen, verfüge noch über die Handwerker, die zum Bau benötigt würden. Um die angestrebte „Perfektion“ dennoch zu erreichen, solle der Brunnen in Portugal hergestellt und in Rio nur noch zusammengesetzt werden.9 Die Reaktion auf Alpoims Entwurf entsprach diesem Verdikt: Er sei Ergebnis schlechten Geschmacks und könne in Lissabon viel raffinierter gemacht werden. Das geplante Bauwerk sei zu empfindlich für die Verwendung durch Sklaven, die es bald zerstören würden. Zudem sei der in Rio de Janeiro verfügbare Stein ungeeignet; stattdessen solle Lissabonner lioz verwendet werden, also der helle Kalkstein, aus dem unter anderem das Hieronymus-Kloster und der Turm von Belém gebaut sind. Außerdem seien die Durchmesser der Rohre in Alpoims Entwurf für einen Springbrunnen unzureichend. Und schließlich sei das Gesamtvorhaben allzu beschränkt: Ein Brunnen genüge nicht, vielmehr sollten Brunnen über die ganze Stadt verteilt werden.10 Die Person, die dieses Urteil unterzeichnete, war nicht etwa der Oberste Ingenieur des Königreichs, der normalerweise für technische Gutachten zuständig war, sondern Alexandre de Gusmão, ein juristisch gebildeter Diplomat und einflussreiches Mitglied des Überseerats. Dies legt nahe, dass es sich weniger um eine technische als um eine politische Entscheidung handelte. Nicht nur das Argument der mangelnden Qualifikation Alpoims war wenig überzeugend; auch die Behauptung der Untauglichkeit des einheimischen Granits traf erwiesenermaßen nicht zu. Denn es war nicht das erste Mal, dass Alpoim sich für eine lokale Produktion anstelle der Zusendung aus Portugal stark machte. Einige Jahre zuvor hatte er sich bereits bezüglich der Herstellung der Steinrohre des Aquädukts für die Nutzung eines örtlichen Steinbruchs an den Hängen des Corcovado ausgesprochen. Dadurch könnten, so hatte er damals argumentiert, nicht nur die Frachtkosten, sondern auch der relativ umständliche Transport vom Hafen bis zur Baustelle vermieden werden. Der Vorschlag war vom Obersten Ingenieur

9 Carta dos oficiais da Câmara do Rio de Janeiro ao rei [D. João V], informando a necessidade de se construir um novo chafariz para abastecimento de água naquela cidade […]. In: Arquivo Histórico Ultramarino, Lissabon (AHU): ACL, CU, 017, Cx. 34, D. 3579. 10 O governador e capitão general da capitania do Rio de Janeiro responde a ordem que lhe foi a respeito da obra das fontes naquela cidade, e vão os documentos que se acusam. In: Documentos Históricos da Biblioteca Nacional 94 (1951), S. 120 f.

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des Königreichs skeptisch geprüft, aber schließlich gebilligt worden.11 Auch bei der Errichtung des einzigen bereits bestehenden Brunnens der Stadt, dem rund 25 Jahre älteren Carioca-Brunnen, hatte es eine ähnliche Auseinandersetzung gegeben. Jener Brunnen war gegen die Absicht Lissabons von lokalen Handwerkern nach einem lokalen Entwurf und aus lokalem Granit erbaut worden.12 Die Herstellung eines soliden Brunnens in Rio de Janeiro war also möglich. Tatsächlich ging es wohl eher um die größere Repräsentativität, die ein Brunnen aus lioz hatte; denn ein prächtiger und offensichtlich im Mutterland gefertigter Brunnen erinnerte eindringlich an den portugiesischen Herrschaftsanspruch, wenn er nicht sogar zu dessen Legitimation beitrug. Im Fall des Carmo-Brunnens wurde Alpoim daher gestoppt. Statt seiner beauftragte die Krone den ungarischen Militäringenieur Károly Martell, der kurz zuvor für die Leitung der Bauarbeiten am Aquädukt von Lissabon und den entsprechenden Brunnen eingestellt worden war.13 Der Entwurf des Carmo-Brunnens für Rio de Janeiro war wahrscheinlich die erste Aufgabe, die er für die portugiesische Regierung übernahm. Es ist unbekannt, über welches Vorwissen er verfügte; in Rio war er jedoch nie gewesen und selbst in Lissabon hatte er noch keinen Beleg für seine besondere Befähigung im Brunnenbau geliefert. Das bedeutet nicht, dass Martell kein qualifizierter Ingenieur gewesen wäre; auf seine Fähigkeiten weist unter anderem das hohe Gehalt hin, das er während seiner gesamten Amtszeit erhielt. Aber mit den spezifischen Umwelt- und Gebrauchsbedingungen von Rio de Janeiro war er sicherlich nicht vertraut. Warum also wurde ein Ungar ausgewählt, den Brunnen zu bauen, statt Alpoim, einem portugiesischen Militäringenieur, der sowohl hinsichtlich seiner akademischen als auch seiner praktischen Leistungen hoch angesehen war, der zum Zeitpunkt des Brunnenentwurfs bereits mehrere Jahre in Rio de Janeiro gelebt hatte und sich bezüglich der örtlichen Gegebenheiten bestens auskannte?

11 Carta do governador do Rio de Janeiro [e Minas Gerais], Gomes Freire de Andrade, ao rei [D. João V], solicitando resolução sobre a representação do sargento-mor engenheiro para se lavrar as pedras que se encontram na montanha da Carioca para as obras da Fonte de mesmo nome […]. In: AHU: ACL, CU, 017, Cx. 36, D. 3733. 12 Publicações do Archivo Público Nacional 10 (1910) [=Arquivo Nacional, Rio de Janeiro (ANRJ): Secretaria do Estado do Brasil, Cód. 80, Vol. 1 (Governadores do Rio de Janeiro, Correspondencia activa e passiva com a Côrte, Livro I, 1718–1725)], S. 241. 13 Hellmut Wohl: Carlos Mardel and his Lisbon Architecture. In: Apollo 97 (1973), S. 350–359; Francisco Marques de Sousa Viterbo: Mardel (Carlos). In: Ders. (Hg.): Diccionario historico e documental dos architectos, engenheiros e constructores portuguezes ou a serviço de Portugal. Bd. 2. Lissabon 1904, S. 132–135; Joaquim Oliveira Caetano: Arquitectos, engenheiros e mestres de obras do Aqueduto das Águas Livres. In: Irisalva Moita (Hg.): D. João V e o abastecimento de água a Lisboa. Bd. 1. Lissabon 1990, S. 67–100, hier 90 f.

Konstruktive Konkurrenz

Konkurrenz von Funck und Valentim Zunächst jedoch zum zweiten Fall: Der Nachfolger Alpoims als Oberster Ingenieur von Rio de Janeiro war Jacob Funck, ein Militäringenieur aus Schweden, der zuvor in der französischen, preußischen und englischen Armee gedient und in diesem Zusammenhang unter anderem Mumbai befestigt und an der Belagerung von Havanna teilgenommen hatte.14 Im Jahr 1780, etwa 30 Jahre nach der Errichtung des ersten Carmo-Brunnens, schlug Funck den Bau eines neuen Brunnens auf demselben Platz vor, der diesmal allerdings nicht in der Mitte, sondern an der neu gestalteten Kaianlage platziert werden sollte. Martells Brunnen war in der Zwischenzeit weitgehend unbrauchbar geworden und Funck zufolge war er auch von Beginn an falsch konzipiert gewesen. Der schwedische Militäringenieur fertigte drei alternative Entwürfe für den neuen Brunnen, der diesmal ausschließlich aus einheimischem Material bestehen sollte.15 Damit disqualifizierte er nicht nur die Arbeit des ungarischen Ingenieurs, sondern verzichtete auch auf das Prinzip des portugiesischen Steins. Doch letztlich wurde keiner von Funcks Plänen umgesetzt. Erst acht Jahre später, als Funck die Stadt bereits wieder verlassen hatte, errichtete der Afrobrasilianer Valentim da Fonseca e Silva, besser bekannt als Meister Valentim, einen neuen Brunnen.16 Wahrscheinlich von Funcks Entwürfen inspiriert, schuf er einen neoklassizistischen Wasserturm in Form eines von einer Pyramide bekrönten Würfels, der noch heute den Platz schmückt. Valentim nahm den pombalinischen Stil auf, der Lissabon seit dem Wiederaufbau nach dem großen Erdbeben von 1755 prägte, bereicherte ihn jedoch um koloniale Dekorationselemente.17 Der Brunnen besteht überwiegend aus einheimischem Granit, weist jedoch einige Ornamente in 14 Francisco Marques de Sousa Viterbo: Funck (Jacques). In: Ders. (Hg.): Diccionario historico e documental dos architectos, engenheiros e constructores portuguezes ou a serviço de Portugal. Bd. 1. Lissabon 1899, S. 400–403; David K. Underwood: The Pombaline Style and International Neoclassicism in Lisbon and Rio de Janeiro. Unveröffentlichte Dissertation. Ann Arbor, MI 1989; Karl Heinrich Oberacker: Johann Heinrich Böhm, der Begründer der brasilianischen Armee. In: Bremisches Jahrbuch 45 (1957), S. 204–225. 15 Explicação sobre as plantas aqui juntas do novo chafariz, desenhado para a praça do Rio de Janeiro, por ordem do Ilmo. e Exmo. Sr. Luis de Vasconcellos e Sousa, vice-rey do Estado do Brasil. In: Santos, Fontes e Chafarizes, S. 28 f. 16 Moreira de Azevedo: Valentim da Fonseca e Silva. In: Revista do Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro 32, 2 (1869), S. 235–242; Manuel de Araújo Porto-Alegre: Valentim da Fonseca e Silva. In: Revista do Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro 19 (1898), S. 369–375; Anibal Mattos: Mestre Valentim e outros estudos. Belo Horizonte 1934; Myriam Andrade Ribeiro de Oliveira: O Aleijadinho e Mestre Valentim. In: Emanoel Araujo (Hg.): A mão afro-brasileira. Significado da contribuição artística e histórica. Bd. 1. São Paulo 2010, S. 75–101; Anna M. Fausto Monteiro de Carvalho: Mestre Valentim. São Paulo 1999. 17 Underwood, Pombaline Style, S. 453–459; vgl. auch Carvalho, Mestre Valentim, S. 45–48.

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portugiesischem lioz auf. Er kann als portugiesisch-brasilianische Synthese betrachtet werden, die den Stil der Zeit reflektiert, aber an die örtlichen Gegebenheiten angepasst ist. Funck und Valentim hätten nicht unterschiedlicher sein können. Während Funck ein hoch angesehener Ausländer mit weißer Haut war, zählte Valentim afrikanische Sklaven zu seinen Vorfahren. Funck war Teil der entscheidenden europäischen Patronagenetzwerke, während Valentim fast ausschließlich dem Vizekönig verpflichtet gewesen sein dürfte. Funck war ein Militäringenieur mit der entsprechenden akademischen Ausbildung, Valentim ein einfacher Handwerker, der in seiner Jugend eher zufällig einige Jahre in Portugal verbracht und dort in Werkstätten von Meistern und auf eigene Faust gelernt hatte. Funck erhielt für seine Tätigkeit in Brasilien ein hohes Gehalt, während Valentim arm blieb. Dennoch war es Valentim, der große Teile des Stadtbilds von Rio de Janeiro prägte. Außer diesem Brunnen errichtete er Gebäude, stattete mehrere Kirchen mit einer Innendekoration aus, gestaltete den ersten öffentlichen Park der Stadt, den Passeio Público, und baute eine Reihe weiterer öffentlicher Brunnen. Der Name Jacob Funck ist dagegen mit keinem einzigen Gebäude der Stadt verbunden, obwohl er dort zwanzig Jahre stationiert war. Stattdessen verfasste er Gutachten, fertigte (nicht umgesetzte) Pläne zur Verbesserung des Verteidigungssystems an und beteiligte sich an der Vermessung der Grenze zum spanischen Amerika. Schaut man sich die Eignung von Funck für die Position als Oberster Ingenieur an, fallen eine Reihe weiterer Merkwürdigkeiten auf: Der portugiesischen Regierung war von Anfang an klar, dass Funck völlig unbegabt im Erlernen von Fremdsprachen war. Obwohl er unterschiedlichen Regierungen gedient hatte, wurde er dem Überseerat vor seiner Einstellung als Person vorgestellt, die (außer ihrer Muttersprache Schwedisch) nur wenig Französisch, Deutsch und Englisch beherrsche.18 Als der spätere Marquis von Pombal dem Vizekönig von Rio de Janeiro die Ankunft des Ingenieurs in Brasilien – nach dreijährigem Dienst in Portugal – ankündigte, schrieb auch er, Funck habe erhebliche Schwierigkeiten, sich in irgendeiner Sprache außer Schwedisch auszudrücken. Wie sollte er damit seine Mitarbeiter vor Ort verstehen und sich verständlich machen? Zweitens scheint Funck mit seinem Aufenthalt in Brasilien ständig gehadert zu haben. Er bat schon bald nach seiner Ankunft darum, nach Portugal zurückkehren zu dürfen, da er das Klima nicht vertrage. Er wiederholte diesen Wunsch mehrmals – und in der Tat wurde er in den Quellen immer wieder als krank gemeldet.19 Es mag erstaunen, dass die portugie-

18 Viterbo, Funck (Jacques). 19 Ofício do [brigadeiro e superintendente de fortificações], Jaques Funck ao [secretário de estado da Marinha e Ultramar, Martinho de Melo e Castro], afirmando sentir-se honrado de se encontrar no serviço de engenharia, mas que gostaria de conseguir entrar no Regimento de Artilharia […]. In: AHU: ACL, CU, 017, Cx. 92, D. 8008; Carta do [brigadeiro e superintendente de fortificações],

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sische Regierung ihm über lange Jahre ein hohes Gehalt zahlte, wenn er mit seiner Position haderte und so oft krank war. Drittens misstrauten die Vizekönige Funcks Loyalität und fürchteten, er könne den anderen europäischen Mächten Details über die brasilianischen Verteidigungsanlagen offenbaren. Als James Cooks Expedition 1768 in Rio landete, war der mitreisende schwedische Botaniker Daniel Solander ziemlich verärgert, dass er sich dort nicht mit seinem Landsmann treffen durfte.20 Der Vizekönig Antônio Rolim de Moura Tavares, Graf von Azambuja, befürchtete, dass Funck ihm Informationen über den Zustand des Landes und seine Erzeugnisse geben könne. Diese Angst war keineswegs unbegründet, schließlich hatten rivalisierende europäische Mächte wiederholt brasilianische Stützpunkte angriffen. Warum aber setzte die Regierung einen potentiellen Spion als Obersten Ingenieur ein, um im verwundbarsten Teil der Kolonie – ihrem Verteidigungssystem – zu arbeiten?

Experten im frühneuzeitlichen Herrschaftszusammenhang Ich vertrete die These, dass die Auswahl der Experten eng mit dem Problem der Distanzherrschaft verbunden war, also mit der Herausforderung für die Krone, sich trotz der großen Entfernung und geringen politischen Einbindung die Loyalität der kolonialen Bevölkerung zu sichern. In der historischen Forschung, etwa bei Eric H. Ash, wird der frühneuzeitliche Experte im Allgemeinen als Mediator verstanden, der zwischen einem zentralen Auftraggeber, der eine Vorstellung davon hatte, was er umsetzen wollte, und den Menschen in der Peripherie, die diese Idee umsetzen sollten, vermittelte.21 Dafür musste der Experte über Ansehen, aber auch über ein spezifisches Wissen verfügen, das ihm ermöglichte, abstrakte Ideen und Wünsche in konkrete Maßnahmen zu übersetzen. Eine akademische Ausbildung war hilfreich, aber er musste auch das Terrain kennen und die lokalen Möglichkeiten einschätzen können. Außerdem musste er mit dem Auftraggeber auf der einen Seite und den

Jacques Funck, ao [secretário de estado da Marinha e Ultramar, Martinho de Melo e Castro], solicitando que intercedesse junto ao [secretário de estado do Reino e Mercês], marquês de Pombal, [Sebastião José de Carvalho e Melo] para obter a licença para voltar a Portugal […]. In: AHU: ACL, CU, 017, Cx. 94, D. 8127; Ofício do [vice-rei do Estado do Brasil], marquês do Lavradio, [D. Luís de Almeida Portugal Soares de Alarcão Eça e Melo Silva e Mascarenhas], ao [secretário de estado da Marinha e Ultramar], Martinho de Melo e Castro, comunicando que o marechal de campo, Diogo Jacques Funck, desejava tratar dos seus problemas de saúde no Rio de Janeiro e que, em sua substituição, fora nomeado o brigadeiro José Custódio [de Sá e Faria]. In: AHU: ACL, CU, 017, Cx. 101, D. 8646. 20 Daniel Solander: Collected Correspondence 1753–1782. Hg. u. übersetzt v. Edward Duyker / Per Tingbrand. [Melbourne] 1995, S. 280–286, hier S. 282. 21 Eric H. Ash: Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England. Baltimore 2004, insbes. S. 6–9, 17.

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verschiedenen Partnern und nicht zuletzt den Arbeitskräften auf der anderen Seite kommunizieren können, um alle Beteiligten trotz ihrer oftmals gänzlich unterschiedlichen Interessen zur Kooperation zu bewegen. Gemäß diesen Anforderungen hätte José Fernandes Pinto Alpoim ein idealer Experte sein müssen. Er verfügte über theoretisches Wissen ebenso wie über Landeskenntnisse, genoss Ansehen bei den höheren Rängen der Stadtgesellschaft und sprach dieselbe Sprache wie die Bauarbeiter. Die erfolgreiche Ausfüllung der Mittlerrolle führte jedoch auch zur Integration und Verselbstständigung der lokalen Gemeinschaft – und dies lag nicht unbedingt in der Absicht der Krone.22 Unter der Leitung Alpoims taten sich die unterschiedlichen Akteure der Stadt mit ihren oft gegensätzlichen Interessen zusammen, um gemeinsam die Errichtung der Infrastruktur voranzubringen. Alpoim bemühte sich um eine effiziente Durchführung, indem er die Kosten wie auch den Zeitaufwand durch den Einsatz lokaler Materialien und lokaler Handwerker zu senken versuchte. Sein Wissen und seine Kontakte ermöglichten es ihm – und legten es sogar nahe –, auf Kooperationspartner in Portugal zu verzichten, die kaum in der Lage waren, aus der Entfernung einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Ich denke, dass der Überseerat aus der daraus resultierenden Gefahr, die Kontrolle über das Geschehen in der Kolonie zu verlieren, Alpoims Entwurf nicht akzeptierte und lieber einem letztlich weniger geeigneten Plan den Vorzug gab. Im zweiten hier dargestellten Fall löste die Regierung das Dilemma, einen Vermittler zu brauchen, ohne die Integration beziehungsweise Verselbstständigung der kolonialen Gesellschaft zu fördern, geschickter: Mit der parallelen Anstellung von Meister Valentim und Jacob Funck spaltete sie die Rolle des Vermittlers. Funck konnte seine Ideen zwar dem Überseerat vermitteln, mit dem er auf Französisch korrespondierte, hatte jedoch große Probleme bei der Kommunikation mit den Menschen vor Ort, den Arbeitern, Handwerkern, Bauunternehmern und womöglich sogar einigen Amtsträgern. Aufgrund seiner Abneigung gegen das Klima und wegen der gesundheitlichen Probleme dürfte er sich zudem kaum mit den Interessen und Zielen der Stadt identifiziert haben. Selbst wenn die Gefahr bestand, dass er sensible Informationen an andere Großmächte weitergab, konnte man davon ausgehen, dass Funck den Interessen der Krone stärker verbunden war als den Wünschen und Vorstellungen der lokalen Gesellschaft. Meister Valentim hatte dagegen keinen Kontakt mit dem König oder dem Überseerat. Er erhielt seine Anweisungen ausschließlich vom Vizekönig und vermittelte innerhalb der lokalen Gesellschaft, wie auf der Abbildung sehr anschaulich zu sehen ist: Valentim, mit dunkler Hautfarbe und in einfachem Gewand, steht im

22 Vgl. zur vergesellschaftenden Funktion des Mittlers Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main 7 2013, S. 132.

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Abb. 1 Detail aus João Francisco Muzzi: Feliz e pronta reedificação da Igreja do antigo Recolhimento de Nossa Senhora do Parto 1798 [Glücklicher und schneller Wiederaufbau der Kirche des alten Frauenhauses von Maria in der Hoffnung 1798]. © Museus Castro Maya / IBRAM. Foto: Jaime Acioli.

Zentrum und zeigt dem Vizekönig Luís de Vasconcelos e Sousa sein Projekt für den Wiederaufbau des Frauenhauses von Nossa Senhora do Parto, eines Heims für verlassene und unverheiratete Frauen. Er wies auch die Bauarbeiter an und in dieser Darstellung scheint es fast, als ob er selbst das Sicherheitspersonal orchestriert hätte. Aber aufgrund seines niedrigen sozialen Status war auch bei Meister Valentim nicht zu befürchten, dass er zu einem sozialen Integrator würde. Wegen seiner afrikanischen Herkunft sowie seiner stark handwerklich geprägten Tätigkeit fehlte ihm das Ansehen der Eliten. Anders als Alpoim war er weit davon entfernt, sich mehr als punktuell mit den höheren Gesellschaftsschichten auszutauschen. Ausländische und afro-brasilianische Expertise waren in diesem Fall also zwei Seiten ein- und derselben Medaille – einer Medaille beziehungsweise Situation, die die Krone nutzte, um die der Kolonialherrschaft zugrunde liegende gesellschaftliche Fragmentierung aufrechtzuerhalten. Sie setzte Außenseiter als Experten ein, um ihre Rolle als Vermittler und die aus dieser Rolle potentiell folgende Emanzipation der lokalen Gesellschaft einzudämmen. Sie nutzte Konkurrenz zwischen Ungleichen, um ihre Herrschaft zu sichern.

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Kommentar

Jorun Poettering eröffnet ihren Beitrag zur Auswahl von Experten für den Brunnenbau im kolonialen Rio de Janeiro mit dem Hinweis auf die bis in unsere Gegenwart verbreitete „Idealvorstellung“ eines „fairen Wettbewerbs“ nach vorgegebenen, transparenten Regeln, deren Einhaltung von einem unparteiischen Dritten, dem allseits anerkannten Schiedsrichter, gewährleistet wird. Wie alle Beiträge dieser Sektion zu Migration und Konkurrenz zeigen, stößt dieses Ideal in der sozialen Praxis nicht nur im modernen Fußball ungeachtet einer anhaltenden Reform der Regeln und fortschreitend verfeinerten Institutionalisierung des Schiedsverfahrens durch modernste Technik regelmäßig an seine Grenzen. Eine finale Regulierung und Institutionalisierung der Konkurrenz reibt sich zudem an den variierenden Deutungen und Bewertungen der Konkurrenz, wie Anke Fischer-Kattner in ihrem Beitrag zur Festung Philippsburg im Grenzraum zwischen dem Königreich Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation während des 17. und 18. Jahrhunderts aufzeigt. Während die französischen Kaufleute in der nationalistisch gefärbten städtischen Historiographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts leicht zur „fremden Concurrenz“ erklärt werden konnten, die es zu unterbinden gelte, ging es den zeitgenössischen Akteuren einschließlich der wechselnden Obrigkeiten vor allem um gleiche Verkaufsbedingungen und Maßeinheiten für Alteingesessene und Zuwanderer und damit letztlich um die gesellschaftliche Integration beider „Parteien“. Anke Fischer-Kattners Aufsatz schließt explizit an die jüngsten Debatten über den Nutzen eines analytischen Konkurrenz-Begriffs für die historische Forschung an, in denen es um Regeln, Praktiken und Institutionalisierungen von Konkurrenz als spezifische Formen der gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion geht.1 Angesichts der zeitlich und kontextuell variierenden Deutungen und Bewertungen der Legitimität und spezifischen Begründung von Konkurrenz unter Zeitgenossen und späteren Beobachtern erweist sich das Konzept der „Konkurrenzkultur“ auch im Kontext der Migration als besonders fruchtbar, da die Konkurrenz zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ in der Frühen Neuzeit nicht als grundsätzlicher Konflikt verstanden wurde, sondern situativ von verschiedenen Akteuren wahrgenommen, gedeutet und ausgehandelt wurde. Allen vier Beiträgen der Sektion

1 Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014.

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ist gemeinsam, dass sie neben den rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen besonders die verschiedenen Deutungsmuster und „Erwartungshorizonte“ (Sonkajärvi) der beteiligten Akteure und Institutionen in den Blick nehmen. Dabei geht es um Einheimische und Zuwanderer im Gefolge der französischen Armee in Philippsburg (Fischer-Kattner), in Amerika geborene Mediziner und aus Spanien und dem übrigen Europa zugewanderte Chirurgen in Mexiko-Stadt (Biersack), baskische und französische Kaufleute in der spanischen Provinz Vizcaya (Sonkajärvi) oder lokale und europäische Brunnenbauexperten in Rio de Janeiro (Poettering). Seitens der betroffenen Akteure und obrigkeitlichen Institutionen trafen stets verschiedene Positionen zu Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zuwanderern sowie zu den dieses Verhältnis prägenden Praktiken, Regeln und Institutionen aufeinander. Das Konkurrenzverständnis, welches diesen Positionen zugrunde lag, oszillierte dabei zwischen Koexistenz und Konflikt, ohne sich festlegen zu lassen. Schließlich sind es die spezifischen Rahmenbedingungen der frühneuzeitlichen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung, die der Konkurrenz im Kontext der Migration einen epochenspezifischen Stempel aufdrücken. So erinnert Anke FischerKattner daran, dass die (proto-) nationale Zugehörigkeit der Akteure auch im 18. Jahrhundert noch kein dominantes Kriterium der Deutung von Konkurrenz zwischen und innerhalb verschiedener Herrschaftsräume war, wohingegen die religiöse Zugehörigkeit im „konfessionellen Zeitalter“ nicht nur in den Reichen und Provinzen der „Katholischen Monarchie“ der spanischen Habsburger ein zentraler Bestandteil der Konkurrenzkultur war. Darüber hinaus führten die verschiedenen, sich zum Teil überlagernden und nicht selten untereinander konkurrierenden Jurisdiktionsräume verschiedener Korporationen und Behörden dazu, dass die Zuständigkeiten und Regeln des Schiedsverfahrens selbst zum Gegenstand der Konkurrenz und des Konflikts wurden. Die für ein Schiedsverfahren zuständigen „Figuren des Dritten“ im Sinne Georg Simmels waren oft vielstimmig und uneindeutig, und die Reformen des Aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts scheinen in den in dieser Sektion untersuchten Fallbeispielen keine grundlegenden Veränderungen dieser Konstellation erwirkt zu haben. Die frühneuzeitlichen Rahmenbedingungen der Deutung, Aushandlung und Institutionalisierung von Konkurrenz gelten im Besonderen, wenn auch nicht ausschließlich für die „zusammengesetzten“ oder „polyzentrischen“ Monarchien, die in dieser Sektion mit Fallstudien aus dem spanischen und dem portugiesischen Weltreich prominent vertreten sind.2 Entgegen der bei Anke Fischer-Kattner erwähnten Frage der aus der Perspektive des späten 19. Jahrhunderts „fremden“ und

2 John H. Elliott: A Europe of composite monarchies. In: Past and Present 137 (1992), S. 48–71; Pedro Cardim u. a. (Hg.): Polycentric monarchies. How did early modern Spain and Portugal achieve and maintain a global hegemony? Eastbourne 2012.

Kommentar

damit unstatthaften nationalen Konkurrenz verweist die Einleitung zur Sektion mit Blick auf die frühneuzeitlichen Migranten zu Recht darauf, dass „oft weniger ihre Anwesenheit an sich in Frage stand, als vielmehr ihre Ansprüche, Rechte und Pflichten“. Ob diese überhaupt zum Gegenstand von Konkurrenzkonflikten wurden, hatte jedoch nicht zuletzt mit dem Grad der sozialen Integration der Zugewanderten in die lokale Gesellschaft, etwa durch Geschäfts-, Freundschaftsoder Heiratsbeziehungen, zu tun. Dies gilt nicht nur für die Migration zwischen den Herrschaftsräumen verschiedener Monarchien oder den unterschiedlichen Reichen und Provinzen einer Monarchie, sondern auch innerhalb eines Reiches, etwa zwischen verschiedenen Städten. Neben dem von Hanna Sonkajärvi analysierten „Marktverhältnis“ im spanischen Baskenland waren auch in anderen gesellschaftlichen Feldern, etwa im Falle der von Martin Biersack untersuchten Konkurrenz zwischen kreolischen Ärzten und europäischen Chirurgen in Neu-Spanien, lokale Institutionen die entscheidenden Instanzen der Deutung und Regulierung der Konkurrenz zwischen Einheimischen und Fremden. Entsprechend umsichtig intervenierte der spanische König, der einerseits angestammte Privilegien des kreolisch dominierten Protomedikats hinsichtlich der Berufszulassung von eingewanderten Chirurgen stärkte, andererseits zur Aufwertung und Verbreitung der Chirurgie vizekönigliche Dispense zugunsten von Einzelpersonen ermöglichte. Konkurrenzkonflikte blieben dabei auf Einzelfälle beschränkt, da kompetente Chirurgen in der lokalen (kreolischen) Gesellschaft grundsätzlich willkommen waren. Auch die Auswahl der Ingenieure und Arbeiter für einen Brunnenbau in Rio de Janeiro lässt seitens des portugiesischen Königs hinsichtlich der Kompetenzen der Bewerber auf den ersten Blick keine stringenten Präferenzen in der Entscheidung zwischen den konkurrierenden einheimischen und eingewanderten Akteuren erkennen, wohl aber die Bevorzugung von lokalen Experten, die nicht zur Oberschicht gehörten, was Jorun Poettering als bewusste Strategie der Aufrechterhaltung der bestehenden „gesellschaftlichen Fragmentierung“ und der Herrschaftsstabilisierung deutet. Das gezielte Austarieren bzw. Ausspielen von Konkurrenten durch den Monarchen im Sinne eines divide et impera erscheint plausibel, jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Krone nicht nur Hüter, sondern integraler Bestandteil eines komplexen Herrschaftssystems war, das von der Integration verschiedener sozialer Akteure und politischer Institutionen lebte, deren Loyalität nicht zuletzt auf der Achtung bestehender Gewohnheitsrechte und Privilegien basierte. Die durch den frühneuzeitlichen Rechtspluralismus ebenso wie die verbreitete Vielfalt von Herkunfts- und Zugehörigkeitskategorien geprägte Konkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten barg somit einerseits Konfliktstoff, ermöglichte aber ebenso den Konsens. Dies galt auch für das von Hanna Sonkajärvi untersuchte baskische huésped-System, das nicht-adligen französischen Kaufleuten in der Provinz Vizcaya zwar nicht das Bürgerrecht (vecindad), jedoch eine dauerhafte An-

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siedlung als Gast lokaler Bürger ermöglichte. Entscheidend war allerdings einmal mehr, so Sonkajärvi, dass es sich bei dem huésped-System aus der Perspektive der involvierten lokalen Behörden eher um eine „potentiell abrufbare gewohnheitsrechtliche Kategorie als um eine tatsächlich konsequent in der Praxis umgesetzte Institution handelte“. Konkurrenz zwischen Einheimischen und Fremden war somit kein starres, durch feststehende soziale Kategorien bestimmtes Verhältnis, sondern wurde situativ ausgehandelt, oder eben auch nicht, d. h. ignoriert, stillschweigend akzeptiert oder begrüßt. Alle vier Beiträge der Sektion betrachten konfliktive Konkurrenzsituationen infolge von Migration als Momente der Aushandlung von Praktiken und Regeln der sozialen Inklusion und Exklusion sowie der Zuständigkeit in Schiedsverfahren, die auf einer übergeordneten Ebene der Wahrung bzw. Wiederherstellung der komplexen frühneuzeitlichen Herrschaftsordnung dienten, die wiederum auf der Integration verschiedener Akteursgruppen und Institutionen basierte. Das analytische Konzept der Konkurrenz kann in diesem Kontext dazu dienen, in konkreten Fallanalysen die kulturellen Codes, Praktiken und Regeln zu erforschen, die im Rahmen der komplexen frühneuzeitlichen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung Konsens und Konflikt ermöglichten. Mit Blick auf die Migrationsforschung sind neben der in dieser Sektion im Vordergrund stehenden Herrschaftsformationen sicher weiterführende Aspekte von Bedeutung. Dazu gehören die mitunter aufscheinende Rolle sozialer Netzwerke ebenso wie die Alltagsebene der Beziehungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten jenseits konkreter Konfliktsituationen, die, so das allgemeine Fazit dieser Sektion, eher die Ausnahme als die Regel der Konkurrenz waren.

Sektion 8: Konkurrenz und Kooperation im frühneuzeitlichen Fernhandel: Oberdeutsche und andere Nationen auf europäischen Märkten

Mark Häberlein

Einleitung

Zahlreiche handelshistorische Studien, die seit den 1990er Jahren entstanden sind, haben familiäre und verwandtschaftliche Verflechtungen sowie gemeinsame religiöse und ethnische bzw. ‚nationale‘ Zugehörigkeit als zentrale Voraussetzungen wirtschaftlicher Kooperation – von der seriellen Abwicklung von Geschäften über die Zusammenarbeit in Handelsgesellschaften bis hin zur Bildung von Konsortien und Kartellen – identifiziert. Frühneuzeitliche Handelshäuser waren häufig Zusammenschlüsse von Familienmitgliedern und nahen Verwandten, und die Kooperation mit Angehörigen und Landsleuten, denen in besonderem Maße Vertrauen entgegengebracht wurde, gilt als wichtige Strategie der Risikominimierung sowie der Senkung von Transaktionskosten im vorindustriellen Fernhandel.1 Erst in den letzten Jahren ist – maßgeblich angeregt durch Studien Philip D. Curtins und Francesca Trivellatos2 – auch die Frage stärker thematisiert worden, wie Fernhandel über ethnische, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg funktionierte. Als Erfolgsfaktoren transkulturellen ökonomischen Handelns hat Trivellato insbesondere die gemeinsame Orientierung an einer transnationalen kommerziellen Kultur, die sich etwa in bestimmten Konventionen der Korrespondenz sowie in verbindlichen Normen von Höflichkeit, freundschaftlicher Verpflichtung und Reziprozität manifestierte, die unter Kaufleuten weit verbreitete Mehrsprachigkeit sowie die Verfügbarkeit von Textgattungen wie Briefstellern und Formularbüchern benannt. Neben der Dichte kaufmännischer Korrespondenznetze, die den

1 Vgl. etwa Richard Grassby: The Business Community of Seventeenth-Century England. Cambridge 1995, S. 90, 162, 308, 329–331, 401–403; Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998, passim; Peter Mathias: Risk, Credit and Kinship in Early Modern Enterprise. In: John J. McCusker / Kenneth Morgan (Hg.): The Early Modern Atlantic Economy. Cambridge 2000, S. 15–35; Stefan Gorißen: Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720–1820). Göttingen 2002, S. 139–167; Jan W. Veluwenkamp: Kaufmännisches Verhalten und Familiennetzwerke im niederländischen Russlandhandel (1590–1750). In: Mark Häberlein / Christof Jeggle (Hg.): Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit. Konstanz 2010, S. 379–405; Andrea Caracausi / Christof Jeggle (Hg.): Commercial Networks and European Cities, 1400–1800. London 2014. 2 Philip D. Curtin: Cross-Cultural Trade in World History. Cambridge 1990; Francesca Trivellato: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period. New Haven / London 2009.

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Mark Häberlein

Informationsaustausch über die Reputation, Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit von Geschäftspartnern gewährleistete, gelten diese gemeinsamen Standards kaufmännischen Verhaltens als wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren weiträumiger, kulturelle Grenzen überschreitender Fernhandelsbeziehungen.3 Besonders starke Beachtung hat in der einschlägigen Literatur das Verhältnis von Italienern und Oberdeutschen gefunden: Beide Gruppen konkurrierten und kooperierten im 16. Jahrhundert in den großen westeuropäischen Handels- und Finanzzentren Antwerpen, Lyon, Lissabon und Sevilla, und sie interagierten nach der Zäsur des Dreißigjährigen Krieges auf den überregional bedeutenden Messen und Märkten des Heiligen Römischen Reiches und der Habsburgermonarchie. Im transalpinen Austausch zwischen dem deutschen und dem italienischen Sprachraum lässt sich zudem eine Verlagerung der Gewichte beobachten: Während deutsche Kaufmannsgemeinden bereits seit dem Spätmittelalter in einer Reihe von italienischen Handelsstädten etabliert waren und ihre Präsenz dort spezifische Organisationsformen wie den Fondaco dei Tedeschi in Venedig hervorbrachte,4 wuchs die Präsenz italienischer Kaufleute nördlich der Alpen im Laufe der Frühen Neuzeit stark an und erreichte zwischen ca. 1670 und 1750 ihren Höhepunkt. Trotz mitunter heftiger Abwehrreaktionen einheimischer Händler konnten sich italienische Kaufleute und Kompanien in zahlreichen deutschen Städten etablieren und an wichtigen Bereichen des Warenhandels und Finanzgeschäfts partizipieren.5 3 Trivellato, The Familiarity of Strangers, bes. S. 177–193, 273–275; vgl. ferner Jorun Poettering: Handel, Nation und Religion. Kaufleute zwischen Hamburg und Portugal im 17. Jahrhundert. Göttingen 2013, bes. S. 239–250; Francesca Trivellato u. a. (Hg.), Religion and Trade. Cross-Cultural Exchanges in World History, 1000–1900. Oxford 2014; Cátia Antunes / Amélia Polónia (Hg.): Beyond Empires. Global, Self-Organizing, Cross-Imperial Networks, 1500–1800. Leiden / Boston 2016; Manuel Herrero Sánchez / Klemens Kaps (Hg.): Merchants and Trade Networks in the Atlantic and the Mediterranean, 1550–1800. Connectors of Commercial Maritime Systems. London / New York 2017. 4 Vgl. z. B. Philippe Braunstein: Erscheinungsformen einer Kollektividentität. Die Bewohner des Fondaco dei Tedeschi (12.–17. Jahrhundert). In: Uwe Bestmann u. a. (Hg.): Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer. Bd. 1. Trier 1987, S. 411–420; Mark Häberlein: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und der Italienhandel oberdeutscher Kaufleute (ca. 1450–1650). In: Hans-Michael Körner / Florian Schuller (Hg.): Bayern und Italien. Kontinuität und Wandel ihrer traditionellen Beziehungen. Lindenberg 2010, S. 124–139; Sibylle Backmann: Le Fondaco dei Tedeschi. Pratiques marchandes des compagnies allemandes à Venise (1550–1650). In: Wolfgang Kaiser (Hg.): La loge et le fondouk. Les dimensions spatiales des pratiques marchandes en Méditerranée, Moyen Âge – Èpoque Moderne. Paris 2014, S. 113–141; Bettina Pfotenhauer: Nürnberg und Venedig im Austausch. Menschen, Güter und Wissen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Regensburg 2016. 5 Vgl. z. B. Johannes Augel: Italienische Einwanderung und Wirtschaftstätigkeit in rheinischen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts. Bonn 1971; Christiane Reves: Vom Pomeranzengängler zum Großhändler? Netzwerke und Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert. Paderborn 2012; Christof Jeggle: Coping with the Crisis. Italian Merchants in Seventeenth-Century Nuremberg. In: Andrea Bonoldi u. a. (Hg.): Merchants in Times of Crises (16 th to mid-19th Century). Stuttgart 2015, S. 51–78; Thea E. Stolterfoht: Die Südfrüchtehändler vom Comer See im Südwesten Deutschlands im 17.

Einleitung

Wie sich das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz im frühneuzeitlichen Fernhandel konkret gestaltete, wird hier schwerpunktmäßig anhand der Kontakte zwischen oberdeutschen Kaufleuten und anderen Kaufmannsgruppen bzw. Nationen zur Diskussion gestellt, die sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert auf unterschiedlichen europäischen Märkten begegneten. Das Phänomen der ökonomischen Kooperation und Konkurrenz von Händlergruppen wird in den folgenden Beiträgen sowohl hinsichtlich seiner Vielgestaltigkeit und Variabilität als auch in Bezug auf grundlegende Gemeinsamkeiten und wiederkehrende Muster untersucht. Im Einzelnen geht es um die Fragen, auf welchen Geschäftsfeldern diese Gruppen miteinander agierten; welche sprachlichen, rechtlichen und kulturellen Konventionen diesen Interaktionen zugrunde lagen; und wie sich das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Kaufmannsgruppen auf verschiedenen europäischen Märkten längerfristig entwickelte. Mit diesen wirtschafts- und kulturhistorischen Perspektiven auf das Phänomen der Konkurrenz möchte die vorliegende Sektion einen Beitrag zur europäischen Handelsgeschichte der Frühen Neuzeit leisten und knüpft zugleich an neuere Forschungen zu kaufmännischen Gemeinschaften und Diasporen6 an. Alle vier Beiträge eint zudem der Umstand, dass sie von der ökonomischen Praxis ausgehen und die Beziehungen und Konflikte zwischen Handelshäusern und Kaufmannsgruppen in actu analysieren. Zunächst zeigt Heinrich Lang anhand von Rechnungsbüchern und Korrespondenzen, wie die Konkurrenz italienischer und oberdeutscher Handelsgesellschaften an zwei zentralen westeuropäischen Handels- und Finanzplätzen im 16. Jahrhundert, Lyon und Antwerpen, wirtschaftshistorisch sichtbar gemacht werden kann. Auf der Grundlage ausgewählter Geschäftsbriefe des Florentiner Handels- und Bankhauses Salviati exemplifiziert er, wie die für die Genese von Märkten konstitutiven Konkurrenzverhältnisse entstanden sind, wie die beteiligten Kaufmannbankiers Konkurrenz selbst wahrnahmen und wie sie Briefe nutzten, um Kooperationen anzubahnen oder auszugestalten. Mein eigener Beitrag beleuchtet anschließend die Beziehungen zwischen Oberdeutschen und Italienern auf der Iberischen Halbinsel, die für süddeutsche Handelshäuser in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Wachstumsmarkt darstellte. In kritischer Auseinandersetzung mit Fernand Braudels Postulat, dass das „Zeitalter der Fugger“ um die Mitte des 16. Jahrhunderts von einem „Zeitalter der Genuesen“

und 18. Jahrhundert. Untersuchungen zu ihrem Handel und ihrer Handlungsorganisation. Hamburg 2017. 6 Vgl. als Überblick Mark Häberlein u. a.: Kaufmannsdiaspora. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit online. URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_290859 (05.08.2020) sowie Dagmar Freist / Susanne Lachenicht (Hg.): Connecting Worlds and People. Early Modern Diasporas. London / New York 2016.

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abgelöst worden sei, betont er die gleichzeitige Präsenz von Oberdeutschen, Genuesen und Florentinern auf den iberischen Märkten und geht der Frage nach, was diese Kopräsenz für die beteiligten Akteure bedeutete. Sahen sich oberdeutsche Kaufleute im Lyon des 16. Jahrhunderts einer schier übermächtigen italienischen Konkurrenz gegenüber,7 so kristallisierten sich im 17. Jahrhundert Schweizer Großhändler als dominante Akteure auf dem wichtigen französischen Markt heraus. Magnus Ressels Beitrag beleuchtet die Ursachen des Konkurrenzverhältnisses zwischen Oberdeutschen und Schweizern in Lyon, die er nicht nur im ökonomischen Ringen um Marktanteile, sondern auch in der wettbewerbsregulierenden Funktion kaufmännischer Nationen sieht. Faktoren wie die Ansiedlung lutherischer oberdeutscher Kaufleute im schweizerischen Arbon, die integrierende Rolle der evangelischen Gemeinde in Lyon sowie Partnerschaften von oberdeutschen und Schweizer Familien in gemeinsamen Firmen führten dazu, dass diese Konkurrenz im Laufe des 18. Jahrhunderts einem kooperativen Verhältnis wich. Abschließend nimmt Andrea Serles verschiedene Händlerdiasporen in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im 17. und 18. Jahrhundert in den Blick. Neben den traditionell zahlreich dort vertretenen Händlern aus oberdeutschen Reichsstädten und Italien traten im Untersuchungszeitraum vermehrt Juden, Savoyer und osmanische Untertanen in Erscheinung. Serles argumentiert, dass das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz zwischen diesen Händlergruppen maßgeblich von den rechtlichen Rahmenbedingungen abhing. Bürgerliche Kaufleute, sogenannte Niederleger und Hofhandelsleute genossen jeweils spezifische kommerzielle Privilegien. Während diese Gruppen untereinander um lukrative Geschäftsfelder wie die Belieferung des Hofes konkurrierten, waren sie sich in der Ablehnung neuer Konkurrenten wie der „türkischen“ Kaufleute einig. Doch trotz des Widerstands etablierter Händlergruppen konnten sich diese Fremden profitable Handelssektoren erschließen. Konkurrenz und Kooperation im europäischen Fernhandel zeichneten sich mithin – dies wird aus allen vier Beiträgen dieser Sektion deutlich – durch ein hohes Maß an Dynamik aus.

7 Vgl. Richard Gascon: Grand commerce et vie urbaine au XVIe siècle. Lyon et ses marchands (environs de 1520–environs de 1580). Paris 1971.

Heinrich Lang

Konkurrenz sichtbar machen Italienische und süddeutsche Handelsgesellschaften in Lyon und Antwerpen im 16. Jahrhundert

Einleitung Am 14. März 1556 richtete der Florentiner Patrizier und Investor Alamanno Salviati folgende Zeilen an Pandolfo Attavanti & Co, seine Bankiers in Venedig: Wenn wir Euch 4.000 bis 5.000 scudi d’Italia für eine Überweisung nach Lyon unter Eurem Namen zukommen lassen, dann zahlt die Summe auf Lyon oder richtet ein deposito für die dortige Messe auch auf Euren Namen ein. Teilt uns mit, wem Ihr den Auftrag für dieses Geschäft erteilt, seien es die Guadagni unter Euren Freunden und ebenso die Micheli & Arnolfini. Wenn sie Euch den entsprechenden Kredit für den deposito oder Wechsel mit drei Promille einräumen, erkundigt Euch aber, ob Ihr ein solches Geschäft für uns ausführen könnt.1

Dieser Auftrag für ein sehr umfangreiches Geschäft, das Wechseltransfers mit Kredittransaktionen verknüpfte, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Auf einer technischen Ebene werden Praktiken der Investition und Refinanzierung ausgewiesen. Überdies erscheinen konkurrierende Netzwerke, die das Marktgeschehen im Bereich des Zahlungsverkehrs prägten. Und nicht zuletzt zeigt die zitierte Briefstelle, wie Situationen des Wettbewerbs formuliert und mögliche Konkurrenten benannt wurden – oder wie sie durch die namentliche Nennung von Kooperationspartnern wie den in Lyon ansässigen, ursprünglich aus Florenz stammenden Guadagni oder den Lucchesen Micheli & Arnolfini („unter Euren Freunden“) stillschweigend ausgeschlossen werden. Das Schreiben von Briefen zwischen den Beteiligten, wie hier zwischen dem Investor und seinem Bankier, war zudem selbst Teil der Praktiken

1 Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio Salviati [künftig: BAV, AS], no. 303, ac 134v (ac 137 neue Pag.): „Hon.dj etc. alla vostra de 7 istante acade pocha risposta e ci ocore dirvj se vi facesimo venire nelle manj ∇ 4 ho 5\M per rimetergli a L(io)ne soto vostro nome e a L(io)ne farvellj rimetere costì o fargli dipositare per la f(iera) pure sotto vostro nome ci direte a chj conmetestj talle negozio e sse gli Guadagnj soto vostrj amicj e cosj gli Michelj e Arnolfinj / e sse loro vi stesino del credere nel diposito ho cambjo con tre per mille però direte se tale negozio potrete per noj seguire dicendovj ancora che nel rimettere dj costi a L(io)ne ci arete corente a stare del credere con tre per mille però djtecj quello v’ocore per la r(ispost)a vostra“.

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geschäftlicher Konkurrenz. Denn in den Korrespondenzen wurde ein gemeinsamer Wissensbestand für wirtschaftliche Transaktionen konstruiert und gewissermaßen im Gegenzug auf die Verdrängung von Konkurrenten hingewirkt. Im einführenden Beispiel werden stabilisierte Verbindungen aufgerufen: Ein Investor war darauf festgelegt, dass sein Bankier das bestmögliche Ergebnis bei einer Transaktion für ihn herausholte, welches die aufgewendeten Kommissionen und Spesen übertraf. Als Konkurrent erschien, wer zu dieser Begünstigung nicht bereit war und sich dennoch als Option auf den jeweiligen Märkten anbot oder wer als unseriös markierte Strategien für die Selbstbehauptung im Marktgeschehen verfolgte. Korrespondenzen erfüllten in diesem Sinn die Aufgabe, innerhalb von Netzwerken Koordinierung zu leisten und gleichzeitig die geschäftlichen Verbindungen mit exklusiven Kanten zu versehen. Im selben Jahr tätigte Alamanno Salviati ein vergleichbares, dem Betrag nach noch umfangreicheres Geschäft mit Lyon, das er über die Unternehmung eines Cousins, Filippo Salviati & Co in Venedig, laufen ließ. In diesem Zusammenhang wiederholte Alamanno Salviati, der Sohn des Papstbankiers Iacopo und Großcousin des ersten Herzogs der Toskana,2 die aus seiner Sicht entscheidende Qualifikation der Bankiers Redi di Tommaso Guadagni & Co als „amicj siqurj“ – als zuverlässige und sichere Freunde.3 „Amici“ könnte man mit „Geschäftsfreunde“, also vertrauenswürdigen Korrespondenten, übersetzen. Alle von Alamanno Salviati adressierten Bankhäuser – die Erben Tommaso Guadagnis, die Lucchesen Micheli & Arnolfini sowie Filippo Salviati & Co – waren prominente Unternehmen des 16. Jahrhunderts, die namhaften italienischen Familien gehörten.4 In den Korrespondenzen der Kaufmannbankiers finden sich zahllose Fallbeispiele für die Verhandlung von Preisen sowie die Ausweisung von Handlungsspielräumen in Abhängigkeit von Preisen. Denn in den brieflichen Schreiben koordinierten die an den Geschäften Beteiligten ihre Handlungen, um über die Ausgestaltung von Preisen für Güter und Leistungen zu gemeinsamen Verfahrensweisen und damit zu Geschäftsabschlüssen zu gelangen. Insofern bilden sich in den Korrespondenzen Praktiken der Vermarktung ökonomischer Transfers ab. Deshalb wird der tatsächliche Wettbewerb auf Märkten über die diskursive Verarbeitung von Preis-Mengen-Verhältnissen in Transferprozessen sichtbar.

2 Zu den verschiedenen Mitgliedern der Familie Salviati vgl. Pierre Hurtubise: Une Famille-témoin. Les Salviati. Rom 1985. 3 BAV, AS, no. 303, ac 135r (ac 138r neue Pag.), 21.3.1556. 4 Einführend zu den italienischen Kaufmannbankiers in Genf und Lyon: Bruno Dini: I mercanti banchieri italiani e le fiere di Ginevra e di Lione. In: Francesco Salvestrini (Hg.): L’Italia alla fine del medioevo: i caratteri originali nel quadro europeo 1. Florenz 2006, S. 433–456. Vgl. ferner allgemein: Giovanna Petti Balbi: Le ‚nationes‘ italiane all’estero. In: Franco Franceschi u. a. (Hg.): Commercio e cultura mercantile. Treviso 2007, S. 397–423.

Konkurrenz sichtbar machen

Der vorliegende Beitrag bietet einen Problemaufriss zum Thema der Konkurrenz zwischen frühneuzeitlichen Kaufmannsbankiers anhand von Fallbeispielen aus dem Zusammenhang der Geschäftsbeziehungen, die zwischen süddeutschen und italienischen Handelsgesellschaften auf den wichtigen Märkten Lyon und Antwerpen bestanden. Hierbei soll erstens im Anschluss an eine terminologische Klärung aufgezeigt werden, wie Konkurrenz zwischen Unternehmen des 16. Jahrhunderts überhaupt sichtbar wird. Auf dieser Grundlage werden zweitens die Erzeugung von Marktsituationen im Kontext von Netzwerken und drittens die Ausgestaltung des Marktgeschehens zwischen Konkurrenz und Kooperation als Charakteristika des Wirtschaftens von Kaufmannsbankiers am Beginn der Frühen Neuzeit beschrieben.

Sichtbarkeit von Konkurrenz Die Termini Markt (bzw. Marktgeschehen), Netzwerke, Wettbewerb, Konkurrenz und Kooperation werden im vorliegenden Beitrag als Analysekategorien verwendet. Die Blickrichtung, die hier eingenommen wird, wurzelt in einer praxeologischen Sichtweise auf wirtschaftliches Geschehen und fügt die Akteur-Netzwerk-Theorie mit der économie des conventions in einer Perspektive zusammen, die zugleich eng an den Quellen orientiert bleibt.5 Dieser Ansatz impliziert, dass einzelne interaktive Beziehungen auf wirtschaftliche Handlungsmuster hin interpretiert werden und folglich ökonomische Sozialität von konventionell gefügten Handlungsmustern aus betrachtet wird. Das wesentliche Merkmal von Märkten als Arenen des Transfers von Verfügungsrechten ist prinzipiell der Wettbewerb.6 Das bedeutet, dass auf der Anbieterseite und/oder der Nachfrageseite mindestens eine antagonistische, nicht-kooperative Alternative besteht.7 Konkurrenz ist aus der Perspektive ökonomischen Verhaltens als eine Form der Koordination von Handeln anzusehen. Sie entsteht, indem Wahlbzw. Auswahlmechanismen in ökonomische Transfers eingeführt und diese somit in

5 Friederike Elias u. a. (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxishistorischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin u. a. 2014; Tim Neu: Koordination und Kalkül. Die ‚Economie des conventions‘ und die Geschichtswissenschaft. In: Historische Anthropologie 23 (2015), S. 129–147; Lucas Haasis / Constantin Rieske: Historische Praxeologie. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015, S. 7–54; Heinrich Lang: Wirtschaften als kulturelle Praxis. Die Florentiner Salviati und die Augsburger Welser auf den Märkten Lyons (1507–1559). Stuttgart 2020, S. 44–68. 6 Jens Beckert u. a.: Einleitung. Neue Perspektiven für die Marktsoziologie. In: Dies. (Hg.): Märkte als soziale Strukturen. Frankfurt am Main 2007, S. 19–39. 7 Andreas Suchanek u. a.: Art. Wettbewerb. In: Gablers Wirtschaftslexikon. URL: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/wettbewerb-48719/version-271969 (14.07.2020).

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marktförmige Transfers übersetzt werden.8 In diesem Sinne definiert sich Konkurrenz als antagonistisches Verhalten von Anbietern und Nachfragern auf Märkten unter Bedingungen des Wettbewerbs, welcher vor allem als Preiswettbewerb – aber auch in kontrastiver Form von eingespielten Korrespondenten-Netzwerken – realisiert wird.9 Märkte als Bühnen der Koordinierung von Handlungen über Transferprozesse entstehen an den Rändern von Netzwerken.10 Kooperation wird dabei keineswegs nur als intentionale Koordinierung von Interessen begriffen, sondern vielmehr als „signifikante Verdichtung von koordinatorischen Handlungsmustern“.11 Das einleitende Briefzitat exemplifiziert zwei miteinander verschränkte Zusammenhänge: Zum einen beleuchtet es die Praktiken der Konstituierung von Kreditmärkten, zum anderen repräsentiert es Praktiken der Konkurrenz.12 Dieser Befund ist von grundlegender Bedeutung, weil sich die heuristische Frage stellt, wie Wettbewerb und Konkurrenz systematisch überhaupt nachweisbar sind. Die Buchführung als wichtigste Dokumentation unternehmerischen Handelns wirkte Konkurrenzsituationen insofern entgegen, als sie die Koordinierung von Handlungen mit dem Zweck des realisierten Transfers, also die Stabilisierung von Transaktionsmustern in Netzwerken anstrebte und Konkurrenzsituationen gleichsam ex posteriori in erfolgreiche Beziehungen transponierte.13 Aus dem abgeschlossenen Geschäft kann nicht mehr auf vorherige Konkurrenzen rückgeschlossen werden. Retrospektiv lassen sich in kaufmännischen Rechnungsbüchern, die gewissermaßen die Netzwerke der Transaktionen abbilden, kaum unmittelbare Spuren konkurrierenden Verhaltens aufnehmen.14 Dies ist allenfalls indirekt möglich, wenn man sie als Artefakte der Preisbildung interpretiert sowie die Mechanismen und Dynamiken der in ihnen 8 Vgl. Rainer Diaz-Bone: Einführung in die Soziologie der Konventionen. In: Ders. (Hg.): Soziologie der Konventionen. Grundlage einer pragmatischen Anthropologie. Frankfurt am Main / New York 2011, S. 9–41. 9 Ingo Mecke: Art. Konkurrenz. In: Gablers Wirtschaftslexikon. URL: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/konkurrenz-38086/version-261512 (14.07.2020). Die aktuelle Wirtschaftslehre ist auf Wettbewerb als Konkurrenz um den besten Preis fixiert; mit Blick auf frühneuzeitliche Handlungsweisen ist diese Verengung jedoch nicht haltbar. Vgl. Christof Jeggle: Interactions, Networks, Discourses and Markets. In: Andrea Caracausi / Ders. (Hg.): Commercial Networks and European Cities, 1400–1800. London 2014, S. 45–64. 10 Christof Jeggle: Die Konstituierung von Märkten. Soziale Interaktion, wirtschaftliche Koordination und materielle Kultur auf vorindustriellen Märkten. In: Annales Mercaturae 2 (2016), S. 7–32. 11 Lang, Wirtschaften, S. 291. 12 Vgl. zum Begriff der Praktiken Marian Füssel: Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. Köln u. a. 2015, S. 21–33. 13 Lang, Wirtschaften, S. 567–590. 14 Vgl. Cheryl S. McWatters / Yannick Lemarchand: Merchant Networks and Accounting Discourse: The Role of Accounting in Network Relations. In: Accounting History Review 23 (2013), S. 49–83.

Konkurrenz sichtbar machen

festgehaltenen Transaktionen analysiert. Denn Rechnungsbücher lenken den Blick auf verschiedene Preise von Waren oder auf die Kursgestaltung im Wechselverkehr. Wenn wir also Konkurrenz als vorläufig im Verhältnis zum konstruktiven Moment der Buchführung interpretieren, können wir Konkurrenzsituationen rückblickend erschließen: etwa bei der Entschlüsselung von Arbitragegewinnen auf Wechselgeschäfte, die mit dem üblichen Zahlungsverkehr nach- und vorgelagert verknüpft werden. Briefliche Korrespondenzen hingegen, mittels derer Kaufmannbankiers ihre Adressaten zur Koordinierung ihres Handelns bewegen wollten, leuchten jenseits der unmittelbaren geschäftlichen Zielsetzung – sozusagen gegen den Strich gelesen – die Praktiken des Konkurrierens aus. Briefe waren im 16. Jahrhundert das wichtigste Medium der Außenkommunikation einer Unternehmung. In ihnen werden nicht nur Konkurrenzsituationen inhaltlich zum Ausdruck gebracht; vielmehr kann das Briefeschreiben selbst als eine Praxis des Konkurrierens betrachtet werden.15 Diese abstrakten Beobachtungen sollen im folgenden empirischen Teil dieses Beitrags veranschaulicht werden.

Vermarktung und Wettbewerb Besonders eklatant zeigen sich Konkurrenzsituationen im Zusammenhang mit der Aushandlung von Preisen für Waren und Leistungen. Das Ringen um Preise, die als angemessen empfunden wurden, lässt sich in den merkantilen Korrespondenzen leicht nachvollziehen. Bei Kommissionsgeschäften spielte die Verhandlungsbereitschaft in Vertretung eines Auftraggebers die entscheidende Rolle für eine vorteilhafte Transaktion. Ein Brief von Averardo e Piero Salviati & Co in Lyon an die Faktorei von Bartholomäus Welser & Mitverwandten in Antwerpen vom 14. April 1537 soll dieses Argument exemplifizieren.16 Darin beklagt der Florentiner Geschäftsführer Lionardo Spina die nachteilige Behandlung der Salviati beim Ankauf von Zinnober: Was das Zinnober betrifft […] Im letzten Monat haben wir daher großen Nachteil und Schaden davongetragen. Die Eurigen haben damit ein Geschäft gemacht, so dass sie

15 Zu Briefen als Teil der Buchführung vgl. Heinrich Lang: Wissensdiskurse in der ökonomischen Praxis. Kaufmannbankiers als Experten der Märkte im 16. Jahrhundert. In: Marian Füssel u. a. (Hg.): Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Märkte vom 13. bis 18. Jahrhundert. Göttingen 2017, S. 141–168. 16 Zu den Salviati in Lyon: Lang, Wirtschaften, S. 194–247; zu den Welsern in Lyon: ebd., S. 269–280; zu den Welsern in Antwerpen: Peter Geffcken / Mark Häberlein: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496–1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft. Stuttgart 2014, S. XV–CXXXV.

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oder andere uns dazu verpflichtet haben, [zum Preis von] 100 cantara bis zu 150 cantara [zum Verkauf] abzunehmen. Im Sinne dieses Geschäfts sagen die Eurigen, dass sie auf Anweisung der Firmenchefs in Augsburg gehandelt haben zugunsten einer aktuellen Preisdifferenz, die Euch gefällt. Sie wollten, dass die Eurigen 16 grossi pro Pfund Gewicht zahlen, wir hingegen [wollten] 5 Pfund Gewicht auf 76 grossi [= 15,2 grossi/Pfund Gewicht] [erhalten], letztlich [also] keine große Differenz.17

Diese Beschwerde, die auf bessere Preise bei künftigen Ankäufen von Zinnober durch das Florentiner Handelshaus abzielte, legt außerdem eine Besonderheit offen: das Faktoreisystem der Süddeutschen, also die Existenz fester Niederlassungen innerhalb eines räumlich gespreizten Netzes, die von weisungsgebundenen Angestellten geführt wurden. Bei dieser Organisationsform traten offenkundig Reibungsverluste aufgrund verzögerter Kommunikation oder eigenwilligen Geschäftsgebarens der Faktoren auf.18 Während die Preisverhandlungen im Warenhandel – wie im unmittelbar vorangegangenen Beispiel – relativ leicht zu eruieren sind, erweisen sich vergleichbare Handlungsanweisungen für den Wechselhandel als deutlich komplexer. Hier wurden in den Briefen häufig nur die Kursmargen erklärt und das konkrete Vorgehen ansonsten hinter floskelhaften Formulierungen verborgen, dass man etwa den größtmöglichen Vorteil für einen Geschäftsfreund bei einer Transaktion herausholen möge („vantaggiare“).19 Diese Formelsprache beschreibt Verfahrensweisen, die jenseits der Briefwelten liegen: Die Auftraggeber einer Transaktion waren letztlich darauf angewiesen, dass der ausführende Wechselhändler das Geschäft zu günstigen Konditionen abwickelte. Dafür konnte der Kommissionär die Wechselkommission einbehalten.20

17 Heinrich Lang (Hg.): Internationale Kapital- und Warenmärkte, transalpiner Handel und Herrscherfinanzen. Die Kooperation zwischen den Handelsgesellschaften der Welser und den Florentiner Kaufmannbankiers Salviati. München 2020, Dokument III.31.5: „Sopra de cinabri ci maravigliamo non pocho di quanto ci escrivete che non ve ne trovate per avere tutto venduto causa che non vi si rispose subito che sopra di ciò vi laseremo rispondere a questi vostri et in vero se non c[i] arete mandato el meno sino a 100 c(antar)a per tutto mese paxato riccireremo [!] torto grandissimo e gran danno al sì / questi vostri ne fecono mercato così cci obrighorno o li altre a li 100 c(anta)ra pigliarne sino 150. se ce li voresta dare a quello mercato dicono l’ànno fatto per ordine de mag[gio]ri di Agusta quanto alla diferenza vi piaccerà siamo el priso loro volevono li pagassino go 16 lb e noj volevono [!] 5 lb per go 76 s [?] di q(uest)a pocho diferenza“. 18 Vgl. Markus A. Denzel: „Wissensmanagement“ und „Wissensnetzwerke“ der Kaufleute. Aspekte kaufmännischer Kommunikation im späten Mittelalter. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 6 (2001), S. 73–90. 19 Vgl. Domenico Gioffre: Gênes et les foires de change de Lyon à Besançon. Paris 1960. 20 Einführend in die Thematik: Lang, Wissensdiskurse; Nadia Matringe: La Banque en Renaissance. Les Salviati et la place de Lyon au milieu du XVIe siècle. Rennes 2016.

Konkurrenz sichtbar machen

Diese Praktiken verdeutlicht eine auf den 20. Mai 1526 datierende Briefpassage, in der Lionardo Spina gegenüber der Welser-Faktorei auf den Kastilischen Messen moniert, seine Augsburger Geschäftsfreunde hätten den Salviati nicht den besten Wechselkurs berechnet: Ihr habt auf dieser Messe Wechsel zu 1.865 3/7 scudi di marchi in drei Tranchen auf uns gezogen zum Kurs von 329 maravedís per scudo. […] Weiter gibt es dazu nichts zu sagen, außer dass Ihr uns nicht gut bedient habt. Andere haben einen Wechselkurs von 339 maravedís gemacht, Ihr hingegen von nur 329 maravedís per scudo. […] Wir tragen ganz anders Sorge um Eure Angelegenheiten und diejenigen Eurer Prinzipale, welche Ihr offenbar nicht um unsere Briefe habt. Allerdings glauben wir, dass Ihr Euer Bestes gegeben habt.21

Bereits das Eingangszitat dieses Beitrags verweist auf Konkurrenzverhältnisse, die zwischen den verschiedenen Wechselkonstellationen standen. Das Vorhandensein unterschiedlicher Preise sowie die Anpassung der Konditionen bildeten die Bedingungen für die Suche nach vorteilhaften Konstellationen zur Abwicklung von Geschäften. In seinem Brief von 1556 bezog sich Alamanno Salviati auf die Konstituierung von Märkten, die sich an Darlehen für die französische Krone anlagerten. Die Koordinierung von Handlungen für geschäftliche Transfers sollte die Überwindung von Risiken und Unsicherheiten bewirken. Doch durch die Vermarktung der Transfers im Kontext der Kronanleihen erzeugten die Kaufmannsbankiers ein Marktgeschehen, damit sie eben auch Gewinn aus dem Wettbewerb um die in den Wechselhandel eingebetteten Transfers herausschlagen konnten. Die Generierung von secondary markets, also von an die Kronanleihen angelagerten Märkten, hegte die mit den Darlehensgeschäften verbundenen Ausfallrisiken entscheidend ein, weil eine binäre Schuldbeziehung in ein größeres Geflecht von Marktbeziehungen hinein verlagert wurde. Durch Refinanzierung der Transfers auf den Geldmärkten der mittleren Dekaden des 16. Jahrhunderts über den Wechselhandel zwischen Lyon, Antwerpen und Kastilien wurden die Märkte für Wechselbriefe sprunghaft enorm aufgebläht. Je höher die gewechselten Beträge wurden, desto leichter ließen sich Wechselkommissionen und Arbitragegewinne abschöpfen. Die im Zusammenhang mit dem Wechselhandel virulenten Konkurrenzverhältnisse befeuerten diese Verfahrensweisen zusätzlich.22 21 Lang, Internationale Kapital- und Warenmärkte, III.20.5: „c[i] avete t(rat)to su q(uest)a f(ier)a ∇ 1865 3 /7 in 3 partite a[v]utj a [mrs] 329 per ∇. abbiamo lj paghatj e postj a nostro chonto e viene parj e alttro non s’à dirne salvo che c[i] avete servitj molto male. altrj c[i] ànno trattj a [mrs] 339 e voj a 329 […] noj aremo altra chura delle chose vostre e delle [[lettere]] de’ vostrj maggorj che non avete delle [[lettere]] nostre. pure chrediamo abbiate fatto ill meglio avete potutto.“ 22 Lang, Wirtschaften, Kap. V.2.

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Konkurrenz und Kooperation Die Praxis des Briefschreibens war integraler Bestandteil des Aushandelns von Konkurrenz und Kooperation. Zum einen war die Korrespondenz selbst ein Medium der Koordinierung von Handlungen und insofern ein Instrument des Wettbewerbs. Zum anderen formulierten die Briefschreiber konkrete Konkurrenz- und Kooperationssituationen. Am 15. Mai 1521 erklärte etwa der Direktor der SalviatiGesellschaft in Lyon gegenüber den Augsburger Geschäftspartnern, dass sie sich für die Bezahlung eines Wechsels wahlweise an diesen oder jenen Korrespondenten wenden könnten: […] sorgt dafür, dass Ihr die promessa und die Bezahlung [für unseren Wechsel erhaltet] und zeichnet alles auf. Zum gegebenen Zeitpunkt verfasst das entsprechende Schriftstück für das Konto und remittiert auf der Augustmesse dasjenige, was übrig ist, indem Ihr uns einen möglichst großen Vorteil einräumt. Und wenn Francesco del Rio nicht zahlt, dann fragt Alonso di Santa Gadea; beide auf Euch [verbucht].23

Weil die Salviati in den 1520er Jahren durch keine eigene compagnia an der Schelde vertreten waren, hatten sie permanenten Abstimmungsbedarf mit ihren Geschäftsfreunden darüber, wer die anberaumten Transaktionen in Antwerpen würde erfüllen können.24 Dass dabei die Preise mitunter erheblich variieren konnten, haben wir bereits gesehen. Die Benennung alternativer Korrespondenten zeigt die Offenheit der Lösungswege an. Es hing also von den jeweiligen Beteiligten ab, inwieweit ein Wechselgeschäft zur Zufriedenheit des Auftraggebers durchgeführt werden konnte. Das Bedürfnis, den Einsatz bestimmter Korrespondenten durch eine entsprechende Empfehlung zu veranlassen, zeugt davon, dass tatsächlich mehrere Anbieter gewissermaßen im Hintergrund um dieselbe Transaktion konkurrierten. Der Nachdruck, mit dem Lionardo Spina für die Salviati in Lyon gegenüber der Antwerpener Faktorei von Bartholomäus Welser & Mitverwandten am 15. Juli 1522 für das Flo-

23 Lang, Internationale Kapital- und Warenmärkte, III.15.3 (an Bartholomäus Welser & Mitverwandte in Antwerpen): „faretto d’avere promes[s]a e pag(amen)to e li da voy nota e al tempo ne pasate la schriptura chonporre a ditto chontto e quello v’avanzerà ce lj rimetetj per f(ier)a d’Aghosto vantaggiando il possibile e se Franc(esc)o del Rio non pagha, lì domandatte Alonso di Santta Ghadea che sono sopra di voj.“ 24 Dazu aus einer markant süddeutschen Perspektive: Mark Häberlein: Fugger und Welser: Kooperation und Konkurrenz 1496–1614. In: Mark Häberlein / Johannes Burkhardt (Hg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Berlin 2002, S. 223–239.

Konkurrenz sichtbar machen

rentiner Bankhaus Bernardo e Antonio Gondi & Co als Korrespondenten warb, veranschaulicht die Wettbewerbssituation:25 Bernardo e Antonio Gondi & Co haben Euch einige Aufträge erteilt zum besagten Termin vom 15. August, und wir wissen nicht, ob es noch nötig ist, Euch die Gondi zu empfehlen. Sie haben auf uns einen Wechsel auf ihr Loro-Konto gezogen, und entsprechend wurden 3.000 scudi di marchi bei uns eingezahlt. Sorgt für den Abschluss des Geschäfts und bewertet es genau demnach, wie sie Euch den Auftrag erteilt haben. Wir sind zufrieden, dass Ihr die [Transaktion] bis zur besagten Summe von 3.000 scudi di marchi über uns laufen lasst […] Auch wollen wir Euch die Angelegenheiten der Gondi empfehlen, als ob sie unsere eigenen [Partner] wären.26

Allerdings konnten Briefe auch gegensätzliche Verhaltensweisen bewirken, wenn man ausdrücklich vor einem am Marktgeschehen Beteiligten warnte oder ein Netzwerk gegen das andere ausspielte.27 Wie eng ein solches Gebaren mit der originären Wettbewerbssituation zusammenhing, lässt sich über die Verknüpfung der Diskurse der Preisfindung mit der Markierung von Korrespondenten zeigen. Ein ausführliches Zitat aus einem Schreiben, das die Salviati am 20. Februar 1527 aus Lyon an die Faktorei der Welser in Antwerpen adressierten, legt diese Verknüpfung paradigmatisch offen: Dieser Brief soll Euch den Hinweis darauf geben, dass ein Lucchese hohe Beträge zu Wechsel [auf Antwerpen] gegeben hat, oder den Hinweis darauf, dass der Geldwert auf jeden Fall gesenkt werden muss […] Man fing an zum Kurs von 79 grossi per scudo di marchi zu zahlen. Wenn der Zahlungstermin für diese Messe ungefähr am 14. April kommen wird und die [entsprechenden] Währungen für die Zahlungen bewertet werden, soll er abgesunken sein auf 78 grossi und schließlich auf 77 grossi per scudo di marchi […] wir glauben, dass man dabei nicht verlieren kann, wenn man rund 10.000 scudi di marchi in die Hand nimmt, so dass man einen Kurs von 78 2/3 grossi erzielen kann. […] Wir

25 Zu den Gondi vgl. Sergio Tognetti: I Gondi di Lione. Una banca d’affari fiorentina nella Francia del primo Cinquecento. Florenz 2013. 26 Lang, Internationale Kapital- und Warenmärkte, III.15.9: „Bernardo e Ant(oni)o Ghondj e co di quj vi ànno comesso alchuna chosa per ditto termine de 15 d’aghosto prox(i)mo e anchora che sapiamo che non bisognj no vogliamo manchare di rachomandarvj le chose loro. ànnocy t(rat)to per loro chontj sechondo di ànno ditto ci recha ∇ 3000 di mi daretevj compenimento e valetevj s(econ)do v’ànno hordinato esendo di bisognjo. siamo chontentj lo facciate sopra di noj sino a ditta somma di ∇ iijM avisandocj di quello che seghuirete e chome è ditto anchora che non sia debito . pure vi vogliamo rachomandare le chose loro chome le propri nostre.“ 27 Stephan Selzer / Ulf C. Ewert: Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des Hansischen Handels. In: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 135–161.

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möchten vielmehr, dass Ihr uns dabei helft, etwas Gewinn einzufahren, indem Ihr auf uns während der aktuellen Messe eine gewisse [angemessen hohe] Summe zieht, die so hoch sein möge, dass – wenn die Bewertung der Rückzahlungen kommt […] – wir bei niedrigerer [Bewertung] nichts zu verlieren haben […].28

Die Spekulation auf eine bestimmte Kursentwicklung sowie die Beeinflussung (oder gar Manipulation) der Währungswechsel durch die Investition eines hoch angesetzten Betrags wird hier verkoppelt mit der Schuldzuweisung an einen nicht näher benannten Luccheser Bankier, der durch den Transfer einer hohen Summe die Kurse zulasten des Standorts Antwerpen zum Absturz gebracht haben soll. Die flexible Reaktion, die Lionardo Spina seinen oberdeutschen Korrespondenten an der Schelde nahelegt, war indes an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Die Florentiner Handels- und Bankgesellschaft der Salviati setzte darauf, mit ihren Augsburger Geschäftsfreunden durch den Einsatz eines hohen Betrags im Wechselhandel über den Standort Antwerpen die eingetretene Kursentwicklung aufzufangen und zugunsten der Rückwechsel zu verschieben. Damit offenbart sie die Bedeutung kooperativen Verhaltens, um Konkurrenzsituationen auszugleichen. Wiederholt ist bereits bemerkt worden, dass diese Wechseltransfers netzwerkförmig organisiert wurden. Daher ist weniger vom Wettbewerb zwischen einzelnen Unternehmen auszugehen, als vielmehr Konkurrenz zwischen sich koordinierenden Gruppen anzunehmen. Die Tendenz zur Bildung von Netzwerken für die Absicherung gegen Risiken scheint nur auf den ersten Blick der Konkurrenz bei Vermarktung entgegenzuwirken. Stattdessen ist von einander ergänzenden Handlungsketten zwischen Netzwerken und Konkurrenz auszugehen. In den hier zitierten Briefen unternahmen die Kaufmannbankiers die Koordinierung dieser Schemata zu möglichst stabilisierten Geschäftsbeziehungen. Die brieflichen Korrespondenzen hatten strukturierende Bedeutung für das Handeln auf Märkten. Denn der Koordinierung von Handlungen unterlag eine

28 Lang, Internationale Kapital- und Warenmärkte, III.19.1: „[…] questa per darvj avixo chome qui c’è stato qualche luchese che à dato a chanbio grossissimo partite per chostì o sia per qualche avixo che le monete abbino a ogni modo abassare o per alchuna comessione o che altro si sia. chominciorno a chanbiare a gi 79 per ∇ di mi per paghare. quando verrano e’ paghamentj di questa f(ier)a che sarà circha a 15 d’aprile et la valuta daranno su questi paghamentj. di poj sono abasati a gi 78 e in ultimo a gi 77 et seghuono di dare di maniera ciaschuno sta sospeso. noj pensando non possere perdere, abia preso circha di ∇ x\M che l’una per l’altra ci venghono a gi 78 2 /3 . vedremo chome li chanbi passeranno. […] vorremo che ci aiutassi ghuadagniare qualchosa, però possendo all’auta trarcj per q(ues)ta prexente f(ier)a qualche somma chon q(uan)to che la valuta vi fussi data su paghamentj del ritorno di q(ues)ta f(ier)a […] facessj in modo che quando bene le monete abassassino noj non avessimo a perdere […] quando vi paressi di pigliare per Pasqua proxima avendo gi 80 per ∇ et che li danari servissino a paghare le nostre tratte.“

Konkurrenz sichtbar machen

Art pragmatischen Systemvertrauens:29 Die zu Handlungsmustern geronnenen Koordinierungsleistungen basierten auf dem Vertrauen in routinierte Verfahrensweisen, durch welche die Vermarktung wirtschaftlicher Transfers und die daran anknüpfende Einhegung von Konkurrenzsituationen ermöglicht wurden. Vor allem im bargeldlosen Zahlungsverkehr mussten die beteiligten Kaufmannbankiers auf die Abwicklung ihrer Transaktionen vertrauen können. Da der Wechselhandel auf einer an zwei unterschiedlichen Orten durchgeführten Zahlung vermittels schriftlicher Wertausweisungen beruhte, war die termingerechte Koordination zwischen den Korrespondenten wesentlich für die Realisierung des Transfers. Deshalb artikulierten die Händler in ihren Korrespondenzen die immer gleichen Handlungspräskripte des Ablaufs von Zahlungsvorgängen. Sinnbildlich für die Rolle, die das investierte Vertrauen für die Abwicklung hoher Geldtransfers spielte und wie sie von Beteiligten dargestellt wurde, sind die Worte des mehrfach erwähnten Investors Alamanno Salviati, welche er am 18. April 1556 an seinen Bankier in Lyon, Piero Mannelli, richtete: Was das Vertrauen in jene Lucchesen betrifft, bin ich zufrieden mit einem Betrag von bis zu 3.000 scudi di marchi zur Kasse derjenigen vier, von denen Ihr sagt, dass sie Euch die Richtigen zu sein scheinen [für eine solch hohe Transaktion], also 3.000 scudi di marchi an die Buonvisi, die Micheli & Arnolfini, die Balbani und die Bernardini & Guinigi. […] Was das Vertrauen in die Genuesen betrifft […] sprecht ein Motto aus und gebt darüber Nachricht, wer sie sind [und ob sie die entsprechenden Transaktionen abwickeln können] […].30

Bemerkenswert ist hierbei, wie Alamanno Salviati mit der Kategorie des Vertrauens („fede“) umgeht. Während die möglichen Korrespondenten aus Lucca bereits bekannt waren, würde sich die Verlässlichkeit der Genueser Kaufmannsbankiers erst noch erweisen müssen. Das hier bemühte ‚Systemvertrauen‘ ist vergleichbar mit dem „operativ pragmatischen Wissen“ als Handlungskonzept, das eher der Universalpragmatik eines Jürgen Habermas entspricht als der oft behaupteten „Ressource“

29 Den Begriff des „pragmatischen Systemvertrauens“ formuliere ich in Anlehnung an die dem kommunikativen Handeln zugrunde liegende Universalpragmatik: Jürgen Habermas: Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie (1970/71). In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1989, S. 11–126. 30 BAV, AS, no. 303, ac 140v (143v neue Pag.): „Circha all fidare a cotestj Luchessj mi conte(en)to djate sino a ∇ tremilla per chassa delle quattro che dite vi parebbe si possj fare c(i)oè ∇ tremilla a Buonvissj al tantj a Michellj ett Arnolfinj al tantj a Balbanj el simile a Bernardinj e Guinigi e parendovi che alchuni di loro tremila sia troppo q(uest)o resta nella prudenze vostra a considerare quello s’à bixogno et quanto all fidare a Genovessj q(uan)do loro sarano venutj ve direte j° motto dando avisso chi e’ sono […].“

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des Vertrauens in Netzwerkkontexten. Denn der Begriff der Universalpragmatik richtet sich auf die kommunikativen Bedingungen der Möglichkeit für das Gelingen von Kommunikation: Die abstrakte Wertigkeit des Buchgeldes gründete auf einer konventionellen Akzeptanz, die durch die stete Wiederholung bei der Koordinierung von Transferhandlungen bekräftigt wurde.31 Dem Investor kam es jedenfalls auf die Pragmatik der Handlungsmuster an, um Konkurrenzsituationen für seinen Gewinn ausschöpfen zu können.

Ausblick Einerseits benötigten die Kaufmannbankiers die für Märkte konstitutiven Konkurrenzsituationen, um Gewinne aus dem in Alternativen angelegten Transfer von Geld ziehen zu können. Andererseits waren sie stets darum bemüht, durch Seriengeschäfte und den Rückgriff auf eingespielte Transaktionsmuster die Konkurrenzsituationen zu entschärfen. Sie hegten zudem durch die Generierung von Netzwerken Risiken ein. Auf kommunikativer Ebene versuchten sie, die Handlungen ihrer Korrespondenten miteinander zu koordinieren – immer mit dem Ziel, die eigens angeschobene Vermarktung in wiederholten Handlungsmustern zu stabilisieren. Geschäftsfreundschaft – der Umstand, dass jemand der amico jemandes anderen ist – bedeutete, wie wir beobachtet haben, nicht etwa grundsätzlich, dass ein besonders günstiger, also billiger Preis für eine Ware oder eine Leistung angeboten werden sollte. Im Gegenteil, Geschäftsfreund im 16. Jahrhundert war eher derjenige, der sich bereit zeigte, eigene Nachteile hinzunehmen: also einen höheren Preis als die Konkurrenz zu bezahlen. Bei den hier vorgestellten Geschäften und den dazugehörigen Korrespondenzen ging es zumeist um die Koordination zwischen Kaufmannbankiers, die mitunter verschiedenen Nationes angehörten. Auf den großen Märkten wie den Lyoner Messen waren sich die potentiell an Transaktionen beteiligten Kaufmannbankiers wenigstens zunächst einander fremd. Dies gilt besonders, wenn man bedenkt, dass es die Florentiner bevorzugten, untereinander Geschäfte zu tätigen. Dabei mussten sie dann weitaus weniger um Vertrauen werben. Man bewegte sich demnach in eingespielten Bahnen. Die Formulierungen in den Korrespondenzen, die der Koordinierung von Handlungen dienten, waren allerdings stets gleich – egal, an wen sie gerichtet waren. 31 Vgl. dazu zuletzt Lang, Wissensdiskurse. Zur Universalpragmatik vgl. Habermas, Vorlesungen. Vgl. Stefan Gorißen: Der Preis des Vertrauens. Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel. In: Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, S. 90–118.

Konkurrenz sichtbar machen

Letztlich wickelte man die Transfers in einem vergleichsweise kleinen Kreis von Geschäftspartnern ab, in welchem jeder jeden trotz der Ansiedlung an verschiedenen Orten kannte. Anders ausgedrückt: Die Welt dieser Bankiers bestand aus einem verhältnismäßig engen Zirkel, einer Art face-to-face community. Insofern bewegte sich Konkurrenz im Rahmen genau kontrollierbarer Spielregeln, innerhalb derer die Kaufmannbankiers agierten. Die Teilnahme an jenem Spiel hing im Wesentlichen von der Erfüllung der konventionellen Erwartungen an die Transaktionen bzw. die geschäftlichen Korrespondenten ab. Dabei traten Verknüpfungen von Transaktionsbeziehungen in Konkurrenz zueinander – allerdings nur in dem Maße, in dem eine für die Beteiligten akzeptable Rekombination von miteinander verwobenen Korrespondenten realisierbar war. Somit konnten aus der Spannung von Kooperation und Konkurrenz einträgliche Geschäfte resultieren.

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Von neuen Märkten profitieren Oberdeutsche, Florentiner und Genuesen auf der Iberischen Halbinsel im frühen 16. Jahrhundert

Einleitung Für die großen Handelsgesellschaften der süddeutschen Reichsstädte war die Iberische Halbinsel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein zentraler Wachstumsmarkt: Bildete der Handel mit Safran aus Aragón und Katalonien bereits vor 1500 einen wichtigen Geschäftszweig von Unternehmen wie der Ravensburger Handelsgesellschaft,1 so eröffneten die portugiesischen maritimen Expeditionen zu den Gewürzmärkten Asiens sowie der Aufstieg Sevillas im Kontext der atlantischen Expansion Spaniens den Oberdeutschen neue geschäftliche Perspektiven. Nach der Wahl des spanischen Königs Karl zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1519 bildete zudem die Kreditvergabe an den Herrscher, die mit der Übernahme von Steuer-, Zoll- und Rentenpachten gekoppelt war, ein bedeutsames Betätigungsfeld, von dem insbesondere die Augsburger Fugger- und Welser-Gesellschaften profitierten.2 Während Fernand Braudel postulierte, dass das „Zeitalter der Fugger“ im westeuropäischen Handels- und Finanzgeschäft um die Mitte des 16. Jahrhunderts von einem „Zeitalter der Genuesen“ abgelöst worden sei,3 zeigen neuere Quellenpublikationen, dass in der ersten Jahrhunderthälfte eher von einer gleichzeitigen Präsenz von Oberdeutschen und Italienern – insbesondere Genuesen und Florentinern – auf den iberischen Märkten auszugehen

1 Aloys Schulte: Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (1380–1530). 3 Bde. Stuttgart 1923; Andreas Meyer: Fernhandel mit Spanien im Spätmittelalter. Die Ravensburger HumpisGesellschaft. In: Dieter R. Bauer u. a. (Hg.): Oberschwaben und Spanien an der Schwelle zur Neuzeit. Einflüsse, Wirkungen, Beziehungen. Ostfildern 2006, S. 33–52. 2 Vgl. Hermann Kellenbenz: Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560. Ein Großunternehmen des 16. Jahrhunderts. 3 Bde. München 1990; Stephanie Haberer: Wirtschaftliche Beziehungen zwischen Augsburg und Spanien. Der Spanienhandel der Fugger. In: Bauer u. a., Oberschwaben und Spanien, S. 53–70. 3 Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Bd. 3. Aufbruch zur Weltwirtschaft. München 1986, S. 167. Braudel bezog sich hier insbesondere auf Richard Ehrenberg: Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert. 2 Bde. Jena 1896 und auf ein ungedruckt gebliebenes Manuskript von Felipe Ruiz Martín: El siglo de los genoveses en Castilla, o. J.

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ist.4 Auf diesem Befund aufbauend geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, was diese Kopräsenz für die beteiligten Akteure bedeutete, in welchen Formen sie miteinander kooperierten und auf welchen Geschäftsfeldern sie konkurrierten. In der handelsgeschichtlichen Forschung existiert eine lange Tradition, einzelne kaufmännische Nationes auf der Iberischen Halbinsel isoliert zu betrachten und deren kommerzielle Aktivitäten, Interaktionen und soziale Integration gesondert zu untersuchen. So haben sich etwa Konrad Haebler, Hermann Kellenbenz, Walter Großhaupt und Jürgen Pohle mit der oberdeutschen Präsenz in Spanien und Portugal im frühen 16. Jahrhundert,5 Ruth Pike, David Igual Luis, Germán Navarro Espinach und Francesco Guidi Bruscoli mit der Rolle der Italiener im selben Zeitraum befasst.6 Bereits 1970 eröffnete ein von Hermann Kellenbenz herausgegebener Sammelband indessen auch eine vergleichende Perspektive,7 und seither haben Enrique Ottes Arbeiten zur Sevillaner Kaufmannschaft8 sowie Eberhard Crailsheims Studie zu den französischen und flämischen Händlergemeinschaften in der andalusischen Metropole9 die Perspektive auf Parallelen, Differenzen und

4 Hermann Kellenbenz / Rolf Walter (Hg.): Oberdeutsche Kaufleute in Sevilla und Cádiz (1525–1560). Eine Edition von Notariatsakten aus den dortigen Archiven. Stuttgart 2001; Peter Geffcken / Mark Häberlein (Hg.): Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft 1496–1551. Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft. Stuttgart 2014. 5 Konrad Haebler: Die Geschichte der Fuggerschen Handlung in Spanien. Weimar 1897; Ders.: Die überseeischen Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter. Leipzig 1903; Hermann Kellenbenz: Die Fuggersche Maestrazgopacht (1525–1542). Tübingen 1967; Ders., Die Fugger in Spanien und Portugal; Walter Großhaupt: Bartholomäus Welser (25. Juni 1484–28. März 1561). Charakteristik seiner Unternehmungen in Spanien und Übersee. Diss. Graz 1987; Ders.: Die Welser als Bankiers der spanischen Krone. In: Scripta Mercaturae 21 (1987), S. 158–188; Jürgen Pohle: Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jahrhundert. Münster u. a. 2000. 6 Ruth Pike: Enterprise and Adventure. The Genoese in Seville and the Opening of the New World. Ithaca (NY) 1966; David Igual Luis / Germán Navarro Espinach: Los Genoveses en España en el tránsito del siglo XV a XVI. In: Historia, instituciones, documentos 24 (1997), S. 261–332; Francesco Guidi Bruscoli: Bartolomeo Marchionni „homem de grossa fazenda“ (ca. 1450–1530). Un mercante fiorentino a Lisbona e l’impero portoghese. Florenz 2014. Zu den Genueser Bankiers der spanischen Krone im Zeitalter Philipps II. vgl. u. a. Carlos Javier de Carlos Morales: La hacienda real de Castilla y la revolución financiera de los genoveses. In: Chronica nova 26 (1999), S. 37–78; Maurico Drelichman / Hans-Joachim Voth: Lending to the Borrower from Hell. Debt, Taxes and Default in the Age of Philip II. Princeton 2016. 7 Hermann Kellenbenz (Hg.): Fremde Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel. Köln / Wien 1970. 8 Enrique Otte: Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, hg. von Günter Vollmer und Horst Pietschmann. Stuttgart 2004; Enrique Otte Sander: Sevilla siglo XVI. Materiales para su historia económica. Sevilla 2008. 9 Eberhard Crailsheim: The Spanish Connection. French and Flemish Merchant Networks in Seville 1570–1650. Köln u. a. 2016.

Von neuen Märkten profitieren

Interaktionen zwischen verschiedenen Nationes auf der Iberischen Halbinsel erweitert. Rolf Walter fiel bei der Fertigstellung der von Kellenbenz begonnenen Edition von Notariatsakten aus Sevilla und Cádiz ebenfalls auf, dass die edierten Dokumente zahlreiche Informationen zu geschäftlichen Beziehungen und Konflikten zwischen Oberdeutschen und Italienern enthalten.10 Diese Interaktionen werden im Folgenden näher betrachtet. Vorab gilt es sich jedoch drei Rahmenbedingungen bzw. Grundannahmen bewusst zu machen. Erstens stießen die oberdeutschen Handelsgesellschaften, die nach 1500 in den Königreichen Aragón, Kastilien und Portugal Handelsniederlassungen (Faktoreien) errichteten, dort bereits auf eine massive italienische Präsenz. In Valencia, Valladolid, Sevilla und Lissabon bestanden seit dem 15. Jahrhundert zahlenmäßig starke, innerhalb wie außerhalb der Iberischen Halbinsel eng vernetzte italienische Kaufmannsgemeinschaften, die unter anderem namhafte finanzielle und logistische Beiträge zu den spanischen und portugiesischen Entdeckungsfahrten im Atlantik sowie im Indischen Ozean leisteten.11 Unter diesen Bedingungen konnte oberdeutschen Handelsgesellschaften die Etablierung auf der Iberischen Halbinsel nur gelingen, wenn sie ein kooperatives Verhältnis zu den italienischen communities aufbauten. Zweitens waren oberdeutsche Kaufleute insofern gut auf die Zusammenarbeit mit Italienern auf der Iberischen Halbinsel vorbereitet, als sie selbst in hohem Maße von einer italienischen kommerziellen Kultur geprägt waren. Augsburger und Nürnberger Kaufmannssöhne begannen ihre Ausbildung in der Regel in einer italienischen Stadt – häufig in Venedig –, wo sie sich im Rahmen einer mehrjährigen Lehrzeit die Sprache, die Techniken der Buchführung und des kaufmännischen Rechnungswesens sowie die Handelsusancen aneigneten.12 Wenn sie später auf die Iberische Halbinsel kamen, verfügten sie demnach bereits über die sprachlichen, kommerziellen und kulturellen Voraussetzungen, um mit Italienern in einen fruchtbaren Austausch zu treten. Drittens verbindet sich damit die Annahme, dass

10 Kellenbenz / Walter, Oberdeutsche Kaufleute, S. 34, 37 f. 11 Vgl. u. a. Pike, Enterprise and Adventure; Consuelo Varela: Colón y los florentinos. Madrid 1988; David Igual Luis: Valencia y Sevilla en el sistema económico genovés de finales del siglo XV. In: Revista d’Història Medieval 3 (1992), S. 79–116; Luis / Espinach, Los Genoveses; Guidi Bruscoli, Bartolomeo Marchionni. 12 Vgl. Heinrich Lang: Fremdsprachenkompetenz zwischen Handelsverbindungen und Familiennetzwerken. Augsburger Kaufmannssöhne aus dem Welser-Umfeld in der Ausbildung bei Florentiner Bankiers um 1500. In: Mark Häberlein / Christian Kuhn (Hg.): Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke. Wiesbaden 2010, S. 75–92; Helmut Glück u. a.: Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Die Reichsstädte Augsburg und Nürnberg vom 15. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Wiesbaden 2013, S. 57–63, 82–84; Bettina Pfotenhauer: Nürnberg und Venedig im Austausch. Menschen, Güter und Wissen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Regensburg 2016, S. 70–95.

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regelmäßige Transaktionen zwischen Oberdeutschen und Italienern im Kontext einer italienisch geprägten Kaufmannskultur Vertrauensbeziehungen generierten, die wiederum weitere, unter Umständen komplexere und größer dimensionierte Geschäfte ermöglichten.13 Wie sich derartige Interaktionen über die rechtlichen und kulturellen Grenzen kaufmännischer Nationes hinweg gestalteten, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele exemplifiziert. Zunächst wird die Kooperation von Handelsdienern der Augsburger Welser-Vöhlin-Gesellschaft mit Italienern in Valencia und Sevilla im Kontext der Etablierung dieses oberdeutschen Handelshauses auf der Iberischen Halbinsel dargestellt. Daraufhin werden die Interaktionen zweier Florentiner Kaufleute in Valladolid, Rinaldo Strozzi und Francesco Corsini, mit den Augsburger Fugger- und Welser-Gesellschaften im Kontext der kastilischen Messen und des europäischen Wechselgeschäfts nachgezeichnet. Als Beispiel für die Verbindungen zwischen Oberdeutschen und Genuesen werden abschließend die Beziehungen der Fugger und Welser zu spanischen Mitgliedern der weit verzweigten Familie Grimaldi betrachtet.

Cesare Barzi, Piero Rondinelli und die Augsburger Welser im frühen 16. Jahrhundert Ende 1502 schickte das sechs Jahre zuvor gegründete Handelshaus „Anton Welser, Konrad Vöhlin und Mitverwandte“14 seine Handelsdiener Simon Seitz, Scipio Levinson und Lucas Rem auf dem Landweg über Spanien nach Portugal, wo sie in der Folgezeit Handelsprivilegien von König Manuel I. erwirkten, eine Faktorei in Lissabon aufbauten und sich an den portugiesischen Indienfahrten von 1505 und 1506 beteiligten. Der damals 21-jährige Lucas Rem ist ein markantes Beispiel für die Prägung oberdeutscher Kaufleute durch die italienische kommerzielle Kultur: Er war 1494 im Alter von nicht ganz 13 Jahren zur Ausbildung nach Venedig geschickt worden, wo er sich dreieinhalb Jahre lang aufgehalten hatte.15 In seinen autobio13 Vgl. Francesca Trivellato: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and CrossCultural Trade in the Early Modern Period. New Haven / London 2009, S. 177–193, 273–275; Jorun Poettering: Handel, Nation und Religion. Kaufleute zwischen Hamburg und Portugal im 17. Jahrhundert. Göttingen 2013, bes. S. 239–250; Heinrich Lang: Wirtschaften als kulturelle Praxis. Die Florentiner Salviati und die Augsburger Welser auf den Märkten Lyons (1507–1559). Stuttgart 2020, passim. 14 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Peter Geffcken: Die Welser und ihr Handel 1246–1496. In: Mark Häberlein / Johannes Burkhardt (Hg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Berlin 2002, S. 27–167, bes. S. 145–157; Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. XXXII f. 15 Glück u. a., Mehrsprachigkeit, S. 58.

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graphischen Aufzeichnungen berichtet Rem, dass er Mitte Januar 1503 Valencia erreicht habe. Dort wollte er bei einem Bruder des mit den Welsern geschäftlich verbundenen Juan Bucle de Metelin einkehren, „[a]ber Cesaro Berzi nam mich gwalt zuo Im.“16 Rem verrät nicht, was diesen Mann bewog, ihn gleichsam zu nötigen, seine Unterkunft bei ihm zu nehmen. Aus fragmentarisch überlieferten Rechnungsbüchern der Welser wissen wir allerdings, dass die Augsburger Gesellschaft in der Folgezeit wiederholt Seefrachten in Valencia versichern ließ; 1512 war Cesare Barzi mit der Versicherung einer Zuckerladung betraut, welche die Welser von Madeira nach Flandern spedieren ließen. Nach der Havarie des Schiffs sollte er die Versicherungsprämie kassieren und an die Welserfaktorei in Saragossa transferieren.17 Vor diesem Hintergrund lässt sich Lucas Rems Bemerkung dahingehend interpretieren, dass Barzi sich die Möglichkeit, eine Geschäftsbeziehung mit dem expandierenden oberdeutschen Handelshaus anzuknüpfen, keinesfalls entgehen lassen wollte und deren jungen Handelsdiener nachdrücklich darauf aufmerksam machte, mit wem seine Herren in Valencia Geschäfte machen sollten. Tatsächlich war Cesare Barzi schon seit drei Jahrzehnten in Valencia ansässig, als Lucas Rem dort Station machte, und hatte sich längst in der Spitzengruppe der lokalen Kaufmannschaft etabliert. Seine kommerziellen Aktivitäten umfassten neben Warenhandel (mit Wolle, Tuchen, Getreide, Mandeln und Pastell), dem Abschluss von Seeversicherungen und Wechselgeschäften auch den Sklavenhandel, den er in großem Stil betrieb. Darüber hinaus hat Francesco Guidi Bruscoli gezeigt, dass Cesare Barzi seit 1486 als Valencianer Agent des in Lissabon etablierten Florentiners Bartolomeo Marchionni fungierte.18 Als zentrale Gestalt in einem Netzwerk italienischer Kaufleute am Tejo baute Marchionni weit gespannte Handelsbeziehungen in Westeuropa und im atlantischen Raum auf.19 Zwischen 1500 und 1520 war er zudem an einer Reihe portugiesischer Indienfahrten beteiligt –

16 Benedikt Greiff (Hg.): Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der Stadt Augsburg. In: 26. Jahresbericht des historischen Kreisvereins im Regierungsbezirk von Schwaben und Neuburg, Augsburg 1861, S. 1–110, hier S. 8. 17 Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. 75. Vgl. Mark Häberlein: Maritime Risiken aus der Perspektive süddeutscher Kaufleute des 16. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte 18 (2018), S. 9–38, hier S. 34. 18 Vgl. zu ihm Igual Luis, Valencia y Sevilla, S. 90, 104 f.; Guidi Bruscoli, Bartolomeo Marchionni, S. 69–71, 123–131; Ders.: Bartolomeo Marchionni and the Trade in African Slaves in the Mediterranean World at the End of Fifteenth Century. In: Simona Cavaciocchi (Hg.): Schiavitù e servaggio nell’economia europea, secc. XI–XVIII / Serfdom and Slavery in the European Economy, 11th –18th Centuries. XLV Settimana di Studi dell’Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“, Prato, 14–18 aprile 2013. Florenz 2014, S. 377–388, hier S. 385 f. 19 Guidi Bruscoli, Bartolomeo Marchionni, S. 37–134.

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einschließlich der Expeditionen von 1505 und 1506, in welche auch die Welser investierten.20 Zu Marchionnis Netzwerk gehörte ferner Piero Rondinelli, ein auf diversen Feldern wie dem Zucker-, Seiden- und Sklavenhandel aktiver Florentiner, der seit 1495 in Sevilla lebte und dort unter anderem als Testamentsvollstrecker des Entdeckers Amerigo Vespucci in Erscheinung trat.21 Rondinelli wird auch im Zusammenhang mit den frühesten dokumentierten Geschäften der Welser am Guadalquivir genannt: Seit 1509 standen die Augsburger mit ihm in Kontakt, und 1515 erledigte er mehrere Wechselgeschäfte mit Lissabon für sie.22 Die Beziehungen der Welser zu Marchionni, Barzi und Rondinelli machen deutlich, dass es nicht genügt, die Expansion Augsburger Handelsgesellschaften auf die Iberische Halbinsel als geographische Erweiterung oberdeutscher Netzwerke zu betrachten; nicht weniger wichtig war vielmehr, dass sie sich dort in etablierte Netzwerke Florentiner Kaufleute einklinken konnten.

Florentiner Kaufmannsbankiers in Valladolid: Rinaldo Strozzi und Francesco Corsini Nachdem sie 1519 maßgeblich die Wahl Karls V. finanziert hatten, beeilten sich die Fugger und Welser, Niederlassungen am spanischen Hof aufzubauen, deren Leiter die Kontakte zum Herrscher und seinen einflussreichsten Beratern pflegten. Neben zahlreichen Anleihegeschäften mit Vertretern der spanischen Krone wickelten diese Faktoreien Finanzdienstleistungen ab und betätigten sich im Wechselverkehr zwischen der Iberischen Halbinsel, Lyon und Antwerpen.23 Bei diesen Finanzgeschäften arbeiteten sie regelmäßig mit in Kastilien etablierten Florentiner Kaufmannsbankiers zusammen, wie die Beispiele der in Valladolid ansässigen Rinaldo Strozzi und Francesco Corsini zeigen. Der aus einer der führenden Florentiner Familien stammende Rinaldo Strozzi, der auch als Agent des Papstbankiers Filippo Strozzi auf der Iberischen Halbinsel

20 Ebd., S. 135–186. 21 Vgl. Varela, Colón, S. 109–125; Hugh Thomas: The Slave Trade. The Story of the Atlantic Slave Trade, 1440–1870. New York 1997, S. 94 f. 22 Varela, Colón, S. 122; Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. 77. 23 Vgl. Großhaupt, Welser als Bankiers; Kellenbenz, Fugger in Spanien, Bd. 1, S. 67–141; Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006, S. 76–82; Ders.: Pratiques marchandes et organisation spatiale du commerce au XVIe siècle. La Compagnie des Welser d’Augsbourg dans la péninsule Ibérique. In: Wolfgang Kaiser (Hg.): La loge et le fondouk. Les dimensions spatiales des pratiques marchandes en Méditerrannée. Paris 2014, S. 229–248.

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belegt ist,24 erscheint 1533 in der spanischen Inventur der Fugger unter deren Gläubigern. Zwei Jahre später beteiligte er sich an einem Anleihevertrag mit der spanischen Krone (Asiento) und gewährte dem Herrscher 1548 gemeinsam mit einem Kastilier ein weiteres Darlehen.25 Dass seine Beziehungen zu den oberdeutschen Handelsgesellschaften keineswegs immer reibungslos verliefen, zeigt ein Wechselprotest des Fuggerfaktors Christoph Raiser gegen Rinaldo und Juan Bautista Strozzi im Jahre 1544.26 Kontakte zwischen Strozzi und spanischen Vertretern der Welser lassen sich seit den späten 1520er Jahren nachweisen. Auf der Messe zu Medina de Rioseco gaben Mitarbeiter des Augsburger Handelshauses im September 1527 sieben Beträge in einer Gesamthöhe von 8200 Scudi an fünf italienische Firmen zu Wechsel, die auf dem folgenden Antwerpener Kaltenmarkt fällig wurden. Die Zahlungen in den Niederlanden erfolgten ebenfalls mehrheitlich über italienische Bankhäuser. Zwei dieser Wechsel in Höhe von gut 2000 Scudi liefen über Rinaldo Strozzi.27 1529 schickten die Welser-Vertreter am spanischen Hof einen Wechsel an Strozzi in Valladolid, der den Betrag von dem Italiener Andrea Velluti einbringen sollte. Wie Strozzi seinen Augsburger Geschäftspartnern schrieb, war Velluti zwar nicht zur Zahlung bereit, vertröstete sie aber auf die nächste Messe zu Villalón.28 Im selben Jahr nahm der Florentiner einen größeren Betrag von der Welserfaktorei am spanischen Hof zu Wechsel und schickte ihr die Summe in bar nach Avila.29 1533 bediente sich der Welservertreter in Barcelona, Jayme Spuyn, unter anderem der Dienste Strozzis, um Gelder an die Faktorei des Handelshauses am spanischen Hof zu transferieren. Diese schloss eine Reihe weiterer Finanztransaktionen mit dem Florentiner ab.30 Die Antwerpener Welserfaktorei nahm im selben Jahr meh-

24 Melissa M. Bullard: Filippo Strozzi and the Medici. Favor and Finance in Sixteenth-Century Florence and Rome. Cambridge 1980, S. 167. Als führende Florentiner Bankiers in Valladolid werden Rinaldo und Juan Bautista Strozzi erwähnt bei Bartolomé Bennassar: Valladolid en el siglo de oro. Una ciudad de Castilla y su entorno agrario en el glo XVI. Valladolid 1983, S. 329. 25 Kellenbenz, Fugger in Spanien, Bd. 1, S. 187, 403. 26 Ders. / Walter, Oberdeutsche Kaufleute, S. 220. Zu Wechselgeschäften Strozzis mit dem in Sevilla ansässigen Oberdeutschen Lazarus Nürnberger sowie dem Fuggerfaktor Christoph Raiser 1538 bzw. 1540 vgl. ebd., S. 167, 174 f. 27 Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. 136 f.; Häberlein, Pratiques marchandes, S. 238. – Zum System der kastilischen Messen vgl. Valentin Vázquez de Prada: Die kastilischen Messen im 16. Jahrhundert. In: Hans Pohl (Hg.): Frankfurt im Messenetz Europas. Erträge der Forschung. Frankfurt am Main 1991, S. 113–131; Hilario Casado Alonso: International and Regional Fairs in Spain from the Middle Ages to the 19th Century. In: Markus A. Denzel (Hg.): Europäische Messegeschichte. 9.–19. Jahrhundert. Köln u. a. 2018, S. 147–168, bes. S. 153–164. 28 Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. 324. 29 Ebd., S. 330. 30 Ebd., S. 338–340.

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rere tausend Dukaten zu Wechsel, die in Kastilien an Strozzi zu bezahlen waren.31 Im Oktober 1537 wiederum liehen die Welser Strozzi und seiner Kompanie in Kastilien knapp 1500 Escudos, die Juan Darieta auf dem folgenden Antwerpener Ostermarkt bezahlen sollte.32 Um 1540 arbeitete die Gesellschaft Bartholomäus Welsers bei Wechseltransfers zwischen Lissabon, Sevilla, den kastilischen Messen und dem spanischen Hof weiterhin mit Strozzi zusammen.33 Ähnlich gefragt als Partner bei Wechselgeschäften war ein weiterer in Kastilien ansässiger Florentiner, Francesco Corsini. Ende 1533 zahlte ihm die Welserfaktorei am spanischen Hof gut 130 Dukaten für einen Wechsel, mit dem der Einkauf in Zucker eingelegter Früchte in Portugal („marmeladas“) beglichen wurde.34 Zwischen 1537 und 1541 war Corsini häufig in bargeldlose Finanztransaktionen der Welser zwischen Antwerpen, Lyon, den kastilischen Messen und Sevilla eingebunden.35 Unter anderem gaben ihm die Welser im Frühjahr 1539 in Kastilien 3000 Dukaten auf Rechnung des Augsburger Kaufmanns Hans Baumgartner zu Wechsel. Lodovico Bernardi und Giovanni Battista Nasi sollten den Betrag auf dem nächsten Antwerpener Pfingstmarkt an Baumgartner bezahlen.36 Anfang 1542 schließlich erteilte Raniero Buonguglielmi (Reyner Bonquillerme), „florentin, estante al presente en esta ciudad de Sevilla“ seinem Landsmann Francesco Corsini, „mercader Florentín, vecino de la villa de Valladolid“ den Auftrag, bei Bartholomäus Welsers Gesellschaft sowie bei diversen Italienern Schulden zu begleichen.37 Aus spanischen Rechnungen und Inventuren der Fugger geht hervor, dass Francesco Corsini Mitte der 1540er Jahre bankrottging, nachdem er kurz zuvor noch größere Wechselgeschäfte mit den Fuggern und der Nürnberger Welser-Gesellschaft getätigt hatte. Zwischen 1546 und 1553 musste die Fuggerfaktorei in Madrid daher mehrfach Unkosten verbuchen, die bei der Verfolgung ihrer Forderungen gegenüber dem insolventen florentinischen Kaufmannsbankier entstanden waren.38 Obgleich der Konkurs Corsinis auf das stets präsente Risiko verweist, dass Geschäftspartner zahlungsunfähig wurden und sich Forderungen bei ihnen nur noch unter großen Mühen eintreiben ließen, kann kein Zweifel bestehen, dass die

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Ebd., S. 241, 339. Ebd., S. 283. Ebd., S. 434, 444, 453, 462, 485 f. Ebd., S. 339. Ebd., S. 343, 384, 387, 459 f., 481, 487, 493, 495, 500. Ebd., S. 452. Kellenbenz / Walter, Oberdeutsche Kaufleute, S. 193 f. Die Verbindlichkeiten des Florentiners bei den Welsern beliefen sich auf 102.475 Maravedis (rund 273 Dukaten). 38 Kellenbenz, Fugger in Spanien, Bd. 1, S. 192, 195 f., 198, 202 f., 213, 219; Dokumentenband, S. 85 f., 131, 136, 139, 160 f., 195, 201, 241, 351 f., 382, 469, 490.

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eingespielten Geschäftsbeziehungen der Florentiner in Kastilien sowie ihre westeuropäischen Netzwerke auch für oberdeutsche Handelsgesellschaften wie diejenigen der Fugger und Welser wertvolle Ressourcen darstellten.

Oberdeutsche und Genuesen in Kastilien: Das Beispiel Giovanni Battista Grimaldis Dass die Handelshäuser der Fugger und Welser um 1530 eng mit Genuesen auf der Iberischen Halbinsel kooperierten, wurde in der Literatur bereits mehrfach beobachtet. So hat Ruth Pike auf intensive Kontakte zwischen Mitgliedern der Familie Cattaneo (Cataño) und Welservertretern in Sevilla hingewiesen,39 und Enrique Otte hat festgestellt, dass das Augsburger Handelshaus Sklavenhandelslizenzen von den Genueser Firmen de Forne und Vivaldi erwarb.40 Spanische Inventuren der Fugger sowie Rechnungsfragmente der Welser dokumentieren zudem zahlreiche Geschäfte mit in Kastilien ansässigen Mitgliedern genuesischer Familien wie den Centurione, Doria, Lomellini, de Negro und Spinola. Exemplarisch seien hier die intensiven Kontakte mit Giovanni Battista (Juan Bautista) Grimaldi herausgegriffen, dem Spross einer weit verzweigten Genueser Kaufmanns- und Bankiersfamilie, der oberdeutsche Handelshäuser auch in Italien, Lyon und Antwerpen begegneten.41 Im Dezember 1527 schlossen Mitarbeiter der Fugger und Welser mit Repräsentanten Karls V. in Burgos einen Asiento über 40.000 Dukaten ab, wobei die Fugger 30.000 und die Welser 10.000 Dukaten beisteuerten. In dieses Darlehensgeschäft waren auch Giovanni Battista Grimaldi und die Firma Centurione einbezogen – laut Hermann Kellenbenz „ein Zeichen für die enge Zusammenarbeit zwischen Oberdeutschen und Genuesen in dieser Zeit.“42 Grimaldi, der in der Generalrechnung der Fugger von 1527 mit 10.796 Dukaten als Schuldner auftaucht, war auch in den Verkauf königlicher Schuldverschreibungen (Juros) durch Vertreter der beiden Augsburger Handelshäuser involviert und empfing von den Fuggern

39 Ruth Pike: Aristocrats and Traders. Sevillian Society in the Sixteenth Century. Ithaca / London 1972, S. 201 f. Anm. 62: „Members of the Cataño family had close dealings with Welser agents in Seville, but we have no evidence that they invested in the Welser expedition of 1531 even though Nicolás Cataño appeared as a witness at the Casa de Contratación for Ambrose Alfinger […] and four other Germans, all members of his party, before their departure […].“ 40 Otte, Von Bankiers und Kaufleuten, S. 132. 41 Vgl. Hermann Kellenbenz: Die Grimaldi und das Haus Habsburg im frühen 16. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 48 (1961), S. 1–17; Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998, S. 86, 161. 42 Kellenbenz, Fugger in Spanien, Bd. 1, S. 69.

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Quecksilberlieferungen aus den Minen von Almadén.43 Zwischen 1528 und 1532 gehörte Grimaldi ebenso wie die Welser-Gesellschaft einem Konsortium unter Leitung des Bergamasken Maffeo de Taxis an, das die Güter der spanischen Ritterorden (Maestrazgos) von der Krone gepachtet hatte. Nachdem Karl V. 1529 im Vertrag von Saragossa für 350.000 Dukaten auf Spaniens Ansprüche auf die Molukken verzichtet hatte, lief der Transfer dieser Summe aus Portugal nach Kastilien ebenfalls über Taxis, Grimaldi und die Welser.44 1533 partizipierte der Genuese an Wechseltransaktionen der Welser von Antwerpen auf die kastilischen Messen.45 Giovanni Battista Grimaldi war nicht das einzige Mitglied dieses Familienclans, mit dem das Augsburger Handelshaus auf der Iberischen Halbinsel Geschäfte machte: In fragmentarisch überlieferten spanischen Rechnungsbüchern der WelserGesellschaft erscheinen darüber hinaus Bernabe und Antonio Grimaldi – die getrennte Kompanien mit ihrem Landsmann Stefano (Esteban) Salvago unterhielten – zwischen 1536 und 1540 des Öfteren als Partner der Welser bei Wechselgeschäften46 sowie Jacopo Grimaldi, der mit wechselnden Kompagnons zwischen 1533 und 1541 diverse Geldgeschäfte mit spanischen Faktoreien der Welser tätigte.47 Auch wenn die genealogischen Beziehungen zwischen diesen Kaufmannsbankiers im Einzelfall näherer Klärung bedürfen, ist davon auszugehen, dass die häufigen Transaktionen mit genuesischen Firmen in Sevilla, am spanischen Königshof und auf den kastilischen Messen das Augsburger Handelshaus als solventen und verlässlichen Partner in der Geschäftswelt der Genuesen bekannt machten.

Fazit Die Befunde dieser Studie legen es nahe, die Expansion oberdeutscher Handelshäuser, allen voran der Augsburger Welser und Fugger, auf die Iberische Halbinsel in einem etwas anderen Licht zu sehen als in der Forschung üblich. Während bislang vor allem betont wurde, dass sich die Oberdeutschen als Anbieter von Kupfer und Silber für den portugiesischen Überseehandel48 sowie als Bankiers Karls V. den Weg nach Portugal und Kastilien gebahnt und dabei ihre landsmannschaftlichen Netzwerke nach Südwesteuropa ausgedehnt hätten, stellt die Zusammenarbeit mit

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Ebd., S. 142, 175, 379. Ebd., S. 248 f., 364; Ders., Maestrazgopacht, S. 10, 119–124. Geffcken / Häberlein, Rechnungsfragmente, S. 240. Bernabe Grimaldi: ebd., S. 343, 370, 384 f., 433, 452, 456 f., 459, 462, 533, 538; Antonio Grimaldi: ebd., S. 480, 490 f., 497, 499, 501, 533, 537 f. 47 Ebd., S. 340, 392, 411 f., 473, 536, 544. 48 Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen Philipp R. Rössner: Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation. Stuttgart 2012, S. 251–310.

Von neuen Märkten profitieren

italienischen Kaufmannsbankiers einen bislang unterschätzten Faktor in diesem Prozess dar. Die Oberdeutschen klinkten sich im frühen 16. Jahrhundert in etablierte italienische Netzwerke auf der Iberischen Halbinsel ein und tätigten in der Folgezeit regelmäßige Wechsel- und Kreditgeschäfte mit der zahlenmäßig starken und geographisch weitgespannten italienischen Kaufmannsdiaspora. Dass ein „Zeitalter der Fugger“ auf der Iberischen Halbinsel um die Mitte des 16. Jahrhunderts von einem „Zeitalter der Genuesen“ abgelöst worden sei, wie Fernand Braudel meinte, erscheint im Lichte dieser Beobachtungen als etwas zu grobe Vereinfachung. Notariell protokollierte Schuldforderungen, Wechselproteste und Konkurse zeigen zwar, dass es zwischen Oberdeutschen und Italienern wiederholt zu Friktionen kam; diese waren aber offenbar eher auf gestörte persönliche Beziehungen und individuelles wirtschaftliches Scheitern zurückzuführen als auf Konkurrenz zwischen verschiedenen Nationes. Dass deren Verhältnis im Untersuchungszeitraum eher von Kooperation als von Konkurrenz geprägt war, zeigt neben der seriellen Abwicklung von Wechselgeschäften insbesondere die gemeinsame Beteiligung Augsburger und italienischer Handelshäuser an der kapitalintensiven Maestrazgopacht. Dass viele süddeutsche Kaufleute und Handelsdiener in einer italienisch geprägten Kaufmannskultur sozialisiert waren, deren Sprache und Handelsusancen beherrschten sowie regelmäßig wiederkehrende Transaktionen zuverlässig erledigten, dürfte wesentlich zur profitablen Ausgestaltung dieser Beziehungen beigetragen haben.

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Konkurrenten und Partner Die deutsche und die Schweizer Händlernation in Lyon im 17. und 18. Jahrhundert

Einleitung Zu den bedeutendsten Figurationen zur Ermöglichung des Fernhandels gehörten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sogenannte nationes.1 Diese Zusammenschlüsse von Händlern aus einem zumeist geographisch, sprachlich und/oder konfessionell bedingten Zusammenhang in der Fremde sind aus dem System des überregionalen Austauschs der Vormoderne nicht wegzudenken. Nicht umsonst sind solche Händlerkolonien in der historischen Literatur seit Langem ein zentrales Forschungsthema.2 Vor allem durch die Arbeiten von Avner Greif wurde in den letzten Jahren der Ansatz populär, Nationen als Instanzen der Vertrauenskontrolle zu betrachten, die durch die Vergabe und den Entzug von Reputation ihre Mitglieder zur Erfüllung von Verträgen anhielten.3 Greif sieht Händlernationen als eine Instanz zur Milderung dieses in der Vormoderne besonders virulenten „fundamental problem of exchange“ über weite Distanzen.4 Greifs Ansatz, so umstritten er auch in vielen Aspekten ist,5 bietet ein Modell, das die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeit unter Fernhändlern in der Frühen Neuzeit erklärt. Weniger beachtet wurden bislang Spezifika seines Ansatzes

1 Der vorliegende Aufsatz ist aus Forschungen hervorgegangen, für deren finanzielle Unterstützung ich mich bei der Gerda Henkel Stiftung herzlich bedanke. Weiterhin möchte ich Mark Häberlein für wertvolle Hinweise und die Durchsicht des Textes danken. Mein Dank gebührt hierfür auch Franziska Neumann. 2 Vgl. die umfangreiche Bibliographie zum Konsulatswesen seit dem Mittelalter, die auch die einschlägige Literatur zu den Händlernationen erfasst: Jörg Ulbert: Bibliographie. In: Ders. / Gérard Le Bouëdec (Hg.): La fonction consulaire à l’époque moderne. L’affirmation d’une institution économique et politique, 1500–1800. Rennes 2006, S. 333–401. 3 Vgl. Avner Greif: Institutions and the Path to Modern Economy. Lessons from Medieval Trade. Cambridge 2006, S. 91–123. 4 Vgl. Ders.: The Fundamental Problem of Exchange. A Research Agenda in Historical Institutional Analysis. In: European Review of Economic History 4 (2000), S. 251–284. 5 Vgl. zur Kritik bes. Sheilagh Ogilvie / Jeremy Edwards: Contract Enforcement, Institutions, and Social Capital: The Maghribi Traders Reappraised. In: Economic History Review 65 (2012), S. 421–444 und die Antwort von Avner Greif: The Maghribi Traders: A Reappraisal? In: Economic History Review 65 (2012), S. 445–469.

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dezidiert in Bezug auf europäische Händlernationen des Mittelalters. Bei diesen sieht Greif einen hohen Grad an formaler Institutionalisierung. Dies ist laut Greif ein entscheidender Unterschied zwischen europäischen und nicht-europäischen Händlernationen, der von ihm letztlich auf unterschiedliche Familienmodelle zurückgeführt wird.6 Die Wahrnehmung europäischer Händlernationen als eigenständige, korporativ organisierte Akteure im Einsatz für die eigenen Mitglieder und in Vertretung der heimatlichen Autoritäten gegenüber der Gastgebergesellschaft war bereits im 19. Jahrhundert gängig.7 Durch kollektive Aktionen gegenüber dem Gastgeber konnten sie die Interessen ihrer Mitglieder durchsetzen und besondere Privilegien absichern. In dieser Hinsicht werden sie auch von Teilen der Forschung als wettbewerbsfeindlich und ihr sukzessiver Niedergang seit dem 16. Jahrhundert als ein Schritt hin zur Angleichung des internationalen Handelsrechts angesehen.8 Wenig beachtet wurde bislang das Verhalten solcher Händlernationen gegenüber ähnlichen Figurationen auf demselben Marktplatz. Zwar sind häufig die Aktivitäten einzelner Händler und Firmen gegenüber Konkurrenten aus anderen Nationen thematisiert worden, kaum jedoch die gegenseitigen Beziehungen der Korporationen selbst.9 Dies führt zu einer Unterschätzung eines wichtigen Aspekts von Privilegierungen der Nationen. Diese mussten vor allem relativ zu den Konkurrenten Vorteile bieten, um die Marktmacht der eigenen Mitglieder zu stärken. Diese Überlegung führt noch einen Schritt weiter. Durch die Herausarbeitung der als „eigen“ und als „fremd“ definierten Mitglieder und ihrer Pflichten gegenüber der jeweiligen Nation gewinnen wir eine Perspektive auf den Grad an Institutionalisierung und Kohärenz der Figuration „Händlernation“ als korporativer Entität. Die Zielsetzungen von Händlernationen in der Frühen Neuzeit, ihre gemeinsame Willensbildung sowie ihre Funktionen für ihre Mitglieder sind im Detail häufig wenig bekannt.10

6 Vgl. Ders.: Family Structure, Institutions, and Growth: The Origins and Implications of Western Corporations. In: American Economic Review 96 (2006), S. 308–312. 7 Vgl. als Beispiel die ausführliche Darstellung der mittelalterlichen Hansekontore bei Johannes Falke: Die Geschichte des deutschen Handels: Erster Theil. Leipzig 1859, S. 200–235. 8 Vgl. in diesem Sinne mit verschiedenen Nuancen: Oscar Gelderblom / Regina Grafe: The Rise and Fall of the Merchant Guilds. Re-thinking the Comparative Study of Commercial Institutions in Premodern Europe. In: Journal of Interdisciplinary History 40 (2010), S. 477–511; Sheilagh Ogilvie: Institutions and European Trade. Merchant Guilds, 1000–1800. Cambridge 2011; Oscar Gelderblom: Cities of Commerce. The Institutional Foundations of International Trade in the Low Countries, 1250–1650. Princeton 2013. 9 Eine gewisse Ausnahme bietet Richard Ehrenberg: Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert. 2 Bde. Jena 1896. 10 In der Mediävistik hingegen ist hier sogar ein Forschungsschwerpunkt erkennbar, vgl. z. B. Nils Jörn: „With money and bloode“. Der Londoner Stalhof im Spannungsfeld der englisch-hansischen Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert. Köln 2000.

Konkurrenten und Partner

Im Folgenden sollen die deutsche und die Schweizer Händlernation in Lyon im 17. und 18. Jahrhundert unter der Perspektive von Konkurrenz und Kooperation betrachtet werden, um neue Erkenntnisse zur Dominanz des Handelsgeschehens auf der Achse Süddeutschland – Schweiz – Frankreich nach dem Dreißigjährigen Krieg zu gewinnen.11 Die Gliederung des vorliegenden Beitrags ist gleichzeitig systematisch und chronologisch. Auf ein von Konkurrenz geprägtes 17. Jahrhundert folgt mit der Zeit vom Utrechter Frieden bis zur Französischen Revolution eine Epoche, in der die Elemente der Kooperation eindeutig überwiegen. Die Gründe für diesen Wandel verweisen auf die innere Strukturierung der beiden Händlernationen in Bezug zu den dominierenden Handelspraktiken ihrer Zeit.

Konkurrenten Deutsche und Schweizer Händler in Lyon bildeten aus französischer Sicht seit dem frühen 16. Jahrhundert eigenständige Nationen. Die Privilegien wurden beiden daher typischerweise getrennt erteilt.12 Dennoch sahen sich Händler aus Süddeutschland und der Schweiz bis ins späte 16. Jahrhundert im Wesentlichen einer Nation zugehörig. Dementsprechend waren ihre Kooperationsformen in der Nation Allemande mannigfaltig und intensiv.13 Schweizer in Lyon betrachteten ihre Heimat als Teil des Heiligen Römischen Reiches und die Reichsstädter als Landsleute.14 Dabei nutzten letztere die sich dank der faktischen Schweizer ‚Neutralität‘ bietende

11 Vgl. bes. Ella Wild: Die eidgenössischen Handelsprivilegien in Frankreich. 1444–1635. St. Gallen 1909; Walter Schindler: Zur Geschichte von Schweizer Handel und Industrie unter besonderer Berücksichtigung der Privilegien der eidgenössischen Kaufleute in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert. Calw 1922; Gerhard Pfeiffer: Die Bemühungen der oberdeutschen Kaufleute um die Privilegierung ihres Handels in Lyon. In: Stadtarchiv Nürnberg (Hg.): Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs. Bd. 1. Nürnberg 1967, S. 407–455; Gerhard Pfeiffer: Les marchands allemands „privilégiés“ à Lyon. In: Bulletin philologique et historique (1967), S. 173–194; Philippe Gern: Aspects des relations francosuisses au temps de Louis XVI. Diplomatie, économie, finances. Neuchâtel 1970; Marco Schnyder: „Vous estes tres bien fondés et nulle justice pourra vous condamner“. L’argument juridique dans les contentieux concernant la nation suisse de Lyon (XVIIe–XVIIIe siècle). In: Nicolas Drocourt / Éric Schnakenbourg (Hg.): Thémis en diplomatie. Droits et arguments juridiques dans les relations internationales de l’Antiquité tardive à la fin du XVIIIe siècle. Rennes 2016, S. 271–287; Ders.: Une nation sans consul. La défense des intérêts marchands suisses à Lyon aux XVIIe et XVIIIe siècles. In: Arnaud Bartolomei u. a. (Hg.): De l’utilité commerciale des consuls. L’institution consulaire et les marchands dans le monde méditerranéen (XVIIe–XXe siècle). Rom / Madrid 2018, S. 331–344. 12 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISGF), Handel, Ugb 59, fol. 243v. 13 Wild, Handelsprivilegien, S. 40. 14 Zur Ablösung der Eidgenossenschaft vom Reich seit dem späten 16. Jahrhundert vgl. Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006.

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Möglichkeit des Handels mit Frankreich über den Erwerb des Bürgerrechts in den Kantonen.15 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sehen wir bei einer weiterhin intensiven Kooperation Tendenzen zu einer Trennung beider Nationen. Seit 1600 wird in reichsstädtischen Akten die zunehmende Bevorzugung der Eidgenossen durch die französische Seite öfters moniert.16 Zwar beschlossen beide Nationen noch 1621 eine Repräsentation der „Nation Germanique“ durch einen gemeinsamen Konsul, Daniel Herwart aus Augsburg. Dies war aber in der Deutschschweiz ungern gesehen. Als Herwart sein Konsulat wegen Arbeitsüberlastung niederlegte, schrieben die Räte Schaffhausens und St. Gallens an die Schweizer in Lyon, sich künftig nicht mehr „mit den herren kauffleuten uss dem Reich einzulassen“.17 In den folgenden Kriegsjahren stieg in Frankreich die Abgabenbelastung, und auch die fremden Kaufleute in Lyon wurden neuen Zöllen unterworfen, gegen welche die Schweizer sich energisch zur Wehr setzten.18 Anfang 1643 stellte man eine Liste an Ausgaben der eigenen „Communauté zu außführung der gehabten so vilen processen“ seit 1630 zusammen und kam dabei auf eine Gesamtsumme von 120.971 Livres.19 Die Liste führt Anwaltskosten, Entschädigungszahlungen an einzelne Händler, Reise-, Kopier- und Versandkosten sowie zahlreiche „Verehrungen“ an französische Zollbeamte auf. Die Ausgaben lagen über den Einnahmen des sogenannten Ballengeldes und der „Contribution“, zwei Abgaben, die sich die Schweizer in Lyon selbst auferlegt und die im selben Zeitraum 83.752 Livres eingebracht hatten. Die fehlenden 37.219 Livres wurden aus der Kasse des „St. Galler Ordinari“ genommen, einer Postlinie zwischen Nürnberg und Lyon, die in St. Gallen verwaltet wurde. Auch nach 1643 ging das zähe Ringen weiter, wobei die Schweizer es schafften, im Vergleich zu anderen Händlergruppen einige Vorrechte zu bewahren.20 Die italienischen Händler waren schon seit den Religionskriegen nur noch

15 Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998, S. 129 f. 16 Pfeiffer, Bemühungen, S. 432. Eine Bevorzugung zeigte sich bereits bei der relativ raschen Erfüllung von Kreditforderungen Schweizer Händler nach dem französischen Staatsbankrott von 1559, während die reichsstädtischen Händler leer ausgingen: Ehrenberg: Das Zeitalter, Bd. 2, S. 166–169. 17 Wild, Handelsprivilegien, S. 153; Henri von Dulong: Entstehung und Verfall der eidgenössischen Zollund Handelsfreiheiten in Frankreich, insbesondere in Lyon, vom Ewigen Frieden 1516 bis zum Tarif Colberts 1664. Diss. München 1959, S. 213 f. 18 Wild, Handelsprivilegien, S. 163–230. 19 Staatsarchiv Zürich, Archiv des kaufmännischen Direktoriums (SAZ, KD), D 140, fol. 159–164. 20 In dieser Hinsicht erscheint es übertrieben, bereits in den 1650er und 1660er Jahren eine Aushöhlung der Privilegien zu konstatieren: Dulong, Entstehung, S. 315–323. Vgl. dagegen Helen Wild: Die letzte Allianz der alten Eidgenossenschaft mit Frankreich vom 28. Mai 1777. Zürich 1917, S. 258–282.

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in kleiner Zahl in Lyon präsent,21 die oberdeutschen durch den Krieg geschwächt. Im Ergebnis mussten die Deutschen seit den 1640er Jahren drei Zölle bezahlen, die den Schweizern erlassen waren, die „Douane de Valence“, die „réappréciation“ und die „Gabelle“. In den Reichsstädten wurde argwöhnisch beobachtet, dass die eigenen Händler dadurch sukzessive Wettbewerbschancen verloren. Angesichts der Tatsache, dass die Reichsstädter in Lyon noch 1620 deutlich zahlreicher als ihre Schweizer Mitbewerber gewesen waren und sich nur wenige Jahre später marginalisiert sahen, griffen nun anti-eidgenössische Ressentiments um sich. Im Nürnberger Banco-Amt schrieb man im März 1644: Ratio, waß selbige mit einer Handt Zahl geben, solches nehmen sie mit der anderen durch Pensiones wiederumb zurück; Item: sie die Schweizer kaufen Teutsche wahren, die immunitet militirt für sie, ein Teutscher kann solche merces nicht so wohlfeil an mann bringen alß der Schweizer; welche leztere Nation der zween neuen Zöll alß der Apreciation und der valenzischen Mauth halben de novo befreyet worden.22

Die Schweizer wirkten wie eine organisierte Gruppe, die systematisch die deutsche Nation durch solche Praktiken verdrängte. So schrieb Bartholomäus Herwart im November 1644 aus Lyon, die Schweizer „sehen gern, daß Teutschland schlefrig; dann wurde ihnen alsdann das Monopolium zuwachsen“.23 Und am 8. Oktober 1645 berichtete Hieronymus Fischer aus Lyon nach Nürnberg, dass der Marschall von Bassompierre im Frühjahr „inn das Schweizerlandt“ gehen würde, um die „Alliances wiederumb mit den Aydtgenossen zuernewern, zuegleich selbige Kauffleüthe Ihr privileges wiederumb zu confirmieren, undt sich der letzten newen Impost trachten wollen zue deschargiren“. Er sah ein verheerendes Resultat für die oberdeutschen Händler voraus: „So werden wier gewislich umb alle die schönen Freyheiten, so unsers Vorfahren, den Schweizern gleich erlangt im Stich bleiben, welches denn posteritet ein ewige schand“.24 1648 schrieb er an Nürnberg, dass die Schweizer sich im Falle des Scheiterns reichstädtischer Privilegienbemühungen „mechtig durch die Finger lachen würden“.25 Nach dem Westfälischen Frieden intensivierten die Deutschen in Lyon ihre Versuche, ihre privilegierte Position zurückzuerlangen. Bei den entsprechenden

21 René Jullian: Lyon et l’Italie au Moyen Âge. In: Revue des Études Italiennes 5 (1958), S. 133–146; Michel Morineau: Lyon l’italienne, Lyon la magnifique. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 29 (1974), S. 1537–1550. 22 Staatsarchiv Nürnberg, Differentialakten 761, 13. März 1644. 23 Zit. nach Pfeiffer, Bemühungen, S. 435. Vgl. auch Ders., Les marchands, S. 192. 24 ISGF, Handel, Ugb 59, fol. 50 v–51r. 25 Zit. nach Pfeiffer, Bemühungen, S. 436.

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Versuchen wurden die Eidgenossen immer mitbedacht. So schrieben die deutschen Händler 1657 nach Frankfurt: Die Schweizer sind iezund im Werckh umb dergleichen anzuhalten, undt Sie werden eine vollkommene Confirmation aller Ihrer alten Privilegien erhalten, undt werden Ihnen auch zugleich alle newe Aufflagen abgenommen werden. Wann nun die ReichsStätte gleiche Confirmation nicht auch erlangen, so werden die Schweizer inn Franckreich mit den Wahren auff Teütschland allein handeln undt die ReichsStättische Kauffleüth ruiniren.26

Dabei konnte man die Konkurrenzsituation auch als Argument zur eigenen Stärkung in der Kommunikation mit dem Gastgeberstaat nutzen. Gegenüber der französischen Seite betonten die Händler der Reichsstädte die Vorteile einer möglichst großen Unabhängigkeit des deutsch-französischen Handels von den Eidgenossen, indem sie die Nützlichkeit der Konkurrenz für die Krone hervorhoben.27 Gegenüber den Schweizern hingegen übten die Deutschen Repressalien. Als man in den 1650er Jahren in Venedig die Schweizer aus dem Fondaco dei Tedeschi ausschloss, war einer der Hauptgründe die vorgebliche Diskriminierung der Oberdeutschen in Lyon, wie man intern schrieb und ein Jahrhundert später auch druckte: Gleich wie im Königreich Franckreich, in specie zu Lyon, die Teutschen andere, die Schweitzer auch andere und zwar bessere Privilegia haben: und diese jene, unangesehen zwischen beyden eine gleiche Sprach obhanden, und beyde Teutschen sind, in ihr consortium nicht nehmen würden, also was die Hochteutsche zu Venedig hergebracht, daran sind sie auch nicht schuldig, die Schweitzer participiren zu lassen.28

Trotz dieses Tenors scheint die Lage der Kaufleute aus den Reichsstädten in Lyon nicht ungünstig. Bis 1673 blieb die deutsche Nation hier relativ zahlreich, und erst der Ausbruch des Reichskriegs in diesem Jahr erschütterte diese Gruppe nachhaltig.29 Zwar herrschte im 17. Jahrhundert eine scharfe Rivalität zwischen Oberdeutschen und Schweizern auf dem Lyoner Markplatz vor – die sich ergebende

26 ISGF, Handel, Ugb 59, fol. 242r. 27 Archives des Affaires Etrangères Paris, Allemagne, Petites Principautés CP 62, fol. 41r. 28 Hochteutsche Rechtsgelahrte Societät: Allgemeines Juristisches Oraculum, Oder Des Heil. RömischTeutschen Reichs Juristen-Facultät, Bd. 4. Leipzig 1748, S. 407–419; Henry Simonsfeld: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und die deutsch-venetianischen Handelsbeziehungen. Bd. 1. Stuttgart 1887, S. 453. 29 Vgl. den drastischen Rückgang an Einschreibungen in die deutsche Nation seit dem Kriegsausbruch 1673: Ingomar Bog: Oberdeutsche Kaufleute zu Lyon 1650–1700. Materialien zur Geschichte des oberdeutschen Handels mit Frankreich. In: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 22 (1962), S. 19–65.

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Dominanz der Schweizer zum Jahrhundertende war jedoch der europäischen Mächtepolitik geschuldet, nicht dem Konkurrenzgebaren vor Ort.30 Dessen ungeachtet versuchten beide Seiten hier konstant, Vorteile gegenüber den Konkurrenten zu erhalten. Dabei war es auch den Schweizern möglich, die anwesenden Deutschen als Argument zur eigenen Günstigerstellung zu nutzen. So schrieb die Schweizer Nation im Jahr 1701 an den französischen König, „man werde doch nicht die alten Freunde und Bundesgenossen der Krone schlechter stellen wollen als die ehemaligen Feinde“, also die Reichsstädte.31 Die Ressentiments in den Reichsstädten gegenüber den Schweizern in Lyon blieben auch aus solchen Gründen noch über eine Dekade lang lebendig, wie ein Brief Ulms an Lindau vom 26. August 1712 zeigt: Es sei bekannt, wie sehr die Herren Schweizer beflissen seyen, die reichsstädtischen commercien an sich zu ziehen, worinnen sie dann auch wegen der in Frankreich genießenden Handels Vortheile und Immunitäten bereits weit reüssiert, und zu beförchten ist, daß, wann die Reichs Städte nicht den Genuß ihrer alten Handels Privilegien in bemeltem·Königreich Frankreich wider erlangen solten, die Schweizer die Städtische commercien noch mehrers an sich ziehen, und deren Handelsschafft vollends ruiniren dörften.32

Partner Die Rivalität beider Nationen steht einerseits im Kontext der wirtschaftlichen Krise des 17. Jahrhunderts.33 Andererseits bedeutete eine Händlernation damals weit mehr als in späteren Zeiten. Im Falle der „Nation Suisse“ finden wir in den Quellen beispielsweise eine nicht untypische Abmachung vom 29. März 1638, die da lautet: „Accord under uns zu was Preiße unsere Wahren de Concert ferners zu verkauffen, umb bahr gelt, und daß niemanden Credit zu machen alß den Kauffleüthen dieser Statt“.34 Die „Nation Suisse“ war nicht nur ein Interessenverband, sondern durch Preisfestlegungen und Vorschriften zur Kreditvergabe auch eine Art korporativ verfasstes Kartell. Dieser Verband wirkte nicht nur nach außen, gegenüber dem gastgebenden

30 Vgl. Herbert Lüthy: Die Tätigkeit der Schweizer Kaufleute und Gewerbetreibenden in Frankreich unter Ludwig XIV. und der Regentschaft. Aarau 1943, S. 9. 31 Zit. nach Schindler, Geschichte, S. 79. 32 Zit. nach. Hendrik Dane: Der Lindauer Handel und Verkehr auf den Landstraßen im 17. und 18. Jahrhundert. Diplomarbeit. Nürnberg 1964, S. 27 f. 33 Vgl. Geoffrey Parker / Lesley M. Smith (Hg.): The General Crisis of the Seventeenth Century. London 1997. 34 SAZ, KD, D 140, fol. 121–122.

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Staat, sondern auch nach innen im Sinne einer Wettbewerbsbeschränkung. Im Falle der deutschen Nation in Venedig sehen wir ähnliche Mechanismen durch das Verbot von Firmenpartnerschaften mit nicht-deutschen Firmen.35 Als in die Marktaktivitäten ihrer Mitglieder eingreifende Institutionen tendierten die Nationen bei internationalen politischen Verwerfungen zu einer schärferen Abgrenzung, da sie diese Ziele nur bei einer Kohärenz des eigenen Händlernetzes und einer Dominanz auf dem Marktplatz durchsetzen konnten. Solche nach innen gerichteten Mechanismen schwächten sich im späteren 17. Jahrhundert ab. Aufgrund ökonomischer Entwicklungen wie der Verlängerung von Lieferketten und der stärkeren Ausdifferenzierung der internationalen Wirtschaft sahen sich die Nationen gezwungen, die Reglementierung ihrer Mitglieder immer weiter zu lockern.36 In Lyon eröffnete dies Kooperationsmöglichkeiten über die Nationsgrenzen hinweg, die seit dem verschärften Handelskrieg zwischen Frankreich und dem Reich seit 1689 bemerkbar sind. Aufgrund der gegenseitigen Handelsverbote übersiedelten 1692 die Leinwandkaufleute Johannes Albrecht aus Isny (1637–1706) und Jakob von Furtenbach aus Leutkirch (1663–1741) in das Schweizer Dorf Arbon am Südufer des Bodensees im Untertanenland Thurgau und eröffneten damit ein neues Kapitel in der Geschichte des Handels zwischen Oberdeutschland, der Schweiz und Lyon. Bald folgten weitere Händler aus den Lindauer und Memminger Familien Scheidlin, Eberz, Fingerlin und erneut Furtenbach. Diese und weitere deutsche Einwanderer entwickelten Arbon zu einem bedeutenden Handelsplatz mit zahlreichen Betriebsgebäuden für den Leinwandhandel, also zum Bleichen, Färben und Mangeln der Gewebe, sowie bedeutenden Anwesen.37 Diese oberdeutschen Neuschweizer schädigten mit ihrem massenhaften Handel von billiger oberschwäbischer Leinwand aus Sicht der dortigen Zünfte die Leinenindustrie St. Gallens.38 Entsprechende Proteste blieben erfolglos, auch wenn viele Mitglieder der Tagsatzung Verständnis für die Anliegen der St. Galler aufbrachten. 1705 heißt es im Protokoll der St. Galler Marktvorsteher über das Problem der deutschen Leinwandhändler in Arbon: 35 Sibylle Backmann: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Inklusion und Exklusion oberdeutscher Kaufleute in Wirtschaft und Gesellschaft (1550–1650). E-Diss. Zürich 2018. URL: https://www.zora. uzh.ch/id/eprint/160593 (13.07.2020), S. 159, 251. 36 Vgl. zur analogen Entwicklung bei der deutschen Nation in Venedig Magnus Ressel: Von reichsstädtischen Kommissionären zu europäischen Unternehmern. Die deutschen Händler in Venedig im 18. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 107 (2020), S. 163–193. 37 Vgl. zur generellen Entwicklung Rudolf Gimmel / Willi Schädler: Aus Arbons Geschichte. Nach Quellen aus dem Arboner Museum. Arbon 1993, S. 10–13. 38 St. Gallen, Direktoriumsarchiv, Kaufmännisches Direktorium, Protokolle 1697–1701, fol. 112. Vgl. auch Rudolf Lenz: Johann Albrecht aus Isny im Allgäu. Ein oberdeutscher Unternehmer des 17. Jahrhunderts. In: Esslinger Studien 17 (1971), S. 120–130.

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Es ist bedauerlich daß frembde allso die Landts Privilegia geniessen: Sie thüen nicht allein in Frankreich sondern auch in Italien den großten Schaden, aller Orten werden die hiesigen Häuser auf die Arboner Conduitte gewiesen; were zu wünschen daß die Statt nicht allein darzu thun müste, wie diesen immer mehr anwachsendem Übel zu steüren, und das Gottes Hauß darzu helffen thete.39

Dieses Zitat steht Pars pro Toto für die folgenden Konflikte der schwäbischen Neuschweizer mit den Textilzünften St. Gallens. Diese legten allerorten Beschwerde gegen die unliebsame Konkurrenz ein. Die Schweizer Nation in Lyon ließ St. Gallen 1707 allerdings wissen, dass man es den Herren „Ringmacher, Riesch und anderen Teütschen nicht verhindern könne under Schweizerischen Zeichen Leinwathen herein zu bringen“.40 Seit etwa 1720 fanden sich die St. Galler mit der neuen Lage ab. Das dortige Textilgewerbe wandelte sich angesichts der deutschen Konkurrenz; die lokalen Unternehmer konzentrierten sich zunehmend auf Baumwolle und Stickereien.41 Für unseren Zusammenhang ist bedeutsam, dass die deutschen Händler in Lyon durch ihre Präsenz in der Nordostschweiz eine wichtige Stütze bekamen. Einerseits wurden lutherische Händler mittels ihres neuen Wohnsitzes Mitglied der „Nation Suisse“.42 Andererseits nutzten die deutschen Händler am Südufer des Bodensees ihre Bleichen, um bisweilen aus Schlesien stammende deutsche Leinwand als „Schweizer“ Produkt nach Frankreich einzuführen.43 Auch die eigentliche deutsche Nation in Lyon wurde nach Ende des Spanischen Erbfolgekrieges wieder zahlreicher. Um 1715 bestand die erneuerte „Nation Allemande“ aus neun Kaufleuten. Diese standen in enger Verbindung mit den oberdeutschen Händlern in der „Nation Suisse“ oder im Thurgau, wie ihr gemeinschaftliches Engagement für die 1707 gegründete lutherische Kirchengemeinde in Genf zeigt. Diese war durch Händler in Lyon und Arbon maßgeblich organisiert und finanziert. Auch dank dieser Gemeinde, für die sich Lutheraner aus den süddeutschen Reichsstädten, Arbon, Genf, Lyon und sogar Gotha engagierten, bestand

39 St. Gallen, Direktoriumsarchiv, Kaufmännisches Direktorium, Protokolle 1701–1705, fol. 263. 40 SAZ, KD, D 140, fol. 257. Beide waren Kaufleute der deutschen Nation, die nun Waren ihrer Partner aus Arbon bezogen und damit die Abgaben der Schweizer Nation in Lyon sparten: Lüthy, Tätigkeit, S. 85. 41 Zur Entwicklung der lutherischen Händlerkolonie am Südufer des Bodensees vgl. Walter Bodmer: Die Entwicklung der schweizerischen Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige. Zürich 1960, S. 198–203. 42 Zu diesen Händlern vgl. Bog, Oberdeutsche Kaufleute, S. 19–65. Zu ihrem Eintrag in das Register in Lyon siehe Lüthy, Tätigkeit, S. 84–86; SAZ, KD, D 145, fol. 9. 43 Vgl. Gern, Aspects, S. 222–227.

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eine beide Nationen transzendierende Gruppe von Lutheranern in Lyon während des gesamten 18. Jahrhunderts.44 Eine weitere Form der Kooperation bildeten gemeinsame Firmen von deutschen und schweizerischen Händlern mit Zugriff auf mehrere Märkte. Genannt seien Zusammenschlüsse zwischen Jakob von Furtenbach aus Leutkirch, Andreas Frey aus Lindau und Johannes Welter von Hauptwil (1705);45 zwischen dem St. Galler Heinrich Gonzenbach und dem Ravensburger Loth Specht (1715);46 und die in den 1730 und 1740er Jahren existierende Partnerschaft der aus Lindau stammenden Gebrüder Halder mit dem St. Galler Georg Kühn.47 Am Jahrhundertende gehörte die auf einer deutsch-schweizerischen Familienverbindung basierende Firma Fingerling & Scherer zu den bedeutendsten Handelsunternehmen Europas.48 Exemplarisch sei diese hier etwas näher vorgestellt. Am 18. November 1742 heiratete der in Bern geborene Lutheraner Johann Daniel Fingerlin (1702–1772), Enkel des ersten in Arbon ansässigen Oberdeutschen Johann Albrecht (1637–1706), Marie Salomé Esther Scherer (1721–1797), die Tochter seines aus St. Gallen stammenden Kompagnons Heinrich Scherer (1672–1736). Angesichts des Altersunterschieds der Firmeninhaber von 30 Jahren können wir von einer durch das Ehebündnis befestigten Firmennachfolge ausgehen, die wohl nur durch die Mitgliedschaft Johann Daniels in der „Nation Suisse“ und seine Geburt auf Schweizer Boden möglich war. Passend dazu wurde in der Literatur festgestellt, dass die zweite Generation der Familie Fingerlin in Lyon ihre Handelspartner in Paris vor allem in „l’internationale huguenote“ fand.49 Mit seiner in der

44 Zur lutherischen Gemeinde in Genf vgl. v. a. Ernst Koch: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Genf und der Gothaer Hof. In: Wolfgang Sommer (Hg.): Kommunikationsstrukturen im europäischen Luthertum der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2005, S. 51–69; Alain Briand-Barralon: La communauté luthérienne de Lyon au XVIIIe siècle. E-Diss. Lyon 2014. URL: www.theses.fr/2014LYO30002 (13.07.2020). 45 Bodmer, Entwicklung, S. 174. 46 Vgl. hierzu Jacqueline Fayollet: Les milieux d’affaires protestants et la grande économie mondiale. La maison Specht et Gonzebat de Lyon (1717–1724). Ungedrucktes Diplôme d’Études Supérieures, Université de Lyon. Lyon 1966. 47 Anonymus: Jetzt lebende Kauffmannschafft in und außer Deutschland. Erster Versuch. Leipzig 1743, S. 209 f.; Herbert Lüthy: La banque protestante en France. Bd. 1. De la révocation de l’Édit de Nantes à la révolution. Paris 1959, S. 185, 238. 48 Der folgende Absatz basiert auf: Archives d’Etat de Genève, E. C. Communautés diverses 5 (Copie du registre des mariages de l’Eglise luthérienne) & 6 (Copie du registre des baptêmes de l’Eglise luthérienne). Vgl. hierzu auch Wilhelm Tobler-Meyer: Das Junker-Geschlecht der Scherer aus der Stadt St. Gallen, sein Erlöschen und seine Erbschaft. In: Schweizerisches Archiv für Heraldik 16 (1902), S. 13–27; Jacob Rieber: Stammbaum der Familie Fingerlin in Ulm. In: Frankfurter Blätter für Familiengeschichte (1910), S. 10–13; Bog, Oberdeutsche Kaufleute, S. 47–51; Louis Bergeron: Banquiers, négociants et manufacturiers parisiens du Directoire à l’Empire. Paris 1978, 53 f. 49 Briand-Barralon, La communauté, S. 65–68.

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lutherischen Kirche Genfs getrauten, vermutlich aber reformiert gebliebenen Frau hatte er zwei in Lyon geborene Söhne, Caspar Daniel (1743–1813) und Johann Heinrich Fingerlin (1746–1821). Beide heirateten erneut in die weitverzweigte Familie Scherer ein, ersterer 1774 die 1754 in Lyon geborene Ursula und letzterer 1779 Marie-Marguerite Scherer. Auch diese Hochzeiten fanden in der lutherischen Gemeinde Genfs statt, und die Kinder gehörten dieser Konfession an. Beide mit Scherer-Frauen verheirateten Brüder Fingerlin übernahmen zusammen mit dem in Lyon geborenen Johann Jakob Scherer (1756–1823) die Firma. Diese enge Kooperation erwies sich als dermaßen erfolgreich, dass Fingerlin & Scherer zu Beginn der Französischen Revolution die kapitalkräftigste Firma ganz Lyons war.50 Neben derartigen Firmen- und Familienpartnerschaften finden sich weitere Indizien für sich verdichtende Kooperationsstrukturen zwischen reformierteidgenössischen und lutherisch-oberdeutschen Kaufleuten. Seit 1768 ließen die Lutheraner in Lyon Taufen ihrer Kinder vom örtlichen calvinistischen Pfarrer Laurent Pierredon vornehmen.51 Und auch auf der Ebene der Beziehungen zwischen den Korporationen der deutschen und der Schweizer Nation finden wir seit 1712 keine Kritik mehr an der anderen Gruppierung in den Akten. Im Gegenteil: Als die französische Seite 1761 eine Kopfsteuer auf die Angehörigen beider Nationen in Lyon erheben wollte, koordinierten beide Nationen gemeinsam ihren Widerstand.52

Resümee Im Ergebnis lässt sich folgende Chronologie feststellen: Vom Beginn des Dreißigjährigen Kriegs an bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekriegs dominierte die Abgrenzung beider Nationen, die in den Akten durch zahlreiche feindselige Äußerungen Ausdruck fand. Die Konkurrenz von Deutschen und Schweizern an auswärtigen Handelsplätzen war kein marginales oder kurzzeitiges Phänomen. Sie lag neben der langwierigen wirtschaftlichen und politischen Krise darin begründet, dass beide Nationen bis ans Ende des späten 17. Jahrhunderts korporative Verbünde waren, die in die Geschäftspraktiken ihrer Mitglieder eingriffen, etwa durch Preisfestlegungen sowie Beschränkungen von Firmenpartnerschaften mit Angehörigen anderer Nationen. Dies war typisch in dem Sinne, dass eine solche

50 Vgl. Yves Krumenacker: Des protestants au siècle des Lumières. Le modèle lyonnais. Paris 2002, S. 197 f. 51 Briand-Barralon, La communauté, S. 29. 52 Nur angedeutet bei Wild, Die letzte Allianz, S. 312–314.

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Funktion von Händlerkorporationen im Ausland seit dem Mittelalter feststellbar ist.53 Die straffe Organisation der Nationen schwächte sich um die Jahrhundertwende allmählich ab. Die zunehmend merkantilistische Orientierung der europäischen Staatenwelt, eine komplexere Organisation des internationalen Handels, die Tendenz zur Sesshaftwerdung ausländischer Kaufleute an auswärtigen Handelsorten und damit die Lockerung der Bindungen an die jeweilige „Heimat“, die längere Lebensdauer von Firmen und die damit einhergehende Kapitalakkumulation erodierten die Basis interner korporativer Strukturen von Händlernationen.54 Diese erscheinen daher im 18. Jahrhundert als zunehmend offenere Verbünde, die vor allem die Funktion von Sprachrohren gegenüber den gastgebenden Staatswesen übernahmen. Unwichtig wurden die Nationen dadurch freilich nicht. Die umfangreichen Akten in den Schweizer Kantonen sowie den oberdeutschen Reichsstädten zum Frankreichhandel im 18. Jahrhundert zeugen von einer verdichteten Kommunikation der Nationen zwischen Gastgeber, Gästen und deren Heimat – jetzt stärker als eine Art von Lobbyorganisationen zur Bewahrung von Zoll- und Steuervorteilen.55 Mit dieser Neuausrichtung beider Nationen schwand das Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen. Wenn alle Mitglieder de facto unabhängig von Einschränkungen durch ihre „eigenen“ Nationen Handel treiben und reich werden konnten, verschärfte dies einerseits die Konkurrenz innerhalb der jeweiligen Nation; andererseits reduzierte es die Reibungsflächen zwischen diesen. Zwar bestand auch im 18. Jahrhundert noch ein allgemeines Interesse der Schweizer wie auch der deutschen Händler in Lyon, die Konkurrenz auf der Handelsachse Nürnberg – Lyon zu reduzieren. Ungleich attraktiver musste aber die neue Möglichkeit wirken, durch Kooperationen mit Händlern der jeweils anderen Gruppe den eigenen Handelsrayon zu erweitern. So verweist die Betrachtung von Konkurrenz und Kooperation zwischen der Schweizer und der deutschen Nation in Lyon im 17. und 18. Jahrhundert auf einen fundamentalen Wandel der Handelswelt um 1700. Die Konkurrenz zwischen ihnen schwächte sich seit dem frühen 18. Jahrhundert deutlich ab und machte einer neuen Struktur von Kooperation Platz. Die fortwährende Existenz beider Nationen in Lyon bis ins späte 18. Jahrhundert verschleiert die Tatsache, dass diese Gruppierungen

53 Vgl. Anm. 9. 54 Vgl. hierzu Anne S. Overkamp / Magnus Ressel: Migration und Kosmopolitismus. Mitteleuropäische Fernhändler im 18. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 107 (2020), S. 146–162. 55 Eine ähnliche Beobachtung in Bezug auf Livorno wurde gemacht durch: Jean Pierre Filippini: Les nations à Livourne (XVIIe –XVIIIe siècles). In: Simonetta Cavaciocchi (Hg.): I porti come impresa economica. Florenz 1988, S. 581–594.

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kaum mehr nach innen wirkten und daher den mittelalterlichen Nationen im Sinne des Greifschen Ansatzes immer weniger ähnelten. Mit anderen Worten: Konkurrenz wurde individueller, und dies öffnete den Weg zur verfestigten Kooperation über Korporationsgrenzen hinweg.

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Zwischen Konkurrenz und Kooperation Kaufleute im frühneuzeitlichen Wien

Wien und die „Wiener“ Kaufleute Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., schrieb um 1450 über Wien: „Alte Familien gibt es nur wenige, sehr selten sind in der Stadt Bürger, deren Vorfahren die Nachbarschaft kennt, fast alle sind Eingewanderte oder Fremde.“1 Knapp 300 Jahre später wusste Johann Basilius Küchelbecker über Wien zu berichten, dass sich „das hiesige Commerce nicht allein in Teutschland, und nach denen Niederlanden, sondern auch nach Italien, Pohlen, Ungarn, Türckey und Orient erstrecket, so ist es kein Wunder, wenn dergleichen Nationes allhier in grosser Anzahl zu sehen sind.“2 Wesentlicher Wachstumsfaktor und Basis der Attraktivität für Migrantinnen3 und Migranten war die Residenzfunktion Wiens: Kaiserhof, Reichs- und landesfürstliche Behörden etablierten sich hier und zogen Adelige, Künstler, Militärs, Handwerker und Kaufleute an.4 An der Wende zur Neuzeit lebten ca. 20.000 Einwohner in der Stadt; bis 1650 hatte sich die Bevölkerung auf rund 45.000 Personen mehr als verdoppelt, und um 1750 war Wien mit 175.000 Menschen zur einwohnerstärksten Stadt im Heiligen Römischen Reich sowie zu einer der größten Metropolen Europas aufgestiegen.5 Das von der Zuwanderung getriebene Bevölkerungswachstum führte zu einem Rückgang des relativen Anteils der Bürger an der

1 Aeneas Silvius de Piccolomini / Jürgen Sarnowsky (Hg.): Historia Austrialis. Darmstadt 2005, S. 26 f. – Diese Publikation entstand im Rahmen des vom „FWF – Der Wissenschaftsfonds“ finanzierten Projekts „The Toll Registers of Aschach (1706–1740): Database and Analysis“ (P 30029–G28). Projektwebsite: URL: https://donauhandel.univie.ac.at/ (04.11.2022). Für die Unterstützung bei der Archivrecherche bin ich Dr. András Oross (Ungarische Archivdelegation, Wien) und Dr. Herbert Hutterer (Finanz- und Hofkammerarchiv, Wien) zu größtem Dank verpflichtet. 2 Johann Basilii Küchelbecker: Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserl. Hofe […]. Hannover 1730, S. 705. 3 Lediglich der Kürze des Textes ist die sonst ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschuldet. 4 Andreas Weigl: Die Bedeutung des Wiener Hofes für die städtische Ökonomie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Claudine Pils / Jan P. Niederkorn (Hg.): Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit. Innsbruck u. a. 2005, S. 55–79. 5 Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter. Teil 1. Wien 2003, S. 21.

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Stadtbevölkerung und zu einem ökonomischen Strukturwandel von einer spätmittelalterlichen Handels- und Weinbaustadt zu einer barocken „Konsumptionsstadt“.6 Trotz dieser Schwerpunktverschiebung sollte die Bedeutung Wiens als Ort des Zwischen- und Fernhandels nicht unterschätzt werden. Auch während der Frühen Neuzeit war die Residenzstadt der Habsburger ein nicht zu vernachlässigender, in der Forschung zur Wiener Handelsgeschichte aber oft marginalisierter Umschlagplatz zwischen dem Mittelmeerraum, den Alpenländern und Osteuropa, wozu die Lage an überregionalen Transportrouten wie der Donau oder der Semmeringstraße maßgeblich beitrug.7 Zusätzlich führte eine auf die städtische Bürgerschaft beschränkte Definition des Begriffs „Wiener“ Kaufleute zum Postulat der „Passivität“ und geringen Bedeutung des Wiener Handelsstandes.8 Diese Begriffsverengung lässt außer Acht, dass auf Basis kaiserlicher Privilegien neben den bürgerlichen Kaufleuten zahlreiche weitere Händlergruppen ganzjährig in Wien aktiv waren, die teilweise zwar die Aufnahme in das Bürgerrecht anstrebten, teilweise aber auch außerhalb der Bürgerschaft verblieben.9 Zählt man zu den „Wiener“ Kaufleuten all jene Händler, die ganzjährig in Wien zum Handel zugelassen waren, ermöglicht dies eine differenziertere Bewertung sowohl des Wiener Marktplatzes und seiner Kaufmannschaft als auch der Konkurrenzverhältnisse und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Händlergruppen.

6 Andreas Weigl: Die Haupt- und Residenzstadt als Konsumptionsstadt. In: Karl Vocelka / Anita Traninger (Hg.): Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert). Wien u. a. 2003, S. 137–141. 7 Zum Handel Wiens während der Frühen Neuzeit siehe allgemein Günther Chaloupek u. a.: Handel im vorindustriellen Zeitalter: Der kanalisierte Güterstrom. In: Ders. u. a. (Hg.): Wien. Wirtschaftsgeschichte. 1740–1938. Bd. 2. Wien 1991, S. 999–1036; Erich Landsteiner: Handel und Kaufleute. In: Vocelka / Traninger, Residenz, S. 185–187. Zum Donauhandel siehe Peter Rauscher / Andrea Serles: Der Donauhandel. In: Enzyklopädie der Neuzeit Online, URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_ edn_COM_396287 (26.06.2022). 8 Vgl. hierzu exemplarisch Otto Brunner: Neue Arbeiten zur älteren Handelsgeschichte Wiens. In: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 8 (1949/50), S. 7–30, hier S. 23 u. S. 26; Chaloupek u. a., Handel, S. 1001–1006; Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 119: „Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Wien ohne bedeutenden Handelsstand.“ 9 Der Erwerb des Wiener Bürgerrechts war weder an Hausbesitz noch an ein größeres Vermögen gebunden. Zum starken Zuzug v. a. aus Bayern, Franken, der Oberpfalz und Schwaben siehe Andreas Weigl: Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt. Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole. In: Ders. (Hg.): Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung – Gesellschaft – Kultur – Konfession. Wien u. a. 2001, S. 31–105, hier S. 89–100. Zur Bürgerrechtsverleihung siehe Richard Perger: Herkunft. In: Peter Csendes / Ferdinand Opll (Hg.): Österreichisches Städtebuch. Bd. 7. Wien 1999, S. 61–63, hier S. 61.

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Während es eine ganze Reihe neuerer Studien zu einzelnen ethnisch-religiös bzw. ‚national‘ definierten Kaufmannsdiasporen in Wien gibt,10 fehlen weitgehend Untersuchungen der normativen Ebene sowie eine Gesamtanalyse der „Wiener“ Kaufmannschaft.11 Neben religiösen und „nationalen“ Kriterien war die landesfürstliche Privilegienvergabe der entscheidende Faktor, der das Zusammenleben und den Wettbewerb zwischen einzelnen Kaufleuten bzw. Kaufleutegruppen steuerte. Dieser normative Rahmen hatte nicht nur Auswirkungen auf die Entwicklung des Verhältnisses von Konkurrenz und Kooperation zwischen den Handeltreibenden; er war auch Abbild der Stellung Wiens als Zentrum des vielfältigen habsburgischen Machtkomplexes. Ein Konkurrenzverhältnis bestand folglich auch zwischen dem Wiener Stadtrat, der Teilaspekte des Wirtschaftslebens reglementierte, und den habsburgischen Kaisern als Stadtherrn, die zur Erreichung politischer, konfessioneller und finanzieller Ziele, die weit über Wien hinausgingen, maßgeblich in die Gesetzgebung ihrer Residenzstadt eingriffen.

Normativer Rahmen – Stadt und Landesfürst Während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit können grundsätzlich zwei Gruppen von Händlern in Städten und Märkten unterschieden werden: die ganzjährig zum Handel berechtigten und die nur während der Jahrmärkte zugelassenen Kaufleute.12 Die sich nur kurz in einer Stadt aufhaltende zweite Gruppe ist schwer zu fassen und spielt für die Frage der Wiener Kaufmannschaft keine Rolle. Die ganzjährig in Wien aktiven Händler wurden seit dem ausgehenden Mittelalter in drei Kategorien unterteilt: bürgerliche Kaufleute, „Wiener Niederleger“ („Niederlagsverwandte“) und Hofhandelsleute („Hofbefreite“).13 Zusätzlich sind für bestimmte Zeitabschnitte mit Privilegien ausgestattete jüdische Händler sowie Untertanen des Osmanischen Reichs zu berücksichtigen. Die „türkischen“ Kaufleute waren eine sowohl ethnisch als auch religiös besonders heterogene Gruppe und ihre frühe

10 Siehe die umfangreichen Einträge zu einzelnen Handelsnationen in Peter Rauscher / Andrea Serles (Bearb.): Bibliographie „Der Donauhandel“, URL: https://www.univie.ac.at/donauhandel/bibliographie/ (12.01.2021). 11 Noch immer unverzichtbar, wenn auch in seiner lokalpatriotischen Färbung nicht mehr zeitgemäß: Karl Fajkmajer: Handel, Verkehr und Münzwesen. In: Alterthumsvereine zu Wien (Hg.) / Anton Mayer (Red.): Geschichte der Stadt Wien. Bd. 4/I. Wien 1911, S. 524–584. Differenzierter: P. G. M. Dickson: Finance and Government under Maria Theresia 1740–1780. Bd. 1. Oxford 1987, S. 140–178; Erich Landsteiner: Die Kaufleute. In: Vocelka / Traninger, Residenz, S. 205–214, bes. S. 208–213. 12 Peter Rauscher: Wege des Handels – Orte des Konsums. Die nieder- und innerösterreichischen Jahrmärkte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. In: Markus A. Denzel (Hg.): Europäische Messegeschichte 9.–19. Jahrhundert. Köln u. a. 2018, S. 221–266, hier S. 255–257. 13 Landsteiner, Kaufleute, S. 207–212.

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Ansiedlung in Wien ab dem 17. Jahrhundert außergewöhnlich für eine Stadt im Heiligen Römischen Reich.14 Das wichtigste Privileg, das die bürgerlichen Kaufleute Wiens aus dem Mittelalter in die Neuzeit retten konnten, war der ihnen exklusiv vorbehaltene ganzjährige Detailhandel.15 Durch eine förmliche Bestätigung Maximilians II. von 1573 konnten die bürgerlichen Händler auch das Vorrecht der exklusiven Nutzung der Handelsstraße von Wien über den Semmering nach Venedig behaupten. Die Bedeutung dieses Privilegs kann nur schwer abgeschätzt werden, da keine belastbaren Zahlen zum Frachtaufkommen über den Semmering vorliegen. Abgesehen vom Detailhandel war es aber dieses Vorrecht, das die Stadt besonders hartnäckig gegen alle anderen Händlergruppen zu verteidigen suchte.16 Die bürgerlichen Kaufleute verfügten im Untersuchungszeitraum außerdem über das exklusive Handelsrecht donauabwärts von Wien – ein Privileg, dessen Wert durch die Expansion des Osmanischen Reichs nach Ungarn ab 1541 jedoch stark beschränkt wurde.17 Die Grundlage der rechtlichen Stellung der Wiener Niederleger bildete für mehr als 250 Jahre die Niederlagsordnung Maximilians I. von 1515.18 Wer als Niederleger aufgenommen wurde, war – ohne das Wiener Bürgerrecht erwerben zu müssen – ganzjährig zum Großhandel in Wien berechtigt, durfte dort eine Niederlassung gründen und dauerhaft seinen Wohnsitz nehmen. Die hauptsächlich aus den oberdeutschen Reichsstädten stammenden Niederleger mussten nur die üblichen Mauten und Zölle bezahlen, waren aber von allen anderen bürgerlichen Lasten befreit; im Gegenzug sollte ihre Finanzkraft als Reservoir für Darlehen an den Kaiserhof dienen.19 Die mit dem Privileg verbundene ganzjährige Großhandelsberechtigung der Wiener Niederleger bedeutete keine neue Konkurrenzsituation für die bürgerlichen Kaufleute. Ihr Detailhandelsmonopol und der Zwischenhandel in Richtung Osten

14 Emanuel Turczynski: Die deutsch-griechischen Kulturbeziehungen bis zur Berufung König Ottos. München 1959, S. 89–115; vgl. auch Apostolos E. Vacalopoulos: History of Macedonia 1354–1833. Thessaloniki 1973, S. 379–425. 15 Peter Csendes (Hg.): Die Rechtsquellen der Stadt Wien. Wien u. a. 1986, bes. Nr. 4, S. 30–39 (Stadtrecht), und Nr. 14, S. 90–92 (Niederlagsprivileg). 16 Archivalien aus acht Jahrhunderten. Ausstellung des Archivs der Stadt Wien. Wien 1964, S. 45; Erich Landsteiner: Strukturelle Determinanten der Stellung Wiens im interregionalen Handel. In: Vocelka / Traninger, Residenz, S. 187–201, hier S. 197–201. 17 Otto Brunner: Das Wiener Bürgertum. Eine historisch-soziologische Skizze. In: Monatsblatt des Vereines für Geschichte der Stadt Wien N. F. III/14 (1932), S. 220–231, hier S. 222–224. 18 Zu den Niederlegern siehe ausführlich Peter Rauscher / Andrea Serles: Die Wiener Niederleger um 1700. Eine kaufmännische Elite zwischen Handel, Staatsfinanzen und Gewerbe. In: Oliver Kühschelm (Hg.): Geld – Markt – Akteure / Money – Market – Actors. Innsbruck u. a. 2015, S. 154–182. 19 Ebd., S. 156.

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basierten seit Jahrhunderten auf einer Kooperation mit oberdeutschen und italienischen Groß- und Fernhändlern. Weit gravierendere Folgen hatte die Aufhebung des Gästehandelsverbots. Die Niederleger waren nun nicht mehr auf die bürgerlichen Wiener Kaufleute für den Absatz ihrer Güter angewiesen, sondern durften ganzjährig mit allen Marktteilnehmern en gros handeln. In den Jahren um 1515 hatten die auswärtigen Großhändler gedroht, bei Beibehaltung oder einer allfälligen Wiedereinführung des Gästehandelsverbots ihre Niederlagen zu schließen und den Handel nach Böhmen oder Mähren zu verlegen.20 Legale Kooperationsmöglichkeiten, die über den Kauf und Verkauf von Gütern hinausgingen, existierten bis zum 18. Jahrhundert zwischen bürgerlichen Kaufleuten und Niederlegern nicht, da der Wiener Bürgereid die Handelsgemeinschaft mit nichtbürgerlichen Kaufleuten ausdrücklich verbot.21 Im Gegensatz zu den Niederlegern gab es für die hofbefreiten Händler keine generelle Ordnung, die ihre Geschäftstätigkeit als Gruppe geregelt hätte – jeder einzelne Hofhandelsmann erhielt ein Privilegium ad personam.22 Ihre wichtigste Aufgabe war die Versorgung der habsburgischen Höfe mit Luxusgütern. Da auch bürgerliche Kaufleute und Niederleger die Hofhaltungen belieferten, herrschte ein Wettstreit aller Kaufleute um diesen lukrativen Absatzmarkt. Ein Dauerkonflikt schwelte vor allem zwischen den bürgerlichen Kaufleuten und den zahlreichen italienischen Hofhandelsleuten um die Benutzung der Semmeringstraße für den Transport empfindlicher Luxuslebensmittel wie Austern oder Südfrüchte. Durch die regelmäßige Ausstellung von Passbriefen für die Hofhandelsleute ab dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Privileg der bürgerlichen Kaufleute langsam untergraben.23 Mündete die Konkurrenz in einen offenen Konflikt, gestaltete sich ein Ausgleich schwierig, da jede Gruppe einem eigenen Gerichtsstand angehörte: Die Hofhandelsleute unterstanden dem Obersthofmarschall, die bürgerlichen Kaufleute den Stadtbehörden und die Niederleger weitgehend der Niederösterreichischen Regierung.24 Die Dominanz oberdeutscher und italienischer Kaufleute unter den nichtbürgerlichen Händlern geht aus einer Häuserbeschreibung Wiens von 1563 deutlich

20 Otto Gönnenwein: Das Stapel- und Niederlagsrecht. Weimar 1939, S. 111 f.; Landsteiner, Kaufleute, S. 206 f. 21 Fajkmajer, Handel, S. 552–554. 22 Richard Perger: Hofhandelsleute. In: Felix Czeike (Hg.): Historisches Lexikon Wien. Bd. 3. Wien 1994, S. 228 f. Vgl. auch Herbert Haupt: Das Handwerk bei Hof. In: Michael Hochedlinger u. a. (Hg.): Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Bd. 1 / 1. Wien 2019, S. 227–230, hier S. 228. 23 Fajkmajer, Handel, S. 548 f. 24 Rauscher / Serles, Niederleger, S. 157.

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hervor: Während Oberdeutsche mit mehr als 20 Einträgen zu gemieteten Kammern und Gewölben aufscheinen, entfallen auf Italiener („welsche Kaufleute“) rund halb so viele Nennungen. Konkurrenz aus anderen Regionen war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (noch) kaum vorhanden, wenn man von vereinzelten Breslauer, Salzburger, St. Galler oder niederländischen Händlern absieht.25

Neue Konkurrenten Ökonomisch, politisch und religiös motivierte Entscheidungen der habsburgischen Kaiser und Landesfürsten führten im 17. Jahrhundert zu Neuerungen, die vor allem konfessionelle Freiheiten, das Bürgerrecht, den Besitz von Immobilien sowie die Vergabe von Privilegien betrafen, aber auch die Zulassung neuer Kaufleutegruppen zum ganzjährigen Handel in Wien. Im Zuge der Gegenreformation wurden beispielsweise Protestanten ab 1623 vom Erwerb des Bürgerrechts ausgeschlossen, was den Wechsel der evangelischen oberdeutschen Niederleger in den Stand der bürgerlichen Kaufleute verhinderte.26 Umgekehrt wurde den Protestanten unter den bürgerlichen Kaufleuten verboten, sich bei den Niederlegern zu immatrikulieren, um einer Ausweisung zu entgehen.27 Auch Konflikte zwischen den Händlergruppen konnten zu Reformen führen: 1660 erreichten etwa die bürgerlichen Händler ein Verbot der gleichzeitigen Vergabe des Wiener Bürgerrechts und eines Hofhandelsprivilegs, nachdem es in den Jahrzehnten davor zu zahlreichen Doppelprivilegierungen gekommen war. Diesen Wettbewerbsvorteil hatten vor allem Italiener, denen als Katholiken das Bürgerrecht offenstand, genutzt.28 Der permanente Finanzbedarf der Habsburger für ihre weitgespannten politischmilitärischen Ambitionen führte seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zur Vergabe von Schutzbriefen und Privilegien an jüdische Kaufleute, für die seit 1420/21 ein Ansiedlungsverbot in Wien bestanden hatte. Auf Druck des Wiener Stadtrats wurden die Juden 1624/25 in eine eigene „Judenstadt“ vor die Tore Wiens umgesiedelt. Der Stadtrat argumentierte unter anderem mit der neuen Konkurrenz für die Kauf-

25 Österreichisches Staatsarchiv, Alte Hofkammer, Hofquartiersbücher Bd. 1, Beschreibung der ganzen Stadt, Wien, 1563. Da nicht immer der Name oder eine genaue Anzahl angegeben wurde, sondern nur pauschal von „(welschen) Kaufleuten“ gesprochen wird, können genauere Zahlen nicht angegeben werden. Vgl. die in der Literatur häufig zitierten, aber irreführenden und sachlich nicht begründbaren Zahlenangaben, Kategorisierungen und regionalen Zuordnungen bei Elisabeth Lichtenberger: Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City. Wien 1977, S. 69–71. 26 Csendes, Rechtsquellen, Nr. 83, S. 322–326. 27 Österreichisches Staatsarchiv, Alte Hofkammer, Sammlungen und Selekte, Patente 13.33, Generale Ferdinands II., Wien, 11.8.1629. 28 Perger, Hofhandelsleute, S. 229.

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leute und der ohnedies schon großen Raumnot in der Stadt.29 Dennoch durften die jüdischen Händler ihre von Bürgern gemieteten Handelsgewölbe in Wien auch nach dem Umzug behalten – ein Vorteil für Juden, Vermieter und Geschäftspartner, aber ein Ärgernis für die bürgerlichen Kaufleute und Krämer, die sich der unliebsamen Konkurrenz gerne vollständig entledigt hätten. Ebenfalls 1625 nahm Ferdinand II. die gesamte Wiener Judenschaft in seinen Schutz auf und verlieh ihr das Recht, dem Kaiserhof auf Reisen zu folgen, womit ihre Privilegien immer mehr jenen der Hofhandelsleute glichen.30 Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinde erleichterten es einer Pressure-Group von vornehmlich Wiener Kaufleuten und einflussreichen Hofkreisen, 1669/70 die neuerliche Ausweisung aller Juden aus Wien durchzusetzen. Dennoch etablierte sich bald wieder eine neue Hofjudenschaft, die insbesondere für die kaiserlichen Finanzen größte Bedeutung erlangte.31 Im ersten Verzeichnis des gesamten Wiener Handelsstandes, dem sogenannten ersten Wiener Merkantilprotokoll, finden sich für 1725 neben 283 bürgerlichen Kaufleuten, 80 Niederlegern und 49 Hofhandelsleuten daher auch 14 jüdische Händler in einer eigenen Rubrik.32 Das Merkantilprotokoll spiegelt auch Veränderungen hinsichtlich der Zusammensetzung der Wiener Kaufmannschaft wider: Neben den traditionell zahlreichen Oberdeutschen und Italienern scheinen zunehmend Savoyarden in der Quelle auf.33 Besonders augenfällig sind zudem die zahlreichen Nennungen von Nachkommen reformierter niederländischer Exulanten, die von Nürnberg aus nach Wien expandierten.34 Außerhalb der bestehenden Kaufleuteordnung standen die Händler aus dem Osmanischen Reich. Die Hohe Pforte und der Wiener Kaiserhof gewährten ihren 29 Sabine Hödl: Die Juden. In: Vocelka / Traninger, Residenz, S. 282–310, hier S. 282–285. 30 Peter Rauscher: Ein dreigeteilter Ort. Die Wiener Juden und ihre Beziehungen zu Kaiserhof und Stadt in der Zeit des Ghettos (1625–1670). In: Pils / Niederkorn, Zweigeteilter Ort, S. 87–120, hier S. 94 und 108; Hödl, Juden, S. 286. 31 Rauscher, Ein dreigeteilter Ort, S. 109 f.; Max Grunwald: Samuel Oppenheimer und sein Kreis. Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs. Wien / Leipzig 1913, S. 18 f.; Peter Rauscher: „Auf der Schipp“. Ursachen und Folgen der Ausweisung der Wiener Juden 1670. In: Aschkenas 16/2 (2006), S. 421–438, hier S. 433–435. 32 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bestand 2.3.2 Merkantil- und Wechselgericht, B 6.1, Protokoll I, 1725–1758. 33 Rauscher / Serles, Niederleger, S. 166–169. Zu den Italienern siehe Marion Dotter: Italienische Kaufleute, ihre Waren und Handelsaktivitäten im Wien des frühen 18. Jahrhunderts. In: Österreich in Geschichte und Literatur 63/4 (2019), S. 424–444. Zu den Savoyarden vgl. Veronika HydenHanscho: Reisende, Migranten, Kulturmanager. Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1740. Stuttgart 2013. 34 Andrea Serles: Nürnberger Händler und Nürnberger Waren. Reichsstädtische Wirtschaftsinteressen und der Donauhandel in der Frühen Neuzeit. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 35 (2017), S. 93–128, hier S. 120–123.

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Untertanen 1617 erstmals wechselseitige Handelsfreiheit. In seltener Übereinstimmung hatten sich zwei Jahre zuvor bürgerliche Kaufleute, Niederleger und hofbefreite Händler in einem Memorandum an die Niederösterreichische Kammer jedoch dezidiert gegen den direkten Handel mit türkischen Untertanen ausgesprochen; vielmehr plädierten sie für die Beibehaltung der Vermittlerrolle ungarischer und siebenbürgischer Kaufleute. Sie argumentierten vor allem mit den ungleichen Sicherheitsstandards, wodurch zwar „Tausent“ von den „Türken“ kommen würden, sich aber kein Wiener auch nur bis Ofen (Buda), geschweige denn darüber hinaus, wagen würde.35 Infolge des Dreißigjährigen Krieges unterblieb diese Ostexpansion des Wiener Handels weitgehend. 1666 wurde der Handelsvertrag dennoch erneuert und führte nun tatsächlich zu einem Aufschwung der türkisch-habsburgischen Handelsbeziehungen. Über die Zusammensetzung der Händlerschaft gibt ein Extrakt der Mauteinkünfte von osmanischen Untertanen aus dem Wiener Waaghaus der Jahre 1663 bis 1668 Auskunft: Von 175 Einträgen können 56 eindeutig Armeniern („Ermeni“) und 58 Serben („Räz“/Raize) zugeordnet werden; 61 entfallen auf nicht näher bezeichnete osmanische Untertanen, unter welchen auch italienische, deutsche und griechische Namen auffallen. Der mit Abstand am häufigsten genannte Herkunftsort war mit 110 Nennungen Griechisch Weißenburg (Belgrad), gefolgt von Ofen mit 39 und Konstantinopel (Istanbul) mit 22 Nennungen.36 Wie viele osmanische Untertanen in Wien ansässig geworden waren, kann nicht genau eruiert werden, Schätzungen gehen aber von nicht viel mehr als einem Dutzend aus.37 Die Wiener Kaufleute konnten ihrerseits, wie bereits im Memorandum von 1615 befürchtet, keine aktiven Handelsbeziehungen ins Osmanische Reich entwickeln. Einerseits wurden sie von türkischen Untertanen von Ofen und Belgrad ferngehalten, indem diese u. a. Gerüchte über grassierende Seuchen streuten,38 und auch die Praktiken türkischer Beamter und herumziehender Räuberbanden wirkten wenig einladend.39 Andererseits wurde der österreichische Handel mit dem Osma-

35 Lajos Gecsényi: Bécsi kereskedők memoranduma a kelet-nyugati kereskedelemről (1615). In: János Kalmár (Hg.): Miscellanea fontium historiae Europaeae. Emlékkönyv H. Balazs Éva történészprofesszor 80. Születésnapjára. Budapest 1997, S. 79–88, hier S. 82–87. 36 Österreichisches Staatsarchiv, Alte Hofkammer, Hoffinanz Ungarn, Akten Fasz. 521, Extrakt, 25.9.1669, fol. 49r–65av. Zu den Waren und Umsätzen der Serben siehe Carl von Peez: Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 36 (1915), S. 498–510. 37 Karl Teply: Die erste armenische Kolonie in Wien. In: Wiener Geschichtsblätter 28 (1973), S. 105–118, hier S. 108. 38 Peez, Handelsbeziehungen, S. 504 f. 39 Ausführlich: Peter Rauscher: Habsburgischer Protektionismus und deutsch-türkische Handelsbeziehungen im Raum der Oberen Donau zwischen dem Frieden von Passarowitz und dem Frieden von Belgrad (1718–1739). Eine Analyse der Aschacher Mautprotokolle [im Druck].

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nischen Reich ab 1667 durch die Gründung der kaiserlich privilegierten (ersten) Orientalischen Kompanie vollständig monopolisiert und der Wiener Händlerschaft entzogen. Nach anfänglichen Erfolgen brach die Kompanie im Zuge des Feldzugs der Osmanen gegen Wien 1683 zusammen.40 Bereits 1678 waren die in der Stadt ansässigen osmanischen Untertanen ausgewiesen worden – weniger auf Druck der Wiener Kaufleute als vielmehr auf Ersuchen des Hofkriegsrates, der sich potentieller Spione entledigen wollte.41 Trotzdem gab es am Ende des 17. Jahrhunderts wieder kleine Kolonien von Armeniern, die nun auch den Kaffeeausschank zu monopolisieren versuchten,42 sowie von Serben, die seit 1690 unter dem besonderen Schutz Leopolds I. standen.43 Wirklich attraktiv wurde Wien für osmanische Kaufleute aber erst durch den parallel zum Friedensvertrag von Passarowitz geschlossenen „Schifffahrts- und Kommerzien-Traktat“ vom 27. Juli 1718.44 Die darin enthaltene Zollvereinbarung begünstigte osmanische Untertanen innerhalb des Habsburgerreiches, die – im Gegensatz zu allen anderen in Österreich tätigen Kaufleuten – außer einem dreiprozentigen Einfuhrzoll keinerlei weitere Abgaben an den Landesfürsten zu bezahlen hatten.45 Neben Armeniern und Serben kamen nach 1718 vor allem Griechen nach Wien, die eine eigene Gemeinde gründen konnten.46 Es kam aber auch vereinzelt zur Ansiedlung muslimischer47 und jüdisch-sephardischer Kaufleute, die als osma-

40 Othmar Pickl: Österreichisch-ungarische Handelsbeziehungen entlang der Donau vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1987), S. 11–40, hier S. 31; Herbert Hassinger: Die erste Wiener orientalische Handelskompagnie 1667–1683. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 35 (1942), S. 1–53, hier S. 12–14. 41 Peez, Handelsbeziehungen, S. 505–507; Teply, Kolonie, S. 106. 42 Karl Teply: Johannes Diodato. Der Patriarch der ersten Armenier in Wien. In: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 28 (1972), S. 31–61, hier S. 57–59. 43 Walter Lukan: Velika seoba Srba. Der große Serbenzug des Jahres 1690 ins Habsburgerreich. In: Österreichische Osthefte 33/1 (1991), S. 35–50. 44 Olga Katsiardi-Hering / Maria A. Stassinopoulou: The Long 18th Century of Greek Commerce in the Habsburg Empire. Social Careers. In: Harald Heppner u. a. (Hg.): Social Change in the Habsburg Monarchy. Bochum 2011, S. 191–213, hier S. 198–200; 45 Bruce McGowan: Economic Life in Ottoman Europe. Taxation, Trade and the Struggle for Land, 1600–1800. Cambridge u. a. 1981, S. 23 f. 46 Vaso Seirinidou: Greek Migration in Vienna (18th –First Half of the 19th Century): A Success Story? In: Olga Katsiardi-Hering / Maria Stassinopoulou (Hg.): Across the Danube. Southeastern Europeans and their Travelling Identities (17th–19th C.). Leiden / Boston 2017, S. 113–134, hier S. 114; Anna Ransmayr: Untertanen des Sultans oder des Kaisers. Struktur und Organisationsformen der beiden Wiener griechischen Gemeinden von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis 1918. Wien 2018, S. 37–48. 47 Rauscher, Protektionismus, mit Hinweisen zur Handelstätigkeit der Muslime.

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nische Untertanen rechtlich wesentlich bessergestellt waren als die in Wien bereits ansässigen aschkenasischen Hofjuden.48 Während osmanische Untertanen einerseits durch das Zollprivileg sowie ihre hervorragende Vernetzung und einen wenig auf äußeren Glanz ausgerichteten Lebensstil der Wiener Kaufmannschaft Konkurrenz machten,49 engte andererseits die 1719 gegründete „Zweite Orientalischen Kompanie“ als kaiserlich privilegiertes Monopolunternehmen für den Großhandel mit der Türkei den Aktionsradius der Wiener Kaufleute in Richtung Südosten stark ein. Erst nach dem Bankrott der Kompanie 1740/41 konnten sich auch Wiener Kaufleute aktiv in den Handel mit dem Osmanischen Reich einbringen.50

Resümee und Ausblick Konkurrenz und Kooperation sind im Handelsleben zwei Seiten einer Medaille. Der permanente Wechsel zwischen diesen beiden Polen hängt nicht nur von Parametern wie Angebot und Nachfrage, vorhandenen Netzwerken oder persönlichen Präferenzen der Akteure ab, sondern auch von rechtlichen Rahmenbedingungen, die nicht zwangsweise auf ökonomischen Überlegungen basieren müssen. Erhebliche Bedeutung hatte die Unterscheidung zwischen Bürgern und Nichtbürgern, Untertanen des Kaisers oder fremder Herrscher, Katholiken und Nichtkatholiken sowie zwischen besonders finanzstarken Kaufleuten und weniger kapitalkräftigen Gruppen. Wien zog als Residenzstadt der Habsburger während der Frühen Neuzeit traditionell oberdeutsche und italienische Händler an, die entweder in der Wiener Bürgerschaft aufgingen oder sich einer der beiden privilegierten Kaufleutegruppen der Niederleger und der Hofhandelsleute anschlossen. Während der Herrschaft Ferdinands II. erreichte auch die Wiener Judenschaft eine Hofhandelsleuten vergleichbare Stellung. Nach Jahrzehnten des Agitierens konnten sich die Wiener Kaufleute ihrer um 1670 weit einfacher entledigen, als dies bei christlichen Konkurrenten möglich gewesen wäre, ohne allerdings den neuerlichen Zuzug von Juden verhindern zu können. Völlig außerhalb der Dreiteilung der Wiener Kaufmannschaft standen die Untertanen der osmanischen Sultane, die aufgrund zwischenstaatlicher Verträge in Wien ansässig geworden waren.

48 Christoph Lind: Juden in den habsburgischen Ländern 1670–1848. In: Eveline Brugger u. a.: Geschichte der Juden in Österreich. Wien 2006, S. 339–446, hier S. 351–353. 49 Traian Stoianovich: The Conquering Balkan Orthodox Merchant. In: Journal of Economic History 20 (1960), S. 234–313, hier S. 294 f. 50 Herbert Hutterer: Handelskompanien. In: Stefan Seitschek u. a. (Hg.): 300 Jahre Karl VI. 1711–1740. Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Wien 2011, S. 143–151, hier 146–149.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Die Vergabe von Privilegien an ethnisch-religiöse Gruppen oder einzelne Kaufleute und Kompanien hing auch vom aktuellen Finanzbedarf der Kaiser ab und wurde, wenn nötig, gegen den Willen des Wiener Stadtrats und anderer Akteure durchgesetzt. Der so geschaffene rechtliche Rahmen prägte weit stärker das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation zwischen den einzelnen Marktteilnehmern als ihre „nationale“ Zugehörigkeit und bestimmte auch den Handlungsspielraum des einzelnen Kaufmanns. Die theresianische Reformepoche führte zur völligen Neustrukturierung der Wiener Händlerschaft: 1764 wurde die Vergabe von Hofbefreiung eingestellt51 und zehn Jahre später durften auch keine neuen Niederleger mehr aufgenommen werden.52 Mit den Toleranzgesetzen Josephs II. der 1780er Jahre fanden schließlich die meisten religiös-konfessionellen Einschränkungen in Handel und Gewerbe ihr Ende.53

51 Perger, Hofhandelsleute, S. 229; Haupt, Handwerk, S. 230. 52 Rauscher / Serles, Niederleger, S. 159; Chaloupek u. a., Handel, S. 1009–1013. 53 Hödl, Juden, S. 299–302; Martin Scheutz: Legalität und unterdrückte Religionsausübung. Niederleger, Reichshofräte, Gesandte und Legationsprediger. Protestantisches Leben in der Haupt- und Residenzstadt Wien im 17. und 18. Jahrhundert. In: Rudolf Leeb u. a. (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien / München 2009, S. 209–236, hier S. 235 f.

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Section 9: Philosophical Diplomats, Enlightened Physicians and Learned Merchants – Multiple Roles and Competing Practices in Eighteenth-Century Scandinavia

Sophie Holm, Charlotta Wolff

Introduction

The eighteenth century, the latter half in particular, was a deeply formative period for science and rational world views in Sweden, a country that ceased to be an academic periphery and rapidly caught up with the scientific and literary communities on the European continent. The natural sciences were particularly appreciated for their public utility. It was an era of remarkable and rapid change in medicine, a discipline that became highly relevant also for the societal ideals and political projects of the Enlightenment. Within the sphere of diplomacy, the eighteenth century was, likewise, a transitional period during which the strong early modern imbrication of a diplomat’s public and private roles was weakened, and these tended to diverge. As for merchants in the northern Baltic, the end of the century marked the beginning of industrialisation, which emphasised the need for technological and scientific knowledge amongst businessmen and investors.1 The studies in this chapter originate in the Academy of Finland research project (2017–2021) “Agents of Enlightenment. Changing the Minds in Eighteenth-Century Northern Europe” which addressed the reception and effects of the Enlightenment in Scandinavia and the northern Baltic area between 1740 and 1810. Emphasising the individuals and practices behind intellectual change, the project showed that concepts and issues commonly associated with the Enlightenment were much more than discursive constructions. The spread of new information, such as radical philosophy and new scientific knowledge, brought with it expectations of new practices in most spheres of the society.2 These expectations and practices often conflicted with traditional role models and representations, sometimes with private interests 1 On the “scientific” eighteenth century in Sweden, see Sten Lindroth: Svensk lärdomshistoria. Frihetstiden. Stockholm 1975; Tore Frängsmyr: Svensk idehistoria. Bildning och vetenskap under tusen år. Del I 1000–1809. Stockholm 2004, pp. 185–354; Mathias Persson: Det villrådiga samhället. Kungliga Vetenskapsakademiens politiska och ekonomiska ideologi, 1739–1792. Lund 2020; Jacob Orrje, “The Logistics of the Republic of Letters. Mercantile Undercurrents of Early Modern Scholarly Knowledge Circulation.” In: The British Journal for the History of Science 53, no. 3 (2020), pp. 351–369; on diplomacy, Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Hillard von Thiessen / Christian Windler (eds.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln / Wien 2010, pp. 471–503. 2 On the paradigmatic significance of the Enlightenment, see Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago / London 2010, pp. 7–23; Anthony Pagden: The Enlightenment and Why It Still Matters. Oxford 2013; Stéphane Van Damme: À toutes voiles vers la vérité. Une autre histoire de la

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and often with other social obligations. The agents targeted here are diplomats as transmitters of new knowledge and publications, physicians and healthcare professionals as representatives of science, civil servants in charge of new administrative practices, and merchants and tradesmen with important information networks and a keen interest in new ideas and literature. All of these groups were end-users of scientific, political and economic literature. In her contribution, Elina Maaniitty discusses the conflicts inherent to physicians’ various roles in Sweden. In the eighteenth century, the societal significance of medicine increased. Medical professionals became prominent figures that took part in public discussions on society and science. This led to medicine being seen as an essential field and physicians as people who fought epidemics with instruments and treatments as well as writings, speeches and instructions. The new status of medical expertise at the intersection of public discourse, scientific debates and administrative agendas presented physicians with an array of duties, possibilities and roles they had not had in the previous century. Ulla Ijäs examines another group of early modern professionals, namely merchants. Her case study looks at the literary dealings of Johan Siegfried Ignatius (1749–1831), a merchant and Danish consul in Wiborg (today Russian Vyborg), and his business partner, Bremen-born Prussian consul Johann Friedrich Hackman (1755–1807). Ignatius possessed a significant library containing about one hundred volumes of dictionaries, guidebooks for merchants, history books and legal literature. Similar books were found in Hackman’s library. Alongside correspondence, printed publications were the main channels of information in the eighteenth and early nineteenth centuries; hence, they were competitive tools. By studying the merchants’ books, Ijäs traces the learned and informed merchant community, i. e. the network that transmitted information and knowledge, and discusses how this circulation of information was related to business competition. By looking at two officials, Count Gustav Philip Creutz (1731–1785) and Gustaf Johan Ehrensvärd (1746–1783), who shared a lively interest in Enlightenment philosophy and both worked as Swedish diplomatic agents on the European continent, Charlotta Wolff examines the extent to which philosophical emancipation and radical world views conflicted with the duties of the public office. Competition here is between private and public, between pleasure and duty, and between intellectual liberty and the exercise of authority when representing the Swedish monarchy. The intersections between a diplomat’s public and private figures are also the topic of Sophie Holm’s study on the criticism of Johann Albrecht von Korff ’s (1697–1766) actions as a Russian diplomat to the Swedish court in the 1740s. Von Korff was a

philosophie au temps des Lumières. Paris 2014; Antoine Lilti: L’héritage des Lumières. Ambivalences de la modernité. Paris 2019.

Introduction

freethinker and bibliophile who had been the president of the Russian Academy of Science before his diplomatic assignments. For most of his career, he served as a diplomat in Copenhagen, where he successfully conducted a social life gravitating around freemasonry. In Stockholm, where he served for a shorter amount of time, he was criticised for his use of diplomatic methods, which targeted a broader audience. By showing that von Korff participated in activities which became common practices a couple of decades later, Holm argues that the critique emanated partly from a conflict between early modern diplomatic norms and emerging practices within eighteenth-century diplomacy. The four studies presented in this section highlight Konkurrenz both as competition and co-existence. A co-existence of parallel, equally important roles amongst civil servants is illustrated in Maaniitty’s study of Swedish physicians. Maaniitty argues that the new status of medical science, with its new duties and roles, resulted in physicians encountering more diverse expectations. The new roles and expectations could prove troublesome to combine, which added to the already ethically and emotionally demanding nature of the profession. Physicians were increasingly expected to act as mediators of knowledge, and several medical books aimed at the general public were published. Another role with growing importance was that of a scientist. Being an expert became an increasingly significant aspect of the physician’s professional identity. Parallel roles had the potential of creating micro-conflicts. Wolff and Holm highlight diplomats with potentially conflicting private and public profiles. In Creutz’s case, the tension between a personal interest for philosophy and the official duties of the diplomatic mission was obvious. The materialist ambassador with republican leanings was, after all, the head of the Swedish Lutheran embassy congregation in Paris. As for Ehrensvärd, literary and philosophical interests somewhat interfered with his exercise of public authority during his short term as a theatre director. Likewise, von Korff ’s personal interests in philosophical literature introduced him to the mechanisms of clandestine debates, which, when transferred to his diplomatic methods, made him break away from the ideal of diplomatic prudence and discretion. Holm stresses the importance of political context as a premise for a conflict to rise. In Sweden, von Korff faced expectations to support an anti-French faction, but eventually, he faced a pro-French government, which created a diplomatically hostile environment for him. For the most part, however, the studied agents managed their multiple roles more or less successfully. Maaniitty shows how physicians lived up to the multiple expectations they faced, and Ijäs points to the merchants’ skilful adaptation to the needs and opportunities of trade, often compatible with their personal interests. Wolff illustrates how Creutz successfully kept the spheres of his public and private lives apart, retiring at times to the woods near Paris for some privacy with his closest friends and to escape the protocol and surveillance linked to diplomatic

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representation. As for Ehrensvärd’s brief diplomatic mission to Berlin, literature, arts and correspondence became his consolations in an uninspiring environment. It is clear that while von Korff took advantage of conflicts, Creutz and Ehrensvärd avoided them at all costs; the men preferred to take the toll personally rather than to let down their master and king. As former courtiers, both men were skilled at maintaining a balance between their public role and their private passions, and they were aware of the limits of their freedom and their margin of manoeuvre. Maaniitty and Ijäs stress the importance of collegiality and cooperation alongside possible competition. When discussing how the multiple roles and expectations of eighteenth-century Swedish physicians are to be understood, Maaniitty concludes that collegiality is a more fruitful theme than professional rivalry. In the early professionalisation of Swedish medicine, increased collegiality had a defining role. Ijäs shows that merchants, in their turn, gained a business advantage by assimilating a vast knowledge of various subjects, mainly in languages, politics and legislation, history, and geography. Through family ties, the studied merchants established a direct connection to one of the main book-selling houses in Germany, thus making cooperation between the merchants at the local and international levels essential. Ijäs argues that the benefits of cooperation exceeded its competitive downsides. Spreading valid information benefited the entire merchant community, and it was not in their mutual interest to hinder the wider circulation of knowledge. A final observation concerns book collections as manifestations of the multiple roles and sometimes competing personal interests of the officeholders. Von Korff, Creutz, Ehrensvärd, Ignatius and Hackman all had important personal libraries, and they also became nodes in literary networks and transmitters of literary novelties. Their role as diplomats and merchants with privileged access to information, to high society, and to borderless commercial or learned networks, made them particularly suited for such a role. Hackman’s book purchase networks reveal his key role in book distribution in the Eastern Baltic. Von Korff and Creutz were not only literary travellers, but they also travelled with their book collections and opened them to visitors, which can be seen as a way of propagating new ideas and ideals. Their books were representative of eighteenth-century literary culture in the sense that history, belles-lettres, dramatic literature and philosophy stood side by side with more practical writings on history, memoirs, laws, treaties, economics and dictionaries. These were not competing fields, but they were complementary. If the libraries reflected the professional careers of the studied agents to some extent, they were also sources of joy and peace of mind. In that sense, the balance between competing priorities in life and between public duties and private pleasures can also be found in the contents of the collections. To conclude, these studies show that the literary and scientific practices of the age of Enlightenment, including personal networking, correspondence and acting as a literary or philosophical agent while serving a sovereign, also had an impact outside

Introduction

literary and scientific circles, sometimes in a rather concrete way. This is most obvious in the case of the physicians, whose roles and tasks became those of someone who should enlighten the public and advocate for public health strategies. Also, with the increased volume of publications and literary distribution, the acquisition and dissemination of scholarly, philosophical and practical knowledge become competitive tools for the merchants. As for diplomats engaged in the dissemination of clandestine, philosophical or political information, they were faced with the choice of clearly separating their public and private figures or trying to merge the two into a political tool. Here, the choices diverged, as clearly shown in the cases of von Korff and Creutz. For both, however, as for the merchants and physicians, their books and readings, as well as the learned culture of the age of Enlightenment more generally, provided concepts and means to position themselves with regard to the evolving, multiple and shifting expectations of their professional and intellectual environment.

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Science, Practice, and Administrative Duties Conflicting Expectations and the Role of Medical Professionals in Late-Eighteenth-Century Sweden

Introduction The eighteenth century, the latter half of it in particular, was a deeply formative period for medicine and the medical profession in Sweden.1 In this article, I will discuss the manifold and at times conflicting roles that were part of being a physician in Sweden at this time. It was an era of remarkable and rapid change, as the societal significance of medicine grew notably, and the field was closely linked to the ideals of Enlightenment. As a result, the expectations that physicians encountered grew more diverse, while individual physicians also had more options to build a career that suited their personal interests. Despite the clear advantages of the changing status of the medical profession, the physicians’ new roles and expectations, and, indeed, their options, could prove troublesome to combine or reconcile. Such dilemmas added to the already ethically and emotionally taxing nature of the profession. They particularly affected district physicians, who had to bear grave responsibilities alone, often starting at a very young age. The concepts of competition and conflict will be understood here in a broad sense, as this article examines how they manifested themselves between roles and expectations rather than among individual physicians. I will briefly discuss the strategies employed by physicians to manage such conflicts. In this context, I find the themes of collegiality and cooperation to be more fruitful to analyse than that of professional rivalry. The eighteenth century can plausibly be considered the beginning of professionalisation in Swedish medicine, and in this process, increased collegiality had a defining role. Enlightenment ideals and the roles that physicians had in enacting and mediating them, in their turn, greatly influenced the societal presence and self-understanding of the profession.

1 This work was written as part of the project “Agents of Enlightenment. Changing the Minds in Eighteenth-Century Northern Europe”, funded by the Academy of Finland, 2017–2021, under grants number 307668 and 326253.

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The early formation of the medical profession In the seventeenth century, the number of educated physicians in Sweden was very low. While medicine was taught to a certain extent at Swedish universities, it was not sufficient for the degree of medicinae doctor, and aspiring physicians had to finish their studies in other European countries, most commonly in either the Netherlands or German-speaking regions. The universities of Leyden and Harderwijk were the most popular destinations. This continued to be the case well into the eighteenth century; finishing the entire training in Sweden only became possible in 1737. Even after this, it was common to finalise parts of the required studies abroad at renowned universities.2 The Swedish society or guild of physicians, the Collegium Medicum, was founded in 1663 by four medical professionals. The leading figure was Grégoire François du Rietz (1607–1682), an archiater of French origin. The founding of the Collegium was a significant step towards a more organised and defined medical profession in the country. In addition to protecting the interests of its members and giving advice on matters of medicine and health, it also served as a regulatory body. Would-be physicians had to pass an exam held by the Collegium before being allowed to enter the profession. The Collegium wielded significant power and was closely linked to the universities and learned societies as well as to administrative and governmental circles, being able to influence decision-making concerning matters such as epidemic prevention3 It undoubtedly also had an important role as a professional collegial forum. The rivalling profession of barber-surgeons also had a society that had somewhat similar functions. The Kirurgiska Societen or Societas Chirurgica was established in 1685, while the profession had had certain, defined privileges since 1571. The society organised anatomical demonstrations, granted diplomas to legitimised surgeons, and served as a regulatory body for the profession; the examinations for surgeons were, however, further overseen by Collegium Medicum. The relationship between the two societies – and the two professions – was not always an easy one, and during the late seventeenth as well as most of the eighteenth century, there were serious debates concerning the boundaries between and the rights and duties of the professions.4 Despite the efforts of the Collegium Medicum, the Swedish medical field was still very small and does not seem to have played a significant societal role in the

2 Bo S. Lindberg: Peregrinatio medica. Svenska medicinares studieresor i Europa 1600–1800. Uppsala 2019, pp. 13–15. 3 Otto E. A. Hjelt: Svenska och finska medicinalverkets historia 1663–1812. Vol. 1. Helsingfors 1891, pp. 7–10. 4 See e. g. Bo S. Lindberg: Kirurgernas historia. Om badare, barberare och fältskärer. Uppsala 2017, pp. 55–60.

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late seventeenth century. The situation changed rapidly during the next century, and while the foundations had been laid earlier, I argue that, to a great extent, the medical profession in Sweden was shaped by the needs, concerns, and aspirations of the eighteenth century.

Medicine as an essential field The societal importance of medicine in Sweden increased considerably from the mid-eighteenth century onwards. This shift directly affected the roles attributed to medical science and, thus, the everyday professional lives of the physicians. Medicine was increasingly seen as crucial for society, and the leading medical professionals became prominent figures that took part in public discussions on health, society, and science. The background of these developments can be traced to the turn of the eighteenth century. Around that time, Sweden’s population was hit by three severe demographic crises within a rather short timeframe. The first, and likely the most devastating, was the great famine that took place in 1695–1697. The catastrophic events were particularly harsh in Finland and Estonia, the former of these two suffering mortality estimated at one third of the population. The famine resulted in widespread displacement and disease outbreaks, as large groups of people were forced to leave their homes in search of food, often perishing on the roads in great numbers.5 Second, the Great Northern War wreaked havoc for two decades. In addition to a great number of lives, Sweden lost large areas of land around the Baltic Sea. The eastern part of the realm, Finland, was mostly occupied by Russia from 1713 to 1721. This brought on severe demographic and economic hardship. Along with many other branches of society, the universities experienced a period of stagnation. The university of Åbo in Finland was entirely non-functioning between 1713 and 1722, and most of its teachers and students fled to mainland Sweden. Most of the staff members who had fled did not return to the university after the Russian occupation ended. Resuming regular university functions after the war took time.6 The third demographic crisis was concurrent with the war and directly linked to it. The last plague epidemic of the Baltic region, also known as the Great Northern War plague outbreak, took place roughly between 1709 and 1713, depending on the

5 On the famine, see for example Mirkka Lappalainen: Jumalan vihan ruoska. Suuri nälänhätä Suomessa 1695–1697. Helsinki 2012. 6 Juha Manninen: Valistus ja kansallinen identiteetti. Aatehistoriallinen tutkimus 1700-luvun Pohjolasta. Helsinki 2000, p. 21.

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area.7 In mainland Sweden and Finland the epidemic took place in 1710–1711; the plague had not been present in these areas for over 50 years. The ongoing war made it extremely difficult or impossible to implement quarantines, and the movements of both troops and fleeing civilians aided the spread of the disease. The outbreak took a devastating toll on the Swedish realm, with mortality rising to 30 percent of the population in many cities and regions. Particularly in Stockholm, the mortality was very high.8 In short, the turn of the century can be seen as an extended period of catastrophic demographic conditions that affected the many regions of the Swedish realm in different ways. Despite regional differences, their combined effects were felt throughout the kingdom. This, in turn, caused profound and lasting changes in society, culture, and science. After the Great Northern War, Sweden was no longer the great power it had been for most of the previous century. This loss is often seen as a driving factor in the increased interest in science, economy and Enlightenment ideas – the latter taking very utilitarian and pragmatic forms – that emerged in the country from the 1720s onwards.9 This phenomenon seems to have been a rather complex combination of the desire for a revival of past glory and fears that the kingdom was too weak to defend itself. Particularly the Hat party, which was in rule for much of the Age of Liberty, strongly favoured sciences and utilitarian policies. Learned societies and individual scientific figures such as prominent professors often had close connections to the party.10 Thus, demography gained interest, as a strong, growing population was considered a central asset in military, political, and economic contexts.11 This led to medicine being regarded as an essential field, and physicians as people who fought the population’s enemies – epidemic diseases – with medical instruments and treatments as well as through writings, speeches and instructions. A prominent example of the emergence of topics such as public health and epidemic prevention was the founding of Sundhetskommissionen, the Health Commission, in 1737. It

7 Karl-Erik Frandsen: The Last Plague of the Baltic Region 1709–1713. Copenhagen 2010. 8 For a detailed account of the epidemic in Sweden, see Bodil E. B. Persson: Pestens gåta. Farsoter i det tidiga 1700-talets Skåne. Malmö 2001. 9 On the utilitarian aspects of Enlightenment in Sweden, see Jari Niemelä: Vain hyödynkö tähden? Valistuksen ajan hyötyajattelun, luonnontieteen ja talouspolitiikan suhde Pehr Adrian Gaddin elämäntyön kautta tarkasteltuna. Helsinki 1998, pp. 59–60. On growing interest in science and the Enlightenment, see Sten Lindroth: Svensk Lärdomshistoria. Vol. 3 (Frihetstiden). Stockholm 1997, pp. 11–13. 10 See ibid. as well as Mathias Persson: Det villrådiga samhället. Kungliga Vetenskapsakademiens politiska och ekonomiska ideologi, 1739–1792. 11 Karin Johannisson: Det mätbara samhället. Statistik och samhällsdröm i 1700-talets Europa. Arlöv 1988, pp. 96–97.

Science, Practice, and Administrative Duties

was an official body mainly tasked with the prevention of epidemics. The members included physicians as well as other civil servants such as magistrates.12 Simultaneously, statistical thinking emerged with Enlightenment. Along with taxonomy, statistics were considered a new, effective and highly pragmatic way of organising, displaying and mediating information. In Sweden, this interest in demography culminated in the foundation of Tabellverket, a national population statistic, in 1749. The first nationwide statistics13 collected and combined by Tabellverket revealed that the population was very small, and that mortality caused by epidemic diseases was shockingly high. Infant and child mortality in particular caused alarm in scientific circles as well as within the country’s administration, and Tabellverket’s reports were declared as strictly classified.14 Public health became a central concern, which further highlighted the vital role of physicians.

The many roles of the physician The new status of medical science at the intersection of public discourse, scientific debates and administrative agendas presented physicians with an array of duties, possibilities and roles that they had not had in the previous century. For the most part, their work still consisted of “practical medicine”, defined by meeting patients and treating all kinds of health complaints. In addition to this, however, many physicians increasingly took part in public discussion, particularly on matters concerning public health. While there was a great demand for medical professionals in eighteenth-century Sweden, the number of physicians in the country was still very low. Since there was a severe shortage of capable physicians as their societal importance grew, the existing medical professionals very likely found themselves with much more work than they had time for and with options to pursue whichever type of career they most wanted.

12 Hjelt, Svenska och finska medicinalverkets historia, vol. 1, pp. 342–350. 13 The term “statistic” is used here instead of “census”, as the latter refers to a process where information on the population is gathered through the methods of asking the residents of a particular area questions concerning e. g. their age and the size of their household. Tabellverket’s statistics were, however, derived from parish records such as lists of christenings, weddings, and burials. As such, they are generally considered more reliable than censuses, as in the latter people have a tendency to round their ages to the nearest milestone of 5 or 10 years. 14 On the classified reports, see Johannisson, Det mätbara samhället, p. 163. The alarm and worry caused by the population statistics were referenced in many contemporary writings, such as speeches held at the Royal Swedish Academy of Sciences. A later example is the speech held by Abraham Bäck in 1764, which begins with laments of the great amounts of lives lost to epidemic diseases each year and directly references population statistics. Abraham Bäck: Tal om Farsoter, som mäst härja ibland Rikets Allmoge. Stockholm 1765, pp. 3–4.

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What were the roles that a physician could or had to fill in eighteenth-century Sweden? As stated above, the most obvious and important was still that of a practitioner. However, this role was not exclusive to physicians. University-educated doctors had to compete with barber-surgeons, quacks, midwives, and healers practising folk medicine, as patients tended to have a less distant and more trusting relationship with these individuals, especially in remote rural communities.15 It is likely that a large part of the rural population never met a physician during their lifetimes, and it was not easy to gain the trust of those who did. This mistrust, and the inadequate number of medical personnel, were behind another important task that physicians now faced: that of enlightening the public. During the latter half of the eighteenth century, physicians acted more and more often as mediators of knowledge. Several medical books aimed at the general public were published. These books, such as Johan Haartman’s (1725–1787) Tydelig Underrättelse Om de Mäst Gångbara Sjukdomars Kännande och Motande from 1759, usually listed the symptoms of common diseases and gave detailed advice on how to treat them. They were also highly useful for priests as diagnostic manuals, as Tabellverket demanded them to list the causes of death for all those buried in their parish. Along with such books, another way to increase the accessibility of information on diseases, public health, and healthy living habits for common people was through short texts that were published in popular calendars. These were aimed at anyone who could read, and they included miscellaneous information on e. g. annual agricultural tasks, the seasons, weather conditions, nature, and medicine. Nils Rosén von Rosenstein (1706–1773) wrote a series of texts on children’s diseases for these calendars in the early 1750s. Much of this material was later published in his famous paediatric treatise Underrättelser om barns sjukdomar och deras botemedel in 1764.16 Including medical texts and topics in calendars that had a clear educational purpose shows that medicine and the expertise of medical professionals were seen as vital knowledge worthy of wide circulation. Many of the shorter popular medical books and pamphlets had initially been speeches held for the Royal Swedish Academy of Sciences (Kungliga Vetenskapsakademien). They were later printed, which made them available for anyone interested. These prints sometimes included commentaries or “replies” (svar) written by other members of the academy in the form of shorter texts attached as an epilogue. While most “replies” were short and mainly focused on praising the speech, longer answers with more discussion can also be found.

15 On the lack of educated physicians and on various healers and quacks, see Hjelt: Svenska och finska medicinalverkets historia, vol. 1, pp. 3–4 and further. 16 On calendars and Rosenstein, see Urban Örneholm (ed.): Four Eighteenth-Century Medical Dissertations under the Presidency of Nils Rosén, ed. and transl., with an introd. and commentary. Uppsala 2003, p. 15.

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Thus, speeches were first presented to and discussed amongst scientists and then distributed further to those outside the scientific community. With the “replies”, even exclusive academic discussion could be, to a degree, mediated to laypeople.17 The third role of a physician was, indeed, that of a scientist and a member of the scientific community. During the course of the eighteenth century, medicine as a discipline was increasingly seen as an ambitious, evidence-based science. Enlightenment ideals of rationality, exactitude, and empiricism shifted medicine further in this direction. The same values were reflected in the popularity of statistics and taxonomy, which in turn became increasingly important tools for both medicine itself and the efforts to improve public health. The idea of being a scientist and an expert in a specialised field became a more and more significant aspect of being a physician. Many established physicians were active members of learned societies, and topics related to medicine and public health were often present in speeches and publications, for instance by the Royal Academy of Sciences. The most important scientific periodical in the kingdom, Vetenskapsakademiens Handlingar, often featured these topics, and ever since its founding in 1739 it was an important publication venue for physicians.18 The importance of medicine granted prominent physicians significant power and influence. As the number of medical professionals, and of scientists in general, was low, the scientific circles were small. These often heavily overlapped with the circles of civil servants, such as those serving in governmental bodies and regional administration. Moreover, medical professionals often served in specialised official bodies that worked within the realm of medicine and public health. Under such circumstances, particular individuals could gain a noteworthy status in several areas. A telling example is the case of Abraham Bäck (1713–1795), one of the most famous Swedish physicians of the eighteenth century. During his career, he served as the royal livmedicus, as the president of the Collegium Medicum, and as a member of both the Sundhetskommission and the Royal Swedish Academy of Sciences, where he often gave speeches. He was appointed as archiater, and he actively discussed medical topics in both scientific treatises and texts aimed at the general public. He was also a close friend of other leading medical scientists, such as Nils Rosén von Rosenstein (1706–1773) and Carl Linnaeus (1707–1778). Together with these two, Bäck was closely involved in the reformations of Swedish medical education from

17 ”Replies” are very common in printed speeches. For example, a speech on the plague held by Nils Rosén von Rosenstein in 1772 contains an attached reply written by the secretary of the Academy. Nils Rosén von Rosenstein: Tal om pesten och om dess utestängande ifrån et land. Stockholm 1772. 18 Lindroth, Svensk lärdomshistoria, vol. 3, p. 469.

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the 1730s onwards.19 His career is a fascinating example of the societal relevance and respect medicine gained in eighteenth-century Sweden.

Conflicting expectations and collegial support While the physicians’ various roles could provide an array of options to build a career, they were not necessarily easy to combine. Prominent and influential physicians could often choose what they wanted to concentrate on. This was not, however, the case for all medical professionals. District physicians in particular could not pick and choose, but they had to fill each role and expectation to the best of their ability, as they were alone responsible for the medical care of their district. Since Sweden had far fewer educated physicians than needed, the districts were quite large, usually comprising an entire province. Despite being fully occupied with practical work, a considerable part of their working time often had to be spent convincing the people of their district of the benefits of their services as well as mediating knowledge of healthy lifestyles and the prevention of diseases. In their daily work, district physicians encountered both mistrust and outright resistance, notably in relation to smallpox inoculation. The practice of inoculating smallpox began in Sweden in 1754 and slowly became more widespread towards the end of the century. Inoculation faced considerable opposition especially in rural populations, and district physicians reported that they often had to devote much of their time to assuring their patients that inoculation was indeed beneficial.20 District physicians were also expected to act as agents of the central administration as well as of the scientific community. For instance, Sundhetskommissionen and later Collegium Medicum, as well as govermental bodies, required them to write extensive reports of not only their work but also of the diseases they had encountered and the weather conditions, which they had to monitor daily. Having to fill all these roles was a troublesome task, and many district physicians likely struggled with self-doubt and feelings of inadequacy. When appointed to a district, a physician usually had very recently finished his studies. Thus, many district physicians began their careers at a young age, often in their early twenties. The lack of experience combined with the various expectations and physical isolation from colleagues likely added to the stressfulness of the profession. Collegial support, such as guidance and second opinions provided by older and more experienced physicians, could alleviate such experiences, but in a country of such long distances, 19 Lars-Gösta Wiman: Abraham Bäck. Linnés vän och nydanare av svensk läkarutbildning. Uppsala 2012, pp. 9–12. 20 Juhani E. Railo: Variolaatio Suomessa 1754–1801. In: Hippokrates. Suomen Lääketieteen Historian Seuran vuosikirja 11 (1999), pp. 47–75, here p. 61.

Science, Practice, and Administrative Duties

it was not easy to meet colleagues regularly unless one worked in a major town. For this reason, long-distance discussion in the form of letters and scientific periodicals was essential. It was common that medical periodicals acted as a forum of ongoing discussion and debate, as observations and questions were expressed and replied to on their pages. Such discussions could be carried on in several issues, with several physicians participating.21 Private letters, in turn, allowed more candid discussions on delicate matters as well as on personal experiences and feelings.

The exclusiveness of medical expertise As the diversification of roles, expectations, and responsibilities that physicians faced occurred simultaneously with the profession becoming more organised and, indeed, professionalised, it became increasingly necessary for them to define the boundaries of their field, that is, to define who should be considered legitimate medical professionals. Collegiality, as well as rivalry, is a central aspect of professionalisation, and it, in its turn, must be defined not only by whom it includes but also by whom it excludes. The Collegium Medicum had, of course, sought to regulate this already in the seventeenth century, but in the latter half of the eighteenth century, the societal importance of medicine made these questions more pressing. As the responsibilities of medical professionals grew, it also became more urgent to ensure that everyone who aspired to fill the duties of a physician was fit to do so. Furthermore, it can be argued that due to their elevated societal status, the physicians became more self-assured and were therefore increasingly keen to claim their expertise as exclusive to the profession. This exclusiveness was reflected by physicians distancing themselves not only from various other groups that provided treatments, but also from other fields of science. The latter distinction became more notable in the last decades of the century. Such developments were certainly not specific to medicine, as the late eighteenth century in general saw a trend of specialisation in sciences and, as a result, of fragmentation of scientific knowledge and expertise due to the vastly growing amount of information. The lack of an adequate number of physicians, however, sometimes made it impossible to adhere to strict definitions of expertise and qualifications. Clergymen, for example, often had to take on medical tasks in addition to the duties of their own professions, in case there were no physicians available when needed. This is particularly visible in relation to smallpox inoculation. Medical professionals faced a difficult dilemma: there were simply nowhere near as many physicians available as

21 Such discussions, open letters, and replies are common, for example, in the first Swedish medical periodical Wecko-Skrift för Läkare och Naturforskare, which was established in 1781.

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were needed to carry out extensive inoculations, but at the same time inoculations performed by uneducated and unskilled people could both put patients’ lives at risk and make the public even more mistrusting of the procedure. In many cases, the benefits were deemed greater than the risks, and physicians often taught clergymen, midwives, and barber-surgeons to inoculate smallpox. This considerably increased the coverage of inoculations, especially in remote rural regions.22 The integrity of specialised professional expertise and the ideal of making information – especially expertise as critical and, if misused, potentially dangerous as medical knowledge – available for anyone interested are competing values that often clash. This duality between the ideal of “democratic”, public knowledge and specialised expertise that, to some extent, had to be exclusive due to the responsibilities it carried with it, was also a larger issue in Enlightenment ideas, and such ethical dilemmas were certainly not limited to the medical profession. When it comes to defining certain areas as exclusive to medical professionals, a rather revealing step was taken in 1767. The Sundhetskommission, exactly 30 years after its founding, was dissolved, and its duties, powers, and privileges were de facto given to the Collegium Medicum.23 There was no longer a place for civil servants and other individuals outside the medical profession to make decisions on public health alongside physicians. Physicians were civil servants, writing reports and carrying out government-controlled duties such as inoculations and inspections, and, in a sense, public health now belonged to them as their own exclusive domain. Such exclusiveness, more or less consciously accepted and encouraged by administrative authorities, clearly denotes professionalisation. During the last decades of the eighteenth century, medicine increasingly distanced itself from other scientific disciplines. This trend is mirrored in the emergence of specialised publications, learned societies, and professional gatherings; there was a growing demand for forums intended exclusively for members of the medical profession. The unification of medicine and surgery, which was made official in 1797 by merging the society of surgeons, Kirurgiska Societeten, as well as apothecaries, into Collegium Medicum, is a part of the same trend.24 As medicine was seen as an empirical science and practice rather than one of the more theoretical sciences, it was increasingly natural for physicians to consider surgeons as close colleagues, and vice versa. The unification, however, might also be seen as an act of eliminating competition by subjecting the competing professions to the same regulatory body, which now could define the required qualifications of

22 On the diverse people performing inoculations, see Otto E. A. Hjelt: Svenska och finska medicinalverkets historia 1663–1812. Vol. 2. Helsingfors 1892, p. 435. 23 Hjelt, Svenska och finska medicinalverkets historia, vol. 1, pp. 347–349. 24 Ibid., vol. 1, pp. 314–315.

Science, Practice, and Administrative Duties

surgeons as well as physicians. Collegiality, cooperation, and, in this case, unification, can thus be understood as a strategy against the negative effects of rivalry and the possible societal problems it might have caused. There had been serious competition, rivalry, and even outright opposition between the two professions. After the unification, physicians, surgeons, and apothecaries did not only need to work side by side, but they were also under the same regulatory body, had similar duties, and were represented by the same society. This meant that they also participated in meetings and discussions in the same professional forums. Even before the official unification, texts written by surgeons were rather common in the medical journal Wecko-Skrift för Läkare och Naturforskare, and such texts seem to have received equal respect as those written by physicians and were referenced to similarly. Throughout the century, several prominent individual surgeons were also highly respected by physicians, and took part in scientific and public discussions on medical topics.

Conclusions The main conclusion of this article is that the eighteenth century was a formative period in Swedish medical science, and that it should be regarded as an early stage of professionalisation of medicine in the kingdom. These developments occurred largely due to medicine being seen as a central, essential field that had a critical role in fighting societal threats such as epidemics and child mortality. This status led to the physicians facing an array of new roles, responsibilities, and expectations, which provided diverse career options but could also prove hard to be fulfilled. I argue that this new situation accelerated the process of professionalisation, and that the growing demand of collegiality as well as Enlightenment ideals were driving forces in this process. The roles that physicians had as agents of Enlightenment – mediating knowledge, being active members of learned societies, and working together with the administration – deeply affected the self-understanding of the profession. Enlightenment ideals contributed to the societal presence and status of medicine as well as to the collective values of medical professionals. As the responsibilities and privileges increased, it became necessary to define medical expertise and competence more and more exclusively. The parameters of how, when, and to whom it was appropriate and acceptable to mediate this expertise had to be set carefully. Strict definitions, however, were often impossible to maintain due to realities such as the inadequate number of competent physicians.

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Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

Johan Siegfried Ignatius (1749–1831), a merchant and Danish consul in Wiborg (now Vyborg, Russia), left a significant library of German-language books when he died in 1831. The books are all listed in his estate inventory and comprise about one hundred volumes of dictionaries, guidebooks for merchants, history books and legal literature. His business partner, the Bremen-born Prussian consul Johann Friedrich Hackman (1755–1807), housed similar books in his library, which was also documented after his death in 1807. Both men were bibliophiles and merchants in Wiborg, a middle-sized port town on the Karelian Isthmus established in the thirteenth century by the Swedes and annexed by Russia in 1721. Ignatius and Hackman were business partners in a firm that carried their name. They owned sawmills, exported timber, and imported salt and colonial goods, a business that was highly typical of the merchant community in the area. After Hackman’s sudden death in 1807, Ignatius continued the business with Hackman’s widow, Marie Laube; when he retired in 1816, he left the business to Laube and her son, who successfully managed the merchant house, which was called Hackman & Co, until the 1860s.1 In this chapter, I will study Ignatius’s and Hackman’s intellectual and scientific knowledge and how it benefited them in their business competition. The source material consists of letters preserved in the Brief Copey Bücher in the “Hackman & Co” archives, kept in the Central Archives for Finnish Business Records. I will also study the books they owned based on the above-mentioned inventories.2 The books reveal the advantage in competition these merchants gained through their knowledge of a variety of subjects, mainly languages, politics and legislation, history and geography. The book printing, book collecting and distribution of books in early modern Europe is a well-studied chapter in history.3 If we look at modern Finnish historiog1 Örnulf Tigerstedt: Kauppahuone Hackman. Erään vanhan Wiipurin kauppiassuvun vaihteet 1790–1879, transl. from Swedish by Emerik Olsoni. Part 1. Helsinki 1940. 2 A copy of Ignatius’s inventory is kept in the Åbo Akademi Library manuscript collection, and a partial copy of Hackman’s inventory is published in Örnulf Tigerstedt: Kauppahuone Hackman. Erään vanhan Wiipurin kauppiassuvun vaihteet 1790–1879, transl. from Swedish by Emerik Olsoni. Part 2. Helsinki 1952, annex 5, pp. 679–682. 3 Robert Darnton: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie, 1775–1800. Cambridge (MA) / London 1979; Reinhard Wittman: Geschichte des deutschen Buchhandels. München

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raphy, however, the studies have focused on vernacular literature, but less is known about the books written in another language than Finnish or Swedish and about those published before the 1850s.4 In the Baltic states, studies concerning literature in German from the seventeenth to the nineteenth centuries have been published,5 but these studies seldom include Finland, where there were fewer German-speaking people than in the Baltic states. The chapter will focus on the period from the 1790s to the early nineteenth century, when industrialization took its first steps in the northern Baltic; the timber merchants and sawmill owners were the first to take advantage of industrialization and to face international business competition. The chapter pays attention to the German-speaking population in the area. Hackman’s native language was German, and Ignatius, whose native language was Swedish, had adopted German as the language of his business. And finally, the chapter will shed light on the Germanspeaking urban bourgeoisie networks by illustrating book-purchasing routes from Germany to Wiborg.

Information and business competition In business studies, competition is typically considered the essential logic of business.6 Economists studying modern business have pointed out that before the

1991; Roger Chartier: The Order of Books. Readers, Authors, and Libraries in Europe Between the Fourteenth and Eighteenth Centuries. Stanford 1994; Nicolas Barker (ed.): A Potencie of Life. Books in Society. London 1993; Leila Koivunen / Janne Tunturi (eds.): Papyruksesta PDF:ään. Tutkielmia kirjan historiasta. Turku 2008; Christine Bénévent et al. (eds.): Passeurs de textes. Imprimeurs et libraires à l’âge de l’humanisme. Paris 2012; Frédéric Barbier: Histoire des bibliothèques. D’Alexandrie aux bibliothèques virtuelles. Paris 2013; Urszula Bonger et al. (eds.): Verlagsmetropole Breslau 1800–1945. München 2015. 4 Minna Ahokas: Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa 1700–luvulla. Helsinki 2011; Cecilia af Forselles / Tuija Laine (eds.): The Emergence of Finnish Book and Reading Culture in the 1700s. Helsinki 2011. 5 Tiiu Reimo: Das Druck- und Verlagswesen in Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Klaus Garber / Martin Klöker (eds.): Kulturgeschichte der Baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. Oldenburg 2011 [Reprint of Tübingen 2003], pp. 59–82; Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600–1657). Oldenburg 2005; Carola L. Gottzman / Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 3 vols. Berlin / New York 2007; Heinrich Bosse et al. (eds.): Baltische Literatur in der Goethezeit. Würzburg 2011. 6 Annika Tidström / Åsa Hagberg-Andersson: Critical Events in Time and Space When Cooperation Turns into Competition in Business Relationships. In: Industrial Marketing Management 42 (2012), pp. 222–343, here p. 333; David Ford / Håkan Håkansson: Competition in Business Networks. In: Industrial Marketing Management 42 (2013), pp. 1017–1024, here p. 1017.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

nineteenth century, competitive thinking in business was limited: firms and merchants lacked the potential to influence competitive outcomes.7 Historians have demonstrated, however, that this lack of means to influence the trading environment and business is a result of a slightly defective way of seeing the business environment and past reasoning. Before the modern business environment was born, economic competition and strategic thinking took different forms. Collaboration between local merchants or traders within a branch (such as timber) might have been sought after, resulting in less competition between merchants involved in the same trade. Yet cooperation and competition were, and in fact still are, simultaneous processes in business networks.8 During Ignatius’s and Hackman’s lifetimes, access to the merchant profession was controlled by guilds and professional organizations. In 1785, in her Charter for the Towns, Catherine II stated that access to foreign trade was limited to merchants of the first guild, to which Hackman and Ignatius belonged. Entering international business necessitated wealth: only merchants whose annual capital9 was over 10,000 rubles could become members of the first merchant guild, while poorer merchants could only do domestic trade. The old Swedish system, which was restored after 1812 when Wiborg was reunited with the Grand Duchy of Finland, emphasized merchants’ training and knowledge in trade. In addition to his personal capacities, the new merchant had to be accepted by the merchant community. The community controlled who could enter, – that is, who could be granted a burgher’s privileges and accepted as a member of the urban merchant community. In both systems, access to international trade was a privilege.10 Historians have discussed whether merchant associations and guilds restricted competition.11 In Wiborg, there were typically fewer than five merchants who belonged to the first guild and who took part in foreign trade. All these men knew each other well, and some of them were relatives or related through marriage. These merchants competed with first guild merchants from Narva and St. Petersburg who also sold and shipped timber. Despite the close bonds within the merchant

7 Pankaj Ghemawat: Competition and Business Strategy in Historical Perspective. In: The Business History Review 76/1 (2002), pp. 37–74, here p. 38. 8 Tidström / Hagberg-Andresson, Critical Events in Time and Space, p. 336; Ford / Håkansson, Competition in Business Networks, p. 1023. 9 Net profit and available cash after the accounts were closed annually. 10 From 1785, in Russia, merchants were divided into three guilds with different privileges. The first guild was entitled with the import and export trade. On the guilds, see Alison K. Smith: For the Common Good and their Own Well-Being. Social Estates in Imperial Russia. New York 2014, p. 24; George E. Munro: The Most Intentional City. St. Petersburg in the Reign of Catherine the Great. Madison / Teaneck 2008, pp. 63, 104. 11 Sheilagh Ogilvie: Institutions and European Trade. Merchant Guilds, 1000–1800. Cambridge 2011, p. 99; ead.: The European Guilds. An Economic Analysis. Princeton 2019, pp. 439, 441–445, 509, 566.

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community in Wiborg, businesses were rivals at the local level. For example, when a foreign ship came to pick up her cargo, there was competition about who could sell his timber to this ship. Sometimes, when a Wiborg merchant had made a deal with a captain beforehand, another merchant made a better offer and the ship captain loaded his timber, acting against the original agreement, or the ship sailed to St. Petersburg (Kronstadt) and collected its cargo there. The guild system, the small size of the merchant community, and family ties did not, in other words, end competition, but they might have restricted competition to some extent.12 One of the key tools for modern13 and early modern business competition was the spread of information.14 Merchants were seeking new and valid information from various sources to gain advantages over their competitors.15 Information was spread by correspondence and newspapers, and knowledge was gained through merchant training. Information was also available in merchant manuals or handbooks, which were compilations of practical information evolving from medieval Pratiche della mercatura. From the late thirteenth century, starting in northern Italy, the handbooks provided information about weights, measures, currencies and exchange rates, techniques, markets, customs, logistics and other important details concerning trade. Between 1470 and 1820, approximately twelve thousand manual titles were published in Europe. By the latter half of the eighteenth century, merchant manuals had become part of the pedagogical institutionalization of business knowledge: a young merchant or merchant-to-be would learn the basics of his trade by reading a manual or two. Furthermore, scholars have pointed out that owning a merchant manual might be more of a sign of group identity than a daily source of information: there were better, faster and more trustworthy ways of gaining information than outdated printed manuals, which at their best were compilations of useful trivia.16 However, some scholars have claimed that merchant

12 On business competition on the northern Baltic in the early 19th century, see Jarkko Keskinen: Cooperative Competition. Business Culture in the Finnish Merchant Community in the First Half of the Nineteenth-Century. In: Scandinavian Journal of History 44/3 (2019), pp. 284–309. 13 Tidström / Hagberg-Andersson, Critical Events in Time and Space, p. 342. 14 I have used information and knowledge as overlapping terms. Typically, knowledge refers to ideas and facts that a person has profoundly understood. To gain extensive knowledge, a person must absorb a great deal of information. Daniel R. Headrick: When Information Came of Age. Technologies of Knowledge in the Age of Reason and Revolution, 1700–1850. Oxford / New York 2000, pp. 4–5. 15 Ogilvie, Institutions and European Trade, p. 345. 16 Joseph F. Stanley: Negotiating Trade. Merchant Manuals and Cross-Cultural Exchange in the Medieval Mediterranean. In: Frontiers. The Interdisciplinary Journal of Study Abroad 30/1 (2018), pp. 102–112, here p. 103; John E. Dotson: Commercial Law in Fourteenth-Century Merchant manuals. In: Medieval Encounters. Jewish, Christian and Muslim Culture in Confluence and Dialogue 2/3 (2003), pp. 204–213, here p. 204; Jochen Hoock et al. (eds.): Ars Mercatoria. Handbücher und Traktate für den Gebrauch des Kaufmanns, 1470–1920. Eine analytische Bibliographie. Vol. 3: 1470–1700.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

manuals had several advantages over other forms of communication, providing information similar to what direct network contacts might give. Merchant manuals may have given their readers a competitive advantage over those who relied solely on verbal communication.17

Two libraries By studying the books the merchants owned, it is possible to trace the learned and informed merchant community, that is, the network that circulated information and knowledge. The Ignatius library counted over one hundred volumes. Hackman’s library was similar in size. It is difficult to say to what extent these two libraries were comparable in size and quality to the other private libraries in the area. For example, in the 1830s, the vice-chancellor of the Imperial Alexander University in Helsinki, General Alexander Amatus Thesleff, had a private library of similar size, and a rural parish priest in Eastern Finland had a slightly smaller library.18 On the other hand, even in 1737, a certain Finnish university professor’s inventory included a library of over 1300 volumes, and in the 1760s, a land surveyor owned a library roughly the size of the professor’s.19 There was a long European tradition of merchants owning books. Merchants expressed their group identity by owning (but not necessarily reading) books, especially classical texts20 that gave a merchant an aura of sophistication and intelligence. Philosopher Caspar Barlaeus (1584–1648), the founding professor of the Amsterdam Athenaeum, called for a “wise merchant” who would have not only material

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Paderborn et al. 2001; Daniel A. Rabuzzi: Eighteenth-Century Commercial Mentalities as Reflected and Projected in Business Handbooks. In: Eighteenth-Century Studies 29/2 (1995/1996), pp. 169–189, here p. 170–172. Donald J. Harreld: An Education in Commerce. Transmitting Business Information in Early Modern Europe. In: Leos Müller / Jari Ojala (eds.): Information Flows. New Approaches in the Historical Study of Business Information. Helsinki 2007, pp. 63–83, esp. pp. 65, 81–82. Thesleff ’s library was donated to the National Library of Finland in the 1990s by his family. The rural priest’s library is kept in the Parikkala municipality library. Both libraries have been studied by the author of this chapter. According to Ahokas in Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, p. 132, it was quite typical that a parish priest owned c. 100 books in the latter part of the eighteenth century, but some of them owned hundreds of books. Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, pp. 101, 126. Andrea Finkelstein: Gerard de Malynes and Edward Misselden. The Learned Library of the Seventeenth-Century Merchant. In: Book History 3 (2000), pp. 1–20.

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wealth but also spiritual wealth and had knowledge of the classical traditions.21 Barlaeus’s idea may have been reflected in merchant libraries during the following centuries. Because only the inventories have survived and not the actual books, it is impossible to know whether the books in Ignatius’s and Hackman’s libraries were in good condition or much used but perhaps purchased secondhand. Ignatius and Hackman might have been keen readers, or they might have just kept the books on the shelves of their cabinets. If the books had survived, the possible markings made by a reader could have been studied. The occupational and social status of a person does not reveal anything about his reading habits; owning books was a sign of social status, not necessarily of education, knowledge or intellectual ambitions. Yet, for merchants seeking information, keeping unread books about trade-related issues in their cabinets would have been incongruous. Presumably, they at least browsed the books, even if they did not read them repeatedly.22 The biggest shortcoming here is the fact that it is impossible to know if the studied merchants read the books they purchased; thus, it is impossible to draw a clear line from the books themselves to the knowledge that these books actually brought to the merchants. However, the books listed in the inventories and business letters are the only way to sketch the knowledge and information their owners had access to, since no personal notes illustrating the merchants’ knowledge have survived. In Hackman’s library, there were 18 books that could be categorized as merchant manuals,23 and Ignatius had 22. History and geography books were numerous in both libraries. These books were not born out of tradesmen’s needs, but they were written by enlightened thinkers who tried to explain the world. The travel journals can be included in the same category. For example, “Küttner’s Reise durch Deutschland”, which was found in Hackman’s library, included a chapter about the weather, local dialects, local booksellers and how the houses and canals were built. Information about nature and science gave a much-needed competitive advantage – knowing how the locks in a canal worked, for example, was highly useful for cosmopolitan businessmen whose ships sailed through them.24

21 Sina Rauschenbach: Elzevirian Republics, Wise Merchants, and New Perspectives on Spain and Portugal in the Seventeenth-Century Dutch Republic. In: De Zeventiende Eeuw 29 (2013), pp. 81–100, here pp. 85–86. 22 Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, p. 39. 23 Annex 5 in Tigerstedt, Kauppahuone Hackman, part 2, pp. 679–682. 24 Robert J. Mayhew: The Character of English Geography, c. 1660–1800. A Textual Approach. In: Journal of Historical Geography 24 (1998), pp. 385–412. See also Charles W. J. Withers: Placing the Enlightenment. Thinking Geographically about the Age of Reason. Chicago / London 2007, p. 181.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

In both libraries, there were books that focused on recreation and culture. Ignatius, who was a keen traveler, had a book that gave advice to spa guests,25 and Hackman owned an art history book and a book about chess. Besides books, the libraries housed monthly journals.26 The journals were not directly related to trade, but the information they gave was vital for the merchants; socializing with peers was an important part of bourgeois culture,27 and knowledge about art, music and theatre helped to form new business ties. Enlightenment culture was not only about scientific and intellectual discussions and literature, but much of it contributed to worldly practices in society.28 Printers and publishers answered the demand for various topics by publishing popularized texts of famous intellectual and scientific writings.29 The availability of these novel print types is visible in the studied libraries; they demonstrate the reality of reading habits in Europe in the Age of Enlightenment. Readers with varied intellectual backgrounds and capabilities of assimilating knowledge read multiple texts and adopted enlightened ideas which were spread in the peripheral societies through various types of texts.30 An individual’s access to enlightened information often came through modified and popularized texts, which highlights the fact that the Enlightenment was a multifaceted phenomenon that included social groups other than intellectuals and learned people. In these two libraries, there was not a single copy of Rousseau or Voltaire, nor were there any books by Immanuel Kant or Christian Wolff, who were very much appreciated in the academic circles of eighteenth-century Finland.31 Nor did the libraries include numerous copies of religious or clandestine literature, books on mysticism or philosophy, or works that typically dealt with controversial subjects, critical thoughts and political satire.32 Ignatius’s library included 12 leaflets printed in the Swedish language by the Finnish Bible Society.33 Neither library held a copy

25 Ignatius’s inventory, Handelshuset Hackman, Åbo Akademi library. 26 Annex 5 in Tigerstedt, Kauppahuone Hackman, part 2, p. 681. 27 Michael North: “Material Delight and the Joy of Living”. Cultural Consumption in the Age of Enlightenment Germany, transl. by Pamela Selwyn. Aldershot / Burlington 2008, p. 50. 28 Mary Terrall: Public Science in the Enlightenment. In: Modern Intellectual History 2/2 (2005), pp. 265–276, here p. 2. 29 Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, p. 65. 30 Alice C. Montoya: Middlebrow, Religion, and the European Enlightenment. A New Bibliometric Project, MEDIATE (1665–1820). In: French History and Civilization 7 (2017), pp. 66–79; Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, pp. 133–148; Gary Maker: Publishing, Printing, and the Origins of the Intellectual Life in Russia, 1700–1800. Princeton 2014 (1985), pp. 19, 35, 180. 31 Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, p. 76. 32 Ibid., p. 34; Reimo, Das Druck- und Verlagswesen in Reval, p. 78. 33 The Finnish Bible Society, established in 1812, was an auxiliary branch of the British and Foreign Bible Society (est. 1804), which distributed affordable Bibles in England, India, Europe and beyond.

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of the Bible. The lack of religious books – apart from the 12 leaflets – is quite striking, since in other parts of Europe as well as in Russia, devotional books and religious texts were highly typical of private libraries other than those belonging to merchants.34 For a merchant, a deep understanding of philosophical thinking was not necessary, and it did not give him a specific competitive advantage. In the studied libraries, Barlaeus’s emphasis on classical philosophy does not materialize. Knowing the principles of logical thinking and the most famous aphorisms and philosophical ideas was sufficient. The lack of philosophical or political texts might be explained by the political reality of late eighteenth-century Russia. During the reign of Paul I (1796–1801) several books and texts were labeled dangerous and confiscated by the censorship authorities.35 In this case, the competition over information and knowledge was between the ruling sovereign and his subjects, whose access to information was heavily restricted. The emperor saw the French Revolution as a warning example of the consequences of the Enlightenment, and in order to prevent similar consequences in Russia, he named a special censorship committee. Censorship authorities were committed to approving every book published in the empire, and foreign books that threatened “faith, civil law, and morality” were to be banned. The censorship could turn into a disadvantage for the subjects since they could not get as much access to information and knowledge as those who lived in more liberal countries. In the long run, this harmed both business and society.

Book purchasing routes as information networks If we compare the book orders that can be found in the preserved letters to the inventories, it is evident that the orders included books that were not listed in the inventories. Building up a library required a well-functioning purchase network, which can be reconstructed from the letters.36 The business letters used here as a source were written and signed by Hackman, but in reality, he wrote on behalf of the jointly managed company. Hackman not only purchased books for his own and Ignatius’s libraries; he also ordered books and organized the logistics for the books that his friends, members of the local club, the local reading society, or the public library had requested him to obtain. The number of readers in the reading society might have been substantial; typically, in a reading society, copies were circulated

34 Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa. 35 See, for example, Central Archives for Finnish Business Records (ELKA), HH, B 10, Gaetens, 2 Aug. 1798. 36 Ahokas, Valistus suomalaisessa kirjakulttuurissa, p. 137.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

and discussed,37 and as a result, a profound knowledge on the subject might be adopted by its members. In 1785, a man named Dahlgren from St. Petersburg organized a short-lived lending library in Wiborg; it was the first of its kind in the historical Finnish area, and its collections included novels in German. Later, in 1806, a local teacher, August Wilhelm Tappe, organized a reading society and a Stadtbibliothek, which lent out books in German, French and English. Besides these libraries, books were read aloud and circulated in the local gentlemen’s club, of which Hackman was the club master.38 Book trade was more of a hobby for Hackman; he did not profit from it but sold books for a small commission or organized the book logistics as a favor for his friends. The study of Hackman’s network reveals his key role in Wiborg’s book distribution. As a merchant, Hackman had resources and means to purchase books from abroad. The captain of his ship, Peter Jürgen Gätens, or Gaetjens, from Lübeck, organized the logistics in Germany and made sure that the delicate book cargo survived the hazardous sea voyage. For whom Hackman and Gätens imported the books remains in great part unclear; only some names, such as Professor Johann Christian Tideböhl (1741–1807)39 from Reval or Hackman’s father-in-law, merchant and civil servant, Altenburg-born J. F. Laube, who settled in Wiborg in the 1770s, are mentioned besides local merchants and medical doctors. The copies of the letters reveal where the purchases were made. Several letters were written to the Leipzig book merchant Georg Joachim Göschen, to whom Hackman sent a list of books every spring. Gätens, the ship captain, organized the money and payments in Germany, or the books were paid for via complicated transactions of bills of exchange, which may have included a network of several merchants.40 Göschen was one of the key figures in the European book trade. Both Hackman and Göschen were born in Bremen; Göschen was three years senior to Hackman. Göschen became a book trader and established his business in Leipzig,

37 North, Material Delight, p. 50. 38 Tigerstedt, Kauppahuone Hackman, part 1, p. 88; Ilkka Mäkinen: The Breakthrough of Novels and Plays in Helsinki and Finland During the Gustavian Era. In: Cecila af Forselles / Tuija Laine (eds.): The Emergence of Finnish Book and Reading Culture in the 1700s. Helsinki 2011, pp. 120–146, here p. 140; Charlotta Wolff: Kaupunkien kulttuuri- ja seurapiirielämä. In: Yrjö Kaukiainen et al. (eds.): Viipurin läänin historia. Vol. 5: Autonomisen Suomen Rajamaa. Helsinki / Joensuu 2014, pp. 350–375, here p. 354. 39 Professor Tideböhl taught at the Domschule in Reval (Tallinn). He studied theology in Halle and in Leipzig in the 1760s. Tideböhl, Johann Christian (1741–1807). In: Baltisches biografisches Lexikon digital, ed. by Baltische Historische Kommission. 2012 et sqq. URL: https://bbld.de/GND119609800X (07 June 2021). 40 About the process of ordering books, see Dirk Sangmeister: Von Blumenlesen und Geheimbünden. Die Jahre von Johann Friedrich Ernst Albrecht als Verleger in Reval und Erfurt. In: Heinrich Bosse et al. (ed.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, p. 413–489, here p. 436.

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starting to print Schiller’s and Goethe’s works, and he also befriended these famous authors.41 A letter in the Hackman archives, written in July 1790 to Göschen, reveals that Göschen was a member of the book distribution network of Hackman’s halfbrother Georg Wilhelm Grommé in Bremen, who had told Hackman to write to Göschen.42 Hackman wanted to order books about the latest political and historical events for his own use, but also for the reading society.43 The books arrived at the end of the sailing season in 1790, and Hackman was willing to make another order the following spring.44 The first step of this book exchange network had been taken. The following spring, Hackman wrote to Göschen to order books for himself, for the reading society and for his friends in Wiborg.45 In June, Hackman reported that some books had arrived, but the shipment did not go as smoothly as the previous one, and some copies, including Molière’s and Friedrich Ludwig Schröder’s dramatical texts, were missing.46 In 1793 a great fire destroyed many private libraries in Wiborg, so that spring,47 Hackman made an order to Göschen to replace some damaged or destroyed copies, including a copy of Voltaire’s works, a volume of Krünitz’s encyclopedia, a book on the French Revolution and Ludovici’s Kauffmans Lexicon.48 The two latter copies can be found in Hackman’s inventory. As mentioned before, it is hard to say whether Hackman read these books or whether he used the information he learned from them since Hackman did not comment on the books in later letters. Scholars have illustrated that early modern merchants used merchant manuals such as the Kauffmans Lexicon first as sources of detailed information on a broad range of topics that they were otherwise unable to have access to. Second, manuals allowed merchants to benefit from the experiences of a larger number of merchants than would have been possible through oral or written communication only. Instead of traveling to fairs, merchant manuals allowed merchants to access information previously exchanged orally when meeting other merchants.49 Hackman did not travel to Germany, but he was quite well informed about the markets and latest political news, provided he read the books he got from Göschen.

41 Georg Joachim Göschen (1752–1828). Ein Leben für das Buch, ed. by Museum Göschenhaus / Seume-Gedenkstätte. URL: https://www.goeschenhaus.de/goeschenhaus_goeschen (08 May 2020). 42 ELKA, HH, B 1, Grommé, 11 June 1790. 43 ”Die sich für meine Lesegeselschaft paßen”; ELKA, HH, B 1, Göschen, 15 July 1790. 44 ELKA, HH, B 1, Göschen, 22 Dec. 1790. 45 ELKA, HH, B 1, Göschen, 22 March 1791. 46 ELKA, HH, B 1, Göschen, 24 June 1791. 47 The letters from 1792 are missing from the collection. 48 ELKA, HH, B 2, Göschen, 15 July 1793. 49 Harreld, An Education in Commerce, p. 81.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

The following spring, Hackman proceeded with the largest recorded book order to Göschen, including various copies of pedagogical books, books about political and historical affairs and practical information concerning agriculture and commerce. Hackman asked for two volumes of the Oeuvres de Voltaire, Christoph Girtanner’s Politische Annalen and two volumes of a book about the French Revolution for himself. The letter also included Tideböhl’s order.50 In July 1794, on behalf of Tideböhl, Hackman sent a new request including pedagogical literature. In spring 1795, the pattern of book orders to Göschen followed those made during previous years. He continued to pass on Professor Tideböhl’s book orders and asked for prints on the latest political news.51 Along with this order, Hackman asked Göschen to fulfil an order for Johann Friedrich Laube.52 Laube ordered the economic encyclopedia by Krünitz in several non-consecutive volumes, numerous books about gardens and forestry, J. F. Beyer’s book about horses, and guide books on how to distill alcohol, how to organize a warehouse, and how to measure salt.53 The orders from 1794 and 1795 clearly illustrate how the Enlightenment was not only about philosophy but also about practical innovations and organizing information in novel ways. In 1796, Hackman continued to order books for Tideböhl and encyclopedia volumes for himself.54 This was the year of Catherine II’s death. Her successor, Paul I, ordered strict censorship on books. The copies of the letters reveal the immediate consequences to Hackman’s book trade. Not until 1804 did he send any new orders to Göschen; he then passed on Tideböhl’s book order but did not mention which books the order included. This was the last book order he made to Göschen.55 During and after Paul’s reign, Hackman continued to make book orders, but they only were discussed briefly in the letters. In 1799, Hackman passed a book order to ship captain Gätens, who was asked to bring some books for vicegovernor von Brandt, but the letter does not reveal the titles; it only tells about how difficult it was to pass the censor authorities.56 The books did not arrive, and the next year, Hackman asked again about whether the books had been seen in Tallinn and blamed the delay on censorship.57 In the years following Paul’s 1801 death, the book trade seems to have been paralyzed; in 1803, a letter to St. Petersburg

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ELKA, HH, B 2, Göschen, 24 March 1794. ELKA, HH, B 3, Göschen, 16 March 1795; 17 July 1795. ELKA, HH, B 3, Göschen, 3 April 1795. ELKA, HH, B 3, Göschen, 16 March 1795. ELKA, HH, B 4, Göschen, 18 July 1796. ELKA, HH, B 20, Göschen, 12 Feb. 1804. ELKA, HH, B 10, Gaetens, 2 Aug. 1799. ELKA, HH, B 10, Baroth & Co, 13 Jan. 1800.

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refers to a book order from Hamburg,58 and the previous year Gätens brought some musical notes,59 but the volume of the book imports was no longer the same as during Catherine II’s reign. The fact that merchants operating in Russia did not have access to the latest information spread by books and prints may have resulted in a disadvantage in business.

Conclusions: Information and knowledge as a competitive tool in business The spread of information was vital in business competition, and only thoughtfully internalized notions could be turned into knowledge, which might have been and perhaps still is the mightiest weapon in business competition. In the eighteenth and early nineteenth centuries, books were crucial disseminators of information and, hence, competitive tools. The studied merchants, who jointly managed the firm Ignatius & Hackman, had a direct connection to one of the main book-selling houses in Germany, and family connections helped in the process of getting the books from Germany to Wiborg. In Wiborg, the books were distributed among family members, friends and members of the local German-speaking elite. This network operated annually until the reign of Paul I, when Russian censorship laws prohibited importing controversial or “dangerous” books. Books were still ordered, but getting the copies to Wiborg was difficult, and the process of ordering books was not discussed openly in the letters. At this time, it was safest not to mention any prints in the letters. Cooperation between the merchants at the local and transnational levels was essential for book purchasing. Local merchants in Wiborg ordered books via Johan Friedrich Hackman, who operated on behalf of the firm Ignatius & Hackman. It seems that the benefits of cooperation exceeded the downsides that this might bring competition to business: spreading valid information benefited the entire merchant community, and it was not in their interest to hinder the wider circulation of information. Not only merchants but also gens de lettres in the northern Baltic towns depended on the help of the merchant networks when ordering books. These connections may even have turned into business ventures; in 1804, for example, Hackman sold his townhouse to the Dorpat School Commission (Dorpater Schulkomission) with the help of Professor Tideböhl, who was a longtime associate in the book trade with Hackman.60

58 ELKA, HH, B 18, Levanus, 22 May 1803. 59 ELKA, HH, B 16, Levanus, 25 Nov. 1802. 60 Tigerstedt, Kauppahuone Hackman, part 1, pp. 168–169.

Business Competition and Books in the Late Eighteenth-Century Merchant Community

The source material used in this chapter does not clearly tell when, how, why and if the merchants read the books they purchased and owned, which is often a shortcoming when studying book collections. However, it does demonstrate that the Enlightenment not only included philosophical ideas but also evolved into practical knowledge, which was spread in printed form and which in turn helped commercial ventures. The common language of trade in the Baltic region was German, and this lingua franca eased the introduction of commercial innovations and the spread of information. Clandestine texts and philosophical writings did not necessarily give a substantial competitive advantage in business, which may be the reason why these books are missing in both merchant libraries studied in this chapter. It is also possible that the clandestine books were destroyed or hidden from the censorship authorities and were henceforth not mentioned in the inventories, but that these books were read and then passed on to other readers and therefore not preserved in the studied libraries. By passing forbidden books on to his friends, Hackman might have gained a reputation of trustworthiness that was not spoiled by infringing the law, and hence, he may have become an even more important figure in the bibliophile network. There are some signs that Hackman continued passing books through his network even during the time of strict censorship, although he could not openly write about the purchases in his letters. The books that were kept in the merchant libraries and can be found in the inventories made after Hackman’s and Ignatius’s deaths were mainly merchant manuals, travel books and encyclopedias. This underlines the importance of practical knowledge in the merchant libraries and the advantage that this knowledge might have given in business competition.

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Duty versus Pleasure Philosophical Libertinage Amongst Swedish Civil Servants and Diplomats in the Eighteenth Century Essential characteristics of the early modern civil servant, the Amtmann, the ämbetsman, were a sense of duty, loyalty and service to the public office and the Crown, but there was also a certain degree of education and intellectual culture necessary to carry out the responsibilities of the office.1 As Dan Edelstein has shown, many of the people who “were” the Enlightenment – those in the philosophical and learned networks of the French-speaking republic of letters – were office-holders, cultivated persons working with books, ink and paper.2 There is no reason to assume that similar intellectual interests should not be found amongst civil servants in the Northern Baltic area as well. When our attention turns to very high officials with access to most of the knowledge available in their time, including subversive writings and foreign, clandestine or prohibited literature, it becomes relevant to ask why and to what degree they were interested in philosophy. If it was by personal interest or conviction, why and when did philosophical emancipation or libertinage attain such proportions that it potentially conflicted with the duties of the public office? A famous case in this respect was the French directeur de la librairie Malesherbes, who protected the “Encyclopédie” while he was ultimately in charge of censorship and publications surveillance,3 but similar contradictions can be found on other levels and other scales throughout the European administrations. In this contribution, we will look at the conflicting roles and loyalties of two officials, Count Gustav Philip Creutz (1731–1785) and Gustaf Johan Ehrensvärd (1746–1783). A poet, civil servant, diplomat, prime minister and university chancellor, but also an esprit fort, Creutz could be described as a libertine in the full sense of the term, both intellectually and morally emancipated. Ehrensvärd, in his turn, appears in contemporary sources as a discreet officer and courtier, theatre director and diplomat, but his private documents and library reveal a passion for

1 This article was written as part of the project “Agents of Enlightenment. Changing the Minds in Eighteenth-Century Northern Europe” (Academy of Finland, 2017–2021, grant numbers 307668 and 326253). 2 Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Princeton 2010. 3 Roger Chartier: Les origines culturelles de la Révolution française. Paris 2000 [1990], pp. 61–57.

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Enlightenment philosophy, silent disagreements with the royal court, and a distinct interest in freemasonry. Moreover, his philosophical preferences were significant for his work for the royal theatres, as they notably influenced his choices of repertoire for the royal Opera. To define their attitude about how they handled their multiple roles, I have chosen to use the competing notions of “duty” and “pleasure”, both central to how eighteenth-century officials perceived their role as civil servants and the object of their leisure occupations respectively. Libertinage is understood here primarily in the sense of libertinage érudit, that is, as a curiosity towards philosophy going as far as to take a critical stand against religious authorities. By extension, it also includes some degree of morally emancipated attitudes that challenged or transgressed contemporary norms of conduct concerning, for instance, private life and sexuality. This paper will first present the two protagonists and their attraction towards contemporary radical philosophy. Thereafter, I will deal with problems of religion and conscience in the exercise of public authority. Finally, I will look at how intimate feelings and private interests conflicted with the public duties of the civil servants.

The temptation of philosophy Gustav Philip Creutz was the youngest child of Count Carl Creutz and Baroness Barbro Wrede, both from important noble families in Eastern Finland. After the Swedish defeat at Poltava, Carl Creutz had been a prisoner of war in Siberia, where he had embraced Pietism, which strongly influenced Gustav Philip Creutz in early childhood. Having studied at the university in Åbo, Gustav Philip Creutz entered civil service and the central administration in Stockholm in 1751. He almost immediately befriended Count Gustaf Fredrik Gyllenborg (1731–1808), with whom he was admitted to the literary society Tankebyggarorden. Both Creutz and Gyllenborg became famous for their poetry, particularly Creutz, who composed erotic poems in a modern, light and sensual style. His best-known poem is Atis och Camilla, a pastoral epic in five parts on the progress of love, which is considered part of the canon of Swedish literature.4

4 On Creutz, see Arvid Hultin: Gustaf Filip Creutz. Hans levnad och vittra skrifter. Helsinki 1913; Gunnar Castrén: Gustav Philip Creutz. Stockholm / Borgå 1917; Marianne Molander-Beyer (ed.): La Suède & les Lumières. Lettres de France d’un Ambassadeur à son Roi (1771–1783). Paris 2006, pp. XVII–LXXXI; Charlotta Wolff: Lyrical Diplomacy. Count Gustav Philip Creutz (1731–1785) and the Opera. In: Pierre Yves Beaurepaire et al. (eds.): Moving Scenes. The Circulation of Music and Theatre in Europe, 1700–1815. Oxford 2018, pp. 143–156; Charlotta Wolff: “Un admirateur des philosophes modernes”. The Networks of Swedish Ambassador Gustav Philip Creutz in Paris, 1766–1783. In:

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Many of the members of the above-mentioned literary society worked at various levels of the administration. This denotes a form of sociability where educated amateurs engaged with literature and philosophy. Literary sociability provided a space of freedom and equality that appealed to the lesser nobility and the bourgeoisie in a hierarchic court society. At least one of the conveners was a devoted freemason. The society, active in the late 1750s, had the outspokenly patriotic objective to improve the Swedish language and enhance literary culture in Sweden. These features were typical of the secret or semi-private associations that flourished in Scandinavia during the decades to come.5 Literary sociability also greatly inspired Gustaf Johan Ehrensvärd, who came from a rather recently ennobled family of artillery and marine officers. In his late teens in 1763–1764, he lived at the sea fortress Sveaborg outside Helsingfors (Finnish: Helsinki) with his uncle, the famous Count Augustin Ehrensvärd (1710–1772), his cousin Carl August Ehrensvärd (1745–1800) and his cousin’s drawing teacher, Elias Martin (1739–1818), who would later become a famous artist. In their artistic and witty company, he developed a strong taste for art and literature and expressed his desire to become a “philosopher”. Like Creutz, in his youth, Ehrensvärd wrote poems, some of which were published, but unlike Creutz, he did not nurture any stronger literary ambition and did not achieve literary celebrity. In 1773–1774, when Ehrensvärd had become the director of the royal theatres, he was invited to the intimate suppers known as “the king’s academy”, which included both renowned men of letters and distinguished amateurs appreciated by Gustav III.6 From a young age, both Creutz and Ehrensvärd were attracted to books and to authors of sharp philosophical writings. Creutz particularly admired Voltaire, who also admired him. In 1763, Creutz was appointed as Swedish envoy to Madrid, his first diplomatic mission which started a period of twenty years spent uninterruptedly abroad. On his way down to Spain, he stopped over in Paris and then in Ferney, where he met with Voltaire, who wrote very favourably of him to his friends Damilaville, Marmontel and Madame Geoffrin.7 After three years in Spain, Creutz got his long-desired transfer to Paris, where he reunited with the philosophers he had befriended in 1763: Marmontel, d’Alembert, Diderot, Morellet, Raynal, d’Holbach and Helvétius. These friendships, which deepened through Creutz’s intense

Chloe Edmondson et al. (eds.): Networks of Enlightenment. Digital Approaches to the Republic of Letters. Liverpool 2019, pp. 173–200. 5 Ann Öhrberg: Samtalets retorik. Belevade kulturer och offentlig kommunikation i svenskt 1700-tal. Höör 2014. 6 On Ehrensvärd, see Bengt Hildebrand / Pierre de la Blanchetai: Gustaf Johan Ehrensvärd. In: Svenskt biografiskt lexikon 12 (1949), p. 460; Gustaf Johan Ehrensvärd: Dagboksanteckningar förda vid Gustaf III:s hof, ed. by Erik Vilhelm Montan. Vol. 2. Stockholm 1878. 7 Quoted in Hultin, Gustaf Filip Creutz, pp. 158–160.

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frequentation of Madame Geoffrin’s and Madame Necker’s salons, were not just any philosophers, but the central figures of what Robert Darnton calls the “High Enlightenment”. They were the radical and materialist philosophers – sceptical of the existence of God such as described in the Bible – who advanced their agenda of liberty and equality through the “Encylopédie”, to which they contributed; its last volumes were still being published when Creutz returned to Paris.8 The same philosophers also became important to Ehrensvärd, who had the opportunity meet them in 1771 when he visited Paris in the company of Prince Gustav on his grand tour. It was during this tour that Gustav (III) learned that he had become king upon the death of his father, Adolf Fredrik. Ehrensvärd described his time in Paris as the happiest in his life, as he had been introduced in a coterie that he called “la société des savants”, while others called it republican, and it included Helvétius, Marmontel, Thomas, abbé Morellet and Grimm, all of whom he met daily.9 Both Creutz and Ehrensvärd had remarkable book collections. After Creutz was promoted to the rank of ambassador in 1772, he constituted a large personal library; at the time of his death in 1785, it included over 2100 volumes. Among his books, we find the second part of Mirabaud’s “Le monde, son origine et son antiquité” (1751), which contains materialist reflections on the supposed immortality of the soul. Also included were several books by d’Holbach: “Système social, ou principes naturels de la morale et de la politique” (London 1773), “Système de la nature” (1770), generally perceived as atheist, and “Le Christianisme dévoilé”, which criticised Catholicism and the Catholic clergy for being detrimental to life in society. The library also contained the even more sulphuric “Traité des trois imposteurs” (the impostors being Moses, Jesus, and Mohammed); the “Recueil nécessaire, avec l’Évangile de la raison” attributed to Voltaire; marquis d’Argens’s translation of Emperor Julian’s “Défense du paganisme”; abbé Joseph Gautier’s “Réfutation du Celse moderne, ou objections contre le christianisme”, and Fréret’s “Examen critique des apologistes de la religion chrétienne”. These were all very representative of the anticlerical and even the antireligious “forbidden bestsellers” of the eighteenth century.10

8 Robert Darnton: The High Enlightenment and the Low-Life of Literature in Pre-Revolutionary France. In: Past & Present 51 (1971), pp. 81–115; on Creutz and the Enlightenment, see Wolff, Un admirateur des philosophes modernes. 9 Quote in Nils Erdmann: Hemma och borta på 1700-talet. Ur greve Claës Julius Ekeblads brevväxling med Gustaf III:s broder, prins Carl, samt unga diplomater och kammarherrar. Stockholm 1925, pp. 210–211; see also Hildebrand, Gustaf Johan Ehrensvärd. 10 Charlotta Wolff: Vänskap och makt. Den svenska politiska eliten och upplysningstidens Frankrike. Helsinki 2005, pp. 238–246, here p. 242; Robert Darnton: The Corpus of Clandestine Literature in France, 1769–1789. New York 1995.

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Ehrensvärd’s library, catalogued after his death, was not as large as Creutz’s, but it did cover over 1200 volumes, mostly history and memoirs, laws and treaties, dictionaries, classics, French and Swedish belles-lettres, and dramatic literature. It included a 1780 Geneva edition of Diderot and d’Alembert’s “Encyclopédie”, as well as works by Marmontel, Voltaire, Montesquieu, and Rousseau. Like Creutz, Ehrensvärd also owned a copy of Raynal’s “Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes” as well as Voltaire’s satire, “La Pucelle d’Orléans”.11 Books were collected for personal pleasure and out of curiosity, but they were also useful to others. As part of their education, Creutz let young Swedes visiting Paris use his library.12 As a diplomat, he also played the role of a literary correspondent to his friends at the Swedish court, and in this type of intellectual transfer, book shipments were essential. Creutz kept his protector and friend, the young Crown Prince Gustav (born in 1746), informed of all philosophical, literary and artistic news that might interest him, sometimes sending him a new publication. On 13 September 1769, he sent the eighth volume of the “Encyclopédie”, with the most interesting passages marked in the margin, but he asked him to keep it for himself. He pointed out that the most daring statements had been concealed in the articles on grammar.13 Ehrensvärd, although also a diplomat, used books more for his personal pleasure as well as for semi-professional purposes. His interest in theatre as well as his brief position as director of the royal theatres clearly appear in the catalogue of his library, which contained five volumes of dramatic literature, both Swedish and French and mostly comical, and seven opera scores.14

Problems of conscience Both Creutz and Ehrensvärd became diplomats after some years of activity on the literary and dramatic scene, Creutz as an author and Ehrensvärd as a theatre director. While Ehrensvärd’s diplomatic career lasted only a couple of years before his untimely death, Creutz served as a diplomatic agent for two decades, first in Madrid and then in Paris. When he started his mission in France, it was as the Francophile minister of an anti-French, Anglophile government that did not perceive the legation in Paris as very important. As a consequence, Creutz did not have many

11 Catalogue des livres de feu M. le baron d’Ehrensvärd, Kungliga Biblioteket (Stockholm), U 37:3. 12 H. Arnold Barton: Count Hans Axel von Fersen. Aristocrat in an Age of Revolution. Boston 1975, pp. 14, 32. 13 Creutz to Prince Gustav, Paris, 13 September 1767, quoted in Marianne Molander (ed.): Le Comte de Creutz. Lettres inédites de Paris 1766–1770. Göteborg / Paris 1987, p. 61. 14 Catalogue des livres de feu M. le baron d’Ehrensvärd, Kungliga Biblioteket (Stockholm), U 37:3.

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official duties, although he did have a secret mission from the court, seeking to gain Louis XV’s support for strengthening the monarchy in Sweden. A “harmless” minister, he thus still had the leisure to spend time with his philosophical friends. All this changed in 1771–1772, when Prince Gustav became king and reinforced the Swedish monarchy through a coup d’État, after which Creutz was elevated to the rank of ambassador, and the embassy in Paris became a key player in the Swedish diplomatic game. That suddenly made Creutz, together with the Austrian Count Mercy, the Spaniard Count Aranda and the Scotsman Lord Stormont, one of the highest ranked foreign diplomats in Paris. The balance between philosophical and worldly sociability in his everyday occupations now shifted, and he had less time for intellectual radicalism.15 The diplomat’s duty was to inform his masters and negotiate for them. This made it necessary for him to frequent certain influential milieus, such as the high aristocracy, but it also fed his curiosity for some others. Some of the ambassador’s frequentations could also become close friends of his, which meant a risk of bias in his negotiations for the crown. In Creutz’s case, this became obvious, for instance during the American War of Independence, when he mingled with representatives of the British opposition and of the pro-American, liberal French aristocracy such as the marquis de Lafayette or the family de Noailles, while both Louis XVI and particularly Gustav III had long taken a rather cautious attitude towards openly supporting the rebels.16 The pretext of collecting information thus gave the diplomat an excuse to frequent radical circles and read books that his superiors would not necessarily have approved of, and it gave him a personal margin of manoeuvre. The competition between personal interests on the one hand – in this case in radical philosophy – and the official duties of his diplomatic mission on the other was still very real. Despite Creutz’s personal friendship with atheists and republicans, as the official representative of the king of Sweden, the ambassador was, among other things, head of the Swedish Lutheran embassy congregation, which was one of two large Lutheran parishes tolerated in Paris under the principle of diplomatic immunity, the other being the chapel of the Danish legation. This was a ceremonial role, of course, as the religious services were provided by a Lutheran priest employed by the Church of Sweden, Doctor Frédéric Charles Baer of the faculty of theology at the University of Strasbourg, who was strongly connected to the French and Swedish academies of science. The ambassador attended all services at his chapel and had to conform to the official orthodoxy of the Church of Sweden. This does not seem to have been a problem for Creutz, who showed a formal but detached 15 Wolff, Un admirateur des philosophes modernes, pp. 177–178. 16 Ibid., p. 183; ead.: När Amerika var frihetens vagga. Sverige, revolutionen och den transatlantiska alliansen. In: Henrika Tandefelt et al. (eds.): Köpa salt i Cádiz och andra berättelser. Helsinki 2020, pp. 315–331, 403–404, here p. 323.

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observance of religious practices like many other noblemen, although his personal relationship with the official Church could theoretically have been complicated by the Pietism of his family. As a matter of fact, his nonconformist background might actually have nurtured his interest in anticlerical writings. An interest in philosophy, in its turn, was perhaps not as great an obstacle for being a credible protector of the parish; in fact, Doctor Baer himself took a lively interest in Enlightenment philosophy. By comparison, Genevan envoy Jacques Necker and his wife, who hosted weekly luncheons with the most radical of the philosophers, remained strict Calvinists as private citizens.17 In essence, being an ambassador was to publicly represent a sovereign, to impersonate a state and fulfil certain expectations linked to this status. In French police reports, the Swedish ambassador is described as observing certain rituals and duties, such as paying his respects to the king and the royal family, having audiences with a minister, travelling in a carriage of a certain quality, showing himself at the theatre or seeing certain people.18 These representative duties and the expectations linked to that role eventually had very little to do with the ambassador’s personal feelings about them. As a long-time courtier, Creutz was well aware of this distinction and possible contradiction between the public person and the private man, between outer and inner, physical body and free spirit. In fact, while he was described by some contemporaries as somewhat absent-minded when his attention was not immediately required, others described him as passionate and emphatic; his own writings reflected a strong distinction between public duties and private pleasures.19

Public duties, private liaisons? Philosophical libertinage was not seldom associated with an emancipation from contemporary morals and sexual norms.20 Being a diplomat meant being separated from one’s country, relatives, friends, and sometimes even one’s wife, for several months, years or decades. Books, arts, correspondence, mistresses and deep individual friendships provided the means to compensate the relative loneliness and

17 Janine Driancourt-Girod: L’insolite histoire des luthériens de Paris. De Louis XIII à Napoléon. Paris 1992, pp. 121–144; Erik Naumann: Frédéric Charles Baer, de. In: Svenskt biografiskt lexikon 2 (1920), p. 555; Jean-Denis Bredin: Une singulière famille. Jacques Necker, Suzanne Necker et Germaine de Staël. Paris 1999. 18 Archives du Ministère des affaires étrangères, Contrôle des étrangers, vols. 2–49; Wolff, Vänskap och makt, pp. 209–210, 214; see also Wolff, Un admirateur des philosophes modernes. 19 Castrén, Gustav Philip Creutz, pp. 346–349; Wolff, Un admirateur des philosophes modernes, p. 173. 20 Michel Delon: Le savoir-vivre libertin. Paris 2000, pp. 19–47; see also Robert Darnton: Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France. New York 1995, pp. 85–114.

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occasional isolation that characterised the profession. In some cases, however, it seems that the special friendships and intimate liaisons of diplomats went so far that they had the potential to affect the agents’ capacity to exercise their public duties, and the French police also reported on the most spectacular liaisons and mistresses of the foreign diplomats in Paris.21 On 9 May 1773, after Curt von Stedingk, one of his intimate young Swedish friends staying at the embassy, had left Paris, Creutz wrote him a letter saying that without him, he felt alone in the entire world.22 Twenty days later, on 29 May, he wrote that when he went out to see other people after having received letters from his friend, he was so transformed and beaming with happiness that unknowing people would congratulate him on some lucky event.23 A socialite, Creutz resented loneliness. As a former poet, he was skilled in the emotional genres, and his private correspondence with both younger male friends and with King Gustav III displays an abundancy of feelings which are difficult to categorise as either spontaneous expressions of true feelings or rhetorical means and artifices.24 Nevertheless, according to his contemporaries, Creutz kept his emotions to himself with people other than his most intimate friends. Interestingly, the French police, which otherwise were very perceptive of the foreign diplomats’ personal interests and passions, never seem to have grasped or taken interest in human relations at the Swedish embassy. No reports were made during the second half of the century about any improprieties or unbecoming liaisons at the Swedish residence, contrary to certain other diplomatic missions in Paris. This seems to indicate that the Swedish diplomats and the people around them were skilled at concealing most of their passions and emotions to outsiders, in case these inclinations were not entirely compatible with the public image of their position. In June 1772, in a letter of a rare straightforwardness, Creutz advised his beloved friend Stedingk to “moderate” the expressions of his friendship, as the “laws established by prejudice” were stronger than reason, that only “cowards” would exempt themselves from complying with those laws, and that they needed to be careful in their communications.25 Whatever Creutz’s most intimate life was like, he certainly had assimilated the teachings of 21 For instance, the Venitian ambassador’s extravagancies for his mistress in 1779 retained the attention of the police; Archives du Ministère des affaires étrangères, vols. 22–23, 31. 22 Creutz to Curt von Stedingk, Paris, 9 May 1773, Finnish National Archives, Curt von Stedingks arkiv, vol. 103. 23 Creutz to Curt von Stedingk, Paris, 29 May 1773, Finnish National Archives, Curt von Stedingks arkiv, vol. 103. 24 Charlotta Wolff: Kabal och kärlek. Vänskapen som alternativ sociabilitet i 1700-talets hovsamhällen. In: Historisk Tidskrift för Finland 89 (2004), pp. 85–115; Molander-Beyer, La Suède & les Lumières, p. LXXVII. 25 Creutz to Curt von Stedingk, Paris, 25 June 1772, Finnish National Archives, Curt von Stedingks arkiv, vol. 103.

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Castiglione on the perfect courtier as well as those of Caillères and other theorists of diplomacy. Despite being often described as naïve and as readable as an open book, he was discreet and secretive about the most sensitive matters, and he made a clear distinction between exercising his public duties and his intimate pleasures. They were also physically distinct, as he often went out for walks in the woods or the countryside when he needed privacy or when he wanted to be alone with his thoughts or with his closest friends.26 As for his attitude towards religion, he showed a clear determination to make spiritual choices of his own. His suspicious attitude towards religious authorities may have come partly from his upbringing, but his distaste for the clergy seems to have only increased over the years, perhaps fed by his experiences in Catholic Spain and, above all, by his philosophical readings, which also included Seneca and the classics. On his deathbed in 1785, he sent away the clergyman who had come to see him. His public reputation, after all, was so impeccable that he could allow himself this liberty and spiritual integrity in his private life.27 Ehrensvärd was less lucky. In his case, literary and philosophical interests, and probably also personal relations and antipathies, clearly interfered with exercising his public authority during his short term as theatre director. He had long been interested in dramatic literature, and his appreciation of French philosophical playwrights such as Marmontel grew during his visit to Paris in 1770–1771. When the king founded the first Swedish public opera in 1773, Ehrensvärd was appointed its director. He was not a high-profile personality, but he did endeavour to put on a rather radical French philosophical comic opera disguised as a light and pleasant piece for the summer season of 1776. This opera was Grétry’s “Lucile”, with lyrics by Marmontel. The story is that of a supposedly noble young girl about to marry a young nobleman. She discovers that she is actually the daughter of her wet nurse and a commoner, and the question is whether her fiancé will still marry her. He will, and her future father-in-law states that birth is less important than noble thinking.28 The play was translated into Swedish by a young woman, Anna Maria Malmstedt, and dedicated to the king’s brother, Duke Charles, who was also a protector of the freemasons. The play was a success, but Ehrensvärd still felt obliged to resign shortly afterwards. There is no evidence of exactly why, but it is possible that he felt uncomfortable in his position between different factions at the court and that he was too close to some political factions that were unpleasant to the king. “Lucile” was perhaps more of a radical play than it first appeared, and putting it on the repertoire was something of a political statement. It was an anti-aristocratic play

26 Jean-François Marmontel: Mémoires, ed. by Jean-Pierre Guicciardi. Paris 1999, p. 302. 27 Castrén, Gustav Philip Creutz, p. 425. 28 Jean-François Marmontel et al.: Lucile, opera-comique i en act. Stockholm 1776.

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promoted by Duke Charles, who advanced a political and aesthetical agenda of his own, sometimes openly defying Gustav III’s policies. Those were dangerous grounds to tread on for a courtier. The king repeatedly denigrated Ehrensvärd’s person and family background, and this attitude probably offended Ehrensvärd, given his sensitivity to matters concerning birth and equality.29 After continuing for some years to serve as a courtier and an officer of the king’s guard, he was eventually appointed Swedish minister at The Hague in 1780 and transferred to Berlin in 1782. He did not enjoy his work as a diplomat and did not achieve much as a negotiator, as he suffered from a strained private economy and even more strained health. In this situation, literature, art and correspondence with his cousin again became his main consolations.30

Conclusions Both Ehrensvärd and Creutz were of discreet natures when it came to intimate feelings and opinions. Both also belonged to a milieu cultivating the arts and worshipping friendship. Apart from the tensions and rivalries inherent to diplomacy or court society, most of the conflicts we observe in the exercise of their public duties thus fell between the expectations of serving the Crown and the ideas for which it stood on the one hand and their personal inclinations and world views on the other. Both men had strongly assimilated the ideals of the French Enlightenment and a certain intellectual radicalism, which was not supported by the Swedish Crown and even less by the Lutheran Church of Sweden. When, thus, did philosophical emancipation or libertinage attain such proportions that it conflicted with the duties of the public office? Creutz and Ehrensvärd, as former courtiers, were extremely skilled in maintaining a balance between their public role and their private passions, and they were aware of the limits of their freedom. This limit was transgressed first if philosophical emancipation and private passions became too public and too obvious, as indicated by Creutz’s letters. Philosophical or political radicalism, like non-conformism and sexual deviances, needed to be discreet and could not suffer too much publicity. If private passions and interests appeared to violate contemporary perceptions of morality, they became intolerable. Second, philosophical libertinage conflicted with the exercise of public duties if it ruined the diplomat’s reputation. The respectability of a position provided a certain security, but not even Creutz could openly express his religious

29 Charlotta Wolff: Opéra-comique et idéaux politiques en Scandinavie, 1760–1790. In: Orages. Littérature et culture 1760–1830 15 (2016), pp. 58–59. 30 Hildebrand, Gustaf Johan Ehrensvärd.

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scepticism until on his deathbed. Third, pleasures such as bibliophilia, art collections, expensive lovers or excessive luxury consumption, could eventually become an obstacle to the exercise of public duties if they ruined the official’s economy. This happened to many diplomats in eighteenth-century Paris, including Creutz, but again, in his case, he was able to conceal it at least to the French police spies until the end of his mission.

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A diplomate philosophe? Johann Albrecht von Korff’s Overlapping Roles as Russian Envoy, Freethinker and Public Figure in Copenhagen and Stockholm, 1740–1766 During the autumn of 1746, the French ambassador in Stockholm reported with increased interest on the actions of the local diplomatic corps.1 The Swedish Diet convened in September and the Diet’s first months were seen as indicative for how it would unfold. The attention of the foreign representatives in the Swedish capital was, thus, directed both on the Diet members and on the diplomats present in the city. The French ambassador supported a pro-French faction at the Diet, which counteracted a faction supported by the Russian and British embassies. At the beginning of autumn, the ambassador’s dispatches expressed a worry that his diplomatic opponents would trump him.2 In October, however, he concluded that the arrival of the Russian diplomat Johann Albrecht von Korff a couple of months earlier had been a “great luck”,3 and later, he even speculated whether von Korff had been chosen specifically to disturb Russo-Swedish relations.4 According to his French colleague, von Korff was generally known for having a bad temper and lacked the right disposition to serve in the Swedish capital.5 Von Korff ’s embassy to Sweden was indeed filled with conflict and came to a quick end. His diplomatic career, however, spanned more than 26 years, most of which he served in the Danish capital. Throughout his life, he was also known as a freethinker and bibliophile. His career as a diplomat falls into a transition period within the history of European diplomacy. The period retained certain early modern characteristics, labelled “diplomacy of type ancien” by Hillard von Thiessen, and it simultaneously saw the emergence of new practices.6 Amongst the specific

1 This work was written as part of the project “Agents of Enlightenment. Changing the Minds in Eighteenth-Century Northern Europe”, funded by the Academy of Finland (2017–2021) under grant number 326253. 2 See Lanmary Sept 23 and 25, 1746, Correspondance politique (CP) Suède vol. 214, Archives du Ministère des Affaires Etrangères (AMAE), La Courneuve. 3 Lanmary Oct 3, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 4 Lanmary Nov 14, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 5 Lanmary Oct 3 and Nov 14, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 6 Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Hillard von Thiessen / Christian Windler (eds.): Akteure

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features of early modern diplomacy were the strong links between a diplomat’s public and private figures,7 and the significance of foreign patronage within early modern foreign affairs.8 The connection between early modern diplomacy, news markets and political debates have, in turn, been seen as evidence of early modern “public diplomacy”.9 In this context, the eighteenth century and the emergence of public opinion changed the framework of diplomacy,10 as did the transition from “learned to professional diplomats”, which ended the ties between the republic of letters and the sphere of diplomacy.11 This chapter will look at von Korff ’s diplomatic career and discuss the expected behaviour of an eighteenth-century diplomat through the reactions to his service in Stockholm. Taking the notion of the century as a transitional period from early modern to modern diplomacy as a starting point, the aim of this chapter is to analyse parallel and potentially competing diplomatic practices. The recurring Diet during the so-called Swedish Age of Liberty (1719–1772) meant diplomats had to adapt conventional foreign patronage to a broader political representation. In situations where conflicts arose, like in the case of von Korff ’s embassy, normative expectations were verbalised more explicitly. How, then, was his embassy to Stockholm evaluated by his contemporaries, and which tensions between co-existent practices, both universal and practices anchored in the specific Swedish context, were revealed in the critique against him? The analysis is based on a parallel reading of sources from different archives which highlight the reactions to his embassy.12 I will argue that

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der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln / Wien 2010, pp. 471–503. Ibid., p. 476; for a study of the intersection of political interests and the worldview of diplomatic actors, see Daniel Riches: Protestant Cosmopolitanism and Diplomatic Culture. Brandenburg-Swedish Relations in the Seventeenth Century. Leiden 2013; for an example of the multiple roles of eighteenthcentury diplomats, see Charlotta Wolff ’s chapter in this publication. For examples of networks and patronage within early modern foreign affairs, see Hillard von Thiessen / Christian Windler (eds.): Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit. Berlin 2005. For a study on foreign patronage in Scandinavia, see Peter Lindström / Svante Norrhem: Flattering Alliances. Scandinavia, Diplomacy, and the Austrian-French Balance of Power, 1648–1740. Lund 2013. See, e. g. Helmer Helmers: Public Diplomacy in Early Modern Europe. In: Media History 22/3–4 (2016), pp. 401–420. Tabetha Leigh Ewing: Rumor, Diplomacy and War in Enlightenment Paris. Oxford 2014. Sven Externbrink: Humanismus, Gelehrtenrepublik und Diplomatie. Überlegungen zu ihren Beziehungen in der Frühen Neuzeit. In: von Thiessen / Windler, Akteure, pp. 133–150. E. g. memorial and notes from the Russian embassy to the Swedish Crown (Ryska beskickningars memorial och noter 1744–1748, DM 628, Riksarkivet (RA), Stockholm) and the minutes of the Swedish Council discussing them (Utrikesexpeditionen, Rådsprotokoll i utrikesärenden (RPU) vol. 1746–1747, RA, Stockholm), as well as diplomatic reports from the British and French embassies in Stockholm during the time of von Korff ’s service (Records assembled by the State Paper Office,

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the critique emanated both from the underlying normative tensions within early modern diplomacy and from a conflict between early modern norms and emerging practices of eighteenth-century diplomacy, well visible in the Swedish capital.13

Serving the Crown and the republic of letters When Johann Albrecht von Korff (1697–1766) arrived as a Russian diplomat in Copenhagen in 1740, he was anything but a career diplomat. However, he belonged to a social elite characterised by border-crossing networks and geographical mobility via studies, military service or service at court.14 Like many Russian diplomats,15 he was of Baltic-German descent and had arrived in Russia as a result of entering the service of Anna Ivanovna, regent of the duchy of Courland and later Empress of Russia, after finishing his studies in Jena.16 Von Korff was known as a freethinker, libertine and bibliophile, and these interests played an important part in his life. In Russia, he was the president of the Russian Academy of Sciences for six years. Under his direction, the Academy went through internal reforms and sent a scientific expedition to Kamchatka.17 Von Korff gathered books and manuscripts, and his collection of around 34,000 volumes reveals his role as a book consumer and contributor to borderless scholarly and literary networks.18 His collection travelled with him, and in Copenhagen,

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including papers of the Secretaries of State up to 1782, Secretaries of State: State Papers Foreign, Sweden, SP 95/99–101, The National Archives (NA), Kew; Correspondance politique (CP), Suède vol. 213–216, Archives du Ministère des Affaires Etrangères (AMAE), La Courneuve). Dates are given according to the old style following the Swedish calendar in the 1740s. For the normative tensions within early modern society, see Hillard von Thiessen: Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne. In: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (eds.): Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Berlin 2015, pp. 241–286. Peter Coulmas: Weltbürger. Geschichte einer Menschheitssehnsucht. Reinbek 1990, p. 273. Heinz Duchhardt: Balance of power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785. Paderborn 1997, p. 29. For von Korff, see Jesper Overgaard Nielsen: Johann Albrecht von Korff – russisk gesandt i Danmark. In: Personalhistorisk tidsskrift 2009, 1, pp. 35–51, and the short biography in Rainer Knapas: Kunskapens rike. Helsingfors universitetsbibiliotek – Nationalbiblioteket 1640–2010. Helsinki 2012, pp. 128–129. Knapas, Kunskapens rike, and Karl L. Bugge: Det danske frimureries historie indtil aar 1765. Copenhagen 1910, p. 80. Through royal purchase, subsequent inheritances and donations, most of the collection eventually ended up at the University Library in Helsinki, today’s National Library of Finland; Overgaard Nielsen, Johann Albrecht, p. 44.

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he generously opened it to scholars and learned men.19 The content encompassed topics ranging from jurisprudence, sciences and arts, philology and literature to geography and history. It lets presume connections to people who could provide von Korff with the latest scholarly work, like the Swedish professor of rhetoric and politics, Johan Ihre, who established connections to diplomats in Stockholm and sent his dissertations to von Korff after the latter’s service in the Swedish capital.20 In addition to scholarly works distributed over official channels, von Korff ’s collection also included pamphlets printed outside of censorship as well as manuscripts, many of which were typical examples of the clandestine philosophical literature of the Enlightenment, such as works by English deists.21 For most of his career as a diplomat, von Korff seemed to have successfully combined his roles as a servant of the Russian Crown, a literary man and a freethinker, shifting between the sphere of politics and a more apolitical eighteenth-century sociability.22 He served most of his diplomatic career as a Russian diplomat to the Danish court, spending a total of around 25 years in Copenhagen during two phases, 1740–1746 and 1748–1766, interrupted only by a short service in Stockholm. He was one of the founding members of the first masonic lodge in Denmark, and the ties between him and the lodge were close: the lodge initially assembled at his house and was known as “die Korffsche Loge”, and its members included several secretaries at the Russian embassy, persons serving within von Korff ’s household and one of the scholars using and cataloguing von Korff ’s library.23 Von Korff himself acted as the lodge master briefly in 1746 and was made deputy master of a new provincial grand lodge in 1749.24 Denmark was a fruitful diplomatic environment for von Korff both politically and personally. Throughout the century, the Danish Crown tried to establish its control of the German duchies of Holstein and Schleswig but was contested by several entities, one of these being the successor to the Swedish throne,

19 Bugge, Det danske frimureries, p. 80. 20 Anders Grape: Ihreska handskriftssamlingen i Uppsala Universitets bibliothek. Part 1. Uppsala 1949, pp. 151–152, 268. 21 Timo Kaitaro: Miscellanea-Korff. In: Seppo Zetterberg et al. (eds.): Tryckt i minnet. Kulturskatter i Finlands nationalbibliotek. Helsinki 2004, pp. 171–174; id.: La littérature philosophique clandestine dans les collections de la Bibliotheque de l’Université d’Helsinki. In: La Lettre Clandestine. Bulletin d’information sur la littérature philosophique clandestine de l’âge classique 2 (1993), pp. 24–32 ; id.: Klandestin filosofisk litteratur. Upplysande allusioner och nätverk. In: Historisk Tidskrift för Finland 88/2 (2003), pp. 216–224. 22 For the “new sociability” of the century, see Daniel Gordon: Citizens Without Sovereignty. Equality and Sociability in French Thought, 1670–1789. Princeton 1994. 23 Members listed in Bugge, Det danske frimureries, pp. 215–227. 24 Ibid., p. 164.

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Prince Adolf Fredrik.25 Support for the Danish cause led to an alliance between Denmark and Russia in 1746, aligning Russian and Danish foreign policies.26 Copenhagen was thus a politically friendly context for a Russian diplomat. Additionally, for a German-speaking nobleman like von Korff, the high level of German influence within the Danish court and the elite created a socially accessible environment.27 Amongst the early members of the first masonic lodges in Copenhagen were Danish subjects who had previously joined the freemasonry in Hamburg and Berlin, and the language of the lodge von Korff co-founded was German until the late 1770s.28 Compared to this, von Korff ’s eighteen-month service in Stockholm was an intermezzo and, perhaps, an unwelcomed exile.

Supporting the opposition in Stockholm 1746–1748 When von Korff arrived in the Swedish capital in July 1746, the settings of his service changed remarkably. First, Russian-Swedish relations were characterised by diplomatic tensions and fear of military conflict. The two realms had been at war a few years earlier, and peace was achieved when Sweden let Russia dictate the election of the successor to the Swedish throne,29 thus giving in to the Russian claim of Sweden as a vassal state.30 The situation continued to be tense when the Swedish Diet assembled in the autumn of 1746.31 Von Korff ’s mission was to hinder an outcome of the Diet that would have been incompatible with Russian interests.32 This mission failed. At the end of the Diet, Sweden had signed alliances with France and Prussia and broke its diplomatic relations with Great Britain, Russia’s diplomatic

25 Ole Feldbæk: 1720–1814. In: Ole Feldbæk / Knud J. V. Jespersen (eds.): Dansk udenrigspolitiks historie. Vol. 2 (Revanche og neutralitet. 1648–1814). Copenhagen 2002, pp. 200–513, here p. 215. 26 Ibid., pp. 289–290. 27 For the German influence within the political elite in Denmark, see Ole Feldbæk: Clash of Cultures in a Conglomerate State. Danes and Germans in 18th Century Denmark. In: Jens Christian V. Johansen et al. (eds.): Clashes of Cultures. Essays in Honour of Niels Steensgaard. Odense 1992, pp. 80–93. 28 Andreas Önnerfors: Freemasonry in Denmark. In: Henrik Bogdan / Olav Hammer (eds.): Western Esotericism in Scandinavia. Leiden 2016, pp. 145–151, here p. 146. 29 Olof Jägerskiöld: Den svenska utrikespolitikens historia. Vol. 2, 2 (1721–1792). Stockholm 1957, pp. 157–160. 30 For the Russian eighteenth-century notion of vassal states around the Baltic Sea, see John P. LeDonne: The Grand Strategy of the Russian Empire, 1650–1831. In: Eric Lohr / Marshall Poe (eds.): The Military and Society in Russia 1450–1917. Leiden 2002, pp. 175–195. 31 Carl Gustaf Malmström: Sveriges politiska historia. Från konung Karl XII:s död till statshvälfningen 1772. Vol. 3. Stockholm 2 1897, p. 287. 32 Johan Richard Danielson: Die nordische Frage in den Jahren 1746–1751. Mit einer Darstellung russisch-schwedisch-finnischen Beziehungen 1740–1743. Helsinki 1888, p. 102.

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ally in Stockholm. Von Korff was sent back to Copenhagen shortly after the Diet ended in December 1747 and replaced by another Russian diplomat in the Swedish capital. Second, the Swedish form of government required diplomats to adapt to a political life different from most contemporary European monarchies. During the Age of Liberty (1719–1772), political power was concentrated in the Council of the Realm and the four-estate Diet. The monarchy continued to be an integral part of the polity, partly because it guaranteed the realm’s independence and reputation abroad, but the king played a lesser part.33 Simultaneously, the de facto aristocratic power concentration gave way to notions of republicanism amongst the Swedish noble elite.34 Foreign diplomats were therefore introduced to the Swedish system through a diplomatic ceremony which highlighted the importance of the Council and its members.35 The Age of Liberty saw the emergence of Swedish party politics, which influenced diplomacy as well. From the end of the 1730s, the political field was mainly divided between two factions: the pro-French Hats, and the anti-French Caps supported by Great Britain and Russia.36 The ties to foreign powers were not specific to the period. As Peter Lindström and Svante Norrhem have shown, foreign patronage had tied factions of the Swedish political elite to Europe’s great powers since the second half of the seventeenth century.37 However, the premises changed in the following century, with multiple potential targets of patronage. Certain diplomats in Stockholm now tried to influence entire political parties instead of a limited group of influential politicians.38 In other words, a diplomat such as von Korff was expected to act in support of his Swedish clients. Von Korff did this using several methods and channels, some of them more conventional and some of them at odds with accepted practices. Like many diplomats in similar contexts, he channelled financial support from his court

33 Jonas Nordin: The Monarchy in the Swedish Age of Liberty (1719–1772). In: Pasi Ihalainen et al. (eds.): Scandinavia in the Age of Revolution. Nordic Political Cultures, 1740–1820. Farnham 2011, pp. 29–40. 34 Charlotta Wolff: Noble Conceptions of Politics in Eighteenth-Century Sweden (c. 1740–1790). Helsinki 2008. 35 Sophie Holm: Diplomatins ideal och praktik. Utländska sändebud i Stockholm 1746–1748. Helsinki 2020, pp. 69–71. 36 For an overview of the Age of Liberty, see Michael Roberts: The Age of Liberty. Sweden 1719–1772. Cambridge 1986. 37 Peter Lindström / Svante Norrhem: Flattering Alliances. Scandinavia, Diplomacy, and the AustrianFrench Balance of Power, 1648–1740. Lund 2013. 38 Ibid., p. 214.

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to the anti-French Caps together with the British embassy in Stockholm.39 Financial support, although not a new form of foreign patronage,40 became an increasingly important diplomatic practice in Stockholm that the involved embassies were unable to refrain from.41 The Russian and British support to the Caps was counterbalanced by French support to the Hats and the French ambassador did not criticise von Korff for his funding of certain political activities, but rather tried to be informed about the economic involvement of his diplomatic counterparts.42 Compared to the financial support, other methods used by von Korff differed from the ones used by his diplomatic colleagues or from what was expected in general. He frequently used the formal channels he had access to as ambassador, handing in notes and memorials which required a formal answer and having audiences at court in situations where an informal complaint might have sufficed. When requesting audiences during the autum of 1746, he moreover bypassed the proper authority for such requests and addressed the court directly, knowingly breaking the protocol.43 Most importantly, perhaps, he participated in the political debates surrounding the Diet, engaging in what Helmer Helmers has labelled an early modern “public diplomacy”.44 He reportedly had copies of his memorials and a controversial speech circulated, and like other news in manuscript form, they spread rapidly in town and beyond.45 By addressing rumours within the Swedish

39 For a summary of Russian expenses, see Danielson, Die nordische Frage, appendix 4, and for a resume of the joint British-Russian financial actions, see Guy Dickens March 3, 1747, SP 95/100, NA, Kew. 40 For Sweden before and during the early Age of Liberty, see Lindström / Norrhem, Flattering Alliances, and with a special focus on gender and diplomacy ibid.: Diplomats and Kin Networks: Diplomatic Strategy and Gender 1648–1740. In: Svante Norrhem / James Daybell (eds.): Gender and Political Culture in Early Modern Europe, 1400–1800. London / New York 2016, pp. 68–86. On foreign patronage and factions in early modern Europe, see e. g. Hillard von Thiessen: Patronageressourcen in Außenbeziehungen. Spanien und der Kirchenstaat im Pontifikat Pauls V. (1605–1621). In: von Thiessen / Windler (eds.): Nähe in der Ferne, pp. 15–39; Almut Bues: Patronage fremder Höfe und die Königswahlen in Polen-Litauen. In: von Thiessen / Windler (eds.): Nähe in der Ferne, pp. 69–85; Christian Windler: “Ohne Geld keine Schweizer”. Pensionen und Söldnerrekrutierung auf den eidgenössischen Patronagemärkten. In: von Thiessen / Windler (eds.): Nähe in der Ferne, pp. 105–133; Andreas Suter: Korruption oder Patronage? Außenbeziehungen zwischen Frankreich und der Alten Eidgenossenschaft als Beispiel (16. bis 18. Jahrhundert). In: Zeitschrift für Historische Forschung 37/ 2 (2010), pp. 187–218. 41 Michael F. Metcalf: Russia, England and Swedish Party Politics 1762–1766. The Interplay between Great Power Diplomacy and Domestic Politics during Sweden’s Age of Liberty. Stockholm 1977. 42 See, e. g., Lanmary Sept 5, Sept 12, Sept 16, Sept 19, 1746, CP Suède vol. 213, AMAE, La Courneuve. 43 Malmström, Sveriges politiska, pp. 295–296. 44 Helmers, Public Diplomacy. 45 See RPU Sept 3, 1746, RA, Stockholm; Arne Remgård: Carl Gustaf Tessin och 1746–1747 års riksdag. Lund 1968, p. 55; Malmström, Sveriges politiska, p. 297.

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realm in some of his formal complaints, he also made hearsay and unofficial information flows a diplomatic matter.46 Some of the clandestine pamphlets which circulated as manuscripts during the Diet were even attributed to him as author or co-author.47 They were deliberations with a clear anti-Prussian and anti-French message targeting the potential alliances under discussion at the Diet. Like some contemporary pamphlets, one attributed to Korff was banned by royal ordinance.48 Last, parallel to these actions, von Korff avoided the arenas where he was expected, frequently finding reasons to not show up at court.49

Reactions and critique Von Korff ’s diplomacy rapidly provoked reactions, through which the outlines of co-existent and, sometimes, competing expectations became visible. There was, as will be discussed, a tension between the expected support for a specific faction at the local level and expectations of diplomatic prudence and discretion when choosing an appropriate diplomatic method. The latter especially concerned someone who, like Korff, had the high rank of ambassador. Von Korff ’s most important critics were the president of the Swedish Chancery and Hat leader, Count Carl Gustaf Tessin, and the French ambassador, Marquis de Lanmary, who supported Tessin and the Hats. In Lanmary’s words, von Korff was “arrogant” and his actions “hazardous”.50 Lanmary interpreted his repeated memorials to the Swedish authorities as a sign of “haughtiness” and “bad temper”.51 He labelled his audiences at court as “irregular” and “extravagant”.52 When the Russian diplomat, instead of complaining to the authorities, confronted Fredrik I about an overdue answer to a memorial about rumours in Stockholm, Lanmary noted that von Korff addressed the king “in an abrupt and far from respectful manner”.53 Tessin described the same situation as an “unseemly way of negotiating”.54 Regarding an earlier breach of protocol – Korff ’s reluctance to pay newly elected

46 For a discussion on this matter, see Sophie Holm: Diplomatins vakande öga. Utländska sändebuds hantering av rykten i Stockholm under 1746–1747 års riksdag. In: Historisk Tidskrift för Finland 104/1 (2019), pp. 49–73. 47 Ingemar Carlsson: Frihetstidens handskrivna politiska litteratur. En bibliografi. Göteborg 1967. 48 Ibid., pp. 85–86. 49 See, e. g., Lanmary Nov 14, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 50 Lanmary Sept 16, 1746, CP Suède vol. 213, AMAE, La Courneuve. 51 Lanmary Nov 14, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 52 Lanmary Nov 18, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 53 Lanmary Feb 24, 1747, CP Suède vol. 215, AMAE, La Courneuve. 54 RPU Feb 26, 1747, RA, Stockholm.

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members of the Council a visit – Tessin talked of “unfriendly steps” and of a “poor character”.55 Lanmary’s and Tessin’s critique shared common traits. Both labelled von Korff ’s actions as impertinent and accused him of being a victim of his temper. Their words reflected the behaviour described in contemporary diplomatic theory. In “De la manière de négocier avec les souverains” (1716), François de Callières stressed the ability to control oneself and to be “quiet, restrained, very discrete and patient”.56 Another manual stressed the skill to “create a barrier between oneself and the curious” as “an act of prudence”.57 The art of silence was also a recurring topic within early modern handbooks for courtiers until the eighteenth century.58 According to Callières, within a diplomatic context, “a man naturally hot-tempered and fierce” was unlikely to control himself in unexpected situations and disputes.59 Lanmary judged von Korff in a strikingly similar manner, describing him as “unable to do violence to his own temper and showing his true nature” when facing a setback.60 Breaches of an expected diplomatic prudence could, as they partly were by Lanmary and Tessin, be attributed to a personality unsuitable for a particular diplomatic mission. They could, however, also be interpreted as a deliberate diplomatic message during, for example, complicated negotiations.61 Whether a behaviour that looked impolite and ireful was symbolic communication or just poor diplomacy was considered and decided by diplomatic colleagues, political adversaries and bystanders. Von Korff ’s actions were, in fact, initially interpreted as a sign of Russian diplomatic hostility towards Sweden. This concerned especially the Council, which was divided over von Korff ’s memorials and audiences.62 Since the Council was

55 Tessin’s Ad protocollum, RPU Feb 23, 1747, RA, Stockholm. 56 François de Callières: De la maniere de negocier avec les souverains. De l’utilité des negociations, du choix des ambassadeurs & des envoyez, & des qualitez necessaires pour réüssir dans ces employs. Paris 1716, p. 42. 57 Antoine Pecquet: De l’art de negocier avec les souverains. The Hague 1738, pp. 8–9. 58 Alain Corbin: Histoire du silence. De la Renaissance à nos jours. Paris 2016, pp. 129–132. Von Korff ’s book collection includes a seminal work in this genre, Baltasar Gracián’s “Oráculo manual y arte de prudencia” (1647), in a French translation (1684), alongside a couple of other works by Gracián. See Catalogue des livres de la grande Bibliotheque de Son Altesse Impériale Moseigneur le Césarewitch Grand Duc Constantin Pawlowitch 1829, Classe III. Sciences et Arts, HYK:Bal. l. 15, and Catalogue Alphabétique de la grande et petite Bibliothéque de Son Alt. Imp. Monseigneur le Grand Duc (s. a.), HYK:Bal. l. 19, National Library, Helsinki. 59 Callières, De la manière, p. 40. 60 Lanmary Oct 3, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE, La Courneuve. 61 Cf. Matthias Köhler: Argumentieren und Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen (1676–79). In: Arndt Brendecke (ed.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Frühneuzeit-Impulse, Bd. 3. Köln et al.2015, pp. 523–535. 62 For a discussion of von Korff ’s memorials, see, e. g., RPU Sept 3, Oct 2, Nov 4, 1746 and Feb 17 and 18, 1747, RA, Stockholm. For a discussion of his audiences, see Remgård, Carl Gustaf Tessin.

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uncertain whether von Korff acted out of personal judgement or whether he had orders from the empress, a formal reaction was deemed too risky. The question the Council members dealt with was ultimately how to interpret the specific methods von Korff used and where to position the diplomatic agency on the Russian side. It chose to blame von Korff personally, not out of certainty but rather as a strategy to avoid a conflict with the Russian court.63 Regardless of how much von Korff ’s methods were or were not influenced by his personality, his diplomatic actions were aimed at supporting the anti-French Caps. Some of his methods were chosen in cooperation with his Swedish clients.64 In this situation, a tension between the expected support for the anti-French faction and an expected diplomatic prudence and discretion was hard to avoid. The British diplomat in Stockholm, Guy Dickens, faced the same challenge, but was explicitly advised to choose a different path. After the first months of the Diet and von Korff ’s conspicuous diplomacy, Guy Dickens was ordered not to act as strongly as his Russian colleague. His instructions stated that it was “reasonable that the Russian Minister should be the Principal & the publick Actor” within the British-Russian collaboration in Stockholm, since von Korff represented a power more involved in Swedish affairs. Guy Dickens was, instead, instructed to “rather advise & encourage [Korff] than appear” and only act “with the utmost Decency & Discretion”.65 These orders aimed for a method which balanced foreign patronage and an expected discretion to a greater extent than von Korff ’s more public diplomacy.

Conclusion – between prudence and party politics As a milieu for diplomatic service, Stockholm represented a specific form of government and political culture, whereas the diplomatic corps relied on general rules of European diplomacy. The intensified party politics and debates in Sweden occasionally made a balance between practices such as foreign patronage and diplomatic discretion harder and, thus, exposed potentially competing practices. Crucial, in this context, were the ties between diplomacy, political debates and the choice of diplomatic method. Although the Age of Liberty is famous for the Freedom of the Press Act of 1766, the first decades of this period were, as in other polities, characterised by a very negative perception of political debates.66 This was reflected

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Holm, Diplomatins ideal, pp. 168–169. On this cooperation, see Danielson, Die nordische Frage. Chesterfield to Guy Dickens Jan 20, 1747, SP 95/100, NA, Kew. Karin Sennefelt: Frihetstidens politiska kultur. In: Jakob Christensson (ed.): Signums svenska kulturhistoria. Part 4 (Frihetstiden). Stockholm 2006, pp. 17–49. See also Marie-Christine Skuncke: Freedom of the Press and Social Equality in Sweden, 1766–1772. In: Michael Bregnsbo et al. (eds.):

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in the political rhetoric of the early 1740s, which nurtured a strong narrative of imperative silence. The act of discussing state secrets publicly was condemned both in Diet discussions and, paradoxically, in clandestine political manuscripts.67 Eighteenth-century embassies were nodes in the circulation of diplomatic and military news.68 Foreign diplomats in Stockholm reported on clandestine debates and, in a few cases, co-authored pamphlets.69 Von Korff was blamed for relying on a diplomacy which was ill-suited for a “republican country”,70 but he was perhaps not adapting while at the same time adapting too well to this situation. His interaction with clandestine debates showed that he lived up to the anti-French factions’ hope for support from the Russian embassy precisely by methods adapted to Swedish political life. It also reflected his co-existent but different roles as both a diplomat and a man of letters. His collection of books and manuscripts and his alleged pamphleteering made clandestine philosophical and political debates an integral part of his life as a diplomat. Criticism against von Korff ’s service in Sweden, thus, highlights the problematic relationship between early modern diplomacy and political debates, the former having the capacity to open up “forms of publicity unwanted by the ruling elites”.71 This triggered criticism, whereas the foreign patronage per se went unquestioned. Von Korff was criticised for his methods, not for his ties to members of the Swedish political elite, which were seen as a core task within diplomacy. Involvement in public debates – through the spread not only of news but also of polemic texts – did exist as a diplomatic method.72 However, as Joad Raymond has proposed, early modern diplomacy, following the logic of reciprocity, promoted joint efforts at controlling clandestine texts.73 In other words, how von Korff ’s embassy was evaluated reveals the tensions surrounding diplomats who engaged with foreign audiences in an early modern context. Military and diplomatic news facilitated the emergence of the concept of “public opinion” in Europe during the mid-eighteenth century.74 The abolition of censorship in Sweden in the 1760s changed the conditions for diplomacy in

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Scandinavia in the Age of Revolution. Nordic Political Cultures, 1740–1820. London / New York 2011, pp. 133–143. Erik Bodensten: Politikens drivfjäder. Frihetstidens partiberättelser och den moralpolitiska logiken. Lund 2016, especially pp. 236–237. Ewing, Rumor, Diplomacy, p. 37. Ingemar Carlsson: Olof Dalin och den politiska propagandan inför “lilla ofreden”. Lund 1966, p. 56. Lanmary Nov 14, 1746, CP Suède vol. 214, AMAE. Helmers, Public Diplomacy, p. 402. Ibid., pp. 406–408. Joad Raymond: Les libelles internationaux à la période moderne. Étude préliminaire. In: Études Épistémè 26 (2014), publ. online Dec 23, 2014. DOI: https://doi.org/10.4000/episteme.297. Ewing, Rumor, Diplomacy.

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the Swedish capital. Twenty-four years after von Korff ’s embassy, periodicals and pamphlets of the competing Swedish parties were funded by the French and British embassies in Stockholm.75 At this point, a traditional foreign patronage had been almost institutionalised, and the possibilities of a public debate had changed radically. Von Korff ’s embassy serves both as an example of an early modern “public diplomacy” using the clandestine channels described by Helmers and as a proto-version of the diplomatic support of public debates in post-censorship Sweden described by Marie-Christine Skuncke. It shows the importance of addressing changes external to the diplomatic profession along with the internal changes which eventually transformed the diplomacy (and diplomat) of type ancien into a modern one.

75 Marie-Christine Skuncke: Medier, mutor och nätverk. In: ead. / Henrika Tandefelt (eds.): Riksdag, kaffehus och predikstol. Frihetstidens politiska kultur 1766–1772. Stockholm 2003, pp. 255–286.

Sektion 10: Die preußisch-österreichische Konkurrenz im 18. Jahrhundert

Bettina Braun

Einführung

Darstellungen deutscher Geschichte im 18. Jahrhundert setzen zumeist 1740 eine Zäsur und interpretieren die folgenden Jahrzehnte unter dem Leitmotiv des preußisch-österreichischen Gegensatzes. Auch wenn dieser 1740 sicherlich noch nicht voll ausgebildet war, wird man der strukturierenden Bedeutung dieses Gegensatzes eine hohe Plausibilität kaum absprechen können. Dabei wird der Sachverhalt auf unterschiedliche Begriffe gebracht: „Gegensatz“ ist sicherlich der neutralste Begriff,1 „Rivalität“ betont stärker die machtpolitischen Kämpfe.2 Dagegen schwingt in dem teilweise auch als Epochenbegriff fungierenden „Dualismus“ eine tiefergehende Gegensätzlichkeit mit, nämlich die Annahme von der Existenz zweier völlig unterschiedlicher Ausprägungen von Herrschaft, deren Unvereinbarkeit und Gegeneinander letztlich zum Untergang des Reichs geführt hätten.3 Auch wenn die Begriffe nicht immer trennscharf unterschieden und teilweise sogar synonym verwendet werden,4 lässt sich festhalten, dass „Dualismus“ mehr als die anderen Begriffe den prinzipiellen Gegensatz, die grundsätzliche Abgrenzung betont und die beiden Gegner als vergleichsweise monolithische Blöcke voraussetzt. Demgegenüber zielt der Begriff der Konkurrenz, unter den die Rostocker Tagung gestellt war, stärker auf Interaktion zwischen zwei oder mehr Konkurrenten ab, wobei diese Interaktion angesichts der Konkurrenzsituation in der Regel eher nicht von freundlicher Zugewandtheit geprägt war. Aber Konkurrenten existieren nicht isoliert nebeneinander, sondern behalten einander im Blick, übernehmen eventuell vielversprechende Strategien des anderen, versuchen Vorteile im Konkurrenzkampf zu erringen oder wenigstens Rückstände zu verringern. „Konkurrenz“ ist damit ein ungleich dynamischeres Konzept als „Dualismus“.

1 Karl Otmar Freiherr von Aretin: Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund. Göttingen 1980, S. 9 u. 13. Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. München 2006, S. 104. 2 Aretin, Reich, S. 20; Thomas Stamm-Kuhlmann: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Auf dem Weg in den Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich 1740–1947. Berlin 2018, S. 7–10, hier S. 7. 3 Siehe die Zusammenfassung zuletzt bei Joachim Whaley: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien. Bd. 2 (Vom Westfälischen Frieden zur Auflösung des Reichs 1648–1806). Darmstadt 2014, S. 401: „Die Einschätzung, der Angriff auf Schlesien 1740 stelle den Beginn der Ära des österreichisch-preußischen ‚Dualismus‘ dar, erwies sich als bemerkenswert beständig […]. Der ‚Dualismus‘ galt als Anfang vom Ende des Reichs.“ 4 So z. B. bei Stamm-Kuhlmann, Einleitung, S. 7: „Die machtpolitische Rivalität, der sogenannte preußisch-österreichische Dualismus“.

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Bettina Braun

Versuchsweise wird in dieser Sektion deshalb das preußisch-österreichische Verhältnis als Konkurrenzverhältnis beschrieben. Die Beiträge loten also aus, welches Bild sich ergibt, wenn man weniger von Gegensätzen als von Konkurrenz und damit von einem größeren Maß an Interaktion ausgeht. Dabei wird zunächst danach gefragt, wie sich dieses Verhältnis direkt nach dem doppelten Regierungswechsel von 1740 in der Außenwahrnehmung, in diesem Fall der der französischen Gesandten, darstellte, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Höfe gerichtet wird. Von einer Konkurrenz im engeren Sinne kann zu diesem Zeitpunkt freilich (noch?) nicht die Rede sein, da die beiden Höfe zum einen nicht als gleichwertig und damit konkurrenzfähig eingestuft wurden, und zum anderen die beiden Mächte auch noch nicht unbedingt unterschiedlichen, mithin konkurrierenden Seiten der Mächteordnung zugeordnet wurden. Dann werden Politikfelder untersucht, in denen der Sieger in diesem Konkurrenzkampf von vornherein festzustehen scheint oder die bisher in der Forschung kaum eine Rolle spielten. In extremer Weise gilt das sicher für das Militärwesen, für das Bernhard Erdmannsdörffer die vorherrschende borussische Sicht so zusammenfasste: „Nach der ungeheuren letzten Kraftprobe des Siebenjährigen Krieges wurde die preußische Armee das Modell, nach dem fast alle europäischen Staaten ihre Heeresordnungen neu zu gestalten unternahmen“.5 Auch wenn die Wertungen Erdmannsdörffers heute kaum mehr auf Zustimmung stoßen dürften, hat die Forschung am Vorbildcharakter des preußischen Militärs doch stets festgehalten. Dabei werden anders gerichtete Rezeptionsprozesse ebenso übersehen wie gegenseitige Annäherungen. Genau umgekehrt verhält es sich mit der dynastischen Politik. Denn die Begriffe „Heiratspolitik“ und „Habsburg“ sind eine ähnlich enge Verbindung eingegangen wie „Militär“ und „Preußen“. Dabei wurde die Maximilian I. zugeschriebene Devise „Tu felix Austria nube“ von Maria Theresia geradezu idealtypisch verkörpert, da ihr mit dreizehn das frühe Kindesalter überlebenden Kindern ein reichhaltiges dynastisches Potential zur Verfügung stand, während der kinderlose Friedrich diesbezüglich zum Nichtstun verurteilt schien. Weitet man freilich den Blick über die Nachkommen des Herrscherpaares hinaus auf andere Mitglieder der Dynastie und bezieht auch die Anbindung anderer fürstlicher Familien durch Vergabe militärischer Ämter mit ein, dann ergibt sich schon ein weit weniger einseitiges Bild. Demgegenüber ist der Bereich der Justiz in Bezug auf die preußischösterreichische Konkurrenz ein praktisch unbeschriebenes Blatt. Allerdings lohnt auch hier ein genauerer Blick, da auch auf diesem, dem Konkurrenzgedanken

5 Bernhard Erdmannsdörffer: Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648–1740. Bd. 2. Meersburg u. a. 1932, S. 467.

Einführung

scheinbar so fernen, weil vorgeblich allein der abstrakten Gerechtigkeit verpflichteten Feld Konkurrenz die Entwicklung vorantreiben und z. B. die Ausgestaltung der Prozesse beeinflussen konnte. Die Reichsjustiz erweist sich somit als eine der Arenen, in denen die preußisch-österreichische Konkurrenz ausgetragen wurde. Sicherlich würde es sich lohnen, weitere Politikfelder unter Anwendung von Konkurrenztheorien zu untersuchen. Hier wäre an Felder wie die Verwaltung zu denken, wo die preußische Überlegenheit ähnlich klar zutage zu liegen scheint wie umgekehrt die habsburgische auf dem Feld der höfischen Repräsentation – und die beide deshalb für eine kritische Neubetrachtung prädestiniert erscheinen. Und die Reichsjustiz war selbstverständlich nicht die einzige Arena der Konkurrenz: Der Reichstag drängt sich hier förmlich auf, aber auch an die Reichskirche, die Reichsstädte oder die Reichskreise wäre hier zu denken.6

6 Die Verfasserin plant dazu einen Sammelband, der diese und weitere Bereiche berücksichtigt und damit weiter ausgreift, als es im engen Rahmen einer Tagungssektion möglich war.

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Zwei ungewöhnliche Höfe von außen betrachtet Die Berichte der französischen Gesandten aus Berlin und Wien nach den Regierungswechseln von 1740 Höfe sind in den letzten Jahren wieder verstärkt in das Blickfeld der Forschung geraten. Nach dem eher sozialgeschichtlich ausgerichteten Boom im Anschluss an die Arbeiten von Norbert Elias standen und stehen nun kulturgeschichtliche Fragen im Vordergrund.1 Unbestritten gilt der französische Hof, wie er sich vor allem unter Ludwig XIV. entwickelt hatte, als das – unerreichte – Vorbild, aber auch dem Kaiserhof in Wien und dem Hof der Oranier wurde zuletzt Modellcharakter attestiert.2 In dieser europäischen Perspektive taucht der Berlin-Potsdamer Hof nicht auf. In den Arbeiten wiederum, die von einem preußisch-österreichischen Dualismus ausgehen, werden die Höfe nicht thematisiert. Für die Frage nach einer Konkurrenz zwischen den führenden deutschen Mächten scheint der Hof also ein blinder Fleck zu sein, während umgekehrt für die Hof-Forschung dem preußischen Beispiel keine größere Relevanz zugemessen wird. Deshalb sollen hier zunächst einmal die Zeitgenossen nach ihrer Wahrnehmung der Höfe in Berlin und Wien befragt werden. Als Beobachter wurden die französischen Diplomaten an beiden Orten ausgewählt, also die Vertreter des Hofs, der – zumindest außerhalb von Wien – völlig unstrittig als das Maß aller höfischen Dinge galt. Zudem wurden die Verhältnisse im Reich wohl nirgends so sorgfältig beobachtet wie in Paris, weshalb Frankreich auch in Berlin und Wien kontinuierlich mit Diplomaten vertreten war. Der doppelte Regierungswechsel im Jahre 1740 – am 31. Mai 1740 starb der preußische König Friedrich Wilhelm I., am 20. Oktober Kaiser Karl VI. – bietet eine besonders günstige Gelegenheit, diese Wahrnehmung zu untersuchen. Denn Regierungswechsel boten von jeher (und bieten bis heute) die Gelegenheit zu grundlegenden Berichten und Einschätzungen von Diplomaten, die aus ihrer Kenntnis

1 Die reiche Hof-Forschung kann hier nicht einmal ansatzweise rekapituliert werden. Siehe als Einstieg Ronald G. Asch u. a.: Hof. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 5. Stuttgart / Weimar 2007, Sp. 564–574; Andreas Bihrer: Curia non sufficit. Vergangene, aktuelle und zukünftige Wege der Erforschung von Höfen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 235–272. 2 Christoph Kampmann u. a. (Hg.): Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln u. a. 2008.

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der Verhältnisse vor Ort zu prognostizieren versuchten, ob und wie sich die Ausrichtung der Politik unter der neuen Regierung entwickeln würde. Im Folgenden soll die Übergangssituation der Jahre 1740/413 im Hinblick auf die Wahrnehmung der Höfe analysiert werden. Gefragt werden soll, ob die beiden Höfe überhaupt als gleichwertig wahrgenommen wurden und ob und in welcher Weise ein Konkurrenzverhältnis thematisiert wurde. Zu diesem Zweck sollen die Wahrnehmungen in drei Bereichen zusammengetragen werden: erstens, ob und in welcher Weise die höfische Prachtentfaltung wahrgenommen und in das Tableau europäischer Höfe eingeordnet wurde, zweitens, wie die neue Personenkonstellation am Hof eingeschätzt wurde und drittens, wie die beiden Mächte machtpolitisch verortet wurden.

Höfische Pracht Der französische Gesandte in Berlin, Valory,4 erwartete in Bezug auf den Hof tiefgreifende Veränderungen durch den Regierungswechsel. Schon am 1. Juni vermutete er, dass der Hof in jeder Hinsicht ein ganz anderes Gesicht annehmen und dass es eben vor allem überhaupt wieder einen Hof geben werde,5 nachdem der verstorbene König diese Zierde eines Königreichs vernachlässigt habe.6 Der Gesandte 3 Aufgrund des früheren Regierungswechsels in Preußen setzt die Untersuchung für Preußen früher ein. Da beide Todesfälle trotz der erkennbaren gesundheitlichen Probleme Friedrich Wilhelms letztlich doch recht überraschend eintraten, wurden für beide Höfe die Berichte ab dem Zeitpunkt durchgesehen, als aufgrund des sich verschlechternden Gesundheitszustandes des Monarchen ernsthaft mit einem Regierungswechsel gerechnet werden musste. 4 Frankreich war in Berlin seit September 1739 durch Guy Louis Henri de Valory (1692–1774) vertreten. Er war Gesandter in Berlin in den Jahren 1739–1748 und 1749; zu seiner Biographie knapp Albert Waddington (Hg.): Recueil des instructions donnés aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traites de Westphalie jusqu’à la Revoluton française. Bd. 16 (Prusse). Paris 1901, S. 351. Ausführlicher, aber sehr weitschweifig und mit deutlich hagiographischer Tendenz: H[enri Z.] de Valori, Notice historique sur la vie du marquis de Valori. In: Guy Louis Henri de Valori: Mémoires des négociations du Marquis de Valori accompagnée d’un recueil des lettres de Frédéric-le-Grand […]. Bd. 1. Paris 1820, S. 1–73. Seine Instruktion datiert vom 1. Juli 1739, gedr. in: Waddington, Recueil, S. 352–362. Valory traf im September 1739 in Berlin ein; Valori, Notice, S. 14. 5 „Il y aura une cour“, Valory an du Theil (?), Berlin, 1.6.1740; Archives du Ministère des Affaires étrangères (AAE), Correspondance Politique (CP) Prusse 110, fol. 365r–366v, hier fol. 366r. Jean Gabriel de La Porte, Sieur du Theil war premier commis im Bureau du Secrétariat d’Etat des Affaires etrangères. Zur Organisation der Büros und zu den Vorstehern der Büros siehe Jean-Pierre Samoyault: Les Bureaux du secrétariat d’État des affaires étrangères sous Louis XV. Paris 1971. Ich danke Sven Externbrink für diesen Hinweis. 6 Valory an du Theil (?), Berlin, Juli 1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 78r–81v, hier fol. 78r. Die Gesandten, die Frankreich in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms in Berlin vertreten hatten, hatten stark den militärischen Charakter des preußischen Staates betont. Siehe dazu Sven Externbrink:

Zwei ungewöhnliche Höfe von außen betrachtet

sah in Friedrich II. einen Wiedergänger seines Großvaters, des ersten preußischen Königs, der Ludwig XIV. imitiert habe, wo immer dies möglich gewesen sei.7 Und eben deshalb erwartete er eine Rückkehr zu höfischer Pracht.8 Allerdings rechnete er genau wegen dieser strengeren Beachtung der Etikette auch damit, dass der junge König nicht so leicht zugänglich sein werde wie sein Vater.9 In dieser Hinsicht befürchtete der Gesandte also eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Diplomaten.10 Letztlich aber lässt sich Valorys Erwartung wohl dahingehend auf den Punkt bringen, dass der Gesandte eine Rückkehr des Berliner Hofs zur „Normalität“ erwartete, und die Norm bildete in den Augen eines französischen Diplomaten selbstverständlich der französische Hof. In dieser Perspektive erhielt Berlin/Potsdam durch den Regierungsantritt Friedrichs die Chance, überhaupt erst (wieder) zu einem richtigen Hof zu werden. Allerdings realisierte Valory dann bald, dass der junge König keineswegs ein „normales“ Hofleben etablieren wollte und dass es kein festes und kalkulierbares Zeremoniell für die diplomatischen Vertreter geben würde, da der König frei sein und sich nicht althergebrachten Regeln unterwerfen wollte.11 Schon klingt – im Oktober 1740 – fast so etwas wie Sehnsucht nach dem verstorbenen König Friedrich Wilhelm I. an, zu dem der Zugang so einfach gewesen sei.12

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Hof und Heer. Das Preußenbild der französischen Diplomatie zur Zeit Ludwigs XV. (1715–1774). In: Günter Lottes (Hg.): Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Berlin 2006, S. 29–44, v. a. S. 35. Die neuere Forschung hat freilich die Außergewöhnlichkeit des Hofes Friedrich Wilhelms I. stark relativiert. Unstrittig ist inzwischen, dass es nicht zu einer drastischen Reduzierung der Ausgaben für den Hof unter Friedrich Wilhelm I. kam. Thomas Biskup: Friedrichs Größe. Inszenierungen des Preußenkönigs in Fest und Zeremoniell 1740–1815. Frankfurt am Main / New York 2012, S. 36. Ähnlich Wolfgang Neugebauer: Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen. Das 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46 (2000), S. 139–169, v. a. S. 144–151. Außerdem: Peter-Michael Hahn: Pracht und Selbstinszenierung. Die Hofhaltung Friedrich Wilhelms I. von Preußen. In: Friedrich Beck / Julius H. Schoeps (Hg.): Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm in seiner Zeit. Potsdam 2003, S. 69–98. Eine Zusammenfassung dieser Arbeiten jetzt bei Frank Göse: Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs. Darmstadt 2020, S. 43–71. Valory an Amelot, Berlin, 4.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 370r–374v, hier fol. 374r. Jean Jacques Amelot de Chaillou war 1737–1744 Außenminister Frankreichs. An ihn waren die regelmäßigen Berichte der Gesandten adressiert. Valory an du Theil (?), Berlin, 1.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 365r–366v, hier fol. 366r. Er verlieh in diesem Zusammenhang seiner Sorge Ausdruck, ob er wohl in der Lage sein werde, die damit verbundenen höheren Ausgaben aufzubringen. Valory an Amelot, Berlin, 4.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 370r–374v, hier fol. 374r. Valory an Amelot, Berlin, 7.6.1740; ebd., fol. 380r–383v, hier fol. 381r. Ganz konkret vermutete der Gesandte z. B., dass den Gesandten nicht die Ehre zuteilwürde, mit dem König zu speisen. Valory an Amelot, Berlin, 7.6.1740; CP Prusse 110, fol. 380r–383v, hier fol. 381r. Valory an Amelot, Berlin, 22.10.1740; AAE, CP Prusse 112, fol. 48r–52r, hier fol. 48v–49r. Ebd., fol. 49v.

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Vergleichbare Äußerungen lassen sich in den Berichten aus Wien nicht finden. Das ist kaum verwunderlich. Denn auch wenn der Verbleib der Kaiserkrone in Wien mehr als unsicher war, stand doch außer Frage, dass es sich beim Wiener Hof um einen bedeutenden Hof handelte, bei dem erst einmal kein „Nachholbedarf “ zu konstatieren war.13 Auch scheinen die Gesandten erst einmal keine grundsätzliche Umgestaltung des Hoflebens durch den Regierungswechsel erwartet zu haben. Deshalb war es für die dort akkreditierten Diplomaten überflüssig, diesbezügliche Erörterungen nach Paris zu übermitteln.14

Personenkonstellationen am Hof In der Rückschau ist offensichtlich, dass die Personenkonstellation am Hof Friedrichs des Großen ungewöhnlich war. Zwar hat die Forschung in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass Friedrichs Gemahlin Elisabeth Christine nicht ganz so funktionslos war wie lange angenommen und dass Berlin mit ihrem Hof weiterhin ein höfisches Zentrum besaß, das wichtige Repräsentationsaufgaben übernahm.15 Aber Elisabeth Christine füllte die Königinnen-Rolle sicher nicht in üblicher Weise aus. Das war freilich zu Beginn der Regierungszeit Friedrichs noch nicht unbedingt abzusehen. Im Pariser Außenministerium, wo man selbstverständlich wusste, dass Friedrich seine Gemahlin eigentlich nicht hatte heiraten wollen und ihr eine englische Prinzessin vorgezogen hätte,16 maß man der Frage, ob die Königin an den Hof zurückkehren würde, erhebliche Bedeutung bei, ja, der Außenminister vertrat sogar die Auffassung, dass diese Frage über das ganze System des Hofs entscheiden

13 Das bedeutete freilich nicht unbedingt, dass man den Wiener Hof als in jeder Hinsicht gleichwertig erachtete. 14 Beachtung fanden hingegen die Folgen für das Zeremoniell, die durch den Tod Karls VI. sofort eingetreten waren, da die Königin von Böhmen und Ungarn (anders als der Kaiser) dem rex christianissimus im Rang nachstand. Diese Fragen der Rangordnung, von denen eben noch nicht klar war, ob die Änderung nur übergangsweise (bis zur Wahl Franz Stephans zum Kaiser) oder länger Bestand haben würde, tangierten aber nicht die grundsätzliche Ausgestaltung des Hoflebens, die hier interessiert. 15 Thomas Biskup: Eines „Großen“ würdig? Hof und Zeremoniell bei Friedrich II. In: Friederisiko. Friedrich der Große. Die Essays. München 2012, S. 98–115; Barbara Stollberg-Rilinger: Offensive Formlosigkeit? Der Stilwandel des diplomatischen Zeremoniells. In: Bernd Sösemann / Gregor VogtSpyra (Hg.): Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung. Bd. 1. Stuttgart 2012, S. 354–371. Auch für Friedrich den Großen wird man – der Charakterisierung Wolfgang Neugebauers für den Hof Friedrich Wilhelms I. folgend – vom „fallweisen Prunk“ sprechen können; Neugebauer, Hof, S. 147. 16 Amelot an Valory, o. O., o. D.; AAE, CP Prusse 110, fol. 392r–394v, hier fol. 394r.

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werde.17 Auch in dieser Hinsicht rechnete der Gesandte mit einer Rückkehr zur Normalität, d. h. mit einem Hof mit einer Königin an zentraler Stelle. Und deshalb versuchte er genau zu ergründen, welches Ansehen die Königin genoss und wie sie sich politisch positionieren würde. Am 21. Juni glaubte Valory beobachtet zu haben, dass Friedrich seiner Frau die Achtung und die Zärtlichkeit zukommen lasse, auf die sie Anspruch habe.18 Der Gesandte berichtete, dass der Königin allgemein große Wertschätzung und Liebe entgegengebracht werde, und er vermutete sogar, dass Friedrich es in der öffentlichen Meinung schwer haben würde, wenn er sich gegen seine Frau stellte.19 In den kommenden Wochen ist dann allerdings immer weniger von der Königin die Rede. Einmal konstatiert Valory sogar eine Vernachlässigung Elisabeth Christines und er vermutet die Ursache dafür in den philosophischen Liebhabereien des Königs oder der geschäftlichen Überlastung zu Beginn der Regierungszeit, da sich der König persönlich um alles kümmere.20 Allerdings wird en passant deutlich, dass Elisabeth Christine auf dem höfischen Parkett durchaus eine wichtige Funktion zukam, indem sie schlicht einen Hof unterhielt, der Gelegenheit bot, sich zu treffen. Immer wieder nämlich erwähnt Valory, dass er diesen oder jenen Minister, oder auch den König selbst, „bei der Königin“ getroffen habe. Dass es also die Königin war, die den zentralen Hof unterhielt, und nicht der König, wird freilich nicht näher kommentiert. Eine weitergehende politische Bedeutung schreibt der Gesandte Elisabeth Christine im Unterschied zu der ursprünglichen Erwartung des Außenministers allerdings nicht zu, und zwar sicher je später. desto weniger. Stattdessen geriet nun allmählich die Königinmutter Sophie Dorothea von Hannover stärker in den Fokus. Sie galt der französischen Diplomatie vor allem in Bezug auf die Verheiratung der königlichen Geschwister August Wilhelm und Ulrike als eine zentrale Akteurin.21 Eine starke Position der Königinmutter entsprach durchaus dem üblichen Zuschnitt eines Hofes, war aber aus französischer Perspektive in diesem Fall angesichts der bekannten pro-britischen Orientierung Sophie Dorotheas eine wenig erfreuliche Aussicht.

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Ebd. Valory an Amelot, Berlin, 21.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 418r–429v, hier fol. 423v. Ebd. Auch Valory an Amelot, Berlin, 2.7.1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 5r–12v, hier fol. 11v. Ebd. Valory an Amelot, Berlin, 19.7.1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 48r–51v. Amelot an Valory, Compiegne, 14.8.1740; ebd., fol. 158r–161v. Valory an Amelot, Berlin, 30.8.1740; ebd., fol. 211r–214r; Valory an Amelot, Berlin, 17.9.1740; ebd., fol. 269r–270v. Valory an Amelot, Berlin, 27.9.1740; ebd., fol. 300r–309r. Siehe auch Friedrich II. an Kardinal Fleury, Charlottenburg, 25.7.1740. In: Politische Correspondenz Friedrich’s des Großen. Bd. 1. Berlin 1879, Nr. 37, S. 23. Kardinal Fleury an Friedrich II., Compiegne, 18.8.1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 185r–186v.

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Insgesamt zeichnet Valory das Bild eines durchaus „normalen“ Hofes, genauer: eines Hofes, der sich anschickte, zur Normalität zurückzukehren. Ein Hof, an dem verschiedene Faktionen agierten, wobei der Zuordnung der Königinnen zu diesen Gruppierungen entscheidende Bedeutung zukam. Relativ rasch erkannte der Gesandte dann aber, dass das Ungewöhnlichste an diesem Hof der König war, weil dieser nämlich alles selbst machen und entscheiden wolle.22 Während in Berlin also wieder einigermaßen normale Verhältnisse einzukehren schienen, bereitete die Personenkonstellation am Wiener Hof dem französischen Botschafter Mirepoix23 erhebliches Kopfzerbrechen. Das lag vor allem daran, dass Maria Theresia mit einem im Rang deutlich unter ihr stehenden Mann verheiratet war. Denn diese Kombination führte zu zeremoniellen Problemen, mit denen freilich auch die anderen Diplomaten in Wien zu kämpfen hatten.24 Darüber hinaus rätselte Mirepoix, in welchem Ausmaß Franz Stephan künftig an der Regierung beteiligt sein würde. Der Tenor dieser Beobachtungen aus dem Oktober und November 1740 ging eindeutig in die Richtung, dass der Gesandte erwartete, dass Franz Stephan eine zentrale Rolle in der Regierung spielen und Maria Theresia ihm weitgehend die Entscheidungen überlassen werde. Bereits am 26. Oktober berichtete Mirepoix nach Paris, dass man in Maria Theresia mehr Talente entdecke als in ihrem Ehemann, dass aber doch aufgrund ihrer Zuneigung zu ihm zu vermuten sei, dass er den entscheidenden Part in der Regierung übernehmen werde;25 ja, so der Gesandte wenige Tage später, dass Maria Theresia sich von ihrer Zuneigung zu ihrem Ehemann zu allem verleiten lasse, was jenem angenehm sei.26 Das Denkmuster, dem der Gesandte hier folgte, ist klar erkennbar: Er sah eine junge Fürstin ohne Regierungserfahrung, die, wie es wohl seinem Frauenbild entsprach, 22 Valory an Amelot, Berlin, 26.7.1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 67r–68v, hier fol. 67v. 23 In Wien war seit dem Ende der Auseinandersetzungen um die polnische Thronfolge 1737 der Marquis de Mirepoix als Botschafter Frankreichs akkreditiert, um die Beziehungen zwischen beiden Mächten auf eine neue friedliche oder besser noch: freundschaftliche Basis zu stellen. Die Instruktion für Mirepoix datiert vom 11.12.1737; Albert Sorel (Hg.): Recueil des instructions donnés aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traites de Westphalie jusqu’à la Revoluton française. Bd. 1 (Autriche). Paris 1884, S. 245–278. Als Mirepoix im Dezember 1740 abberufen wurde, blieb lediglich M. Vincent als chargé d’affaires in Wien, um die französischen Belange zu vertreten, und das gerade in einer Situation, in der die Verhältnisse sich grundlegend ändern sollten. 24 Schon in der Instruktion war Mirepoix angewiesen worden, Franz Stephan nicht offiziell, sondern höchstens als Privatperson zu treffen und sich diesbezüglich in allen zeremoniellen Fragen am Verhalten des päpstlichen Nuntius zu orientieren. Ebd., S. 257. Das war freilich nun, als Franz Stephan nicht mehr nur der Ehemann der Thronerbin, sondern der Ehemann der Herrscherin war, noch schwieriger als zuvor. Dazu auch: Matthias Schnettger: „Codesta nuova corte“. Außensichten auf den Wiener Hof im Spätjahr 1740. In: Bettina Braun u. a. (Hg.): Weibliche Herrschaft im 18. Jahrhundert. Maria Theresia und Katharina die Große. Bielefeld 2020, S. 73–109, hier S. 89–95. 25 Mirepoix an Amelot, Wien, 26.10.1740; AAE, CP Autriche 225, fol. 68r–74r, hier fol. 72r. 26 Mirepoix an Amelot, Wien, 2.11.1740; ebd., fol. 91r–95v, hier fol. 95r.

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ihren Emotionen, in diesem Fall also der Liebe zu ihrem Ehemann, freien Lauf lassen und so das Heft des Handelns aus der Hand geben würde, womit sie sich der natürlichen Geschlechterordnung unterwarf.27 In Bezug auf die Personenkonstellation entsprach keiner der beiden Höfe dem französischen Modell. Mit dem Hof Maria Theresias taten sich die Gesandten allerdings anfangs noch schwerer als mit dem Berliner Hof. Deshalb suchte der Botschafter nach Präzedenzfällen und fand einen solchen in der Position Georgs von Dänemark während der Regierung Königin Annas von England, vermutete aber zugleich, dass Franz Stephan, obwohl er keinen anderen Titel führe als Georg von Dänemark, doch wohl einen größeren Anteil an der Regierung haben werde.28

Mächtepolitische Verortung Eine zentrale Stellung kam den Einschätzungen über die künftige politische Ausrichtung der Mächte nach dem Regierungswechsel zu, die zumindest im Falle Preußens durchaus unsicher war. Zwar betonte der französische Gesandte in Berlin in seinem Porträt Friedrichs, dass der König alles Französische liebe,29 aber daraus folgte in seinen Augen nicht zwangsläufig eine pro-französische Politik. Da Frankreich aber sehr an Preußen als Bündnispartner interessiert war, wurde Valory nach eigener Aussage nicht müde, allen Gesprächspartnern in Berlin deutlich zu machen, dass Preußen stets auf die Freundschaft Frankreichs zählen könne.30 In Paris fürchtete man nämlich, dass Friedrich sich – unter dem Einfluss seiner Mutter – auf die Seite Großbritanniens schlagen werde.31 Aber auch eine Annäherung Preußens an Wien hielt man nicht für unmöglich.32 Diesbezüglich gab Valory indessen bereits

27 Ganz ähnlich war die Erwartung des päpstlichen Nuntius in Wien. Siehe dazu Schnettger, Codesta nuova corte, S. 98 f. 28 Mirepoix an Villeneuve, Wien, 25.10.1740; AAE, CP Autriche 225, fol. 371r–372r, hier fol. 371v. 29 Portrait du Roy de Prusse, 1.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 375r–v. 30 Valory an Amelot, Berlin, 4.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 370r–374v, hier fol. 373r–v. Valory an Amelot, Berlin, 10.6.1740; ebd., fol. 384r–387r, hier fol. 385r. Valory an Amelot, Berlin 14.6.1740; ebd., fol. 395r–401r, hier fol. 399v. Daran hielt Valory auch noch nach dem Beginn des Einmarsches in Schlesien fest: Valory an Amelot, Berlin, 13.12.1740; AAE, CP Prusse 112, fol. 248r–264r, hier fol. 256v–257r. 31 Die Königinwitwe versuche, ein Treffen zwischen Friedrich und dem englischen König zustandezubringen, überhaupt sei der Hof praktisch vollständig „englisch“: Valory an Amelot, Berlin, 7.6.1740, AAE, CP Prusse 110, fol. 380r–383v, hier fol. 382v–383r. Amelot an Valory, Versailles, 14.6.1740; ebd., fol. 392r–394v, hier fol. 393r. 32 Ebd., fol. 393v.

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Ende Juni Entwarnung, da keine Anzeichen einer bevorzugten Behandlung der Anhänger Österreichs am Hof zu beobachten seien, eher im Gegenteil.33 An den Überlegungen der französischen Diplomaten wird deutlich, dass sie Preußen nicht als gleichrangige Macht behandelten, sondern als zweitrangigen Partner, der durch seine Parteinahme den Ausschlag zugunsten einer der Großmächte geben konnte. Wenn der französische Außenminister Mutmaßungen darüber anstellte, dass der König von Schweden und der Landgraf von Hessen wohl ihre Vereinbarung mit England über die Entsendung von Truppen erneuern würden und dass Preußen hier möglicherweise einbezogen werde,34 dann zeigt dies, auf welcher Ebene Preußen verortet wurde. Freilich konnte der Gesandte auch berichten, dass man das in Berlin etwas anders sah. Denn in zeremonieller Hinsicht wollte Preußen dem kaiserlichen Gesandten in Berlin nur die Ehren zugestehen, die auch der preußische Gesandte in Wien erhalten hatte, d. h. man bestand auf einer Gleichrangigkeit des Kaisers mit dem preußischen König.35 Dagegen gab die künftige politische Orientierung Wiens weit weniger Rätsel auf. Der französische Gesandte rechnete fest mit einer Rückkehr zu einem dezidiert antifranzösischen Kurs der Regierung, und zwar vor allem deshalb, weil er von einer beherrschenden Rolle Franz Stephans in der Regierung ausging. Denn Großherzog Franz Stephan, der auf französischen Druck hin auf sein angestammtes Herzogtum Lothringen hatte verzichten müssen, war stramm anti-französisch eingestellt. Aus französischer Sicht war also entscheidend, welches Gewicht dem Wort Franz Stephans künftig zukommen würde. Der Tenor der diesbezüglichen Beobachtungen des Gesandten aus dem Herbst 1740 ging, wie gesagt, eindeutig in die Richtung, dass Franz Stephan eine zentrale Rolle in der Regierung spielen und Maria Theresia ihm weitgehend die Entscheidungen überlassen werde.36 Dieser Eindruck von der überragenden Rolle Franz Stephans hielt sich in der französischen Vertretung in Wien in den nächsten Monaten hartnäckig und steigerte sich geradezu zu einer Horrorvision von der Allmacht Franz Stephans, was gleichbedeutend war mit einer anti-französischen Ausrichtung der Wiener Politik. Auch der preußische Einmarsch in Schlesien wurde von den französischen Diplomaten vor dem Hintergrund des französisch-österreichischen Gegensatzes interpretiert, während der Gedanke einer preußisch-österreichischen Konkurrenz

33 Valory an Amelot, Berlin, 21.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 418r–429v, hier fol. 422r. 34 Amelot an Valory, Versailles, 14.6.1740; AAE, CP Prusse 110, fol. 392r–394v, hier fol. 393r. 35 Valory an Amelot, Berlin, 25.10.1740; AAE, CP Prusse 112, fol. 56r–59v, hier 59v. Die Geschehnisse datieren noch aus der Lebzeit Karls VI., d. h. der Wiener Hof war der Kaiserhof. 36 Mirepoix an Amelot, Wien, 26.10.1740; AAE, CP Autriche 225, fol. 68r–74r, hier fol. 72r. Mirepoix an Amelot, Wien, 2.11.1740; ebd., fol. 91r–95v, hier fol. 95r. Mirepoix an Amelot, Wien, 12.11.1740; ebd., fol. 116r–121r, hier fol. 118r.

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an keiner Stelle auftaucht.37 In dieses Schema passten Franz Stephan und die ihm zugeschriebene überragende Rolle ganz hervorragend, da er diesen Gegensatz Frankreich – Österreich in seiner Vita geradezu verkörperte. Preußen fungierte in dieser Interpretation erneut als Auxiliarmacht, die durch ihr Handeln Österreich einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem französischen Konkurrenten verschaffen konnte. Valory vermutete nämlich, dass Franz Stephan, um die Kaiserkrone zu erlangen, sich mit Friedrich geeinigt habe, dass dieser Schlesien überfalle und dass der Großherzog dann notgedrungen das Opfer bringe, einen Teil Schlesiens abzutreten, und dafür die Unterstützung des preußischen Königs und der Seemächte bei der Kaiserwahl erhalte.38 Der französische Sondergesandte in Wien, Beauveau, teilte die Verschwörungstheorien Valorys zwar nicht, aber auch er sah letztlich Frankreich als den Verlierer und Adressaten des Einmarschs in Schlesien. Er vermutete, dass Friedrich den Großherzog zu einem raschen Abkommen mit einer Teilabtretung Schlesiens zwingen werde, um dann eine Allianz gegen Frankreich zu schmieden.39 Letztlich fürchtete man in Frankreich einen preußischen Vormarsch nach Westen, um die alten Ansprüche auf Jülich-Berg geltend zu machen und sich damit im französischen Einflussbereich festzusetzen.40 Die machtpolitischen Überlegungen gingen also von dem traditionellen europäischen Antagonismus Österreich – Frankreich aus, und selbst für das Machtgefüge innerhalb des Reichs war Preußen noch ganz die „puissance très secondaire“, zu der sie Kaunitz später wieder reduziert sehen wollte.41 Das sollte sich erst im Laufe der Jahre ändern. In der Instruktion für den französischen Gesandten in Berlin von 1750 fungierte dann der preußisch-österreichische Gegensatz als die vorrangig

37 Dies gilt auch für die Erörterungen über die Lage im Reich, die in den Augen der Gesandten durchaus unübersichtlich war. Hannover (also Großbritannien), Bayern, aber auch Kurpfalz und Sachsen kamen in den französischen Überlegungen vor, ein klarer Konkurrent für Österreich lässt sich in den französischen Äußerungen aber nicht ausmachen. Instruktion für Tyrconell, 1.3.1750. In: Waddington, Recueil, S. 411–421, hier S. 411 u. 413; in Ausschnitten bei Reinhold Koser: Aus der Korrespondenz der französischen Gesandtschaft zu Berlin 1746–1756. Teil 2. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 7 (1894), S. 71–96, hier S. 71 f. 38 Valory an du Theil (?), Berlin, 6.12.1740; AAE, CP Prusse 111, fol. 218r–223r, hier fol. 220r. 39 Beauveau an Fleury, Berlin, 17.12.1740; AAE, CP Prusse 112, fol. 274r–279v, hier 276r. 40 Während die französischen Gesandten zunächst von einer Zusammenarbeit zwischen Berlin und Wien ausgingen, erst im Januar bekannte Valory seinen Irrtum (Valory an Amelot, Berlin, 17.1.1741, AAE, CP Prusse 115, fol. 117r–119r), versuchte Friedrich den Gesandten klarzumachen, dass er im Kampf gegen Österreich fest auf die französische Unterstützung gerechnet habe, da es ja in dessen Interesse sei, das hochmütige Haus Österreich zu demütigen; Valory an Amelot, Berlin, 18.2.1741; AAE, CP Prusse 115, fol. 239r–244v, hier fol. 243r. 41 Gutachten von Wenzel Anton von Kaunitz über die militärische und politische Lage Österreichs, 7.9.1778; HHStA Wien, Staatskanzlei Vorträge 191, gedr. in Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität. Bd. 2. Wiesbaden 1967, S. 1 f., hier S. 2.

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die Reichspolitik strukturierende Größe;42 erst jetzt waren in den Augen der französischen Diplomatie Österreich und Preußen die entscheidenden Konkurrenten um die Vorherrschaft im Reich, so dass dieses Konkurrenzverhältnis fortan die Grundlage der französischen Reichspolitik bildete. Während Österreich und Preußen aus der Sicht der französischen Diplomatie in machtpolitischer Hinsicht zunächst auf völlig unterschiedlichen Ebenen angesiedelt waren und erst im Verlauf der 1740er Jahre miteinander konkurrierten, womit dieses Verhältnis eine neue Dynamik gewann, wurde eine solche Konkurrenz in Bezug auf die Höfe nicht thematisiert.43

42 Instruktion für Tyrconell, 1.3.1750. In: Waddington, Recueil, S. 411–421, hier S. 411 u. 413; in Ausschnitten bei Koser, Korrespondenz, S. 71 f. 43 Über die Wahrnehmung der Höfe in Berlin und Wien durch die französischen Gesandten nach 1741 wären freilich noch weitere Untersuchungen nötig.

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„Audiatur et altera pars“ Perzeptions- und Rezeptionsprozesse zwischen dem österreichischen und dem preußischen Militärsystem Die anderen in dieser Sektion vorgestellten Fallbeispiele präsentieren bereits ein facettenreiches Bild des sich zwischen Preußen und Österreich im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelnden und durch Rivalität und Konkurrenz geprägten Verhältnisses.1 Es liegt nahe, auch und gerade das militärische Potential beider Mächte und dessen gegenseitige Wahrnehmung in diesem Zusammenhang zu thematisieren. Allerdings bestand und besteht die Gefahr, auf diesem Terrain ein vorschnelles Urteil zu fällen. Demnach hätte der – selbst um den Preis der ressourcenmäßigen Überdehnung – hochgerüstete hohenzollernsche Machtstaat die zwar mit einer beeindruckenden und traditionsreichen Streitmacht ausgestattete Habsburgermonarchie herausgefordert, die aber infolge vieler struktureller Probleme letztlich gegenüber dem „Newcomer“ im Norden den Kürzeren ziehen musste. Wir wissen heute, dass diese polarisierenden Gegenüberstellungen zu einem großen Teil auf spätere historiographische Interpretationsmuster zurückgehen. Vor allem die borussischen Historiker hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert die Deutungshoheit in diesen Auseinandersetzungen erworben. Dem angeblich „deutschen Beruf “ der Hohenzollern wurde die „undeutsch-übernationale“ Habsburgerdynastie gegenübergestellt.2 Mit der österreichischen Habsburgermonarchie assoziierte man sowohl in der älteren Forschung als auch in der populären Wahrnehmung zwar ebenfalls ein „absolutistisch“ regiertes Staatswesen, das aber im Gegensatz zum preußischen Pendant mit anderen Instrumenten und Herrschaftstechniken regiert worden sei: einer vorausschauenden Heiratspolitik, einem klug moderierten Konsens mit den einflussreichen Eliten in den Teilreichen des Gesamtstaates sowie einem patriarchalischen – und mit Blick auf Maria Theresia müsste wohl ergänzt werden: matriarchalischen – und unter ständiger Beachtung eines „gewissen Maßes von Gemütlichkeit“ funktionierenden Regierungsstil.3 Sie arbeiteten sich am Aufstieg Preußens, das zum Vor- und 1 Der Vortragsstil des Textes ist weitgehend beibehalten und durch bibliographische Verweise ergänzt worden. 2 Vgl. hierzu vor allem die weit über die historische Zunft hinausreichenden einflussreichen Arbeiten von Johann Gustav Droysen und Heinrich von Treitschke. 3 Otto Hintze: Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert. Eine vergleichende Betrachtung. In: Historische Zeitschrift 86 (1901), S. 401–444, hier S. 443.

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Gegenbild gleichermaßen avancierte, sichtlich ab. Die Meinungsführerschaft, die die borussische Geschichtsschreibung im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte, hat dieses von strukturellen Gegensätzlichkeiten und – vor allem bezogen auf das Verhältnis zwischen Maria Theresia und Friedrich dem Großen – persönlichen Animositäten bestimmte Bild noch schärfer konturiert.4 Gleichwohl lassen sich – ungeachtet dieses historiographischen Konstrukts – schon bei den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts Bemühungen zur Etablierung von Fremd- und Feindbildern beobachten. So soll der junge Friedrich II. bereits im ersten Kriegsjahr des Österreichischen Erbfolgekrieges „den preußischen Truppen Haßgefühle gegen die Österreicher einzuimpfen“ versucht haben und ein österreichischer Reisender mochte „einen Anflug von Feindseligkeit bei der ansonsten höflichen Behandlung entdecken, die ihm als Ausländer sonst zuteilwurde“.5 In der Tat hatte ja die Kriegspropaganda während der drei Schlesischen Kriege eine neue Intensität erreicht und gegenseitige Stereotypisierungen beflügelt.6 Immer wieder kam es zu Vorwürfen der Rechtsverletzung bei gleichzeitiger Betonung des von „gerechten Motiven“ geleiteten eigenen Handelns und der vermeintlichen „Härtigkeit“ des Gegners, die nicht ohne Wirkung blieben.7 Schließlich ist die „Wiederholung […] der grundlegende Antrieb einer jeden Stereotypenvita“.8 Die inflationär anschwellende Publikation von Flugschriften während des Siebenjährigen Krieges, so zum Beispiel im Umfeld der propagandistischen Ausschlachtung der österreichischen Besetzung Berlins in den Jahren 1757 und 1760, legt darüber ein beredtes Zeugnis ab.9 Hat man einen längeren zeitlichen Rahmen im Blick, mussten diese nach 1740 beobachteten gegenseitigen preußisch-österreichischen Wahrnehmungsmuster in der Tat als überraschend erscheinen, denn bis dahin gestaltete sich aus Wiener Sicht

4 Vgl. hierzu, auch mit der einschlägigen Literatur: Michael Hochedlinger: Der König und die Habsburgermonarchie: Oder: Wie preußisch war Österreich im 18. Jahrhundert. In: Friedrich300 – Colloquien, Friedrich der Große – eine perspektivische Bestandsaufnahme (2007), URL: https://www.perspectivia.net/publikationen/friedrich300-colloquien/friedrich-bestandsaufnahme/hochedlinger_habsburgermonarchie (10.01.2020). 5 Christopher Duffy: Friedrich der Große. Ein Soldatenleben. Augsburg 1985, S. 77. 6 Vgl. allgemein dazu: Hans H. Hahn (Hg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1994. 7 Silvia Mazura: Die preußische und österreichische Kriegspropaganda im Ersten und Zweiten Schlesischen Krieg. Berlin 1996, S. 62 u. 69. 8 Mirna Zeman: Volkscharaktere und Nationalitätenschemata. Stereotype und Automatismen. In: Tobias Conradi u. a. (Hg.): Schemata und Praktiken. München u. a. 2012, S. 97–117, hier S. 97. 9 So zum Beispiel die 1761 in Preußen in Umlauf gebrachte Schrift „Nachricht von der unerhörten Art, mit welcher die Rußischen, Oesterreichischen und Sächsischen Truppen die Mark Brandenburg verwüstet“. Ein Teil dieser Quellen befindet sich in den Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden und der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden.

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das Verhältnis zur Hohenzollernmonarchie insgesamt als ausgewogen, auch wenn es natürlich schon zuvor immer wieder einmal zu Verstimmungen mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. gekommen war.10 Trotz der 1701 – bekanntlich vor allem mit kaiserlicher Unterstützung – erfolgten Rangerhöhung wurde das junge Königreich aber gewiss noch lange nicht als auf Augenhöhe stehend angesehen.11 Diese Perspektive bestimmte auch die Wahrnehmung des militärischen Potentials der Hohenzollernmonarchie seitens der europäischen Höfe und Kabinette in jener Zeit. Zwar erzielte die brandenburgisch-preußische Armee in den Kriegen des ausgehenden 17. Jahrhunderts durchaus einige respektable Erfolge, allerdings hatte die zeitgenössische Wahrnehmung oft nicht dem Hohelied entsprochen, das die borussische Geschichtsschreibung auf die Ruhmestaten dieses Heeres gesungen hatte. Man darf nicht vergessen, dass der Feldherrnruhm anderer deutscher Reichsfürsten denjenigen der brandenburgischen Herrscher und ihrer Generäle häufig überstrahlte und die brandenburgisch-preußische Armee oft nur in Gestalt von Auxiliartruppen eingesetzt worden war. So wie zwischen anderen Heeren der europäischen Staaten und erst recht zwischen denjenigen der bedeutenden Reichsterritorien üblich, bestimmten die Übernahme von Erfahrungen auf dem Gebiet der Strategie, Taktik und Heeresorganisation sowie der Dienst von Offizieren in anderen Heeren auch die eingeübte Praxis zwischen den beiden hier interessierenden Armeen. Dabei spielten persönliche Bekanntschaften unter den Offizieren eine wichtige Rolle, in besonderer Weise natürlich bei den Militärmonarchen selbst. Erinnert sei etwa an die große Verehrung, die Friedrich Wilhelm I. gegenüber dem Prinzen Eugen von Savoyen empfunden hatte, vor allem im Zusammenhang mit seiner Teilnahme an einigen Feldzügen des Spanischen Erbfolgekrieges, was letztlich auch das Urteil des preußischen Königs über die österreichisch-habsburgische Armee beeinflusste.12 Gleichwohl gestaltete sich dieser Austausch mitunter als ein recht einseitiges Geschäft, denn es war die jeweils als qualitativ höherwertig angesehene Streitmacht, die eine solche temporär begrenzte Indienstnahme von Offizieren attraktiv erscheinen ließ.13 Und bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts hinein erwies

10 Vgl. repräsentativ für diese ältere Interpretation: Wanda Kupczyk: Das Verhältnis Österreichs zu Preußen zwischen erstem und zweitem Wiener Frieden. Diss. Wien 1950. 11 Vgl. zur kursächsischen Wahrnehmung Frank Göse: Nachbarn, Partner und Rivalen. Die kursächsische Sicht auf Preußen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. In: Jürgen Luh / Vinzenz Czech / Bert Becker (Red.): Preußen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, S. 45–78, hier S. 48–57. 12 Vgl. Carl Hinrichs: Friedrich Wilhelm I. König in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg. Darmstadt 1968 [ND Hamburg 1941], S. 389–412. 13 Vgl. allgemein dazu: Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. Köln u. a. 2008, S. 211–213.

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sich das habsburgische Heer als besonders attraktiv für interessierte Adlige, die entweder dort in reguläre Dienste traten oder denen man eine zeitlich begrenzte Hospitation anbot. Vor dem Hintergrund der nach dem Großen Nordischen Krieg weitgehend ausbleibenden aktiven Teilnahme der preußischen Armee an Feldzügen waren deshalb solche Hospitationen preußischer Offiziere in der österreichischen Armee nicht unüblich.14 Derartige Indienstnahmen von Militärs aus anderen Ländern waren indes nichts Außergewöhnliches, zudem wurde ein solcher Schritt für die adligen Offiziere durch ihre Zugehörigkeit zur europäischen Adelsgesellschaft mit ihren gemeinsamen Wertvorstellungen begünstigt. Überdies galt eine solche Praxis als ein geeignetes Instrument der Klientelbildung, was innerhalb der kaiserlichen Armee auf einer langen Tradition beruhte. Hingegen benötigten die preußischen Militärmonarchen hierfür einen etwas längeren zeitlichen Vorlauf. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert bemühten sich diese mit wachsendem Erfolg, besonders innerhalb des protestantischen Hochadels im Reich eine Klientel zu formieren. Der entscheidende Durchbruch gelang hier während der Regierungszeit Friedrichs des Großen, wenn man die wachsende Anzahl von Reichsfürsten und deren Söhnen innerhalb der Generalität der friderizianischen Armee dafür als Gradmesser nimmt.15 Dagegen hielt sich die Attraktivität eines Dienstes in der preußischen Armee im katholischen und kaisernahen Teil des Reiches und damit auch für Offiziere aus den österreichischen Erblanden in Grenzen. Dies sollte sich erst nach den überraschenden Erfolgen der preußischen Armee während des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges ändern. Die Motive dafür waren recht unterschiedlich gelagert. So dürfte der Eintritt in die preußische Armee insbesondere für einige der aus Schlesien stammenden Offiziere seine Erklärung in der Annexion dieser bislang habsburgischen Provinz durch Preußen finden. So war zum Beispiel der aus Breslau stammende Maximilian Freiherr von Rampusch im Mai 1741 aus kaiserlichen in preußische Dienste gewechselt. Ebenso trat Friedrich Johann Karl Fürst von Schönaich-Carolath-Beuthen im April 1741 von der österreichischen in die preußische Armee über.16 Ein gewisses Kalkül ist bei dieser Personalpolitik kaum

14 So zum Beispiel als Volontäre der österreichischen Armee im Österreichisch-Genuesischen Feldzug von 1732 zur Bekämpfung des Aufstandes auf Korsika. Vgl.: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA, Rep. 96, Nr. 512 A u. B. Und der aus Pommern stammende Generalmajor Konrad Emanuel Graf Brunyan (1705–1787) hatte zunächst als Volontär in der habsburgischen Armee gedient, bevor er dann während der Kriege gegen die Türken ganz in österreichische Dienste trat. J[aromir] Hirtenfeld: Der Militär-Maria-Theresien-Orden und seine Mitglieder. Bd. 1 (1757–1802). Wien 1857, S. 126 f. 15 Vgl. Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786. Paderborn u. a. 2013, S. 165–167 u. 359 f. 16 Kurt von Priesdorff: Soldatisches Führertum. Teil 1, Hamburg 1937, S. 336 f.

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zu übersehen, wenn man zum Beispiel die Reaktion des preußischen Königs auf den Wunsch Johann Friedrich von Bayars bedenkt, in seine Dienste wechseln zu dürfen. Friedrich II., der sich 1742 nach dem Separatfrieden von Berlin kurzzeitig aus dem Kriegsgeschehen zurückgezogen hatte, bat ihn vielmehr, zunächst als Volontär bei der österreichischen Armee zu verbleiben, bevor er dann im Herbst 1743 in der preußischen Armee eine Charge als Stabsrittmeister erhielt.17 Vor allem aber haben sich im Zuge der Kampfhandlungen während des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges die Rezeptionsprozesse intensiviert. Das sprichwörtliche „audiatur et altera pars“, also die Berücksichtigung und partielle Einbindung der Strategie, Taktik und Heeresorganisation des Kriegsgegners in die Gestaltung des eigenen Militärsystems, offenbarte sich vor allem als eine Reaktion auf das wechselseitige Gewahrwerden der eigenen Schwächen. So verschloss man trotz einiger beeindruckender Erfolge auf preußischer Seite nicht die Augen vor den zum Vorschein kommenden Professionalisierungsdefiziten. Der preußische König hatte sich zum Beispiel sichtlich beeindruckt gezeigt von der österreichischen Taktik und Strategie und versuchte diese Beobachtungen bei der Modifizierung der Ausbildung seiner Truppen und der Planungen künftiger Kampagnen zu berücksichtigen: „Hat man nicht die Absicht sich zu schlagen, so gibt man sich stärcker aus als man würcklich ist […]. Die Oesterreicher seynd in diesen Stücke rechte Meisters, und bey ihnen ist die Schule, wo man dergleichen lernen muss.“18 Insbesondere hatte er Lehren aus den Feldzügen von 1741/42 für seine Kavallerie gezogen, denn die von ihm geführte erste Schlacht bei Mollwitz hatte bekanntlich eklatante Mängel gerade bei dieser Waffengattung aufgezeigt – Erfahrungen, die dann zum Beispiel in das „Husaren-Reglement“ vom 1. Dezember 1743 eingeflossen sind.19 Die preußische Seite sah des Weiteren beim Kriegsgegner einen erheblichen Vorsprung beim Einsatz von „leichten Truppen“, die für die Feindaufklärung und die Versorgung der eigenen Streitkräfte im Österreichischen Erbfolgekrieg große Erfolge aufzuweisen hatten und besonders im sogenannten „kleinen Krieg“ zum Einsatz kamen. Diese Einheiten genossen die sichtliche Hochachtung Friedrichs des Großen: Es falle nach seinem Urteil schwer, Erkundigungen über die österreichischen Aufmarschpläne einzuziehen – nicht wegen fehlender Möglichkeiten, bestechliche Leute zu finden, „sondern vielmehr deshalb, weil ihre leichte Trouppen, welche die Armee wie eine Wolcke umgeben, niemanden passiren lassen, ohne ihn zu visitieren“.20 Preußen hatte dem aber zunächst nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.

17 Ebd., Teil 3, S. 41. 18 Die General-Principia vom Kriege. In: Otto Bardong (Hg.): Friedrich der Große. Darmstadt 1982, S. 264–316, hier S. 289. 19 Vgl.: Duffy, Friedrich, S. 79. 20 General-Principia, S. 292. Es falle deshalb auch schwer, „die Oesterreicher in ihren Lagern zu surpreniren“. Ebd., S. 302.

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Erst in den folgenden beiden Jahrzehnten konnten die preußischen Truppen hier aufholen.21 Zudem erwies sich die Informationsbeschaffung im Verlauf der Zeit als ein zunehmend schwierigeres Unterfangen. Kenntnisse über Struktur, Bewaffnung und Ausbildungsgrundsätze der Armeen wurden immer mehr mit der Aura des Arkan-Wissens versehen. So waren etwa die von ehemaligen und im aktiven Dienst stehenden Offizieren und Ingenieuroffizieren betriebenen Analysen von Feldzügen nicht zum Druck, sondern nur für den militärinternen Gebrauch bestimmt.22 Im Gegenzug versuchte auch die österreichische Armeeführung die gewonnenen Erfahrungen zu verarbeiten und registrierte genau die Vorzüge der preußischen Kriegführung. Frühere von Gleichgültigkeit oder gar Abschätzigkeit geprägte Beurteilungen wichen angesichts der überraschenden Erfolge der preußischen Armee anerkennenden Urteilen, verbunden mit der Kritik an den offensichtlich zutage getretenen eigenen Unzulänglichkeiten. So kritisierte etwa der Generalfeldmarschall Wilhelm Reinhard Reichsgraf von Neipperg nach der Schlacht von Mollwitz die Tatsache, dass im Gegensatz zu den Preußen, „bei denen sowohl Officiers, als Gemeine sich in allem Vorfall auf der Stelle zu helfen wissen und von Allem […] vollkommen unterrichtet“ seien, bei seiner Infanterie hingegen „das gerade Widerspiel fürwaltet und weder die meisten Officiers, noch Andere Dasjenige, so ihnen in ein und anderem Fall obliegt, verstehen“.23 Ursachen für diese Mängel wurden in der Abkehr von jenem, lange beherzigten Prinzip gesehen, vom Cornet bis hinauf in höhere Chargen zu dienen; „jetzt aber wolle Jeder gleich Oberst […] sein und meine, ihm geschehe das grösste Unrecht, wenn er es nicht sofort werde“. Ursachen für diese Fehlentwicklung glaubte man in dem überhandnehmenden Einschub in die Offiziers-Chargen zu sehen, was u. a. mit der Käuflichkeit der Offiziersstellen erklärt wurde. In den Jahren zwischen dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges und dem Siebenjährigen Krieg wurden im Zuge der Theresianischen Militärreform nicht nur wichtige Veränderungen in der Heeresorganisation in Angriff genommen, auch im strategisch-taktischen Bereich rezipierte man die in den Feldzügen gegen Preußen gewonnenen Erfahrungen aufmerksam.24 Langfristig führte dies dazu, 21 Vgl.: Martin Rink: Vom „Partheygänger“ zum Partisanen. Die Konzeption des kleinen Krieges in Preußen 1740–1813. Frankfurt am Main 1999. 22 Vgl.: Ewa Anklam: Wissen nach Augenmaß. Militärische Beobachtung und Berichterstattung im Siebenjährigen Krieg. Berlin 2007, S. 235. 23 Zit. n.: Carl von Duncker u. a. (Hg.): Oesterreichischer Erbfolgekrieg 1740–1748. Nach den Feld-Acten und anderen authentischen Quellen bearbeitet. Bd. 1, Theil 1. Wien 1896, S. 414. Und vier Monate später beklagte er bei einem Teil seiner Offiziere „eine grosse Unwissenheit und Bequemlichkeit“. Ebd., S. 415, auch zum Folgenden. 24 So zum Beispiel in dem von Feldmarschall Leopold Joseph Graf von Daun angeregten Reglement [„Ordre de Bataille“ und „General-Schlachtordnung oder Verhaltungen bei einem vorgehenden Treffen“ 1757]; vor allem zollte man darin dem mittlerweile erreichten Kampfwert der preußischen

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dass sich beide Armeen noch intensiver „ausbildungs- und ausrüstungsmäßig einander angenähert“ hatten.25 In der Rückschau resümierte ein allerdings nicht ganz vorurteilsfreier Zeitgenosse recht zutreffend mittels eines historischen Vergleichs: „Was die neun glücklichen Jahre Karls XII. den Russen waren, sind im gewissen Betracht Friedrichs Kriege für uns gewesen: eine Schule, in der wir durch unsere Niederlagen siegen lernten“. Der selbst in der habsburgischen Armee dienende Autor musste sich allerdings Vorhaltungen gefallen lassen, er würde „die österreichischen Kriegsheere […] herabwürdigen und den Ruhm auslöschen wollen, den die österreichischen Waffen von jeher sich in ganz Europa erworben“.26 Abgesehen von diesen überspitzten Unterstellungen blieb dieser vielgestaltige Rezeptionsprozess in der Tat nicht unwidersprochen. So wurde in einer 1758 erschienenen Schrift „Zufällige Gedanken über Pedanterie im Kriege“ deutliche Kritik an der zu sehr um sich greifenden Nachahmungssucht geübt: Seitdem das preußische Exercitium Mode geworden, will es ein Jeder, ohne zu wissen warum, nachahmen. Wäre pandurisch Mode, machte man’s auch so. Man schlägt die Leute krumm und lahm, um sie zu Modesoldaten zu machen; während in Preußen der neue Kerl zu einem alten Soldaten ins Quartier gelegt wird, der ihm das Exerciren gleichsam spielend beibringt. Manch Oberst (bei uns) würde den Leuten die Beine brechen, wenn man ihm weismachte, die Preußen hinkten.27

Die Konturen des zu Beginn vorgestellten Schwarz-Weiß-Bildes über das preußischösterreichische Verhältnis bezogen ihre Schärfe aber nicht nur aus den divergierenden Vorstellungen und Praktiken der operativen Kriegführung. Einen ähnlich wichtigen Faktor für die mitunter so gegensätzliche Wahrnehmung bildeten die unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen für die Stellung des Militärs in Staat und Gesellschaft in beiden Monarchien. Militärische Professionalität und Sozialprestige der Offiziere standen schließlich in einem untrennbaren Zusammenhang.28

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Kavallerie hohe Anerkennung. Vgl. Max Jähns: Geschichte der Kriegswissenschaften. Bd. 3 (Das 18. Jahrhundert seit dem Auftreten Friedrichs des Großen 1740–1800). München 1891, S. 2038. Christoph Allmayer-Beck: Von Hubertusburg nach Jena. Die preußische Armee am Ende des 18. Jahrhunderts von außen gesehen. In: Peter Baumgart u. a. (Hg.): Die preußische Armee zwischen Ancien Régime und Reichsgründung. Paderborn 2008, S. 121–132, hier S. 122. [Jacob de Cogniazo]: Geständnisse eines oestreichischen Veterans in politischer und militärischer Hinsicht auf die interessantesten Verhältnisse zwischen Oestreich und Preußen […]. Teil 2. Bad Honnef 1982 [ND Breslau 1789], S. 2. Zit. n.: Jähns, Geschichte, 3. Abtlg., S. 2048. Bernhard R. Kroener: „Des Königs Rock“. Das Offizierkorps in Frankreich, Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert – Werkzeug sozialer Militarisierung oder Symbol gesellschaftlicher Integration?

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Damit gerät der Adel beider Monarchien in den Blick.29 In Brandenburg-Preußen erfolgte in einem längeren Prozess die Einbindung eines größer werdenden Teils – aber beileibe nicht des gesamten Adels in die Armee, wie mitunter glauben gemacht wurde. Dabei handelte es sich aber in den seltensten Fällen um einen genuinen „Militäradel“. Typisch erschien vielmehr ein Changieren zwischen Rittergut und Garnison. Zwar blieben den Zeitgenossen solche Einsichten manchmal verwehrt, wohl aber erschien die im Vergleich zur Habsburgermonarchie größere Homogenität im preußischen Offizierskorps auffällig. Eine solche Wahrnehmung spiegelte sich zum Beispiel in den Zeilen eines Briefes wider, den ein österreichischer Offizier seinem Korrespondenzpartner im ausgehenden 18. Jahrhundert gesandt hatte: Ich muß Ihnen diesen Zug deutlicher malen. Der preußische Offizier ist durchgängig von Adel. Staunen Sie nicht darüber. Wir denken uns freylich, wenn in unserm Vaterlande vom Adel die Rede ist, nur hochfürstliche Durchlauchten, reichsgräfliche Exzellenzen oder wenigstens hochreichsfreyherrliche Gnaden. So hoch stimmt man den Ton hier zu Lande nicht! Er ist der Herr von … und damit ist es genug.30

Dass solche Wahrnehmungen letztlich immer vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungsbereiches geprägt sind, stellt gewiss eine Binsenwahrheit dar, bildet aber auch in diesem Fall einen Erklärungsansatz.31 Denn Adel und Militär wiesen in der österreichischen Habsburgermonarchie bei Weitem nicht jene Deckungsgleichheit wie in Preußen auf. Für den Niederadel der Habsburgermonarchie standen zudem andere Karriereoptionen zur Verfügung, wie etwa einträgliche Pfründe in der Germania Sacra oder eine vielversprechende Karriere am Wiener Hof bzw. in der Zentralverwaltung. Angesichts des geringeren Sozialprestiges diente im österreichischen Offizierskorps auch ein höherer Anteil an Bürgerlichen, wofür die zeitgenössische Kritik, gerade auch über den Vergleich mit den preußischen Verhältnissen, sensibilisiert schien: In: Ders. u. a. (Hg.): Die preußische Armee. Zwischen Ancien Régime und Reichsgründung. Paderborn u. a. 2008, S. 72–95, hier S. 77. 29 Vgl. hierzu aus komparativer Sicht ausführlich Frank Göse: Zum Verhältnis von landadliger Sozialisation zu adliger Militärkarriere. Das Beispiel Preußen und Österreich im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2001), S. 118–153. 30 [Johann Friedel]: Briefe über die Galanterien von Berlin auf einer Reise gesammelt von einem österreichischen Offizier 1782, hg. v. Sonja Schnitzler / Roland Beier. Berlin 1987, S. 42. 31 „Erfahrung ist immer irgendwie vorgeprägt. Wer das nicht bedenkt, kann unversehens einem neu verfestigten Wahrnehmungsmuster aufsitzen.“ Hans Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie. In: Wolfgang Griep / Hans-Wolf Jäger (Hg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 14–31, hier S. 22.

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Nun, Freund, als Edelleuten steht ihnen der Zutritt in jede der ansehnlichsten Gesellschaften offen. Wie der Soldat hier überhaupt den auszeichnendesten Vorzug vor allen übrigen Ständen hat und haben muß, so macht man sich auch überall ein Vergnügen daraus, diese militärischen Edelleute in Gesellschaft zu ziehen.32

Jedoch – und darauf hat die jüngere Forschung verstärkt abgehoben – kam es auch auf diesem Terrain zu bemerkenswerten Annäherungen.33 Dieser Prozess gestaltete sich indes im Vergleich zu den eben angesprochenen innermilitärischen Materien wie der Strategie, Taktik und den Ausbildungsgrundsätzen eher als „Einbahnstraße“. Angesichts der existenziell bedrohlichen Lage, in die die Habsburgermonarchie nicht nur in Folge des Verlustes Schlesiens geraten war, versuchten die hinter dem Reformprojekt der jungen Herrscherin stehenden Kräfte unkonventionelle Veränderungen in Angriff zu nehmen, was eben auch die Übernahme von institutionellen Vorbildern des Militärsystems des bisherigen Kriegsgegners einschloss. Jedoch sollte sich eine intensivere Einbindung des heimischen Adels in das Offizierskorps, was gewiss als besonders markantes Symptom der Angleichung an das preußische Vorbild wahrgenommen worden wäre, als sehr zählebig gestalten. Dabei ging das 1751 eingeführte Uniformtragegebot als bewährtes Stilmittel und „Integrationssymbol“ von Militärmonarchen noch halbwegs geräuschlos über die Bühne.34 Auf größere Hindernisse stieß indes das Unterfangen, den autochthonen Adel verstärkt für das Heer zu gewinnen. Ein gangbarer Ausweg schien sich letztlich nur durch die Etablierung eines genuinen „Militäradels“ zu eröffnen. In der Tat belegt der adelsgeschichtliche Befund, dass die übergroße Zahl der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Nobilitierten in den österreichischen Erblanden Militärs gewesen waren.35 Allerdings ermangelte der neu geschaffene Militäradel genau dessen, „was ein wesentliches Kriterium des alten Adels darstellte, nämlich ein mit dem Adelsprädikat verbundener Besitzstand“.36 Doch auch in Brandenburg-Preußen konnte man im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung beobachten, wonach der Anteil derjenigen Adligen im Militär zunahm, die nur noch über eine 32 [Friedel], Briefe über die Galanterien, S. 42. 33 Vgl.: Hochedlinger: Der König; sowie jüngst Ders.: Adlige Abstinenz und bürgerlicher Aufstiegswille. Zum Sozial- und Herkunftsprofil von Generalität und Offizierskorps der kaiserlichen und k. k. Armee im 17. und 18. Jahrhundert. In: Gustav Pfeifer / Kurt Andermann (Hg.): Soziale Mobilität in der Vormoderne. Historische Perspektiven auf ein zeitloses Thema. Innsbruck 2020, S. 271–349. 34 Alfred Ritter von Arneth: Geschichte Maria Theresias. Bd. 4. Wien 1870, S. 92. 35 Hannes Stekl: Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750–1950. Göttingen 1990, S. 144–165, hier S. 146. 36 Johann C. Allmayer-Beck: Das Heer unter dem Doppeladler. Habsburgs Armeen 1718–1848. Wien 1981, S. 144. Nichtsdestotrotz wurden die Adelsverleihungen durch die bürgerlichen Offiziere dankbar angenommen.

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recht fragile Verbindung zum Grundbesitz verfügten. Diese schon seit Langem unter dem Paradigma einer „Adelskrise um 1800“ betrachteten Entwicklungen37 haben jüngst eine eindringliche und quellennahe Konkretisierung erfahren.38 Völlig voraussetzungslos erschien dieser Trend freilich nicht, denn schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigte sich eine nachweisbare Kausalität zwischen der Gütergröße und der Bereitschaft von Adligen, in der Armee zu dienen.39 Dieser für die preußische Armee so typische „Regionalismus des Dienens“40 , wie die für die einzelnen Landschaften unterschiedlich ausfallende Resistenz gegenüber den monarchischen Bemühungen um eine Einbindung des Adels in die Armee umschrieben wird, wurde im Übrigen auch von außen so wahrgenommen.41 Um 1800 hingegen hatte dieser zuvor nur eine Minderheit tangierende Transformationsprozess ganz andere Dimensionen angenommen, als ein Offizier „vielfach kein Grundeigentum“ mehr besaß und „auf sein Einkommen aus dem Militärdienst angewiesen“ war.42 Summarisch betrachtet glichen sich also die Verhältnisse in der Hohenzollern- und Habsburgermonarchie zunehmend an. Während man in der österreichischen Armee auf mehr soziale Aufwertung und eine Erhöhung des Anteils des – wenn auch vornehmlich besitzlosen – Adels im Offizierskorps setzte, nahm in der preußischen Armee die Zahl besitzloser Adliger zu, so dass sich hier sukzessive jener Typ eines „Militäradels“ entwickelte, der zuvor als sichtbarer Unterschied zur Habsburgermonarchie wahrgenommen worden war. Ebenso hatte man innerhalb der Heeresorganisation im Umfeld der seit den 1740er Jahren in den Erblanden in Angriff genommenen Militärreformen Handlungsbedarf gesehen. In Anlehnung an die preußische Kantonverfassung wurde nunmehr der Weg zum Konskriptions- und Werbebezirkssystem beschritten, in besonders intensiver Weise vorangetrieben durch Kaiser Joseph II. Diese Entwicklung war verbunden mit einer Erweiterung des Spielraumes der Landesherrschaft und ihrer Verwaltung gegenüber der bislang ständisch geprägten Landesverwaltung, was zum Beispiel eine effizientere „Zählung und Klassifizierung der Bevölkerung […] und ein strenges Kontroll- und Meldewesen mit harten Mobilitätsbeschränkungen“ einschloss.43 Zugleich erinnerten die damit verbundenen Möglichkeiten einer effi37 Vgl. hierzu schon Fritz Martiny: Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales Problem. Erläutert am Beispiel des kurmärkischen Adels. Stuttgart / Berlin 1938. 38 Chelion Begass: Armer Adel in Preußen 1770–1830. Berlin 2020, v. a. S. 119–128. 39 Vgl.: Frank Göse: Rittergut – Garnison – Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648–1763. Berlin 2005, S. 222–232. 40 Wolfgang Neugebauer: Der Adel in Preußen im 18. Jahrhundert. In: Ronald G. Asch (Hg.): Der Europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchie bis zur Revolution (1600–1789). Köln u. a. 2001, S. 49–76, hier S. 69. 41 Vgl.: Allmayer-Beck, Hubertusburg, S. 125 f. 42 Begass, Adel, S. 128. 43 Hochedlinger, Adlige Abstinenz, S. 339.

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zienteren Ressourcenerfassung, selbst unter Einbeziehung der Landgeistlichkeit, an Gepflogenheiten in den brandenburgisch-preußischen Landen.44 Unwidersprochen blieben diese von manchen Zeitgenossen als gravierende Einschnitte wahrgenommenen Bemühungen gleichwohl nicht, und die Reformgegner bezogen ihre argumentative Munition aus den ja immer noch tief internalisierten Ressentiments und Vorbehalten gegenüber dem alten Kriegsgegner. Im Gegensatz zur Übernahme bestimmter strategischer oder taktischer Vorstellungen vom preußischen Vorbild auf das habsburgische Heer bildete sich auf diesem Terrain eine wesentlich vernehmlichere Opposition, strahlten doch diese Reformen weit über die Armee aus. Obendrein bildeten diese beabsichtigten Veränderungen einen Teil der weitgespannten und auf große Widerstände stoßenden josephinischen Agrarund Sozialreformen. Das ursprünglich favorisierte Modell einer Entflechtung von Militär und Gesellschaft – so sollten zum Beispiel im Gegensatz zu Preußen vermehrt Kasernen errichtet werden – bewährte sich nicht. Vielmehr musste man sich mit ähnlichen Problemlagen wie in Preußen vor Einführung des Kantonsystems auseinandersetzen.45 Auch wenn sich selbst in den Augen des Staatskanzlers Graf Kaunitz das preußische Militärsystem als „die größte Sclaverei und Gewaltthat“ darstellte46 und Joseph II. und seinen Anhängern vorgeworfen wurde, sie „hätten gern [schon] das Kind im Mutterleib bewaffnet“47 , konnte sich dennoch langfristig die „Militärpartei“ mit ihren pragmatischen Argumenten durchsetzen: 1770 begann man mit der Praxis der sogenannten „Seelenbeschreibung“, was eine für damalige Verhältnisse umfassende statistische Erfassung der Bevölkerung einschloss. Und ähnlich den preußischen Kantonen wurden ab 1771 „Werbbezirke“ eingerichtet, die den Regimentern zugeteilt wurden.

Fazit Der preußisch-österreichische Dualismus gilt nach herkömmlicher Auffassung als zäsurbildend und hatte die deutsche Geschichte seit 1740 markant geprägt. Eingebunden in den dynastischen Wettbewerb, entfaltete er zunehmend eine immer

44 Vgl.: Michael Hochedlinger: Rekrutierung – Militarisierung – Modernisierung. Militär und ländliche Gesellschaft in der Habsburgermonarchie im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus. In: Stefan Kroll / Kersten Krüger (Hg.): Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit. Münster u. a. 2000, S. 327–376, hier S. 350. 45 Vgl.: Ebd., S. 346. 46 Zit. n.: Hans Bleckwenn: Graf Kaunitz. Votum über das Militare 1762. In: Zeitgenössische Studien über die altpreußische Armee. Osnabrück 1974, S. 3–45, hier S. 34. 47 Zit. n.: Georg Heinrich von Berenhorst: Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverläßigkeit. Bd. 1. Leipzig 1797, S. 106.

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stärker auf viele Bereiche von Staat und Gesellschaft ausstrahlende Dynamik. Die Beschreibung der Beziehungen zwischen den beiden Monarchien als „Konkurrenz“ bietet aber die Chance einer perspektivischen Erweiterung bei der Analyse und vermag das allzu statisch bleibende und vor allem die Gegensätze betonende Verhältnis erheblich zu modifizieren. Denn die hier präsentierten Belege zeigen, dass die Unterschiede beider Militärsysteme infolge der gegenseitigen Rezeption nicht so gravierend waren wie in der älteren Forschung mitunter angenommen. Der im Verlauf des 18. Jahrhunderts intensiver werdende Austausch belegt, dass sich Facetten einer scharf ausgetragenen Rivalität einerseits und partieller Annäherung andererseits nicht ausschließen mussten. Dies berechtigt zugleich dazu, die These eines preußischen Sonderweges sozialer Militarisierung im 18. Jahrhundert zu überdenken, und lässt den preußisch-österreichischen Dualismus nicht in den früher gemalten grellen Farben erscheinen. Es handelt sich vielmehr um graduell gestufte Varianten eines durch Professionalisierungs- und Verstaatlichungstendenzen gleichermaßen charakterisierten und letztlich auch übergreifenden Entwicklungsprozesses, was etwa ein Blick auf weitere Vergleichsbeispiele noch klarer vor Augen führen würde. Demnach waren es, um noch einmal die josephinischen Militärreformen ins Spiel zu bringen, ähnliche strukturelle Herausforderungen, die die politisch-militärische Führung in Wien zur partiellen Anpassung des österreichischen Militärsystems an das – dennoch ungeliebt bleibende – preußische Vorbild bewogen.

Thomas Biskup

Höfische Konkurrenz? Dynastische Strategien der Häuser Brandenburg und Österreich und die Wolfenbütteler Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg Kurz nach dem Tod Friedrichs II. 1786 erschien ein „Gespräch im Reiche der Todten zwischen Maria Theresia und Friderich dem Zweyten: worinnen dieser hohen Personen Leben und Merkwürdige Thaten bis zu Ihrem Tode umpartheiisch erzählet werden“.1 Darin bestätigt die bereits 1780 verstorbene Maria Theresia dem Neuankömmling im Totenreich, dass sie „vollkommen“ mit ihm „ausgesöhnt“ und auch über den Verlust Schlesiens hinweggekommen sei: „Nein, dies ist vergessen, alles ist vergessen, und ich überließ es meinem Sohne, den Verlust dieses allerdings beträchtlichen Landes, […] auf eine andere Art zu ersetzen.“2 Maria Theresia und Friedrich II. diskutierten auch ausführlich die Bedeutung der preußischen Königserhebung von 1701, welche die Kaiserin mit den Worten würdigte: „Wäre die Königliche Würde Preußens nicht schon vorhanden, sie würde 40 Jahre nachher nimmer zu Stande gekommen seyn.“ Der preußische König antwortete mit einem Hinweis auf die Kategorien Macht und Kosten: „Wäre mit der Königskrone ein Zuwachs von Macht verbunden gewesen, so hätte sich noch etwas davon reden lassen.“ Und wäre nicht der sparsame Friedrich Wilhelm I. gewesen, „so würde Brandenburg, anstatt durch die Königskrone größer geworden zu seyn, vielmehr je länger je mehr abgenommen haben. […] Je länger ich hierüber nachdenke, desto mehr werde ich zweifelhaft, ob sich dann Friederich I. durch seinen Königstitel so verdient um sein Haus gemacht habe?“3 Die Schrift gehört zum im 18. Jahrhundert beliebten Genre der „Totengespräche“, das stets besonders nach dem Ableben prominenter Zeitgenossen florierte.4 Der

1 [Johann Ferdinand Gaum]: Gespräch im Reiche der Todten zwischen Maria Theresia und Friderich dem Zweyten: worinnen dieser hohen Personen Leben und Merkwürdige Thaten bis zu Ihrem Tode umpartheiisch erzählet werden. Maltha [i. e. Ulm] 1786. 2 Ebd., S. 9. 3 Ebd., S. 38. 4 Zur Genretradition: Riccard Suitner: Die philosophischen Totengespräche der Frühaufklärung. Hamburg 2016. Der preußische König verfasste auch selbst in polemischer Absicht eine derartige Konversation, die erst über 200 Jahre nach seinem Tod im Druck publiziert wurde: Gerhard Knoll (Hg.): Friedrich II., König von Preußen. Totengespräch zwischen Madame de Pompadour und der Jungfrau Maria. Berlin 1999.

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anonyme Autor dieser Schrift war offenkundig propreußisch gesinnt – andere nach 1786 erschienene Schriften konnten von ähnlicher Nachsicht Maria Theresias nicht berichten.5 Für die Diskussion höfisch-dynastischer Konkurrenz erscheinen hier vor allem zwei Aspekte relevant: Erstens die personelle Zuspitzung der Konflikte der zurückliegenden Jahrzehnte, die um 1786 bereits selbst historisch war und mindestens bis auf den Siebenjährigen Krieg zurückging.6 Der Tod Friedrichs beendete der Schrift zufolge die Rivalität zweier als gleichrangig dargestellter Herrscher, die nun auf ihr Agieren im Feld der Politik zurückblicken. Zweitens wird in diesem Totengespräch eine Gegenüberstellung von katholischhöfischer Habsburgermonarchie und vermeintlich nüchtern-rationalem preußischem Staat artikuliert, die ebenfalls bereits in der – vor allem protestantischnorddeutschen – Literatur der zurückliegenden Jahrzehnte formuliert worden war: Während Maria Theresia den Erwerb der preußischen Königskrone 1701 als wichtigen Meilenstein der brandenburg-preußischen Geschichte des zu Ende gehenden Jahrhunderts sieht, wird Friedrich in seinem bereits damals bekannten negativen Urteil zum Hof seines Großvaters zitiert.7 Hier wird also neben einer Rivalität der Akteure eine Systemkonkurrenz postuliert, die – in der Sicht des Autors – in einen Erfolg der friderizianischen Monarchie mündete. Diesen bereits im 18. Jahrhundert gelegten Spuren einer Modernisierungsgeschichte auf Kosten vermeintlich früh(und damit vor-) moderner Kategorien folgten dann bekanntlich vor allem preußische und „kleindeutsch“ argumentierende Historiker bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.8 Nun ist dieses Bild inzwischen doppelt revidiert worden: Der preußische Hof des 18. Jahrhunderts erscheint nicht mehr nur als die soldatisch geprägte Karikatur eines Hofes, als dessen klassische Ausprägung auch in der deutschsprachigen Historiographie lange Zeit stets mehr Versailles als Wien erschien. Vielmehr ist deutlich geworden, dass der preußische Hof dem Decorum sehr wohl Genüge tat, wenn auch auf niedrigerem Niveau als etwa der Wiener Hof. Wolfgang Neugebauer hat

5 Vgl. etwa die anonym erschienene Schrift aus der Feder Josef Richters. Ders.: Aus dem Lexikon aller Anstößigkeiten und Prahlereyen, welche in denen zu Berlin in funfzehn Bänden erschienenen sogenannten Schriften Friedrichs des Zweyten vorkommen. [Prag] 1790, Vorerinnerung. Zum agonalen Denken Maria Theresias s. nunmehr Bettina Braun: Krieg und Frieden im Denken Maria Theresias. In: Irene Dingel u. a. (Hg.): Theatrum Belli – Theatrum Pacis. Konflikte und Konfliktregelungen im frühneuzeitlichen Europa. Festschrift für Heinz Duchhardt. Göttingen 2018, S. 179–190. 6 Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. München 2017, S. 445–456. 7 Andreas Pečar: Die Masken des Königs. Friedrich II. von Preußen als Schriftsteller. Frankfurt am Main u. a. 2016, S. 33–49. 8 Peter-Michael Hahn: Friedrich der Große und die deutsche Nation. Geschichte als politisches Argument. Stuttgart 2007, S. 20–44 u. 53–65.

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hier treffenderweise von „fallweisem Prunk“ gesprochen.9 Brandenburg-Preußen war aufgrund seiner demographisch und finanziell geringeren Ressourcen stets besonders dem Spagat zwischen höfischem Aufwand und Militärausgaben ausgesetzt, den es auch in Friedenszeiten an die jeweils aktuellen politischen Anforderungen anpasste. Genau dies trifft jedoch in gewissem Maße auf die meisten Höfe zu, und – dies ist der zweite Punkt – selbst der bedeutend größere Wiener Hof war in Personalstärke und Finanzierung enormen Fluktuationen unterworfen, die direkt im Zusammenhang mit politischen Konjunkturen, militärischen Auseinandersetzungen und Schuldenstand standen: Der Personalbestand des Wiener Hofes wurde während des Österreichischen Erbfolgekrieges zu Beginn von Maria Theresias Regierungszeit um knapp 30 % abgesenkt und erreichte auch nach dem Wiedergewinn der Kaiserkrone 1745 erst nach 1763 wieder das Niveau der letzten Jahre Karls VI.; zugleich fielen vermeintliche Modernisierungsleistungen (sprich: Kürzungen der Hofausgaben) unter Joseph II. geringer aus als häufig kolportiert.10 In der „Status-Ökonomie“ der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die ja von den Auseinandersetzungen um relationale Rangverhältnisse überhaupt erst konstituiert wurde, waren die königlichen und fürstlichen Höfe zentrale Schaltstellen, für die sich grundsätzlich zwei Ebenen der Konkurrenz unterscheiden lassen:11 Erstens konkurrierten Adlige, Gelehrte und Militärs um Ämter bei Hofe, in hofnahen Institutionen (Akademien), in Verwaltung und Militär, aber auch die von der Forschung viel weniger beachteten Bediensteten und Zulieferer.12 Zweitens standen die Höfe untereinander in einem Konkurrenzverhältnis, da in der von ihnen gebildeten „höfischen Öffentlichkeit“ die Anerkennung und Sicherung von Herrscherrang

9 Wolfgang Neugebauer: Vom höfischen Absolutismus zum fallweisen Prunk. Kontinuitäten und Quantitäten in der Geschichte des preußischen Hofes im 18. Jahrhundert. In: Klaus Malettke / Chantal Grell (Hg.): Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (16.–18. Jh.). Münster 2001, S. 89–111. 10 Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780. Cambridge 2003, S. 73–87. 11 Aus der reichen Literatur sei nur zitiert: André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Kauz (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32. 12 Für den Versailler Hof, der lange unter den Prämissen von Norbert Elias betrachtet worden ist, hat dies deutlich gezeigt: Leonhard Horowski: Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789. Ostfildern 2012.

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und damit die Position des frühneuzeitlichen Staates in der europäischen société des princes ausgehandelt wurde.13 Hier gilt es jedoch weiter zu differenzieren, denn es muss jeweils spezifisch geklärt werden, inwieweit der Konkurrenzbegriff für höfisch-dynastische Relationen angemessen ist. In diesem Beitrag soll in zwei Schritten diskutiert werden, ob sich überhaupt von einer „höfischen Konkurrenz“ Brandenburg-Preußens und Österreichs sprechen lässt: Erstens sollen kurz vergleichend Probleme einer Konkurrenzgeschichte der Berliner und Wiener Höfe skizziert werden. In einem zweiten Schritt wird der Blick spezifisch auf dynastische Strategien gelenkt. Heiratspolitik diente im 17. und 18. Jahrhundert der dynastischen Vernetzung mit dem Ziel der Statuswahrung oder -erhöhung sowie der Erweiterung der macht-, militär- und finanzpolitischen Optionen. Berlin und Wien suchten ihre Verbindungen zu den regierenden Häusern des Reiches und Europas aber auch darüber hinaus durch die Einbindung adliger Familien zu festigen bzw. auszubauen. Die Attraktivität des eigenen Hofes (einschließlich der für die Ämtervergabe zur Verfügung stehenden Ressourcen) war dabei ein zentraler Faktor, und der kleinere und finanziell schlechter gestellte Berliner Hof reichte hier zu keinem Zeitpunkt an Wien heran, das der wichtigste Anlaufpunkt für den mitteleuropäischen Adel blieb.14 In diesem Beitrag steht dabei nicht die häufig diskutierte Heiratspolitik der Casa de Austria im Mittelpunkt, sondern das Abwerben der Wolfenbütteler Welfen durch Friedrich II., die durch eine heirats- und militärpolitische Offensive in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum dauerhaft aus dem Einflussbereich des Wiener Hofs in eine preußische Klientelfamilie überführt wurden. „Brandenburg“ und „Österreich“ sind dabei als Kurzformen für die brandenburg-preußischen Territorien und ihr Herrscherhaus bzw. für die unter Herrschaft des (damals bekanntermaßen noch nicht so genannten) Hauses Habsburg zu verstehen.15

13 Zum von Aloys Winterling geprägten und von Barbara Stollberg-Rilinger in die Debatte eingeführten Begriff mit Blick auf mediale Kommunikationsprozesse: Volker Bauer: Mediengebrauch und Adressierung in der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft. Höfische Öffentlichkeit und höfische Netzwerke. In: Steffen Hölscher / Sune Erik Schlitte (Hg.): Kommunikation im Zeitalter der Personalunion (1714–1837). Prozesse, Praktiken, Akteure. Göttingen 2014, S. 57–78.  14 Duindam, Vienna and Versailles, S. 272–297. 15 Zur Problematik der Benennung von Dynastien und der ihnen unterstehenden Territorien: Michael Hecht: The Production of Genealogical Knowledge and the Invention of Princely “Dynasties”. In: Jost Eickmeyer u. a. (Hg.): Genealogical Knowledge in the Making. Tools, Practices, and Evidence in Early Modern Europe. Berlin 2019, S. 145–168.

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Berlin und Wien – gleichrangige Konkurrenten? Der Berliner und der Wiener Hof waren in juristischer, struktureller, personeller, finanzieller, religiöser und zeremonieller Hinsicht ausgesprochen unterschiedlich strukturiert und ausgerichtet. Allein von Personalumfang und Budget her stellte der Wiener Hof den Berliner stets in den Schatten, der im Zeitraum 1740–1780 im Schnitt nur 20 bis 30 Prozent der habsburgischen Hofausgaben (für den Haupthof des Herrschers allein) erreichte.16 Abgesehen von diesen offenkundigen strukturellen Differenzen zwischen diesen Höfen ist grundsätzlich festzustellen, dass höfische Rivalität und adlige wie monarchische Statuskonkurrenz nicht binär strukturiert sind. Auch die Höfe der beiden eigentlichen großen dynastischen Rivalen auf der europäischen Bühne, Wien und Versailles, waren keinesfalls ausschließlich aufeinander in Aneignung und Abgrenzung bezogen, und für die Beziehungen zwischen den Höfen zu Berlin und Wien ist der Begriff des „Dualismus“ besonders irreführend, da er letztlich den „Aufstieg“ Preußens in einer Serie von Auseinandersetzungen mit dem Haus Österreich in den Mittelpunkt stellt. Vielmehr ist dynastisches Konkurrenzdenken grundsätzlich multipolar zu denken, wie u. a. Christoph Kampmann und Anuschka Tischer mit Bezug auf die rangpolitisch besonders dynamischen Jahre um 1700 festgestellt haben.17 Für die Beziehung zwischen den Höfen in Wien und Berlin lässt sich besonders wenig von einer Statuskonkurrenz im engeren Sinne sprechen, da hier mehrfache strukturelle, quantitative und qualitative Asymmetrien vorliegen: Der Wiener Hof war bis 1740 und dann wieder ab 1745 der Hof des Kaisers, wohingegen in Berlin ein Kurfürst residierte, der als Erzkämmerer zumindest theoretisch ein Amt am Kaiserhof innehatte, aber zugleich im außerhalb der Reichsgrenzen gelegenen Preußen souveräner Monarch war. Im Gegensatz zu anderen vergleichbaren Kompositmonarchien (Sachsen-Polen, Hannover-Großbritannien – die Fälle Pommern-Schweden und Holstein-Dänemark waren etwas anders gelagert) gab es hier auch nach 1701 keine ernsthaften Überlegungen, eine Hofhaltung in Königsberg aufzubauen oder gar den Hof ganz in das souveräne, aber entlegene und im Vergleich zu den Reichsbesitzungen des Königs nur halb so große Preußen zu verlegen. Damit war der Austausch von Botschaftern zwischen Wien und Berlin langfristig (und jenseits der Bestimmungen des Krontraktats) ausgeschlossen und auch sonst ergaben sich zeremonielle Herabstufungen für den Berliner Hof. Die

16 Berechnung und Vergleich von Hofausgaben sind bereits aufgrund der unterschiedlichen Strukturen der Hoflandschaften und der Zuordnung von Ausgabenposten notorisch problematisch. Thomas Biskup: Friedrichs Größe. Inszenierungen des Preußenkönigs in Fest und Zeremoniell 1740–1815. Frankfurt am Main 2012, S. 33–54. 17 Christoph Kampmann / Anuschka Tischer (Hg.): Bourbon – Habsburg – Oranien: Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln u. a. 2008.

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beständigen Versuche Friedrichs II., seine untergeordnete Position im Zeremoniell des Reiches zu verbessern (etwa über den Verzicht auf das Niederknien des brandenburgischen Gesandten bei der Belehnung), trugen zwar zur zunehmenden Aushöhlung der Reichsinstitutionen bei, aber bis 1806 gab es keine ernsthaften Versuche preußischerseits, komplett aus dem hierarchisch strukturierten Reichsgefüge auszuscheren.18 Gerade Friedrich II. bediente sich vielmehr der Mechanismen des Reiches (nicht zuletzt des Corpus Evangelicorum), um seine eigenen Interessen durchzusetzen. In der politischen Praxis ging es Friedrich wie anderen Reichsfürsten um Einflussgewinn und Rangerhöhung im reichspolitischen und europäischen Herrschergefüge.19 Gerade im zeremoniellen Verhältnis zum Wiener Hof ist hier also von einer Annäherungsstrategie mit dem Ziel relationaler Statusverbesserung zu sprechen, nicht von Konkurrenz gleichrangiger Mitspieler auf demselben Feld. Das Problem der Gleichrangigkeit stellte sich Preußen aber nicht nur gegenüber dem Kaiserhof, sondern auch gegenüber der Krone Frankreich, die selbst dem langjährigen Verbündeten Friedrich II. weder Botschafteraustausch noch die paritätische Behandlung im Kanzleizeremoniell als Zeichen echter Gleichrangigkeit zugestand.20 Deutlich wird auch hier, dass die in der internationalen Forschung immer noch gern als Westphalian System bezeichnete politische Ordnung Europas nur scheinbar klar als Gesellschaft gleichrangiger Souveräne strukturiert war. Wie sich die Akteure des Heiligen Römischen Reiches in diese sich nach 1648 ausprägende, zunehmend binäre Ordnung einfügen sollten, wurde bis 1806 nicht endgültig geklärt, aber auch unter den allgemein als souverän Anerkannten blieben Fragen des Vorrangs wichtig.21 Zumindest bis zum Siebenjährigen Krieg stand der brandenburg-preußische Hof vor allem in Konkurrenz mit Sachsen-Polen und Hannover-Großbritannien, die als Verbindung von ambitioniertem weltlichem Kurfürstentum und außerhalb der Reichsgrenzen gelegenem souveränen Königtum ähnlich strukturiert waren. Bedeutende Hofereignisse wie das 1750 in Berlin veranstaltete „Caroussel“ – ein aufwendig choreographiertes Reiterturnier, das in der Hofliteratur als aufwendigste

18 Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008, S. 293. 19 Peter Wilson: Prussia and the Holy Roman Empire 1700–40. In: German Historical Institute Bulletin 36 (2014), S. 3–48; Gabriele Haug-Moritz: Friedrich der Große als „Gegenkaiser“. Überlegungen zur preußischen Reichspolitik (1740–1786). In: Vom Fels zum Meer. Preußen und Südwestdeutschland, hg. v. Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Tübingen 2002, S. 25–44. 20 Hamish Scott: Prussia’s Royal Foreign Minister. Frederick the Great and the Administration of Prussian Diplomacy. In: Robert Oresko u. a. (Hg.): Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton. Cambridge 1997, S. 500–526, hier S. 529 f. 21 André Krischer: Rang und Zeremoniell in diplomatischer Praxis und Theorie der Sattelzeit. In: Thomas Biskup / Andreas Pečar (Hg.): Die Klassifikation der Staatenwelt im langen 18. Jahrhundert. Berlin /Boston 2021.

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Form höfischer Feste überhaupt galt – waren darauf ausgerichtet, Friedrich II. von der Dresdener Festkultur abzuheben, indem sie sich an französischen Modellen orientierten und den brandenburg-preußischen Herrscher von der für ihn problematischen Zeremoniell- und Hoftradition des Heiligen Römischen Reiches zu distanzieren suchten.22 Der seit 1740 das preußisch-österreichische Verhältnis prägende Antagonismus darf somit nicht einfach als Konkurrenzverhältnis auf die Bereiche Hof und Dynastie übertragen werden.

Konkurrenz um das knappe Gut norddeutscher Dynastien? Der Fall Wolfenbüttel In der Heiratspolitik lässt sich in den vier Jahrzehnten nach 1740 eine bemerkenswerte Divergenz zwischen Preußen und Österreich konstatieren: Nach seiner „reproduktiven Krise“ unter Kaiser Karl VI. (Pragmatische Sanktion) erlebte das Haus Österreich eine veritable Wiedergeburt unter Maria Theresia, von deren 16 Kindern immerhin zehn ihre Mutter überlebten. Sie wurden nach Frankreich und Italien verheiratet (Bourbon-Parma und Bourbon-Sizilien), und die KaiserinKönigin suchte über ihre Kinder Einfluss auf die in Versailles und Neapel gemachte Politik zu nehmen. Ihre Söhne wurden als Statthalter in entfernten Territorien (Ferdinand Karl als Generalgouverneur der Lombardei) eingesetzt, mit Sekundogenituren in Italien versorgt (Peter Leopold in Toskana) oder auf wichtige Positionen in der Reichskirche gehievt (Maximilian Franz in Köln), wodurch auch jenseits des Renversement des alliances der Einfluss des Hauses Österreich im Nordwesten des Reiches wie in Italien befestigt wurde.23 Dynastisch spielte also das noch kurz zuvor vom „Aussterben“ bedrohte Haus Österreich weiterhin bzw. erneut in einer ganz anderen Liga als das Haus Brandenburg, das nach einer Phase betont hochrangiger Verbindungen, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert den Aufstieg der Dynastie zur Königswürde flankiert hatten, bis ins 19. Jahrhundert hinein vor allem Verbindungen mit mindermächtigen Reichsständen einging. Von den 27 Brandenburger Hochzeiten zwischen 1713 und dem Ende des Alten Reiches 1806 waren die meisten (nämlich zehn) Verbindungen mit herzoglichen Häusern wie Braunschweig-Lüneburg, Mecklenburg-Strelitz und Württemberg. Es folgten die Landgrafen der drei hessischen Linien (fünf), die fürstlichen Häuser Anhalt-Dessau und Anhalt-Bernburg (drei) und die Nebenlinien des eigenen Hauses.24 Wiederum ist der Vergleich von Brandenburg 22 Biskup, Friedrichs Größe, S. 66–75. 23 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, S. 462–488. 24 Daniel Schönpflug: Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640–1918. Göttingen 2013, S. 288 f.; Eric Hartmann / Anja Hirsch: Statistiken zur Heiratspolitik

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mit den Kurfürsten von Sachsen und Königen von Polen auffällig, die nach der Konversion zum Katholizismus Heiratsverbindungen zum Haus Österreich, den französischen und spanischen Bourbonen und dem Wittelsbacher Kaiser Karl VII. aufbauen konnten und somit Anschluss an die angesehensten Dynastien aus dem vergleichsweise großen Pool katholischer Königshäuser fanden.25 Freilich greift es zu kurz, für Preußen nur vom Defizit eines dynastischen Newcomers zu sprechen, der eben doch (noch) nicht mit den etablierten älteren Häusern mithalten konnte, oder darauf zu verweisen, dass der Kreis ranghoher protestantischer Herrscherhäuser erheblich kleiner war als der katholische. Vielmehr lässt sich hier eine dynastische Strategie Friedrich Wilhelms I., Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. erkennen, die an die im 17. Jahrhundert begonnene Anbindung mindermächtiger Nachbarn (Anhalt) anschloss. Durch militärische Ämtervergabe wie dynastische Anbindung entzogen sie protestantische Fürsten dem bis nach 1740 noch starken habsburgischen Einfluss in Norddeutschland und bauten ein hierarchisch gestaffeltes Klientelsystem auf.26 Lässt sich dies nun doch als Konkurrenz um das knappe Gut dynastischer Verbindungen zu angesehenen Reichsständen deuten? Der Fall der Wolfenbütteler Welfen zeigt, dass sich im Feld dynastischer Verbindungen nach 1740 langfristig gerade keine dyadische Konkurrenz zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich ausbildete, da Friedrich II. im Vergleich zu Maria Theresia eine grundlegend andere Strategie verfolgte, die nicht primär auf die dynastische Vernetzung mit anderen europäischen Königshäusern, sondern auf den Aufbau einer von ihm abhängigen Klientel im geographischen Umfeld der brandenburgischen Kernterritorien zielte. Die Wolfenbütteler Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg nahm eine besondere Stellung zwischen Österreich und Preußen ein: Das Herzogshaus war seit der Doppelhochzeit des Kronprinzen Friedrich mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Lüneburg und ihres Bruders, des Braunschweiger Erbprinzen Carl, mit Friedrichs Schwester Philippine Charlotte 1733 erstmals seit dem frühen 17. Jahrhundert wieder mit Brandenburg verbunden. Zugleich war es seit dem Spanischen Erbfolgekrieg als besonders kaisertreu hervorgetreten und hatte nicht

der Hohenzollern von 1401 bis 1918. In: Frauensache. Wie Brandenburg Preußen wurde, hg. v. Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Dresden 2015, S. 92–99. 25 Anne-Simone Knöfel: Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner. Köln u. a. 2009, S. 180–266. 26 Thomas Biskup: Four Weddings and Five Funerals. Dynastic Integration and Cultural Transfer Between the Houses of Braunschweig and Brandenburg in the 18th Century. In: Helen WatanabeO’Kelly / Adam Morton (Hg.): Queens Consort, Cultural Transfer and European Politics, c. 1500–1800. London 2017, S. 202–230, hier S. 218.

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nur sieben kaiserliche Generäle gestellt, sondern mit der Kaiserin Elisabeth Christine auch die Mutter Maria Theresias. Der regierende Herzog Ferdinand Albrecht II. war als Reichsgeneralfeldmarschall noch 1733 in den Polnischen Erbfolgekrieg gezogen. Sein ältester Sohn Carl I. – nach seinem Patenonkel Karl VI. benannt – übernahm das kaiserliche Regiment seines Vaters, der jüngere Sohn Ludwig Ernst führte seine aktive Karriere in kaiserlichen Diensten bis 1750 als Reichsgeneralfeldzeugmeister und Reichsgeneralfeldmarschall fort. Die Wolfenbütteler Doppelhochzeit von 1733 passte in dieses Schema, denn dem Wiener Hof ging es dabei nicht zuletzt darum, mit dieser Verbindung die stets fragile Zusammenarbeit mit Friedrich Wilhelm I. zu sichern, der Herzog Ferdinand Albrecht nahestand.27 Gleich nach seinem Regierungsantritt – und während des von ihm ausgelösten Österreichischen Erbfolgekrieges – entwickelte Friedrich II. eine bemerkenswerte dynastiepolitische Dynamik mit Blick auf das Haus Braunschweig. Er schaltete hierzu seine Gemahlin Elisabeth Christine ein, die er bereits vor 1740 als Kommunikationskanal zwischen Rheinsberg, Berlin und Wolfenbüttel genutzt hatte. Die nunmehr einsetzende konsequente Ausrichtung der friderizianischen Heiratspolitik auf die Wolfenbütteler Welfen bedeutete, dass ihr zwei weitere Herzoginnen aus dem Haus Braunschweig-Bevern als preußische Kronprinzessinnen folgten. Louise Amalie, jüngere Schwester von Königin Elisabeth Christine, wurde 1742 mit Friedrichs Bruder und designiertem Nachfolger August Wilhelm verheiratet, ihre Nichte Christine Elisabeth Ulrike wiederum 1765 mit dem ersten aus dieser Ehe hervorgegangenen Sohn, dem späteren Friedrich Wilhelm II. Weitere Verbindungen zwischen Brandenburg und Braunschweig folgten.28 Heiratsverbindungen waren jedoch nur ein Teil des Beziehungsgefüges: Bis zum Beginn des Siebenjährigen Krieges traten fünf Braunschweiger Herzöge in die preußische Armee ein. Ferdinand von Braunschweig, der nächstjüngere Bruder Carls, wurde 1740 direkt aus Wien (wo er sich unter Obhut der welfischen Kaiserin Elisabeth Christine auf den Eintritt in das kaiserliche Heer vorbereitet hatte) an den Berliner Hof abgeworben (wo er ein eigenes Regiment erhielt), und mit den Herzögen Ferdinand, Albrecht und Friedrich Franz dienten alle jüngeren Söhne Herzog Ferdinand Albrechts in der preußischen Armee, in der Folgegeneration sogar sämtliche männlichen Mitglieder des Hauses (Carl Wilhelm Ferdinand, Al-

27 Christof Römer: Generationen und Hofhaltungen der Dynastie Braunschweig-Bevern. In: Ders. (Hg.): Braunschweig-Bevern. Ein Fürstenhaus als europäische Dynastie 1667–1884. Braunschweig 1997, S. 33–35. 28 Herzogin Sophie Caroline Marie heiratete 1759 Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth, und auch die Verbindungen zwischen den Wolfenbütteler Welfen und dem Haus Oranien müssen im Zusammenhang mit der Intensivierung der dynastischen Beziehungen zwischen BrandenburgPreußen und den Oranien bis 1791 gesehen werden.

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brecht Heinrich, Maximilian Julius Leopold, Friedrich August und Wilhelm Adolf), die auch regelmäßig an die Tafel des Königs geladen wurden.29 Diese dynastische Anbindung war von Kommunikationspraktiken geprägt, die über die üblichen Korrespondenzen hinausgingen und häufige gegenseitige Besuche einschlossen, die über mehrere Wochen dauern konnten und zumeist mit aufwendigen Hoffesten verbunden waren, deren Beschreibungen in den europäischen Zeitschriften lanciert wurden. Friedrich II. besuchte die Braunschweiger Verwandtschaft nicht weniger als 15 Mal, während der Braunschweiger Hof zehn Mal für mehrere Wochen in Potsdam und Berlin weilte; mehrfach reihte sich dies zu mehrmonatigen gemeinsamen Aufenthalten aneinander.30 Die Nähebeziehungen zwischen Brandenburg und Braunschweig waren von Konkurrenz auf zwei Ebenen geprägt. Der privilegierte Zugang zu prominenten Stellen im dynastischen Netzwerk war auch für das Haus Braunschweig nicht garantiert. Insbesondere die auswärts verheirateten Schwestern Friedrichs standen in Konkurrenz um die Gunst des Königs, und Annäherungen an das Haus Österreich konnten hier besonders in Kriegszeiten Dynamiken auslösen; Philippine Charlotte und die Braunschweiger Herzogsfamilie etwa profitierten nach 1745 davon, dass Wilhelmine von Bayreuth durch ein Zusammentreffen mit Maria Theresia während des Österreichischen Erbfolgekrieges zeitweilig die Gunst ihres königlichen Bruders verloren hatte. Zugleich konkurrierte die Braunschweiger Herzogsfamilie mit anderen mindermächtigen Familien und der Schwedter Nebenlinie des Hauses Brandenburg um die Besetzung prominenter Positionen in der königlichen Familie, so etwa 1763/65, als es galt, die Braunschweiger Kandidatin Elisabeth Christine Ulrike gegenüber Philippine Auguste Amalie von Brandenburg-Schwedt als Gattin des Prinzen von Preußen durchzusetzen.31 Wie so oft behielten die inzwischen auf allen Ebenen bestens vernetzten Welfen die Oberhand und ihr reichsfürstlicher Status und gut ausgestatteter Hof gaben den Ausschlag. Graf Lehndorff, Kammerherr der Königin, bemerkte, dass der Braunschweiger Hof „mit Erfolg alles in seiner Kraft Stehende tat, um den König bei seinem Besuch gnädig zu stimmen“.32 Bei Braunschweig-Wolfenbüttel handelte es sich um ein angesehenes mindermächtiges Haus, das im konfessionellen wie geographischen Umfeld der Berliner Hohenzollern lag und so eng an Brandenburg-Preußen angeschlossen wurde.

29 Zur Bedeutung der militärischen Ämtervergabe auch im dynastischen Wettbewerb: Peter Wilson: The Politics of Military Recruitment in Eighteenth-Century Germany. In: English Historical Review 117 (1992), S. 536–568. 30 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 36, Nr. 827, 835, 836 u. 851 f. 31 Biskup, Four Weddings, S. 214 f. 32 Carl Eduard Schmidt-Lötzen (Hg.): 30 Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff, Kammerherr der Königin Elisabeth von Preußen. Gotha 1907, S. 370 f.

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Mecklenburg und Hessen-Kassel wurden ebenfalls (wenn auch weniger exklusiv) in den Kreis der bevorzugten Heiratspartner und hohen Militärs in preußischen Diensten aufgenommen. Dadurch bauten sich Friedrich II. und seine Nachfolger ein geographisch abgerundetes Klientelsystem im norddeutschen Raum zwischen Nordseeküste und Ostseeanrainerstaaten auf, das eine Art territoriales Vorfeld vor den stets gefährdeten Grenzen Brandenburg-Preußens bildete. Entscheidend für die Anbindung der Wolfenbütteler Linie des Hauses Braunschweig-Lüneburg als preußische Klientelfamilie war das Jahrzehnt zwischen 1740 und 1750, in dem der von Friedrich II. begonnene Österreichische Erbfolgekrieg die Frontstellungen zwischen Brandenburg und Österreich aufs Äußerste schärfte und ein Zeitfenster für eine nicht nur militärische, sondern auch dynastiepolitische Offensive schuf. Erstens vergrößerte der Ausbau der preußischen Armee um sieben Regimenter die Zahl der Offiziersstellen. Zweitens war der Wiener Hof nach 1740 vor allem mit der Sicherung der Erblande beschäftigt. Als er nach 1750 und verstärkt seit 1761 wieder in den nordwestdeutschen Raum ausgriff, rückten vor allem die geistlichen Fürstentümer in den Blick (Wahl eines österreichischen Kandidaten zum Kölner Erzbischof 1761, Wahl eines kaiserlich gesinnten Kandidaten in Mainz; Beeinflussung der Besetzung des Bistums Lüttich), während die Heiratspolitik bereits vor dem Renversement des alliances 1756 nach Italien (Modena) ausgriff und auf die weitere Anbindung norddeutscher Häuser verzichtete. Nach 1770 erlangte die bayerische Frage zentrale Bedeutung.33 Zugleich werden hier die Grenzen der preußischen Dynastiepolitik deutlich, denn in der Mitte und im Süden des Reiches war Friedrich nur teilweise erfolgreich: Zwischen 1740 und 1745 suchte er nach dem gleichen Muster von Militärdienst und Heiratsverbindungen auch Carl Eugen von Württemberg und die hessischen Landgrafen enger an sich zu binden, aber nach der Rückkehr des Herzogs nach Stuttgart 1744 verlor Friedrich rasch wieder seinen Einfluss in Stuttgart. Ähnlich schwenkten Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel nach einer nur kurz währenden Annäherung nach 1740 rasch wieder zurück ins kaiserliche Lager. Das nach 1740 für Preußen geöffnete Zeitfenster schloss sich nämlich bald wieder, als Maria Theresia ihre Stellung konsolidieren und mit der Wahl Franz Stephans die Rückkehr des Kaisertums nach Wien durchsetzen konnte.34

33 Angela Kulenkampff: Österreich und das Alte Reich. Die Reichspolitik des Staatskanzlers Kaunitz unter Maria Theresia und Joseph II. Köln u. a. 2005, S. 56–67. 34 Peter Wilson: Frederick the Great and Imperial Politics. In: Michael Kaiser / Jürgen Luh (Hg.): Friedrich der Große – eine perspektivische Bestandsaufnahme. 2007. URL: https://www.perspectivia.net/ publikationen/friedrich300-colloquien/friedrich-bestandsaufnahme/wilson_poltitics (28.08.2019).

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Schluss Das Totengespräch resümierte den auf die Beziehung von Friedrich und Maria Theresia zugespitzten Gegensatz zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich als eine Systemkonkurrenz gleichrangiger Mächte, von denen eine in vermeintlich traditionell-höfischen, die andere in „modern-rationalen“ Bahnen operierte. Auch jenseits dieser proto-modernisierungstheoretisch grundierten Interpretation lässt sich weder in der Reichspolitik noch der europäischen Fürstengesellschaft von zwei gleichrangigen Konkurrenten sprechen, die auf dem Feld der dynastisch-höfischen Politik um dieselben Güter konkurrierten. Der Begriff der Systemkonkurrenz lässt sich jedoch auf andere Weise für einen neuen Blick auf das brandenburgösterreichische Verhältnis nutzbar machen: Aufgrund der konfessionellen Grundlagen dynastischer Politik, aber auch der unterschiedlichen regionalen Ausrichtung der dynastischen Strategien bewegten sich Brandenburg-Preußen und Österreich nach einer kurzen Phase der Konkurrenz in den 1740er Jahren weiterhin in weitgehend unterschiedlichen Heiratskreisen. Jene Herrscherfamilien des Reiches, um deren Einbindung Brandenburg und Österreich konkurrierten, waren zugleich Objekt und Subjekt der Konkurrenz, da für sie der prominente Platz in Familie, Hof und Militär der neu erstarkten Macht eine dauerhafte Bestätigung ihres hohen Ranges bedeutete, wenn auch die politischen Optionen eher reduziert wurden und sie kaum mehr ein Minimum an dynastischer Unabhängigkeit bewahren konnten. Der preußische König etwa behielt sich als Oberkommandierender der Armee die Kontrolle über die Heiratsverbindungen auch seiner reichsfürstlichen Offiziere vor. Für die spezifischen Probleme des friderizianischen und post-friderizianischen Preußen in den Bereichen höfische Kommunikation, dynastische Vernetzung, Militärpolitik und reichspolitische Einflussnahme erwies sich diese Konsolidierung eines dynastischen „Glacis“ im direkten Umfeld der brandenburg-preußischen Kernprovinzen als zentral. Die Integration des Braunschweiger Herzogshauses bot Brandenburg-Preußen zudem Raum zur Nutzung von dessen dynastischen Ressourcen (nicht zuletzt: Kinderreichtum) für die Bestätigung wichtiger Verbindungen in die Häuser Oranien-Nassau und Hannover-Großbritannien bis Ende des 18. Jahrhunderts (u. a. vier Heiratsverbindungen allein zwischen 1790 und 1795), welche die preußische Dominanz in Norddeutschland um 1800 flankierte. Dadurch konnte das Fehlen dynastischer Ressourcen im Haus Brandenburg selbst ausgeglichen werden, denn die Kinderlosigkeit Friedrichs II. und seiner drei jüngeren Brüder schränkte ihren heiratspolitischen Handlungsspielraum erheblich ein: Für drei Jahrzehnte repräsentierte allein der 1744 geborene Sohn seines nächstälteren Bruders August Wilhelm (der spätere König Friedrich Wilhelm II.) die nächste Ge-

Höfische Konkurrenz?

neration.35 Noch 1768 – und damit noch nicht einmal 30 Jahre, nachdem Friedrich das vermeintliche Ende des Hauses Habsburg für seine eigenen Ziele genutzt hatte – wurden am Wiener Hof Planungen für den Fall des Aussterbens der Berliner Hohenzollern vorgenommen.36 Brandenburg-Preußen und Österreich verfolgten somit unterschiedliche dynastische Strategien, die verhinderten, dass sich aus der Ablösung der Wolfenbütteler Welfen aus dem Einflussbereich Wiens eine langfristige Konkurrenz um norddeutsche Reichsstände im geographischen Umfeld Brandenburgs entwickelte. Der machtpolitische Aufstieg Brandenburg-Preußens führte also zwar dazu, dass sich der Wiener Hof auf einen Leistungsvergleich mit Berlin in den Bereichen Militär, Verwaltung und Justiz einließ, in denen er einen preußischen Vorsprung verortete, bedeutete jedoch umgekehrt nicht, dass sich Brandenburg auf eine dyadische höfisch-dynastische Konkurrenz mit Wien einließ. Insofern lässt sich auch jenseits der klassischen historiographischen Narrative gerade für diesen Bereich von einer Systemkonkurrenz sprechen.

35 Johannes Kunisch: Friedrich der Große, Friedrich Wilhelm II. und das Problem der dynastischen Kontinuität im Hause Hohenzollern. In: Ders.: Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen. Köln u. a. 1988, S. 1–27. 36 Eduard Reimann: Friedrich der Große und Kaunitz im Jahre 1768. In: Historische Zeitschrift 42 (1879), S. 193–222.

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„Ökonomisierung der Zeit“ Justizstatistiken als Medium preußisch-österreichischer Staatenkonkurrenz im 18. Jahrhundert

„[…] wenn ich erst begonnen hab’, zähl ich ohn’ Unterlass.“ Sesamstraße. Das Lied von Graf Zahl

Justizstatistik als Medium der Staatenkonkurrenz in der Gegenwart Nimmt man die mit dem vorliegenden Band aufgeworfene Frage nach der Historizität des Konkurrenzverständnisses (post-)moderner westlicher Gesellschaften ernst, kommt man nicht umhin, über den frühneuzeitlichen Tellerrand zu blicken und sich an Georg Wilhelm von Raumer zu halten, der 1832 forderte, „die Gegenwart aus der Geschichte zu erkennen und die Geschichte für die Gegenwart zu benutzen“.1 Notwendig sei hierzu vor allem „eine gründliche Kenntniß des wirklich Bestehenden“, denn „die Bedeutung, welche jede Institution im Laufe der Zeit erzeugt hat, wird nur erfaßt, wenn man auf die Geschichte der Entstehung und Ausbildung derselben zurückgeht.“ Zum wirklich Bestehenden unserer Gegenwart zählt die Ökonomisierung staatlicher Hoheitsaufgaben, die auch vor der Rechtsprechung nicht haltmacht. „Deutsche Justiz braucht 204 Tage für ein Urteil.“2 So titelte im April 2019 ein namhaftes Hamburger Nachrichtenmagazin. Im dazugehörigen Artikel erfuhr der Leser, dass sich damit die durchschnittliche Prozessdauer gegenüber dem Vorjahr um 14 Tage verlängert habe, was sich aber im Vergleich zu Italien, wo ein erstinstanzliches Verfahren 548 Tage in Anspruch nehme, immer noch sehen lassen könne. Die Zahlen stammen aus dem jährlich publizierten Justizbarometer, mit dem die EU-Kommission Qualität und Effizienz der Justizsysteme in den Mitgliedsstaaten erfassen will. Ähnliche Rankings existieren auf nationaler Ebene und machen die Prozessdauer in den einzelnen Bundesländern miteinander vergleichbar.

1 Georg Wilhelm von Raumer: Vorschlag zur Beförderung des Brandenburgischen Geschichtsstudiums. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 7 (1832), S. 5–27, hier S. 16. 2 URL: https://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-justizbarometer-deutsche-justiz-braucht-204-tagefuer-ein-urteil-a-1264588.html (29.04.2020).

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Die Datengrundlage hierfür schafft eine expandierende Justizstatistik, die zum Arsenal jener betriebswirtschaftlichen Steuerungsinstrumente zählt, die in jüngerer Zeit in der Gerichtsverwaltung implementiert wurden. Hierzu gehört etwa das von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft entwickelte Datenbanksystem PEBB§Y, in dem richterliche Tätigkeiten zum Zweck der Personalbedarfsberechnung als Produkte definiert und mit in Minuten bemessenen Richtwerten verknüpft sind. Danach sollen beispielsweise am Amtsgericht auf ein Scheidungsverfahren durchschnittlich 131 Minuten und auf eine Mietsache 180 Minuten verwendet werden. In Fachkreisen sorgt PEBB§Y seit Längerem für Diskussionsstoff.3 Denn staatliche Bemühungen um Prozessbeschleunigung und rationellen Ressourceneinsatz können zwar an den im Grundgesetz verankerten Justizgewährungsanspruch anknüpfen, der nur dann realisiert werden kann, wenn ein Verfahren auch in angemessener Frist zum Abschluss gebracht wird. Allerdings birgt eine statistische Denkweise aufgrund der ihr immanenten Fixierung auf mess- und zählbare Parameter potentiell die Gefahr, ein selektives, gegenüber rechtsstaatlichen Standards letztlich indifferentes Verständnis von Rechtsprechung zu fördern. Zudem ist nicht zu übersehen, dass sich in den Justizrankings auch außerrechtliche Einflüsse geltend machen, denn eine möglichst kurze Verfahrensdauer dient nicht nur der Haushaltskonsolidierung, sondern gilt auch als ökonomischer Standortfaktor im Staatenwettbewerb. Da die Gerichtsverwaltung in Deutschland im Gegensatz zu den meisten übrigen Ländern Europas nicht der gerichtlichen Selbstverwaltung obliegt, sondern bei den Justizministerien ressortiert,4 geht es letzten Endes darum, in welchem Maße die Exekutive durch Erledigungsdruck die Rechtsanwendung der Gerichte beeinflusst und ob sie dabei in einer das Gewaltenteilungsprinzip unterlaufenden Weise in die richterliche Unabhängigkeit eingreift. Angesichts nachweisbar sinkender Urteilsquoten in der ordentlichen Gerichtsbarkeit vermuten Kritiker, dass sich in diesen Zahlen nicht nur ein Wandel gesellschaftlicher Streitkultur, sondern auch der Erledigungsdruck der Exekutive niederschlägt, den Gerichte in Form von Vergleichsdruck an die Parteien weitergeben.5 Denn bei Vergleichen entfallen mit der schriftlichen Urteilsbegründung und dem Rechtsmittel zwei besonders ressourcenintensive Faktoren, so dass es plausibel erscheint, von einer Präferenz des Justizapparates zugunsten nichtstreitiger Verfahrenserledigungen auszugehen.

3 Helmuth Schulze-Fielitz / Carsten Schütz (Hg.): Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit. Berlin 2002. 4 Fabian Wittreck: Die Verwaltung der Dritten Gewalt. Tübingen 2006, S. 266–526. 5 So stieg zwischen 1975 und 2015 die Vergleichsquote an deutschen Landgerichten um mehr als das Dreifache, während die Urteilsquote um 43 % zurückging. Siehe Matthias Wendland: Mediation und Zivilprozess, Dogmatische Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre. Tübingen 2017, S. 86; zu richterlichem Vergleichsdruck auf Parteien beispielsweise Martin Fries: Verbraucherrechtsdurchsetzung. Tübingen 2016, S. 148.

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Einer soziologischen Analyse böten die skizzierten Probleme zahlreiche Anknüpfungspunkte. Geradezu idealtypisch manifestieren sich in den diversen Justizrankings jene triadischen Konkurrenzsituationen, in denen nach Georg Simmel zwei Parteien um die Gunst des Publikums konkurrieren.6 Darüber hinaus bildet PEBB§Y mit seinen nach Minuten bemessenen Produkten der Justiz ein Musterbeispiel für jene „Verengung des Zeitgitters“, die Michel Foucault als Kennzeichen der im 18. Jahrhundert konzipierten modernen Disziplinargesellschaft identifiziert und folgendermaßen beschrieben hat: Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen. Man muß darum versuchen, die Ausnutzung des geringsten Augenblicks zu intensivieren, als ob die Zeit gerade in ihrer Zersplitterung unerschöpflich wäre oder man durch eine immer feinere Detaillierung auf einen Punkt gelangen könnte, wo die größte Schnelligkeit mit der höchsten Wirksamkeit eins ist.7

Die moderne Statistik ist also nichts grundsätzlich Neues, sondern bildet „in vieler Hinsicht den Fluchtpunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung in Richtung auf die Abstrahierung und Standardisierung zuvor heterogener, inkompatibler und partikularer Wissensbestände“.8 Dass dies auch für die Justizstatistik gilt, verdeutlichen Äußerungen des Reichskammergerichtsprokurators Christian Jacob von Zwierlein, der 1767 eine „Ökonomisierung der Zeit“9 forderte. Denn es genüge zur Beschleunigung der Prozesse keineswegs, daß der Uhrmacher nach dem Zifferblatt sehe und denn sage, der Zeiger gehet zu langsam, die Räder und Federn sind Ursache daran. Man ändere das Verhältnis der Räder, sezze die noch abgehende zu und mache ein Sekundenwerk aus der Stundenuhr, dann wird die nemliche Nadel, die vorher kaum in zwölf Stunden ihren Kreis endigte, Sekunden zeigen und in einer Minute weiter kommen als vorher in der Helfte des Tages.

6 Georg Simmel: Soziologie der Konkurrenz. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Frankfurt am Main 1995, S. 221–246. 7 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 16 2016, S. 198. 8 Lars Behrisch: Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in der Frühen Neuzeit. In: Arndt Brendecke u. a. (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Berlin 2008, S. 455–473, hier S. 64. 9 Christian Jacob von Zwierlein: Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte […]. Bd. 1. Berlin 1767, S. 29, das folgende Zitat ebd., S. 28 f.

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Als Zwierlein diese verblüffend modern anmutenden Gedanken publizierte, war der größte Uhrmacher der deutschen Rechtsgeschichte bereits seit zwölf Jahren tot. 1746 hatte der preußische Justizminister Samuel von Cocceji nach einem „in der Vernunft gegründeten Generalplan“10 damit begonnen, den Justizkollegien der Hohenzollernmonarchie ein neues Uhrwerk einzusetzen. Dessen Zeiger marschierten seitdem so mechanisch exakt über das Ziffernblatt wie Preußens Infanterie über das Schlachtfeld. Im Hintergrund wirkte ein Getriebe, das unter den gestrengen Augen des Ministers kontinuierlich Tabellen auswarf, durch die auf einen Schlag vergleichbar wurde, was seit Menschengedenken inkommensurabel gewesen war. Coccejis Zahlenwerk setzte nicht nur die preußischen Richter einem nach frühneuzeitlichen Maßstäben unerhörten Zeitdruck aus, sondern ließ – von Friedrich dem Großen sogleich in die Welt hinausposaunt – auch das Heilige Römische Reich noch älter aussehen, als es ohnehin schon war. Auf diese Weise beschwor Preußen auf dem Feld der Justiz eine neuartige Konkurrenzsituation herauf, deren dynamisierende Effekte die Ausbildung der modernen Gerichtsverwaltung in Deutschland und Österreich maßgeblich beeinflussten. Denn weil Zahlen bekanntlich nicht lügen, fing man wenig später auch anderen Orts an, die Produkte der Justiz nach preußischem Muster zu zählen. Selbst am altehrwürdigen kaiserlichen Reichshofrat kam man bald nicht mehr umhin, ständig irgendwelche Tabellen auszufüllen, obwohl sich bald herausstellen sollte, dass das Alte Reich kein politisches System war, das sich dem disziplinierenden Zugriff von Zahlen unterwerfen ließ. Sucht man nach der Mutter aller Justizrankings, landet man also früher oder später bei Coccejis Generalplan, der ohne die preußischösterreichische Konkurrenz vermutlich niemals realisiert worden wäre.11 Denn eigentlich war dieser Zahlenfetischist, dem stets etwas Unbedingtes anhaftete, seiner Zeit viel zu weit voraus. Noch 1739 war er nur ein alter Mann auf dem Abstellgleis gewesen. Doch dann kam erst der Krieg und dann noch einer, und der Krieg ist bekanntlich der Vater aller Dinge und Krise nur ein anderes Wort für Chance.

Die Ausgangslage: eine triadische Konkurrenz vom type ancien Bevor im Folgenden die Geburt der modernen Justizstatistik aus dem Geist einer triadischen Konkurrenzsituation des 18. Jahrhunderts analysiert werden kann, ist

10 Project des Codicis Fridericiani Marchici […]. Berlin 1748, Vorrede. 11 Ausführlicher Tobias Schenk: Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y. Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 137 (2020), S. 91–233, insb. S. 183–220.

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jene dezidiert vormoderne Ausgangslage zu beschreiben, die ab 1746 durch Statistiken gründlich umgekrempelt wurde. Das Wichtigste zuerst: Von einer preußischösterreichischen Staatenkonkurrenz modernen Zuschnitts, die auf dem Feld der Justiz ausgetragen worden wäre, kann vor 1740 noch keine Rede sein, denn primär trafen hier nicht zwei gleichrangige Staaten auf europäischem Parkett, sondern Kurfürsten und Kaiser innerhalb der hierarchischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches aufeinander. Auch war dieses Reich kein moderner Staat, sondern eine vormoderne Rechts- und Lehnsordnung, innerhalb derer der Kurfürst von Brandenburg diversen kaiserlichen Aufsichtsrechten unterlag. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Hohenzollern und Habsburger innerhalb des Reiches spätestens seit der Erhebung des souveränen Herzogtums Preußen zu einem Königreich im Jahr 1701 auf einen mit großer Härte ausgetragenen Systemkonflikt zusteuerten.12 Denn ganz gleich, was Friedrich III. noch als Kurfürst im Krontraktat mit der Hofburg vereinbart hatte: Als frisch gebackene Majestät konnte er der Welt nicht durch seinen Oberzeremonienmeister erklären, einzig und allein Gott den Allmächtigen für seinen „Lehns= und Ober=Herrn“13 zu halten und es dann im Anschluss gestatten, dass sich die Reichsgerichte in Appellationsprozessen ein Urteil darüber anmaßten, ob die Obergerichte der preußischen Reichsterritorien „wohl oder übel“14 Recht gesprochen hatten. Weil die Urteile sämtlicher preußischer Justizkollegien im Namen des Königs ergingen, bedeutete jede einzelne Anrufung der Reichsgerichte, so unbedeutend der Streitgegenstand auch sein mochte, einen unerträglichen Angriff auf die Grandeur der Krone. Denn in der Riege der europäischen Monarchen, auf deren Akzeptanz es nach 1701 vor allem ankam, galt Souveränität nicht als staatsrechtliches Abstraktum, sondern als ein der Person des Herrschers anhaftender sozialer Status.15 Solange die Justizaufsicht von Reichskammergericht und Reichshofrat in den preußischen Reichsterritorien nicht völlig am Boden lag,

12 Tobias Schenk: Reichspatriotismus? Friedrich Wilhelm I. im Spiegel der Reichshofratsakten. In: Frank Göse / Jürgen Kloosterhuis (Hg.): Mehr als nur Soldatenkönig. Neue Schlaglichter auf Lebenswelt und Regierungswerk Friedrich Wilhelms I. Berlin 2020, S. 113–145. 13 Johann von Besser: Preußische Krönungs=Geschichte […]. In: Peter-Michael Hahn / Knut Kiesant (Hg.): Johann von Besser (1654–1729). Schriften. Bd. 1. Heidelberg 2009, S. 173–335, hier S. 194. 14 Siehe zu diesem zeitgenössischen Juristendeutsch Ellen Franke: Bene appellatum et male iudicatum. Appellationen an den Reichshofrat in der Mitte des 17. Jahrhunderts an Beispielen aus dem Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis. In: Leopold Auer u. a. (Hg.): Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013, S. 121–145, hier S. 121. 15 André Krischer: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit. In: Jan-Paul Niederkorn u. a. (Hg.): Diplomatisches Zeremoniell in Europa und dem Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 1–32.

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liefen die Hohenzollern auf diplomatischem Parkett also als „defizitäre Souveräne“16 auf. Dieses nagende Defizit erklärt die Schärfe der insbesondere im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzung um das Rechtsmittel der Appellation, die 1727 durch einen informellen, vor der Öffentlichkeit geheim gehaltenen Deal vorläufig beendet wurde. Gegen die von Preußen zugesagte Unterstützung bei der diplomatischen Absicherung der Pragmatischen Sanktion erklärte sich die Hofburg bereit, am Reichshofrat geführte Verfahren mit preußischer Beteiligung diskret zu verschleppen und die Beschwerdeführer im Verein mit dem König zu Zwangsvergleichen zu nötigen. Potsdam und Wien kämpften auf dem Feld der Justiz also bereits vor 1740 mit harten Bandagen, wobei die Belange des Reiches zunehmend auf der Strecke blieben. Allerdings war dieses Ringen Teil einer triadischen Konkurrenzsituation vom type ancien. Denn jener Dritte, um dessen Gunst hier konkurriert wurde, hieß nicht Meier, sondern Bourbon oder Romanow. Auch kann keine Rede davon sein, dass bei diesem Buhlen um Magnifizenz Statistiken als Kommunikationsmedium eine Rolle gespielt hätten. Mit beckmesserischen Zahlen und Tabellen war in der europäischen Fürstengesellschaft, deren Ökonomie auf dem knappen Gut der Ehre basierte,17 kein Staat zu machen. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass quantifizierende Methoden seit dem frühen 18. Jahrhundert in diese vormoderne Justizwelt einzusickern begannen.18 Bereits 1713 forderte Friedrich Wilhelm von seinen Justizkollegien, jeden Prozess nach dem Vorbild Dänemarks und Norwegens innerhalb eines Jahres zu erledigen. Im Hintergrund stand die neue Leitdisziplin der Kameralistik, die auf eine engere Verbindung von Justiz, Ökonomie und Policey abzielte und der als Idealbild eine Staatsmaschine vorschwebte, in der „alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinander“19 passten. Von einem solchen System war man freilich nirgendwo weiter entfernt als auf dem Feld der Justiz, denn „der Staat“ hatte sich die Rechtsprechung noch gar nicht vollständig einverleibt. Es waren die Parteien, die die Justizkollegien mit ihren Prozessgebühren (Sporteln) vornehmlich finanzierten. Das ökonomische Kalkül von Anwälten und Richtern, die ihre Position häufig durch Ämterkauf erlangt hatten, war deshalb auf möglichst lange Verfahren gerichtet und

16 Lena Oetzel / Kerstin Weiand (Hg.): Defizitäre Souveräne: Herrscherlegitimation in Konflikt. Frankfurt am Main / New York 2018. 17 Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740). Darmstadt 2003. 18 Bereits im 16. Jahrhundert hatte es am Reichskammergericht bemerkenswerte Ansätze einer Erledigungsstatistik gegeben, die jedoch wieder einschliefen und hier nicht näher behandelt werden können. Siehe Anette Baumann: Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (1529–1588). Berlin / Boston 2018, S. 98–103, 209–234. 19 Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Chimären des Gleichgewichts von Europa. Altona 1758, S. 48.

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kollidierte frontal mit dem kameralistischen Anliegen, die Transaktionskosten in der Justiz zu senken, um auf diese Weise die Produktivität der Untertanen und die Steuereinnahmen des Staates zu erhöhen. Mit diesem Problem sah sich auch Cocceji konfrontiert, der unter Friedrich Wilhelm zunächst zum Präsidenten des Berliner Kammergerichts und 1738 zum Minister im kollegialisch besetzten Justizdepartement avancierte. Seine organisatorischen Ideen für ein neues Uhrwerk der Justiz kreisten um größere disziplinarische Befugnisse der Präsidenten gegenüber den Beisitzern, um die Einführung eines periodischen Berichtswesens und um die Kodifikation des materiellen Rechts. Mit manchem drang Cocceji bereits vor 1740 durch, nicht jedoch mit seiner Kernforderung, die Richterbesoldung unter weitgehender Abschaffung der Sporteln auf feste Bezüge umzustellen. Mit dem „Plusmacher“20 auf dem Thron war dies nicht zu machen. Für Cocceji muss dies in höchstem Maße frustrierend gewesen sein, denn all die Zahlen, die er erhob, konnten nur dann einen neuartigen „MachtWissen-Komplex“ (Foucault) generieren, wenn der Staat zugleich die Kontrolle über die materielle Existenz seiner Richter erlangte. Am Ende glich der Soldatenkönig deshalb Zwierleins Uhrmacher, der zwar den Schneckengang der Justiz beklagt, jedoch keine Vorstellung davon besitzt, wie die Räder und Federn angeordnet sein müssten, damit die Nadel in einer Minute weiterkommen kann als vorher in der Hälfte des Tages.

Der in der Vernunft gegründete Generalplan Samuel von Coccejis Vom Räderwerk der Justiz besaß auch Friedrich der Große nur schemenhafte Vorstellungen. Doch im Unterschied zu seinem Vater ließ er den Uhrmacher im Justizdepartement gewähren und erteilte ihm Carte blanche für eine zwischen 1746 und 1751 durchgeführte „Total-Reform“,21 welche bereits von Zeitgenossen als Revolution von oben wahrgenommen wurde. Die Umgestaltung stand in engem Zusammenhang mit dem unbeschränkten Appellationsprivileg, das der Preußenkönig dem bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht im November 1741 abgerungen hatte und das schließlich 1750 von Kaiser Franz I. ausgestellt und auf 1748 vordatiert wurde. Nicht de jure, sehr wohl aber de facto war damit in den preußischen Reichsterritorien die Justizaufsicht der Reichsgerichte nahezu vollständig ausgeschaltet und der oben beschriebene inoffizielle Deal von 1727 formalisiert worden. Für den Preußenkönig musste es nach dem Zweiten Schlesischen Krieg also darum gehen,

20 Jochen Klepper: Der Vater. Roman eines Königs. München 8 1995, S. 64. 21 So Cocceji 1746, zitiert nach Max Springer: Die Coccejische Justizreform. München / Leipzig 1914, S. 140.

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den Rechtszug an Reichskammergericht und Reichshofrat durch einen dreistufigen, auf das Berliner Obertribunal ausgerichteten Instanzenzug zu ersetzen. Doch der roi philosophe wollte mehr nur als eine Behördenreform: In Abkehr vom als schwerfällig geltenden römischen Recht des reichsgerichtlichen Verfahrens sollte dem preußischen Zivilprozess „ein neuer Geist, ein neues Ideal eingepflanzt werden“.22 Dabei ging es nicht ausschließlich, aber vornehmlich um Prozessbeschleunigung. Friedrich griff nämlich das äußerst ambitionierte Vorhaben seines Vaters wieder auf, jedes Verfahren innerhalb von zwölf Monaten zu erledigen – und zwar selbst dann, wenn zweimal Rechtsmittel eingelegt wurden, also insgesamt drei Instanzen tätig werden mussten. Gegenüber der Öffentlichkeit begründete der König dieses Vorhaben sozialpolitisch. Allerdings hatte der Monarch auch das Credo der Kameralisten internalisiert, wonach langwierige Prozesse das „HauptHinderniß blühender Gewerbe und einer lebhaften Circulation des Geldes“23 bildeten. Die 1746 einsetzende Justizreform markierte deshalb – worüber Friedrich weniger offen sprach – auch eine Ökonomisierung der Rechtsprechung und stand in engem Zusammenhang mit der restriktiven Fiskalpolitik, die der König in sicherer Erwartung des nächsten Krieges zur Finanzierung des Heeresausbaus betrieb. Cocceji errang beim König gegenüber seinen Widersachern im Justizapparat die Oberhand, indem er seine organisatorischen Fähigkeiten ganz in den Dienst der Prozessbeschleunigung stellte und diese mit einer bis dahin beispiellosen Härte in den Justizkollegien durchsetzte. Diese wurden innerhalb kürzester Zeit förmlich umgeschmolzen. In ein Beamtenverhältnis mit festen Bezügen nahm man nur diejenigen Räte auf, die unter ministerieller Aufsicht die Altverfahren zu einem festgesetzten Termin erledigt hatten. Wer das nicht schaffte, wurde in einer spektakulären Entlassungswelle vor die Tür gesetzt. Allein am Berliner Kammergericht verloren 11 von 24 Räten ihre Posten. Wer blieb und funktionierte, wurde zwar materiell belohnt, sah sich jedoch einem neuartigen Erledigungs- und Konkurrenzdruck ausgesetzt, den König und Ministerium mit Hilfe einer auf Quartalsberichten der Gerichtspräsidenten basierenden Generalprozesstabelle aufrechterhielten, die neben der Verfahrensdauer auch die Namen der beteiligten Räte erfasste. Dauerte ein Verfahren länger als zwölf Monate, drohten den Referenten Geldstrafen oder gar die Kassation. Und siehe da: Die halsstarrige Rechtsgelehrsamkeit, die den Soldatenkönig mit ihrem Schlendrian ein ums andere Mal zur Weißglut getrieben hatte, nahm Schritt auf. Allein in Pommern wurden 1747 rund 2400 Prozesse erledigt. 1749 verkündeten die drei Senate des Berliner Kammergerichts 2000 Urteile. Um

22 Martin Ahrens: Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung. Tübingen 2007, S. 84. 23 Art. Justiz. In: Johann Georg Krünitz (Hg.): Oekonomische Encyklopädie […]. Bd. 31. Berlin 1784, S. 861–947, hier S. 863.

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1750 gab es zwischen Kleve und Königsberg praktisch keine Altverfahren mehr. Wenn man sich vor Augen führt, dass der Reichshofrat zur selben Zeit etwa ein Dutzend Endurteile pro Jahr fällte, gewinnt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie diese Zahlen auf die Zeitgenossen gewirkt haben müssen.24 Niemals zuvor hatte es so etwas in Deutschland gegeben, und Preußen hielt damit nicht hinter dem Berg. Von Beginn an war die Justizreform als Schaufenster gegenüber einer europäischen Öffentlichkeit konzipiert, die nicht länger bloß die Monarchen umfasste, sondern die Untertanen, vor allem aber die Gesellschaft der Aufklärer, miteinschloss. Zahlen in die Auslage zu stellen, war ausgesprochen clever, wohnt ihnen doch eine „Objektivitätsaura“25 inne, die ihnen gegenüber der Sprache eine höhere Konsensfähigkeit verleiht und sie auch ohne Übersetzungsleistung „vergleichbar und kommunikativ anschlussfähig“ macht. Ob die preußische Infanterie wirklich so viel besser war als die österreichische oder ob sie im von Kontingenz geprägten Schlachtengetümmel nur öfter Glück gehabt hatte – wer vermochte das zu sagen? Dass aber die Preußen schneller schossen, dass sie fünf Salven in einem Zeitraum abgaben, in dem die Österreicher nicht einmal zwei zustande brachten,26 das konnte jeder bezeugen, der dabei gewesen und mit dem Leben davongekommen war. Kontingenz regiert seit jeher nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch vor Gericht. Niemals hätte der König beweisen können, dass die Urteile des Berliner Obertribunals fachlich auch nur um ein Jota „besser“ waren als diejenigen des Reichshofrats. Eines begriff jedoch jeder: Ein Jahr – fertig! Dies war die Unique Selling Proposition der Justizreform. Kritiker mochten sich zwar über die wichtigste Maxime preußischer Richter mokieren, die da laute: „Mach’s wie du wilst, nur kurz mus es seyn.“27 Sie konnten vor einer übereilten Justiz warnen, die nur noch für die Statistik arbeite und die Parteien aus prozessökonomischen Gründen zu Vergleichen dränge. Gegen die Tabellen, mit denen preußische Publizisten ihren Lesern die „Glückseligkeit“28 der Untertanen unter Friedrichs aufgeklärtem Szepter vor Augen führten, kamen sie nicht an. Die Erledigungszahlen machten nämlich „in ganz Deutschland großes Aufsehen, und einige Fürsten sandten ihre Rechtsgelehrten nach Berlin, um sich von der Kunst einer Methode, welche so etwas zu bewirken vermöge, genauer zu un-

24 Zahlenangaben nach Schenk: Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y, S. 205, 210. 25 Bettina Heintz: Zahlen, Wissen, Objektivität: Wissenschaftssoziologische Perspektiven. In: Andrea Mennicken / Hendrik Vollmer (Hg.): Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation und Gesellschaft. Wiesbaden 2007, S. 65–85, hier S. 79, das folgende Zitat ebd., S. 69. 26 Tim Blanning: Friedrich der Große. König von Preußen. Eine Biographie. München 2018, S. 326. 27 So eine Stimme aus Baden um 1780, zit. n. Paul Lenel: Badens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738–1803. Karlsruhe 1913, S. 112. 28 Johann Friedrich Seyfart: Teutscher Reichsproceß […]. Halle 2 1756, Vorrede.

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terrichten.“29 Das Londoner „Gentleman’s Magazine“ feierte Cocceji als „such a great minister“,30 und selbst aus Dublin schallte es dem König entgegen: „great work“!31 Voltaire sekundierte: „Man muß diesen Salomo in seiner Gloire gesehen haben“!32 Auf dieser von Zahlen unterfütterten Welle wollten auch andere reiten. 1758 führte man in Württemberg Prozesstabellen nach Berliner Muster ein,33 und wenige Jahre später griff das juristische „Tabellisiren“34 auch auf die Markgrafschaft Baden über. Besonders eifrige Schüler fand Cocceji jedoch in Wien. Schon 1749 war bekannt geworden, dass Maria Theresia angeordnet hatte, nach preußischem Vorbild eine neue Prozessordnung zu erarbeiten, um die Erledigung aller Verfahren innerhalb von zwölf Monaten zu gewährleisten.35 Dass der österreichische Leviathan Erledigungsdruck ebenso aufzubauen verstand wie sein preußischer Lehrmeister, demonstrierte die im gleichen Jahr als oberste Revisionsinstanz der Erblande gegründete Justizstelle, die Rechtsmittelverfahren bald ebenfalls in Jahresfrist abschloss.36 15 Jahre später war Joseph II. der Ansicht, dass auch am Reichshofrat gelingen müsse, was beim Berliner Obertribunal und der Obersten Justizstelle so großartig funktioniert hatte. Der Korruption wurde in drakonischen Reskripten der Kampf angesagt, und der Präsident, den Josephs Vorgänger im Kaiseramt schon fast aus den Augen verloren hatten, musste fortan allwöchentlich vor dem Reichsoberhaupt über den Fortgang der anhängigen Verfahren berichten. Auch „tabellisiert“ wurde eifrig. Ein durchschlagender Erfolg blieb der Reichshofratsreform der 1760er Jahre jedoch versagt, da der ohnehin sprunghafte junge Kaiser in der Phase der Mitregentschaft nicht über die Hausmacht verfügte37 und sich rasch in Auseinandersetzungen mit den Reichshofräten, dem Reichsvizekanzler und dem Mainzer Erzkanzler verstrickte. Das Heilige Römische Reich war eben kein Leviathan. Wenn diesem System eines noch zum Untergang gefehlt hatte, so war dies eine ökonomisierte Logik von

29 Christian Wilhelm von Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit […]. Bd. 4. Lemgo / Hannover 1819, S. 353. 30 The Gentleman’s Magazine 20 (1750), S. 215–218. 31 The King of Prussia’s Plan for Reforming the Administration of Justice, […]. Dublin 1750, S. 6. 32 Voltaire am 24.07.1750 an d’Argental, zit. n. Jürgen Luh: Der Große. Friedrich II. von Preußen. München 2014, S. 103. 33 August Ludwig Reyscher (Hg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 6. Tübingen 1835, S. 526–528. 34 Karl Wilhelm von Drais: Geschichte der Regierung und Bildung von Baden unter Carl Friederich vor der Revolution. Bd. 2. Karlsruhe 1818, S. 104 f. 35 Christian Friedrich Hempel: Königlich Preußisches Allgemeines Processual-Lexicon […]. Bd. 1. Halle 1749, Vorrede. 36 Gernot Kocher: Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation. Wien u. a. 1979, S. 46. 37 Bettina Braun: Eine Kaiserin und zwei Kaiser. Maria Theresia und ihre Mitregenten Franz Stephan und Joseph II. Bielefeld 2018, S. 211–230.

„Ökonomisierung der Zeit“

Kameralisten, die damit begannen, das Ganze einmal durchzurechnen. Der Weg in die moderne Disziplinargesellschaft, den preußische und österreichische Richter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts antraten, blieb dem Reichshofrat versperrt.

Bilanz Die friderizianische Justizreform, die der preußisch-österreichischen Staatenkonkurrenz entscheidende Impulse verdankte, ist in vielerlei Hinsicht Episode geblieben. Dies gilt neben dem materiellen auch für das Prozessrecht, das reichsweit mit der Zivilprozessordnung von 1877 nicht nach preußischem, sondern nach hannoverschem Muster vereinheitlicht wurde. Überdauert hat indes die von Cocceji exekutivisch konzipierte Gerichtsverwaltung, die sich in den Gerichten auf die Präsidenten stützt und diesen die Disziplinaraufsicht über die Beisitzer und das Berichtswesen überträgt. All dies wurde in das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 übernommen und gilt – wenngleich durch das Gewaltenteilungsprinzip erheblich gezähmt – noch heute. Gekommen, um zu bleiben, ist auch die Justizstatistik. Sie erhöhte den Konkurrenzdruck zwischen adeligen und bürgerlichen Beisitzern und beschleunigte auf diese Weise die Verbürgerlichung und Professionalisierung der Justizkollegien, die sich in Preußen nicht von ungefähr erheblich früher vollzog als anderswo in Deutschland.38 Auch jene ungeheure vergesellschaftende Wirkung von Konkurrenz, die bereits Simmel beobachtete, ließ in der preußischen Justiz nicht lange auf sich warten. 1779 musste Friedrich der Große erleben, dass sich das Berliner Kammergericht im Prozess des Müllers Arnold unter Berufung auf seine juristische Expertise dem Willen des Monarchen widersetzte.39 Modern waren König und Minister auch insofern, als sie die gerichtliche Verfahrensdauer erstmals und mit großem publizistischem Erfolg zum Argument im Staatenwettbewerb machten und auf diese Weise einen Wettstreit um Effizienz eröffneten, von dem absehbar war, dass ihn das Alte Reich nur verlieren konnte. Hierzu setzten sie genau jene machtgesättigten „Verschiebungen im Zeitwissen“40 der Justiz in Gang, auf denen die „Erledigungsstärke“ der Gerichtsbarkeit noch heute beruht.

38 Rolf Straubel: Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740–1806). Berlin 2010. 39 Hierzu etwa Monika Wienfort: Gesetzbücher, Justizreformen und der Müller-Arnold-Fall. In: Bernd Sösemann / Gregor Vogt-Spira (Hg.): Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, 2 Bde. Stuttgart 2012, hier Bd. 2, S. 33–46. 40 Begriff nach Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2014, S. 273.

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Der soziologische Konkurrenzbegriff vermag deshalb nicht nur den Blick für jene dynamisierenden Effekte zu öffnen, die durch die preußisch-österreichische Rivalität hervorgerufen wurden und weit über den militärischen Bereich hinausreichten. Er verhilft der Frühneuzeitforschung auch zu einem klaren Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz ihres Untersuchungsgegenstandes. Denn mit Geschwindigkeit wird im ökonomisierten Staat unserer Tage mehr denn je gebuhlt. In der aktuellen Diskussion um die potentiellen Auswirkungen dieser Entwicklung auf die gerichtliche Praxis zeigen sich frappierende Gemeinsamkeiten mit der Auseinandersetzung um die friderizianische Reform vor zweieinhalb Jahrhunderten. Den foucaultschen Punkt, an dem „die größte Schnelligkeit mit der höchsten Wirksamkeit eins ist“, werden die Justizministerien mit PEBB§Y und EU-Justizbarometer freilich ebenso wenig erreichen wie Friedrich der Große mit seiner Generalprozesstabelle. Denn als autonomes soziales System benötigt ein Gerichtsverfahren Zeit zur Informationsverarbeitung, so dass die „Zeitplanungen der Gerichte mit denen ihrer Umwelt nicht koordinierbar“41 sind. Die Zeiger der Justiz gehen deshalb stets zu langsam. Schon nach 1763 konnten die preußischen Kollegien nicht mehr jenes Tempo halten, das sie um 1750 vorgelegt hatten, als ihnen der Schrecken der Entlassungen noch in den Knochen steckte. Am Ende stieß somit auch Coccejis in der Vernunft gegründeter Generalplan an die Grenzen menschlicher Unzulänglichkeit: „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ‘nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“42

41 Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 11 2019, S. 70. 42 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Berlin 46 2019, S. 77.

Gabriele Haug-Moritz

Kommentar

Konkurrenz als heuristisches Instrument zu nutzen, um den deutschen Dualismus als ein altüberkommenes historiographisches Konstrukt neu zu beleuchten, war das Ziel der Beiträgerin und der Beiträger dieser Sektion des Sammelbandes. Deutscher Dualismus ist ein Deutungsmuster, das von der borussischen Geschichtswissenschaft propagiert wurde, um die mitteleuropäische Geschichte seit dem 16. Jahrhundert zu erklären. Ihren Protagonisten, allen voran Heinrich von Treitschke, erschien die neuzeitliche Geschichte dieses Raumes, den sie auf den Begriff deutsch brachten, vom Kampf zweier sich ausschließender politischer und kultureller Prinzipien geprägt, hier des preußisch-protestantisch-effizienten und rationalen, da des österreichisch-katholisch-gemütlichen und bigotten. Mit Gründung des kleindeutschen Nationalstaates hatte Ersteres endgültig obsiegt, sich der historische Telos erfüllt. Alle Aufsätze geben zu erkennen, dass eine solche Sichtweise heutige Historikerinnen und Historiker nicht mehr überzeugt. Wie wenig es aber bislang gelungen ist, eine neue, sich von der dichotomischen Betrachtungsweise lösende historiographische Sichtachse zu gewinnen, zeigt die zeitliche Konzeptualisierung dieses Konstrukts. Es charakterisiert noch immer die Dezennien, in denen es schon bei den Zeitgenossen begegnet, worauf Thomas Biskup aufmerksam macht. Nicht nur in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft firmiert das halbe Jahrhundert des verlustreichen Kampfes der „mütterlichen“ Maria Theresia (1740–1780) mit dem heroischen und siegreichen Friedrich, der Große genannt (1740–1786), unter diesem Etikett. Folgerichtig ist sie es, auf die alle Beiträge fokussieren. Den österreichisch-preußischen Machtgegensatz, so die gängige Auflösung des Dualen, mit soziologischen Konkurrenztheorien1 in Augenschein zu nehmen, erscheint mir aus mehreren Gründen weiterführend. 1. Dieser Zugang erlaubt es, worauf Bettina Braun eingangs aufmerksam macht, die statische Struktur- in eine dynamische Beschreibungskategorie zu transformieren. Denn Konkurrenz ist definitorisch dadurch bestimmt, dass die Beteiligten – in den Beiträgen begegneten als Beteiligte die Monarchen und Funktionseliten der composite monarchies der

1 Zuletzt mit der einschlägigen Literatur Tobias Werron: Form und Typen der Konkurrenz. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Düsseldorf 2019, S. 17–44; Ders.: Konkurrenz. In: Hans-Peter Müller / Tilman Reitz (Hg.): SimmelHandbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Frankfurt am Main 2018, S. 316–320.

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Häuser Österreich und Brandenburg – ihre Ziele vergleichen und zugleich unterstellen, dass derjenige bzw. diejenigen, mit denen man sich vergleicht, das identische Ziel verfolgen, nämlich das, sich knappe Güter anzueignen, seien sie materieller oder immaterieller Natur. 2. Knappheit ist definitorisch nur eine notwendige, aber keine hinlängliche Bedingung, um eine Konkurrenzbeziehung zu postulieren. Konkurrenz liegt nur dann vor, wenn sie von den Konkurrenten als Nullsummenspiel konzeptualisiert wird, wodurch Konkurrenz von anderen kompetitiven Formen wie Wettbewerb oder Rivalität unterscheidbar wird. 3. Und schließlich lassen sich zwei Grundformen von Konkurrenz unterscheiden, die dyadische und die triadische. Dyadisch erscheint Konkurrenz dann, wenn Knappheit ohne Beteiligung Dritter plausibel ist, weil sie dem knappen Gut selbst innewohnt, wie es z. B. der Fall ist, wenn es sich um Land, Soldaten oder standesgemäße Ehepartner handelt. Hiervon zu unterscheiden sind Formen der Konkurrenz, für die ein Dritter in Gestalt eines Publikums zwingend erforderlich ist, weil es dieses Publikum ist, das die Knappheit „erzeugt“, so z. B. wenn es um Anerkennung, Prestige oder Reputation geht. Steht es bei Ersterer, der dyadischen Konkurrenz, im Ermessen der Akteure, aus der Konkurrenzkonstellation auszusteigen resp. sie zu eskalieren, so bei Letzterer nicht, denn nicht sie sind es, sondern der Dritte ist es, der die Situation definiert. Es ist diese Unterscheidung einer dyadischen von einer triadischen Konkurrenz, die mir heuristisch besonders fruchtbar erscheint. Ihr gilt im Folgenden meine besondere Aufmerksamkeit, wenn es gilt, die Beiträge kommentierend Revue passieren zu lassen. Als einen eigenständigen Typus von Konkurrenz, als Konkurrenz vom type ancien, charakterisiert Tobias Schenk die Konkurrenz in der europäischen société des princes et des princesses. In den Diplomaten und ihren sich allmählich verstetigenden wechselseitigen Beobachtungen, über die Bettina Braun am französischen Beispiel berichtet, gewinnt sie maßgeblich Gestalt. Solange Rang als universale und allumfassend lineare Skala gedacht wird, die jedwede Form der Knappheit im Lichte von gloire und splendeur verglich,2 weisen Rivalität und Wettbewerb eine systemische Nähe zur Konkurrenz auf. Dass das knappe Gut der Ehre, des Ruhms und Rangs – Frank Göses Ausführungen machen dies deutlich – im gemeinsamen Wertekanon der europäischen Adelsgesellschaft verankert war, plausibilisierte zugleich die Unterstellung, dass alle das Identische anstrebten. Konkurrenz ist demzufolge, so Thomas Biskup, multipolar und vergemeinschaftend, sie unterliegt allerdings, wie alle Aufsätze zeigen, Konjunkturen und weitreichenden Veränderungen.

2 Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014, S. 197–227.

Kommentar

Forschung wie Vorträge deuten darauf, dass die 1740er Jahre in den Beziehungen der Häuser Österreich und Brandenburg die Zäsur sind, als die sie seit dem 19. Jahrhundert vorgestellt werden, freilich weniger deswegen, weil Friedrich II. in Schlesien obsiegte, sondern deswegen, weil dieser Sieg bei Akteuren wie Publikum den Beobachtungsmodus von Wirklichkeit dauerhaft veränderte. Für den unterlegenen Wiener Hof war der Krieg ein „gewaltsamer Lehrer“ (Langewiesche), sah man sich doch genötigt, in einen Leistungsvergleich einzutreten, auch und gerade deswegen, weil Dritte, wie wiederum am Beispiel der französischen Diplomatie gezeigt, im Laufe dieses Jahrzehnts die vielen asymmetrischen Konkurrenzen der Fürstengesellschaft des Reiches immer mehr in einer Konkurrenz, der österreichisch-preußischen, aufgehen sahen. Konkurrenz als Modus der Selbst- und Fremdbeobachtung zu begreifen, deren wechselseitiges Aufeinander-Bezogensein zu analysieren und dieses zu verzeitlichen, schiene mir als eine Möglichkeit, an die vorgelegten Beiträge anschließend und diese weiterführend, den deutschen Dualismus systematisch weiter zu denken. Täte man dies, so stieße man auf einen weiteren systematischen Gesichtspunkt, für den uns auch unsere Gegenwart, jetzt unter dem Stichwort „globalisierte Konkurrenz“ verhandelt, sensibilisiert – auf die essentielle Bedeutung der Arenen der Konkurrenz, wobei Arena im räumlichen wie im übertragenen Sinn zu verstehen ist. Eine dieser Konkurrenzarenen im letztgenannten Sinn klang im Vortrag von Tobias Schenk an – das weite Feld der Reichsjustiz mit seinen Orten Wien, Wetzlar und, allen voran, Regensburg. Auf dem Regensburger Reichstag nämlich gelang es dem Kurfürsten von Brandenburg seit 1699 immer mal wieder, wenn auch nie dauerhaft, dem Publikum erfolgreich Konkurrenz mit dem kaiserlichen Reichsoberhaupt zu suggerieren. Denn ebenso singulär wie Kurbrandenburg mit dem Erzhaus nach 1648 um die Appellationen focht (Schenk), ebenso radikal gebärdete es sich auf dem Reichstag, um sich als Schutzmacht der evangelischen Reichsstände und, wichtig, deren Untertanen wider die Anmutungen der kaiserlich-katholischen Reichstagsmehrheit zu präsentieren (Biskup). Dass die brandenburgischen Kurfürsten, im Zusammenspiel mit Kurhannover-England, seit den 1720er Jahren die Konkurrenzarena Reichstag immer erfolgreicher bespielten und es ihnen seit 1750 immer häufiger gelang, die Konkurrenzsuggestion in eine faktische Konkurrenz zu überführen, steht auch im Zusammenhang mit einem weiteren Aspekt, der mir als Zugewinn einer konkurrenztheoretischen Perspektive auf den deutschen Dualismus erscheint. Dass man sich zwar, wie z. B. Brandenburg-Preußen, in eine Konkurrenzsituation gestellt sehen kann, dass man sich dem Publikum gegenüber um den Preis, nicht als konkurrenzfähig wahrgenommen zu werden, dieser aber auch entziehen kann, hat Thomas Biskup am Beispiel des brandenburgisch-preußischen Hofes und Bettina Braun am Beispiel der Wahrnehmungen der französischen Diplomatie demonstriert. Nicht zuletzt diese mangelnde Konkurrenzfähigkeit, anders formuliert:

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die preußische Rivalität mit Österreich, nicht die Konkurrenz, war es auch gewesen, die es dem Haus Österreich auf dem Reichstag in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlaubt hatte, die brandenburgisch-preußische Konkurrenzsuggestion zu ignorieren. Doch wenn man sich, wie das Haus Österreich 1742, gezwungen sieht, sich im Modus der Konkurrenz zu vergleichen, auch und gerade, weil Dritte sich diesen Beobachtungsmodus zu eigen machen, dann ist man genötigt – und das ist entscheidend –, sich nach identischen Kriterien zu vergleichen. Dies aber zeitigt paradoxe Folgen: Zum einen wirkt triadische Konkurrenz, wie schon Georg Simmel feststellte, vergemeinschaftend und evoziert, wie Frank Göse am Beispiel des Militärs und Tobias Schenk am Beispiel des Gerichtswesens zeigen, strukturell identische Lösungen. Zum anderen aber ist derjenige, der sich, im Falle Österreichs nolens volens, auf den Leistungsvergleich einlassen muss, zugleich genötigt, sich die Felder – Stichworte: Ökonomie, Bürokratie, Justiz, Militär – auf denen der Leistungsvergleich stattfindet, sowie die Modalitäten – Stichworte: Generalplan / (Justiz-) Statistiken und das „Tabellisiren“ als formalisierte Form der Praktiken des Zählens – zu eigen zu machen. Wer sich aber auf den gleichen Feldern, nach den gleichen Maßstäben und in den identischen Formen vergleicht, der anerkennt implizit auch die Prämissen, auf denen der Vergleich beruht – Stichworte: die Herrschaft der Vernunft und des vernünftigen Herrschers, das Medium der Zahl und die Praktik des Zählens –, und beglaubigt sie, indem er sie übernimmt, in ihrer Validität. Das Totengespräch des Jahres 1786, das Thomas Biskup einleitend anführt, kündet davon, dass am Ende des hier untersuchten Zeitraums sich Macht nicht mehr (nur) im Code der Ehre, sondern im Code der Zahlen und der Zeit buchstabierte, nicht mehr der Hof, sondern die Statistik zum Kommunikationsmedium von Macht geworden war. Am Beispiel des österreichisch-brandenburgischen Machtgegensatzes, der sich in der untersuchten Zeit von höfischer Rivalität in Machtkonkurrenz transformierte, aber eröffnet diese Einsicht eine Interpretationsperspektive, die Konkurrenz als einen der Motoren des fundamentalen historischen Wandels erweist, der für die Sattelzeit kennzeichnend ist. Gerade Machtkonkurrenz leistet dem Wandel hin zu einer funktional differenzierten gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihren neuen funktional differenzierten Konkurrenzen und unterscheidbaren Konkurrenzformen Vorschub, wie sie uns heute beispielsweise in Gestalt von Justiz- und Hochschulrankings begegnet. So betrachtet aber wäre Konkurrenz nicht nur für das Verständnis des deutschen Dualismus, sondern auch für das Verständnis historischen Wandels ein eminent fruchtbares Konzept. Den Konjunktiv verwende ich bewusst, denn auch diese Einschätzung wäre, so meine ich, des weiteren Nachdenkens und Diskutierens wert.

Sektion 11: Gelehrte Konkurrenzen

Julia A. Schmidt-Funke

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

Dass Konkurrenz ein allgegenwärtiges Phänomen in der heutigen Wissenschaft ist, bedarf keiner weiteren Belege – zu verbreitet sind kompetitive Situationen im Forschungsalltag und zu gewollt ist der Wettstreit um Geld und Renommee in der aktuellen Wissenschaftspolitik. Bestenauslese und Wettbewerb werden zum Prinzip erhoben, Neid und Missgunst entstehen unter diesen Bedingungen schnell,1 und die Konkurrentenklage schwebt bedrohlich über jedem Berufungsverfahren. Als lebensweltlich anschlussfähiges Thema mit hohem Identifikationspotential ist Konkurrenz deshalb mehrfach von der Wissenschaftsgeschichte aufgegriffen worden. Die Nähe des Forschungsthemas zum eigenen Erleben gemahnt allerdings auch zur Vorsicht und birgt die Gefahr, Konkurrenz als universales Prinzip vorauszusetzen.2 In analytischer Absicht tun wir sicher besser daran, ihre Existenz in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur erst einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Zwar war die Welt frühneuzeitlicher Gelehrter keineswegs arm an Konflikten. Die Publikationen dieser Zeit sind voll von Polemiken, und zuweilen kam es sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen bis hin zum Duell.3 Aber gerade weil die jüngere Forschung gezeigt hat, dass die Gelehrtenstreite wichtige epistemische und soziale Funktionen besaßen, greift es zu kurz, sie einfach als Konkurrenz „entlarven“ zu wollen. Vielmehr gilt es sorgfältig zu prüfen, inwiefern heutige Vorstellungen von Konkurrenz für die frühneuzeitliche Gelehrsamkeit zutreffend sind.4

1 Vgl. Katja Corcoran / Jan Crusius: Das tut weh, aber motiviert auch. Neid an der Universität. In: Forschung & Lehre 26/9 (2019), S. 836 f. 2 Die historische Wandelbarkeit von Konkurrenz- und Wettbewerbsphänomenen betont Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014, S. 33–57, hier S. 35. 3 Vgl. Sebastian Kühn: Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700. Göttingen 2011, S. 163 f. u. 253 f. 4 Dafür plädiert auch Gerhard Wiesenfeldt: Different Modes of Competition? Early Modern Universities and Their Rivalries. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 24 (2016), S. 125–139.

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Auf der Suche nach der Konkurrenz Einschlägige Konflikte sind von der wissenschafts- bzw. wissensgeschichtlichen Forschung in verschiedenen Zusammenhängen untersucht worden. So spielt die Frage der Konkurrenz in die kulturgeschichtlich erweiterte Sozialgeschichte des Gelehrtenstands hinein. Auseinandersetzungen zwischen Gelehrten sowie zwischen Gelehrten und Ungelehrten sind hier vorrangig als soziale Positionierungen bzw. als Status- und Ehrkonflikte in der ständischen Ordnung der Frühen Neuzeit beschrieben worden.5 Ebenso sind in einer stärker werkbezogenen Analyse kompetitive Situationen, divergierende Positionen und invektive Rhetoriken frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit untersucht worden.6 Die Forschung hat aufgezeigt, dass in der Polemik des Gelehrtenstreits wissenschaftliche Legitimationsund Delegitimationsstrategien greifbar werden, die auf Professionalisierungs- und Disziplinbildungsprozesse verweisen.7 Mehrfach sind zudem Marginalisierungen thematisiert worden, denen die Abgrenzung bzw. Ausgrenzung von Amateuren und gelehrten Frauen, von Technikern und Gehilfinnen zugrunde lagen.8 Damit in enger Verbindung stehen Untersuchungen zu einer Hierarchisierung der Orte, an denen frühneuzeitliche Gelehrsamkeit ihren Platz hatte bzw. haben sollte.9 Berücksichtigung fanden überdies institutionelle Rivalitäten.10 5 Vgl. Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. 6 Vgl. u. a. Hans-Dietrich Dahnke / Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Berlin 1989; Kai Bremer / Carlos Spoerhase (Hg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt am Main 2011; Dies. (Hg.): „Theologisch-polemisch-poetische Sachen“. Gelehrte Polemik im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2015. Vgl. jetzt auch die Arbeiten des Dresdner Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“. Vgl. hierzu Gerd Schwerhoff: Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept. In: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36, hier bes. S. 8–10 u. 24 f. 7 Vgl. Martin Mulsow / Frank Rexroth (Hg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt am Main 2014; Michael Multhammer (Hg.): Verteidigung als Angriff. Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs. Berlin / Boston 2015. 8 Klassisch dazu Steven Shapin: The Invisible Technician. In: American Scientist 77 (1989), S. 554–563; Londa Schiebinger: The Mind Has No Sex? Women in the Origins of Modern Science. Cambridge (MA) 1989. 9 Vgl. grundlegend Adi Ophir / Steven Shapin: The Place of Knowledge. A Methodological Survey. In: Science in Context 4 (1991), S. 3–21; ferner Mitchell G. Ash: Räume des Wissens. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235–242. 10 Vgl. bspw. neben Wiesenfeldt, Different Modes, die Beiträge der Sektion „Konkurrieren“ in Elizabeth Harding (Hg.): Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2016.

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

Die Beschäftigung mit gelehrter Konkurrenz findet also vielfältige Anknüpfungspunkte – und dennoch bleibt es schwer, Konkurrenz in der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit dingfest zu machen, da von ihr (zumindest im Deutschen) erst im ausgehenden 18. Jahrhundert gesprochen wurde.11 Das Zedlersche UniversalLexicon kennt den „concurrent“ nur als „Mitläuffer, Mitwerber, Mit-Erben [,] Mitgläubiger“, das heißt im ökonomischen, kredit- und erbrechtlich relevanten Sinn.12 Da ein umfassender, über den wirtschaftlichen Kontext hinausweisender Konkurrenzbegriff erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts von den französischen Physiokraten propagiert wurde, überrascht dies in keiner Weise.13 Erwartungsgemäß kommt der Begriff daher auch nicht in dem ausführlichen Zedler-Eintrag über die gelehrte Polemik der „Streit-Schrifften“ vor, in der zwar von Gegnerschaft und Zank, nicht aber von Konkurrenz zu lesen ist.14 Erst an der Wende zum 19. Jahrhundert stellt sich die Situation anders dar. Goethe beispielsweise benutzte den Begriff der Konkurrenz ebenso für den Wettbewerb der seit 1799 stattfindenden Weimarer Kunstausstellungen wie für die Universitäten. Er sprach von Konkurrenz, um die Position eines einzelnen Fachvertreters in seiner Disziplin zu beschreiben oder den Erfolg eines Vorlesungsangebots einzuschätzen.15 Da es sich bei Konkurrenz also nicht um einen Quellenbegriff handelt, kann er von der Forschung zunächst nur als analytischer Terminus bzw. als eine Perspektive auf das Mit- und Gegeneinander von Gelehrten genutzt werden. Prinzipiell sind gelehrte Konkurrenzen auf vielen Ebenen denkbar. Als eine „Normenkonkurrenz“16 hinsichtlich der wissenserwerbenden und wissensordnenden Praktiken könnte man unterschiedliche Methoden, Denkrichtungen und Schulen, divergierende Modelle, Systeme und Paradigmen begreifen. Normenkonkurrenz wäre aber ebenso auszumachen in konfligierenden Vorstellungen zum Betragen der Gelehrten und

11 Vgl. Hans-Michael Empell: Vom Recht zur Ökonomie. „Konkurrenz“ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten. In: Thomas Kirchhoff (Hg.): Konkurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven. Bielefeld 2015, S. 37–62, hier S. 57. 12 Vgl. Art. Concurrens. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 6. Halle / Leipzig 1733, Sp. 915. 13 Vgl. Empell, Vom Recht zur Ökonomie, S. 53 f. 14 Vgl. Art. Streit-Schrifften. In: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 40 (1744), Sp. 920–925. 15 Vgl. Kerstin Güthert: Konkurrenz, „Concurrenz“. In: Goethe-Wörterbuch, hg. v. der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5. Stuttgart 2011. URL: http://gwb.unitrier.de/ (29.09.2020). 16 Vgl. Hillard von Thiessen: Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang der Moderne. In: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hg.): Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Berlin 2015, S. 241–286.

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zu ihrem Umgang miteinander, also all das, was heute als „gute wissenschaftliche Praxis“ bezeichnet wird.17 Daneben drängt sich der Gedanke an eine Konkurrenz um Ressourcen auf. Diese könnte den Zugang zu Materialien betroffen haben, die gelehrtes Wissen tradierten oder an die sich empirische Beobachtungen knüpften: Bücher, Handschriften, Münzen, Siegel, Naturalien, antike Plastiken etc. In der Regel war dies mit dem Zugang zu bestimmten Räumen des Wissens verknüpft: dem Archiv, der Bibliothek, der Sammlung, dem Labor oder dem „Feld“. Konkurrenz könnte auch hinsichtlich des Zugangs zu bzw. der Verfügung über Personen bestanden haben, welche ein spezifisches Wissen besaßen oder spezifische Methoden beherrschten – dies konnten Einzelpersonen wie der Professor, der Techniker oder die Assistentin sein oder aber Gruppen wie Gelehrte Gesellschaften und Korrespondenznetzwerke. Konkurrenz kann es auch um Finanzierungs- und Publikationsmöglichkeiten gegeben haben, was in der Frühen Neuzeit vielfach unmittelbar an Personen geknüpft war: an die freigiebige Mäzenin, den obrigkeitlichen Auftraggeber, den aufgeschlossenen Verleger oder den interessierten Zeitschriftenherausgeber. Dies war einerseits mit dem Zugang zu finanziellen Ressourcen, die das Arbeiten überhaupt erst ermöglichten, und zum anderen mit Sichtbarkeit verbunden, die ihrerseits Bekanntheit und/oder Renommee hervorbrachte. Naheliegend ist auch die Konkurrenz um das zahlende Publikum, das es für gebührenpflichtige Vorlesungen, Vorträge und Kollegia ebenso zu interessieren galt wie für die neuesten Verlagsprodukte. Außerdem lassen sich eine Reihe von Faktoren annehmen, die das Geschehen beeinflussten: Stand, Geschlecht, Alter, Ausbildung, Religion/Konfession, institutionelle und disziplinäre Zugehörigkeit, regionale oder nationale Identität, oder auch Faktoren wie Abwesenheit und Anwesenheit, Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Schließlich kann über die Folgen von Konkurrenz nachgedacht werden. Hatte sie Auswirkungen auf die Wissensproduktion? Führte sie zu einer Dynamisierung oder einer Innovation der Methoden? Wirkte sie beschleunigend oder lähmend? Von Interesse wären ferner die von Simmel als zentral erachteten Schiedsrichter18 bzw. denjenigen, die eine Entscheidung herbeiführten, entweder in parteilicher oder unparteilicher Form. Fragen produziert die Perspektive der Konkurrenz mithin genug, und in all den hier skizzierten Situationen lohnt es sich darüber nachzudenken, ob es bzw. welche Konkurrenzsituationen es gegeben haben könnte, wie sie wahrgenommen und moderiert wurden. Eine Analyse des jeweils konkreten Falls kann dann Auf-

17 Vgl. Leitfaden zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Kodex, hg. v. der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bonn 2019. URL: https://doi.org/10.5281/zenodo.3923602 (27.10.2020). 18 Vgl. Hölkeskamp, Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus, S. 34.

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

schluss darüber bringen, ob tatsächlich von Konkurrenz zu sprechen ist bzw. welche Umstände genau mit diesem Begriff beschrieben werden sollen.

Konkurrenznormen und Normenkonkurrenz in der Gelehrtenrepublik Die moderne Soziologie etablierte Konkurrenz als normatives Konzept, welches Chancengleichheit und freien Wettbewerb voraussetzte.19 Dies war, wenngleich als Idee prinzipiell bekannt, gerade nicht das primäre Ordnungsprinzip der Frühen Neuzeit,20 weshalb Barbara Stollberg-Rilinger den allerorten anzutreffenden Rangstreit auch als eine „Konkurrenz wider Willen“ bezeichnet hat.21 Sah dies in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik anders aus? Nach den Bekundungen der Gelehrten (oder zumindest einiger Wortführer) sollten in ihr tatsächlich abweichende Regeln gelten. So definierte Pierre Bayle die Gelehrtenrepublik 1696 als einen Raum, in dem Stand, Seniorität oder Verwandtschaft keine Rolle spielen sollten und in dem sich jeder mit jedem im Kriegszustand befände.22 Bayle befürwortete eine Arena der Argumente, in der sich Vernunft und Wahrheit über kurz oder lang behaupten würden.23 Doch selbstverständlich war dies nur ein Ideal, und ebenso selbstverständlich spielten Rang, Name und Ehre im Miteinander der Gelehrten trotzdem eine Rolle. Letztlich blieb die frühneuzeitliche Gelehrtenrepublik in der ständischen Ordnung verankert. Zudem existierte ein Normengerüst, welches das freie Spiel der Kräfte begrenzte und das möglicherweise umso mehr an Bedeutung gewann, je mehr die korporativen Hierarchien an Bedeutung verloren und sich die Marktorientierung der 19 Vgl. ebd., S. 34–37. 20 Gleichwohl gilt es zu differenzieren und die Frühe Neuzeit nicht einfach als wettbewerbsferne traditionale Gesellschaft zu klassifizieren. Vielmehr wären die in der Soziologie zumeist nur vage eingeordneten Prozesse und Tendenzen genauer zu datieren. Vgl. bspw. Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Leviathan 34 (2006), S. 82–104, der von einem „nach und nach“ (ebd., S. 85) spricht und die Ausbildung des „Westfälischen Systems“ als Zäsur ansetzt (ebd., S. 86). 21 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz in der Geschichte, S. 197–227, hier S. 198. 22 Vgl. Pierre Bayle: Dictionaire historique et critique. Bd. 2. Amsterdam 5 1740, S. 102. Vgl. dazu Carlos Spoerhase / Kai Bremer: Rhetorische Rücksichtslosigkeit. Problemfelder der Erforschung gelehrter Polemik um 1700. In: Bremer / Spoerhase (Hg.), Gelehrte Polemik, S. 111–122, hier S. 111–113; Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Metaphorik von gelehrten Streitkulturen der Frühen Neuzeit. In: Ebd., S. 158–175; Caspar Hirschi: Piraten der Gelehrtenrepublik. Die Norm des sachlichen Streits und ihre polemische Funktion. In: Ebd., S. 176–213. 23 Dementsprechend besitzt Bayle auch seinen Platz in der Genealogie der „bürgerlichen Öffentlichkeit“, vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, S. 165.

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Gelehrsamkeit intensivierte: Die zunehmende Orientierung an Leistung und Gewinn, so Marian Füssel, musste in einer moral economy gezügelt werden.24 Als anstößig galt es bezeichnenderweise, zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Auch wenn Wertesysteme, Begrifflichkeiten und Verfahrensweisen von Kaufleuten und Naturforschern spätestens seit dem 16. Jahrhundert „auf eine enorm produktive Weise“25 korrespondierten, war das aus dem Ökonomischen entlehnte „Interesse“ zunächst kein positiv besetzter Begriff.26 Das zeigt beispielsweise die Klage des Danziger Naturforschers Johann Philipp Breyne über den seit 1729 in Oxford lehrenden Botaniker Dillen, über den sich Breyne gegenüber Albrecht von Haller beschwerte: „Der Hr Dr. Dillenius ist wohl ein grosser und fleißiger Botanicus, aber dabey hat er gar kein generöses Gemühte, sondern ist überaus intereßiert.“27 Diese negative Konnotation blieb jedoch nicht erhalten, stattdessen wurde Interesse im Verlauf des 18. Jahrhunderts mit Vernunft verknüpft und entsprechend positiv gewertet – im Deutschen nicht zuletzt von Kant.28 Ging damit vielleicht eine wachsende Akzeptanz wissenschaftlichen Eigennutzes einher, der ebenso wie das ökonomische Interesse zunehmend als gemeinnützig konzipiert wurde?29 Während die Legitimität gelehrten Eigennutzes noch genauer zu untersuchen wäre, hat die Forschung die von Breyne eingeforderte Generosität bereits als entscheidendes Element frühneuzeitlicher Gelehrtenkultur herausgearbeitet. Das Mit-

24 Vgl. Marian Füssel: Die symbolischen Grenzen der Gelehrtenrepublik. Gelehrter Habitus und moralische Ökonomie des Wissens im 18. Jahrhundert. In: Mulsow / Rexroth (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf, S. 413–437. Füssel schließt damit an Daston an, vgl. Lorraine Daston: Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft. In: Dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main 2001, S. 157–184. 25 Füssel, Die symbolischen Grenzen, S. 415. Vgl. dazu u. a. Harold J. Cook: Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age. New Haven / London 2007; Ders.: Moving About and Finding Things Out. Economies and Sciences in the Period of the Scientific Revolution. In: Osiris 27 (2012), S. 101–132; Margaret Schabas / Neil De Marchi (Hg.): Oeconomies in the Age of Newton. Durham 2003; Londa Schiebinger / Claudia Swan (Hg.): Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2005; Pamela H. Smith / Paula Findlen (Hg.): Merchants & Marvels. Commerce, Science, and Art in Early Modern Europe. New York / London 2002. 26 Vgl. Steven Shapin: The Scientific Revolution. Chicago 1996, S. 161–165. 27 Johann Philipp Breyne an Albrecht von Haller, Danzig, 15. Juli 1744. In: Einiger gelehrter Freunde deutsche Briefe an den Herrn von Haller. Erstes Hundert von 1725. bis 1751. Bern 1777, S. 80–84, hier S. 83. 28 Vgl. – mit Verweis auf Albert O. Hirschman – Cook, Matters of Exchange, S. 45. Für die deutschsprachige Entwicklung vgl. Art. Interesse. In: Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 10. Leipzig 1877, Sp. 2147–2148. URL: http://dwb.uni-trier.de/ (26.10.2020). 29 Vgl. Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591–626.

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

einander der Gelehrten war keineswegs nur durch ein Baylesches „alle gegen alle“ gekennzeichnet, sondern in erster Linie durch ein „do ut des“ geprägt. So haben beispielsweise die Studien von Sebastian Kühn und Gabriele Jancke gezeigt, welche Bedeutung die Gelehrtenfreundschaft besaß, die ihrerseits wesentlich auf der wissenschaftlichen Praxis des Tauschs bzw. Austauschs beruhte.30 Briefe und Besuche kreisten vielfach um die Bitte, nützliche Kontakte, rare Materialien oder relevante Forschungsergebnisse zu vermitteln, wofür man bei nächster Gelegenheit in Gegenleistung treten wollte.31 Solche gegenseitigen Gefälligkeiten standen im Dienst der Beziehungspflege, konnten sich allerdings auch schnell als Bosheit erweisen, wenn dadurch Dritte bewusst ausgeschlossen oder durch Indiskretion geschädigt wurden.32 Grundsätzlich scheinen Zusammenhalt und Freigiebigkeit oft nur die eine Seite der Medaille gewesen zu sein. Dementsprechend haben Kärin Nickelsen und Fabian Krämer in ihren Forschungen zu Konkurrenz in den (Natur-)Wissenschaften das Wechselspiel von Kooperation und Konkurrenz unterstrichen und die Instabilität beider Beziehungsformen betont.33 Als institutionelle Einhegungen von Konkurrenz (bzw. genauer: der universitären Streitkultur) interpretiert Nickelsen die frühneuzeitlichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften, die gemeinschaftliches Arbeiten jenseits ständischer Hierarchien und vernichtender Polemiken sowie unter effizienter Zusammenführung einzelner Verdienste und Spezialisierungen ermöglichen sollten.34 Ähnlich wie das Interesse verdienen auch solche Normen eine nähere Betrachtung, die Konkurrenz im Sinne eines Zuvorkommens oder Übertreffens voraussetzen. Metaphorisch wäre hierfür, im Unterschied zu Bayles Krieg, eher der Wettstreit zu bemühen, für den es mit dem künstlerischen Paragone ein bis in die Antike zurückgehendes Deutungsmuster gab. Im Paragone, in dem Künste und Künstler

30 Vgl. Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft, bes. S. 47–70; Gabriele Jancke: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten. Göttingen 2013. 31 Vgl. u. a. Regina Dauser u. a. (Hg.): Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzwerken des 18. Jahrhunderts. Berlin 2008; Bettina Dietz: Kollaboration in der Botanik des 18. Jahrhunderts. Die partizipative Architektur von Linnés System der Natur. In: Silke Förschler / Anna Mariss (Hg.): Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrungsweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2017, S. 95–108; Stefan Siemer: Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert. Mainz 2004. 32 Vgl. dazu Tobias Winnerlings Beitrag zu dieser Sektion. 33 Vgl. Kärin Nickelsen: Kooperation und Konkurrenz in den Naturwissenschaften. In: Jessen (Hg.), Konkurrenz in der Geschichte, S. 333–379; Kärin Nickelsen / Fabian Krämer: Introduction. Cooperation and Competition in the Sciences. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 24 (2016), S. 119–123. 34 Vgl. Nickelsen, Kooperation und Konkurrenz, S. 357–362; vgl. dazu auch Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft, S. 204 u. 212–215.

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einander zu übertreffen suchten, wurde Konkurrenz als produktiv aufgefasst.35 Dem Paragone entsprach das ästhetische Konzept der aemulatio, einer agonalen, über die reine Nachahmung (imitatio) hinausgehenden Überbietung, die insbesondere in der frühneuzeitlichen Debatte um die Vorbildlichkeit der Antike und die Verbindlichkeit der Tradition von Bedeutung war.36 Die Frage, inwieweit die Kenntnisse und Fertigkeiten der Alten übertroffen werden könnten, bildete denn auch den Kristallisationskern frühneuzeitlicher Innovationsdiskurse. Allerdings legen neuere Studien nahe, dass weder in der querelle des Anciens et des Modernes noch in den new sciences eine eindeutige Entscheidung zugunsten der Abkehr von den Alten getroffen wurde,37 und die gelehrte Auseinandersetzung mit dem Neuen, die sich in einer reichen Traktatliteratur niederschlug, räumte der Innovation nur zaghaft Berechtigung ein.38 Obwohl Autoren der Frühaufklärung die memoria zugunsten von ingenium und iudicium abwerteten und beißenden Spott über den zuvor noch verehrten Polyhistor ausgossen,39 bestand legitime Neuerung auch im zunehmend zukunftsorientierten 18. Jahrhundert noch vielfach in der Erneuerung des Bewährten und der Rückkehr zum Ursprünglichen oder in der Offenlegung des schon immer Wahren.40 Wie aber passt dies mit der frühneuzeitlichen Obsession für Newe Zeytungen, Kuriositäten und Moden zusammen, wie fügen sich die von der Wissenschaftsgeschichte vielfach nachgezeichneten Prioritätsstreite ein? Dass das Neue einen eigenen Wert besaß, wird man nicht in Abrede stellen können – allein schon die hohe Zahl einschlägiger Werktitel spricht buchstäblich Bände.41 Lorraine Daston hat in diesem Zusammenhang jedoch hervorgehoben, dass sich die im 17. Jahrhundert epistemisch aufgewertete Neugier vor allem auf neue Objekte bzw. neue 35 Vgl. Hannah Bader: Art. Paragone. In: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart 2003, S. 261–265. 36 Vgl. Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin 2011. 37 Vgl. Pascal Duris: Quelle révolution scientifique? Les sciences de la vie dans la querelle des Anciens et des Modernes (XVI e et XVIII e siècles). Paris 2016; Shapin, The Scientific Revolution, S. 65–68. 38 Vgl. Reimund Sdzuj: Die Figur des Neuerers und die Funktion von Neuheit in den gelehrten Disziplinen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 155–182. 39 Vgl. Helmut Zedelmaier: Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu „Polyhistor“ und „Polyhistorie“. In: Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel von Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. München 2002, S. 421–450, hier S. 438–441. 40 Vgl. bspw. Anne-Charlott Trepp: Adam benennt die Tiere. Zur Bedeutung der Namen für die Kenntnis der Dinge. Genesis 2,19–20 als ein Erkenntnisdispositiv der Frühen Neuzeit. In: Renate Dürr u. a. (Hg.): Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung – Mutterschaft – Passion. Paderborn 2019, S. 143–182. 41 Vgl. Lynn Thorndike: Newness and Craving for Novelty in Seventeenth-Century Science and Medicine. In: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 584–598.

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

Beobachtungen richtete. Im Vordergrund stand damit empirische Neuheit, während die Neigung zu „theoretischen Neuheiten“ weniger ausgeprägt war.42 Das Festhalten am Überlieferten, beispielsweise an der antiken Vier-Elemente-Lehre, traf für viele Bereiche und viele Akteure eben doch bis weit ins 18. Jahrhundert zu. So formulierte Lavoisier bezeichnenderweise, als er 1783 den Elementcharakter von Wasser zurückwies, man habe „immer“ an ihn geglaubt: „que l’eau n’est point une substance simple, un élément proprement dit, comme on l’avoit toujours pensé.“43 Hinsichtlich der Prioritätsstreite hat Sebastian Kühn herausgearbeitet, dass die hinter der beanspruchten Erstentdeckung stehenden Konzepte von Urheberschaft und Innovation „immer fraglicher“44 werden, je genauer die betreffenden Auseinandersetzungen unter die Lupe genommen werden. Für die Einordnung dieser Streitigkeiten ist überdies Kühns Interpretation von Bedeutung, dass die Beanspruchung von Priorität weder primär auf monetären Nutzen abhob, noch auf den normativen Druck von Originalität und Innovationsfähigkeit reagierte, sondern vorrangig auf die Mehrung von Ehre und Nachruhm zielte.45

Konkurrenzlos gelehrt? Pierre Bayle beschrieb die Gelehrtenrepublik als allgemeinen Kriegszustand, doch betraten in diesem Krieg nur bestimmte Kämpfer das Schlachtfeld. Frauen waren nicht darunter. Ob man sich im gelehrten Streit gegenüberstehen konnte, war – wie beim Duell – eine Frage der Satisfaktionsfähigkeit und damit der Ranggleichheit. Die den Geschlechtern in der Frühen Neuzeit zugewiesenen Rollen ermöglichten es, gelehrten Frauen die notwendige Gleichrangigkeit grundsätzlich abzusprechen. Zwar wurden gelehrte Frauen und besonders gelehrte Jungfrauen verehrt und gepriesen, aber dies geschah immer unter Verweis auf ihre Sonderstellung.46 Eine subordinierte Stellung wurde zudem den vielen Frauen zugewiesen, die männlichen Gelehrten als Assistentinnen, Übersetzerinnen und Illustratorinnen zur Hand

42 Daston, Wunder, Beweise, Tatsachen, S. 174. 43 Extrait d’un Mémoire lu par M. Lavoisier, à la Séance publique de l’Académie Royale des Sciences du 12 Novembre, sur la nature de l’Eau et sur des expériences qui paroissent prouver que cette substance n’est point un élément proprement dit, mais qu’elle est susceptible de décomposition et de recomposition. In: Observations sur la physique, sur l’histoire naturelle et sur les arts 23 (1783), S. 452–455, hier S. 454. URL: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k96040542/f476.item (02.11.2020). 44 Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft, S. 178. 45 Vgl. ebd., S. 184 u. 187–188. 46 Vgl. Rüdiger Schnell: Sprechen – Schreiben – Drucken (Speaking – Writing – Printing). Zur Autorschaft von Frauen im Kontext kommunikativer und medialer Bedingungen in der Frühen Neuzeit. In: Anne Bollmann (Hg.): Ein Platz für sich selbst. Schreibende Frauen und ihre Lebenswelten (1450–1700). Frankfurt am Main 2011, S. 3–41, hier S. 18–21.

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gingen; vielfach handelte es sich dabei um Ehefrauen und Töchter. Im Fall der Illustratorinnen vermutet Lorraine Daston, dass der „zweifach untergeordnete Status“47 als Frauen und Kunsthandwerkerinnen dazu führte, sie als besonders geeignete „Instrumente“ anzusehen. Die Sonderanthropologie der Frau legitimierte es, weibliche Mitarbeit auf Tätigkeiten wie das Illustrieren zu lenken und von Frauen überdies eine besondere Aufnahmefähigkeit für die Wünsche ihres männlichen Ideengebers zu erwarten. Dies konnte wie im Fall von Réaumurs Illustratorin Hélène Dumoustier de Marsilly als Komplementarität geschätzt oder wie im Fall von Martin Listers Töchtern publik gemacht werden, zumeist aber verlor es im gelehrten Arbeitsprozess seine Sichtbarkeit.48 In den allermeisten Fällen dürfte es nicht sinnvoll sein, diese Beziehungen als Konkurrenz zu fassen. Selbst bei spektakulären Ausnahmen wie der Ärztin Dorothea Erxleben ist genau hinzusehen, wie die gegen sie vorgehende Quedlinburger Ärzteschaft argumentierte, wenn sie Erxleben als Pfuscherin bezeichnete.49 Die Kategorie Geschlecht zog die Grenzen deutlich genug, um Konkurrenz erst gar nicht aufkommen zu lassen. Zwischen Männern war das anders. Hier kamen andere Zuschreibungen und Abgrenzungen zum Tragen, und es musste von Fall zu Fall entschieden werden, inwiefern Dilettanten, Praktiker oder (vermeintliche) Novizen gleichrangig und damit konkurrenzfähig waren. Die Wissenschaftsgeschichte geht davon aus, dass unter den akademisch Gebildeten die Grenze zwischen universitären Wissenschaftlern und Amateuren erst im 19. Jahrhundert gezogen wurde.50 Wer allerdings kein Universitätsstudium vorzuweisen hatte oder nicht des Lateinischen mächtig war, musste schon besondere Leistungen vollbringen, um zum Konkurrenten zu werden. Dies traf beispielsweise zu im Fall des englischen Malers James Sowerby, der 1804/05 James Edward Smith’ „Exotic Botany“ illustrierte. Eigentlich verbot sich eine Konkurrenz zwischen Sowerby und dem hochdekorierten Smith, seinerseits Präsident der Linnean Society. Aber Sowerbys Arbeiten erwiesen sich als so einflussreich, dass er als Urheber der von ihm illustrierten Werke zu gelten begann, was Smith maßlos empörte.51

47 Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität. Frankfurt am Main 2007, S. 94. 48 Vgl. ebd., S. 88–90; Anna Marie Roos: Martin Lister and His Remarkable Daughters. Oxford 2019; Alix Cooper: Picturing Nature. Gender and the Politics of Natural-Historical Description in EighteenthCentury Gdańsk/Danzig. In: Journal of Eighteenth-Century Studies 36 (2013), S. 519–529. 49 Vgl. Brigitte Meixner: Dr. Dorothea Christiana Erxleben. Ein ganz normales Ausnahme-Leben. In: Thomas Weiss (Hg.): Frauen im 18. Jahrhundert. Entdeckungen zu Lebensbildern in Museen und Archiven in Sachsen-Anhalt. Halle 2009, S. 247–265, hier S. 257 f. 50 Vgl. Thomas Bach: Dilettantismus und Wissenschaftsgenese. Prolegomena zu einer wissenschaftshistorischen Einordnung des naturwissenschaftlichen Dilettantismus im 18. Jahrhundert. In: Stefan Blechschmidt / Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007, S. 339–352. 51 Vgl. Daston / Galison, Objektivität, S. 98.

Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit?

Die Abgrenzungen zwischen den Personen korrespondierten mit Grenzziehungen zwischen Orten. Die jüngere Forschung hat grundsätzlich gezeigt, dass (gelehrtes) Wissen in der Frühen Neuzeit viele Orte hatte: Universitäten, Akademien, Schulen, Kirchen, Höfe, Häuser, Gärten, Werkstätten. Die Beziehungen zwischen diesen Orten waren enger als lange Zeit angenommen, denn die „institutionelle Definitionsmacht“52 der Universität hatte sich in der Frühen Neuzeit noch nicht durchgesetzt. Pamela Smith betont deshalb seit Jahren die Bedeutung des praktischen Wissens der Handwerker und nennt „making“ und „knowing“ in einem Atemzug.53 Auch die Bedeutung der Wohnhäuser bzw. Haushalte ist stärker ins Bewusstsein gerückt.54 Ein stadtbürgerlicher Gelehrter wie der Danziger Astronom und Bierbrauer Johannes Hevelius operierte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zusammen mit seiner Ehefrau ganz selbstverständlich von seinem Wohnhaus aus, das die Eheleute auf eigene Kosten zum Observatorium ausgebaut hatten, und beanspruchte mit seinen Ergebnissen Mitspracherecht in der Gelehrtenwelt. Aus dem Umfeld der Royal Society heraus wurde seine technische Ausstattung zwar von Robert Hooke als unzeitgemäß kritisiert, erwies sich aber im direkten Vergleich nicht als unterlegen.55 Anders als die Differenzkategorie Geschlecht sorgte der Faktor Lokalität also nicht zwangsläufig dafür, dass Gleichrangigkeit bestritten wurde. Doch die Zugehörigkeit zu den Sphären der Produktion und Reproduktion wies Werkstatt und Haus einen niederen Rang in der frühneuzeitlichen Hierarchie der Orte zu. Andererseits erlaubte es Häuslichkeit aber auch, sich von den Mühen der Brotgelehrten zu distanzieren. Die durchaus ansehnlich mit Naturalien und Instrumenten ausgestatteten Hausväter um den Frankfurter Patrizier Johann Friedrich

52 Caspar Hirschi: Gleichheit und Ungleichheit in den Wissenschaften. Debatten in der Académie royale des sciences 1720–1790. In: Mulsow / Rexroth (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf, S. 515–539, hier S. 515. 53 Vgl. Pamela H. Smith / Benjamin Schmidt (Hg.): Making Knowledge in Early Modern Europe. Practices, Objects, and Texts, 1400–1800. Chicago 2007; Pamela H. Smith u. a. (Hg.): Ways of Making and Knowing. The Material Culture of Empirical Knowledge. Ann Arbor 2014. 54 Vgl. Gadi Algazi: Scholars in Households. Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550. In: Science in Context 16 (2003), S. 9–42; Alix Cooper: Homes and Households. In: Lorraine Daston / Katharine Park (Hg.): Cambridge History of Science. Bd. 3 (Early Modern Science). Cambridge 2006, S. 224–237; Monika Mommerz: Geschlecht – Macht – Wissen. Der Haushalt als Ermöglichungsstruktur frühneuzeitlicher Wissenschaften. In: Anna Becker u. a. (Hg.): Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart. Frankfurt am Main 2020, S. 15–29; Donald L. Opitz: Domestic Space. In: Bernard Lightman (Hg.): A Companion to the History of Science. Chichester 2016, S. 252–267; Steven Shapin: The House of Experiment in Seventeenth-Century England. In: Isis 79 (1988), S. 373–404. 55 Vgl. Voula Saridakis: The Hevelius-Hooke Controversy in Context. Transforming Astronomical Practice in the Late Seventeenth Century. In: Richard L. Kremer (Hg.): Johannes Hevelius and his World. Astronomer, Cartographer, Philosopher and Correspondent. Warschau 2013, S. 103–136.

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von Uffenbach zogen es deshalb in den 1720er Jahren vor, ihren naturforschenden Zirkel als häusliches Kränzchen zu organisieren und jegliche akademische Publizität zu vermeiden.56

Eine anregende Fragerichtung Was die vorangegangenen Ausführungen nur andeuten konnten, führen die nachfolgenden Beiträge näher aus. Joëlle Weis analysiert in ihrer Untersuchung das Zusammenspiel von Kooperation und Konkurrenz beim Zugriff auf kirchliches Archivmaterial, das in den geistlichen Territorien Würzburg und Fulda der Legitimation territorial- und kirchenpolitischer Ansprüche dienen sollte. Tobias Winnerling stellt in seinem Beitrag einen englisch-französischen Prioritätsstreit vor, der in den deutschen Journalen eher zufällig zu einem solchen gemacht wurde. Dominik Hünniger beleuchtet die Versuche eines Kieler Professors und Entomologen, mit Hilfe einer Reformschrift seiner eigenen Disziplin und seiner eigenen Person größeres Gewicht zu verschaffen. Der Kommentar von Martin Mulsow ordnet diese Fälle abschließend in den Kontext der unhöflich-unanständigen Gelehrtenrepublik ein. Insgesamt zeigt die Sektion damit auf, wie Konkurrenz „im Sinne eines produktiven Anachronismus“57 für die Wissen(schaft)sgeschichte der Frühen Neuzeit fruchtbar gemacht werden kann. Die durch die soziologischen Konkurrenzkonzepte vorgegebene Fragerichtung erlaubt es, wissensgeschichtlich relevante Phänomene der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur in den Blick zu nehmen. Dabei ist es allerdings notwendig, die in den zeitgenössischen Semantiken greifbare Distanz zum modernen Konkurrenzbegriff ernst zu nehmen. Dann erschließen sich nicht nur frühneuzeitliche Formen und Normen der Konkurrenz, sondern auch die Normenkonkurrenz der Konkurrenznormen als frühneuzeitliches Charakteristikum.58

56 Vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Der Sammler und die Seinigen. Die Frankfurter Brüder von Uffenbach im Kontext städtischer Sammlungspraxis. In: Markus Friedrich / Monika Müller (Hg.): Zacharias Konrad von Uffenbach. Büchersammler und Polyhistor in der Gelehrtenkultur um 1700. Berlin 2020, S. 69–92, hier S. 80–83. 57 Frank Rexroth: Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Einige einleitende Bemerkungen. In: Mulsow / Rexroth (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf, S. 11–37. 58 Vgl. Thiessen, Normenkonkurrenz, hier bes. S. 265–266.

Joëlle Weis

Das Ringen um die Quellen Klerikale Streitfälle als Konkurrenzereignisse in der Gelehrtenrepublik In der katholischen Kirchengeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts tobte ein Kampf um Quellen. Geführt wurde er, um aus historischen Dokumenten juristische Ansprüche herzuleiten. Diese Strategie war im 18. Jahrhundert sicher nicht neu, erreichte aber durch innerkatholische Streitfälle einen neuen Höhepunkt.1 Immer mehr Klöster beanspruchten eine Exemtion gegenüber den ihnen kirchenrechtlich vorgesetzten Bistümern.2 Das Ziel war die Loslösung von der Jurisdiktion der Bischöfe und Klöster mussten dafür ihre historische Eigenständigkeit beweisen, was in einen regelrechten Wettstreit um Urkunden und andere Rechtsquellen mündete. In diesem Zusammenhang wurde Gelehrten eine neue Bedeutung beigemessen, denn sowohl die am Status quo interessierten Bistümer als auch die nach Unabhängigkeit strebenden Klöster engagierten Historiker und Rechtsgelehrte, die mit Hilfe eigener und fremder Archivbestände ein „bellum diplomaticum“3 für die Sicherung des rechtlichen Status kämpfen sollten. Die damit beauftragten Gelehrten wurden zu maßgeblichen Akteuren beim Austragen dieses innerkatholischen Konkurrenzkampfes. Gleichzeitig mussten sie sich selbst auf einem umkämpften Arbeitsmarkt gegen ihre Konkurrenz durchsetzen: Ruhm, Ehre, aber auch die feste Anstellung und damit die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts wurden zu den begehrten „Kampfpreisen“.4

1 Zur Geschichte der Diplomatik siehe Maciej Dorna: Mabillon und andere. Die Anfänge der Diplomatik. Wiesbaden 2019, S. 17–46; Carlrichard Brühl: Die Entwicklung der diplomatischen Methode im Zusammenhang mit dem Erkennen von Fälschungen. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986. Bd. 3. Hannover 1988, S. 11–27; Stefan Benz: Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich. Husum 2003, S. 611–632. 2 Beispiele dafür sind die Exemtionsbestrebungen der Reichsabtei Stablo-Malmédy, der Abtei SaintCorneille de Compiègne und sehr prominent der hier besprochene Fall der Fürstabtei Fulda. Vgl. dazu im Detail das Kapitel Polemik in Joëlle Weis: Johann Friedrich Schannat (1683–1739). Praktiken historisch-kritischer Gelehrsamkeit im frühen 18. Jahrhundert. Berlin 2021. 3 Zum „Urkundenkrieg“ siehe Dorna, Mabillon, S. 47–102. 4 Georg Simmel definiert Konkurrenz als „parallele[…] Bemühungen beider Parteien um einen und denselben Kampfpreis“, wobei dieser „sich nicht in der Hand eines der Gegner befindet“. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908, S. 213 f. Siehe dazu auch Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen

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Vor diesem Hintergrund beschleunigte sich die Entwicklung der Diplomatik als historisch-juristischer Methode, deren Hauptziel die Feststellung von Rechtsansprüchen anhand der kritischen Begutachtung von Urkunden war. Der Schlüssel zum Erfolg und das wichtigste Kapital der Gelehrten waren unter dieser Prämisse die Nähe und der potentielle Zugang zu Quellen, die zur wichtigsten Ressource historisch-kritischer Arbeit wurden. Folglich wurde das Auffinden der Dokumente zu einer der Hauptaufgaben des Auftragshistorikers.5 Um dies zu gewährleisten, waren Zusammenarbeit und das Pflegen von Kontakten notwendig, denn es brauchte stets Empfehlungen, die als Türöffner für Archive und Bibliotheken dienen konnten. Durch die zunehmende Gleichsetzung von Qualität und Neuheit einer Quelle6 wurde diese aber auch zu einer raren Ware, um die konkurriert wurde und die die Gelehrtengemeinschaft mitunter spaltete, noch bevor es überhaupt zu einer Debatte um Wahrheit, Recht oder Unrecht kommen konnte. In der Folge sollen daher nicht die Polemik oder sonstige Aushandlungsprozesse von Wahrheit in den Blick genommen werden, sondern der Kampf um eine knappe Ressource: die Quelle als Arbeitsmaterial. Wie ich anhand von zwei exemplarischen Konkurrenzsituationen aufzeigen will, beeinflusste dieser Kampf unmittelbar die Tätigkeit des Historikers, noch bevor es überhaupt zu einer ideellen Auseinandersetzung mit dem Material kam, und entschied damit über Produktivität, Erfolg und letztlich Karrieren. Dazu werde ich zunächst knapp auf die „Spielstätten“ und die Akteure des Streitgeschehens eingehen. Die Konkurrenz unter den Gelehrten entstand nicht in einem luftleeren Raum, sondern war Resultat von immer knapper werdenden Ausbreitungsmöglichkeiten. Dabei muss auf die ausgeprägte lokale Verankerung der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts eingegangen werden, die es nur einer begrenzten Anzahl an Historikern erlaubte, nebeneinander zu arbeiten. Obwohl sich die konkurrierenden Akteure in sehr unterschiedlichen Situationen befanden, waren sie durch ihre sehr ähnlichen Ambitionen und Ziele miteinander verbunden und gerieten auf ihren jeweiligen Karrierewegen unweigerlich aneinander. Dabei wird deutlich, wie Prekarität und unsichere Einkommensverhältnisse Kooperation und Zusammenhalt und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 33–57. 5 Das Phänomen des frühneuzeitlichen „Auftragshistorikers“ ist nicht systematisch erforscht. Konkrete Auftragsarbeiten stellten jedoch neben Patronage, der Ausübung eines (Hof-)Amtes oder einer Professur eine wichtige Möglichkeit für Gelehrte dar, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Den besten Überblick über die katholische Geschichtsschreibung und somit auch die unterschiedlichen Anstellungssituationen der Historiografen bietet Benz, Zwischen Tradition und Kritik. 6 Siehe dazu Reimund Sdzuj: Die Figur des Neuerers und die Funktion von Neuheit in den gelehrten Disziplinen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 155–182; Weis, Schannat, S. 227 f.

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förderten, aber eben auch den Wettstreit um Erfolg intensivierten und damit den Weg hin zu einer destruktiven Konkurrenz ebneten, die in einer Pattsituation und letztlich in Stagnation enden konnte. Schließlich will ich die zwei konkreten Konkurrenzsituationen detailliert nacherzählen, um so die Handlungsspielräume der Akteure auszuloten und zeitgenössische Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Konkurrenz aufzudecken. Ein Fazit führt meine Ausführungen abschließend zusammen.

Orte und Akteure der Konkurrenz Die Hauptschauplätze der hier thematisierten Streitfälle sind Würzburg und Fulda. Beide Orte waren seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Sitz von unmittelbar benachbarten kirchlichen Fürstentümern, eine Konstellation, die schnell zu ersten Konflikten führte. Ein die Fürstentümer über Jahrhunderte begleitendes Problem war die Abhängigkeit Fuldas von der würzburgischen Jurisdiktion.7 In den 1710er Jahren war der Streit wieder aufgeflammt, und spätestens nach den ergebnislosen Verhandlungen einer 1722 in Karlstadt einberufenen Konferenz8 positionierten sich beide Seiten, um den Konflikt mit den innovativen Methoden der Diplomatik auszufechten.9 Die Gelehrten nutzten den Streitfall, um in das bisher unerforschte Feld vorzudringen. Dieses war zusätzlich attraktiv, da bisher unerreichbare Quellen zugänglich wurden. Fulda begann, seine Archive zumindest teilweise für Außenstehende zu öffnen, und in Würzburg war 1717 die seit dem Dreißigjährigen Krieg verschollene Dombibliothek durch Domdechant Christoph Franz von Hutten (1643–1729) wiedergefunden worden.10 Ihr Inhalt war größtenteils unbekannt, weshalb Gelehrte aus ganz Europa über mögliche Handschriften spekulierten, die sich in ihr finden

7 Über die Anfänge und den Verlauf des Rechtsstreits bis 1721 vgl. Johann F. Schannat: Dioecesis Fuldensis. Frankfurt am Main 1727, Praefatio, nicht paginiert; Peter J. Jörg: Würzburg und Fulda. Rechtsverhältnis zwischen Bistum und Abtei bis zum 11. Jahrhundert. Darstellende Untersuchung. Würzburg 1951; Hubert Hack: Der Rechtsstreit zwischen dem Fürstbischof von Würzburg und dem Fürstabt von Fulda an der Römischen Kurie um die geistliche Hoheit im Gebiet des Stifts Fulda, 1688–1717. Fulda 1956. 8 Die am 8. Mai 1722 einberufene Karlstädter Konferenz diente den Schiedsverhandlungen zwischen Fulda und Würzburg im Streit um die geistliche Gerichtsbarkeit in einzelnen Orten und Pfarreien, die eigentlich auf Fuldaer Territorium lagen. Die streitenden Parteien gingen ohne Einigung auseinander. Vgl. Wilhelm Engel: Johann Friedrich Schannat. In: Archivalische Zeitschrift 44 (1936), S. 56 f. 9 Vgl. Hack, Rechtsstreit; Jörg, Würzburg und Fulda. 10 Vgl. dazu Hans Thurn: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg. Die Papierhandschriften der ehemaligen Dombibliothek. Bd. 3, 2. Wiesbaden 1981, S. XI u. 73 f.; Josef Hofmann: Die Würzburger Dombibliothek im VIII. und IX. Jahrhundert. In: Bernhard Bischoff / Josef Hof-

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würden. Das Interesse der gelehrten Öffentlichkeit war groß, und man wartete gespannt auf Neuigkeiten über die so lange verschollenen Bestände.11 Die in der Gelehrtenwelt herrschende Goldgräberstimmung erfasste auch Johann Friedrich Schannat, Georg Konrad Sigler und Johann Seyfried, die im Jahr 1721 in Würzburg aufeinandertrafen. Sie sind nur den wenigsten ein Begriff. Schannats umfangreiches Werk ist durch die Marginalisierung, welche die historisch-kritische Geschichtsschreibung innerhalb der Historiographiegeschichte erfahren hat, kaum einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Sowohl für Sigler als auch für Seyfried gilt hingegen, dass sie bereits von den Zeitgenossen nur als Randfiguren der gelehrten Gemeinschaft wahrgenommen wurden – die Quellenlage ist dementsprechend dünn. Johann Friedrich Schannat (1683–1739) war ausgebildeter Jurist, der ab 1707 historiographisch tätig war.12 Zunächst hauptsächlich von einer bescheidenen Präbende und kleinen Auftragsarbeiten lebend, reiste Schannat durch Europa und bildete sich weiter. So wurde er bei den Maurinern in Saint-Germain-des-Prés und den Melker Benediktinern um Bernard Pez (1683–1735) in die Diplomatik eingeführt und von den dort tätigen Gelehrten mit Folgeaufträgen versehen.13 Schannats Weg führte 1721 schließlich nach Würzburg, wo er sich intensiv mit den Handschriften aus der gerade wiederentdeckten Dombibliothek befasste. Im gleichen Jahr erhielt er seine erste Anstellung bei Konstantin von Buttlar, Fürstabt von Fulda (1679–1726), um dort eine Geschichte der Abtei zu schreiben. Schannat stand bei den hier im Vordergrund stehenden Begebenheiten also noch ganz am Anfang seiner Karriere. Seine finanzielle Lage war durch viele Schulden mehr als angespannt und seine Situation als Auftragshistoriker überaus prekär. Ähnlich schwierig war vermutlich Georg Konrad Siglers (gest. 1723) Situation, wenngleich wir heute kaum noch etwas über ihn wissen.14 Bis 1711 stand er als

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mann (Hg.): Libri sancti Kyliani. Die Würzburger Schreibschule und die Dombibliothek im VIII. und IX. Jahrhundert. Würzburg 1952, S. 61–172. Vgl. dazu etwa Johann Benedikt Gentilotti an Schannat, 31.07.1721. Wien. Národní archiv Prag, Karton APA IC 5579 4512, Faszikel X, nicht paginiert, Nr. 3. Vgl. zu Johann Friedrich Schannat allgemein: Weis, Schannat; Engel, Schannat. Zur allgemeinen Geschichte der Maurinerkongregation vgl. Yves Chaussy: Les Bénédictins de SaintMaur. 2 Bde. Paris 1989–1991. Zum Kloster Melk und Bernhard Pez vgl. Thomas Wallnig: Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709. Wien u. a. 2007; Thomas Wallnig / Thomas Stockinger (Hg.): Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentare. Bd. 1 (1709–1715). Wien u. a. 2010; Thomas Stockinger u. a. (Hg.): Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentare. Bd. 2 (1716–1718). Wien u. a. 2015. Vgl. Karl Bader: Lexikon deutscher Bibliothekare im Haupt- und Nebenamt, bei Fürsten, Staaten und Städten. Leipzig 1925, S. 359; Otto Handwerker: Geschichte der Würzburger Universitäts-Bibliothek bis zur Säkularisation. Würzburg 1904, S. 56–58, 64 f. u. 68 f.

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Geheimsekretär und Archivar im Dienst des Fuldaer Fürstabts, wechselte dann aber ab 1712 als Sekretär des Geistlichen Rates des Fürstbischofs nach Würzburg, wo er kurz darauf auch Universitätsbibliothekar wurde. Trotz dieser Festanstellung war auch Siglers finanzielle Situation – zumindest Schannat zufolge – angespannt.15 Bei Schannats Ankunft in Würzburg verstanden sich die beiden zunächst sehr gut und verbrachten viel Zeit miteinander. Schannat hatte darüber hinaus Siglers Empfehlungen viel zu verdanken, nicht zuletzt war der Bibliothekar maßgeblich an Schannats Fuldaer Berufung beteiligt.16 Nur wenig später sollte sich das Verhältnis aber entscheidend verschlechtern. Ähnliches trifft auf Schannats Beziehung zu Johann Seyfried (1679–1742) zu.17 Der Jesuit war ab 1710 Professor der Philosophie und ab 1713 Professor der Theologie an der Universität Würzburg. 1720 wurde ihm durch Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn (1673–1724) die Professur für Geschichte verliehen. Seyfried war also in Würzburg gut etabliert, den Gelehrten in Schannats Netzwerk jedoch weitestgehend unbekannt, da er keine historiographischen Publikationen vorzuweisen hatte und sich offensichtlich kaum an der überregionalen Gelehrtenkommunikation beteiligte.18 Trotzdem war er auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung nicht minder ambitioniert, weshalb auch er bald mit Schannat zusammenstieß.

Die Konkurrenz um Quellen Schannat kam 1721 in Würzburg an mit dem Ziel, sich die Manuskripte aus der wiederaufgefundenen Dombibliothek anzusehen.19 Ausgestattet mit Empfehlungen und aufgrund seiner guten Beziehung zum Domdechanten von Hutten wurde ihm schnell Zugang gewährt, wenngleich sich die Bearbeitung aufgrund der Unordnung der Bestände als langwieriger herausstellte als zunächst gedacht. In Schannat keimte deshalb die Idee auf, einen Katalog der Bibliothek zu verfassen. Da Georg Konrad Sigler mit der Bibliothek vertraut war, suchte Schannat den Kontakt zu ihm, und die Gelehrten planten eine gemeinsame Bearbeitung, wobei Schannat den größten Teil

15 Schannat berichtete, dass Sigler als Universitätsbibliothekar lediglich 100 Gulden jährlich verdiene und dieser nicht den Platz und die finanziellen Möglichkeiten besitze, ihn zu beherbergen. Vgl. Schannat an Bernhard Pez, 30.03.1721. Würzburg. Stiftsarchiv Melk 7/7, II, fol. 425r–426v. 16 Vgl. Engel, Schannat, S. 46–50. 17 Heinrich Reusch: Art. Seyfried, Johann. In: Allgemeine Deutsche Biographie 34 (1892), S. 116–117. 18 In den untersuchten Korrespondenzen von Bernhard Pez und Johann Georg von Eckhart waren keine Hinweise auf Briefe von oder an Seyfried finden. Auch die Nachlassdatenbank des KalliopeVerbundes enthält keine Datensätze zu Seyfried. 19 Zu Schannats Anfangszeit in Würzburg vgl. Engel, Schannat, S. 41 f.

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der Katalogisierung übernehmen sollte.20 Den beiden Gelehrten war offensichtlich bewusst, dass sie von einer engen Kooperation profitieren konnten. Des Weiteren setzte Sigler sich für seinen Kollegen ein, als sich die Besetzung der Fuldaer Stelle anbahnte. Der Bibliothekar nutzte seine früheren Kontakte und empfahl Schannat an den Fürstabt.21 Schannat erhielt den Auftrag, eine Geschichte Fuldas zu schreiben, und musste das Katalogisierungsprojekt vorläufig unterbrechen, jedoch mit der festen Absicht, es im Laufe des Jahres 1722 zu beenden. Bereits vor seinem Fortgang aus Würzburg fing Schannat jedoch an, die anfängliche Unterstützung von Seiten Siglers und anderer Würzburger Akteure zu hinterfragen. Seinen Korrespondenten gegenüber brachte er zunehmend eine von ihm stark wahrgenommene Konkurrenzsituation zur Sprache. So geben Schannats Briefe Einblick in das zeitgenössische semantische Feld der Konkurrenz und Kooperation und werden gleichzeitig zu Zeugnissen seiner Befürchtungen, des auf ihm lastenden Drucks und schließlich der Bewältigungsstrategien, mit denen der Gelehrte sich der Konkurrenz stellte. Zunächst formulierte Schannat seine Beobachtungen noch zurückhaltend. Schannat schrieb Pez, Sigler zeige vermehrt Interesse an der Erstellung des Handschriftenkataloges. Dies veranlasste Schannat zu der Mutmaßung, dass die Hilfe, die er bei seiner Bewerbung in Fulda erhalten hatte, vor allem dazu gedacht gewesen war, ihn aus Würzburg hinauszubekommen. Dies machte er unter anderem daran fest, dass Sigler einen an Schannat adressierten Brief mit Absicht versteckt habe.22 Schannat hielt es unter diesen Umständen für besser, Sigler das Würzburger „Feld“ zu überlassen: „je prevois qu’il faudra que je lui laisse champ libre“.23 Die Anstellung in Fulda kam genau zur rechten Zeit und war verbunden mit der Hoffnung, ohne Konkurrenz an einem eigenen Thema arbeiten zu können.24

20 Vgl. dazu etwa Johann Benedikt Gentilotti an Schannat, 31.07.1721. Wien. NA Prag, Karton APA IC 5579 4512, Faszikel X, nicht paginiert, Nr. 3. 21 Siehe dazu Aloys Ruppel: Johann Friedrich Schannats Berufung zum Fuldischen Geschichtsschreiber. In: Joseph Theele (Hg.): Aus Fuldas Geistesleben. Festschrift zum 150jährigen Jubiläum der Landesbibliothek Fulda. Fulda 1928, S. 40–52. 22 Siehe Schannat an Bernhard Pez, 16.06.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 431r–432v. GWLB Hannover Ms. XLII 1920, fol. 9r–10v (Kopie): „Il paroit même que monsieur Sigler ne seroit pas faché de m᾿en voir eloignéz, puis qu᾿il ne voit pas de trop bon oëil l᾿acceuil que l᾿on me fait, j᾿ai sçeu meme qu᾿il m᾿avoit cachéz la lettre que monsieur Schminck lui avoit adresséz pour moi dattée du 12 avril. Doit-on s᾿ettonner apres cela s᾿il m᾿amuse toujours depuis tant de temps avec les manuscrits de la cathedrale dont je n᾿ais sçeut jusques icy avoir l᾿inspection.“ 23 Schannat an Bernhard Pez, 27.09.1721. Würzburg. GWLB XLII 1909, fol. 527–528. 24 Siehe Schannat an Johann Georg von Eckhart, 25.02.1722. Fulda. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover Ms. XLII 1909, fol. 539–546.

Das Ringen um die Quellen

Zudem hatte Sigler dem Fürstabt versprochen, Schannat diejenigen Materialien zu Fulda zu überlassen, die Sigler selbst dort gesammelt hatte.25 Inwiefern es sich hier um Originaldokumente, um Abschriften oder nur Notizen handelte, ließ Sigler vielleicht bewusst im Dunkeln. Schannat wusste jedenfalls nichts Genaues über die Inhalte der Materialsammlung.26 Als Sigler diese jedoch nach mehrmaligem Nachfragen nicht herausgab, kam bei Schannat ein Verdacht auf, der sich als begründet herausstellen sollte: Sigler plante, als Konkurrenzunternehmen und finanziert vom Leipziger Großverleger Weidmann (1686–1743) eine eigene Version der Geschichte Fuldas zu schreiben und herauszugeben.27 Obwohl sogar der Fürstabt selbst Sigler wiederholt um das Abliefern der Materialien bat und eine finanzielle Belohnung dafür in Aussicht stellte, reagierte dieser nicht.28 Schannat vermutete, dass Sigler von Weidmann wohl eine höhere Bezahlung versprochen worden war.29 Da er seine eigene Arbeit durch diese Entwicklung gefährdet sah, ließ Schannat über die Gelehrtenzeitschriften verbreiten, dass er an der offiziellen Geschichte Fuldas arbeite, und markierte damit – hier sei an die starke Lokalität der Geschichtsschreibung erinnert – sein Territorium.30 Trotzdem sah sich Schannat durch Siglers Pläne beeinträchtigt, da er befürchtete, Sigler enthalte ihm wichtige Materialien vor. Siglers angekündigtes Vorhaben setzte

25 Sigler schrieb dem Fürstabt, er sei bereit, den von ihm „in vorigen Jahren und bisher mit vielem Schweiß gesambleten Apparatum […] herzugeben“. Vgl. Sigler an Konstantin von Buttlar, 13.10.1721. Würzburg. Zit. n. Ruppel, Schannats Berufung, S. 51. 26 Schannat bezog sich in der Korrespondenz immer auf die „matériaux“, die Sigler gesammelt habe. Vgl. etwa Schannat an Bernhard Pez, 12.12.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 441r–442v. 27 Zu Moritz Georg Weidmann, Buchhändler und Verleger aus Leipzig: Adalbert Brauer: Weidmann, 1680–1980. 300 Jahre aus der Geschichte eines der ältesten Verlage der Welt. Zürich 1980, S. 37–46; Bernhard Fabian / Marie-Luise Spieckermann: The House of Weidmann in Leipzig and the Eighteenth-Century Importation of English Books into Germany. In: John L. Flood / William A. Kelly (Hg.): The German Book, 1450–1750. Studies Presented to David L. Paisey in his Retirement. London 1995, S. 299–317. Schannat zufolge war eine erweiterte Neuausgabe von Christoph Brouwers Werk geplant (Fuldensium antiquitatum libri III. Antwerpen 1612). Vgl. Schannat an Ernst Salomon Cyprian, 01.05.1722. Fulda. Forschungsbibliothek Gotha, Nachlass Ernst Salomon Cyprian, Chart. A 426, Nr. 226; Schannat an Bernhard Pez, 10.03.1722. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 445r–446v. Engel vermutet, Schannat habe dies durch Weidmann selbst erfahren. Vgl. Engel, Schannat, S. 60. 28 Vgl. dazu die Aufzeichnungen des fuldischen Kanzlers von Langenschwarz: Verhandlungs- und Beschlußprotokoll des Geheimen Rats bzw. der engeren Konferenz zu Fulda, Hessisches Staatsarchiv Marburg Bestand Protokolle Nr. II Fulda B 1 Bd. 1, 140. 29 Siehe Schannat an Bernhard Pez, 11.04.1724. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 468r–469v; Schannat an Eckhart, 25.02.1722. Fulda. GWLB Hannover Ms. XLII 1909, fol. 539–546. 30 Schannat bat seinen Korrespondenten Bernhard Pez, die Neuigkeit zur Arbeit an der „Historia Fuldensis“ in den „Acta Eruditorum“ zu publizieren. Schannat an Bernhard Pez, 12.12.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 441r–442v. Die Nachricht findet sich auch in den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen (1722), S. 286.

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ihn unter Druck, war doch das Element der Neuheit ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer historiographischen Arbeit. Um Sigler doch noch zuvorzukommen, passte Schannat seine eigenen Tätigkeiten an die neue Situation an und plante die Veröffentlichung des Corpus Traditionum Fuldensium.31 Er sah dieses Werk als Möglichkeit, die wichtigsten Quellen schnell unter seinem Namen zu publizieren und dem Publikum damit einen „Vorgeschmack“32 zu geben, wenngleich das große synthetisierende Werk, die Historia Fuldensis, erst einige Jahre später publiziert werden würde. Als Sigler bereits 1723 starb, konnte der Fürstabt den Nachlass erstehen, der jedoch – so behauptete Schannat nun – nichts Brauchbares enthielt. Inwieweit die Historia Fuldensis vielleicht doch von Siglers Vorarbeiten profitierte, geht aus Schannats Briefen nicht hervor. Weidmann bekam schließlich den Auftrag vom Fürstabt, das Corpus Traditionum Fuldensium zu publizieren.33 Schannat konnte sich jetzt mit dem Verfassen der Historia Fuldensis Zeit lassen.34 Zudem plante er, sich der Würzburger Dombibliothek wieder anzunehmen.35 Der Katalog der Manuskripte wurde am Ende jedoch weder von Sigler noch von Schannat fertiggestellt. Im Gegensatz zu Sigler, der sehr ähnliche Interessen wie Schannat verfolgte, wollte Johann Seyfried sich mit einer Geschichte Frankens einen Namen in der Gelehrtenrepublik machen – so formulierte es zumindest Schannat.36 Seyfried plante dabei wohl für die würzburgische, das heißt, bischöfliche Seite zu argumentieren, im Gegensatz zu Schannat, der ja für die Fuldaer Fürstabtei tätig war und folglich deren Interessen verteidigte.37 Es verwundert also nicht, dass Seyfried Schannats Eifer bei der Sammlung von Quellen rund um die würzburgisch-fuldische Geschichte mit einiger Missgunst beobachtete. Schannat identifizierte gar „jalousie“, also Eifersucht.38 Als Schannat für weiterführende Recherchen nach Mainz fuhr, um die Handschriften des dortigen Jesuitenkollegs zu inspizieren, wurden ihm seine Funde vom zuständigen Rektor weggenommen und an den Jesuiten Seyfried weitergeleitet. Schannat musste – wenn auch nicht ganz freiwillig – kooperieren.

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Johann F. Schannat: Corpus Traditionum Fuldensium. Leipzig 1724. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 10.03.1722. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 445r–446v. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 20.07.1723. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 460r–461v. Die „Historia Fuldensis“ erschien schließlich 1729 in Frankfurt am Main bei Andreae und Hort. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 24.12.1723. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 464r–465v. Siehe Schannat an Bernhard Pez,4 10.08.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 433r–435v. Vgl. zum Konflikt mit Seyfried: Engel, Schannat, S. 59–62. 37 Die 1727 unter einem Pseudonym veröffentlichte Streitschrift gegen Schannats Dioecesis Fuldensis geht mit großer Sicherheit auf Seyfried zurück. Siehe Kilian Mainberg: In rapsodiam Ioannis Friderici Scannat. Ohne Ort 1727. 38 Schannat schrieb Pez: Seyfried „a conçeu pareillement jalousie contre moi“. 27.09.1721. Würzburg. GWLB XLII 1909, fol. 527–528.

Das Ringen um die Quellen

Er tröstete sich damit, dass dem „public“ die Quellen immerhin nicht verborgen bleiben würden. Pez gegenüber behauptete Schannat obendrein, dass er Seyfried unbedingt zu einer Edition anregen wolle, wenngleich er sich natürlich gewünscht hätte, dass dieser „beau tresor“ ihm allein in die Hände gefallen wäre.39 Dies war für Schannat nicht zuletzt deshalb von großer Bedeutung, weil er einige der Quellen, die er gesichtet hatte, an seine Korrespondenten weiterleiten wollte, um sich für deren Unterstützung zu revanchieren.40 Darüber hinaus glaubte er nicht, dass Seyfried die Quellen auf angebrachte Weise nutzen würde. Schannat war überzeugt, dass es seinem Widersacher nur um Ruhm und Anerkennung in der Gelehrtenrepublik ging, und befürchtete, dass die Qualität der Arbeit darunter leiden würde.41 Die wertvollen Manuskripte waren in Schannats Augen an den untalentierten Seyfried verschwendet, so dass er fortan alles daransetzen wolle, um dem Jesuiten zuvorzukommen. Schannat verdächtigte Seyfried zudem, wiederholt dafür gesorgt zu haben, dass ihm der Zugang zu umliegenden Klöstern versperrt blieb beziehungsweise erschwert wurde. Jede Franken betreffende Urkunde wollte Schannat nun schnellstmöglich publizieren, allein um Seyfried „niederzuschmettern“ und „seinen bösen Intrigen“ gegenzusteuern.42 Die Konkurrenzsituation wurde damit von dem ursprünglichen Wettstreit um die Quellen auf eine prinzipielle Ebene gehoben. Den Beteiligten ging es nicht mehr nur um die eigene Arbeit, sondern man korrumpierte gezielt die Handlungsmöglichkeiten des Gegners, womit man diametral von den Idealen der Gelehrtenrepublik abwich.43 Der Streit lief schließlich ins Leere: Aus bislang ungeklärten Gründen kam es nicht zu Seyfrieds Publikation und Schannat erhielt auch in späterer Zeit keinen Zugriff auf die Quellen. Erst 1729 sollte Johann Georg von Eckhart (1664–1740) als unbeteiligter Gewinner aus dem Streit hervorgehen: Er edierte einige der Stücke und konnte mit ihrer Hilfe unter viel Beifall der Gelehrtengemeinschaft eine Geschichte Frankens publizieren.44 Schannat aber hatte aus seinen

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Siehe Schannat an Bernhard Pez, 10.08.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 433r–435v. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 13.02.1722. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 443r–444v. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 10.08.1721. Würzburg. StiA Melk 7/7, II, fol. 433r–435v. Siehe Schannat an Bernhard Pez, 23.10.1722. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 453r–454v: „pour terrasser le pere Seyfrid, qui deja enrage dans sa peau, de ce que malgré ses caballes et touttes ses vilaines intrigues qu᾿il a formé contre moi, l᾿on me donne neantmoins par tout la preference sur lui, et qu᾿on me communique ce qu᾿on lui a refusé de tout tems“. 43 Zum Begriff der Gelehrtenrepublik vgl. den Beitrag von Julia Schmidt-Funke in diesem Band. 44 Johann G. von Eckhart: Commentarii de rebus Franciae orientalis et episcopatus Wirceburgensis. Würzburg 1729. Zu Johann Georg von Eckhart, Historiograf und Bibliothekar, vgl. Stefan Benz: Johann Georg von Eckhart. In: Alfred Wendehorst (Hg.): Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensläufe aus Franken. Bd. 15. Würzburg 1993, S. 35–156; Thomas Wallnig: Johann Georg Eckhart als Verwerter von Leibniz᾿ Kollektaneen. Geschichtsforscher in höfischen Diensten oder gelehr-

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Erfahrungen mit Sigler und Seyfried gelernt. Er informierte Bernhard Pez, dass er im Zusammenhang mit Eckharts Umzug nach Würzburg mit ihm einen „traité de barriére“ abgeschlossen habe, in dem die Gelehrten festlegten, welche Archive von der jeweiligen Seite genutzt werden dürfen.45 Indem Eckhart und Schannat ihre Konkurrenz antizipierten, konnten sie diese umgehen und einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss finden.

Fazit Schannats Auseinandersetzungen mit Sigler und Seyfried können als vielschichtige Aushandlungsprozesse von Deutungshoheit und angemessener Methodik interpretiert werden. Indem er sich als Vertreter einer neuen Diplomatik stilisierte und die noch an älteren Vorbildern orientierte Herangehensweise seiner Kollegen für überholt erklärte, ließ Schannat zudem wiederholt einen Generationenkonflikt anklingen. Dennoch standen bei den hier skizzierten Konkurrenzsituationen nicht primär Inhalte, Ideen oder Methoden im Vordergrund, auch handelte es sich nicht um einen Kampf um „Wahrheit“. Bevor Gelehrte überhaupt weiterführende Denkarbeit leisten konnten, versuchten sie, die Grundressourcen für ihre Arbeit zu sichern; dabei nahmen sie Konkurrenz wahr. Die von Schannat ebenso jenseits der hier beschriebenen Streitfälle verwendete Metapher des zu räumenden „Felde“ ist neben der militärischen Assoziation ein Hinweis auf die erlebte Knappheit der Ressourcen, die vor allem auf lokaler und regionaler Ebene deutlich spürbar war. Orte, an denen die historischen Dokumente aufbewahrt wurden, waren zentrale Anlaufstellen von Gelehrten, um deren Zugang sie Kämpfe austrugen. Dies trifft umso mehr auf die Gelehrten zu, für die die Quelle nicht nur Schlüssel zu Kredit und Ruhm in der Gelehrtenrepublik, sondern auch Grundlage ihres finanziellen Auskommens war. Während Seyfried vor allem für das eigene Renommee an dem Material interessiert war, musste Sigler seine Position in Würzburg behaupten. Für Schannat war die Lage auf existenzieller Ebene noch ernster, da die Quellen zu dieser Zeit seine einzige Möglichkeit waren, einen Lebensunterhalt zu verdienen. Die individuellen „Startpositionen“ im Wettstreit waren überdies durch eine Asymmetrie geprägt, die sich auf die Handlungsspielräume der Akteure auswirkte. Institutionelle Anbindung – man denke an die Jesuiten – und der Grad der lokalen Vernetzung waren Faktoren, die maßgeblich über Erfolg und Misserfolg entschieden. Konkurrenz wurde demzufolge schnell zu einer

ter Beamter? In: Nora Gädeke (Hg.): Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen. Wiesbaden 2012, S. 189–210. 45 Siehe Schannat an Bernhard Pez, 11.04.1724. Fulda. StiA Melk 7/7, II, fol. 468r–469v.

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überindividuellen Angelegenheit, so dass sich zunächst unbeteiligte Dritte oder ganze Institutionen im Zentrum eines Streits wiederfanden. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Situation – zumindest was das Umfeld Schannats betrifft – keinen unmittelbaren Einfluss auf den Diskurs innerhalb der Gelehrtengemeinschaft nahm: In einem Milieu, in dem der Quelle ein derart hoher Wert beigemessen wurde, wurde das Ideal des Teilens nicht grundlegend hinterfragt.46 Jenseits von Fragen des Ruhms und gelehrten Verdiensts war die zunehmende Gruppenbildung unter den Gelehrten auch Konsequenz einer real gelebten Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt. Spätestens hier sind die Parallelen zum heutigen Wissenschaftsbetrieb unverkennbar, mit aller Ambiguität, die solche Konkurrenzereignisse bis heute begleiten. Beim Wettstreit um die Quellen waren Kooperation und Konkurrenz keine Gegensätze, sondern gingen Hand in Hand. Dabei war die Nichtverfügbarkeit von Quellenbeständen einerseits ein Problem, in dessen Überwindung viel Energie und Zeit investiert wurde. Durch das diesbezügliche Taktieren und strategische Publizieren ergaben sich öfter längere Wartezeiten, die nicht immer produktiv genutzt werden konnten. Andererseits führte die Quellenknappheit zu schnelleren Publikationen und neuen Publikationsformaten. Auch heute noch haben wir es diesen – gleichwohl durch Zeitdruck nicht immer qualitativ hochwertigen – Quelleneditionen zu verdanken, dass manche Dokumente überhaupt überliefert sind. Der Fokus auf die Quellen brachte außerdem neue Darstellungsweisen mit sich, die die Geschichtswissenschaft methodisch bereicherten und noch immer prägen. Darüber hinaus waren es aber vor allem die Auftraggeber, die von der gelehrten Konkurrenz profitierten. Sie konnten sich auf einem umkämpften Arbeitsmarkt bedienen, auf dem exzellent ausgebildete Spezialisten ihre Dienste für eine geringe Entlohnung anboten. Für die Gelehrten selbst waren solche Aufträge wichtige Chancen, um sich eine Karriere aufzubauen; sie konnten sich der Konkurrenzsituation kaum entziehen. Für sie war die Konkurrenz alltäglicher Interaktionsmodus, der zwar durchaus als treibender Motor verstanden wurde, allerdings auch zu hoher Belastung führte. Dabei galt: Wer dieser Belastung standhielt und seine Konkurrenten hinter sich lassen konnte, zählte zu den Gewinnern des Systems.

46 Vgl. zum Teilen das Kapitel Epistemische (Un-)Tugenden in Weis, Schannat, S. 280–286.

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Erster über Bande Konkurrenz, Gefälligkeiten und die Ränder der gelehrten Milieus Die gelehrten Journale des 18. Jahrhunderts boten intellektuellem Streit nicht nur eine mediale Plattform, sondern sorgten auch dafür, ihn einem interessierten Publikum darzubieten.1 Allerdings konnte es dort auch friedlicher zugehen. Manchmal überschlugen sich die Journale geradezu mit Liebenswürdigkeiten. Ihrer Selbstdarstellung zufolge ergaben sich in solchen Fällen interessante Beiträge aus einer Verkettung von Gefälligkeiten, die jemand anderem zuliebe getan wurden. Mit einem solchen Fall (vermeintlicher) Liebenswürdigkeit möchte ich mich hier etwas näher befassen, um damit ein exemplarisches Schlaglicht auf die Dynamiken von Situationen gelehrter Konkurrenz zu werfen, die nicht als solche benannt wurden. Eine publizistische Kontroverse infolge gelehrter Konkurrenz kam nicht automatisch zustande, sondern nur unter bestimmten Bedingungen, da alle Beteiligten, Gelehrte wie Journale, spezifische Eigeninteressen in die Situation einbrachten. Anhand der Berichterstattung in den gelehrten Journalen über die Diskussion der Entschlüsselung der palmyrenischen Inschriften in den 1750er Jahren zeigt sich, wie volatil derartige Rezeptionsprozesse sein konnten.

1 Vgl. u. a. (in chronologisch absteigender Reihenfolge): Thomas Gloning: Spielarten von Kontroversen in der Wissenschaftskommunikation des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Michael Prinz / Jürgen Schiewe (Hg.): Vernakuläre Wissenschaftskommunikation. Beiträge zur Entstehung und Frühgeschichte der modernen deutschen Wissenschaftssprachen. Berlin / Boston 2018, S. 101–138; Marian Füssel: Multinormativität in der Gelehrtenkultur? Versuche der Normierung „guter gelehrter Praxis“ im 17. und 18. Jahrhundert. In: Rechtsgeschichte / Legal History 25 (2017), S. 127–136; Kai Bremer / Carlos Spoerhase (Hg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt am Main 2011; Victoria Franke: Der Einfluss der Allgemeinen Literatur-Zeitung (1785–1803) in den Niederlanden. Die Entstehung von Polemik in Rezensionszeitschriften. In: Jan Konst u. a. (Hg.): Niederländisch-Deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Göttingen 2009, S. 197–213; Hedwig Pompe: Zeitung / Kommunikation. Zur Rekonfiguration von Wissen. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Wien u. a. 2005, S. 157–324; Martin Gierl: Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln u. a. 2004, S. 417–438.

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Gefälligkeiten Die „Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen“ berichteten am 17. Oktober 1754 davon, dass ihnen eine Gefälligkeit erwiesen worden sei, die sie nun weitergeben konnten: Wir hoffen unsern Lesern eine Gefälligkeit zu erweisen, wenn wir ihnen das neulich gemeldete Palmyrenische Alphabet des Hrn. Swintons um eine Zeit mittheilen, da es noch in England und von dem Erfinder selbst geheim gehalten wird, als welcher nicht zugeben will, daß es von andern bekannt gemacht werde, ehe es in den Transactionen der Londonischen Societät erschienen ist. Wir haben es ohne eine solche Verpflichtung durch einen Freund in England erhalten, welches wir hier ausdrücklich melden müssen, weil nachher und unterdessen, da wir es in Holtz schneiden liessen, eine andere aber ungemein viel unvollständigere Abschrift desselben von Hrn. Swintons eigener Hand hieher gekommen ist, auf deren Rücken ein Verbot, sie nicht bekannt zu machen geschrieben war. Dieses brechen wir nicht, denn wir bedienen uns derselben Abschrift nicht, wie auch aus der mehr als dreyfach grösseren Vollständigkeit des Alphabets erhellet, so hier folget.2

Die ausdrückliche und reichlich spitzfindige Meldung, wie die „Göttingischen Anzeigen“ an diese Nachricht gekommen waren, weist schon darauf hin, dass die den Lesern erwiesene Gefälligkeit ganz so harmlos nicht war. Immerhin wurde damit die erklärte Absicht des eigentlichen Autors John Swinton (1703–1777), seine Ergebnisse bis zur Veröffentlichung in den „Philosophical Transactions“ vertraulich zu behandeln, unterlaufen. In eben dieser Veröffentlichung sprach Swinton allerdings in ganz ähnlicher Weise von Gefälligkeiten, die ihm während der Arbeit erwiesen worden seien: Not long after I had finished my conjectures upon the Palmyrene inscription published by Gruter and M. Spon, I received a most obliging letter from M. l’Abbé Barthelemey […] wherein he informed me, that he had taken great pains to explain that inscription, and another drawn in the same character, published likewise by Mr. Spon. As he seemed to think, that he had not intirely deciphered those inscriptions, he recommended it to me to take them both into my consideration, and to what I could make of them.3

2 O. A.: Oxford. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (im Folgenden: GAGS) 15 (1754), S. 1066–1068, hier S. 1066. 3 John Swinton: Explication of all inscriptions in the Palmyrene language and character hither to publish’d. In five letters from the Reverend Mr. John Swinton, M. A. of Christ-Church, Oxford, and F. R. S. to the Reverend Thomas Birch, D. D. Secret. R. S. In: Philosophical Transactions (im Folgenden: PT) 48 (1753/54), S. 690–756, hier S. 743.

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Der angesprochene Jean-Jacques Barthélemy (1716–1795), Mitglied der Academie des Inscriptions et Belles-Lettres, hatte gleichzeitig ebenfalls einen Versuch unternommen, die bislang in Europa nicht lesbare palmyrenische Schrift zu entschlüsseln. Swinton ging es nun darum, den Platz als Erster – und damit eigentlicher – Entdecker zu beanspruchen. Jean-Jacques Barthélemy selbst würdigte Swinton in seiner Fassung keines Wortes, obwohl er wusste, dass der englische Kollege am selben Thema arbeitete wie er. Der strategische Sinn dahinter war nicht der, eine Kontroverse insgesamt zu vermeiden, sondern im Gegenteil die eigene Position dadurch zu immunisieren, dass dem Konkurrenten – Swinton – die intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wurde. Ein Jahr zuvor, 1753, hatten zwei britische Gentlemen-Reisende und Amateurforscher, Robert Wood (1716/17–1771) und James Dawkins (1722–1757), in London eines der Resultate ihrer recht abenteuerlich verlaufenen Grand-Tour-Variante veröffentlicht, die sie zwischen 1750 und 1752 durch Italien, Griechenland, Ägypten und Syrien geführt hatte. Der reichhaltig illustrierte Band „The Ruins of Palmyra, otherwise Tedmor in the Desart“ zeigte in detaillierten Stichen, die auf eigene Messungen und Skizzen vor Ort zurückgingen, die architektonischen und epigraphischen Überreste der antiken Metropole Palmyra in der syrischen Wüste.4 „The Ruins of Palmyra“ wurde ein Publikumserfolg, aber nicht nur das: Die darin abgedruckten antiken palmyrenischen Inschriften waren deutlich besser abgeklatscht und nachgestochen worden als die Kopien, die in Europa bereits im Umlauf waren, und boten klassischen Philologen damit nun erstmals die Möglichkeit, das Palmyrenische zu entschlüsseln. Alle vorigen Versuche dazu waren gescheitert.5 Da die Sprache ausgestorben war und keine anderen Zeugnisse als die Inschriften vorlagen, galt die Rekonstruktion als außerordentlich schwierig.6 So gingen im Frühjahr 1754 zwei Gelehrte unabhängig voneinander daran, die Entschlüsselung zu versuchen: Barthélemy in Paris und Swinton in Oxford. Beiden gelang es. Dabei handelte es sich um die erste europäische Entschlüsselung einer unbekannten antiken Schrift und Sprache, im Wissenschaftsbetrieb des 18. Jahrhunderts eine Sensation.7 Die „Nova Acta Eruditorum“ sprachen 1757 von einer 4 Robert Wood: The Ruins of Palmyra, otherwise Tedmor in the Desart. London 1753; frz. Parallelausgabe: Les Ruins de Palmyre, autrement dite Tedmor, au desert. London 1753. 5 Peter T. Daniels: „Shewing of Hard Sentences and Dissolving of Doubts“. The First Decipherment. In: Journal of the American Oriental Society 108 (1988), S. 419–436, hier S. 427. 6 Eusèbe Renaudot.: Eclaircissement sur les explications que les Anglois ont données de quelques inscriptions de Palmyre, & des remarques sur une qui se trouve à Heliopolis de Syrie, appellée communément Baalbek. In: [Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (Hg.)]: Memoires de Litterature tirez des registres de l‘Academie Royale des Inscriptions et Belles Lettres, Bd. 2. Paris 1717, S. 509–531; hier S. 516. O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: Journal des Savants 89 (1754), S. 660–666; hier S. 661. 7 Daniels, The First Decipherment, hier S. 425 f.

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„glücklichen und glorreichen Entdeckung unserer Zeit“, „felix & gloriosum aetati nostrae Ἕυρημα“.8 John Swinton auf der einen und Jean-Jacques Barthélemy auf der anderen Seite hätten damit die Möglichkeit gehabt, sich als Entdecker feiern zu lassen, denn, so schrieben die „Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen“ im März 1755, „eine so schöne Entdeckung muss nicht nur dem Verfaßer, sondern auch unsern Zeiten, beständig Ehre machen.“9

Konkurrenz der Journale Unabhängig davon gab es im deutschsprachigen Raum schon vor der Veröffentlichung der eigentlichen Rekonstruktion einen Wettlauf um Nachrichten über die bevorstehende Entschlüsselung. Die „Göttingischen Anzeigen“ berichteten am 24. August 1754 das erste Mal von Swintons Arbeiten, aber noch ohne konkretes Ergebnis: Oxford. Swinton will das Palmyrenische Alphabet entdeckt, und die bekannten Denckmähler dieser Stadt so weit entziefert haben, daß er sie verstehet. Wir sind sehr begierig, sein Alphabet zu sehen, und werden nicht unterlassen, mehr Nachricht davon zu geben, so bald wir sie selbst erhalten.10

Mehr Details beinhalteten die Hamburger „Freye[n] Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt“ in ihrer Ausgabe vom ersten Oktober,11 woraufhin die „Göttingischen Anzeigen“ am 17. Oktober Swintons Alphabet abdruckten. Mit der französischen Seite der Diskussion, also Jean-Jacques Barthélemys Beiträgen, tat sich die deutsche gelehrte Presse dagegen schwer. Am fünften September 1754 hatten sich die „Göttingischen Anzeigen“ noch gefragt, ob Swinton und Barthélemy überhaupt die gleiche Entdeckung gemacht hätten:

8 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servait autrefois à Palmyre]. In: Nova Acta Eruditorum (im Folgenden: NAE) 26 (1757), S. 623–630, hier S. 625. 9 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servait autrefois à Palmyre]. In: Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen (im Folgenden: NZGS) 41 (1755), S. 209–210, hier S. 209. 10 O. A.: Oxford. In: GAGS 15 (1754), S. 896. 11 O. A.: Oxford. In: Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt 11 (1754), S. 616.

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Ob dieses, und das S. 896 gemeldete zu Oxford entdeckte Palmyrenische Alphabet einerley sey, können wir noch nicht sagen: wir werden aber von der Parisischen Entdeckung hoffentlich nächstens eine nähere Nachricht, und Exemplar des Abdrucks erhalten.12

Fünf Wochen später, am 17. Oktober, konnten sie es immerhin bejahen. Allerdings nur unter Vorbehalt, denn: Ob aber beyde Erfindungen in allen eintzelnen Kleinigkeiten mit einander übereinkämen, konnte man nicht sagen, weil der Engländer, der die Reflexions des B. zu Paris gesehen hatte, zwar dabey gewesen war, als Swintons Abhandlung der Londonschen Societät vorgelesen war, sich aber in einer solchen Sache auf das blosse Gedächtniß nicht verlassen durfte.13

Dabei hatte Barthélemy seine Ergebnisse bereits am 14. Februar 1754 in einem Vortrag vor der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres vorgestellt14 und am 18. Juli 1754 die Druckfreigabe des Zensors für die Publikation seiner Ergebnisse erhalten.15 Das „Journal des Savants“ hatte diese kleine Schrift im Oktober 1754 mit einer für den Umfang des besprochenen Werks erstaunlich langen Rezension gewürdigt,16 und nach dem unbekannten englischen Informanten der „Göttingischen Anzeigen“ war sie spätestens zu diesem Zeitpunkt in Paris im Umlauf. Die „Memoirs de Trevoux“ hatten bereits im August 1754 angekündigt, dass die „Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre“ demnächst in den Druck gehen würden,17 und hatten den fertigen Druck parallel zum „Journal des Savants“ im Oktober besprochen.18 Die „Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen“ rezensierten Barthélemys „Réflexions“ im März 1755,19 während es den „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“ erst im Mai 1755 gelang, sich ein Exemplar zu beschaffen.20 Das Leipziger

12 O. A.: Nachricht. In: GAGS 15 (1754), S. 927 f. 13 O. A.: Oxford. In: GAGS 15 (1754), S. 1068. 14 Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre. Par M. l’Abbé Barthelemy, de l’Académie Royale des Inscriptions & Belles-Lettres, Garde du Cabinet des Medailles du Roi. Paris 1754, S. 11. 15 Ebd., S. 32. 16 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: Journal des Savants 89 (1754), S. 660–666. 17 Memoires de Trevoux (im Folgenden: MT) 54 (1754), S. 2092–2093. 18 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: MT 54 (1754), S. 2428–2438. 19 O. A. : [Rez.: Barthélemy, Réflexions]. In: NZGS 1755, S. 209–210. 20 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: GAGS 16 (1755), S. 588–589.

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Journal „Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“ lieferte im November und Dezember 1755 eine längere Rezension in zwei Teilen, die den Stand der Debatte zusammenfasste.21 Dort hieß es, dass man auch gar nicht anders könne, wolle man dem Publikum gefällig sein: Da wir aufmerksam sind, unsern Lesern nichts unbekannt zu lassen, was in dem litterarischen Fache heutiges Tages die Aufmerksamkeit der Gelehrten an sich zieht: so können wir auch dieß Werk ihnen nicht vorenthalten. Ganz Europa redet itzo von den Palmyrenischen Alterthümern.22

Wiewohl die Entschlüsselung als solche durchaus als bedeutende philologische Leistung eingeschätzt wurde, war die Diskussion im Rest Europas aber weniger intensiv als in England, Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich. Die italienischen „Memorie per servire all’istoria letteraria“ lieferten im Juni 1755 eine Zusammenfassung der Diskussion, die sich vor allem auf Barthélemy stützte.23 In den Niederlanden fand diese gelehrte Debatte kaum öffentliches Echo; dennoch bildeten sie eine entscheidende Scharnierstelle zur deutschsprachigen Diskussion. Die ersten Nachrichten über Swintons Entdeckung, die auf den Kontinent gelangten, fanden sich in der Ausgabe für April und Mai 1754 des „Journal Britannique“, das in Den Haag gedruckt wurde.24 Die dortige kurze Notiz diente den Hamburger „Freyen Urtheilen“ als Vorlage für die bereits zitierte Meldung. Ob auch die „Göttingischen Anzeigen“ ihre ersten Informationen aus dieser Quelle bezogen, muss hier offenbleiben. Auch die schließlich erfolgte Veröffentlichung der Ergebnisse John Swintons in den „Philosophical Transactions“ konnte eine zeitnahe Rezeption auf dem europäischen Festland nicht garantieren. Christian Gottlieb Jöcher (1694–1758) machte 1756 geltend, dass er Swintons Aufsatz nicht vorliegen habe und daher auf Barthélemy zurückgreifen müsse: Ein Engländer soll zu gleicher Zeit mit ihm eben dieselbe Entdeckung gemacht haben: beyder Grundsätze aber nur in einigen wenigen Nebendingen von einander abgehen. Da

21 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre. Teil 1]. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (im Folgenden: NAG) 5 (1755), S. 805–813; O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre. Teil 2]. In: NAG 5 (1755), S. 904–907. 22 O. A. : [Rez.: Barthélemy, Réflexions, 1]. In : NAG 1755, S. 805. 23 O. A.: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: Memorie per servire all’istoria letteraria 5 (1755), S. 33–42. 24 O. A.: Oxford. In: Journal Britannique 14 (1754), S. 194.

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wir also des Engländers Schrift nicht besitzen, so wollen wir des Franzosen Erfindung vortragen.25

Mangelnde Rezeption konnte aber nicht nur in deutschen, sondern auch in innerenglischen Zusammenhängen der Fall sein. Dann war sie jedoch nicht der Verfügbarkeit der Schriften geschuldet, sondern einem Desinteresse an ihrem Inhalt. Für ein breiteres Publikum wurde das Sujet wohl doch nicht als sonderlich attraktiv eingeschätzt. Das „Gentleman’s Magazine“ kam zumindest im Oktober 1755 zum Schluss, da man die Inschriften jetzt lesen könne, lasse sich auch feststellen, wie langweilig sie eigentlich seien: The inscriptions, however, appear to contain nothing important or interesting, being generally no more than a superstitious dedication of some monument to a Pagan deity, for the health and prosperity of the founder and his family, or in consequence of some vow made in distress.26

Das ganze Europa, das von den palmyrenischen Inschriften sprach, beschränkte sich wohl doch auf ein relativ kleines Segment der publizistisch erreichbaren Öffentlichkeit – diejenigen, die gelehrte Journale lasen. Ein Blatt gemischten Inhalts wie das „Gentleman’s Magazine“, das unterschiedliche Leserkreise ansprach, druckte gelehrte Neuigkeiten nur dann, wenn sie aufregend genug zu sein versprachen.

Was braucht es für eine Kontroverse? Die „Göttingischen Anzeigen“ besprachen im Mai 1755 die englische Übersetzung der Schrift Barthélemys und zeigten dabei einen genialen Schachzug der Verleger zur Verbreitung des übersetzten Werks auf. Diese druckten Barthélemys Alphabet und seine Erläuterungen dazu im selben Format wie die „Ruins of Palmyra“, so dass sie nicht nur als Ergänzung genutzt, sondern auch gleich mit Woods und Dawkins Werk zusammengebunden werden konnten.27 Es gibt wenigstens ein erhaltenes Exemplar der „Ruins of Palmyra“, das diese Zusammenbindung tatsächlich belegt.28

25 [Christian Gottlieb Jöcher]: [Rez. zu: Jean-Jacques Barthélemy: Réflexions sur l’alphabet et sur la langue dont on se servoit autrefois à Palmyre]. In: Zuverlässige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften 17 (1756), S. 270–275, hier S. 271. 26 O. A.: Account of the last Book of Philosophical Transactions. In: The Gentleman’s Magazine and Historical Chronicle 25 (1755), S. 453–455, hier S. 454. 27 O. A.: [Rez: Barthélemy: Réflexions]. In: GAGS (1755), S. 589. 28 Österreichische Nationalbibliothek 44. A.10 PAP MAG: Wood, Ruins; hinten angeb.: Barthélemy, Reflections.

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Dieses Anknüpfen an den Verkaufserfolg der „Ruins of Palmyra“ wiederum war gefährlich für John Swinton, denn der versuchte seit dem Erscheinen seines Aufsatzes in den „Philosophical Transactions“, als Entdecker zu gelten. Seine Ergebnisse, die kommerziell weniger zielstrebig vermarktet wurden, liefen so Gefahr, weniger Aufmerksamkeit zu erhalten. Innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie der gelehrten Milieus war ein Marker für die Rezeption einer neuen These die dadurch ausgelöste Kontroverse. Gelehrte Polemiken lieferten dabei nicht nur zuverlässig curieuse Neuigkeiten, sie gaben üblicherweise auch beiden Seiten die Möglichkeit, sich als Sieger zu inszenieren, denn die Dispute wurden in der Regel nicht beigelegt, sondern liefen einfach irgendwann aus. John Swinton bemühte sich daher, sich öffentlichkeitswirksam als erster Entdecker zu inszenieren. Zu Beginn seines Beitrags in den „Philosophical Transactions“ datierte er seine Entdeckung auf den 12. Januar 1754, „in less than two hours time“ zwischen 17 und 19 Uhr. Der Brief an Thomas Birch (1705–1766), dem Sekretär der Londoner Royal Society, in dem er das mitteilte, ging am 30. Mai 1754 von Oxford nach London ab.29 Diese Klarstellung war offenbar notwendig; eine undatierte Notiz von Birchs Hand gibt eine entsprechende Korrektur wieder: „Mr. Swinton, F.R.S. discovered the alphabet of the Palmyrene Inscription in the beginning of February immediately after their publication, […].“30 Ein Termin vier Wochen vor Barthélemys Beschäftigung mit den Inschriften – die dieser am 12. Februar begonnen hatte – und ein Ergebnis innerhalb von zwei Stunden anstelle der zwei Tage, die Barthélemy angab,31 sollten Swintons Präzedenz beglaubigen. Das gelang aber nicht wie gewünscht. Die französischen Journale, die eifrig Jean-Jacques Barthélemys Publikation besprachen, erwähnten Swinton in diesen Beiträgen nicht einmal in Form einer Randnotiz, obwohl ihnen dafür, wenn schon nichts anderes, zumindest eine Ankündigung im „Journal Britannique“ als Grundlage zur Verfügung gestanden hätte. Die mit diesem eng verflochtene Leidener „Bibliothèque Impartiale“ hatte die Meldung im Mai 1755 nochmals aufgegriffen und dabei beide, Barthélemy und Swinton, explizit in einem Atemzug genannt.32 Barthélemys ostentatives Desinteresse übertrug sich auf alle Beiträge, die vornehmlich ihn zitierten, und damit besonders auf die französischen Journale. In ihnen kam Swinton einfach nicht vor. Der hingegen nahm das, was er als Mobilmachung der französischen Presse gegen ihn empfand, als Anlass, sich noch 1765 gegenüber Birch zu beschweren, in Frankreich sei man aus Prinzip gegen ihn.33

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Swinton, Explications, S. 690. British Library Add MS 4444, fol. 168r. Barthélemy, Réflexions, S. 14. O. A.: Angleterre. Oxford. In: Bibliothèque Impartiale 11 (1755), S. 432. British Library Add MS 4444, John Swinton an Thomas Birch, Oxford, 4. März 1765, fol. 62r–63r, hier fol. 63r.

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Die Reaktionen in den gelehrten Journalen des deutschen Raums fielen dagegen durchaus verschieden aus. Die „Nova Acta Eruditorum“ besprachen Barthélemys „Réflexions“ erst im Oktober 1757 – was ein wenig seltsam anmutet, wenn man bedenkt, dass das ebenfalls in Leipzig erscheinende „Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“ bereits zwei Jahre früher so weit war –, und verwiesen dabei darauf, dass sie Swintons Variante beizeiten würdigen würden.34 In der folgenden November-Ausgabe kam es so zu einem der seltenen Fälle, in denen ein Zeitschriftenaufsatz mit einer ausführlichen Rezension bedacht wurde. Sie enthielten sich allerdings eines Urteils darüber, wem denn nun das Erstentdeckungsrecht gebühre.35 Die „Göttingischen Anzeigen“, die Swintons „Explications“ ebenfalls besprochen hatten, waren da entschiedener. Herr Godwyn gab Swinton zuerst Nachricht, daß er einige Palmyrenische Buchstaben durch Hülfe der gegen über stehenden Griechischen Inscriptionen gefunden hätte: hierauf gab S. sich am 12ten Jan. 1754 selbst an die Arbeit, entdeckte in 2 Stunden auf gleiche Weise in den leichtesten Inschriften 20 Buchstaben, und war vor dem Ende des Februarii mit seiner Entdeckung fertig; doch so daß er noch nachher einiges daran gebeßert, und in spätern Briefen bis zum 14 Nov. zugesetzt hat.36

Wie sie offen zugaben, folgten die „Göttingischen Anzeigen“ damit genau den Angaben, die Swinton selbst in den „Philosophical Transactions“ gemacht hatte. Nicht ganz zwei Jahre zuvor, im Oktober 1754, hatten sie ihrem Publikum bei der Verkündung der Gefälligkeit, die sie zu erweisen im Begriff waren, noch vermittelt, dass Swintons Entdeckungsprozess nicht abgeschlossen sei und seine Ergebnisse höchstens als vorläufig gelten könnten, weshalb ja die Veröffentlichung der verbesserten Version einen echten Mehrwert darstelle. Im Schriftverkehr zwischen Swinton und Birch lässt sich nachlesen, dass Swinton bis in den November 1754 hinein ständig an seiner Fassung des palmyrenischen Alphabets herumredigierte und -korrigierte,37 während Barthélemys „Refléxions“ zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten in Paris zu kaufen waren.

34 O. A.: [Rez. Barthélemy: Réflexions]. In: NAE (1757), S. 623–630. 35 O. A.: [Rez. zu: John Swinton: Explication of all inscriptions in the Palmyrene language and character hither to publish’d]. In: NAE 26 (1757), S. 671–678, hier S. 677. 36 O. A.: [Rez. zu: John Swinton: Explication of all inscriptions in the Palmyrene language and character hither to publish’d]. In: GAGS 17 (1756), S. 586–590, hier S. 586. 37 Die finale Version schickte Swinton am 11. November nach London: British Library Add MS 4319, Birch Collection, Letters to Dr. Birch, John Swinton an Thomas Birch, Oxford, 11. November 1754, fol. 55r–v.

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Konkurrenz der Gelehrten: Der Streit um den ersten Platz In seinem Aufsatz in den „Philosophical Transactions“ hatte Swinton versucht, es so darzustellen, als sei Barthélemy die Entzifferung nicht ganz geglückt, weshalb er ihm die Gefälligkeit erwiesen habe, ihm die schwierigen Inschriften zur Analyse zu überlassen. Barthélemy hingegen ließ sich gar nicht erst auf eine solche Diskussion ein und brachte seine Überlegenheit mit ostentativer Gleichgültigkeit zum Ausdruck. Das lag wohl an den unterschiedlichen Lebenssituationen der beiden: John Swinton hatte nach einem vielversprechenden Beginn seine akademische Karriere 1739 wegen Vorwürfen der Unzucht mit Studenten beenden müssen (auch wenn er nicht verurteilt wurde) und arbeitete 1754 als Pfarrer und Gefängniskaplan in Oxford. An die Universität war er nur noch als Student der Theologie angebunden.38 Jean-Jacques Barthélemy hingegen war als Kustos der königlichen Münzsammlung und Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres im französischen gelehrten Milieu sicher eingebunden. Für ihn handelte es sich bei dem Vortrag vom 14. Februar 1754 nur um einen von vielen.39 Für Swinton hingegen war die Chance auf seine erste Veröffentlichung in den „Philosophical Transactions“ etwas, das er sich nicht entgehen lassen wollte. Zunächst hatte er mit seiner Darstellung durchaus Erfolg: Die englische und der größte Teil der deutschen gelehrten Presse sprachen ihm die Erstentdeckung zu. Da wir vor kurzem die kleine Schrift des Herrn Abbe Barthelemy, zu Paris, angezeigt, worinnen er uns ebenfalls Nachricht gegeben, daß er die Sprache von Palmyra kennen gelernet: so war es unsere Schuldigkeit, auch des Herrn Swinton zu gedenken; nicht deswegen, damit der erste Urheber dieser glücklichen Erfindung bekannt würde, sondern damit man sehe, daß die Erfindung selbst ihre völlige Richtigkeit habe, indem beyde Gelehrte, in ihrer Erklärung genau mit einander übereinstimmen. Wir sind aber doch geneigt, den Engländer vor den ersten Erfinder zu halten; besonders, weil ihm die Reisebeschreibung von Palmyra, welche im vorigen Jahre in England herausgekommen, unstreitig die nächste Gelegenheit dazu gegeben.40

Gerade die deutschen Journale lieferten ihm damit die womöglich entscheidende Rückendeckung für seinen Anspruch, indem sie deutlich machten, dass er auch

38 Edward I. Carlyle / Rictor Norton: Art. Swinton, John (1703–1777). In: Oxford Dictionary of National Biography. 2004. URL: https://doi.org/10.1093/ref:odnb/26852 (07.04.2022). 39 Barthélemy, Réflexions, S. 11. 40 O. A.: Oxford. In: NZGS 41 (1755), S. 233–234.

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über England hinaus Anerkennung fand – wenn vielleicht auch nicht in der république des lettres, dann doch zumindest in der (deutschsprachigen) res publica litterarum. Erzeugt wurde diese Öffentlichkeitswirksamkeit erst durch die Perspektive, die die deutschen Journale auf die Vorgänge in Paris und London richteten. Ein offener Konflikt entstand daraus allerdings nicht. Die englischen Journale interessierten sich dafür nicht sonderlich, Jean-Jacques Barthélemy machte keine Anstalten, selbst die Präzedenz zu beanspruchen, und die französischen Journale brachten dementsprechend keine Zeile dazu. Es waren die deutschen Journale, die beide Darstellungen rezipierten – wenn auch, je nach ihren Verbindungen, deutlich unterschiedlich – und einen Zusammenhang herstellten, in dem Swintons und Barthélemys Versionen als unmittelbar konkurrierend dastanden. Das taten sie allerdings nicht Swinton zuliebe, sondern um ihrer eigenen Vorteile in der Konkurrenzsituation der deutschen Medienlandschaft willen. Swinton hatte unwissentlich über die deutsche Bande gespielt und – zumindest für sich – damit gewonnen. Geschuldet war das der Situation, in der sich die gelehrten Journale befanden: Ihre Struktur spiegelte die Aufmerksamkeitsökonomien des akademischen Metiers ebenso wider wie die intellektuellen Verflechtungen der Gelehrten, über die sie berichteten. Einerseits waren sie, um erscheinen zu können, von einer gedeihlichen Zusammenarbeit abhängig, die über die bloße Übernahme von Mitteilungen aus weiter entfernten Gegenden hinausging; andererseits fanden sie sich, sobald sie mit einem überregionalen Anspruch auftraten, vor allem in der deutschen Medienlandschaft in einer Konkurrenzsituation mit einer unübersichtlichen Menge ähnlicher Publikationen wieder, in der Berichte mit Neuigkeitswert zu echten Marktvorteilen wurden. Für Swinton öffneten sich so die Türen zum englischen akademischen Establishment. Es folgten 37 weitere Beiträge für die „Philosophical Transactions“ aus seiner Feder, und 1767 wurde er zum Universitätsarchivar in Oxford ernannt.41 Die öffentlich kolportierten Gefälligkeiten, die den Anfang dieses Prozesses begleitet hatten, waren dabei gar keine. Die Gefälligkeiten dienten dazu, im Streit um konkurrierende Ansprüche potentiell illegitime Mittel wie Vertrauensbruch und Verleumdung rhetorisch zu verbrämen. In einem sich gegenseitig bedingenden Zusammenspiel von Simulation und Dissimulation sowohl auf der Ebene des gelehrten Austauschs wie auf der der Berichterstattung durch die gelehrten Journale konnten die unterliegenden Dynamiken auch dort konkurrenzförmig sein, wo man es ihnen nicht ansah.

41 Carlyle / Norton, Swinton.

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Die Nutzlosigkeit der Fakultäten Ressourcenkonkurrenzen zwischen Fachdisziplinen und zwischen Hochschullehrern um 1800 „Die Vertheilung der Academie in Facultäten hat gar keinen eigentlichen Nutzen, und verursacht nur eine Art der Spaltung unter den Lehrern, die mehrern Schaden als Vortheil bringt.“1 Dieser Satz steht im Zentrum einer Schrift des Kieler Insektenkundlers und Ökonomen Johann Christian Fabricius (1745–1808) aus dem Jahr 1796, in der Fabricius, zwei Jahre bevor Immanuel Kant (1724–1804) seine berühmte Schrift „Streit der Facultäten“2 veröffentlichte, eine Reform des dänischen Universitätswesens vorschlug.3 Das Werk, das in Dänemark einiges Aufsehen erregte, reiht sich in eine lange Reihe universitätszentrierter Reformschriften im mittel- und nordeuropäischen Raum ein, die besonders in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zunahmen.4 In diesen Schriften spielten die typischen aufklärerischen Verbesserungs- und Nützlichkeitsdiskurse eine entscheidende Rolle, und sie waren – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – im universitären Raum auch von disziplinärer Konkurrenz durchdrungen. Das Wort Spaltung verweist zudem ebenfalls auf das weite semantische Feld der Konkurrenz in der Frühen Neuzeit, welches gerade in der Gelehrtenwelt enge Verknüpfungen mit dem Feld des Streits vorweist.5 Vor dem Hintergrund von Fabricius’ eigener Vita gelesen, flossen in

1 Johann Christian Fabricius: Über Academien insonderheit in Dänemark. Kopenhagen 1796, S. 73. Mit „Academien“ meint Fabricius Universitäten, damals eine Männerwelt, daher das Maskulinum. 2 Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten. Königsberg 1798. 3 Die Kieler Universität im Herzogtum Holstein war deutschsprachig, aber seit 1773 Teil des dänischnorwegischen Konglomeratsstaates und somit sowohl in deutsche als auch skandinavische Debatten und politische Gemengelagen eingebunden. 4 Vgl. dazu zuletzt Johan Lange: A Useful Public Institution? Languages of University Reform in the German Territories, 1750–1800. In: Susan Richter u. a. (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe Lost Its Fear of Change. London u. a. 2020, S. 197–210 und speziell zu Skandinavien: Mikkel M. Jensen: From Learned Cosmopolitanism to Scientific Inter-Nationalism. The Patriotic Transformation of Nordic Academia and Academic Culture during the Long Eighteenth Century. Unveröff. Dissertation, European University Institute. Florenz 2018. Zur Universität Kiel: Swantje Piotrowski: Sozialgeschichte der Kieler Professorenschaft 1665–1815. Gelehrtenbiographien im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Qualifikation und sozialen Verflechtungen. Kiel u. a. 2018. 5 Siehe dazu die Einleitung von Julia Schmidt-Funke und den Kommentar von Martin Mulsow zu dieser Sektion.

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dessen Reformvorschläge auch eindeutig persönliche Konkurrenzerfahrungen mit anderen Professoren der Kieler Universität ein. Beides, sowohl Fabricius’ wissensorganisatorische Zeitanalyse als auch seine persönliche Erfahrung, wird in diesem Beitrag in Konjunktion analysiert, um eine weitere Facette gelehrter Konkurrenzen um 1800 zu erschließen, die für die Entwicklung von Fachdisziplinen und die Geschichte des Verhältnisses zwischen „Staat“ und Universität von hoher Bedeutung sind.6 Im 18. Jahrhundert wurden eine ganze Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie spezifisches Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten für die wachsenden Staatsadministrationen nutzbar gemacht werden könnten. Es ist unbestritten, dass Universitäten, deren Personal und die Ausbildung der Studierenden im Zentrum der Debatten standen. Dies wird allerdings meist entweder lediglich anhand der entstehenden Spezialhochschulen oder der beiden „Aufklärungsuniversitäten“ Halle und Göttingen als Trägerinnen einer vermeintlich zukunftsweisenden Veränderung exemplifiziert.7 Insofern verspricht ein Blick auf eine der zahlreichen kleineren Universitäten neue Erkenntnisse über das Selbstverständnis von Hochschullehrern und ihr Verhältnis zu Staatlichkeit am Ende des Ancien Regime.8

Die Herausbildung neuer Fachdisziplinen und die Konkurrenz der Fakultäten Spezifische Felder des (akademischen) Wissens, nämlich die Kameralwissenschaften und die entstehenden universitätsbasierten Naturwissenschaften, fielen seit Anfang des 18. Jahrhunderts besonders ins Blickfeld staatlicher Akteure bzw. wurden erstmals als Lehrfächer an den Universitäten eingerichtet.9 Einerseits produzier6 Vgl. Stefan Gerber: Korporation und „Staatsanstalt“. Anmerkungen zum Verhältnis von Universität und Staat um 1800. In: Joachim Bauer u. a. (Hg.): Universität im Umbruch. Universität und Wissenschaft im Spannungsfeld der Gesellschaft um 1800. Stuttgart 2010, S. 75–93. Für eine Analyse der longue durée von Nützlichkeitsparadigmen und Wissenschaften vgl. zuletzt: Désirée Schauz: Nützlichkeit und Erkenntnisfortschritt. Eine Geschichte des modernen Wissenschaftsverständnisses. Göttingen 2020. 7 Siehe dazu u. a. Ursula Klein: Ein Bergrat, zwei Minister und sechs Lehrende. Versuche der Gründung einer Bergakademie in Berlin um 1770. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18 (2010), S. 437–468. 8 Ich folge hier auch Marian Füssels Anregung einer „Provinzialisierung“ von Göttingen und Halle, vgl. Marian Füssel: Lehre ohne Forschung? Die Praxis des Wissens an der vormodernen Universität. In: Martin Kintzinger / Sita Steckel (Hg.): Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne. Basel 2015, S. 59–87, hier S. 63. 9 Vgl. Lars Magnusson: Economics and the Public Interest. The Emergence of Economics as an Academic Subject during the 18th Century. In: Scandinavian Journal of Economics 94 / Supplement (1992), S. 249–257 und Thomas Bach: Naturgeschichte als Lehrfach an der Universität Jena. In: Ders. u. a. (Hg.): „Gelehrte“ Wissenschaft. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800. Stuttgart 2008, S. 175–214. Für Kiel im Besonderen: Swantje Piotrowski: Vom Wandel der

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ten diese Disziplinen genau jenes Wissen, welches instrumentalisiert wurde, um staatliche Reformmaßnahmen zu implementieren. Andererseits argumentierten die Gelehrten, die sich diesen Wissensbereichen widmeten, dass sie ihr spezifisches Wissen besonders erfolgversprechend in den Dienst dieser Reformprojekte stellen könnten. Bei der Etablierung der Kameral- bzw. Naturwissenschaften waren Konkurrenzen zentrale Phänomene, wenn auch das Wort Konkurrenz erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Quellenbegriff wurde.10 Bei Fabricius lassen sich vornehmlich Konkurrenzen um Ressourcen fassen, und zwar sowohl in Bezug auf Gehälter als auch um Infrastrukturen des Wissensschaffens und der Wissensweitergabe. Beides hatte weitreichende Folgen für die Wahrnehmung und die Austragung von Konkurrenz und schließlich auch für die Wissensproduktion und -weitergabe selbst. Die Aufwertung der Kameralwissenschaften, um die sich Fabricius und andere bemühten, war verbunden mit einem Bedeutungszuwachs praxis- und materialitätsbezogenen Wissens.11 Dies schlug sich in der steigenden Wertschätzung universitärer Sammlungen nieder, welche die neuere Universitätsgeschichte als eine wichtige Grundlage für die Wissensproduktion und die Lehre an den Universitäten des 18. Jahrhunderts ausgemacht hat.12 Die Kameralwissenschaft, die bisher nur unzureichend in ihrer universitären, insbesondere pädagogischen Dimension behandelt wurde, spielte in diesen Diskursen und Debatten eine tragende Rolle. James van Horn Melton wies in seiner Untersuchung des preußischen Schulsystems bereits 1988 auf die „strong pedagogical undercurrent“13 des Kameralismus

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Fakultätenhierarchie und der Entwicklung des Lehrkörpers an der Christiana Albertina in der Zeit von 1665 bis 1815. In: Oliver Auge (Hg.): Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt. Kiel u. a. 2015, S. 451–497. Vgl. dazu Julia Schmidt-Funkes Einleitung in diese Sektion. Vgl. dazu zuletzt: Marten Seppel / Keith Tribe (Hg.): Cameralism in Practice. State Administration and Economy in Early Modern Europe. Woodbridge 2017; Ere Nokkala u. a. (Hg.): Cameralism and the Enlightenment. Happiness, Governance and Reform in Transnational Perspective. New York 2020. Vgl. Anne Mariss: Kunst- und Naturalienkammern in Professorenhaushalten. Polyvalente Wissensräume an der Schnittstelle zwischen Gelehrsamkeit und Geselligkeit. In: Eva Dolezel u. a. (Hg.): Ordnen – Vernetzen – Vermitteln. Kunst- und Naturalienkammern der Frühen Neuzeit als Lehr- und Lernorte. Stuttgart 2018, S. 205–230; Miriam Müller: Der sammelnde Professor. Wissensdinge an Universitäten des Alten Reichs im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2020. Dieser Aspekt wird ausführlicher dargelegt in: Dominik Hünniger: What is a Useful University? Knowledge Economies and Higher Education in Late Eighteenth-Century Denmark and Central Europe. In: Notes and Records. The Royal Society Journal of the History of Science 72/3 (2018), S. 173–194 James van Horn Melton: Absolutism and the Eighteenth-Century Origins of Compulsory Schooling in Prussia and Austria. Cambridge 1988, S. 114.

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hin, und dies lässt sich nicht nur an Schulen, sondern auch an den Universitäten festmachen. Andre Wakefield stellte bereits 2009 fest: „many of the most important cameral sciences were natural sciences.“14 Der Naturgeschichte kam als kameralistischer Unterrichtsinhalt wie auch als gelehrte Praktik deswegen eine besondere Rolle zu. Auch dies ist von der Forschung jedoch lange Zeit wenig beachtet worden, so dass der Naturgeschichte als Universitätsfach erst in jüngster Zeit größere Aufmerksamkeit zugekommen ist, etwa in einer einflussreichen Studie zu Carl von Linné, die auch die enge Verknüpfung zwischen staatlicher Reform und ihrer Rhetorik und naturkundlicher Forschung und Lehre betonte.15 Diese Entwicklungen sind sowohl an Fabricius’ eigener Karriere als auch in seinen Schriften, seiner Sammlungstätigkeit und seiner Lehre abzulesen. In all diesen Zusammenhängen zeigen sich spezifische Konkurrenzsituationen, die erst in der gemeinsamen Analyse von Karriere und Werk in ihrer ganzen Komplexität sichtbar werden, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

Eine nützliche Fakultät Für Fabricius hatte Nützlichkeit, wie für viele seiner gelehrten Kollegen, die höchste Priorität, unter die alles zu subsumieren war. Universitäten seien dafür da, junge Männer zur Nützlichkeit für den Staat zu bilden, wie er es auch schon in seinem Lehrbuch zur Ökonomie aus dem Jahr 1783 beschrieben hatte: „Ich wünschte aber auch zugleich dem Staate nützliche, einsichtsvolle Männer in meinem Fache zu erziehen.“16 Die Formulierung „dem Staate nützliche“ verweist gleichzeitig auf den entscheidenden Punkt jeder Nützlichkeitsrhetorik: nützlich für wen? Im Folgenden

14 Andre Wakefield: The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice. Chicago 2009, S. 26. 15 Lisbet Koerner: Linnaeus. Nature and Nation. Cambridge 2001. Zum Verhältnis von Universität und Ökonomie außerdem: Martin Gierl: Die Universität als Aufklärungsfabrik. Über Kant, gelehrte Ware, Professoren als Fabrikgesellen und darüber, wer die universitätshistorisch herausragende programmatische Schrift des 18. Jahrhunderts in Wirklichkeit geschrieben hat. In: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 367–375; Elizabeth Harding (Hg.): Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2016. 16 Johann Christian Fabricius: Anfangsgründe der oeconomischen Wissenschaften zum Gebrauch academischer Vorlesungen. Flensburg 1773, S. 5. Die Verbindung von Nützlichkeitsparadigma und Wissensgeschichte wird derzeit sehr produktiv diskutiert. Vgl. u. a. Lary Stewart / Kelly J. Whitmer: Expectations and Utility in Eighteenth-Century Knowledge Economies. In: Notes and Records. The Royal Society Journal of the History of Science 72/3 (2018), S. 111–17 sowie Sebastian Felten / Christine von Oertzen: Bureaucracy as Knowledge. In: Journal for the History of Knowledge 1/1 (2020), S. 1–16 bzw. die weiteren Artikel in diesen beiden Sonderheften der jeweiligen Zeitschriften.

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wird deutlich werden, dass Nützlichkeitsparadigmen immer an eine bestimmte Gruppe oder Institution bzw. ganz persönliche Vorlieben und Interessen geknüpft waren, die immer auch Konkurrenzen beinhalteten. Daneben war für Fabricius wie für viele seiner Kollegen auch „Verbesserung“ ein Hauptmotiv und Schlagwort all seiner Bemühungen. Um eine „Verbesserung“ der Universitäten zu erreichen, waren nach Fabricius umfassende strukturelle Veränderungen notwendig. „Nützlichkeit“ und insbesondere „Verbesserung“ verweisen zudem auf Konkurrenzen und Abgrenzungen zum Unnützen und zum Verbesserungswürdigen. Das „Unnütze“ bzw. das dem Nützlichen im Weg Stehende waren für Fabricius vor allem die althergebrachten Strukturen der Universitäten, die es zu verbessern gelte. Zwar gab er in seiner Reformschrift durchaus zu, dass sich die Hochschulen bereits teilweise verändert hätten: Scholastik war durch praxisorientiertere Zugänge ersetzt worden. Doch die Strukturen der Universität hatten sich sehr zu Fabricius’ Leidwesen nicht gewandelt. Deswegen argumentierte er für eine Transformation des gesamten akademischen Wesens. Für ihn wurde die korporative Verfasstheit der Hochschulen nur durch die „lächerlichen Einrichtungen der Zünfte“17 übertroffen. Gelehrte würden ihren alten Privilegien nachhängen. Anstatt zur Wohlfahrt Aller beizutragen, seien sie „bey alten abgedroschenen Meynungen, bey Wortklaubereyen und scholastischen Streitigkeiten stehen“ geblieben.18 Fabricius räumte zwar ein, dass alle gesellschaftlichen Stände Privilegien hätten, doch sollten Gelehrte seiner Meinung nach besondere Vorbilder hinsichtlich der „Mäßigung, des Uneigennutzes und der wahren Aufklärung“ sein.19 In diesem Sinne war auch Leistung für Fabricius ebenfalls ein zentraler Wert. Wie Tony La Vopa bereits 1988 in seiner Studie über akademische Karrierewege gezeigt hat, stieg der Topos des Leistungsprinzips in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark an, ohne jedoch bereits unbedingt mit modernen Wettbewerbsideen verknüpft gewesen zu sein.20 Fabricus verwendete in diesem Zusammenhang vor allem die Begriffe des Eifers, des Fleißes und des Nutzens, die eindeutig in ein semantisches Feld mit dem zeitgenössisch weniger gebräuchlichen Terminus Leistung gehören. Um diesen an den Universitäten Geltung zu verschaffen, war in seinen Augen eine Abschaffung traditioneller Strukturen notwendig. Hierbei hatte Fabricius vor allem die Fakultäten im Blick. Er hielt sie, wie eingangs zitiert, für nutzlos. Besonders kritisierte er die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Fakultäten: „Es kann unter den Lehrern kein Unterschied oder Vorzug Statt finden, als einzig und 17 18 19 20

Fabricus, Academien, S. 28. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Anthony J. La Vopa: Grace, Talent, and Merit. Poor Students, Clerical Careers, and Professional Ideology in Eighteenth-Century Germany. Cambridge 1988.

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allein nach dem Eifer, mit welchem sie ihre Wissenschaften vortragen, und nach dem Nutzen, welchen sie der Academie verschaffen.“ Fabricius bemängelte, dass die Rangordnung der Fakultäten allein auf Aberglauben und Vorurteilen beruhe.21 Sein Vorschlag einer Verbesserung stellte die bisherige Rangfolge der Fakultäten auf den Kopf – oder nach Fabricius’ Meinung auf die Füße. Er schlug vor, dass Mediziner, Juristen und Theologen, also die Mitglieder der drei höheren Fakultäten, am geringsten bezahlt werden sollten, weil es in diesen Wissensbereichen möglich sei, Einkommen außerhalb der universitären Tätigkeit zu generieren. Seiner Auffassung nach sollten alle Professoren zwar grundsätzlich zunächst gleich viel verdienen, aber „bey vorzüglichen und allgemein anerkannten Verdiensten“ höher bezahlt werden. Leistung und öffentliche Anerkennung sollten dabei die Messlatte sein, nicht Privilegien und altes Herkommen. Letztere führten nur zu: „Haß, Neid, Verleumdung, kriechender Schmeicheley und anderen Unordnungen.“ Nachdem sich Fabricius im weiteren Verlauf seiner Reformschrift die einzelnen höheren Fakultäten vorgenommen und sie im Rahmen von Nützlichkeitsaspekten bewertet hatte, ging er schließlich auf seine eigene Fakultät, die philosophische, ein. Er unterschied zwischen praktischen und theoretischen Wissenschaften. Besonders kritisch stand er der spekulativen Philosophie gegenüber und verurteilte die zeitgenössische Begeisterung für Kant als Schwärmerei, die er als der bürgerlichen Tätigkeit gefährlich erachtete, denn „Handeln ist doch allemal vorzüglicher als denken, und wirken, besser als träumen.“22 Deswegen widmete sich Fabricius insbesondere den praktischen Wissenschaften: Naturgeschichte, Ökonomie, Physik, Chemie und angewandte Mathematik. Diese hielt er für vernachlässigt, ihr geringes Ansehen stand laut Fabricius in einem Missverhältnis zu ihrem Nutzen. So könnten diese Wissenschaften die Landwirtschaft, die Bierbrauerei, die Manufakturen, die Bergwerke, die Fischerei „und beynahe jeden besonderen Nahrungszweig“23 verbessern. In Hinsicht auf die Anwendbarkeit des auf Universitäten erlangten Wissens und die Konkurrenz um Stellen im Staatsdienst oder an der Universität beschrieb Fabricius die zeitgenössischen Praktiken als kontraproduktiv, vor allem was die Nutzung von Spezialwissen betraf. Er hielt es bei der Besetzung von Ämtern für die Wissenschaften schädlich, dass man „einen Zoologen zum Berghauptmann […] und einen Philologen zum Baumerzieher gemacht“ habe. Es handelte sich bei

21 Fabricius, Academien, S. 73–76. Für dieses und die folgenden Zitate. 22 Ebd., S. 67. Genau an dem Prinzip der Nützlichkeit, welches für ihn die oberen drei Fakultäten bestimmte, störte sich bekanntlich der hier kritisierte Immanuel Kant und setzte mit seinem zwei Jahre nach Fabricius’ Reformschrift erschienenen „Der Streit der Fakultäten“ die Wahrheit als oberstes Prinzip für die philosophische Fakultät ein. Vgl. Volker Gerhardt (Hg.): Kant im Streit der Fakultäten. Berlin u. a. 2005. 23 Fabricius, Academien, S. 68–69.

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Ersterem um Fabricius’ ehemaligen Kopenhagener Kollegen, den Zoologen Morten Thrane Brünnich (1737–1827), der zeitweise zum Bergwerksaufseher in Norwegen ernannt wurde. Der „Baumerzieher“ war Fabricius‘ neuer Kieler Kollege Johann Jacob Moldenhawer (1766–1827), der 1792, vier Jahre vor Fabricius’ Schrift, zum Nachfolger des berühmten Gartentheoretikers Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) wurde. Eine Position, auf die sich Fabricius selbst Hoffnungen gemacht hatte.24 Moldenhawer war ausgebildeter Theologe bzw. Philologe und hatte zwar zu Theophrasts Pflanzenwerk publiziert. Seine Berufung nach Kiel scheint er aber eher familiären Verbindungen verdankt zu haben. Sein Bruder Johann Heinrich Daniel Moldenhawer (1753–1823) war nämlich Professor in Kopenhagen und königlicher Bibliothekar. Familiärer Einfluss bei Berufungen dürfte Fabricius allerdings nicht suspekt gewesen sein, da er selbst seine erste Stelle in Kopenhagen, wie er selbst schrieb, dem Einfluss seines Vaters zu verdanken hatte. Die Problematik für Fabricius war eine disziplinengenetische. Er beobachtete, dass Spezialwissen allgemein zunahm, sich spezifische Fächerkulturen zu etablieren begannen und sah darin eine wichtige Entwicklung. Er schlug deswegen vor, diese sich immer weiter auffächernde Spezialisierung auch in der Struktur der Universitäten abzubilden. Sein Vorschlag, eine ökonomische Fakultät zu etablieren, kann dementsprechend auch als Versuch gelesen werden, diese Entwicklung im Wettstreit der Fächer auf struktureller Ebene abzubilden. Die Etablierung spezialisierter „Fachhochschulen“ für die Ausbildung von Seeleuten, des Militärs oder von Forstbeamten lehnte Fabricius hingegen ab. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Geschichtsschreibung aufklärerischer Bildungsreformen genau diese Spezialschulen als wichtige Institutionen polytechnischer Bildung und praktischer Kenntnisse identifiziert hat. Besonders die Forst- und Bergwerksakademien werden hier als wegweisend gefeiert.25 Wie für die deutschsprachige und skandinavische Aufklärung typisch, blieb Fabricius allerdings ein moderater Aufklärer und Verbesserer. Er nahm an, dass eine gänzliche Abschaffung der Fakultäten nicht möglich sei, und schlug deswegen vor, eine fünfte, die ökonomische, zu etablieren, in der dann alle neueren praktischen Wissenschaften gelehrt werden sollten. Leider bleibt Fabricius vage, was die genaue Struktur dieser Fakultät ausmachen sollte, beschreibt aber wichtige Institutionen, wie ökonomische Gärten und Naturalienkabinette, welche zur Ausstattung dieser Fakultät notwendigerweise gehören müssten. Allerdings war genau das Fehlen

24 Ebd., S. 139. 25 Richard Hölzl und andere haben jedoch in letzter Zeit gezeigt, dass die spezifischen Wissensinhalte, die diese Schulen in enger Verknüpfung mit obrigkeitlichen Reformprogrammen vermittelten, weitreichende soziale und ökologische Konsequenzen für große Teile der Bevölkerung hatten, die von den physischen Umbauten der Umwelt direkt betroffen waren. Vgl. Richard Hölzl: Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760–1860. Frankfurt am Main 2010.

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dieser wichtigen materiellen Grundlagen ökonomisch-naturkundlichen Wissens in Kiel und die Konkurrenz um begrenzte Ressourcen die Hauptursache für seine Unzufriedenheit mit der dortigen Universität.

Persönliche Erfahrung mit Konkurrenz Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Fabricius’ persönliche Erfahrungen an der Kieler Universität in seine Gedanken zur Universitätsreform eingeflossen waren. Bei seinem Wechsel von der Universität Kopenhagen zur Universität Kiel im Wintersemester 1775 hatte ihm die dänische Regierung neben einem höheren Gehalt auch Aussichten auf eine großzügige Ausstattung, auf die Förderung seiner Sammlung sowie auf die Anlegung eines ökonomischen Gartens, d. h. eines Gartens mit Nutzpflanzen gemacht. Da dieses Versprechen nie eingelöst wurde, beschwerte sich Fabricius mehrfach bei der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen, der obersten Behörde für die Herzogtümer Schleswig und Holstein. Er selbst und die Kieler Universitätsleitung betonten sein wissenschaftliches Renommee und seine internationalen Kontakte. Der Kieler Prokanzler Johann Andreas Cramer (1723–1788) schrieb zu Beginn von Fabricius Karriere in Kiel in einem Gutachten für die dänische Regierung: Fabricius sei einer „der würdigsten, fleißigsten und rührigsten Lehrer, er macht der Academie durch seine Schriften Ehre, und er steht auswärts in vorzüglicher Achtung.“26 Fabricius hatte diesem wissenschaftlichen Ruhm und den offensichtlichen Lehrerfolgen in Kiel eine kontinuierliche Verbesserung seiner Situation und eine Reihe von Privilegien zu verdanken. Die überwiegende Anzahl seiner Supplikationen an die Deutsche Kanzlei verfasste Fabricius, um Zuschüsse zur Finanzierung seiner zahlreichen Reisen zu erhalten und von der Lehre befreit zu werden. Ökonomischer Nutzen, wissenschaftlicher Fortschritt und Lehre auf dem neuesten Stand der Forschung waren die drei Hauptbegründungen, die Fabricius immer wieder anführte, um seine Interessen durchzusetzen. In den folgenden Jahren wurden ihm weitere Reisen genehmigt, und tatsächlich weilte er während mehrerer Sommer teilweise nicht in Kiel. Seinen Kollegen war das ein Dorn im Auge, wie aus der Autobiographie des Mediziners und Chemikers Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852) zu erfahren ist. Pfaff schätzte zwar Fabricius’ Verdienste um die Entomologie, behauptete aber im Rückblick etwa 40 Jahre nach

26 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig (LAS), Schreiben vom 10. 2. 1778, Abt. 65.2, Nr. 561 II: Personalakte Fabricius.

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der gemeinsamen Lehrtätigkeit in Kiel, dass Fabricius sein Lehramt „wenig am Herzen“27 gelegen habe. Hinsichtlich der Ressourcenkonkurrenz an der Universität Kiel ist es nun aber interessant, dass Pfaff seinerseits in seiner Kommunikation mit den Obrigkeiten Fabricius’ Abwesenheiten anprangerte, um selbst Gelder für eine Studienreise nach Paris zu erhalten und eine Besserstellung seiner eigenen Person zu erwirken. Pfaff schrieb am 4. November 1800 an die dänische Regierung, dass die Naturgeschichte in Kiel sehr vernachlässigt werde: „Der Lehrer derselben Prof. Fabricius ist meistens abwesend, und treibt sein Lehramt bloß noch mechanisch fort.“28 Deswegen, so schlug Pfaff vor, sollte eine neue Stelle für Naturgeschichte einschließlich Mineralogie und Botanik sowie ein botanischer Garten geschaffen werden. Pfaff beschuldigte noch weitere seiner Kollegen, ihre Lehre zu vernachlässigen, und präsentierte sich selbst – wie dies auch Fabricius tat – als verantwortungsvollen Hochschullehrer, der aber erst nach der notwendigen Unterstützung (in beiden Fällen Reisen und infrastrukturelle Förderung) die von ihm vertretenen Wissenschaften auf der Höhe der Zeit und mit den besten Materialien erfolgreich lehren könne. Er erhoffte sich davon nicht nur die Genehmigung und Finanzierung seiner Studienreise, sondern auch die Einrichtung eines chemischen Laboratoriums und die Aufnahme in die medizinische Fakultät. Dies gelang ihm tatsächlich, wohl auch, weil er, wie Fabricius, persönliche Verbindungen zu wichtigen Entscheidungsträgern hatte.29 Sowohl Pfaff als auch Fabricius benutzten gleiche Argumente und wollten Ähnliches erreichen, sowohl für sich persönlich als auch für die Verbesserung von Forschung und Lehre an der Universität. Beide begründeten die Notwendigkeit ihrer Abwesenheit damit, dass sie allein durch den Aufenthalt im Ausland in ihrer Lehre immer auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaften sein könnten. Zumindest Pfaff schreckte auch nicht davor zurück, deswegen Kollegen direkt zu diskreditieren. Auch Fabricius waren seine wissenschaftlichen Reisen so wichtig, dass er 1789 um Entlassung ersuchte, weil er der Ansicht war, wegen seiner Lehrverpflichtungen weitere entomologische Forschungen nur unzureichend betreiben zu können. Er begründete diesen Schritt auch mit der fortwährenden „Hintansetzung“ durch die Regierung, da er bei Berufungen auf andere Lehrstühle übergangen worden sei, und auch die ihm einst in Aussicht gestellte Infrastruktur, namentlich die Sammlungen

27 Henning Ratjen (Hg.): Lebenserinnerungen von Christoph Heinrich Pfaff, Doctor der Philosophie und Medicin. Kiel 1854, S. 275. 28 LAS, Abt. 47.1, Nr. 299: Christoph Heinrich Pfaff, Studienreise nach Paris. 29 Vgl. dazu ausführlicher: Dominik Hünniger: Die moralische Ökonomie von Hochschullehrern. Gehalts- und Positionsverhandlungen an der Universität Kiel, 1773–1808. In: Harding, Kalkulierte Gelehrsamkeit, S. 257–275.

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und der Garten, nie eingerichtet worden seien.30 In den Formulierungen seines Entlassungsgesuchs von 1789 ist ein durch die ständigen Enttäuschungen offensichtlich herbeigeführtes Nachlassen des Engagements gegenüber seinem Amtsantritt 14 Jahre zuvor zu erkennen, welches Fabricius aber auch rhetorisch geschickt einsetzt, wenn er behauptete, „dass ich in den ersten Jahren meines Hierseins, wie ich noch voll Hoffnung mit Vergnügen bei der Academien stand, zuverlässig mehrern Einfluß auf das sittliche Leben der Studirenden durch mein Hauß und meine Ansehung gehabt, als irgend ein der hiesigen Lehrer.“31 In ihrer Kommunikation mit den Behörden zogen die Kieler Gelehrten den direkten und indirekten Vergleich mit ihren Kollegen und versuchten, indem sie eigene Leistungen und Erfolge hervorhoben bzw. diejenigen ihrer Kollegen herunterspielten, in der Konkurrenz um die begrenzten Ressourcen erfolgreich zu sein. In vielen Fällen gelang das auch, wenngleich nicht jedes Gesuch genehmigt wurde. Nach außen demonstrierten die Kieler Hochschullehrer ansonsten allerdings Einigkeit und Harmonie. Von einem besonders wohlwollenden Miteinander unter den Kieler Professoren schrieb beispielsweise der Philosophieprofessor Martin Ehlers (1732–1800) an Christoph Martin Wieland (1733–1813) in Weimar: Der „geradere und herzliche Umgangston, der im Ganzen unter den Kieler Professoren herrscht, und den man fast auf allen andern Universitäten vermißt“, würde dafür sorgen, dass jene „die Gelehrten so sehr entehrende Sitte, da sie die Lehrstühle zu Kampfplätzen wider einander machen“, in Kiel nicht anzutreffen wäre.32 Ehlers bezog sich hier eher auf die innerfakultäre bzw. innerdisziplinäre Konkurrenz. Es ist bezeichnend, dass er dabei das Wort „Sitte“ verwendete und somit auf Verhaltensweisen langer Dauer verwies. Die Obrigkeiten schienen damit allerdings auch betreffs der Kieler Universität entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben, und es gehörte zu den wichtigsten Aufgaben derselben, Animositäten unter den Professoren und somit Konkurrenzsituationen zu entschärfen. So ist den Zeilen des Kurators der Kieler Universität, Detlev von Reventlow (1710–1783), in seinem Schreiben an die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen 1779 eine deutliche Frustration über diese scheinbar immer wieder nötig werdenden Intervention anzumerken: „In keinem Geschlechte ist es wohl schwerer die Gemüther zu einem gemeinsamen Endzweck zu vereinigen, als unter Gelehrten, und ich kenne keine Glieder der bürgerlichen Gesellschaft, auf welche Eifersucht und Brotneid heftiger wirken, und

30 LAS, Abt. 65.2, Nr. 561 II: Personalakte Fabricius. 31 LAS, Abt. 65.2, Nr. 561 II: Personalakte Fabricius. 32 Vgl. Siegfried Scheibe (Hg.): Wielands Briefwechsel. Band 13.1 (Briefe, Juli 1795–Juni 1797), bearb. von Klaus Gerlach. Berlin 1999, S. 379, Brief vom 30.09.1796.

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auf welche, wenn diese Leidenschaften in Bewegung gesetzt werden, vernünftige Gründe weniger Eindruck machen.“33 Diese „Leidenschaften“ sind durchaus auch in den Briefen von Fabricius abzulesen. Nachdem seine Entlassung bereits durch die Regierung genehmigt worden war und Fabricius im November das entsprechende Patent erhalten hatte, setzte sich allerdings der „größte Theil der Studirenden in Kiel“34 in einer Supplik für den Verbleib von Fabricius ein. Die Studenten betonten, dass die Beliebtheit von Fabricius unter ihnen etwas Besonderes sei und er allein deswegen schon in Kiel gehalten werden müsse, „weil es manchem auch noch so geschickten Professor nicht gelingt, sich die Liebe und das Zutrauen der Studierenden zu erwerben.“35 Hier scheint noch ein weiteres potentielles Konkurrenzthema auf, dasjenige um die Gunst der Studierenden, deren Hörergelder eine beträchtliche ökonomische Ressource für die Hochschullehrer darstellten.36 Im Gegensatz zum in Fabricius’ Entlassungsschreiben aufscheinenden nachlassenden Engagement für die Lehre und die Studierenden schien er unter den Studenten weiterhin sehr beliebt zu sein. Aufgrund der Supplikation der Studenten und der Intervention der Regierung blieb Fabricius in Kiel, versuchte aber 1792 in der Professorenhierarchie aufzusteigen. Dies gelang ihm allerdings nicht, wie oben bereits geschildert wurde. Dadurch, dass die Behörden Fabricius aber genehmigten, regelmäßig zu reisen, schien er, trotz der nie eingelösten Versprechen für eine verbesserte Infrastruktur, schließlich zufrieden mit seiner Lage. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1808 Professor in Kiel und lehrte dort somit über 33 Jahre.

Fazit Universitäten waren am Ende des 18. Jahrhunderts wichtige Institutionen, an denen einerseits neue Wissensformationen entstanden und andererseits althergebrachte Strukturen einem grundsätzlichen Wandel entgegenstanden. Beides verursachte Konkurrenzsituationen, die von den beteiligten Akteuren auch als solche wahrgenommen wurden. Die Konkurrenz spielte sich allerdings häufig nur hinter den Kulissen ab, wie in der Korrespondenz der Hochschullehrer mit den Behörden zu erkennen ist. Dennoch schien es zum Erwartungshorizont der Zeit zu gehören,

33 Detlev von Reventlow an die Deutsche Kanzlei, 03.12.1779, LAS, Abt. 65.2, Nr. 557 I (Personalakte Fuhrmann), abgedruckt in: Moritz Liepmann (Hg.): Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel. Stuttgart u. a. 1916, S. 15. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Vgl. Jürgen Schlumbohm: Markt und Monopol. Konkurrenz als Motor der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert. In: Harding, Kalkulierte Gelehrsamkeit, S. 233–256.

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dass Universitäten von Konkurrenz und Missgunst geprägt waren, wie etwa einem Urteil des Weimarer Pädagogen Karl August Böttiger (1760–1835) über die Kieler Universität zu entnehmen ist. Auf einer Reise durch Norddeutschland besuchte Böttiger im Jahr 1797 Kiel und lobte die dortige Universität. In seinen, allerdings erst 30 Jahre später – postum – veröffentlichten Reisenotizen schrieb Böttiger über den ehemaligen Jenaer und inzwischen Kieler Philosophieprofessor Karl Leonhard Reinhold (1757–1823): „Übrigens hat Reinhold von Professorkabale und Collegenanfeindungen in Kiel, wo alle Brod haben, und niemand den andern neidet, nichts zu besorgen.“37 Im Licht der hier dargestellten Konkurrenzen müssen Böttigers Worte mit Vorsicht gelesen werden. Sowohl in den Veröffentlichungen der Kieler Gelehrten als auch besonders in ihrer Korrespondenz mit den Behörden ist Konkurrenz ein zentrales Thema. Diese betraf die Verteilung von symbolischem, sozialem und auch ökonomischem Kapital für die persönliche Karriere genauso wie den Zugriff auf für Lehre und Forschung wichtige Ressourcen. Erst die gemeinsame Untersuchung der Veröffentlichungen mit den jeweiligen Personalakten kann die komplexe Gemengelage innerhalb der Universitäten und ihres Personals und insbesondere das Verhältnis zu den Obrigkeiten sowie das staatliche Interesse an Förderung bzw. Befriedung von Konkurrenz sichtbar machen. Scheinbar entgegengesetzte normative Begriffe wie Eigennutz und Gemeinwohl kristallisieren sich in diesen Zusammenhängen als ambivalent heraus, denn alle beteiligten Akteure gebrauchten diese auf kreative Weise bzw. betonten deren „Nützlichkeit“ auf jeweils spezifische Art, die immer auch gegen den Strich gelesen werden muss. Dass dies für die Entwicklung der Wissenschaften sowohl in struktureller als auch in inhaltlicher Hinsicht bedeutsam war und ist, zeigt der hier geschilderte Fall deutlich.

37 Karl August Böttiger: Literarisches Leben auf der Universität Kiel, beobachtet auf einer Reise dahin im Jahre 1797, hg. v. Hans Hattenhauer. Neumünster 1978 [ND Dresden 1827], S. 139 f.

Martin Mulsow

Kommentar

Drei verschiedene Geschichten sind präsentiert worden, aus drei verschiedenen Milieus: die eine spielt in den 1720er Jahren im katholischen Historikermilieu von Fulda und Würzburg, die zweite in den 1750ern unter Philologen und Journalisten zwischen Oxford, Göttingen und Paris, und die dritte rückt, nochmals 30 Jahre später, das Kiel der 1780er und 1790er Jahre in den Mittelpunkt, wo es um die Etablierung der Kameralwissenschaften geht und auf die Rivalität zwischen den Fakultäten zuläuft. Das ganze 18. Jahrhundert ist also abgedeckt, und Fächer von der Alphabete entziffernden Orientalistik bis hin zur pädagogisierenden Wirtschaftskunde finden Berücksichtigung. Und die Konkurrenzen? Die Plots drängen auf Differenzierung. Fast nie geht es um ein Rennen, bei dem beide Kombattanten auf gleichstarken Motoren sitzen, fast immer hat einer die Pole-Position oder zumindest einen guten Draht zur Rennleitung. Swinton als Newcomer geht mit ganzer Kraft ins Rennen, Altmeister Barthélemy ist so saturiert, dass er kein Vollgas geben muss. Sigler versucht Schannat zu überholen, doch der setzt den Warnblinker und drängt Sigler so ab. Seyfried, der Jesuit, die andere Konkurrenz, zwingt Schannat dazu, zu beschleunigen, und obwohl er später auf der Strecke bleibt, fügt er ihm doch einen Schaden zu: Schannat kann, um im Bild zu bleiben, nicht mehr genügend tanken, weil Seyfried ihn nicht an den Zapfhahn lässt. Damit genug von den Metaphern. Konkurrenz um Quellen ist eine ernste Sache in der Frühen Neuzeit. Die Knappheit von Quellen zwingt Wissenschaftler gelegentlich zum Agieren mit harten Bandagen. In der Zoologie ist eine unbekannte Spezies, die entdeckt wird, ein Trumpf, und es gibt Männer, die ihren Kollegen gerade deshalb nicht verraten, wo im Urwald das Tier lebt. Und wenn ein Archivar sich breit macht und auf den Quellen sitzt, die er verwahrt, bedarf es schöner Worte oder Geschenke oder, wenn das nicht hilft, diplomatischen Drucks, um ihn (kaum je eine: sie) dazu zu bewegen, die Quellen preiszugeben. Münzkundler etwa unterschieden sehr genau zwischen den Kabinetten, in denen sie abzeichnen und abklatschen durften, und denen, wo sie das nicht konnten. Als Andreas Morell in Paris in eine Konkurrenzsituation mit dem Katholiken Vaillant geraten war, ließ Ludwig XIV. ihn kurzerhand verhaften, mit dem Argument, sein Kopieren von Quellen – also Münzen – in seinem Kabinett sei eine Art Diebstahl.1 1 Vgl. Martin Mulsow: Das numismatische Selbst. Epistemische Tugenden eines Münzzeichners. In: Andreas Gelhard u. a. (Hg.): Epistemische Tugenden. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts. Tübingen 2019, S. 101–119.

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Martin Mulsow

Die harten Bandagen konnten also wirklich hart sein, bis hin zum Entwenden von Texten. Christian Thomasius mochte Gabriel Wagner nicht, der ihn kritisiert hatte, und als der ein mehrtausendseitiges Werk, an dem er viele Jahre gearbeitet hatte, bei einem Verleger in Leipzig einreichte, schaffte es Thomasius über seinen Schwager Rechenberg, an das Manuskript zu kommen und es zu lesen. Wagner hingegen sah das Werk nie wieder, und gedruckt wurde es auch nicht.2 Anne Goldgar hat uns in „Impolite Learning“ gezeigt, dass Gelehrte tatsächlich impolite, nicht nett, sein konnten, wenn es um ihre Karriere ging.3 Statuskonkurrenzen lassen sich fast überall feststellen, und oftmals sind es dann winzige Bagatellen, über die man sich streitet und die einen Konflikt auslösen. Zwischen Reimmann und Budde, zwei Champions der Historia literaria, war es der richtige Gebrauch des Wörtchens collimare, der beide wie Kampfhähne aufeinander losgehen ließ.4 Zwischen Pfanner und Tentzel, zwei Polyhistoren zur gleichen Zeit am gleichen Ort, nämlich in Gotha, war es kaum mehr: Tentzel ließ in einem Nebensatz die Bemerkung fallen, sein Kollege habe im Lateinischen einen etwas verworrenen Stil, da ging dem gleich die Galle über und er schrieb einen empörten öffentlichen Brief.5 All das führt auf das Feld der akademischen Streitkultur, das in den vergangenen Jahren ausführlich beackert worden ist, nicht zuletzt durch zwei Sammelbände von Kai Bremer und Carlos Spoerhase.6 Der Akzent, den die in dieser Sektion versammelten Beiträge setzen, ist ein wenig anders gelagert. Rivalität und Concurrere, Konkurrenz und Kooperation, wie Julia Schmidt-Funke Kärin Nickelsen zitiert hat, leitet von den Praktiken des Streitens hin zu den Ambivalenzen des gleichzeitigen Arbeitens am selben Thema. Hier kommt der Punkt ins Spiel, auf den Tobias Winnerling wert legt: Gefälligkeiten gibt es eben auch im gelehrten Umgang, und zugleich können diese Gefälligkeiten vergiftet sein oder zumindest wahre Absichten verschleiern. Es geht also darum, hinter die glatte Oberfläche der „Aussagen“ im Diskurs (um mit Foucault zu sprechen) zu kommen und die Tiefenstruktur des Verhältnisses der Akteure, der Texte und der Medien zu erkennen. Gefälligkei-

2 Vgl. [Gabriel Wagner]: Nachricht von „Realis de Vienna“ Prüfung des Europischen Verstandes durch di Weltweise Geschicht, hg. v. Martin Disselkamp. Heidelberg 2005 [1715]. 3 Anne Goldgar: Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters, 1680–1750. New Haven 1995. 4 Vgl. Florian Neumann: Jakob Friedrich Reimmann und die lateinische Philologie. In: Martin Mulsow / Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998, S. 177–199. 5 Tobias Pfanner: Ad Guil. Ernestum Tentelium historicum saxonicum epistola de confessione styli aliquantum difficilioris. O. O. 1696. Zu Pfanner und Tentzel vgl. Martin Mulsow: Aufklärungs-Dinge. Zweifler und Verzweifelte im Umbau des Wissens um 1700 (im Erscheinen). 6 Kai Bremer / Carlos Spoerhase (Hg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt am Main 2011; Dies. (Hg.), „Theologisch-polemisch-poetische Sachen“. Gelehrte Polemik im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2015.

Kommentar

ten, so Winnerling über Swinton und die „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“, mochten dazu dienen, „potentiell illegitime Mittel wie Vertrauensbruch und Verleumdung rhetorisch zu verbrämen.“7 Wir sehen also eine Rhetorik der Kooperation bei einer Tiefenstruktur der Konkurrenz; und vielleicht gab es gelegentlich auch andersherum eine Rhetorik der Konkurrenz bei einer Tiefenstruktur der Kooperation – ich denke an konfessionell unterschiedene Wissenschaftler, die nach außen hin den Schein aufrecht erhalten mussten, sie seien gegeneinander eingestellt, aber privat sich die Hände reichten und Materialien austauschten.8 Und Johann Christian Fabricius, der Insektenforscher? Ist der „Nutzen“, auf den er so sehr abhebt, eine Oberflächenrhetorik oder ein Tiefenanliegen? Die Prozessionen in Kiel, die er noch in den 1790ern als leere überkommene Hülsen kritisiert, waren schon in den 1720er Jahren durch pfiffige Aufklärungsakteure auf den Kopf gestellt worden, indem sie sie kurzerhand parodierten.9 Einen „akademischen Leichenzug“ an den längsten Sommertagen des Jahres 1724 „bei brennenden Laternen und Wachsfackeln“ hat man sich ausgemalt oder sogar veranstaltet und sich dabei vor Lachen gebogen.10 „Man findet“, so der Kieler Professor Peter Friedrich Arpe, einer der Anstifter, „darin die Academie, wie ihr Wagen war, als ein Jungfrau gekleidete Dirne cornu copiae so sie im Arm hält mit Kehrbürsten, Stroh und Fladenwischer auf das beste gezieret, ihr weißes Atlas-Kleid ist hin und wieder mit Dinte bespritzt, am Himmel des Leichwagens aber zu lesen: Mene Mene Teckel Uparsin.“11 Das ist wie im Mainzer Karneval, aber zugleich ernster, denn auch in diesem Parodieleichenzug sind alle Fakultäten vertreten, und die Hierarchien, von denen man nicht begeistert war, wurden abgebildet. 1720 satirischer Protest, 1790 fiskalisch unterfütterter Alternativvorschlag. Gibt es einen Paragone, einen Konkurrenzvergleich wie in der Kunst, zwischen den Fakultäten? Bei der Literatur über Konkurrenz in der Kunst wird gern dieser Topos bemüht.12 In der Wissenschaft aber scheint er nicht üblich zu sein, vielleicht

7 So Tobias Winnerling in seinem Beitrag für diesen Band. 8 Vgl. etwa die Zusammenarbeit des Benediktiners Bernhard Pez mit Protestanten (dazu die Beiträge von Ines Peper und Thomas Wallnig in Cornelia Faustmann u. a. (Hg.): Melk in der barocken Gelehrtenrepublik. Die Brüder Bernhard und Hieronymus Pez, ihre Forschungen und Netzwerke. Melk 2014, S. 140–146) oder die Briefwechsel zwischen Leibniz und den französischen Jesuiten. Zu Letzterem vgl. Michael Carhart: Leibniz Discovers Asia. Social Networking in the Republic of Letters. Baltimore 2019. 9 Vgl. Martin Mulsow: Unanständigkeit. Zur Mißachtung und Verteidigung des Decorum in der Gelehrtenrepublik. In: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 98–118, hier S. 98–99. 10 UB Rostock, Mss. hist. part. K(iel) 2°, fol. 395 ff. 11 Ebd. 12 Vgl. etwa Eric Achermann: Zur Bedeutung des „Paragone delle arti“ für die Entwicklung der Künste. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin / New York 2011, S. 179–209.

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Martin Mulsow

weil der einfache Betrachter als urteilender Richter fehlt. Schauen wir deshalb nochmals auf das Konkurrenzthema in der Gelehrsamkeit allgemein und arbeiten wir einige der Fragen ab, die Julia Schmidt-Funke in ihrer Einleitung gestellt hat. Schlägt sich Konkurrenz in räumlichen oder dinglichen Settings nieder? In den hier vorgestellten Milieus der Historiker und Philologen weniger, bei den Insekten von Fabricius vielleicht. Man kann aber nochmals an den Fall der Numismatikerkonkurrenz von Morell und Vaillant erinnern. Dort wurde nach der Verhaftung von Morell für diesen das räumliche Setting prekär: Er musste von jetzt ab seine Expertisen aus der Zelle in der Bastille heraus geben.13 Eine weitere Frage war die nach der Plotstruktur von Konkurrenzsituationen: Wie tritt eine Lösung ein? Bei Schannat versus Sigler spielte die Annonce von Schannat, vermittelt von Pez, in den Gelehrtenjournalen eine entscheidende Rolle, man wolle trotzdem mit aller Kraft an der Geschichte von Fulda weiterarbeiten. Diese Präsenznote, verbunden mit dem besseren Ruf, ließ den Konkurrenten zurückfallen, zumal er schon bald starb. Auch bei Swinton versus Barthélemy spielten Annoncen in Gelehrtenjournalen ihren Part, ja man muss sagen, dass die Konkurrenz der Journale um solche Nachrichten mit der Konkurrenz der Philologen um die Entzifferung interferierte. Von Swinton kamen viele Nachrichten an die Blätter, von Barthélemy fast gar keine, obwohl er die Entzifferung vielleicht sogar früher geleistet hatte. So war es in diesem Fall die Public-Relations-Kampagne von Swinton, einschließlich von angeblich unautorisierten pre-circulations seiner Ergebnisse, was die Presse in England und Deutschland motivierte, ihm die Priorität der Entdeckung zuzuschreiben. Man mag einen anderen, berühmteren Fall dagegenhalten, den des Prioritätsstreits um die Erfindung der Infinitesimalrechnung zwischen Leibniz und Newton, um zu sehen, wie komplex so ein Fall werden konnte, wenn beide Streithähne an ihrem Recht festhielten und es ihnen nicht so gleichgültig war wie Barthélemy, der über die Sache mit den Schultern zucken konnte. Auch die Leibniz-Newton-Affäre war ausgiebig orchestriert von Sekundanten, angeblichen Gefälligkeiten und Presseberichten, so dass sich hier eine ähnliche Geschichte in ganz groß erzählen ließe.14 Noch eine letzte Frage von Julia Schmidt-Funke: Konkurrenz unter Anwesenden oder unter Abwesenden? Da scheint es große Unterschiede zu geben. Bei Tentzel und Pfanner, die beide der Gelehrte Nummer eins in Gotha sein wollten, war die gleichzeitige Anwesenheit vermutlich sogar der Auslöser des Streits. Auch Schannat, Sigler und Seyfried standen sich in Würzburg und Fulda gegenseitig auf den Füßen. Swinton und Barthélemy oder Leibniz und Newton hingegen waren weit voneinander entfernt, zudem in unterschiedlichen nationalen Wissenskulturen

13 Vgl. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 358–361. 14 Vgl. Thomas Sonar: Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton. Berlin 2016.

Kommentar

verankert. Bei ihnen ist die Abwesenheit zentral, denn Abwesenheit bedeutet, dass Schriftmedien, wie Rudolf Schlögl es ausdrückt, eine umso größere Bedeutung bekommen.15 Zwar ist das Image in der Gelehrtenrepublik, das die gelehrten Journale vermittelten oder auch kreierten, auch bei den lokalen Kombattanten wichtig, sobald sie sich an die Öffentlichkeit wenden. Aber bei den Abwesenden ist es das Schriftmedium allein, das den Streit und die Konkurrenz trägt. Das steigert sich noch, wenn die Kombattanten nicht einfach Konkurrenten sind, sondern konfessionelle Gegner, wie etwa Goldast der Calvinist und Gretser der Jesuit in den Jahren um 1600. Dann kommt alles zusammen: erbitterter Kampf um die Quellen, Beschleunigung der Quellenpublikation bis zur Raserei, Orchestrierung durch die Publizistik von Streitschriften. In diesem Fall war das Publikum der Sieger, oder sagen wir besser: die Nachwelt, die sich über eine Fülle von Folianten freuen konnte.16

15 Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014. 16 Vgl. Martin Mulsow: Netzwerke gegen Netzwerke. Polemik und Wissensproduktion im politischen Antiquarianismus um 1600. In: Ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, S. 143–190.

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Sektion 12: Der Immerwährende Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen

Dorothée Goetze, Christoph Kampmann

Einleitung

Die Forschung hat den Immerwährenden Reichstag (1663–1806) lange Zeit vernachlässigt, obwohl er neben dem Kaiser die wichtigste politische Institution im römisch-deutschen Reich war.1 Ursächlich dafür war seine Abwertung durch die ältere, borussisch geprägte Geschichtswissenschaft, die in ihm einen Ausdruck für den vermeintlichen Verfall des Alten Reiches nach 1648 sah. Nur langsam wich diese negative Deutung des Reichs und des Reichstags einer Neubewertung. Aber auch die unübersichtliche Quellenlage und die Massen an handschriftlichen und gedruckten Archivmaterialien zum Immerwährenden Reichstag trugen dazu bei, dass die Forschung sich erst seit Beginn der 1990er Jahre intensiver mit dieser einzigartigen Reichsversammlung beschäftigt.2 Inzwischen betont die jüngere Forschung die Leistungen des Immerwährenden Reichstags: 1. Beim Reichstag wurde das Reich als Ganzes sichtbar. Er war Kristallisationspunkt der Reichsverfassung und das zentrale politische Entscheidungsorgan im Alten Reich. Hier versammelten sich Reichsstände und Kaiser, um über Gesetze, Steuern, religionspolitische Fragen, aber auch über Krieg und Frieden zu entscheiden. 2. Dadurch bot der Reichstag ergänzend zu den Höfen eine Kommunikationsund Informationsplattform, nicht nur für das Reich, sondern von europäischer Dimension. Vertreter der führenden europäischen Mächte fanden sich in Regensburg ein und waren auf unterschiedliche Weise in das Reichstagsgeschehen eingebunden. Dadurch war der Reichstag auch eines der europäischen Zentren

1 Siehe für das Folgende ausführlicher und mit weiteren Belegen auch Dorothée Goetze u. a.: Der Immerwährende Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen. In: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 331–341. 2 Siehe in Auswahl: Walter Fürnrohr: Der immerwährende Reichstag zu Regensburg. Das Parlament des Alten Reiches. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 103 (1963), S. 165–252; Karl Härter: Reichstag und Revolution 1789–1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich. Göttingen 1992; Anton Schindling: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991; Johannes Burkhardt: Verfassungsprofil und Leistungsbilanz des Immerwährenden Reichstags. Zur Evaluierung einer frühmodernen Institution. In: Heinz Duchhardt / Matthias Schnettger (Hg.): Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum. Mainz 1999, S. 151–183.

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Dorothée Goetze, Christoph Kampmann

für die Außenbeziehungen von Kaiser und Reich sowie des Austausches der europäischen Mächte untereinander. 3. Der Immerwährende Reichstag garantierte eine besondere Form politischer Öffentlichkeit und bot dementsprechend spezifische Kommunikationsmittel. Bei der Reichsdiktatur hörte im Wortsinn das gesamte Reich zu. Beschlüsse des Reichstags formulierten Konsens und Einvernehmen der Mitglieder des Reiches. Zudem war die Repräsentation auf dem Reichstag durch einen eigenen Gesandten oder einen wohlgesinnten Reichsstand ein Statement über den Willen zur Teilhabe am Reichsgeschehen.3 Diese knappe Leistungsbilanz deutet an, dass das Reichstagsgeschehen durch vielfach verschränkte Konkurrenzverhältnisse geprägt wurde, denen der Reichstag mit seinem Verfahren und Zeremoniell Forum und Ausdrucksmittel bot. Einige dieser Konkurrenzen wurden offen formuliert, geradezu demonstriert. Andere wurden häufig, allerdings keineswegs immer, verdeckt ausgetragen. Der Immerwährende Reichstag eignet sich somit besonders, um sich dem Phänomen frühneuzeitlicher Konkurrenzen semantisch, inhaltlich und konzeptionell zu nähern. Dabei schwingen stets die beiden grundlegenden Bedeutungsebenen von Konkurrenz mit: Mitund Gegeneinander, Zusammenkommen und Rivalität.4 Der Immerwährende Reichstag erweist sich als ideales Untersuchungsfeld für frühneuzeitliche Konkurrenzforschung, zum einen, weil er als Untersuchungsobjekt dazu geeignet ist, das seit dem 19. Jahrhundert zunehmend verengte und in der Forschung dominierende Verständnis von (ökonomischer) Konkurrenz zu weiten,5 zum anderen wegen des „für sein Prozedere charakteristische[n] Spannungsverhältnis[ses] von Konsensorientierung einerseits und Konfliktaustrag andererseits“.6 Untersuchungen zum Immerwährenden Reichstag können zur Entwicklung eines

3 Siehe zu den Leistungen des Immerwährenden Reichstags in Auswahl: Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007; Michael Rohrschneider (Hg.): Der Immerwährende Reichstag im 18. Jahrhundert. Bilanz, Neuansätze und Perspektiven der Forschung = zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www. zeitenblicke.de/2012/2/ (09.11.2022); Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Stadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015. 4 Siehe dazu bereits Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 6: Ci–Cz. Halle / Leipzig 1735, S. 915 s. v. Concurrens. 5 Siehe in Auswahl Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014; Thomas Kirchhoff (Hg.): Konkurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven. Bielefeld 2015; Tobias Werron: Worum konkurrieren Nationalstaaten? Zu Begriff und Geschichte der Konkurrenz um „weiche“ globale Güter. In: Zeitschrift für Soziologie 41 (2012), S. 338–355. 6 Goetze u. a., Schauplatz, S. 336.

Einleitung

dezidiert frühneuzeitlichen Konkurrenzverständnisses beitragen, wie die folgenden Texte zeigen, die auf Vorträgen der Sektion „Der Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen“ basieren. Die Beiträge umfassen die Phase von 1663 bis 1740 und adressieren eine Vielzahl unterschiedlicher Konkurrenzsituationen: Guido Braun analysiert ausgehend von den Instruktionen der französischen Gesandten in Regensburg das Rollenverständnis des französischen Königs. Aus diesem Selbstbild leiteten sich die Aufgaben der Vertreter Frankreichs ab. Sie hatten ihren Prinzipal als gekrönten Monarchen zu repräsentieren. Zudem mussten sie seine zum Teil widersprüchlichen Rollen, etwa als Friedenswahrer und roi de guerre, gegenüber den Reichsständen kommunizieren. Mit seinem Selbstbild geriet der französische Monarch jedoch in Konkurrenz zum Kaiser oder auch Brandenburg-Preußen, die für sich ebenfalls die Rolle als Schutzmacht reichsständischer Interessen in Anspruch nahmen. Weiterhin waren die Gesandten in Regensburg Unterhändler und Informanten der französischen Krone. Christoph Kampmann identifiziert in seinem Beitrag die zentrale Bedeutung der Türkengefahr für die Entwicklung von Konkurrenzverhältnissen im Reich. Am Beispiel der offiziellen Kommunikation über den Großen Türkenkrieg (1683–1699) ananlysiert er Veränderungen der Konkurrenzen zwischen Kaiser, Reichsständen und Reichstag. Kampmann interpretiert die ostentative Nicht-Kommunikation des Friedensschlusses von Karlowitz (1699) zwischen dem Kaiser und dem Osmanischen Reich als sichtbaren Höhepunkt einer ab Beginn der 1690er Jahre voranschreitenden Entfremdung zwischen dem Kaiser und den Reichsständen und schließlich auch dem Regensburger Reichstag als Institution an sich. Die Kommunikation des Kaisers gegenüber den dort versammelten Reichsständen veränderte sich seit Beginn des Großen Türkenkrieges grundlegend und spiegelt somit die sich verschärfende Konkurrenz zwischen beiden Parteien wider. Der Immerwährende Reichstag wurde wiederholt zum Schauplatz des Großen Nordischen Krieges (1700–1721), wie Dorothée Goetze in ihrem Beitrag zeigt. Ursächlich dafür war die Rollenkonkurrenz zahlreicher Protagonisten dieses Konfliktes, die in Personalunion Souveränität über außerhalb und innerhalb des Alten Reiches gelegene Territorien verbanden. Um die ihnen durch die Reichsverfassung eröffneten Handlungsmöglichkeiten in der Auseinandersetzung im Ostseeraum nutzen zu können, musste ihre Rollenkonkurrenz zugunsten ihrer reichsständischen Identität aufgelöst werden. Am Beispiel der Auseinandersetzung des Jahres 1712 zwischen dem Vertreter Kursachsens und dem Gesandten der Fürstentümer der schwedischen Krone im Reich vollzieht Goetze deren Bemühung um Auflösung der Rollenkonkurrenz ihrer Prinzipale argumentativ nach. Mit Rollenkonkurrenzen beschäftigt sich auch der Beitrag von Yves Huybrechts, und zwar insbesondere solchen auf Seiten des Kaisers, der einerseits bemüht war, unter Berufung auf traditionelle Privilegien Steuerlasten zu minimieren, von dem aber als Reichsoberhaupt im Selbst- und Fremdverständnis erwartet wurde, hin-

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Dorothée Goetze, Christoph Kampmann

sichtlich seiner Steuerpflichten als Vorbild zu agieren. Im Mittelpunkt steht das Ringen um die Finanzierung des Reichskammergerichts, das sich am Immerwährenden Reichstag um 1737 vollzog. Vordergründig ging es um Forderungen an das Zwergfürstentum Jever, in Wirklichkeit aber sollte damit Druck auf den Kaiser ausgeübt werden, auch selbst endlich den schuldigen Beitrag zur Finanzierung gemeinsamer Reichsinstitutionen aufzubringen, die Wien von anderen forderte, selbst aber nur in sehr geringem Umfang leistete. Dabei wird deutlich, dass das Reichskammergericht ein sehr profilierter Akteur in dieser Zeit war, der durchaus bereit war, auch den Kaiser unter Druck zu setzen. So vermag die Untersuchung von (Rollen-)Konkurrenzen einen Beitrag zu leisten, traditionelle Geschichtsbilder des Reichs, etwa einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit von Reichsinstitutionen wie Reichstag und Reichskammergerichts, doch infrage zu stellen. In seinem Kommentar führt Michael Rohrschneider die präsentierten Fallbeispiele zusammen und ordnet die hier angestoßene Erprobung des KonkurrenzBegriffs in die Forschung zum Immerwährenden Reichstag ein.

Guido Braun

Sa Majesté garante de la paix, Roi Très-Chrétien oder roi de guerre? Konkurrierende Rollen und Normen der Vertretung des französischen Königs am Regensburger Reichstag 1663–1740

Frankreich und der Immerwährende Reichstag: Problemaufriss Der Regensburger Reichstag war der Ort der Beratungen über Fragen der Außenbeziehungen des Alten Reiches und der Entscheidungen über Reichskriegserklärungen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach gegen Frankreich richteten.1 Als „Forum der politischen Öffentlichkeit des Reiches und Europas“2 bot er den Gesandten des französischen Königs jedoch auch beachtliche politische Handlungsmöglichkeiten.3 Deren Hauptinstruktionen stellen eine wesentliche Grundlage für Forschungen zur französischen Reichstagspolitik dar. Ähnlich wie die päpstlichen Hauptinstruktionen weisen sie in besonderem Maße idealisierte Grundzüge auf und sind als eine Art „Glaubensbekenntnis“ hinsichtlich der Verortung des französischen Königtums in der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft zu lesen. Im Hinblick auf Frankreichs Außenbeziehungen zum Reich, zum Kaiser und zu den Reichsständen eröffnen sie insofern einen unmittelbaren Zugang zu den im politischen Denken am französischen Hof herrschenden einschlägigen Idealvorstellungen und Leitbegriffen. Letztere basierten auf einer Pluralität politischer Rollenzuschreibungen. 1 Christoph Kampmann: Reichstag und Reichskriegserklärung im Zeitalter Ludwigs XIV. In: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 41−59; Ders.: Information – Kommunikation – Konfrontation. Zur auswärtigen Diplomatie auf dem Immerwährenden Reichstag im Zeitalter Ludwigs XIV. In: Guido Braun (Hg.): Diplomatische Wissenskulturen der Frühen Neuzeit. Erfahrungsräume und Orte der Wissensproduktion. Berlin / Boston 2018, S. 135−160. 2 Gabriele Haug-Moritz: Öffentlichkeit und „Gute Policey“. Der Landschaftskonsulent Johann Jacob Moser als Publizist. In: Andreas Gestrich / Rainer Lächele (Hg.): Johann Jacob Moser. Politiker – Pietist – Publizist. Karlsruhe 2002, S. 27−40, hier S. 30. 3 Für einen ersten Überblick Guido Braun: Der Immerwährende Reichstag aus französischer Sicht in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/ 2012/2/Braun (09.11.2022); Sven Externbrink: Nach der „diplomatischen Revolution“. Funktion und Aufgaben der französischen Reichstagsgesandtschaft. In: zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www. zeitenblicke.de/2012/2/Externbrink (09.11.2022); eingehender zur Mitte des 18. Jh. Ders.: Friedrich der Große, Maria Theresia und das Alte Reich. Deutschlandbild und Diplomatie Frankreichs im Siebenjährigen Krieg. Berlin 2006.

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Guido Braun

Insoweit erschließen die Hauptinstruktionen die dem französischen Königtum zugeschriebene Rollenvielfalt und daraus resultierende Normenkonkurrenz. Im Folgenden wird anhand dieses zentralen Quellenkorpus das französische Verständnis der eigenen konkurrierenden Rollen am Reichstag analysiert. Der König von Frankreich verstand sich zum einen als europäischer (zum Teil offene Hegemonialansprüche vertretender) Herrscher.4 Er war zum anderen aber auch Garant der Westfälischen Friedensordnung, Protektor reichsständischer Libertät sowie Bündnispartner und Subsidienzahler einzelner Stände. Denn nicht nur deutsche Mächte wie Preußen und Österreich,5 sondern auch Frankreich nutzten die personellen Figurationen und Verflechtungen am Gesandtenkongress Reichstag zur Wahrung der eigenen Interessen mittels entsprechender Kommunikation, Ergebenheitsbezeigungen und Gratifikationen. Der Beitrag untersucht diese Rollenkonkurrenz hinsichtlich der daraus für das Verhalten der französischen Gesandten in Regensburg abgeleiteten Vorgaben und Normen,6 insbesondere mit Blick auf das Konkurrenzverhältnis, in das der König durch seine Protektoren- und Garantenrolle gegenüber dem Kaiser als Reichsoberhaupt geriet.7 Für den Untersuchungszeitraum liegen sechs edierte Instruktionstexte vor.8 Für Robert de Gravel, der Frankreich von 1663 bis 1674 in Regensburg vertrat, ist keine edierte Instruktion vorhanden.9 Die überlieferten Instruktionen aus dem Untersuchungszeitraum betreffen folgende Gesandtschaften:

4 Joël Cornette: Le Roi de guerre. Essai sur la souveraineté dans la France du Grand Siècle. Paris 1993, Taschenbuch-Ausgabe 2010. 5 Michael Rohrschneider: Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zu Klientelpolitik und Parteibildung (1745−1763). Göttingen 2014. 6 Grundlegend zur Normenkonkurrenz als Konzept historischer Forschung: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hg.): Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Berlin 2015. 7 Zur Geschichte der kaiserlich-französischen Beziehungen im 17. Jh.: Klaus Malettke: Les Relations entre la France et le Saint-Empire au XVII e siècle. Paris 2001; für den hier betrachteten Gesamtzeitraum: Guido Braun: Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs, 1648−1789. Darmstadt 2008. Aktualisierte französische Ausgabe Villeneuve d’Ascq 2012; ferner die den Immerwährenden Reichstag fokussierende, quellennahe ältere Studie von Bertrand Auerbach: La France et le Saint Empire romain germanique depuis la paix de Westphalie jusqu’à la Révolution française. Paris 1912, ND Genf 1976. 8 Bertrand Auerbach (Hg.): Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’à la Révolution française, publié sous les auspices de la Commission des archives diplomatiques au ministère des Affaires étrangères. Bd. XVIII. Paris 1912, Nr. IV−IX, S. 40−190. 9 Vgl. ebd., besonders Nr. III, S. 37−39. Gravels zunächst provisorische Mission wurde verstetigt. Zu seiner Ausweisung Kampmann, Information.

Sa Majesté garante de la paix, Roi Très-Chrétien oder roi de guerre?

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Louis Verjus, comte de Crécy, 1679−1686;10 Louis Rousseau de Chamoy, 1698−1702;11 Jacques-Vincent Languet, comte de Gergy, 1716−1725;12 Anne Théodore Chevignard de Chavigny, comte de Toulongeon, 1726−1731;13 Denis de Malbran de La Noue, 1738−174814 sowie Melchior de Harod de Senevas de Saint-Romain und Nicolas-Auguste Harlay, comte de Cély, 1681; diese beiden Botschafter wurden zu Verhandlungen mit einer Reichsdeputation in Frankfurt am Main entsandt.15

Neben den gerade in jüngerer Zeit besonders innovativen Publikationen zur Geschichte des Immerwährenden Reichstages, namentlich von Karl Härter,16 Harriet Rudolph,17 Susanne Friedrich,18 Christoph Kampmann19 und Michael Rohrschneider,20 und den Studien zur französischen Perzeption des Reichstages − etwa von

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Auerbach, Instructions, Nr. IV, S. 40−59. Ebd., Nr. VI, S. 71−82. Ebd., Nr. VII, S. 83−114. Ebd., Nr. VIII, S. 115−178. Ebd., Nr. IX, S. 179−190. Ebd., Nr. V, S. 60−70. Karl Härter stellte in den vergangenen dreißig Jahren die Reichstagsforschung auf eine neue Grundlage. Stellvertretend für seine vielzähligen Publikationen auf diesem Gebiet Karl Härter: Reichstag und Revolution 1789−1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich. Göttingen 1992; forschungsgeschichtlicher Überblick: Ders.: Der Immerwährende Reichstag (1663−1806) in der historischen Forschung. In: zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/2/Haerter (09.11.2022). Zu nennen ist insbesondere der perspektivenreiche Sammelband von Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Stadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663−1806). Regensburg 2015. Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007. Kampmann, Reichstag; Ders.: Der Immerwährende Reichstag als erstes „stehendes Parlament“? Aktuelle Forschungsfragen und ein deutsch-englischer Vergleich. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 646−662; Ders., Information. Michael Rohrschneider (Hg.): Der Immerwährende Reichstag im 18. Jahrhundert. Bilanz, Neuansätze und Perspektiven der Forschung = zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/2/ (09.11.2022); Ders., Österreich.

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Friedrich Beiderbeck,21 Jörg Ulbert,22 Sven Externbrink,23 Klaus Malettke,24 Martin Wrede25 oder mir selbst26 – sind für den Forschungskontext die neueren Untersuchungen zu den französischen Außenbeziehungen im Hinblick auf die Reichsstände, beispielsweise von Indravati Félicité27 und Tilman Haug28 , anzuführen. Letzterer widmet sich in einem grundlegenden Aufsatz näherhin der französischen Statuskommunikation in Regensburg.29

Konkurrierende Rollen des französischen Königs und seines Gesandten im Spannungsfeld französisch-habsburgischer dynastischer Konkurrenz Die verschiedenen Rollen des französischen Königs und seines Gesandten werden in Verjus’ Instruktion deutlich, deren Vergleich mit den späteren Texten bis 1740 hinsichtlich der Rollenbilder eine bemerkenswerte Kontinuität aufweist, die mit der

21 Friedrich Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. und die protestantischen Reichsstände. Berlin 2005. 22 Neben anderen Studien Jörg Ulbert: Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orléans (1715−1723). Berlin 2004. 23 Unter seinen einschlägigen Publikationen vgl. besonders Externbrink, Friedrich. 24 Stellvertretend für eine große Zahl von Publikationen auf diesem Forschungsfeld Klaus Malettke (Hg.) / Ullrich Hanke (Bearb.): Zur Perzeption des Deutschen Reiches im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Théodore Godefroy: Description d’Alemagne. Münster u. a. 2002. 25 Unter den im Gegensatz zu den übrigen Autoren kaum auf archivalisches Material zurückgreifenden, aber eine Reihe einschlägiger Druckschriften eingehend auswertenden Untersuchungen dieses Verfassers vgl. Martin Wrede: L’état de l’Empire empire? Die französische Historiographie und das Reich im Zeitalter Ludwigs XIV. Weltbild, Wissenschaft und Propaganda. In: Matthias Schnettger (Hg.): Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie. Mainz 2002, S. 89−110. 26 Neben anderen Studien Guido Braun: La Connaissance du Saint-Empire en France du baroque aux Lumières (1643−1756). München 2010. 27 Indravati Félicité: Das Königreich Frankreich und die norddeutschen Hansestädte und Herzogtümer (1650−1730). Diplomatie zwischen ungleichen Partnern. Köln u. a. 2017. Französische Ausgabe Berlin / Boston 2016. 28 Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648−1679). Köln u. a. 2015. 29 Ders.: „D’égal à égal?“ Statuskommunikation französischer Gesandter auf dem Immerwährenden Reichstag zwischen europäischen und reichsständischen Repräsentationsformen. In: Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Reichsstadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag von Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015, S. 235−250. Vgl. zur französischen Vertretung in Regensburg auch Heinrich Rubner: Die französische Gesandtschaft am Regensburger Reichstag (1663−1702). In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 147 (2007), S. 165−204.

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Entwicklung der französischen Perzeption des Immerwährenden Reichstages und dem Changieren der Einschätzung seiner Bedeutung durch die führenden Akteure in französischen Regierungskreisen kontrastiert.30 Allerdings lässt der Vergleich auch einige gewichtige Unterschiede deutlich werden, namentlich im Hinblick auf eine sich abschwächende Relevanz von Aspekten symbolischer Kommunikation.31 Seine Instruktion legte Verjus zunächst auf die zentrale Rolle als Informant des französischen Königs fest.32 Der Gesandte wurde zu einer exakten Berichterstattung über die von ihm gewonnenen Kenntnisse verpflichtet.33 Die zentrale Funktion, die dem Regensburger Reichstag bei der französischen Informationsakquise zugemessen wird, bestätigt seine von Susanne Friedrich herausgearbeitete Bedeutung als europäische „Drehscheibe“.34 Für zumindest ebenso wichtig erachtet wurde jedoch Verjus’ Aufgabe, seinen König nach dem Frieden von Nimwegen in der Rolle als Garant der öffentlichen Ruhe („tranquillité publique“) zu inszenieren.35 Daher müsse das zentrale Anliegen Verjus’ die Wiedergewinnung von Vertrauen („confiance“) zwischen den Reichsständen und Ludwig XIV. sein.36 Insoweit bestätigt die Quellenanalyse für die französische Politik die von der jüngeren Forschung hervorgehobene grundsätzliche Bedeutung der Kategorie „Vertrauen“ in den frühneuzeitlichen Außenbeziehungen.37 30 Diese wechselnden Einschätzungen werden klar herausgearbeitet durch Ulbert, Deutschlandpolitik, für den weiteren Verlauf des 18. Jh. durch Externbrink, Friedrich. 31 Über kulturgeschichtliche Zugänge zur Geschichte des Alten Reiches und Reichstages in französischer Sprache Barbara Stollberg-Rilinger: Les Vieux Habits de l’empereur. Une histoire culturelle des institutions du Saint-Empire à l’époque moderne, traduit de l’allemand [2008] et préfacé par Christophe Duhamelle. Paris 2013. 32 Auerbach, Instructions, S. 41, zu Verjus und seiner Mission insgesamt Nr. IV, S. 40−59. 33 Ebd., S. 47. Zur grundlegenden Bedeutung der Informationsgewinnung in den frühneuzeitlichen Außenbeziehungen Lucien Bély: De l’informativité. À propos du système d’espionnage de la France pendant la guerre de Succession d’Espagne. In: Guido Braun / Susanne Lachenicht (Hg.): Spies, Espionage and Secret Diplomacy in the Early Modern Period. Stuttgart 2021, S. 21–35. 34 Friedrich, Drehscheibe. 35 Auerbach, Instructions, S. 41. Die verwendeten Begriffe gehören dem terminologischen Arsenal an, das Isabella Lazzarini zufolge die spätmittelalterlichen Denkrahmen diplomatischer Beziehungen konstituierte, näherhin dem semantischen Feld, welches seit dem 15. Jahrhundert zunehmend mit der Vorstellung des Schutzes und der Bewahrung der bestehenden Ordnung verknüpft und dementsprechend sehr positiv konnotiert war; Isabella Lazzarini: Communication and Conflict. Italian Diplomacy in the Early Renaissance, 1350–1520. Oxford 2015, S. 113 f. Zum Friedenskongress von Nimwegen, welcher der zitierten Instruktion unmittelbar vorausging, vgl. Matthias Köhler: Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen. Köln u. a. 2011. 36 Auerbach, Instructions, S. 45. 37 Vgl. Haug, Außenbeziehungen, besonders das originelle dritte Hauptkapitel über „Vertrauen als Kommunikationsereignis“, S. 247−362, das politisches Vertrauen primär personal konzeptualisiert und im Sinne einer kognitiven Disposition hinsichtlich der Generierung stabiler Erwartungen an künftige Verhaltensweisen definiert.

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Die Verjus zugedachte Beobachterfunktion war akteursbezogen38 und fokussierte die Ausrichtung der einzelnen reichsständischen Gesandten in einem binären Handlungsfeld, das durch die Orientierung auf einen von zwei möglichen Polen hin (Frankreich oder das Haus Habsburg) geprägt war.39 Verjus wurde diesbezüglich die Rolle eines Gegenspielers des Kaisers und seiner Vertretung am Reichstag zugeschrieben. Dieser Rolle zugeordnet waren die Normen und Instrumente mikropolitischer Interessenwahrung.40 Allerdings schränkte die Instruktion die zu erwartende Wirkmächtigkeit der aufgezeigten mikropolitischen Handlungsmöglichkeiten (in Form von monetären Gunsterweisen und Geschenken) durch den Hinweis darauf ein, dass der Kaiser als Konkurrent Frankreichs in mikropolitischer Hinsicht über zwei Ressourcen verfüge, die Ludwig XIV. nicht in der Hand hielt: die Nobilitierung oder die Aufnahme der Regensburger „Doktoren“ in den Reichshofrat.41 Nicht nur der preußische Monarch Friedrich II., sondern auch die französischen Gesandten vor 1740 sahen den Reichstag „als Bühne, auf welcher der Kaiser gezielt seine außen- und reichspolitischen Zielsetzungen verfolgte“.42 Zentral war für diese Funktionalisierung der Einsatz von Patronageverhältnissen und Klientelpolitik zum Zwecke der Parteibildung. Im Spannungsfeld der französisch-habsburgischen Konkurrenz um reichsständische Gunst wurden die französischen Gesandten nur mit unzureichenden Res38 Grundlegend Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln u. a. 2010. 39 Auerbach, Instructions, S. 45. 40 Zu Definition und Erkenntnispotential des Konzepts Wolfgang Reinhard: Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch. In: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 631−666. 41 Auerbach, Instructions, S. 59. In Regensburg hatte Frankreich im Kaiser in der Tat einen mikropolitisch und durch Gunsterweise höchst aktiven Widerpart. Den bemerkenswerten Umfang der finanziellen „Transferleistungen“ zwischen dem Wiener Hof und den Reichsstädten, namentlich Bremen, bei denen es sich eindeutig um Korruption im engeren Sinne gehandelt habe, betont André Krischer: Reichsstädte und Reichstag im 18. Jahrhundert. Überlegungen zu Reichspolitik und Politik im Alten Reich anhand Bremer und Hamburger Praktiken. In: zeitenblicke 11, Nr. 2 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/2/Krischer, hier Zitat 33 (09.11.2022). Zu den Zusammenhängen von „Korruption“ und Normenkonkurrenz Hillard von Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert. In: Jens-Ivo Engels u. a. (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. München 2009, S. 91–120; Ders.: Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit. In: Niels Grüne / Simona Slanička (Hg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 205−220. 42 Zu Friedrich II. Michael Rohrschneider / Arno Strohmeyer: Der Immerwährende Reichstag als Forschungsfeld. Klientel, Patronage und Parteibildung Österreichs und Preußens um 1750 im Vergleich. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 119 (2011), S. 168−180, hier S. 168 f.

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sourcen ausgestattet und konnten in mikropolitischer Hinsicht nach derzeitigem Forschungsstand lediglich vereinzelt Erfolge erzielen. Durch die kriegsbedingten, mehrjährigen Unterbrechungen waren stabile Klientelverhältnisse kaum aufzubauen. Anders als der Kaiserhof oder auch Preußen vermochte Frankreich darüber hinaus fast keine Karrierechancen oder Ressourcen außerhalb von Geldzahlungen und Gratifikationen zu bieten. Anderweitiges „Kapital“ zur mikropolitischen Einflussnahme stand dem französischen Gesandten somit kaum zur Verfügung. Obwohl weiterhin das von Tilman Haug formulierte Desiderat besteht, dem zufolge wir „kaum etwas darüber wissen, wie französische Vertreter personale Netzwerke vor Ort koordinierten oder ihren Arbeitsalltag bewältigten“43 , ist davon auszugehen, dass die finanzielle Ausstattung der Gesandtschaft selbst oftmals unzureichend war. Zudem besaßen die Reichsstände auch in Preußen „eine politische und konfessionelle Alternative zu Habsburg als Schutz- und Orientierungsmacht“.44 Bereits in den 1720er und 1730er Jahren erkannte die französische Politik, nach den Hauptinstruktionen für Regensburg zu urteilen, die gestiegene Bedeutung der Kurfürsten von Brandenburg und Braunschweig-Lüneburg, die beide zu Königswürden gelangt waren, als mikro- und konfessionspolitische Alternative zum Kaiser und zum katholischen Kurfürsten von Sachsen im Corpus Evangelicorum. Nur unzureichend mit dem Kaiser konkurrieren konnte der französische König in Regensburg auch auf zeremonieller Ebene. Daher wurden die Handlungsmöglichkeiten des französischen Gesandten am Reichstag von Verjus selbst gegenüber dem dominanten kaiserlichen Einfluss, besonders im Fürstenrat, als sehr gering eingestuft und eine Auflösung des Reichstages favorisiert, wofür sich unter den reichsständischen Gesandten allerdings keine entsprechende Unterstützung finde.45 Auch aus Sicht der folgenden französischen Emissäre verliefen ihre Missionen unbefriedigend, weil die französische Gesandtschaft in der zugespitzten Opposition gegen die Kaiserlichen, die über weit ausgedehntere und flexiblere Optionen im Handlungsraum Reichstag verfügten, jeweils den Kürzeren zog.46 Die Hauptinstruktion für die Verhandlungen Saint-Romains und Harlays als außerordentliche Botschafter mit einer Reichsdeputation in Frankfurt am Main vom 27. Juli 1681 wiederholt – mitten in der zugespitzten Phase der „Reunionspolitik“, in der Ludwig XIV. über das Elsass hinausgriff47 – die stilisierten Leitmotive der

43 Haug, Statuskommunikation, S. 236. 44 Zu diesem Befund für die Regierungszeit Friedrichs II. Rohrschneider / Strohmeyer, Forschungsfeld, S. 176. 45 Memorandum vom 8. Januar 1680, Auerbach, Instructions, S. 49−59. 46 Eindrückliche Belege bei Ulbert, Deutschlandpolitik; Externbrink, Friedrich. 47 Maßgebend für die Geschichte der Reunion des Elsass ist weiterhin die ursprünglich 1956 publizierte, klassische Studie von Georges Livet: Du Saint Empire romain germanique au royaume de France. L’intendance d’Alsace de la guerre de Trente Ans à la mort de Louis XIV, 1634–1715. Straßburg

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französischen Friedensliebe und Wahrung der „tranquillité“.48 Nur durch eine kaum haltbare Interpretation der Westfälischen Friedensbestimmungen ließ sich die Rolle des Friedensbewahrers, ja sogar -schöpfers49 mit derjenigen des roi de guerre und Eroberers in Einklang bringen, die in den Hauptinstruktionen für Regensburg niemals als Motiv in Erscheinung trat, obwohl sie doch konstitutiv für die Herrschaftsideologie Ludwigs XIV. war.50 Ganz im Gegenteil wurde dort das Ideal der Selbstbeschränkung und Mäßigung („modération“) gepflegt.51 Chavignys Instruktion betont die Rolle Ludwigs XV. als Garant des Westfälischen Friedens, die den französischen König besonders zur Erhaltung des Reiches verpflichte.52 Im Hinblick auf die in den Instruktionstexten fassbaren, konkurrierenden Rollen der französischen Gesandten am Regensburger Reichstag im Untersuchungszeitraum ist zu konstatieren, dass die Bevollmächtigten Frankreichs erstens den König auf der Ebene des Zeremoniells als gekröntes Haupt und souveränen Fürsten (mit leicht verminderten Ansprüchen) zu repräsentieren hatten, ihn zweitens als Friedensstifter, Garant der Westfälischen Friedensordnung und Förderer reichsständischer Rechte inszenieren mussten sowie drittens der Rolle als Informanten des Königs und Unterhändler zur Vertretung seiner politischen Interessen, verbunden mit der Anknüpfung guter Beziehungen zu den Reichsständen unter Einsatz mikropolitischer Methoden und Instrumente, gerecht zu werden hatten. Die ersten beiden Rollen dominierten. Zum Teil erhebliche Nachteile, die aus ihrer Durchsetzung im Hinblick auf das dritte Aufgabenfeld, auch in der Konkurrenz zum Kaiserhof, resultierten, wurden billigend in Kauf genommen.

Statuskonkurrenz Da in den französisch-kaiserlichen Statuskonflikten Haug zufolge „die betroffenen Akteure zwischen sozialen und gesandtschaftsrechtlichen Normen sowie zwischen europäischen und reichsrechtlichen Referenzsystemen“ changierten,53 konnte sich die französische Statuskommunikation mit dem kaiserlichen Prinzipalkommissar sowohl sozialer als auch völker- oder reichsrechtlicher Referenzsysteme und darauf

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1991. Ferner Jean-P. Kintz: La Conquête de l’Alsace. Le triomphe de Louis XIV, diplomate et guerrier. Straßburg 2017. Auerbach, Instructions, S. 61. Ebd., S. 62. Cornette, Roi. Etwa 1681: Auerbach, Instructions, S. 61. Ebd., S. 168: „Sa Majesté […] comme garante de la paix de Westphalie intéressée particulièrement au maintien du Corps germanique“. Haug, Statuskommunikation, S. 250.

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basierender Handlungsnormen bedienen. Sie eröffnete dadurch unterschiedliche argumentative Strategien zur Durchsetzung und Legitimation eigener zeremonieller Ansprüche. Die damit verbundene Flexibilität und Ambivalenz war in der Tat ein seit dem 17. Jahrhundert bewusst eingesetzter Grundzug der französischen Vertretung in Regensburg. Eine grundlegende Neujustierung der Statuspolitik erfolgte mit der Entsendung Chavignys.54 Angesichts der Isolation seiner Vorgänger durch nicht durchsetzbare zeremonielle Ansprüche wurde Chavigny lediglich zum „Ministre“ ernannt, unter Verzicht auf den (ohnedies unklaren) Rang eines „plénipotentiaire“. Auf die Rolle als Repräsentant eines gekrönten Hauptes in zeremonieller Hinsicht wurde Chavigny nach den Erfahrungen früherer Gesandtschaften55 somit bewusst nicht mehr festgelegt. Allerdings wurde auf die Rolle des französischen Gesandten als Vertreter eines Souveräns in den Hauptinstruktionen (auch im 18. Jahrhundert) nicht grundsätzlich verzichtet, sondern lediglich Zeremoniellansprüche durch die Entsendung eines nicht höchstrangigen Vertreters entschärft beziehungsweise (seit Chavigny) ein konsequenter Zeremoniellverzicht verbunden mit der Fiktion vollzogen, der Gesandte handele aus sich selbst heraus ohne Kenntnis des Königs. Diese Fiktion sollte eventuell aus dem Verzicht resultierende Konsequenzen, die angesichts der status- und rechtssetzenden Funktion des Zeremoniells durchaus drohten, gegebenenfalls abwehren.56

Expansionspolitik, Konfessionspolitik und Friedensdiskurs Während die Wahrung der Normen des Zeremoniells für den Gesandten also nur in den Instruktionen vor 1726 verbindlich war, galt dies über den gesamten Zeitraum bis 1740 hin für den Friedensdiskurs. Wie in weiten Teilen der jüngeren Reichstagsforschung erscheint auch in den französischen Hauptinstruktionen das Reich als Sicherheits-, Rechts- und Friedensverband.57 Entgegen dem in den Hauptinstruktionen gepflegten Selbstbild galt der französische König einem Großteil der 54 Zum Folgenden die Instruktion für Chavigny: Auerbach, Instructions, Nr. VIII, S. 115−178. 55 Insbesondere die aus französischer Sicht katastrophal verlaufenen Gesandtschaften Gergys (selbst die üblichen Begrüßungsgeschenke seitens der Stadt Regensburg unterblieben, während der Gesandte nicht einmal sein Kreditiv auszuhändigen vermochte) und anschließend Philippe Bernard Groffeys, eines nach der Brüskierung Gergys als bewusste Provokation des Reichstages ausgewählten, verarmten Luxemburgers, der für eine solche Mission sozial nicht standesgemäß war und in Regensburg als einfacher Agent fungierte, vgl. Ulbert, Deutschlandpolitik, S. 102−111. 56 Auerbach, Instructions, S. 120 f., Zitat S. 120. 57 Vgl. beispielsweise Karl Härter: Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedenordnung 1648−1806. In: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 413−431.

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Reichstagsgesandten allerdings nicht als Garant, sondern aufgrund seiner Expansionspolitik als Störer dieser Ordnung. In den Instruktionen völlig ausgeblendet wurde die in der Selbstrepräsentation und Herrschaftskonzeption des französischen Königtums, insbesondere Ludwigs XIV., zentrale Rolle des Herrschers als roi de guerre, als Eroberer und Mehrer seines Reiches. Ferner wurde auch die Rolle des Roi Très-Chrétien als katholischer Herrscher darin stark relativiert, obwohl sie seit dem Gründungsakt der Taufe Chlodwigs für das Selbstverständnis des französischen Königtums konstitutiv war.58 Gleichwohl wurde diese Rolle – auch nach 1740 – mit Rücksicht auf die Beziehungen zu den protestantischen Reichsständen den anderen Rollen des französischen Königs untergeordnet; infolgedessen traten entsprechende Normen konfessionell motivierten Handelns hinter anderen zurück. Dies gilt auch für die durch wachsende konfessionspolitische Konflikte geprägte Zeit nach 1697 und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. In der Instruktion für Gergy von 1716 wurde die durch Ludwig XIV. verfolgte Politik der Förderung des Katholizismus im Reich mittels der Rijswijker Klausel als gescheitert betrachtet und eine doppelte Rücksichtnahme auf beide Konfessionsparteien empfohlen.59 Das Leitmotiv der Wahrung eines „juste milieu“ in der Instruktion für Malbran de La Noue von 173860 manövrierte die französische Reichstagspolitik, wie schon die Konsequenzen der konfessionspolitischen Weisungen an Gergy illustrieren, oftmals in eine Außenseiterrolle. Dennoch wurde diese bei der Mission Gergys bereits gescheiterte Linie in den Konfessionsfragen auch in den 1720er Jahren weiterhin vertreten. Die breite Darlegung der Konfessionsproblematik in der Instruktion für Chavigny von 1726, die das Ideal der Unparteilichkeit festschrieb, führte zu einer Minimierung der Spielräume des Gesandten auf diesem Handlungsfeld.61 Aber es war doch gerade die in den Hauptinstruktionen verschwiegene Rolle als Kriegsherr, welche die Beziehungen der französischen Gesandten in Regensburg entscheidend mitprägte und die in einer Zeit (vor allem auf kulturellem Gebiet) weit verbreiteter Gallophilie am Ort des Reichstages auch für eine gallophobe Atmosphäre sorgte – keineswegs nur im Zeitalter der Expansionskriege Ludwigs XIV. Gallophilie und Gallophobie existierten insofern nebeneinander, was den heuris-

58 Zur Bedeutung des Religiösen für die Genese der Herrschaftsideologie des französischen Königtums vgl. Albert Rigaudière: Histoire du droit et des institutions dans la France médiévale et moderne. Paris 4 2010, S. 503−510; näherhin zur Zeit Ludwigs XIV. Alexandre Maral: Le Roi-Soleil et Dieu. Essai sur la religion de Louis XIV. [Paris] 2012. 59 Für Chamoy 1698: Auerbach, Instructions, S. 76 f.; für Gergy 1716: ebd., S. 95 f. 60 Bereits vom Editor hervorgehoben: ebd., S. 179. 61 Ebd.

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tischen Mehrwert des jüngst in die Forschung eingeführten, neutralen Begriffs „Gallotropismus“ verdeutlicht.62 Ganz klar setzte sich in der französischen Diplomatie im 18. Jahrhundert schließlich die Erkenntnis durch, dass sich der Reichstag nicht als Forum der Opposition gegen den Kaiser vereinnahmen und instrumentalisieren ließ, wodurch sie die Einschätzung Karl Härters bestätigt, der zufolge der Reichstag keineswegs als institutionalisierte Opposition gegen den Kaiser zu beschreiben sei.63 Zu einem Ausgleich konkurrierender Rollenvorstellungen im Sinne der Entwicklung einer Gesamtstrategie für die eigene Vertretung am Reichstag gelangte die französische Diplomatie aber weder bis 1740 noch darüber hinaus.

62 Zu Gallophilie, Gallophobie und Gallotropismus im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Jens Häseler / Albert Meier (Hg.): Gallophobie im 18. Jahrhundert. Akten der Fachtagung vom 2./3. Mai 2002 am Forschungszentrum Europäische Aufklärung. Berlin 2005; Wolfgang Adam / Jean Mondot (Hg.): Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum (1660−1789). 3 Bde. Heidelberg 2016−2017. 63 Karl Härter: The Permanent Imperial Diet in European Context, 1663−1806. In: Robert J. W. Evans u. a. (Hg.): The Holy Roman Empire, 1495−1806. Oxford 2011, S. 115−135, hier S. 124.

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Immerwährender Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert Kommunikation – Konkurrenz – Konfrontation

Einleitung Die Türkengefahr – mit diesem Schlagwort wird das im römisch-deutschen Reich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert verbreitete Gefühl existentieller Bedrohung durch das Osmanische Reich bezeichnet, das spätestens seit den 1520er Jahren in der unmittelbaren Nachbarschaft des Reichs militärisch präsent war.1 Es ist völlig unbestritten, dass die Türkengefahr die Reichspolitik in der Frühen Neuzeit geprägt hat, auch und gerade auf den Reichsversammlungen. Damit ist zugleich die Schlüsselrolle der Türkengefahr für die hier behandelte Gesamtthematik benannt: Sie ist ein entscheidender Faktor für Gestalt und Wandel der mannigfachen politischen Konkurrenzverhältnisse im Reich, so wie sie gerade auf dem Reichstag und in der kaiserlichen Reichstagspolitik zum Ausdruck gekommen sind.2 Bei der Beschäftigung mit der Thematik Reichstagspolitik und Türkengefahr stößt der Betrachter auf einen bemerkenswerten Forschungsstand. Für das 16. und das frühe 17. Jahrhundert, also bis zum Ende des sog. Langen Türkenkriegs (1593–1606), liegt dazu eine umfangreiche Forschungsliteratur vor, namentlich das nach wie vor grundlegende Werk von Winfried Schulze von 1978.3 Winfried Schulze hat dargelegt, dass es der kaiserlichen Politik während des Langen Türkenkriegs (weit besser noch als in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) gelungen sei, die Türkengefahr angesichts des sich verschärfenden Konfessionskonflikts als Integrationsmittel für die Reichspolitik einzusetzen und beträchtliche Reichssteuern zur Finanzierung des Türkenkriegs einzunehmen. Die protestantischen Reichsstände hätten dagegen in dieser Zeit kaum vermocht, den Kaiser im Gegenzug zu Zugeständnissen in konfessionellen Angelegenheiten zu bewegen – nicht zuletzt wegen 1 Vgl. allgemein Horst Rabe: Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500−1600. München 1989, S. 25−27. Aus Platzgründen werden die Belege auf das Notwendige beschränkt. Für eine ausführlichere Fassung mit umfassendem Belegapparat vgl. Christoph Kampmann: Kaiser, Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert: Kommunikation – Konkurrenz – Konfrontation. In: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 361–382. 2 Vgl. den Sektionseinleitungsbeitrag von Dorothée Goetze / Christoph Kampmann in diesem Band. 3 Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978.

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der Gegensätze innerhalb des protestantischen Lagers, das zu keinem einheitlichen Vorgehen gefunden habe.4 Es lag in der Logik dieser Entwicklung, dass sich nach Ende des Langen Türkenkriegs 1606 die Spannungen im Reich rasch wieder verschärften und schließlich im Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs mündeten. Im Unterschied zur breiten Literatur zum Einfluss der Türkengefahr im 16. und im frühen 17. Jahrhundert auf das Reich haben die reichspolitischen Auswirkungen von Türkenkrieg und Türkengefahr im ausgehenden 17. Jahrhundert, also im Zeitalter des sog. Großen Türkenkriegs (1683–1699), erstaunlich geringe Aufmerksamkeit gefunden. Ein wichtiger Grund dafür ist (neben der lange zu beobachtenden allgemeinen Vernachlässigung von Reichspolitik und Reichstag dieser Zeit in der historischen Forschung),5 dass der Große Türkenkrieg lange weniger unter reichspolitischer Perspektive als unter der Perspektive einer vom Reich unabhängigen österreichischen Großmachtbildung betrachtet worden ist. Entsprechend unterschied die ältere Geschichtsschreibung streng zwischen den Reichskriegen im Westen des Reichs und solchen im Südosten.6 Obwohl diese Sichtweise inzwischen als überholt gilt,7 weil sie spätere Entwicklungen auf die Zeit um 1700 zurückprojiziert, sind ihre Wirkungen doch bis die jüngere Historiographie spürbar. So widmet die umfassende, bis heute grundlegende Darstellung Aretins zur Reichsgeschichte nach dem Westfälischen Frieden dem Großen Türkenkrieg nach dem Entsatz von Wien nur wenige Zeilen, ohne auf dessen reichspolitische Folgen näher einzugehen.8 In dieser Hinsicht ist Aretins Darstellung kein Einzelfall. Dies überrascht, denn bekanntlich veränderte der Großen Türkenkrieg seit Mitte der 1680er Jahre die geostrategische Position des Reichs fundamental. Darüber hinaus führten die Triumphe des Kaisers im Südosten und die Zurückdrängung des Osmanischen Reichs von den Reichsgrenzen bzw. den Erblanden zu einem Wandel der Stellung des Kaisers im Reich, erweiterte sich doch der Handlungsspielraum des Reichsoberhaupts gegenüber den Reichsständen beträchtlich.9

4 Schulze, Reich, zusammenfassend S. 364−370. 5 Vgl. den Sektionseinleitungsbeitrag von Dorothée Goetze / Christoph Kampmann in diesem Band. 6 Charakteristisch für diese Sichtweise ist das Standardwerk von Oswald Redlich: Weltmacht des Barock. Österreich in der Zeit Kaiser Leopolds I. Wien 4 1961, S. 483 und öfter. 7 Vgl. Anton Schindling: Leopold I. (1658−1705). In: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 169−185, hier S. 180; Harm Klueting: Das Reich und Österreich 1648–1740. Münster u. a. 1999, S. 76 f.; Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806. Darmstadt 3 2006, S. 118. 8 Vgl. Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648–1806. Band 2: 1684–1745. Stuttgart 2 2005; wenn ich richtig sehe, stellt der kurze indirekte Bezug auf die Eroberungen Leopolds I. in Ungarn (S. 15 f.) den einzigen Hinweis dar. Auf eventuelle reichspolitische Bezüge dieser geostrategischen Wende seit Mitte der 1680er Jahre geht das Werk nicht ein. 9 Vgl. schon Volker Press: Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715. München 1991, S. 447.

Immerwährender Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert

Wenn die Literatur überhaupt auf die reichspolitischen Folgen des Großen Türkenkriegs eingeht, dann erscheinen sie zumeist als ein weiterer Faktor für die enorme Reputationssteigerung des Kaisers unter den Reichsständen im ausgehenden 17. Jahrhundert, dessen „Rückkehr in das Reich“10 durch den gemeinsamen Erfolg im Türkenkrieg gefördert und beschleunigt worden sei. Durchaus charakteristisch ist in dieser Hinsicht die apodiktische Feststellung von Joachim Whaley zum Türkenkrieg: „The emperor’s successes [in the Turkish War 1683–1699] reinforced the new bond between him [the Emperor] and the estates“, um dann etwas später fortzufahren: “The [Turkish] War unified the Reich“.11 Solche Urteile fügen sich ausgezeichnet in das vorherrschende Bild der kaiserlichen Reichspolitik seit den 1670er und 1680er Jahren. Nach dem Tiefpunkt seines Ansehens zu Beginn seiner Regierungszeit sei es Kaiser Leopold I. (1658–1705) gelungen, schrittweise das Vertrauen der Reichsstände zu gewinnen. Dies habe ganz wesentlich an dem defensiven, streng auf Herkommen, Recht und Ausgleich achtenden Umgang Kaiser Leopolds I. mit den Reichsinstitutionen gelegen, gerade in Hinblick auf den Reichstag.12 Doch sind hier Zweifel erlaubt. Es gibt Anzeichen, dass sich das Verhältnis des Kaisers zum Reichstag im späteren Verlauf seiner Regierungszeit, seit den 1690er Jahren, dramatisch verschlechterte und von sich verschärfenden Gegensätzen geprägt war, für die statt von Konkurrenz in mancherlei Hinsicht wohl eher von Konfrontation zu sprechen wäre.13 Dies gilt gerade für die kaiserlich-reichsständischen Beziehungen beim Immerwährenden Reichstag.14 Genau darauf scheint der kommunikative Umgang mit Türkenkrieg und Türkengefahr auf dem Immerwährenden Reichstag seit den 1690er Jahren hinzudeuten. Dies soll im Folgenden in zwei aufeinander bezogenen Schritten näher erläutert werden: Zunächst wird der Wandel der offiziellen Kommunikation über Türkenkrieg und Türkengefahr am Reichstag im Verlauf des Großen Türkenkriegs in den

10 Grundlegend Anton Schindling: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991, insbesondere das Kapitel „Die Rückkehr des Kaisers in das Reich“, S. 224−226. 11 Vgl. Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Bd. 2. Oxford 2012, S. 46. 12 Grundlegend für diese Sichtweise Schindling, Anfänge, S. 224 f. und passim. 13 Vgl. meine Beiträge Christoph Kampmann: Reichstagskrise als Reichskrise? Kaiser, Reich und Immerwährender Reichstag um 1700. In: Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Reichsstadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag von Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015, S. 125−138; Ders.: Ein Neues Modell von Sicherheit. Traditionsbruch und Neuerung als Instrument kaiserlicher Reichspolitik 1688/89. In: Ders. u. a. (Hg.): Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit. Köln 2012, S. 213−233. 14 Vgl. Kampmann, Reichstagskrise.

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Blick genommen. Sodann, in einem zweiten Schritt, wird der Versuch unternommen, diesen Wandel im Kontext der Reichspolitik zu analysieren, also zu fragen, welche Rückschlüsse dies auf den Wandel des Verhältnisses, der Konkurrenzen, zwischen Kaiser, Reichsständen und Reichstag zulässt.

Immerwährender Reichstag und Türkengefahr: Der radikale Wandel der Kommunikation Am 26. Januar 1699 wurde in Karlowitz (Sremski Karlovci) ein Friedensvertrag zwischen dem Kaiser und dem Osmanischen Reich unterzeichnet. Am gleichen Tag schlossen auch die beiden anderen Mächte der sogenannten Heiligen Liga, das Königreich Polen und die Republik Venedig, Frieden mit dem Osmanischen Reich.15 Karlowitz gehört zweifellos zu den folgenreichsten kaiserlich-osmanischen Friedensverträgen in der Frühen Neuzeit: Der Sultan trat den größten Teil Ungarns (ohne das Banat) und das Großfürstentum Siebenbürgen an den Kaiser ab. Hatte sich der osmanische Herrschaftsbereich bis zum Großen Türkenkrieg faktisch bis an die Grenzen des römisch-deutschen Reichs erstreckt, rückte das Osmanische Reich territorial wieder weit von den Reichsgrenzen weg; eine unmittelbare osmanische Bedrohung des Reichs und der habsburgischen Erblande war deutlich vermindert, wenn nicht beseitigt. Seiner Bedeutung entsprechend fand der Friedensschluss sofort breite öffentliche Resonanz im Reich, sowohl in zahlreichen, darunter verschiedenen mehrfach wiederaufgelegten Flugschriften als auch in einer reichen Bildpublizistik.16 Die kaiserliche Regierung trug dazu aktiv bei: Der Kaiserhof inszenierte opulente Friedensbzw. Siegesfeierlichkeiten, die den „reputirlichen Frieden und avantagiosen Stillstand“ von Karlowitz als Beginn eines neuen Zeitalters feierten, in dem die gesamte Christenheit dank der Wiedereroberung der vormals „entrissenen Ländereyen“ nun in „vorige Ruhe und Sicherheit gesetzet“ worden sei.17

15 Vgl. dazu Jean Bérénger: La Paix de Karlowitz 26 Janvier 1699. Les relations entre l’Europe centrale et l’Empire Ottoman. Paris 2010. Formal handelte es sich beim Frieden von Karlowitz wie bei allen zuvor geschlossenen Friedensverträgen zwischen dem Kaiser und den Osmanen um einen Waffenstillstand, freilich einen solchen mit der ungewöhnlich langen Frist von 25 Jahren, die darüber hinaus verlängert werden konnte. 16 Zum reichen publizistischen Niederschlag, den der Friede von Karlowitz gefunden hat, vgl. – mit ausführlichen Belegen – Kampmann, Kaiser, S. 367 f. 17 Vgl. zu diesen Feierlichkeiten: Außführliche Relation von dem den 1. Martii 1699. zu Wien gehaltenen Vortrefflichen Feuerwerck, o. O. [1699] [BSB Res. 4 Eur. 415,53]; in dieser Flugschrift, [3] f., auch die Zitate.

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Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass dieser Friede keine Spuren in der formellen Kommunikation des Immerwährenden Reichstags von Regensburg hinterlassen hat. Es gab – soweit auf der Basis der Reichstagskompendien zu sehen ist18 – keine offizielle kaiserliche Verlautbarung darüber am Reichstag. Entsprechend ist auch keine offizielle Reaktion der Stände auf den Friedensschluss überliefert, etwa in Form einer Gratulation der Reichsstände. Der wichtigste kaiserlichosmanische Friedensschluss des 17. Jahrhunderts, der einem nur dank massiver reichsständischer Unterstützungszahlungen erfolgreichen Krieg mit dem Osmanischen Reich ein Ende setzte und die Position des römisch-deutschen Reichs gegenüber den Osmanen fundamental veränderte, blieb in den offiziellen Verhandlungen des Immerwährenden Reichstags offenbar unerwähnt. Die Nichtbehandlung des Friedens von Karlowitz auf dem Immerwährenden Reichstag markiert den Tiefpunkt einer auch in den Jahren zuvor schon extrem ausgedünnten Reichstagskommunikation zum Türkenkrieg. In den acht Jahren zwischen der Schlacht von Slankamen 1691 und dem Frieden von Karlowitz 1699 tauchte der fortgehende Türkenkrieg – wenn ich richtig sehe – überhaupt nur noch fünfmal in den offiziellen Reichstagsverhandlungen auf; und dies, obwohl die Kriegskonjunkturen an der osmanischen Front in dieser Zeit heftig schwankten und mehrfach alle Zugewinne der vorausgegangenen Jahre wieder auf dem Spiel standen – eine Gefahr, die erst der kaiserliche Sieg von Zenta beseitigte.19 Dieser Befund überrascht, und er erstaunt umso mehr, wenn er mit der breiten Aufmerksamkeit verglichen wird, die zuvor die Kriege gegen die Osmanen auf dem Immerwährenden Reichstag gefunden hatten. Dies zeigt zunächst in eindrücklicher Weise der Türkenkrieg von 1663/64. Der Friede von Vasvar/Eisenburg von 1664, der diesem Krieg ein Ende gesetzt hatte, war dem Reichstag vom Kaiser mit großem Dank für die geleistete Hilfe kommuniziert worden, woraufhin die Stände dem Kaiser ihrerseits ebenso feierlich zu diesem Friedensschluss gratuliert hatten.20

18 Dieser Befund basiert auf der Durchsicht der einschlägigen Bände der Sammlung aller kaiserlichen Propositionen und der Reichsschlüsse bei Johann Josef Pachner von Eggenstorff: Vollständige Sammlung […] aller Reichsschlüsse […]. Bd. 2. Regensburg 1740, der sich bis 1700 erstreckt, und dem Folgebd. 3 (Regensburg 1776). 19 Zum wechselhaften, für die kaiserliche Seite gerade 1695/96 unvorteilhaften Verlauf des Türkenkriegs vgl. Michael Hochedlinger: Austria’s Wars of Emergence 1683–1797. London 2003, S. 164 f. 20 Vgl. das Kaiserliche Rescript an den Reichstag über den auf 20 Jahre geschlossenen Waffenstillstand mit dem Osmanischen Reich (i. e. den Frieden von Eisenburg) mit ausdrücklichem Dank an die Reichsstände, 23. Oktober 1664. In: Johann Josef Pachner von Eggenstorff: Vollständige Sammlung […] aller Reichsschlüsse […]. Bd. 1. Regensburg 1740, Nr. 80, S. 136−138; vgl. auch den Reichsschluss vom 29. Oktober 1664, in dem der Reichstag seine Freude über den Abschluss des Waffenstillstands bekundete (ebd., Nr. 81, S. 138–140) sowie das „Congratulationsschreiben“ des Reichstags an den

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Auch in den achtzehn Kriegsmonaten zuvor war die Kommunikation extrem dicht gewesen, zwischen Frühjahr 1663 und Herbst 1664 ist die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich mindestens 66-mal (!) Gegenstand der offiziellen Kommunikation auf dem Reichstag auf all seinen Ebenen gewesen.21 Der Immerwährende Reichstag darf in dieser Phase – um die Terminologie von Winfried Schulze zu verwenden – ohne Weiteres als Türkenreichstag gelten. Auch der Große Türkenkrieg wurde seit seinem Ausbruch, wenn auch nicht auf dem Niveau wie beim Türkenkrieg 1663/64, Gegenstand einer kontinuierlichen Kommunikation zwischen dem Kaiser und dem Reichstag und blieb es zunächst auch noch, als die osmanischen Streitkräfte nach der Entsatzschlacht vor Wien wieder aus dem Reich herausgedrängt worden waren.22 Wie wichtig sowohl für den Kaiser als auch für die Reichsstände in den 1680er Jahren die Aufrechterhaltung des Austauschs war, zeigte sich in jenen Phasen, in denen der kaiserliche Prinzipalkommissar nicht am Reichstag präsent war, was den Geschäftsgang formaliter erheblich stören, wenn nicht zum Stillstand bringen konnte, war es doch dem kaiserlichen Prinzipalkommissar vorbehalten, Kommissionsdekrete auf den Weg zu bringen und Reichsschlüsse zu approbieren. Doch einigten sich Kaiser und Stände, dass in Zeiten der Abwesenheit des Prinzipalkommissars auch der zweite Mann der kaiserlichen Vertretung, der Konkommissar, ausnahmsweise dessen Aufgabe wahrnehmen könne.23 Der nach Ansicht der älteren Historiographie angeblich so sehr in barocken Umständlichkeiten gefangene Reichstag24 war in der Lage, sich über komplexe Rangfragen hinwegzusetzen, wenn die Akteure dies denn wollten. Genau dies war, wie noch zu zeigen sein wird, in den späten 1690er Jahren nicht mehr der Fall: Nun wurde die Tatsache, dass der kaiserliche Prinzipalkommissar nicht in Regenburg anwesend sei, kaiserlicherseits als wichtiges Argument verwendet, die offizielle Geschäfts- und Kommunikationstätigkeit des Reichstags zu unterbrechen.25

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Kaiser über den mit der Hohen Pforte erzielten Waffenstillstand vom 29. Oktober 1664 (ebd., Nr. 82, 140 f.). Vgl. Pachner, Sammlung 1, passim. Auf Einzelbelege wird hier verzichtet. Den mindestens 34 Kommissionsdekreten, mit denen der Kaiser zwischen 1682 und 1690 den Reichstag über den Verlauf des Türkenkriegs unterrichtete, standen 15 Reichsgutachten gegenüber, mit denen der Reichstag dazu Stellung nahm. Für ausführliche Belege zur Behandlung des Türkenkriegs auf dem Reichstag in dieser Phase vgl. Kampmann, Kaiser, S. 368−370. Vgl. zu dem Vorgang Johann Jacob Moser: Von denen Teutschen Reichstagen […], Bd. 1. Frankfurt am Main / Leipzig 1774, S. 83 f. Vgl. zu diesen älteren Stereotypen, die bis in die 1960er Jahre das Bild des Immerwährenden Reichstags bestimmten, Harriet Rudolph: Einleitung. In: Dies. / Schlachta (Hg.), Reichsstadt, S. 11–33, hier S. 14 f. Dies war offensichtlich in den 1680er Jahren der Fall, in den späten 1690er Jahren nicht mehr; vgl. dazu unten sowie Kampmann, Reichstagskrise, hier S. 132 f.

Immerwährender Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert

Auch der Ausbruch des Krieges mit Frankreich 1688 änderte zunächst nichts daran, dass der Türkenkrieg ein wichtiges Thema auf dem Immerwährenden Reichstag blieb.26 Umso markanter ist, dass der Türkenkrieg kurze Zeit später, seit 1692, weitgehend aus der offiziellen Reichstagskommunikation verschwand. Dass der Abschluss des Friedens von Karlowitz und das Ende des Türkenkriegs am Reichstag offiziell mit völligem Schweigen übergangen wurden, bildete den Abschluss dieser Entwicklung. Wie ist dieser merkwürdige Gegensatz zwischen intensiver Behandlung der Türkenkriegsthematik 1663/64 bzw. 1683/91 und ihrer Ignorierung seit 1692 zu erklären und zu deuten?

Die Türkenkriegskommunikation als Spiegel des kaiserlich-ständischen Verhältnisses Der Wandel der Kommunikation des Regensburger Reichstags über Türkenkrieg und Türkengefahr ist untrennbar mit der prinzipiellen Veränderung des Verhältnisses von Kaiser und Reichstag seit den späten 1680er und frühen 1690er Jahren verbunden. Anton Schindling hat in seiner grundlegenden Studie gezeigt, wie Kaiser und Immerwährender Reichstag nach schwierigem Beginn seit den 1670er Jahren zu einem recht vertrauensvollen Verhältnis fanden.27 Dies galt auch und gerade im Bereich der Reichsverteidigung, zunächst gegenüber der französischen Expansion,28 dann seit 1683 bei der Abwehr des osmanischen Angriffs. Daran änderte sich nichts, als die osmanischen Streitkräfte nach der Entsatzschlacht von Wien wieder aus dem Reich gedrängt worden waren und damit keine rechtliche Verpflichtung der Reichsstände zur Reichshilfe an den Kaiser mehr bestand. Deutlichen Ausdruck fand dieses fortgesetzte, nun explizit freiwillige Engagement des Reichs im Türkenkrieg in zwei umfangreichen Mittelbewilligungen des Reichstags in den Jahren 1686 und 1687.29 Auch als 1688 der Krieg mit Frankreich ausbrach, war der Kaiser bemüht, die Zusammenarbeit mit dem Reichstag beim Kampf gegen die Türkengefahr fortzusetzen, indem die Kriege gegen die Reichsfeinde im Westen und im Osten propagandistisch als Einheit dargestellt wurden: In rhetorisch beispielloser Weise beschwor der Kaiser in seinen Kommissionsdekreten an den Reichstag die existentielle Gefährdung des Reichs angesichts des sogenannten Doppelangriffs von West und Ost. Mit seinem 26 Vgl. zu Ursachen und Verlauf des Pfälzischen Kriegs Aretin, Reich 2, S. 25−41. 27 Schindling, Anfänge. 28 Vgl. Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reichs 1648−1763. Stuttgart 2006, S. 116−122. 29 Vgl. dazu Kampmann, Kaiser, S. 373 f.

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Angriff auf das Reich während fortgehenden Türkenkriegs habe sich der König von Frankreich auf eine Stufe mit dem Erbfeind christlichen Namens gestellt und müsse entsprechend behandelt werden.30 Dass sich der Reichstag diese „Perhorreszierung Frankreichs“ (Martin Wrede) in Reichsschlüssen 1689/90 zu eigen machte und auch andere, außergewöhnliche, in dieser Form beispiellose Maßnahmen mittrug, war zweifellos ein großer Triumph der kaiserlichen Kommunikationsstrategie gegenüber dem Reichstag, die in politikwissenschaftlicher Terminologie durchaus als erfolgreiche „Securitization“ (Versicherheitlichung) bezeichnet werden darf.31 Freilich – und dies ist für unseren Zusammenhang entscheidend – verschlechterte sich das Verhältnis des Kaisers zum Reichstag seit 1692 schlagartig. Zum Wendepunkt wurde die vom Kaiser aus eigener Machtvollkommenheit vorgenommene Kurerhebung des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg(-Hannover).32 Das führte zu schärfster und anhaltender Opposition am Reichstag, insbesondere im Fürstenrat: Die Politik der Versicherheitlichung, die sich bisher als so erfolgreich erwiesen hatte, stieß offensichtlich an ihre Grenzen. In den folgenden Jahren gelang es dem Kaiser und den Reichsständen nicht, ihren (die Reichstaggeschäfte paralysierenden) Dissens über die hannoversche Kur beizulegen. Einen Tiefpunkt erreichten die ohnehin schon belasteten Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Reichstag dann bekanntlich mit dem erbitterten Streit über den Friedensvertrag von Rijswijk mit Frankreich bzw. die berühmt-berüchtigte Rijswijker Klausel, die zu einem Aufschrei der Empörung unter den evangelischen Reichsständen führte.33 Diese langanhaltende Entfremdung blieb nicht ohne Folgen für die grundsätzliche Haltung des Kaiserhofs gegenüber dem Regensburger Reichstag. Spätestens seit dem Winter 1698/99 sandte die kaiserliche Regierung recht klare Signale aus, dass sie nicht nur einzelnen übelgesinnten Reichsständen, sondern auch dem Reichstag insgesamt mit wachsendem Unwillen gegenüberstehe. Am Kaiserhof, so die deutlich vermittelte Botschaft, verstärkten sich die Zweifel, ob die Fortsetzung dieses Reichstags von Regensburg überhaupt noch sinnvoll sei. 30 Martin Wrede: Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004, S. 477−483. 31 Zu den außergewöhnlichen, zum Teil in der Geschichte des Reichs präzedenzlosen Maßnahmen Kampmann, Neues Modell, S. 214−220. Zur Anwendbarkeit des politikwissenschaftlichen Modells der Securitization auf frühneuzeitliche Politik vgl. Christoph Kampmann / Horst Carl: Historische Sicherheitsforschung und die Sicherheit des Friedens. In: Irene Dingel u. a. (Hg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit. Berlin 2021 mit weiterer Literatur zu Securitization. 32 Vgl. dazu die Darlegungen bei Aretin, Reich 2, S. 59−65. 33 Vgl. Gabriele Haug-Moritz: Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden. In: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 445−482, hier S. 468 f. Vgl. zum Streit um die Rijswijker Klausel auch Aretin, Reich 2, S. 45−51.

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Unübersehbar wurde dies im Zusammenhang mit dem Wechsel im Amt des Prinzipalkommissars nach der Abberufung des seit 1691 amtierenden Prinzipalkommissars Lobkowitz im Januar 1699. Schon die Wegberufung von Fürst Lobkowitz auf das Amt des Obersthofmeisters von Wilhelmine Amalie, der Ehefrau König Josephs, war ein Novum in der Geschichte der kaiserlichen Prinzipalkommission – und zwar eines mit Signalwirkung: Nie zuvor war das Amt des Prinzipalkommissars lediglich als Zwischenstation in einer weiteren Hofkarriere behandelt worden;34 es war wohl durchaus beabsichtigt, dem Amt des höchsten kaiserlichen Vertreters in Regensburg etwas von seinem Nimbus als Höhepunkt jeder Laufbahn im Hofdienst zu nehmen. Die Nachfolge von Lobkowitz war rasch geregelt: Unmittelbar nach seinem Weggang erfolgte die Ernennung des Fürstbischofs von Passau, Johann Philipp von Lamberg, die rasch bekanntgemacht und notifiziert wurde.35 Doch unerwarteterweise – wohl auch für den Ernannten selbst – erlaubte der Kaiser dem neuberufenen Prinzipalkommissar nicht, sich nach Regensburg zu begeben und das Amt tatsächlich anzutreten.36 Wenngleich in Regensburg zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen konnte, dass letztlich bis zur offiziellen Übernahme des Amtes durch Lamberg drei Jahre vergehen würden, so machte sich in Regensburg ob der Abwesenheit des Prinzipalkommissars schon im Frühjahr 1699 Unruhe breit, war doch der Reichstag dadurch nur noch begrenzt handlungsfähig.37 Genau dies lag wohl in der Absicht der Wiener Regierung, die den Reichstag auf diese Weise unter Druck setzen und den Unwillen des Kaisers spüren lassen wollte. Dies zeigte sich daran, auf welch brüske Weise die kaiserliche Regierung auf Bitten der Reichsstände nach Entsendung Lambergs reagierte. So ließ der Kaiser dem kurmainzischen Reichstagsdirektorium auf entsprechende Ansuchen hin im Mai 1699 mitteilen, dass die kaiserliche Regierung nicht erkennen könne, welchen Sinn das

34 Vgl. Walter Fürnrohr: Die Vertreter des habsburgischen Kaisertums auf dem Immerwährenden Reichstag Teil 1. In: Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 123 (1983), S. 71–139, hier S. 95. 35 Vgl. dazu Franz Niedermayer: Johann Philipp von Lamberg, Fürstbischof von Passau (1651–1712). Reich, Landesfürstentum und Kirche im Zeitalter des Barock. Passau 1938, S. 52. 36 Ebd., S. 52 f. Lamberg hatte verschiedenen Reichsständen seine Ernennung notifiziert und damit Erwartungen einer raschen Ankunft in Regensburg geweckt. 37 Prinzipiell hätte zwar der kaiserliche Konkommissar, Johann Friedrich von Seilern, ein sehr erfahrener und angesehener Diplomat, für die Dauer bis zur formellen Amtsübernahme Lambergs vertretungsweise und interimistisch dessen Aufgaben übernehmen können (zu Seilern Fürnrohr, Vertreter, S. 119). Dafür gab es (wie erwähnt) Präzedenzen: So hatte bereits Seilerns unmittelbarer Vorgänger als Konkommissar, Fürst Windischgräz, in der Zeit der Absenz des Prinzipalkommissars einige seiner Aufgaben übernommen (vgl. Fürnrohr, Vertreter, S. 90 f. u. S. 116 f. Vgl. auch Moser, Reichstage, S. 83 f.). Doch war Seilern, was der Wiener Regierung durchaus bewusst war, wegen aktueller Zeremonialprobleme und Rangstreitigkeiten mit den kurfürstlichen Gesandten nicht in vollem Umfang handlungsfähig.

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Erscheinen des Prinzipalkommissars in Regensburg haben könne. Nicht zuletzt aus Kostengründen erscheine es ihr besser, auf dessen Erscheinen und Amtsübernahme ganz zu verzichten.38 Auf dieser Linie lag es, dass wenig später Reichsvizekanzler Dominik Andreas von Kaunitz, in dessen Zuständigkeit die Angelegenheiten der Prinzipalkommission fielen, dem kurbayerischen Botschafter in Wien auf entsprechende Bitten offen mit der Auflösung des Reichstags drohte.39 Damit wurde die Nichtentsendung Lambergs auf eine sehr grundsätzliche, für den Immerwährenden Reichstag bedenkliche Ebene erhoben und ließ die Geringschätzung des Kaisers für den Reichstag in seiner bestehenden Form spüren. Erst vor diesem Hintergrund ist die Behandlung der Türkenkriegsthematik am Reichstag richtig einzuordnen. Es fällt zunächst auf, dass die kaiserliche Regierung angesichts eskalierender Streitigkeiten und Zerwürfnisse am Reichstag seit 1692 eine völlig andere Kommunikationsstrategie verfolgte als während des Langen Türkenkriegs um 1600. Die (seit 1692 wieder wachsende) Türkengefahr wurde nun (anders als während des Langen Türkenkriegs) vom Kaiser nicht als Integrationsmittel zur Überbrückung der Gegensätze eingesetzt. Die kaiserliche Regierung verzichtete darauf, den Reichstag mit Angelegenheiten des Türkenkriegs näher zu befassen, was durchaus als Signal einer gewissen Distanzierung und Entfremdung gedeutet werden kann, die dann in skizzierter Weise im Winter 1698/99 ihren Höhepunkt erreichte. Dies geschah in auffälligem Kontrast zur engen Kooperation mit einzelnen Reichsständen in Angelegenheiten des Türkenkriegs, so neben Hannover mit Kursachsen. In diesem Kontext ist das offizielle Schweigen des Reichstags über den Frieden von Karlowitz im Frühjahr 1699 zu sehen. Insofern war dies ein sehr beredtes Schweigen.

Fazit Die reichspolitischen Auswirkungen des Großen Türkenkriegs (1683–1699) haben anders als jene der Türkenkriege im 16. und frühen 17. Jahrhundert vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit in der Literatur gefunden. Dies zeigt sich auch bei der Erörterung der kaiserlich-ständischen (Konkurrenz-)Verhältnisse auf dem Reichstag. Für das 16. und das frühe 17. Jahrhundert ist deutlich herausgearbeitet worden, welch zentrale Rolle hier Türkenkrieg und Türkengefahr besaßen. Für die Zeit des Großen Türkenkriegs beschränkt sich die Literatur zumeist auf die kurze, eher apodiktische Feststellung, dass die großen Erfolge des Kaisers zur Steigerung seines 38 Dazu mit Quellenbelegen Kampmann, Kaiser, S. 379 f. 39 Berichte des kurbayerischen Gesandten in Wien, Mörmann, über seine Gespräche mit Reichsvizekanzler Kaunitz im August und September 1699, hier zitiert nach Niedermayer, Lamberg, S. 53, in Verbindung mit S. 185.

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Ansehens und zur Geschlossenheit im Reich beigetragen hätten. Dies fügte sich gut in das Bild Kaiser Leopolds als eines um Konsens mit Reichstag und Reichsständen bemühten Reichsoberhaupts. Für die 1680er Jahre trifft dies durchaus zu, wobei der Kaiserhof seit Ausbruch des Pfälzischen Kriegs (im Zuge der Bedrohungskommunikation um den Zweifrontenkrieg) eine deutlich zentralistischere, die Libertät der Reichsstände einschränkende politische Linie verfolgte. In den 1690er Jahren kann allerdings definitiv nicht mehr davon die Rede sein, dass der Türkenkrieg zur Geschlossenheit und Einheit zwischen Kaiser und Reichsständen, gerade am Reichstag, beigetragen habe. Trotz fortbestehender, ja in der Mitte der neunziger Jahre wieder bedrohlicher werdender Kriegslage im Südosten trat die offizielle Kommunikation über den Türkenkrieg am Reichstag vollständig in den Hintergrund. Dies war Ausdruck einer wachsenden Distanz zwischen dem Kaiser und dem Reichstag, die vom Streit um die Neunte Kur ausging. Einen Höhepunkt fand diese wechselseitige Entfremdung seit Ende 1698, als der Kaiserhof zu einer durchaus konfrontativen Reichstagspolitik überging. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass es keinerlei offiziellen Austausch über den Frieden von Karlowitz am Reichstag gab. Die krisenhafte Zuspitzung der Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Reichstag führte dazu, dass dieser epochale Friedensschluss zwischen dem Kaiser und dem Osmanischen Reich, der nur dank massiver Unterstützung aus dem Reich während des Großen Türkenkriegs möglich geworden war, in Regensburg offiziell mit Schweigen übergangen wurde. Insgesamt zeigt die Kommunikation über die Türkenkriegsthematik in den 1680er und 1690er Jahren, in welcher Weise sich kaiserlich-ständische Konkurrenzverhältnisse zuspitzen konnten, mehr noch, dass Kaiser Leopold I. in seiner späteren Regierungszeit wenigstens phasenweise nicht vor offener Konfrontation mit dem Reichstag zurückschreckte. Das Bild eines in den letzten beiden Regierungsjahrzehnten stets an Reichsrecht und Reichsherkommen orientierten, konsensuell agierenden Reichsoberhaupts erscheint somit fragwürdig. Freilich kann es sich ohne eine gründlichere und umfassendere quellenmäßige Erschließung der Reichstagsverhandlungen dieser Zeit nur um Momentaufnahmen handeln. Sie zeigen deutlich, dass eine systematische Untersuchung des Immerwährenden Reichstags erheblich zur Korrektur geläufiger Geschichtsbilder beitragen kann.

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Die Troublen im Norden Konkurrierende Interessen der Akteure des Großen Nordischen Krieges beim Immerwährenden Reichstag Im Aktenmaterial zum Immerwährenden Reichstag ist zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiederholt von den Troublen im Norden die Rede. Der Große Nordische Krieg (1700–1721), in dem die Konflikte um die machtpolitische Ordnung im Ostseeraum eskalierten, „konfrontierte“, so Johannes Burkhardt, „das deutsche Rechtssystem mit dem Einbruch einer machtpolitischen Interessen- und Eroberungspolitik“.1 Es war aber mitnichten so, dass das Hineintragen dieser Auseinandersetzung in die Reichsstrukturen für die Zeitgenossen unerwartet kam. Vielmehr war es eine in der Reichsverfassung angelegte Möglichkeit, die ihren Ursprung in der Rollenkonkurrenz frühneuzeitlicher Mehrfachherrscher:innen hatte. Dies gilt es, im Folgenden näher zu erläutern. Dafür werde ich zunächst den Forschungsstand skizzieren, ehe ich auf das Phänomen herrscherlicher Rollenkonkurrenz eingehen und den Konfliktaustrag des Großen Nordischen Krieges in den Strukturen des Immerwährenden Reichstages am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen dem Gesandten der Territorien der schwedischen Krone im Reich und dem Vertreter Kursachsens nachvollziehen werde.

Reich, Reichstag und Großer Nordischer Krieg Sowohl in der Reichsgeschichtsschreibung als auch in der skandinavischen Forschung werden das Reich und der Große Nordische Krieg bislang überwiegend aus ereignis- und militärgeschichtlicher Perspektive zusammen wahrgenommen, moderne kultur-, diplomatie- oder verfassungsgeschichtliche Aufarbeitungen fehlen bis heute.2 Dabei war das Heilige Römische Reich doppelt von diesem Konflikt

1 Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Stuttgart 10 2006, S. 325. Siehe für die folgenden Ausführungen auch Dorothée Goetze: „Particulier-Interesse dem allgemeinen Besten sacrificiret“. Die Akteure des Großen Nordischen Krieges beim Immerwährenden Reichstag zwischen Reichs- und Eigeninteresse. In: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 383–411; dort weitere Belege. 2 Siehe zum Großen Nordischen Krieg jüngst Joachim Krüger: Der letzte Versuch einer Hegemonialpolitik am Öresund. Dänemark-Norwegen und der Große Nordische Krieg (1700–1721). Berlin 2019, dort ausführlich zum Forschungsstand S. 22–32.

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betroffen. Mehrfach verlagerte sich das Kriegsgeschehen auf Reichsgebiet. Zudem agierten fast alle an diesem Krieg beteiligten Souveräne (mit Ausnahme des russischen Zaren und der Herzöge von Holstein-Gottorf) in einer Doppelrolle als auswärtiger Monarch und Reichsstand. Dies erweiterte ihre politischen Handlungsspielräume entsprechend, da ihnen neben den Optionen der Internationalen Beziehungen und des Völkerrechts auch die Möglichkeiten der Reichsverfassung zur Verfügung standen, um ihre Anliegen durchzusetzen. Das Reich und der Immerwährende Reichstag als Kristallisationspunkt der Reichsverfassung sowie politisches und kommunikatives Zentrum des Alten Reiches wurden daher nicht zufällig mit dem Großen Nordischen Krieg konfrontiert.3 Es war vielmehr das Ergebnis bewussten Entscheidungshandelns der Akteure, den Konflikt zusätzlich zu den militärischen Konfrontationen im Ostseeraum auch im Rahmen der Reichsverfassung auszutragen und ihn zu diesem Zweck im Rahmen ihrer reichsrechtlichen Möglichkeiten vermittels ihrer Gesandten an den Reichstag zu bringen. Bereits zu Beginn des Großen Nordischen Krieges, im April 1700, forderte Herzog Friedrich IV. von Holstein-Gottorf nach dem Einmarsch dänischer Truppen in sein Territorium die Garantie seiner territorialen und somit landesherrlichen Integrität von den Reichsständen.4 Aufgrund der damaligen Reichs(tags)krise konnte dieser Antrag jedoch nicht entschieden werden, da die Beratungen der Reichstagskurien bis Ende des Jahres 1701 ruhten.5 Trotzdem wurde in Regensburg über die aus Zeitungen bekannten Vorgänge im Ostseeraum bereits vor dieser Eingabe zumindest inoffiziell diskutiert. „Die Liefländischen troublen [waren] hier, wie anderswerts, in ziemlicher apprehension, da jeder begierig, die weitere Suites und Ausßgang davon zu vernehmen“.6 Der Einmarsch kursächsischer Truppen nach Livland markierte neben dem Angriff dänischer Verbände auf Holstein-Gottorf den Ausbruch des Großen Nordischen Krieges.7 Der Repräsentant der Provinzen der schwedischen Krone im Alten Reich bereitete ebenfalls ein Memorial an den Reichstag vor, zögerte jedoch, dieses öffent-

3 Zum Leistungsprofil des Immerwährenden Reichstags siehe in Auswahl: Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Reichsstadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015; Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007. 4 Georg Friedrich Snoilsky an Karl XII. von Schweden, Regenburg, 16./26.04.1700. In: Riksarkivet Stockholm, Diplomatica Germanica [künftig: RA, DG], vol. 91, unfol. 5 Siehe Christoph Kampmann: Reichstagskrise als Reichskrise? Kaiser, Reich und Immerwährender Reichstag um 1700. In: Rudolph / Schlachta, Reichsstadt, S. 125–138, sowie seinen Beitrag in diesem Band. 6 Georg Friedrich Snoilsky an Generalgouverneur Nils Gyllenstierna, Regensburg, 24.03.1700 (st. v.). In: Niedersächsisches Landesarchiv, Standort Stade , Rep. 5a, Nr. 96, fol. 18r. 7 Zum Beginn des Großen Nordischen Krieges siehe Krüger, Versuch, S. 77–100.

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lich zu machen, da sein Dienstherr „selbst zur Zeit weder Pohlen noch Sachßen vor Feind declariren“ wollte oder konnte.8

Rollenkonkurrenz frühneuzeitlicher Mehrfachherrscher:innen Diese Formulierung fasst ein weitreichendes verfassungsrechtliches Phänomen zusammen und bringt die damit einhergehenden Schwierigkeiten auf den Punkt: die Rollenkonkurrenz frühneuzeitlicher Mehrfachherrscher:innen und noch mehr das Problem, diese in konkreten politischen Situationen aufzulösen.9 Gerade dieser letzte Aspekt ist in der Forschung noch nicht eingehend untersucht worden.10 Jüngst hat Christoph Kampmann auf dieses Desiderat hingewiesen.11 Studien zur Rollenkonkurrenz fokussieren entsprechend dem Entstehungskontext in der Neuen Diplomatiegeschichte bislang vor allem auf frühneuzeitliche Gesandte,12 obgleich auch Herrscher:innen vor der Herausforderung standen, den mitunter widerstreitenden Verpflichtungen ihrer unterschiedlichen Rollen gerecht zu werden. Verallgemeinerungen, dass „wohlberatene Monarchen und Reichsgremien die unterschiedliche

8 Georg Friedrich Snoilsky an Karl XII. von Schweden, Regensburg, 09./19.04.1700. In: RA, DG, vol. 91, unfol. 9 Siehe zum Phänomen der Mehrfachherrschaft in Auswahl: Helmut G. Koenigsberger: Zusammengesetzte Staaten, Repräsentativversammlungen und der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg. In: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S. 399–423; John H. Elliot: A Europe of Composite Monarchies. In: Past and Present 137 (1992), S. 48–71; Harald Gustafsson: The Conglomerate State: A Perspective on State Formation in Early Modern Europe. In: Scandinavian Journal of History 23 (1998), S. 189–213; Franz Bosbach: Mehrfachherrschaft – eine Organisationsform frühmoderner Herrschaft. In: Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hg.): Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassung und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640–1688). Berlin 2005, S. 19–34. 10 Ansätze bieten: Heinz Duchhardt (Hg.): Der Herrscher in der Doppelpflicht. Europäische Fürsten und ihre beiden Throne. Mainz 1997; Georg Schmidt: Vernetzte Staatlichkeit. Der Reichs-Staat und die Kurfürsten-Könige. In: Axel Gotthard u. a. (Hg.): Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag. Berlin 2009, S. 531–546; außerdem Dorothée Goetze: „es so viel seye, alß wann das Reich angegriffen were“ – Das Auftreten Schwedens beim Immerwährenden Reichstag im schwedisch-brandenburgischen Krieg. In: Rudolph / Schlachta, Reichsstadt, S. 195–214. 11 Siehe Christoph Kampmann: Information – Kommunikation – Konfrontation. Zur auswärtigen Diplomatie auf dem Immerwährenden Reichstag im Zeitalter Ludwigs XIV. In: Guido Braun (Hg.): Diplomatische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Berlin / Boston 2019, S. 135–160, hier S. 146, Anm. 4. 12 Siehe grundlegend: Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Ders. / Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010, S. 471–504.

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Rechtsstellung ihrer Länder durchaus zu unterscheiden wussten“, greifen zu kurz.13 Vielmehr galt es jeweils situativ zu entscheiden, welche Rolle adressiert wurde, auf Diplomaten- ebenso wie auf Herrscherebene. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel der Aushandlung der Konflikte des Großen Nordischen Krieges im Rahmen der Reichsverfassung. So beklagte etwa der Gesandte der schwedischen Fürstentümer im Alten Reich die „Duplicität“ seines kursächsischen Kollegen, der „bald alß eines frembden Königs, bald eines catholischen Churfürsten, bald eines Evangelischen ChurLandes Minister und Gesandter, ja gar mit der großen Funktion des Directory [im Corpus Evangelicorum] bekleidet auf dem Reichstag“ auftrat.14 Auch sein Dienstherrr zögerte im Frühjahr 1700 mit einer Festlegung, wer ihn in Livland angegriffen habe, Friedrich August als sächsischer Kurfürst oder Friedrich August als König von Polen-Litauen. Diese Entscheidung hatte direkte Auswirkungen auf seine Handlungsoptionen, da ein Konflikt zwischen Schweden und Polen-Litauen die Auseinandersetzung in den Bereich der Internationalen Beziehungen verwiesen hätte. Reich und Reichstag wären nicht zuständig gewesen. Ein Angriff Friedrich Augusts von Sachsen hingegen hätte einen Fall von Landfriedensbruch dargestellt, für dessen Beseitigung die Reichsverfassung und insbesondere die Reichsexekutionsordnung hätten Anwendung finden müssen. Trotz anfänglichen Zögerns deklarierte die Regierung in Stockholm schließlich den sächsischen Kurfürsten als Aggressor und löste damit dessen Rollenkonkurrenz auf. Als Konsequenz daraus wies Karl XII. den in Regensburg anwesenden Gesandten an, Sitzungen unter kursächsischem Direktorium oder im kursächsischen Quartier fernzubleiben. Mit dieser Weisung trug nach Holstein-Gottorf auch die schwedische Krone den Konflikt im Ostseeraum an den Reichstag heran; allerdings brachte dieser Befehl die Reichsversammlung aufgrund der anhaltenden Krise an den Rand der Funktionsfähigkeit. Zum einen belastete die Abwesenheit des Gesandten der Territorien der schwedischen Krone, der eine Vielzahl der im Corpus Evangelicorum zum damaligen Zeitpunkt anwesenden Stimmen auf sich vereinte, die Fortführung der Reichstagsberatungen, da die konfessionellen Corpora während dieser Phase die nicht zusammentretenden Reichstagskurien substituierten. Zum anderen zog sich der Gesandte auch als Ansprechpartner Schwedens, der Garantiemacht des Westfälischen Friedens und somit der Reichsverfassung, aus den Beratungen der Reichsstände zurück.15

13 Burkhardt, Vollendung, S. 314. 14 Georg Friedrich Snoilskys Promemorial betreffend Livland, Regensburg 09./19.04.1700. In: RA, DG vol. 91, unfol. 15 Siehe Dorothée Goetze: Desintegration im Ostseeraum – Integration ins Reich? Die Vertretung der schwedischen Herzogtümer beim Immerwährenden Reichstag während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) am Beispiel des Corpus Evangelicorum. In: Beate-Christine Fiedler / Christine van den Heuvel (Hg.): Friedensordnung und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen

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Um die Situation zu entschärfen, soll der Gesandte Kurbrandenburgs im Sommer 1700 einen Vorstoß zur Auflösung dieser Rollenkonkurrenz formuliert haben. Er soll, so liest man in der schwedischen Aktenüberlieferung, dem Gesandten der schwedischen Provinzen im Reich vorgeschlagen haben, dass die schwedische Krone einen zweiten Repräsentanten für auswärtige schwedische Angelegenheiten nach Regensburg entsenden soll.16 Ein Vertreter der schwedischen Krone als auswärtiger Macht wäre v. a. Beobachter gewesen, der seine Anliegen zwar in Form von Schriftsätzen gegenüber den in Regensburg versammelten Reichsständen formulieren konnte, allerdings keinen direkten Zugang mehr zu den Beratungen der Reichstagskurien gehabt hätte. Seine rechtliche Stellung wäre vergleichbar der anderer auswärtiger Gesandter beim Reichstag gewesen.17 Dieser Vorschlag belegt, dass die Auflösung der fürstlichen Rollenkonkurrenzen und eine eindeutige Rollendistinktion im politischen Alltag in bestimmten Konstellationen ebenso notwendig waren wie bei deren Gesandten. Denn gerade in Krisenzeiten wie der des Jahres 1700 hatten der Konflikt im Ostseeraum und seine Auswirkungen auf den Reichstag das Potential, die Reichsversammlung handlungsunfähig werden zu lassen und sie ihrer Funktionalität zu berauben. Gleichzeitig offenbart dieser vermeintliche kurbrandenburgische Vorschlag ein implizites Verständnis des Großen Nordischen Krieges als auswärtiger Konflikt zwischen Schweden und Polen-Litauen ohne reichsständische Beteiligung; andernfalls hätte die Entsendung eines zweiten Gesandten die Handlungsfähigkeit des Reichstages nicht wiederherstellen können.

Konfliktaustrag beim Immerwährenden Reichstag: Kursachsen gegen die Fürstentümer der schwedischen Krone im Alten Reich Um die Handlungsoptionen der Reichsverfassung ausschöpfen zu können, mussten die Protagonisten im Ostseeraum die Mitglieder der Reichsversammlung argumentativ für sich gewinnen und beweisen, dass ihre Anliegen der Rechtszuständigkeit der Reichsverfassung unterlagen. Im Erfolgsfall boten Reichsverfassung und Reichstag als ihr Kristallisationspunkt Strukturen und Verfahren, die den Kontrahenten des Großen Nordischen Krieges einen geordneten Interessenausgleich ermöglichten. Das machte Reichsverfassung und Reichstag attraktiv für sie.

in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721. Göttingen 2019, S. 126–148, hier S. 139–141. 16 Siehe ebd. S. 141. 17 Zur rechtlichen Stellung auswärtiger Gesandter beim Immerwährenden Reichstag siehe Nikolaus Leiher: Die rechtliche Stellung der auswärtigen Gesandten beim Immerwährenden Reichstag zu Regensburg. Eine rechtshistorische Untersuchung unter Auswertung der Schriften des Ius Publicum des Alten Reichs. Aachen 2003.

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Burkhardts Verwunderung, dass die beteiligten „Monarchen zugleich Reichstreue und Kaiserverbundenheit gezeigt“ haben18 , ist daher nicht zu teilen; vielmehr war dies unabdingbare Voraussetzung, um die Möglichkeiten der Reichsverfassung zu nutzen. Der Immerwährende Reichstag wurde zu einem weiteren Schauplatz der Auseinandersetzung im Ostseeraum. „Reichstag und Reichstagsverfahren komplementier[t]en […] die militärischen Mittel“.19 Die Reichsversammlung wurde zugleich zur Bühne für die Konkurrenz um die Deutungshoheit bezüglich der Bewertung von Ereignissen sowie Forderungen und Rollenzuschreibungen der Akteure. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Jahres 1712 gezeigt werden:20 Ab Juni 1712 entwickelte sich auf dem Reichstag eine Art Papierkrieg zwischen dem Gesandten der schwedischen Provinzen im Alten Reich und v. a. seinem kursächsischen Kollegen. Anlass dafür bot die Entwicklung des Kriegsgeschehens, das sich 1711 in den Norden des Alten Reiches verlagert hatte und damit unmittelbar die dort gelegenen Provinzen der schwedischen Krone betraf.21 Bis zum Ende des Jahres 1712 versuchten allein diese beiden Gesandten in insgesamt sechs Memorialen an den Reichstag, ihre Forderungen durchzusetzen und zugleich die Ansprüche und Anschuldigungen der jeweiligen Gegenseite zu widerlegen. Dabei lassen sich für publizistische Auseinandersetzungen typische Merkmale feststellen: Der Gesandte, der zuerst einen Schriftsatz einreichte, gab zunächst den argumentativen und thematischen Rahmen des Konfliktes vor. Die Gegenseite geriet in die Defensive und musste sich öffentlich verteidigen.22 Die Beweisführung wurde in mehreren Schritten vollzogen. In dieser öffentlich geführten Auseinandersetzung versuchten die Kontrahenten, eine expressive Gemeinschaft mit den Rezipienten zu bilden, also im Fall des Immerwährenden Reichstags mit den dort versammelten Reichsständen, indem sie auf gemeinsame Weltbilder, Erfahrungen und Werte verwiesen und dadurch auf Anerkennung hofften.23 Die Definitionsleistung, ob die Akteure des Großen

18 Burkhardt, Vollendung, S. 325. 19 Goetze, Desintegration, S. 140. Dies deckt sich mit Beobachtungen Anuschka Tischers zu offiziellen Kriegsbegründungen (Anuschka Tischer: Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis. Berlin 2012, S. 43). 20 Siehe dazu auch Dorothée Goetze: „wider [die] ungerechten Feinde“ – Die Besetzung des Herzogtums Bremen 1712 im Spiegel des Aktenmaterials zum Immerwährenden Reichstag. In: Stader Jahrbuch 2019, S. 31–47, sowie dies.: Particulier-Interesse, bes. S. 390–409. Zu dem den folgenden Überlegungen zugrundeliegenden Verständnis von Konkurrenz siehe dies. / Christoph Kampmann: Konkurrierende Akteure und Interessen beim Immerwährenden Reichstag. Einleitung, in diesem Band. 21 Siehe Goetze, Feinde, S. 34 f., außerdem Krüger, Versuch, S. 235–264 u. 271–299. 22 Siehe hierzu Tischer, Kriegsbegründungen, S. 43. 23 Siehe ebd., S. 132, 134 u. 147.

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Nordischen Krieges in ihrer reichsständischen Rolle betroffen waren und somit Unterstützung nach Maßgabe der Reichsverfassung in Anspruch nehmen durften oder „ob durch diesen so gedrehten Weg gesuchet wurde, aus Privat-Händeln eigenen Nutzens eine gemeinsames Reichs-Werck zu machen“24 , oblag den auf dem Reichstag versammelten Reichsständen. Barbara Stollberg-Rilinger charakterisiert diesen der Reichsverfassung inhärenten Widerspruch zwischen Partikularinteressen einzelner Fürsten, sie spricht vom „partikularen Gewicht der einzelnen großen Fürsten einschließlich des Kaisers einerseits“, und dem Interesse des Reichsganzen, also „der korporativen Einheit eines Ganzen unter der Autorität desselben Kaisers andererseits“, als „institutionalisierte Heuchelei, d. h. […] eine in der Struktur der Institution angelegte, von ihr geradezu erzwungene und daher stillschweigend kollektiv geteilte Heuchelei“. Diese ermögliche es, „die Normen der Institution aufrecht[zu]erhalten“, obwohl deren „Mitglieder in ihrem Handeln ständig dagegen verstoßen (müssen)“, da die Institution „unvereinbare Ansprüche“ ihnen gegenüber formuliere.25 Bezogen auf die Auseinandersetzung zwischen dem Gesandten der schwedischen Fürstentümer im Reich und dem kursächsischen Repräsentanten bedeutet das, dass die Kontrahenten vor dem Reichstag Argumentationsstrategien wählen mussten, die fürstlichen Eigennutz verbargen und auf das Wohl des Reiches ausgerichtet waren. Zentral in den Argumentationen beider Seiten war der Vorwurf des Vertragsund Verfassungsbruches. Der Gesandte der schwedischen Provinzen im Alten Reich etwa erklärte, Friedrich August von Sachsen habe „aller in dem hochverpoenten Land=Frieden und anderen sich darauf beziehenden Reichs=Constitutionen wider die Land=Frieden=Brecher verordnete Straffen und Anthung […] sich schuldig gemacht“.26 Das kriegerische Vorgehen des eigenen Fürsten wurde hingegen als Verteidigungsfall entschuldigt und ihm dadurch moralische Integrität verliehen. Demnach habe der sächsische Kurfürst „diejenigen Mittel /welche noch uebrig waren, um sich von dem angedrohten schwehren Ubel27 zu erretten / angewandt“, so sein Gesandter.28 Es genügte allerdings nicht, dass die Kontrahenten ihre Argumente austauschten, sie mussten auch jeweils den zugrundeliegenden Norm- und Werthorizont offenle-

24 Daniel Schneider: Theatri Europaei Neunzehender Theil Oder Ausführlich fortgefuehrte Friedens- und Kriegs-Beschreibung […] vom 1710ten Jahr, biß zu Ausgang des 1712ten vorgegangen […]. Frankfurt am Main 1723, Abschnitt 1712, S. 135. 25 Barbara Stollberg-Rilinger: Organisierte Heuchelei. Vom Machtverfall des Römisch-deutschen Reiches im 18. Jahrhundert. In: Peter Hoeres u. a. (Hg.): Herrschaftsverlust und Machtverfall. München 2013, S. 97–110, hier S. 99; die Zitate ebd. 26 Für den Nachweis siehe Goetze, Particulier-Interesse, S. 403, Anm. 89. 27 Gemeint ist ein erneuter schwedischer Angriff auf die sächsischen Kurlande. 28 Der Nachweis Goetze, Particulier-Interesse, S. 404, Anm. 94.

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gen, um die Anerkennung ihrer Forderungen durch die Reichsstände erreichen zu können. Dies diente dazu, das gewählte Norm- und Wertesystem zu aktualisieren und in seiner Gültigkeit zu bestätigen, um sich und andere dadurch der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Gruppe der Reichsstände als Norm- und Wertegemeinschaft zu versichern. Die Reichsverfassung und ihre Bestandteile, insbesondere die Landfriedensordnung, die Reichsexekutionsordnung und der Westfälische Frieden, bildeten den normativen Rahmen für die Argumentation des Gesandten der schwedischen Territorien im Alten Reich. Der kursächsische Vertreter bezog sich zudem auf das Völkerrecht, sowohl auf allgemeine Vorstellungen des ius in bello als auch konkrete völkerrechtliche Abkommen wie den Vertrag von Oliva (1660). Darüber hinaus verwiesen beide Seiten mit der Bezugnahme auf das Christentum, das Reichswohl und eine Reihe fürstlicher Tugenden auf einen größeren Werthorizont, der Grundlage sowohl der Reichsverfassung als auch des fürstlich-reichsständischen Selbstverständnisses war. Diese Normen und Werte, insbesondere den Bezug auf Reichswohl, Friedensliebe und Untertantenschutz, nahmen beide Gesandte für ihre Dienstherren in Anspruch und bedauerten, dass das Kriegsgeschehen und das Agieren der Kontrahenten es ihnen unmöglich machten, ihre reichsständischen Pflichten weiterhin (vollständig) zu erfüllen. Zugleich sprachen sie der Gegenseite ab, sich normenkonform und gemäß reichsständischer Werte zu verhalten. Sie beschrieben deren vielfätlige Verstöße gegen das gemeinsame Normen- und Wertesystem der Reichsstände.29 Dafür wurde im Laufe der Auseinandersetzung der eigentliche Argumentationskontext, also das Kriegsgeschehen im Norden des Reiches in den Jahren 1711 und 1712, um weitere Belege für das jeweilige Fehlverhalten der Kontrahenten über die Dauer des Großen Nordischen Krieges hinaus ergänzt. Zu weiteren Referenzpunkten der Argumentation wurden der Einmarsch schwedischer Truppen nach Kursachsen im Jahre 1706, der kursächsische Angriff auf Livland zu Beginn des Krieges, der vermeintliche Bruch der Friedensschlüsse von Oliva (1660) und Altranstädt (1706) sowie die Weigerung Karls XII., den Haager Neutralitätskonzerten (1710) beizutreten.30 Der kursächsische Gesandte stellte zudem charakterliche Mängel Karls XII. heraus. Er verwies auf dessen Ehrgeiz und die fehlenden höfischen Umgangsformen, die darin zum Ausdruck kamen, dass Karl den sächsischen Kurfürsten als Landfriedensbrecher habe titulieren lassen und ihm dadurch den „denen gecroenten Haeuptern gebuehrenden unaussetzliche[n] Respect“ verweigert habe.31 Diese Vorwürfe sollten ebenso wie der Verweis des Gesandten der Fürstentümer der schwe-

29 Siehe ebd., S. 404–408. 30 Siehe ebd., S. 395–402; dort auch weitere Belege. 31 Für den Nachweis ebd., S. 408, Anm. 117.

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dischen Krone auf das „unchristlich[e] Verfahren“ Friedrich Augusts von Sachsen im Norden des Alten Reiches oder die kursächsische Anschuldigung, Karl XII. sei „mit den Feinden des Christlichen Nahmens / wie Türcken und Tartarn“ in ein Bündnis eingetreten, eine möglichst große Distanz zwischen den Beschuldigten und den Reichsständen schaffen und somit den auf dem Reichstag versammelten Reichsständen das Fehlen einer gemeinsamen Norm- und Wertbasis vor Augen führen.32 Auf Grundlage ihrer Beweisführung und des darin definierten normativen Bezugsrahmens leiteten der Gesandte der Provinzen der schwedischen Krone im Alten Reich und sein kursächsischer Kollege jeweils eigene Forderungen an die Reichsstände ab. Der Gesandte der Territorien der schwedischen Krone verlangte, deren Feinde „pro Hostibus Imperii erklären und solchemnach Ihro Koenigl. Majest. zu Schweden diejenige Huelff und Handreichung geniessen [zu lassen]“, zu der sich die Reichsstände laut Reichsverfassung und Westfälischem Frieden verpflichtet hatten.33 Abgesehen von der begehrten Reichskriegserklärung gegen Friedrich August von Sachsen und seine Verbündeten blieben die Forderungen des Gesandten der Fürstentümer der schwedischen Krone im Reich vermeintlich unbestimmt. Auch der Vertreter Kursachsens wählte eine scheinbar allgemeine Formulierung, als er „alle billige und mögliche Assistenz und Schutz“ des Reiches für das Bemühen seines Kurfürsten um Wiederherstellung des Friedens im Reich verlangte. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Reichsstände diese Forderungen in Kenntnis der Reichsverfassung mit konkreten, aus den beschriebenen Kontexten abgeleiteten Maßnahmen in Verbindung setzen konnten, so dass es keiner weiteren Ausführung bedurfte. Anders verhielt es sich bei Forderungen, die nicht von diesen Handlungsroutinen gedeckt wurden, etwa die begehrte Reichskriegserklärung oder der kursächsische Wunsch nach angemessenen Satisfaktionszahlungen für die durch die Kriegsaktivitäten entstandenen Kosten und Schäden.34

Fazit 1712 verweigerte der Reichstag im Sinne des Reichsinteresses umfassende Beratungen über die von dem Gesandten der Provinzen der schwedischen Krone im Alten Reich und dem Repräsentanten Kursachsens eingebrachten Memoriale. Die Troublen im Norden und die Forderung der dort Involvierten mussten gegenüber der Diskussion um die kaiserliche Wahlkapitulation, die im Kontext der Wahl

32 Siehe ebd., S. 404–408; für die Nachweise der Zitate S. 404, Anm. 96 u. S. 407, Anm. 111. 33 Siehe ebd., S. 393–395; für den Nachweis des Zitats S. 395, Anm. 34. 34 Siehe ebd., S. 394 f.; der Nachweis des Zitats S. 394, Anm. 38.

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Karls VI. im Herbst 1711 wieder an Aktualität und Dringlichkeit gewonnen hatte, und dem noch andauernden Reichskrieg gegen Frankreich zurückstehen.35 Das Reich hatte nicht die Kapazität, sich in zwei Konflikte gleichzeitig zu involvieren. Vielmehr lag der Fokus auf der Beilegung des Krieges im Westen. Der Immerwährende Reichstag war ein fast selbstverständlicher Anlaufpunkt für den Konfliktausgleich der Akteure des Großen Nordischen Krieges, da diese mit Ausnahme Russlands und Holstein-Gottorfs alle eine Doppelrolle ausfüllten, in der sie die Souveränität über ein Königreich außerhalb und ein Fürstentum innerhalb des Reiches in Personalunion verbanden; dies wurde in der Forschung bislang wenig beachtet. Für die in Regensburg versammelten Reichsstände galt es daher, die jeweilige Rollenkonkurrenz bei Bedarf im Reichsinteresse aufzulösen, um politische Entscheidungen treffen zu können. Dies zeigt sich auch in der Diskussion um die Beschickung des geplanten Friedenskongresses zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges durch eine reichsständische Deputation. Als deren Mitglieder wurden u. a. Kursachsen und das Herzogtum Bremen nominiert. Trotz des ab 1700 andauernden Krieges im Ostseeraum hielten die Reichsstände in dieser für das Reich existentiellen Situation eine Kooperation beider im Interesse des Reiches für möglich. Voraussetzung dafür war die (implizite) Deutung des Großen Norden Krieges als auswärtiger Konflikt zwischen Schweden und Polen-Litauen. Dies war nur möglich durch eine Auflösung der Rollenkonkurrenz der involvierten Kontrahenten im Interesse des Reiches, das Kursachsen und das herzogliche Bremen als führende evangelische Reichsstände an der Deputation beteiligen wollte.36 Der Immerwährende Reichstag offenbart sich somit als Raum, in dem um die Deutungshoheit über Rollenzuschreibungen konkurriert wurde. Dabei zeigt sich, dass diese Interpretationen situativ unterschiedlich ausfallen konnten und Konflikt und Kooperation, je nach Rollenzuweisung, gleichzeitig möglich wurden. Daher eignet sich der Immerwährende Reichstag besonders, um den praktischen Umgang mit Rollenkonkurrenz nicht nur frühneuzeitlicher Diplomaten, sondern auch von Herrscher:innen zu untersuchen. Diese aufzulösen, war anders, als es die Forschungsliteratur suggeriert, auch für die Zeitgenossen nicht immer eindeutig und problemlos möglich. Eine eindeutige Rollendistinktion barg zudem Gefahren, da sie Kontingenz reduzierte und somit Handlungsspielräume verengte. Dies wird in der Anfangsphase des Großen Nordischen Krieges deutlich, als die schwedische Regierung in Stockholm Friedrich August von Sachsen als Aggressor und somit Verantwortlichen für den Angriff im Baltikum definierte. Die aus dieser Entscheidung resultierende Abwesenheit des Gesandten der Fürstentümer der schwedischen

35 Siehe Goetze, Feinde, S. 43–46. 36 Siehe Schneider, Theatri, Abschnitt 1712, S. 11.

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Krone von den Beratungen des Corpus Evangelicorum verschärfte die Krise des Reichstages weiterhin und brachte diesen an den Rand der Funktionsfähigkeit.37

37 Siehe Goetze, Desintegration.

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Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse Der Fall Jever, 1737–1739

Einführung Im August 1738 gab Kaiser Karl VI. dem Reichstag namens des Burgundischen Reichskreises zu erkennen, vorherigen Erklärungen gemäß wirklich zu den Reichssteuern „concurriren“ zu wollen.1 Das kann man zunächst als eine einfache Beitragserklärung wegen Burgund verstehen. In einem politischen Kontext bedeutete „concurriren“ in der zeitgenössischen Interpretation aber auch „mitlaufen“ oder „mitziehen“.2 In dem Lichte erscheint die Erklärung Karls eher als eine Willensbekundung, sich über sein Eigeninteresse hinaus solidarisch zu zeigen. Die Konkurrenz zwischen den Eigeninteressen der Reichsstände und den Bedürfnissen des Reiches seit 1648 ist neuerdings thematisiert worden. Der reichsrechtlich garantierte Anspruch auf ständische Autonomie habe sich in beständigem Widerspruch zum Ideal der Unterordnung aller Reichsstände unter den Kaiser als Reichsoberhaupt befunden, was deren Einsatz abseits vom Eigeninteresse ausgehöhlt und Reichstagsbeschlüsse, über Steuern etwa, zu einer „institutionalisierten Heuchelei“ reduziert habe.3 Dass zum Beispiel die Kammerzieler als fixierte halbjährige Beiträge zur Finanzierung des obersten ständischen Gerichts, des Reichskammergerichts, zögerlich eingingen, ist – dieser Interpretation folgend – als Beleg für einen schwindenden Einsatz der Reichsstände für die Reichsinstitutionen gewertet worden.4 Die Ursache dürfte aber komplizierter sein. Seit dem frühen 16. Jahrhundert büßte die Vorstellung der Stände von Steuerbeschlüssen als Verträgen, die sie miteinander – und mit dem Kaiser – eingingen, nicht an Wirkung ein. Es handelte sich daher

1 Memorial der burgundischen Gesandtschaft, 13. August 1738 (Abschrift). In: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Mainzer Erzkanzleramt, Reichstagsakten [künftig: HHStA, MEA, RTA], Nr. 475, f° 49b r°. Aus Platzgründen werden die Belege hier auf das notwendige beschränkt. Eine ausführliche Version mit weiteren Angaben zu den Quellen ist erschienen in: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 420–446. 2 Siehe etwa s. v. „concurriren“. In: Johann Volkna [= Friedrich II. von Preußen]: Politisches deutsches Glossarium. Utopien [= Frankfurt am Main] 1757, S. 52. 3 Barbara Stollberg-Rilinger: Organisierte Heuchelei. Zum Machtverfall des Alten Reiches im 18. Jahrhundert. In: Peter Hoeres u. a. (Hg.): Herrschaftsverlust und Machtverfall. München 2013, S. 97–110, hier S. 99–101. 4 Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. T. 1. Köln u. a. 2003, S. 305–309.

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eher um Beiträge als um Steuern.5 Dass jeder Reichsstand – ob groß oder klein, geistlich oder weltlich – einzeln verpflichtet war, seinen Teil zu den beschlossenen Beitragserhebungen zu leisten, der Gesamtertrag also eine Summe rein individueller Pflichterfüllungen war, wäre deshalb eine zu reduzierende Sicht auf das Reich. Der Erfolg der Beitragserhebung hing vom Verhalten der Vertragsparteien ab und von deren Bezugnahme aufeinander. Entsprechend musste auch das Auftreten des Reichsoberhaupts, das sozusagen die Exekutive vertrat, beeinflussen, wie gut die Beiträge einkamen.6 Bei aller Aufwertung, die die Institutionen des Heiligen Römischen Reiches, besonders der Immerwährende Reichstag, in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, zählte das Reichsfinanzsystem allerdings nicht zu den Forschungsprioritäten. Wir sind über die Umstände und einzelnen Beweggründe hinter Zahlung oder Zahlungsverzug kaum informiert. Auch die Rolle des Kaiserhofs ist, vor allem in der Periode nach dem Westfälischen Frieden von 1648, unbekannt.7 Indizien legen aber nahe, dass sich Wiens „Autorität“ in Beitragsmaterien auf die Fähigkeit stützte, den Ständen mit Beiträgen der eigenen Territorien (etwa zu Defensionszwecken) voranzugehen, weil diese keiner „regulären“ Steuerpflicht unterlagen, sondern eine weitgehende Steuerbefreiung, eine Exemtion, genossen.8 Dem Kaiser kam also eine Vorbildrolle zu. So betrachtet, kann auch gefragt werden, inwiefern Finanzschwächen des Reiches mit einer Konkurrenz des Kaiserhofs zwischen Eigen- und Reichsinteressen zusammenhingen. Dem geht dieser Beitrag am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Kaiser Karl VI., dem Fürstenhaus Anhalt-Zerbst und dem Reichskammergericht über die ostfriesische Herrschaft Jever in den Jahren 1737–1739 nach. Karl VI. gilt als Kaiser, dessen Regierung am Anfang des 18. Jahrhunderts das fragile Gleichgewicht zwischen kaiserlichen Amtspflichten und „privaten“ Interessen zugunsten des Letzteren verschoben haben soll.9 Der Streit um Jever wurzelte in den qualvollen Verhandlungen am Immerwährenden Reichstag über Wege, das Reichskammergericht mit Sitz in Wetzlar endlich mit einem besseren Beitragsaufkommen zu versehen. Die

5 Rachel Renault: La permanence de l’extraordinaire. Fiscalité, pouvoirs et monde social en Allemagne aux XVII e –XVIII e siècles. Paris 2017, S. 30–32. 6 Winfried Schulze: Reichsfinanzwesen, Reichskammergericht und Ausgabenkontrolle im 16. und 17. Jahrhundert. In: Bundesfinanzhof (Hg.): 75 Jahre Reichsfinanzhof – Bundesfinanzhof: Festschrift. Bonn 1993, S. 3–22, S. 17 f. 7 Siehe Nils Jörn: Beobachtungen zur Steuerzahlung der Territorien des südlichen Ostseeraums in der Frühen Neuzeit. In: Ders. u. a. (Hg.): Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich. Köln u. a. 2000, S. 311–391, S. 312 f. 8 Siehe Alexander Begert: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens. Husum 2003, S. 537, und Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978, S. 308. 9 Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire. Bd. 2. Oxford 2012, S. 129–135.

Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse

Verhandlungen begleiteten fast die gesamte Regierungszeit Karls VI. Von welchen Interessen wurde Österreichs Position in dieser Debatte geleitet? Wurde Österreich seiner Vorbildfunktion gerecht, oder legte Karl VI. nur reichsformalen Firnis auf eigennützige Politik?10 Die bisherigen Indizien zum kaiserlichen Umgang mit dieser Debatte oder mit dem Kammergericht überhaupt sind uneindeutig. Einerseits stellte sich Karl VI. offenbar auf die Seite des Gerichts und forderte von den Reichsständen mehr als Lippenbekenntnisse zu dessen Finanzierung.11 Zugleich soll Wien aber bestrebt gewesen sein, Wetzlar durch bewusste Unterversorgung gefügig zu machen und sogar mittels Erpressung eigene Beisitzer am Gericht einzuführen.12 Das entspräche etwa dem Verhalten von Ständen wie Brandenburg-Preußen, die den Gerichtsunterhalt verstärkt hinter ihre eigenen Interessen stellten.13 Im Fall Jever kommt jedoch ein komplexeres Bild zum Vorschein: Der Kaiserhof versuchte zwar, seine Erblande von Beiträgen zu befreien, wurde aber zugleich von den Bedürfnissen der Reichsinstitutionen an seine Vorbildrolle erinnert. Er haderte mit dem Balanceakt zwischen den Privilegien der eigenen Territorien und der Notwendigkeit einer Verbesserung der Gerichtsfinanzierung, die er somit selbst behinderte. Die oben erwähnte Erklärung von 1738 ist vor diesem Hintergrund zu betrachten. Unter anderem der jüngste Erwerb von formal steuerpflichtigen Reichsterritorien in den südlichen Niederlanden sowie das Abkommen mit dem Reich, das im Gegenzug für die Wiederbeteiligung am Kurfürstenkolleg 1708 – rechtlich – die geübte Beitragsverweigerung der böhmischen Kur beendet hatte, stand einer rücksichtlosen Inanspruchnahme einer Exemtion im Weg. Das Reichskammergericht konnte die kaiserliche Vorbildrolle als Druckmittel einsetzen.

Exempel in der Verfassungskrise. Hintergründe der Jever-Affäre Kurzgefasst hatte der Regensburger Reichstag 1719 beschlossen, die Beitragssätze der Zieler 3,5-fach zu erhöhen, um die Anzahl der Beisitzer oder Assessoren am Reichskammergericht von 13 auf 25 aufstocken und Gehaltserhöhungen durchführen zu können. Wegen Protesten über die fehlerhafte Berechnung der Beitragssätze in der so genannten Kammermatrikel wurde zugesagt, diese Sätze zu überprüfen

10 Die Debatte über den Reichskammergerichtsunterhalt und Österreichs Position darin werden in meiner Dissertation thematisiert. 11 Jahns, Reichskammergericht 1, S. 305–309. 12 Rudolf Smend: Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911, S. 219 f., hier S. 226 u. besonders S. 228 Anm. 1; Jahns, Reichskammergericht 2/1, S. 165–170. 13 Rudolf Smend: Brandenburg-Preußen und das Reichskammergericht. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 20 (1907), S. 465–501, hier S. 494 f., prägt bis heute diese Ansicht.

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und, wo angebracht, zu reduzieren. Das führte zu einem regelrechten Ansturm von Ermäßigungsanträgen, der das gesamte Finanzierungssystem auszuhebeln drohte.14 Die Kürzungen hätten durch neue Beitragserhöhungen ausgeglichen werden müssen, was die Stände, die keine Anträge gestellt hatten, mit der Androhung von Beitragsverweigerung verhindern wollten. Somit beschäftigte Regensburg sich fast zehn Jahre lang mit der Frage, wie die Beiträge der genuin überlasteten Stände reduziert, der gesamte Zielerertrag jedoch erhalten bleiben könnte.15 Da der Kaiserhof vor diesem Hintergrund von den übrigen Ständen disziplinierte Zahlungen der erhöhten Zieler verlangte, blickten diese (sowie die Fiskaladministration in Wetzlar) umso argwöhnischer auf die kaiserlichen Beiträge. An der Reichskammergerichtsfinanzierung durften sich die österreichischen Kern-Erblande wegen der halbjährlichen Regelmäßigkeit der Zieler aber nicht beteiligen, da dies deren generellen Anspruch auf Beitragsbefreiung ausgehöhlt hätte. In dem Sinne hatte Wien noch 1712 dem Wetzlarer Rechnungsverwalter verboten, das Erzherzogtum in den Rechnungen auch nur zu erwähnen.16 Als vornehmer Reichsstand mit richtungweisender Direktorialstimme im Reichsfürstenrat implizierte das für Österreich die schwierige Gratwanderung, sich in puncto Beitragserhöhung abseits zu halten, gleichzeitig aber für eine effektive Fiskalität und eine Entlastung von überlasteten Ständen eintreten zu müssen.17 Dieser Zwiespalt wurde immer problematischer, als der Reichstag in seiner verzweifelten Suche nach Mitteln für das Reichskammergericht darauf setzte, Lücken in der Finanzierung des Gerichts mit der Aktivierung von „ungangbaren und unrichtigen Posten“ wettzumachen, also einer Veranschlagung von Territorien, die sich bisher nicht oder zu wenig beteiligt hatten.18 Es bedeutete, große Stände dazu zu bringen, all ihre Territorien sozusagen richtig zu „versteuern“. Vor allem Österreich gehörte zu den Reichsständen, die viele reichsunmittelbare Gebiete als ihr Herrschaftsgebiet betrachteten und von den

14 Andreas Biederbick: Der deutsche Reichstag zu Regensburg im Jahrzehnt nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, 1714–1724: der Verlauf der Religionsstreitigkeiten und ihre Bedeutung für den Reichstag. Dissertation Bonn 1937, passim, bietet einen oberflächlichen Überblick der Ereignisse. 15 Hierzu: Johann Heinrich von Harpprecht: Abdruck von dem an eine höchstansehnliche kaiserliche Commission und hochverordnete Reichs=Visitations-Deputation erstattetem gehorsamsten Bericht das Unterhaltungs=Werk des kaiserlichen und Reichs=Cammergerichts betreffend […]. Frankfurt am Main / Leipzig 1768, S. 31–75. 16 Georg Melchior von Ludolf: Historia sustentiationis supremi Camerae Imperialis Das ist: Gründlicher Unterricht von dem Unterhalt des Kayserl. u. Reichs Cammergerichts […]. 2. Anhang. Frankfurt am Main 1722, S. 28. 17 Siehe z. B. die Weisung an die österreichische Gesandtschaft vom 13. April 1729 bei: Josef-Karl Mayr: Materialien zum burgundischen Reichskreis und dessen reichsrechtliche Stellung. S. d. (um 1944), unveröffentlichtes Werk. In: HHStA, Archivalische Arbeiten, K. 7, Nr. 580. 18 Für diesen Zusammenhang sei ebenfalls auf meine Dissertation hingewiesen.

Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse

Reichsfinanzen abtrennten oder „eximierten“.19 Diese Praxis kritisierten andere Reichsstände seit Langem. Österreich wusste sich jedoch durch seine Privilegien und das Kaiseramt geschützt. Daher erhofften Wetzlar und Regensburg beträchtliche Beiträge von Böhmen.20 Das reiche Kurfürstentum genoss nicht den Schutz der österreichischen Privilegien und hatte mit der Wiederbeteiligung am Kurkolleg 1708 eine klare Beitragspflicht akzeptiert. Hier legte Wien aber eine zwiespältige Politik an den Tag. Einerseits stellte es mit einer pompösen Erklärung 1726, wegen Böhmen große Beiträge erbringen zu wollen, seine Vorbildfunktion unter Beweis. Andererseits ließ der Kaiserhof im Konflikt mit dem Reichskammergericht über die Anstellung eines böhmischen Beisitzers durchscheinen, die böhmischen Zieler an Bedingungen knüpfen zu wollen.21 Diese Indizien bestärkten den Reichstag in seinem Argwohn, dass auf den Kaiser kein Verlass war, da er seine eigenen Territorien nicht zu regulären Abgaben verpflichten wolle. Um dem Misstrauen entgegenzuwirken, versicherte Wien dem Reichstag im November 1727 formal, die eigenen Länder am Gerichtsunterhalt zu beteiligen.22 Als aber im gleichen Jahr Böhmens Zahlungen aufhörten, drohte dem Kaiser, selbst als ein solch schlechter Zahler bloßgestellt zu werden, gegen den er stets wetterte, wenn nicht „auß lehren worten endlich ein ernstlicher effect erfolge“.23 Angesichts der Geldnot am Reichskammergericht waren die leeren Versprechen bedenklich, würden andere Stände sich doch allzu gern auf Österreichs Verhalten beziehen, um ihren eigenen Verzug zu rechtfertigen. Um seiner Vorbildrolle zu genügen, stellte Karl VI. schließlich die Österreichischen Niederlande als fiskalischen Blitzableiter auf und gab seinen Reichstagsgesandten zu erkennen, die Beitragsversprechen nur noch auf sie zu beziehen. Obwohl diese Gebiete seit Jahrzehnten nichts mehr beigetragen hatten, gehörten sie als Burgundischer Reichskreis rechtlich noch zum Reich. Mit einer Reaktivierung ihrer Beiträge ließ sich nicht nur deren Reichszugehörigkeit bekräftigen, sondern auch ein kostengünstiges Exempel vorzeigen. Denn ihr Beitragssatz war durch erhebliche territoriale Verluste obsolet geworden, weshalb drastische Beitragsreduktionen berechtigt waren. Somit legte der Gesandte Österreichs und Burgunds im Juni 1729 dem Reichsfürstenrat das kaiserliche Angebot vor, aus

19 Siehe Schulze, Reich und Türkengefahr, S. 308, 340 f. u. 343. 20 Siehe u. a. den Bericht der bayerischen Gesandtschaft, Regensburg 21. Juni 1723. In: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kasten Schwarz, Nr. 4708, f° 114 r°. 21 Siehe Jahns, Reichskammergericht 1, S. 302 f. Anm. 301. 22 Ratifikationsdekret vom 3. November 1727. In: Johann Joseph Pachner von Eggenstorff: Vollständige Sammlung aller […] bis anhero gefassten Reichsschlüsse. Bd. 4. Regensburg 1777, S. 277. 23 Siehe Speckmann an Harrach, Wetzlar 26. Dezember 1729 u. 9. Januar 1730. In: Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Familienarchiv Harrach, Familie in specie [künftig: AVA, FA Harrach, Fis], Konv. 594.28, unfol.

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„Huld und Sorgfalt“ für Wetzlar fortan die Hälfte vom alten burgundischen Anschlag zu erbringen.24 Der Reichstag nahm es dankbar an, in der Erwartung, mit solchen Beiträgen den Zielerertrag stützen zu können.25

Das Reichskammergericht in der Offensive Auf das Angebot Karls VI. folgten keine Zahlungen: Teils wegen anderweitiger Krisen, teils wegen leerer niederländischer Kassen. Im April 1737 legte das Gericht am Reichstag seine Rechnungen offen, inklusive einer „Specification“ mit den Ausständen aller Stände, worin u. a. Anhalt-Zerbst 120 Gulden wegen der ostfriesischen Herrschaft Jever „angekreidet“ wurden.26 Der Vorgang war kurios, denn Jever wurde vorher noch nicht in der Kammermatrikel geführt und hatte nie Zieler erbracht. Obzwar die Aktivierung von „unrichtigen und ungangbaren Posten“ 1726 zur offiziellen Politik erhoben worden war, setzte eine Veranlagung von solchen Territorien einen Reichsbeschluss voraus.27 Der Reichsfiskal hatte dennoch am Reichskammergericht ein Verfahren gegen Johann August Fürst von Anhalt-Zerbst eingeleitet, um Zieler wegen Jever einzufordern. Trotz Johann Augusts Protesten am Reichstag war das Reichskammergericht fortgefahren, hatte Anhalt-Zerbst verurteilt und registrierte Jever 1737 also öffentlich als beitragspflichtige Herrschaft. Die Hartnäckigkeit, mit der Wetzlar auf seiner Position beharrte, deutet auf weitere Motive hin. Anhalt-Zerbsts Versuch, die Veranschlagung Jevers mit Hilfe der Hofburg aufzuheben, brachte den Burgundischen Reichskreis ins Spiel. Wie die Gesamtvertretung Anhalts nämlich im Reichsfürstenrat argumentierte, sei Jever ein Lehen des Herzogtums Brabant, gehöre daher also in den Burgundischen Kreis. Deshalb könnte die Herrschaft nach Ansicht Anhalt-Zerbsts weder veranschlagt noch belangt werden.28 Durch die Bezugnahme auf den Burgundischen Kreis fokussierte sich der Streit über Jever aber darauf, ob denn der Kreis seine Beiträge leistete. In Wien folgte man jedenfalls der Argumentation Anhalts. Karl VI. forderte den Kammerrichter noch im April per Schreiben dazu auf, den Prozess gegen Anhalt-Zerbst einzustellen. Es hieß dabei, Jever könne als Komponente des Burgundischen Kreises nicht belangt werden, weil ein Vertrag von 1548 zwischen dem Reich und Karl V. nur dem gesamten Kreis eine pauschale Beitragspflicht auferlegt habe, wodurch einzelne Glieder

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Ein Auszug des Votums in Druck in: Harpprecht, Unterhaltungs=Werk, S. 197 f. Ebd., S. 73 f. Ebd., S 306 f. schildert knapp die Vorgänge. Ebd., S. 62. Palm an Karl VI., Regensburg 24. September 1737. In: Mayr, Materialien, Nr. 634.

Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse

vor Ansprüchen bewahrt würden.29 Jever sollte daher im burgundischen Beitrag mit inbegriffen werden. Seit 1548 war der Burgundische Kreis aber oft in Kriege mit Frankreich verwickelt worden, die nicht nur einen Territorienverlust, sondern auch eine Verunsicherung der niederländischen Position im Reich verursacht hatten. Zum Zeitpunkt der österreichischen Herrschaft war also unklar, ob der Vertrag von 1548 noch als verbindliche Grundlage für beidseitige Beziehungen beansprucht werden konnte. Vor allem nachdem die Österreichischen Niederlande 1726/27 beinahe wieder mit Krieg überzogen worden waren, wollte die Hofburg Burgunds Reichsmitgliedschaft unbedingt bestätigt sehen.30 Somit rächte sich 1737, dass Karl VI. dem Reich 1727 nicht nur Beiträge für seine Territorien versprochen und die Reaktivierung von „unrichtigen und ungangbaren Posten“ unterstützt hatte, sondern seinem jetzigen Unterlassungsbefehl auch das Versprechen anfügte, baldmöglichst das burgundische Angebot in wirkliche Zahlungen umzusetzen.31 Der Kaiserhof war gezwungen, seine Beitragsversprechen in Taten umzusetzen, sollte die Position des Kreises im Reich erhalten bleiben und Jever von Steuern befreit werden. Weil jedoch kein Geld floss, provozierte die „burgundische“ Abwehr nur noch entschiedeneren Widerspruch. Das Reichskammergericht drohte, den Gegensatz zwischen den Worten und Taten Karls VI. zum Zwecke der eigenen Unterhaltssicherung bloßzustellen. Als es im April 1738 in Regensburg wieder seine Rechnungen zur Diktierung vorlegte (zum Anschlagsjahr 1737), hängte es ein Schreiben an, worin es entgegen dem kaiserlichen Befehl auf seinem Urteil beharrte. Mehr noch: Es bot an, auf dem Reichstag darzulegen, warum es das burgundische Argument missachte. Das zog Kurmainz als Direktor des Reichstags mit in den Streit, weil es die Rechnungen samt Schreiben kraft vorheriger Reichsbeschlüsse unbedingt diktieren musste, das Schreiben jedoch für zu heikel hielt.32 Dass Wetzlar selbst dem Reichstag ein Urteil zur Überprüfung vorlegen wollte, obwohl es solche „Rekurse“ vehement bekämpfte, war unerhört. Das Gericht verweigerte aber, das Schreiben zurückzunehmen oder abzuändern. Mit der Klage wegen Jever hatte es schließlich ein Mittel zur Hand, um den Kaiser (mehr als den Anhalt-Zerbster Hof) unter Druck zu setzen, seine Zielerausstände abzubauen: Ohne reelle Zahlungen versuchte der Kaiser nämlich, Jever mit Hilfe eines Vertrags und eines Reichskreises zu eximieren, deren Relevanz inzwischen zur Diskussion standen. Das Kameralkolleg

29 Karl VI. an Kammerrichter Ingelheim, Laxenburg 30. April 1737. In: Mayr, Materialien, Nr. 633. 30 Emile de Borchgrave: Histoire des rapports de droit public qui existèrent entre les provinces belges et l’empire d’Allemagne depuis le démembrement de la monarchie carolingienne jusqu’à l’incorporation de la Belgique à la République Française. Brüssel 1870, S. 353. 31 Karl VI. an Kammerrichter Ingelheim, Laxenburg 30. April 1737. In: Mayr, Materialien, Nr. 633. 32 Otten an den Mainzer Kurfürst, Regensburg 21. April 1738. In: HHStA, MEA, RTA, Nr. 473, f° 44 b°.

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gab Kurmainz und Wien dementsprechend zu erkennen, das Argument einer burgundischen Kreiszugehörigkeit Jevers nicht ohne Erörterung auf dem Reichstag hinnehmen zu können.33 In Wien setzte sich die Einsicht durch, dass es nicht mehr möglich war, auf das kaiserliche Ansehen oder (Vor-)Rechtspositionen zu bestehen, wenn daraus keine Leistungen folgten. Der Fall drohte die Zweifel über das kaiserliche Beitragsverhalten zu befeuern, weshalb der österreichisch-burgundische Gesandte in Regensburg beteuerte, die Brüsseler Regierung sei wirklich bemüht, alles vorzukehren, damit die Zieler „ungesäumt und richtig“ bezahlt würden.34 Ob Jever faktisch zum Burgundischen Kreis gehörte oder nicht, war dabei von nebengeordneter Bedeutung, drohte das Reichskammergericht doch die inaktive Stellung Burgunds im Reich zu enthüllen.35 Nachdem Österreichs Gesandte fast zehn Jahre versucht hatten, das Angebot von 1729 in einem ordentlichen Beratungsverfahren vom Reichstag verabschieden zu lassen, um Burgunds Position zu befestigen, musste Wien sie nun anweisen, eine Diskussion darüber unbedingt zu verhindern. Eine Grundsatzdiskussion hätte das Ausbleiben von burgundischen Beiträgen zu den Reichsinstitutionen zu peinlich ans Tageslicht gebracht. Zudem verzögerte der Reichstag eine Beratung über das Angebot von 1729, weil Burgund (abgesehen von der Reichstagsstimme) in der Tat keine faktische Präsenz mehr besaß. Mit der Behauptung, Jever könne nicht bei Burgund ressortieren, da die Herrschaft „in territorio des teutschen Reichs liegete und zum Westphälischen Creis gehörig wäre“, stellte Wetzlar vor diesem Hintergrund den Burgundischen Kreis taktisch geschickt als ein fremdes Land dar.36 Für Versuche des Kaiserhofs, bei der dramatischen Kassenlage in Wetzlar weitere Territorien aus den Reichsfinanzen zu eximieren, bestand längst keine Toleranz mehr. Der Vorstoß des Reichskammergerichts hätte somit vermieden werden können, wenn auf das Angebot von 1729 tatsächlich Zahlungen erfolgt wären.37 Um Burgunds Stellung, wie auch dessen Recht auf eine Beisitzerstelle am Gericht, zu bekräftigen, rieten Österreichs Räte und Gesandte daher nachdrücklich, den Reichstag definitiv beiseite zu lassen und ohne Zögern Zahlungen einzuleiten. Längeres Warten hätte nachteilige Ansichten über den Kaiser und den Vertrag von 1548 genährt. Wetzlars Taktik ging also auf: Die Regierung der österreichischen Statthalterin in Brüssel erhielt den Befehl, schleunigst die Kammerzieler zu bezahlen und einen burgundischen Assessor zu präsentieren, „damit es nicht scheine, als

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Otten an den Mainzer Kurfürst, Regensburg 26. Mai 1738. In: HHStA, MEA, RTA, Nr. 474, f° 143 v°. Harpprecht, Unterhaltungs=Werk, S. 199. Karl VI. an die Statthalterin in Brüssel, Laxenburg 28. Mai 1738. In: Mayr, Materialien, Nr. 641. Weisung an die österreichische Gesandtschaft vom 28. Mai 1738. In: Mayr, Materialien, Nr. 640. Speckmann an Harrach, Wetzlar 25. Januar 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 594.28, unfol.

Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse

sey dieser vertrag nach und nach nicht mehr in obacht geblieben“.38 Einwände der Brüsseler Behörden, mit Wetzlar zuerst verbindliche Regelungen über Burgunds Altschulden zu treffen, wurden übergangen.39

Zwischen Brüssel, Wetzlar und Regensburg: Der Kampf um die burgundischen Zieler Die obenstehenden Ausführungen zeigen, wie der Umgang des Kaiserhofs mit den eigenen Beiträgen zum Reichskammergerichtsunterhalt nicht nur von anderen Reichsständen, sondern auch vom Gericht selbst misstrauisch beäugt wurde. Im Sommer 1738 hing für den Wiener Hof somit viel von Burgunds Zielern ab: Sowohl die Aufhebung des Verfahrens wegen Jever als auch die Präsentation eines burgundischen Assessors und das Ansehen Karls VI.40 Während der Brüsseler Hof nach Kandidaten für das Assessorenamt suchte, wartete Österreichs Gesandtschaft in Regensburg ungeduldig auf die Nachricht einer Zahlung, um diesbezügliche Zweifel zu entkräften. Dort führte die Enttäuschung über die unzuverlässigen Beiträge Böhmens zu immer mehr Skepsis. Gesandte anderer Stände waren überzeugt, der Kaiser würde auch im Falle Burgunds unzuverlässig zahlen.41 Auch in Wetzlar wurzelte die Skepsis gegenüber dem Kaiser im schlechten Beispiel Böhmens. Als Brüssel im September endlich einen Wechselbrief zum Pfennigmeister schickte, stritten sich die Assessoren drei Monate über die Quittierung, weil die kaiserliche Zahlungsmoral „ad exemplum des königreichs Böhmen“ dubios erschien.42 Der Verdacht war nicht unberechtigt. Wegen der finanziell desaströsen Lage der Österreichischen Niederlande versuchte Obersthofmeister Friedrich August Graf von Harrach – de facto Brüssels Regierungsleiter –, die Zahlungen erst 1738 anfangen zu lassen und die davorliegenden Ausstände auszuradieren.43 Böhmens Assessor Johann Stephan Speckmann nährte die Hoffnung hierauf, um seinen eigenen Sohn zügiger für das burgundische Assessorat vorschlagen zu können. Wien und Brüssel verließen sich auf seine von persönlichen Interessen geprägten Ratschläge, was sich als Fehler erwies. Dem lag eine grobe Überschätzung des Potentials der kaiserlichen Autorität zugrunde, gegenüber dem Kameralkolleg noch auf der eigenen

38 Vortrag der Reichskonferenz (Abschrift), s. d. (um April 1737). In: Archives générales du Royaume Brüssel [künftig: AGR], Conseil Privé période autrichienne, K. 1, f° 75–79. 39 Borchgrave, Histoire, S. 357 f. 40 Weisung an die österreichische Gesandtschaft vom 28. Mai 1738. In: Mayr, Materialien, Nr. 640. 41 Palm an Harrach, Regensburg 13. Oktober 1738. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 567.10, unfol. 42 Speckmann an Harrach, Wetzlar 18. Dezember 1738. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 594.28, unfol. 43 Siehe u. a. die Anweisungen des Brüsseler Finanzrats an die Banquierswitwe Proli vom 22. September 1738 u. 12. Januar 1739. In: AGR, Secrétairerie d’État et de Guerre, K. 1460, unfol.

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privilegierten Rechtsposition beharren zu können. Falls die Hofburg wirklich erwartete, das Gericht mit einer einzigen Zahlung besänftigen zu können, platzte diese Illusion aber im Streit um die Quittierung des ersten Wechsels. Dass Wetzlar bis Anfang 1739 einen „Kuhhandel“ über Burgunds Schulden ablehnte und hierfür einen Reichstagsbeschluss verlangte, erzürnte Österreich, zumal das Gericht sich gegenüber anderen Ständen kompromissbereiter zeigte. Kurbayern hatte 1737 noch ausgehandelt, die eigenen Restanten mit einer Pauschalsumme in Raten abzutragen, ohne dass das Reichskammergericht hierfür Einspruch des Reichstags verlangte.44 Österreich hatte von einer Reichstagsdebatte aber mehr zu befürchten. Die Widersprüche waren nämlich zu offensichtlich. Der Kaiserhof antwortete Wetzlar zwar, dass der Reichstag und nicht das Reichskammergericht über die Interpretation des Angebots von 1729 zu bestimmen habe. Gleichzeitig versuchte Wien jedoch, von den eigenen Bedingungen und Versprechen eben dieser Beitragserklärung abzuweichen. Reichsrechtlich gesehen, bestand zwar Spielraum, da zum Angebot nie ein ordentlicher Reichsschluss erfolgt war. Weil die Hofburg inzwischen jedoch selbst von einer stillschweigenden Genehmigung ausging, um schnellstmöglich zu Zahlungen schreiten zu können, konnte der Kaiserhof nicht mehr davon abweichen.45 Umso mehr, weil das laut dem Kameralkolleg andere größere Reichsstände, vor allem Kurbayern und Kurbrandenburg, nur dazu ermutigen würde, ihre Beiträge nach Belieben zu manipulieren.46 Gerade Karl VI. hatte in den Reichstagsdebatten aber stets auf einer konsequenten Umsetzung von Beitragsverpflichtungen bestanden. Das Reichskammergericht hatte also die besseren Karten, während er sich selbst hinsichtlich seiner Vorbildrolle in eine Sackgasse manövrierte. Angesichts Österreichs Feilschens erhöhte Wetzlar im Dezember 1738 nochmals den Druck. Es drohte, ein Protestschreiben zu veröffentlichen, worin es Wiens widersprüchliches Verhalten in Bezug auf das Angebot von 1729 anklagte und erneut eine Reichstagsdebatte andeutete. Die schädliche Wirkung des kaiserlichen Exempels auf andere Stände war zentral. Besonders Kurbrandenburgs Missachtung der Beitragserhöhung von 1719 wurde stets als Verhalten zitiert, das durch eine vorbildliche kaiserliche Politik bekämpft werden müsse.47 Im März 1739 konnte endlich eine knappe Mehrheit der Assessoren dazu überredet werden, Jever zumindest aus den nächsten Specificationen auszulassen.48 Dass Brüssel kurz zuvor einen zweiten Wechsel abgeschickt hatte, um die Zweifel zu zerstreuen, trug erheblich dazu bei. Nicht zuletzt, weil Kurbrandenburg sich inzwischen offen auf Wiens Nachlässigkeit bezog, um sein eigenes Zahlungsverhalten zu legitimieren, stimmte 44 45 46 47 48

Palm an Harrach, Regensburg 11. Juni 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 567.10, unfol. Speckmann an Harrach, Wetzlar 12. April 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 594.28, unfol. Virmont an Harrach, Wetzlar 20. Mai 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 608.11, unfol. Speckmann an Harrach, Wetzlar 4. Januar 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 594.28, unfol. Virmont an Harrach, Wetzlar 20. Mai 1739. In: AVA, FA Harrach, Fis, Konv. 608.11, unfol.

Österreich zwischen Vorbildfunktion und Eigeninteresse

die Reichskonferenz Anfang 1740 dann doch ein, simultan „alte“ und „neue“ Zieler zu bezahlen, und zwar ab 1716.49 Bis dahin waren bereits mehrere Wechsel nach Wetzlar geschickt, abgelehnt und nach Brüssel zurückgeschickt worden, bevor endlich die heiß ersehnte Quittung ausgestellt wurde. Bis dahin drohte das Gericht, das Protestschreiben abzuschicken, und versuchte Speckmann, von Burgunds Schulden etwas abzuschaben. Obwohl der Erfolg des Vergleichs davon abhing, ob nun tatsächlich Zieler eingehen würden, dauerte es dennoch bis Juni 1740, ehe regelmäßige Zahlungen anfingen und Burgunds Rechnungen justiert werden konnten – elf Jahre nach dem Angebot. Das Ansehen Kaiser Karls VI. war längst verspielt worden. Er sollte das Scheitern der Präsentation eines burgundischen Assessors nicht mehr erleben.50

Fazit Wenn Konkurrenz im 18. Jahrhundert als ein Mitlaufen oder Mitziehen verstanden wurde, dann demonstriert der Fall Jever, welch komplexes Ineinandergreifen unterschiedlicher Motive Reichsglieder dazu bringen konnte, dem Reich gegenüber Engagement zu zeigen. Bei der Auseinandersetzung über Jever in den Jahren 1737 bis 1739 handelte es sich nur vordergründig um einen Konflikt zwischen dem Geldbedarf des Reichskammergerichts und dem Versuch Anhalt-Zerbsts, die Herrschaft von einer Veranschlagung zu befreien. Im Kern nutzte der Streit über Jevers Beitrag dem Kameralkolleg, um den Kaiser hinsichtlich seines inkonsequenten Umgangs mit dem Gerichtsunterhalt unter Druck zu setzen. Die traditionelle Konkurrenz zwischen der kaiserlichen Vorbildfunktion und der Privilegierung der eigenen Territorien war zu offensichtlich in eine Schieflage geraten. Die Durchführung von Beitragsermäßigungen verlangte, dass angesehene Stände kompensierende Opfer bringen mussten. Dass Karl VI. in diesem Kontext offenbar nur „heuchlerisch“ Beiträge wegen Böhmen und Burgund versprach, bedrohte nicht nur aus der Sicht Wetzlars die Relevanz von Reichsbeschlüssen sowie den Gerichtsunterhalt überhaupt. Weil er Böhmens Zieler trotz vertraglicher Verpflichtungen und eigener Versprechen aufhielt und nun auf eine Eximierung Jevers drängte, drohten seine Appelle an Zahlungsdisziplin als leere Rhetorik zu verhallen. Bei näherem Hinsehen wurzelte die scheinbare Heuchelei in Bezug auf Burgunds Beitrag aber in langsamen Entscheidungen, Fehleinschätzungen und vor allem leeren Kassen. Das Reichskammergericht zeigte sich hierbei durch seine provokative Sicht auf Burgunds Stellung

49 Vortrag der Reichskonferenz vom 20. März 1740. In: Mayr, Materialien, Nr. 657. 50 Hierzu: Jahns, Reichskammergericht 2/1, S. 560–564.

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im Reich keinesfalls als „abhängig und unschädlich“.51 Zwar konnte der Kaiserhof auf dem Reichstag eine Blamage verhindern. Er wurde aber gezwungen, den überstrapazierten Haushalt Brüssels noch weiter zu belasten, ohne dass Burgunds Position im Reich dadurch zuverlässig gestärkt wurde. Dass Karl VI. angesichts der prekären Unterhaltssituation Wetzlars den anderen Ständen ein schlechtes Vorbild zu sein schien, fügte aber vor allem dem Ansehen des Kaisertums kurz vor dem Tod des letzten Habsburgers schwere Schäden zu. Dieser Umstand dürfte 1742 letztendlich den Passus in der Wahlkapitulation des Wittelsbacher Kaisers Karl VII. mitverantwortet haben, worin er und künftige Kaiser sich dazu verpflichteten, die eigenen Besitzungen im Reich nicht länger den Reichsbeiträgen zu entziehen.52

51 Smend, Reichskammergericht, S. 226 Anm. 1. 52 Die Wahlkapitulation ist ediert bei: Wolfgang Burgdorf (Hg.): Die Wahlkapitulationen der römischdeutschen Könige und Kaiser 1519–1792. Göttingen 2015, S. 386, Art. V § 6.

Michael Rohrschneider

Kommentar

Die Beiträge der Sektion zeigen, dass der Immerwährende Reichstag in idealer Weise dazu geeignet ist, sich dem Thema „Konkurrenzen“ semantisch, inhaltlich und auch konzeptionell zu nähern. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass der Regensburger Reichstag geradezu eine Verkörperung der Ambivalenzen war, die in der lateinischen Wortbedeutung von „concurrere“ angelegt sind: Zum einen war die „Drehscheibe Regensburg“1 ein Ort, an dem die Gesandten von Kaiser und Reich, im wörtlichen Sinn von „concurrere“, zusammenkamen und zusammenströmten. Zum anderen war der Reichstag ein Schauplatz vielfältiger Konkurrenzen, die von einem konfrontativen Gegeneinander geprägt waren: machtpolitische Konkurrenzen – zu denken ist etwa an den österreichisch-preußischen Dualismus im 18. Jahrhundert –,2 konfessionelle Konkurrenzen, insbesondere mit Blick auf die beiden konfessionellen Corpora,3 oder auch ständische Konkurrenzen, wie zum Beispiel das Ringen der Reichsfürsten um Parifikation mit den Kurfürsten.4 Forschungen zu diesen Themenkomplexen werden jedoch mit einem gewichtigen heuristischen Problem konfrontiert. Der Immerwährende Reichstag kann zweifelsohne als noch weitgehend ungehobener Schatz der deutschen Geschichte gelten. Dass dies so ist, hängt damit zusammen, dass die Quellenlage von einer überbordenden Fülle gekennzeichnet ist, die Einzelne an die Grenzen des Machbaren stoßen lässt. Alle Versuche, die nahezu sprichwörtlichen Regalkilometer, die diese Ständeversammlung hinterlassen hat, in Form einer historisch-kritischen

1 In Anlehnung an Susanne Friedrich: Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700. Berlin 2007. Der folgende Kommentar korrespondiert mit den Passagen des Verfassers in: Dorothée Goetze u. a.: Der Immerwährende Reichstag als Schauplatz konkurrierender Akteure und Interessen. In: Historisches Jahrbuch 140 (2020), S. 331–341. 2 Vgl. Michael Rohrschneider: Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zu Klientelpolitik und Parteibildung (1745–1763). Göttingen 2014. 3 Vgl. insbesondere Karl Härter: Das Corpus Catholicorum und die korporative Reichspolitik der geistlichen Reichsstände zwischen Westfälischem Frieden und Reichsende (1663–1803). In: Bettina Braun u. a. (Hg.): Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten in der Spätphase des Alten Reiches. Epfendorf / Neckar 2008, S. 61–102; Andreas Kalipke: Verfahren im Konflikt. Konfessionelle Streitigkeiten und Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert. Münster 2015. 4 Vgl. Axel Gotthard: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. Teilbd. 2. Husum 1999.

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Edition zu erschließen, ließen sich bislang nicht realisieren,5 obwohl aus Sicht der neueren Forschung kein Zweifel daran besteht, dass dies ein höchst lohnenswertes Unterfangen wäre.6 Dass der Immerwährende Reichstag aufgrund des für sein Prozedere charakteristischen Spannungsverhältnisses von Konsensorientierung und Konfliktaustrag ein ideales Terrain ist, um „Konkurrenz“-Forschung zu betreiben, wird anhand der Beiträge dieser Sektion sehr deutlich. Der Tendenz nach behandeln die vier Studien eher das Moment des Konflikts innerhalb des möglichen Spektrums unterschiedlicher Zugänge zum Thema „Konkurrenz“. So führt uns Yves Huybrechts in die Tiefen des institutionellen Ringens im Reich um Kompetenzen, Finanzen und politische Macht. Am Beispiel von bislang nicht erforschten Fragen der Reichspolitik aus der Regierungszeit Kaiser Karls VI. legt er dar, in welch hohem Maße die Reichspolitik durch konkurrierende Ansprüche und Interessen geprägt war, die gerade im Spannungsfeld unterschiedlicher Reichsinstitutionen ausgetragen wurden. Deutlich erkennbar wird beispielsweise der Rollenkonflikt des Kaisers in seinen Funktionen als Reichsoberhaupt, Landesherr und Leiter des Burgundischen Reichskreises. Darüber hinaus verdeutlicht der Aufsatz Huybrechts die Probleme mindermächtiger Reichsstände, ihre Interessen im Mächtegefüge des Reiches zu behaupten. Das von ihm angeführte Fürstentum Anhalt-Zerbst ist ein typisches Beispiel für diesen Sachverhalt. Konkurrierende Ansprüche wurden im Alten Reich nicht immer unabhängig vom jeweiligen Status und der Macht der Betroffenen entschieden. Gerade die Politik der „Potentiores“ Österreich und BrandenburgPreußen, die sich nicht scheuten, bei Bedarf nach dem Prinzip „Macht vor Recht“ zu agieren, zeigt dies in aller Deutlichkeit. In diesem Themenbereich besteht gleichwohl noch erheblicher Forschungsbedarf, der insbesondere die Rolle des Kaisers als traditioneller Garant und Schutzherr der Mindermächtigen durch weitere Studien auf den Prüfstand stellen müsste. Gleiches gilt für die von Dorothée Goetze und Guido Braun berührten Themenspektren, die auf der Schnittstelle von Reichspolitik und auswärtigen Beziehungen zu verorten sind. Der in der internationalen Forschung intensiv rezipierte Ansatz, den Kompositcharakter vieler frühneuzeitlicher Staatswesen herauszuarbeiten, wurde zwar in jüngerer Zeit auch von der deutschsprachigen Forschung konstruktiv

5 Vgl. Heinz Duchhardt: Aretin und die Münchener Historische Kommission. In: Christof Dipper u. a. (Hg.): Karl Otmar von Aretin. Historiker und Zeitgenosse. Frankfurt am Main u. a. 2015, S. 45–57, hier S. 52 f. 6 Vgl. Maximilian Lanzinner: Arbeitsfelder und Forschungsfragen zum Immerwährenden Reichstag. In: zeitenblicke 11/2 (2012), URL: https://www.zeitenblicke.de/2012/2/Lanzinner, hier Abs. 40 (09.11.2022); Karl Härter: Der Immerwährende Reichstag (1663–1806) in der historischen Forschung. In: zeitenblicke 11/2 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/2/Haerter (09.11.2022), hier Abs. 47.

Kommentar

weitergeführt.7 Die dem weit verbreiteten Phänomen herrscherlicher Personalunionen inhärenten Rollenkonkurrenzen, die Dorothée Goetze beschrieben hat, verdienen jedoch zusätzliche Aufmerksamkeit. In diesem Punkt wären weiterführende Forschungen zweifellos ebenso wünschenswert wie ergiebig.8 Auch systematische Studien zur Rollenvielfalt und -konkurrenz von außen- und reichspolitischen Akteuren, wie sie Guido Braun am französischen Beispiel vorführt, stehen noch weitgehend aus. Neuere Arbeiten, wie zum Beispiel Hillard von Thiessens Typologisierung der Diplomatie vom type ancien oder Matthias Köhlers Dissertation zum Friedenskongress von Nijmegen,9 haben diesbezüglich wichtige Grundlagen geliefert, die es noch weiter auszubauen gilt. Denn derartige Untersuchungen ermöglichen tiefergehende Aufschlüsse über das Geflecht von Rollen- und Normenkonkurrenzen, das, wie im Rahmen der Sektionsbeiträge deutlich wird, für die Frühe Neuzeit so charakteristisch war. In diesem Punkt bietet vor allem die vergleichende europäische Perspektive erhebliches Forschungspotential, und zwar nicht zuletzt eingedenk der Tatsache, dass der Immerwährende Reichstag in jüngerer Zeit wiederholt in diachroner Weise als Vergleichsmodell zur Europäischen Union und/oder sogar zu den Vereinten Nationen herangezogen wurde.10 Verwiesen sei exemplarisch auf Karl Härters Studie über die Perspektiven einer europäisch vergleichenden Analyse der Verfassung des Immerwährenden Reichstags: Die „spezifische Verfassungspraxis und Verfassungskultur des von 1663 bis

7 Vgl. insbesondere Helmut G. Koenigsberger: Dominium Regale or Dominium Politicum et Regale. Monarchies and Parliaments in Early Modern Europe. In: Ders.: Politicians and Virtuosi. Essays in Early Modern History. London / Ronceverte 1986, S. 1–25; John H. Elliott: A Europe of Composite Monarchies. In: Past and Present 137 (1992), S. 48–71; Franz Bosbach: Mehrfachherrschaft – eine Organisationsform frühmoderner Herrschaft. In: Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hg.): Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640–1688). Berlin 2005, S. 19–34. 8 Siehe jüngst Dorothée Goetze: Desintegration im Ostseeraum – Integration ins Reich? Die Vertretung der schwedischen Herzogtümer beim Immerwährenden Reichstag während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) am Beispiel des Corpus Evangelicorum. In: Beate-Christine Fiedler / Christine van den Heuvel (Hg.): Friedensordnungen und machtpolitische Rivalitäten. Die schwedischen Besitzungen in Niedersachsen im europäischen Kontext zwischen 1648 und 1721. Göttingen 2019, S. 126–148. 9 Vgl. Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens. In: Ders. / Christian Windler (Hg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln u. a. 2010, S. 471–503; Matthias Köhler: Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen. Köln u. a. 2011. 10 Zum Vergleich mit der EU vgl. Peter Wilson: The Immerwährende Reichstag in English and American Historiography. In: Harriet Rudolph / Astrid von Schlachta (Hg.): Reichsstadt ‒ Reich ‒ Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015, S. 105–122, hier S. 116–122.

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1806 währenden Reichstags macht diesen nicht zu einer ,monströsen‘ Besonderheit im frühneuzeitlichen Europa, sondern eröffnet Perspektiven einer vergleichenden Analyse mit anderen vormodernen Zentralversammlungen“.11 Die in den Beiträgen dieser Sektion thematisierten vielfältigen Konkurrenzen drängen sich geradezu auf, die von Härter postulierte vergleichende Sichtweise exemplarisch umzusetzen. Christoph Kampmann zeigt am Beispiel von kaiserlicher Kommunikation oder besser Nicht-Kommunikation im Kontext des Friedens von Karlowitz (1699) auf, dass das von der Forschung herausgearbeitete Interpretament der vielzitierten Rückkehr des Kaisers in das Reich nicht zu einer Ausblendung der konfrontativen Elemente des Dualismus von Kaiser und Reich führen darf.12 Kampmanns These vom Konfliktkurs Kaiser Leopolds I. in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts gegenüber dem Reichstag korrespondiert mit jüngeren Tendenzen der Ständegeschichte insgesamt. Nachdem die Geschichtsschreibung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets das Moment der Konfrontation in den Beziehungen zwischen Fürsten und Ständen hervorhob, ist das Pendel des historischen Urteils inzwischen weit auf die andere Seite ausgeschlagen. Die neuere Ständeforschung hat sehr viel stärker die konsensualen Aspekte der Beziehungen zwischen Herrscher und Ständen betont als die zumeist konfliktorientierte ältere Forschung, die in den Ständen oftmals nur das retardierende Element im frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess erkannt zu haben glaubte.13 Demgegenüber ist in jüngerer Zeit darauf hingewiesen worden, dass bei aller Berechtigung, das Miteinander in den Beziehungen zwischen Herrscher und Ständen zu betonen, keinesfalls die Elemente der Konfrontation außer Acht gelassen werden dürfen.14 Auch in diesem Punkt wird zu prüfen sein, inwiefern der „Konkurrenz“-Begriff geeignet ist, den geschilderten Tendenzen der Ständeforschung neue Anregungen zu vermitteln.

11 Karl Härter: Permanenz, Partizipation, Verfahren und Kommunikation: Perspektiven einer europäisch vergleichenden Analyse der Verfassung des Immerwährenden Reichstags. In: Rudolph / Schlachta, Reichsstadt, S. 61–83, hier S. 83. 12 Zum Narrativ der Rückkehr des Kaisers ins Reich nach 1648 vgl. Anton Schindling: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991. 13 Siehe jüngst Michael Kaiser: Auf dem Weg zur Selbstregierung. Die Landstände von Kleve und Mark in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. In: Michael Rohrschneider / Anuschka Tischer (Hg.): Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. Münster 2018, S. 175–203, hier S. 175–177. 14 Vgl. etwa Ders.: Kooperation und Partizipation. Wilhelm V. und die Landstände der Vereinigten Herzogtümer. In: Guido von Büren u. a. (Hg.): Herrschaft, Hof und Humanismus: Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit. Bielefeld 2018, S. 171–192, hier vor allem S. 182 f .

Sektion 13: Die Zünfte im Wettbewerb um Ämter, Arbeitskraft und Innovationen

Julia Bruch

Geschichte schreibende Handwerker in Konkurrenz um städtische Ämter

[D]amit mir Gott der almechtige aûch ein standt bescheren möchte, daß ich ettwan ein – vf dem landt, oder wo mich Gott hin berahtten – zû ainem gerichtschreiber ein komen konnde.1

Im Prolog seiner Chronik machte der Nürnberger Panzermacher Sebastian Koppitz (1535–1571) deutlich, warum er seinen Text schrieb:2 Er erstrebte eine Anstellung, einen „standt“, bzw. ein „amptt“:3 Ihm schwebte vor, Gerichtsschreiber zu werden. Um sich für dieses Amt zu empfehlen, schrieb er eine Chronik. An diesem Textbeispiel lassen sich für diesen Artikel zentrale Forschungsfragen entwickeln: Wie wurden städtische Schreiberämter vergeben? Nutzt der Begriff „Konkurrenz“, um soziale Mechanismen der Besetzung zu beschreiben?4 Die Untersuchungszeit des 15. und 16. Jahrhunderts umfasst einen Zeitraum, in dem die städtischen Schreiberämter nicht mehr nur mit Geistlichen besetzt wurden und noch nicht nahezu ausschließlich mit studierten Männern. Die Forschung zu Schreiberämtern in Städten dieser Übergangszeit ist nicht üppig. Es ergibt sich zudem ein Fokus auf die Städte im süddeutschen Raum (die Eidgenossenschaft eingeschlossen). Erwähnungen von Schreibern im städtischen Verwaltungsschriftgut und in Chroniken sind nicht selten, müssen aber zusammengetragen werden.5 Hier 1 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Handschriften 160 (im Folgenden: Koppitz, Chronik), fol. 5v. Zu Koppitz’ Leben und Chronik siehe auch Irene Stahl: Nürnberger Handwerkerchroniken. In: Peter Johanek, (Hg.): Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Köln 2000, S. 207–216, hier S. 207–211. 2 Ebd., S. 207. 3 „Damit wiell jch den einganck dises bûchs beschliessen, vnd thûe mich allen christlichen lessern jn dechtiklich befalhen lassen sein vnd biett jder meintlich, die weill jch aůf ein amptt warte vnd Gott der almechtige mir aûch ein stück seiner gaben mitgetailt hatt, wöllett aûch füer mich jn eiwren gebehtt, eûch mich lassen“, Koppitz, Chronik, fol. 5r. 4 Zum Konkurrenzbegriff siehe grundlegend Tobias Werron: Form und Typen der Konkurrenz. In: Karin Bürkert u. a. (Hg.): Auf den Spuren der Konkurrenz. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Münster / New York 2019, S. 17–44. 5 Stadtschreiberordnungen sind bspw. aus Augsburg (1362/1363), Winterthur (1520) und Bruchsal (1551) bekannt (Artur Dirlmeier: Archive und Kanzleiorganisation. In: Albrecht Greule u. a. (Hg.): Kanzleisprachenforschung. Ein internationales Handbuch. Berlin u. a. 2012, S. 131–148, hier S. 140). Die Augsburger Kanzleiordnung von 1543 wurde ausgewertet von Kirill A. Levinson: Gemainer Statt

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ist nicht Ort und Platz, diesen Mangel an zielgerichteter Sammlung von Quellen und systematischer Forschung auszugleichen, ich möchte lediglich das Desiderat benennen und mich der Frage aus zwei Richtungen annähern. Zum einen zeige ich am Beispiel Basel, welche sozialen Gruppen die unterschiedlichen Schreiberämter besetzten, zum zweiten veranschauliche ich exemplarisch, dass sich Handwerker – wie der erwähnte Panzermacher Sebastian Koppitz – um städtische Schreiberämter bemühten. Vorab gebe ich einen kurzen Überblick, was über Schreiberämter und die Amtsträger bisher bekannt ist. Vorwegzuschicken ist, dass die Entwicklungen und Ausformungen der Schreiberämter unterschiedlicher Städte nicht einheitlich und zeitgleich verliefen. Ebenso variierte der Institutionalisierungsgrad der städtischen Kanzleien. Die angefügte zeitliche Skizze kann nur grob und überblicksartig sein.

Die städtischen Schreiberämter Städtische Verwaltungsschriftlichkeit ist seit dem 12. Jahrhundert bekannt, vom Rat bestellte Stadtschreiber und von Schreibern geführte städtische Kanzleien hingegen sind seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen worden. Die Ausgestaltung der Schreiberämter und Kanzleien verliefen parallel zu einer Intensivierung städtischer Schriftlichkeit. Im 12. Jahrhundert wurden Schriftstücke von schreibkundigen Klerikern angefertigt, so lange, bis die anfallenden Schriftstücke so viele wurden, dass dafür eigens ein Stadtschreiber eingestellt wurde. Anfangs waren die Schreiber Kleriker, allerdings sind seit dem 13. Jahrhundert auch laikale Schreiber nachweisbar. Ein großer Teil der Stadtschreiber wurde besonders in kleineren Städten wohl bis zum Ende des Mittelalters, möglicherweise bis ins 16. Jahrhundert aus der Klerikerschaft rekrutiert.6 Mit anwachsender Schriftlichkeit differenzierte sich das Amt in den größeren Städten immer weiter aus; zum Stadtschreiber kamen Hilfsschreiber hinzu, einzelne Aufgaben wurden abgespalten und zusätzliche Gerichts-, Korn-

Diener: Zu Berufsvorstellungen der Augsburger Stadtbediensteten in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 91 (1998), S. 57–95, hier S. 64–67. Wichtige Vorarbeiten liegen allerdings bereits vor, insbesondere Gerhart Burger: Die Südwestdeutschen Stadtschreiber im Mittelalter. Böblingen 1960; Manfred J. Schmied: Die Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 1979. 6 Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 41. Diese Entwicklung vom gelegentlichen Einsatz eines Klerikers für städtische Schreibarbeit über einen festangestellten Kleriker bis hin zu weltlichen Stadtschreibern zeichnet Honemann exemplarisch an Mühlhausen nach. Siehe Volker Honemann: Die Stadtschreiber und die deutsche Literatur im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. In: Walter Haug u. a. (Hg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 320–353.

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oder Kaufhausschreiber etc. angestellt. Letztere Aufgaben wurden bisweilen von nebenamtlich und manchmal zeitlich begrenzt angestellten Schreibern ausgeübt.7 Die Stadtschreiber waren für eine ganze Reihe von Schriftgut zuständig:8 Sie protokollierten die Sitzung des Stadtrats, führten Amtsbücher (Rechnungsbücher, Bürgerlisten, Ordnungen etc.), stellten Urkunden und Briefe aus, übernahmen diplomatische Funktionen, indem sie entsprechende Schriftstücke vorbereiteten und selbst Gesandtschaften angehörten. Kurz, sie führten die gesamte städtische Korrespondenz.9 In städtischen Kanzleien konnten zusätzlich Notare beschäftigt sein, die die Urkunden ausstellten, oder Stadtschreiber waren selbst Notare.10 Das Aufgabenprofil macht deutlich, dass Stadtschreiber nicht nur fähig sein mussten zu schreiben. Auch formaljuristische und verwaltungstechnische Fachkenntnisse waren von Nöten, um die entsprechenden Texte anfertigen zu können.11 Stadtschreiber können als „kommunale Führungskräfte“ verstanden werden, deren „Funktion als Leiter der gesamten Verwaltung“ von ihnen „Detailkenntnisse auf sämtlichen Politikfeldern“ verlangte.12 Die Inhaber der übrigen städtischen Schreiberämter waren in weniger umfassenden Feldern tätig und auf ihren jeweiligen

7 Jörg Meier: Die Bedeutung der Kanzleien für die Entwicklung der deutschen Sprache. In: Albrecht Greule u. a. (Hg.): Kanzleisprachenforschung. Ein internationales Handbuch. Berlin u. a. 2012, S. 3–13, hier S. 5 f. 8 Die umfangreiche Palette an Aufgaben ist gesammelt bei Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 147–240, und Schmied, Die Ratsschreiber, S. 82–89 u. 134–195. 9 Dirlmeier, Archive und Kanzleiorganisation, S. 139 f.; Hildegard Weiß: Lebenshaltung und Vermögensbildung des „mittleren“ Bürgertums. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Nürnberg zwischen 1400–1600. München 1980, S. 90; Paul Sander: Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440. Leipzig 1902, S. 120 f. 10 Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 62. Im 16. Jahrhundert war das Stadtschreiberamt mit einem öffentlichen Notariat verschmolzen. Durch die Ausstellung von beglaubigten Urkunden hatten die Stadtschreiber / Notare Einblicke in die Ratsherrschaft und private Transaktionen (Peer Frieß: Der Einfluß der Stadtschreiber auf die Reformation der süddeutschen Reichsstädte. In: Archiv für Reformationsgeschichte 89 (1998), S. 96–124, hier S. 100). Zur Beglaubigung und Ausstellung von Urkunden war eine kaiserliche oder päpstliche Autorisation notwendig (Konrad Wanner: Schreiber, Chronisten und Frühhumanisten in der Luzerner Stadtkanzlei des 15. Jh.s. In: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 18 (2000), S. 2–44, hier S. 3). 11 Libuše Spáčilová: Zum Niveau des überregionalen Sprachausgleichs und der regionalen Infiltration bei den elf Schreibern der überlieferten frühneuhochdeutschen Urkunden der Olmützer Stadtkanzlei. In: Gisela Brandt (Hg.): Sprachgebrauch und sprachliche Leistung in sozialen Schichten und soziofunktionalen Gruppen. Stuttgart 1995, S. 27–45, hier S. 28–29. Die Verfasserin spricht von Sachund Expertenwissen. 12 Peer Frieß: Der Memminger Stadtschreiber Georg Meurer. Beobachter, Ratgeber und Akteur im Zeitalter der Reformation. In: Dietmar Schiersner u. a. (Hg.): Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. Augsburg 2011, S. 155–171, hier S. 155. Die Stadtschreiber kleinerer und Kleinststädte sind schwieriger zu fassen, das Aufgabenprofil in diesen war jedoch vielfältiger (Frieß, Einfluß der Stadtschreiber, S. 99 f.). In kleineren Städten konnten

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Bereich beschränkt, wobei die Gerichtsschreiber und Rechnungsschreiber nicht minder verantwortungsvolle Aufgaben übernahmen.

Die städtischen Schreiber Neuere, übergreifende Studien zur sozialen Struktur der Schreiber liegen nicht vor, daher muss auf Gerhart Burgers Arbeit zu den Stadtschreibern und auf Analysen zu einzelnen Schreibern oder Schreibern einer Stadt zurückgegriffen werden.13 Die Forschung fokussiert dabei auf die Stadtschreiber.14 Außerdem herrscht die Tendenz vor, die Geschichte von herausragenden Stadtschreibern zu erzählen und weniger, sich an einer strukturellen Einordnung zu versuchen.15 Die Verwendung der Bezeichnungen für Schreiber ist im zeitgenössischen Kontext nicht stringent. Die Begriffe „Stadt“- und „Ratsschreiber“ konnten synonym gebraucht werden. In Nürnberg scheint der Titel Ratsschreiber sekundär zu sein (erstmals 1419) und das Amt mit dem höchsten Gehalt innerhalb der Kanzlei zu meinen;16 im Gegensatz zu Basel, dort ist, wie an späterer Stelle gezeigt werden wird, das Stadtschreiberamt das höchste Amt. Es gibt vor allem unter den Schreibern des 12. und 13. Jahrhunderts viele Kleriker, über die Ausbildung der übrigen Schreiber wissen wir sehr wenig. Die Forschung geht davon aus, dass die Stadtschreiber direkt in den Kanzleien ausgebildet worden sind.17 Es gibt Hinweise auf „Karrieren“ innerhalb städtischer Kanzleien, auf

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sie zugleich noch weitere Ämter innehaben (z. B. Schulmeister) (Honemann, Die Stadtschreiber, S. 322 f.). Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber; Schmied, Die Ratsschreiber; Frieß, Einfluß der Stadtschreiber, S. 100; Roland Deigendesch: Schreiber und Leser in der Stadt. Aspekte von Bildung und Literatur am Beispiel der Städte zwischen Alb und Neckar am Ende des Mittelalters. In: Sigrid Hirbodian / Peter Rückert (Hg.): Württembergische Städte im späten Mittelalter. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur im Vergleich. Ostfildern 2016, S. 265–296, hier S. 277–279; Peter Schmitt: Zur Entstehung und Entwicklung des Stadtschreiberamtes in Freiburg i. Br. In: Kurt Gärtner / Günter Holtus (Hg.): Urkundensprachen im germanisch-romanischen Grenzgebiet. Mainz 1997, S. 273–288, hier S. 273. Ein Ausnahmefall ist die Arbeit von Levinson, der für Augsburg nicht nur die Stadtschreiber, sondern alle städtischen Dienstämter in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt (Kirill A. Levinson: Beamte in Städten des Reiches im 16. und 17. Jh.. Unter besonderer Berücksichtigung der Freien Reichsstadt Augsburg. Halle 2004; Levinson, Gemainer Statt Diener). Siehe etwa die Zusammenstellung berühmter Stadtschreiber bei Honemann, Die Stadtschreiber, S. 340–353. Beliebte Untersuchungsobjekte sind bspw. Niklaus von Wyle, Stadtschreiber in Esslingen († 1479), oder die Stadtschreiberdynastie der Neidhardt aus Ulm. Schmied, Die Ratsschreiber, S. 2–3. Martin Kintzinger: Das Bildungswesen in der Stadt Braunschweig im hohen und späten Mittelalter. Verfassungs- und institutionengeschichtliche Studien zu Schulpolitik und Bildungsförderung. Köln u. a. 1990, S. 392 f.; Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 62; Bruno Koch: Quare ma-

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Schulen oder auf Anstellung von Schreibern, die in anderen Kanzleien ausgebildet wurden. Seit dem 14. Jahrhundert kamen in größeren Städten universitär geschulte Juristen hinzu. Die Einführung in die Praxis erfolgte trotzdem direkt in der Kanzlei.18 Nürnberg beschäftigte im 15. Jahrhundert fünf bis sieben Schreiber.19 Die Nürnberger Schreiber können in drei Gehaltsgruppen unterschieden werden: Stadtund Ratsschreiber, Gehilfen der Stadt- und Ratsschreiber und Hilfsschreiber. Als Sondergruppen kommen die Schreiber der städtischen Rechnungen hinzu, die im Bereich der mittleren Gehaltsgruppe zu verorten sind.20 Die exemplarischen Gehälter für Nürnberg zeigen, dass Schreiberämter als städtische Dienstämter durchaus lukrativ waren.21 Auch wenn die Zahlen nicht verallgemeinert werden können, brachten die Ämter jedenfalls geregelte Einkünfte (Besoldung, Pfründe) ein, die,

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gnus artificus est. Migrierende Berufsleute als Innovationsträger im späten Mittelalter. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550). Berlin 2002, S. 409–443, hier S. 438 f., der darauf verweist, dass in kleineren Städten wohl nur selten Universitätsbesucher in den Kanzleien eingestellt worden sind. Honemann, Die Stadtschreiber, S. 324 f. Zahnd sieht die Kanzleiausbildung ähnlich einer Berufslehre (Urs M. Zahnd: Studium und Kanzlei. Der Bildungsweg von Stadt- und Ratsschreibern in eidgenössischen Städten des ausgehenden Mittelalters. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 453–476, hier S. 464–470). Über die Ulmer Kanzleischule berichtete Felix Fabri († 1502) (Deigendesch, Schreiber, S. 279). Sander, Die reichsstädtische Haushaltung, S. 119. Augsburg hatte im 16., beginnenden 17. Jh. über ein Dutzend bei einer Einwohnerzahl von ca. 45.000 (Levinson, Gemainer Statt Diener, S. 58). Sander, Die reichsstädtische Haushaltung, S. 119–122. Zu einem vierteljährlich ausgezahlten Jahresgehalt kamen Trinkgelder und sonstige Zuwendungen des Rats hinzu; außerdem ein Teil der Gebühren, die für Beurkundungen fällig wurden. Zusatzzahlungen neben dem festgesetzten Gehalt können für alle Gehaltsstufen angenommen werden. Der Losungsschreiber bspw. erhielt vierteljährlich 21 Gulden und an ordentlichen Nebenbezüge jährlich 51 Gulden (Ebd., S. 124). Dirlmeier berechnet das Gehalt des Losungsschreibers im Jahr 1432 mit allen Nebenbezügen auf 304,5 lb hlr. Ulf Dirlmeier: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhunderts). Heidelberg 1978, S. 83. Besonders für Stadtschreiber war das Dienstamt mit Privilegien verbunden, wie die Befreiung von Steuern, Abgaben, Wach- und Wehrdiensten. Das Stadtschreiberamt brachte manchmal den Zugang zum Patriziat mit sich, zumindest aber familiäre Kontakte; z. T. sind Angleichungsversuche in Kleidung und Lebensführung erkennbar (Frieß, Einfluß der Stadtschreiber, S. 102). Schmid Keeling geht für die Eidgenössischen Städte des Spätmittelalters (einschließlich 16. Jahrhundert) ebenfalls davon aus, dass es für Personen mit mittleren Einkommen eine standesgemäße und finanzielle Verbesserung darstellte, ein städtisches Dienstamt zu bekleiden (Regula Schmid Keeling: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter. Zürich 2009, S. 224).

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im Gegensatz zu den Einnahmen beispielsweise aus dem Handwerk und Handel, unabhängig von Produktion und Marktgeschehen waren.22

Basler Schreiber Die Durchsicht der Stadt- und Ratsschreiber der Stadt Basel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt vor allem akademisch ausgebildete Juristen. In das Amt des Basler Stadtschreibers wurden zu dieser Zeit nur Universitätsbesucher bestallt.23 Ein Quereinstieg über das Handwerk war hier nicht mehr möglich.24 Die Stadtschreiber waren alle Mitglieder einer der Basler Herrenzünfte, waren auf Lebzeit eingestellt und hatten die Pflegschaft des Spitals inne.25 Die Ratsschreiber hingegen waren Pfleger von St. Jacob.26 Unter den Ratsschreibern fällt Emanuel Ryhiner auf, Mitglied der Zunft zu Gartnern. Diese Zunft hatte einen mittleren Rang unter den Basler Handwerkszünften. Die Mitglieder gehörten bis auf wohlhabendere Wirte und teilweise Seiler zu den ärmeren zünftischen Männern mit

22 Es gibt Hinweise darauf, dass für alte Stadtdiener Bezüge nach einer Pensionierung vorgesehen waren (Levinson, Gemainer Statt Diener, S. 61). 23 1569?–1584 Johann Friedrich Menzinger († 1584); 1584–1586 Adam Petri († 1586); 1586–1588 Christian Wurstisen († 1588); 1589–1593 Hippolit Colly († 1612); 1593–1603 Hans Rudolf Herzog († 1603) (Samuel Schüpbach-Guggenbühl: Schlüssel zur Macht. Verflechtungen und informelles Verhalten im Kleinen Rat zu Basel, 1570–1600. Bd. 2. Basel 2002, S. 42, 64 f., 75 f., 79 f. u. 82 f.). 24 Für Augsburg kann Ähnliches beobachtet werden (Rolf Kießling: Das gebildete Bürgertum und die kulturelle Zentralität Augsburgs im Spätmittelalter. In: Bernd Moeller u. a. (Hg.): Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 bis 1981. Göttingen 1983, S. 553–585, hier S. 564 f). Als Gegenbeispiel sei Georg Meurer, 1524–1548 Stadtschreiber in Memmingen, angeführt, der ohne Lateinschule und Studium das Stadtschreiberamt einer mittelgroßen Stadt innehatte. Er war allerdings einer der letzten in einer Kanzlei ausgebildeten Leiter einer städtischen Kanzlei (Frieß, Der Memminger Stadtschreiber). 25 Für Luzern kann der Befund bestätigt werden, hier rekrutierten sich im 15. Jh. die Stadtschreiber aus dem städtischen Patriziat (Wanner, Schreiber, S. 43). Burger konnte zahlreiche Stadtschreiber aus den Reihen des Zunftbürgertums nachweisen. In den Reichsstädten herrschte allerdings die Tendenz vor, dass die Schreiber aus dem Patriziat oder niederen Adel stammten (Burger, Die Südwestdeutschen Stadtschreiber, S. 42–52). 26 1553–1569? Johann Friedrich Menzinger († 1584) (1553–1569 Pfleger von St. Jacob; 1566–1584 Pfleger des Spitals); 1569–1582 Emanuel Ryhiner († 1582); 1584–1592? Hieronymus Menzinger († 1600). Für Johann Friedrich und Hieronymus Menzinger ist ein Universitätsstudium in Basel nachweisbar. Sie waren auch beide Mitglieder der Zunft zu Weinleuten. Für Johann Friedrich Menzinger war das Amt des Ratsschreibers auch nur Durchgangsstation, er wurde Stadtschreiber (ebd., S. 63–65, 144.).

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vergleichsweise geringem Ansehen.27 Ryhinger war vermutlich ein sozialer Aufsteiger, ob er auch eine Universität besucht hatte, kann nicht ausgeschlossen werden; auffällig ist die Zugehörigkeit zur Gartnernzunft aber allemal. Die Informationen zu den übrigen Schreiberämtern sind spärlich. In Samuel Schüpbach-Guggenbühls Liste der Mitglieder des Kleinen Rats sind lediglich zwei weitere städtische Schreiberämter fassbar: Das Amt des Oberschreibers im Spital und das Amt des Gerichtsschreibers; darüber hinaus ein Schreiber der Metzgerzunft. Über die Sammlung von Hans Füglister kommt noch das Amt des Sinnschreibers hinzu.28 Zwei Schlussfolgerungen sind aus dem Basler Material möglich: Die Ämter der städtischen Schreiber sind mit Ausnahme der Stadt- und Ratsschreiber in den Quellen wenig präsent und wurden vorwiegend von Männern besetzt, die nicht dem Kleinen Rat angehörten. Dass aber gerade für Handwerksmeister diese Dienstämter durchaus attraktiv sein konnten, zeigt das Beispiel des Basler Malermeisters und Chronisten Conrad Schnitt, der sich vergeblich um das Amt des Kornschreibers (1525) und des Kaufhausschreibers (1532) bewarb.29 In Konkurrenz um die Schreiberämter in Basel brachte das Schreiben einer Chronik im Gegensatz zum Universitätsbesuch keinen erkennbaren Vorteil. Allerdings waren zwei der Stadtschreiber Chronisten: Christian Wurstisen tat sich ebenso durch historiographische Tätigkeit im Vorfeld seiner Anstellung hervor wie Adam Petri.30 Ob ihre

27 Katharina Simon-Muscheid: Basler Handwerkszünfte im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische Konflikte. Bern u. a. 1988, S. 8, 230. 28 Oberschreiber im Spital waren 1597–1602 Hans Jakob Keller († 1603; Zunftmeister der Zunft zu Schlüssel) und 1578–1591 Hans Jacob Janns († 1618; Zunftmeister der Rebleute, war erst Unterschreiber im Spital 1570–78); für beide wurde kein Universitätsbesuch nachgewiesen (SchüpbachGuggenbühl, Schlüssel, S. 28 und 98). Gerichtsschreiber war 1570–1592 Samuel Uebelin († 1069, Zunft zu Weinleuten), der an der Basler Universität im Jahr 1558 immatrikuliert war (ebd., S. 74). Sinnschreiber waren der Hafengießer Hans Schaller († 1558), Zunftmeister der Zunft zu Hausgenossen (1531–1558) im Jahr 1521, und Hans Henrich Gebhart († 1544), Kürschner im Jahr 1540 (Hans Füglister: Handwerksregiment. Untersuchungen und Materialien zur sozialen und politischen Struktur der Stadt Basel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Basel 1981, S. 324 f.). Hier zeigt sich, dass sowohl Herrenzünftler als auch Handwerker diese Stelle bekommen konnten. Auf zunftinterne Schreiberämter weist das Beispiel des Metzgers Lienhard David d. Ä. (1530–1584) hin, der 1569 Schreiber der Metzger und 1579–84 Zunftmeister war (Schüpbach-Guggenbühl, Schlüssel, S. 152 f.). 29 Er konnte immerhin das Amt des Schaffners der Augustiner (1527–1535) besetzen. Als weiteres Beispiel ist Mathis Gebhart zu nennen, ein Mitglied der Zunft zu Gartnern, der sich zwischen 1506 und 1546 auf zehn Dienstämter bewarb und 1523–32 Vogt in Ramstein sowie 1540 und 1550 Weinsticher war (Füglister, Handwerksregiment, S. 368–389). Für Nürnberg thematisiert Irene Stahl: Die Meistersinger von Nürnberg. Archivalische Studien. Nürnberg 1982, S. 49, die erfolglosen Bewerbungen. 30 Richard Feller / Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Basel 2 1979, S. 217–222.

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historiographische Betätigung, ihre soziale Stellung oder Universitätskarriere den Ausschlag für den Erhalt der Stelle gab, lässt sich nicht mehr sagen. Auffällig ist, dass in Basel keiner der amtierenden Stadtschreiber des 16. Jahrhunderts historiographisch tätig war.31 Schmid Keeling, die diesen Befund für die gesamte Eidgenossenschaft bestätigt, geht davon aus, dass die Aufgaben eines Stadtschreibers keine umfangreichen historiographischen Studien erlaubten.32 In den städtischen Kanzleien entstanden jedoch chronikalische Einträge in Stadtbüchern. Diese können mit einer weiten Definition als Chroniken gewertet werden.33 Damit stehen Schmid Keelings Befund nur scheinbar die historiographischen Arbeiten von amtierenden Stadtschreibern des 15. und 16. Jahrhunderts wie Niklaus Rüsch († 1506) aus Mühlhausen, Liebhard Eghenvelder († 1455–1457) aus Preßburg und Konrad Peutinger († 1547) aus Augsburg entgegen.34 Die Frage danach, ob Stadtschreiber Chroniken schrieben, während sie das Amt innehatten, interessiert hier allerdings nur am Rande.35 Für die Fragestellung relevant sind historiographische Arbeiten, die, wie im Falle des Anfangsbeispiels, auf den Erhalt eines städtischen Schreiberamtes ausgerichtet waren.

Vom Handwerk zum Schreiberamt Sebastian Koppitz war der Sohn von Wolfgang Koppitz, einem reformierten Panzermacher. Sebastian selbst lernte das Handwerk seines Vaters und ist als Meistersinger belegt.36 1567 vollendete Koppitz eine Chronik, deren Prolog das Eingangszitat entnommen ist.37 Mit der Chronik wollte sich Koppitz für ein Schreiberamt empfehlen. Interessant ist, dass die Chronik nicht explizit dem Rat dediziert wurde.38 Der Prolog beginnt im Gegenteil sehr offen:

31 Ebd., S. 33–44; 197–226. 32 Schmid Keeling, Geschichte, S. 222 f. 33 Siehe Julia Bruch: Sammeln und auswählen, ordnen und deuten. Geschichte(n) schreibende Handwerker und ihre Chroniken im 15. und 16. Jahrhundert. Manuskript der Habilitationsschrift, Kapitel 1.4. 34 Frieß, Einfluß der Stadtschreiber, S. 120; Honemann, Die Stadtschreiber, S. 340–353; bei beiden noch weitere Beispiele. 35 Zu den Amtsleuten und Schulmeistern als Träger von städtischer Geschichtsschreibung siehe die kommentierte Zusammenstellung bei Gregor Rohmann: Eines Erbaren Raths gehorsamer amptman. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts. Augsburg 2001, S. 41–50 sowie die dortigen Literaturverweise. 36 Stahl, Die Meistersinger, S. 211; Stahl, Nürnberger Handwerkerchroniken, S. 207. Zwischen 1557 und 1560 ist er regelmäßig in der Singschule nachweisbar. 37 Koppitz, Chronik. 38 Es sind allerdings aus anderen Chroniken explizite Dedikationsformeln überliefert, die deutlich machen, dass die Schreiber dem Rat ihre Dienste anboten (Schmid Keeling, Geschichte, S. 225).

Geschichte schreibende Handwerker in Konkurrenz um städtische Ämter

Zũm leser. Ich Sebastian Koppitz, bũrger vnd hochzeitlader jn Nürmberg, thũe kûndt vnd zû wissen allen liebhaberen, schrieftten oder jnn trûcktt, alte verloffne warhafte geschichtten zû lessen oder an zû hören.39

Ein weiterer Punkt des Prologs ist auffällig. Koppitz bezeichnete sich nicht etwa als Panzermacher, sondern als Hochzeitslader.40 Er betonte seine bestehende Verbindung zur Stadt und brachte seine bisherigen Verdienste und seine Loyalität ins Gedächtnis. Der Rat der Stadt hatte ihm bereits ein anspruchsvolles Amt überantwortet und er dadurch bewiesen, dass er für den städtischen Dienst tauglich war. Das Amt des Hochzeitsladers reichte ihm offenbar nicht aus. Er strebte im Gegenteil ein Schreiberamt an, für das er notfalls auch die Stadt verlassen würde: „vf dem landt, oder wo mich Gott hin berahtten“.41 Dass Koppitz das Amt eines Schreibers mit dem Amt des Hochzeitsladers in Personalunion innehaben konnte, ist Anbetracht des vergleichsweise hohen Einkommens von Schreibern und Hochzeitsladern nicht anzunehmen.42 Passte das Können eines Meistersingers geradezu zu den Amtspflichten eines Hochzeitsladers,43 so konnte sich ein Schreiber mit einem bereits selbstständig angefertigten Manuskript für ein Schreiberamt empfehlen. Hier zeigte Koppitz, dass er in der Lage war, ein Schriftstück zu konzipieren; er konnte ein Manuskript anlegen, Lagen und Seitenlayout gestalten und ein Register einrichten.44 Koppitz’ Chronik liegt als Reinschrift vor,45 er selbst machte auf sein Bemühen um klare Schrift

39 Koppitz, Chronik, fol. 2r. 40 Auf dem Deckblatt steht: „Cronica 1567 Sebastian Koppitz, bŭrger únd hochzeitlader alhie zu Nürnberg“ (Koppitz, Chronik, fol. 1r). Der Prolog endet folgendermaßen: „E. christlichen lieb dienstwilliger Sebastian Koppitz Hochzeitlad(er)“ (fol. 6r). Ersichtlich wird sein Handwerk ausschließlich in ergänzenden Quellen etwa zur Nürnberger Meistersangschule (Stahl, Die Meistersinger, S. 211). 41 Koppitz, Chronik, fol. 5v. Auch der Berner Chronist Johannes Lenz († 1541) wurde, nachdem er eine gereimte Schwabenkriegschronik 1499/1500 verfasst hatte, noch im Jahr 1500 zum Schulmeister und Stadtschreiber der Berner Munizipalstadt Brugg ernannt (Schmid Keeling, Geschichte, S. 226). 42 Zur Vergütung der Nürnberger Schreiber siehe Anm. 20; von der Besoldung der Hochzeitslader zeugen die hohen Ablösesummen oder lebenslänglichen Renten, die ein Hochzeitslader mit seinem Nachfolger vereinbarte (Stahl, Die Meistersinger, S. 49). 43 Ein Hochzeitslader führte ein Register der Hochzeiten auf dem Rathaus mit „Kurzcharakterisierungen der Brautleute“ (Rohmann, Eines Erbaren Raths gehorsamer amptman, S. 42.) 44 Zu den Aussagemöglichkeiten des Manuskripts über die Schreiber siehe Julia Bruch: aber es haben fil leÿtt drin glesen, das es sich schier will anfahen zerreÿssen, dan es ist nitt einbu͑nden gwesen. Zur Materialität städtischer Chroniken des 16. Jh.s. In: Sabine von Heusinger / Susanne Wittekind (Hg.): Materielle Kultur der Stadt. Wien u. a. 2019, S. 137–160. 45 Die von Stahl angemerkten Störungen der Reinschrift: fol. 85r, 106v–107r und 185v–187r, die sie als unredigierte Notizen bezeichnet und als nachträglich beigebunden interpretiert (Stahl, Nürnberger Handwerkerchroniken, S. 206), müssten noch einmal überprüft werden. Der Inhalt von

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und richtige Jahreszahlen aufmerksam.46 Er zeigte, dass er mehrere Ausstellungsschriften sowie eine leserliche, flüssige und gleichmäßige Kursive beherrschte.47 Außerdem betonte er seine ordentliche Quellenarbeit, die Auswahl zuverlässiger Vorlagen und so die Zusammenstellung von korrekten Informationen, die von seinem politischen Verständnis der städtischen Geschichte zeugen sollten.48 Hatte bei Koppitz möglicherweise der frühe Tod eine Anstellung verhindert,49 lassen sich mehrere Fälle beschreiben, bei denen eine Anstellung nach erfolgter Chronistentätigkeit sich einstellte.50 So kann der Dortmunder Schmied und Gerichtsschreiber Dietrich Westhoff (1509–1551/2) ergänzt werden, der seine Chronik wahrscheinlich bereits als Handwerker begann, seine umfangreiche Reinschrift allerdings erst als Gerichtsschreiber in Angriff nahm. Dass die Bekanntheit als Geschichtsschreiber innerhalb der Dortmunder historiographischen „Szene“ den Ausschlag für seine Einstellung gab, liegt nahe, kann freilich nur vermutet werden.51

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fol. 106v–107r jedenfalls ist ein Exkurs über das Stift zu Bamberg (mit Überschrift auf fol. 106r). Aufgrund der mit der COVID-19-Pandemie verbundenen Reisebeschränkungen war es mir nicht möglich, die Handschrift einzusehen. Mir lag ein Digitalisat vor. Koppitz, Chronik, fol. 4r–5r: „Aûch soll sich der lesser alhie nitt jrren lassen. daß sich dieses bûch ansehen las, sam hetten zwen oder dreÿ davon geschrieb(en) vnd ver aines gedûncken nach nitt eine handt schriftt, der wisse. kürtzlich daß ich vornen benanther schrieber solch bûch mit aigner handt dûrch aûß beschrieb(en) alleine daß jch wie vornen gemeltt habe daũo(n) eÿllen müessen […] vf daß vleyssigst(e) mitt ainer lesenden handt schrieft aûch alle zieffern zall, die der gemain (am Rand ergänzt): mahn sonst nit verstehen könde, jn volkûnnentliche wortt vnd teüttschen bûchstaben beschrieben worden. Aûch alle jar zall, so jtztt hin vnd wider sten. Nach orûnng aûf ein and(er) getzogen, vnd bestettett werden“. Etwa: Koppitz, Chronik, fol. 1r–2v. Stahl spricht in diesem Zusammenhang von einer „Arbeitsprobe“ (Ebd., S. 211.). Koppitz. Chronik, fol. 2v–4r: „dz alle die hernach geschrieben geschichtten, nitt jn ainem bûch oder cronicka geschrieben gewest, sûnder auß dreÿen warhaftten croniken zû samen gezogen […] dan die erste cronica […] jst aines herren jm rahtt gewesen, […] die ander cronica […] jst deß Albrecht Brûnnerß obßmessers alhie gewest […] Nach dem selben hab jch angetzaigett, waß jch schreib(en) dieser croniken gedacht vnd jn meinem leben (.so lang jch mein verstandt gehabtt.) jn gedechtig vnd sich begeben hatt, von ob bemeltem Merckischen krieg, der sich angefangen anno 1552. jar bieß vf daß 1567. jar, allerlej sachen sich zû tragende. die dritte cronica so mir von dem E. herren maigister Hieronimůs Wilhelm mathematicûs zû Marckprait vbersundt, habe jch wider mitt der jar zall zû rück laûfen, vnd abernents 67 jar anst en lassen vnd disser drittenn croniken geschicht aûch beschreiben müesen, damit meintlich meinen vleis (.doch anne rûhen gemeltt.) spürenn mög.“ Koppitz starb 1571 mit 35 Jahren (Stahl, Nürnberger Handwerkerchroniken, S. 211.). Melchio Russ d. J. erlangte eine Vogtei, Diebold Schilling stieg innerhalb der Kanzlei auf, der Zusammenhang zwischen an den Rat dedizierter Chronik und Anstellung lässt sich nur begründet annehmen, nicht beweisen (Schmid Keeling, Geschichte, S. 226). Joseph Hansen: Einleitung. In: Karl Hegel / Karl Lambrecht (Hg.): Die Chroniken der westfälischen und niederrheinischen Städte, Bd. 1: Dortmund. Neuss 1887, S. 149–176.

Geschichte schreibende Handwerker in Konkurrenz um städtische Ämter

Möglicherweise half dem 1430 geborenen Nürnberger Bierbrauer Heinrich Deichsler seine umfangreiche Tätigkeit als Chronist, das städtische Amt eines Bettelherren zu erlangen.52 Der Bettelherr hatte die Aufsicht über die städtischen Bettler, was eigentlich nur (patrizischen) Ratsherren zustand. Dabei ging es nicht darum, dass der Bierbrauer gut schreiben konnte, er lieferte in diesem Sinne keine Arbeitsprobe ab. Durch seine Tätigkeit als Chronist war Deichsler allerdings in Nürnberg zumindest im Zirkel historisch Interessierter, der auch Ratsherren umfasste, bekannt.

Fazit und Ausblick Waren die höchsten Schreiberämter (Stadt- und Ratsschreiber) in den größeren Städten bereits im 15. und 16. Jahrhundert Universitätsbesuchern vorbehalten, boten diese Ämter in kleineren und Kleinststädten sowie die spezialisierten Schreiberämter wie Gerichtsschreiber oder Kaufhausschreiber in den größeren Städten die Möglichkeit für nicht-akademisch gebildete, sondern gelernte Handwerker einen Quereinstieg in ein städtisches Dienstamt. Diese Schreiberämter waren begehrt; davon zeugen die zahlreichen erfolglosen Bewerbungen um die Ämter.53 Neben dem ökonomischen Vorteil (festes Gehalt und evtl. Fortzahlung im Alter), den ein solches Amt einbrachte, ist das soziale Prestige sicherlich nicht zu vernachlässigen. Handwerker versuchten mittels einer Arbeitsprobe in Form einer Chronik gegenüber Mitbewerbern einen Vorteil zu erlangen. Obwohl in den Chroniken das Anliegen konkret thematisiert wurde, waren die Bemühungen nicht immer erfolgreich. Ein Universitätsbesuch erschien jedoch als entscheidender Faktor, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen. Es konnte nur ein kleines Schlaglicht auf die Besetzungssituation von Schreiberämtern im 15. und 16. Jahrhundert geworfen werden, weitere Forschung wäre notwendig, um ein klareres Bild zu erhalten. Das Konzept der Konkurrenz um städtische Dienstämter zeigt sich zukünftig als eine Möglichkeit, von der funktionalen Unterteilung der städtischen Bevölkerung in Handel, Handwerk und Dienst loszukommen und die Dynamik zwischen diesen Berufen aufzuzeigen.

52 Zu Deichsler: Joachim Schneider: Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15. Jh.s. Wiesbaden 1991. Genauere Analysen zu den erwähnten Handwerkerchronisten Heinrich Deichsler, Conrad Schnitt und Dietrich Westhoff in meiner Habilitationsschrift (Bruch, Sammeln und auswählen, ordnen und deuten). 53 Siehe auch Stahl, Die Meistersinger, S. 49.

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Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg

Am „Ende des Mittelaltalters“ kam es zu einer ganzen Reihe von Innovationen und Erfindungen: Die Entwicklung von Schwarzpulver, die Produktion von Papier, die Mechanik der Räderuhr oder der Kompass veränderten die bekannte Welt seit dem 14., und dann vor allem im 15. Jahrhundert. Der Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist die Frage, wie Zünfte und Patriziat auf solche Innovationen reagierten: Wie wurde geklärt, ob ein neues Handwerk einer bestehenden Zunft beitreten musste – und wenn ja, welcher? Konkurrierten die Zünfte untereinander um neue Ideen und neue Produkte? Oder wurden einfach neue gewerbliche Zünfte gegründet, die sich dann im Wettbewerb um Ressourcen wie neue Zunftmitglieder, Ratssitze oder Trinkstubengenossen durchsetzen mussten? Bisher hat sich die Forschung mit dieser Frage kaum beschäftigt. Als exemplarischen Fall möchte ich Johannes Gutenberg vorstellen, der immer noch vielen als alleiniger Erfinder des Buchdrucks gilt, obwohl es dazu längst differenziertere Einschätzungen gibt. Damit sind wir schon mitten in der Problematik der Forschung zu Gutenberg: Er gilt den Inkunabelforschern – und sie sind es, die sich in erster Linie mit ihm beschäftigen – als genialer Erfinder, aber auf keinen Fall als Handwerker, der mit seinen neuen Produkten mit anderen im Wettbewerb stand. Gleiches gilt für die Stadtgeschichtsforschung zu Mainz und Straßburg, die ihn ebenfalls auf keinen Fall bei den Zunftgenossen verortet, sondern als „großen Sohn“ ihrer Stadt wahrnehmen will.1 Schon 1983 hat der Wirtschaftshistoriker Wolfgang von Stromer in einem nur wenige Seiten umfassenden Beitrag bissig darauf hingewiesen, dass seit Karl Schorbachs Beiträgen aus dem Jahr 1900 das ganze 20. Jahrhundert über kaum mehr Neues über Gutenberg entdeckt wurde.2

1 Vgl. dazu exemplarisch jüngst Wolfgang Schmitz: Grundriss der Inkunabelkunde. Das gedruckte Buch im Zeitalter des Medienwechsels. Stuttgart 2018, z. B. S. 114–117, 127–130, oder Maren Gottschalk: Johannes Gutenberg: Mann des Jahrtausends. Köln 2018; Frédéric Barbier: Gutenberg: 1468–2018. Strasbourg 2018. 2 Wolfgang von Stromer: Hans Friedel von Seckingen, der Bankier der Straßburger GutenbergGesellschaften. In: Gutenberg-Jahrbuch 58 (1983), S. 45–48; Ders.: Zur „ars artificialiter scribendi“ und weiteren „künsten“ der Waldfoghel aus Prag und Girard Ferroses aus Trier, Nürnberg 1433–34 und Avignon 1444–46. In: Technikgeschichte 49 (1982) S. 279–289; Ders.: Fränkische Buchkultur zur Gutenberg-Zeit. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52 (1992), S. 349–366. Vgl. auch Anm. 3.

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Auch die drängenden Forschungslücken zu Gutenbergs Zeitgenossen, die ebenfalls mit Lettern experimentieren, so etwa Conrad Förster aus Nürnberg, Prokop Waldvogel/Waldfoghel aus Prag oder Girard Ferrose(s) aus Trier, wurden vor lauter Verehrung von Gutenberg bis in die 1980er Jahre, so von Stromer, nicht geschlossen. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Gutenberg wurde um 1400 in Mainz geboren, sein Vater war Friele (oder Friedrich) Gensfleisch zur Laden, der seit 1386 in zweiter Ehe mit Else Wirich verheiratet war.3 Seit 1372 hatte der Vater das Mainzer Bürgerrecht inne und war vermutlich im Tuchgeschäft tätig.4 Ab 1434 hielt Johannes Gutenberg sich in Straßburg auf, wo er bis 1444 blieb. Ab 1448 ist er wieder in seiner Heimatstadt Mainz belegt, wo er in den ersten Wochen des Jahres 1468 verstarb. Im Folgenden werde ich seine Straßburger Jahre besonders in den Blick nehmen, da sie am aufschlussreichsten in Bezug auf sein „Handwerk“ und seine Zunftzugehörigkeit sind.

Gutenberg in Straßburg Gutenberg ist in den Jahren zwischen 1434 und 1444 in den Straßburger Quellen fassbar. Im Spätmittelalter zählte Straßburg zu den Großstädten im Reich und war ein zentraler Handelsknotenpunkt für Waren aus Italien und Frankreich. Im Umfeld des Hundertjährigen Krieges fürchteten die Straßburger ab den 1440er Jahren, marodierende Söldnertruppen, die so genannten Armagnaken, könnten in die Stadt einfallen. Deshalb hielt der Straßburger Rat in Listen fest, wer wie viele Pferde für die Verteidigung der Stadt bereitstellen musste. Da in Straßburg das Finanzarchiv im Jahr 1745 beim Abbruch des Pfennigturms zerstört wurde, gelten

3 Zum Folgenden bietet den besten Überblick Sabrina Wagner: Bekannter Unbekannter – Johannes Gutenberg. In: Gutenberg. aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, hg. von der Stadt Mainz. Mainz 2000, S. 114–143, hier bes. S. 114–128; Severin Corsten: Wann wurde Gutenberg geboren? In: Ders.: Untersuchungen zum Buch- und Bibliothekswesen. Frankfurt am Main 1988, S. 33–39 (= Gutenberg-Jahrbuch 1966, S. 70–73). Siehe zuletzt Heidrun Ochs: Gutenberg und sine frunde. Studien zu patrizischen Familien im spätmittelalterlichen Mainz. Stuttgart 2014, S. 69 f. und Anhang G 15, S. 423 f., und G 37, S. 439–441. 4 Karl Schorbach: Die urkundlichen Nachrichten über Johann Gutenberg. In: Otto Hartwig (Hg.): Festschrift zum fünfhundertjährigen Geburtstage von Johann Gutenberg. Mainz 1900, S. 163–319, hier Nr. II, S. 167–169. 1427/28 war der Vater sicher verstorben. Unklar ist, ob die immer wieder abgeschriebene Behauptung, Gutenbergs Vater sei Münzerhausgenosse und zeitweilig Rechenmeister der Stadt gewesen, stimmt; Wagner, Bekannter Unbekannter, S. 116, die insgesamt einen sehr guten Überblick über Forschung und Quellen hat, erwähnt davon gar nichts. Mit Blick auf seine Herkunftsfamilie fasst Ochs, Gutenberg, S. 253, zusammen, dass Gutenberg eine Sonderstellung zukommt, da er nicht den „typischen Aktivitäten der Mainzer Patrizier, auch nicht seiner Familie“ nachging. „Er widmete sich hauptsächlich seinen Unternehmungen.“

Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg

heute diese mittelalterlichen Listen als Ersatz für die verlorenen Steuerlisten, denn die Anzahl der genannten Pferde und Hengste entsprach dem zu versteuernden Einkommen. Für Gutenberg ergibt sich folgender Befund: Er stellte ein Pferd und gehörte damit zu den vermögenden, aber nicht wirklich reichen Bewohnern. Um 1443 steht er als Constofler in der Liste; das ist der Straßburger Begriff für einen Patrizier.5 Schon ein Jahr später, 1444, finden wir ihn jedoch überraschenderweise in einem ganz anderen Kontext. Diesmal steht er in der Pferdestellungsliste der Goldschmiedezunft: Er ist also einer Zunft beigetreten.6 Die Überschrift weist ihn als Zunftgesellen aus, der nicht die ganze Zunft innehatte, d. h. er hatte nur ein eingeschränktes Zunftrecht erworben.7 Vermutlich hatte sein Mit-Gesellschafter Andres Heilmann dieselbe Zunft gewählt: ein Andres Heilmann findet sich direkt nach Gutenbergs Namen auf der Liste der Goldschmiedezunft. Ebenfalls einen Andres Heilmann finden wir aber auch im Verzeichnis der Tucher, diesmal als Vollmitglied.8 Dies zeigt die Problematik, einen lokal verbreiteten Familiennamen zweifelsfrei einem bestimmten Individuum zuzuordnen. Theoretisch könnte Andres Heilmann auch zwei Zünften angehört haben. Da in Straßburg aber Doppelzünftigkeit nicht vorkam, muss diese Deutung ausgeschlossen werden. Die Behauptung Schorbachs, Andres Heilmann, der Mit-Gesellschafter Gutenbergs, sei zu diesem Zeitpunkt der Besitzer der ersten Straßburger Papiermühle gewesen, geistert bis heute durch die Literatur. Seit den 1960er Jahren ist aber klar, dass die erste Straßburger Papiermüh-

5 Archives de la Ville et de l’Eurométropole de Strasbourg (= AVES), AA 194, fol. 285r; vgl. zum Folgenden Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, Nr. XV und XVI; Schorbach, S. 243, argumentiert, Gutenberg sei kein vollberechtigter Constofler gewesen, da er am Ende der Liste steht. Diese Argumentation überzeugt nicht und auch sein Verweis auf den Eintrag Gutenbergs im Helbling-Zollbuch von 1442, wo er als „Noch-Constolfer“ (wobei „noch“ nach bedeutet) gelistet wird, kann nicht ohne Weiteres auf 1444 übertragen werden. 6 AVES, AA 195, fol. 128r und hier fol. 129r: „Item disse noch gesriben sint zuo gesellen, die nuit gantz zunft hant“. 7 AVES, AA 195, fol. 128v; siehe dazu Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, S. 245. Außerdem muss bedacht werden, dass der Gesellschaftervertrag 1443 ausgelaufen war. Selbst Sabine Wagner, die in ihrem Artikel „Bekannter Ungekannter“ gut informiert ist, stört sich in ihrem Katalog-Beitrag zu dieser Quelle (Liste der Goldschmiede) nicht weiter an diesem (angeblichen) Wechsel: „Dass Gutenberg fast zeitgleich als Nachconstofler und als Halbmitglied einer Zunft geführt wird, war nicht ungewöhnlich (…)“, siehe: Gutenberg. aventur und kunst, Katalogeintrag GM 55, S. 305. 8 AVES, AA 195, fol. 124r, unter der Überschrift „duocher“ werden zuerst die Schöffen genannt, dann folgt der Eintrag: „dis sint stubgesellen, die fur volle dienent: Item Andres Heilman“. Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, S. 245, erwähnt diesen Eintrag, aber ohne genaue Folioangabe.

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le erst 1445 entstanden war, also erst nach dem Weggang von Gutenberg aus der Stadt, und die Forschung von Sandra Schultz hat diesen Befund jüngst bestätigt.9 Gutenberg war also 1444 nicht länger Patrizier, sondern Zunftgenosse, denn er konnte nur einer der beiden sozialen Gruppen angehören.10 Eine Zunftzugehörigkeit hatte in Straßburg den Vorteil, Zugang zum höchsten politischen Amt zu ermöglichen. Davon aber war Gutenberg mit seinem eingeschränkten Zunftrecht ausgeschlossen und auch in seinem weiteren Leben zeigte er weder in Straßburg noch in Mainz Interesse an politischen Ämtern. Vermutlich erwarb er auch nie ein volles Bürgerrecht in Straßburg: Bis ins 16. Jahrhundert hinein gelang es den Städten nicht, ihre Forderung durchzusetzen, dass dem Kauf eines Zunftrechts der Erwerb des Bürgerrechts vorangehen sollte.11 Es muss offenbleiben, was Gutenbergs Beweggründe waren, bei den Goldschmieden einzutreten. Wir wissen auch nicht, ob er jemals zur Verteidigung der Stadt angetreten war, sei es auf Seiten der Patrizier oder Zünfte.12 Spannend ist aber sein Wechsel in die Zunft 1444. Da er danach nie wieder in einer Zunft auftaucht, können wir davon ausgehen, dass er später wieder zu den Patriziern wechselte. Dies war auf jeden Fall in seinem späteren Leben in Mainz der Fall. Wie wir am Beispiel von Gutenberg gesehen haben, konnten Drucker bzw. deren Vorläufer als Metallhandwerker Aufnahme in der Zunft der Goldschmiede finden. Er war kein Einzelfall, wie spätere Straßburger Quellen belegen. Im „Dritten Buch der Goldschmiede“, das 1472 angelegt wurde und Nachträge bis 1539 umfasst, wird gleich im ersten Absatz der Zunftkauf geregelt.13 Der Sammelzunft der Goldschmiede gehörten 1472 demnach Schilter, Maler, Glaser, Bildhauer, Armbruster, Goldschläger sowie die namengebenden Goldschmiede an, so zählt der

9 Sandra Schultz: Papierherstellung im deutschen Südwesten. Ein neues Gewerbe im späten Mittelalter. Berlin 2018, S. 247–249, hat auch die Forschungsgeschichte zur Frage der ersten Straßburger Papiermühle aufgearbeitet. 10 Sabine von Heusinger: Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg. Stuttgart 2009, S. 186–188 u. 266–274. 11 Vgl. Eberhard Isenmann: Bürgerrecht und Bürgeraufnahme in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des Alten Reiches (1250–1550). Berlin 2002, S. 203–249, hier S. 238. 12 Hier stimme ich mit Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, S. 245, überein. 13 Meyer, Hans: Die Strassburger Goldschmiedezunft von ihrem Entstehen bis 1681. Leipzig 1881, S. 51–68 (= Nr. 15), Absatz 1, regelt in einem Atemzug den Kauf von „zunfft und stubrecht“, das demnach in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht mehr getrennt gekauft werden konnte. Voraussetzungen sind mindestens das Schultheißenbürgerrecht (wenn das volle Bürgerrecht nicht vorhanden war), der Besitz eines Vollharnischs und der Schwur eines Eides. Zu den Randglossen siehe ebd., S. 52, Anm. 1 und 3.

Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg

Prolog des Buches die beteiligten gewerblichen Zünfte auf. Von besonderem Interesse ist die Randglosse, die später bei dieser Aufzählung hinzugefügt wurde: „und die sich der truockerig gebruochen“ – und diejenigen, die das Druckhandwerk ausüben. Bei dem folgenden Artikel 1 werden die beteiligten Handwerke noch einmal genannt, hier wurde am Rand ergänzt: „oder truocker, buochbinder und formenschnyder“ – hier wurde also zusätzlich zwischen Druckern, Buchbindern und Typengießern unterschieden. Diese Ergänzungen finden sich mehrfach im „Dritten Buch der Goldschmiede“. Im „Vierten Buch der Goldschmiede“, das 1542 angelegt wurde, stehen die Buchdrucker schließlich ganz selbstverständlich in der Liste der Handwerke, die zur Sammelzunft gehören.14 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die frühen Buchdrucker Wahlmöglichkeiten hatten: Gutenberg nutzte sie für sich aus, indem er vom Patriziat zu den Zünften und zurück wechselte. Auch noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts stand es den Buchdruckern frei, ein volles oder eingeschränktes Zunftrecht zu kaufen. Dies zeigt, dass die Zünfte – und mit ihnen die städtische Obrigkeit – diesen neuen Handwerkern so weit wie möglich entgegenkommen wollten. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie um die neue Technologie und deren Vertreter konkurrierten. Gleichzeitig sind diese Quellen vom Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts ein Beleg dafür, dass wir eine wachsende funktionale Differenzierung im Bereich des Buchdrucks beobachten können.

Konkurrenz um Wissen und neue Produkte Bei der Entstehung einer neuen Technologie drängt sich die Frage nach dem Erwerb von Vorkenntnissen auf: Wo erwarb Gutenberg seine Fähigkeiten und Kenntnisse, die er in seinem späteren Leben so erfolgreich einsetzte? Das wichtigste Ergebnis lautet: Wir wissen es nicht, vieles liegt komplett im Dunkeln. Dies beginnt schon mit seiner Ausbildung, zu der es keine Quellenüberlieferung gibt. Vermutlich hat er in seiner Jugend in einer städtischen Schule in Mainz Latein gelernt. Zudem muss er metallurgische Kenntnisse erworben haben, sonst hätte er im Laufe seines Lebens weder Gießinstrumente noch bewegliche Lettern entwickeln können. Ob er diese Kenntnisse in Mainz durch persönliche Bekanntschaft oder eventuell Verwandtschaft mit den Münzerhausgenossen erworben haben mag, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis.15 Wiederholt gab es die Vermutung, er habe in seiner Jugend eine Goldschmiedelehre absolviert, vielleicht sei sogar sein Vater Friele selbst 14 Meyer, Die Strassburger Goldschmiedezunft, S. 94–110 (= Nr. 29), hier S. 95. 15 Zum Folgenden siehe zusammenfassend Wagner, Bekannter Unbekannter, bes. S. 119 f.; sie gibt auch zu bedenken, dass Gutenbergs Vater Friele eine ablehnende Haltung gegenüber den Mainzer Zünften eingenommen hatte; auch dies spräche m. E. gegen eine eigene Zunftzughörigkeit. Laut

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Goldschmied gewesen.16 Dagegen spricht, dass es dafür keinen einzigen Beleg gibt, aber noch viel stärker wiegt das Argument, dass Gutenberg später immer wieder Goldschmiede mit Gravier- und Stempelschneidearbeiten beauftragte, die er für seine eigenen Tätigkeiten benötigte. Diese äußerst kostspieligen Arbeiten hätte er sicher selbst ausgeführt, wenn er denn eine entsprechende Ausbildung genossen und damit über einschlägige handwerkliche Kenntnisse verfügt hätte. Auch aus seiner Zugehörigkeit zur Sammelzunft der Goldschmiede können wir keineswegs schließen, dass er gelernter Goldschmied war.17 Im Vergleich mit anderen Frühdruckern fällt auf, dass sie oft eine Ausbildung an einer Universität genossen hatten.18 Deshalb gab es die Vermutung, Johannes Gutenberg sei mit dem „Johannes de Alta Villa“ (den man mit Johannes aus Eltville übersetzen kann) identisch, der sich in den Matrikelbüchern der Universität Erfurt für das Jahr 1418 finden lässt. Aber auch eine Universitätsausbildung lässt sich für Gutenberg nicht sicher nachweisen und muss deshalb im Bereich des Spekulativen bleiben.19 Gutenberg hatte zudem mit Andres Dritzehn, Andres Heilmann und Hans Riffe eine Finanzierungsgesellschaft gegründet, um ein neues technisches Verfahren vorfinanzieren zu können. Als sein Mitgesellschafter Andres Dritzehn 1439 verstarb, klagten dessen Brüder auf Herausgabe des Kapitals oder Aufnahme in die Gesellschaft. Die Zeugenaussagen und das Urteil des Straßburger Rats sind in Abschrift

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Ochs, Gutenberg, Anhang G 15, S. 423 f., kann nur als gesichert gelten, dass der Vater von Gutenberg 1410/11 Rechenmeister war. Ochs, Gutenberg, S. 119 mit Anm. 306, schließt sich den Ergebnissen von Bechtel an, obwohl „er die Goldschmiedekunst beherrschte, war er offenbar nicht als Goldschmied tätig.“ Vermutlich hat Friedrich-Adolf Schmidt-Künsemüller diese Idee in die Welt gesetzt, denn er schreibt, ohne irgendwelche Belege zu nennen (es gibt ja auch keine): „Gutenberg, der aurifaber, war seit früher Jugend mit allen Arbeiten und Aufgaben vertraut, die das Metallgewerbe den Zunftgenossen stellte, und verfügte offenbar über lange und gründliche Erfahrungen, ist es doch anders nicht zu verstehen, wie er sonst in solch praktischen Dingen mit sichtbarem und anerkanntem Erfolg anderen Unterricht hätte erteilen können. Wo immer wir von Gutenberg hören, ist sein Tun handwerklichen Dingen zugewandt, und zweifellos war er selbst mit den technischen Handgriffen und Werkzeugen innigst vertraut“, so Friedrich-Adolf Schmidt-Künsemüller: Die Erfindung des Buchdruckes als technisches Phänomen. Mainz 1951, S. 24. Z. B. Elias Elye / Helias Helye, der 1422–1425 in Heidelberg studierte. Siehe Helene Büchler Mattmann: Art. Elias Elye. In: Historisches Lexikon der Schweiz, URL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/ 012687/2004-08-30/ (16.12.2020); oder der Mathematiker und Drucker Regiomontanus, der vermutlich in Leipzig und Wien studierte, dazu Menso Folkerts / Andreas Kühne: Art. Regiomontanus, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 270–271 [Online-Version], URL: https://www. deutsche-biographie.de/pnd118641913.html#ndbcontent (10.07.2022). Severin Corsten: Hat Gutenberg an der Erfurter Universität studiert? In: Gutenberg-Jahrbuch 1983, S. 159–162; ihm folgt auch Wagner, Bekannter Unbekannter, S. 118 f.

Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg

erhalten.20 Gutenberg gab zu Protokoll, Andres Dritzehn habe sich vor mehreren Jahren an ihn gewandt, um „ettlich kunst von im zu leren“. Auf seine Bitte hin habe er Dritzehn beigebracht, Steine zu polieren („stein bollieren“).21 Hier drängt sich die Frage auf: Wo hatte Gutenberg gelernt, Edelsteine oder Halbedelsteine zu polieren? Diese wurden nicht nur für Schmuckstücke, sondern auch zur Verzierung von Reliquienschreinen oder Bucheinbänden benutzt. Und warum durfte er anscheinend diese Kenntnis an einen Lehrling weitergeben? Im Zunftwesen seiner Zeit wäre ihm eine Ausbildung von Lehrlingen nur erlaubt gewesen, wenn er selbst die Meisterwürde innegehabt hätte. Auch ich weiß aus dem Blickwinkel der Zunftforschung keine Antwort auf diese Fragen, die in der bisherigen Gutenberg-Forschung stillschweigend ignoriert wurden.22 Ebenfalls ist offen, um welche „Kunst“ es sich 1439 gehandelt haben könnte, die Gutenberg an Dritzehn weitergab. Wenig überzeugend ist die alte These, Gutenberg habe bereits den Buchdruck praktiziert – aus dieser frühen Zeit ist kein einziges Druckwerk überliefert.23 Naheliegender ist es, dass sich Gutenberg in einer Experimentierphase befand und einzelne Arbeitsschritte, die später zu seiner Gesamterfindung nötig waren, ausgetestet und weiterentwickelt hat. Die Brüder von Andres Dritzehn als dessen Erben beklagten sich übrigens

20 Ediert bei Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, Nr. VI, S. 206–209. Kurt Köster, Gutenberg in Straßburg. Das Aachenspiegel-Unternehmen u. die unbekannte ’afentur und kunst’. Mainz 1973, dem wir die absolut überzeugende Einordnung der Spiegelproduktion von Gutenberg zu verdanken haben, hat leider auch die Idee in die Welt gesetzt, Andres Dritzehn sei mit „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ (ebd., S. 17) an der Pest verstorben. Dazu ist mir bisher kein Quellenbeleg bekannt. 21 Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, hier S. 207: „Dann Andres Dryzehen hette sich vor ettlichen jaren zu im gefüget vnd vnderstanden, ettlich kunst von im zu leren vnd zu begriffen. Desz hett er in nu von siner bitt wegen geleret, stein bollieren, das er auch zu den ziten wol genossen hette.“ 22 Ohne weitere Reflexion, wieso Gutenberg jemandem die Steinschleiferei hätte beibringen können, z. B. Köster, Gutenberg in Straßburg, S. 11; oder Wolfgang Schmitz: Gutenberg und die Ausbreitung des Buchdrucks zu seinen Lebzeiten. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 164 (2001), S. 18–33, der anscheinend ohne Kenntnis der Zunftstrukturen mutmaßt (S. 19): „Das war offenbar eine Art Lehre und belegt, daß Gutenberg über entsprechende Fertigkeiten verfügt haben muß.“ 23 Karl Schorbach: Strassburgs Anteil an der Erfindung der Buchdruckerkunst. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 7 46 (1892), S. 577–655, hier S. 645, äußerte diese These als eine denkbare Möglichkeit, denn „formae/Formen“ hätten auch Matrizen oder Lettern bezeichnen können. Schmitz, Gutenberg und die Ausbreitung des Buchdrucks, bringt diese alte These 2001 wieder in Umlauf, ohne neue Belege zu nennen: „Wir bemerkten eingangs, daß Gutenberg offenbar schon in Straßburg mit dem Buchdruck experimentierte. Wenn wirklich schon eine funktionsfähige Werkstatt in Straßburg existiert hatte, so fand sie doch nach Gutenbergs Weggang keine Fortsetzung“ (S. 29 f.) und hält dann selbst fest: „Als Erstdrucker von Straßburg gilt Johann Mentelin“ (ebd.).

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vor dem Rat, dass Gutenberg weiterhin „ettliche kunst“ vor ihnen verberge.24 In einer Zeit ohne Patentrecht, das Erfindungen schützte, war dieses Vorgehen bei Innovationen notwendig und Gutenberg handelte seiner Zeit gemäß, um seine Ideen und Entdeckungen vor möglichen Konkurrenten zu schützen. Mit den Prozessakten und den Pferdestellungslisten aus dem Jahr 1444 brechen die Quellen zu Gutenberg in Straßburg ab. Zwischen 1444 und 1448 wissen wir nicht, wo er sich aufgehalten hat.25 Erst ab dem 17. Oktober 1448 kann er sicher in Mainz nachgewiesen werden, als er sich von seinem Verwandten Arnold Gelthuss 150 Gulden lieh.26 Nach 1450 druckte er die 42-zeilige Bibel. In dieser Zeit stieg Johann Fust als Geschäftspartner in Mainz ein. Im Verlauf des Jahres 1454 muss es zu großen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden gekommen sein, die im November 1455 im sogenannten Helmaspergerschen Notariatsinstrument geklärt werden sollten.27 Schlussendlich gründete Fust mit Peter Schöffer eine eigene Werkstatt und brachte 1457 ein Psalterium heraus. Somit gab es in Mainz zwei konkurrierende Druckwerkstätten. In seinen letzten Lebensjahren gelang Gutenberg 1465 die Aufnahme ins Gesinde und Dienstpersonal des Erzbischofs von Mainz.28 Damit hatte er jährlich Anspruch auf 20 Malter Korn und zwei Fuder Wein, die ihm nach Mainz geliefert wurden und als Grundnahrungsmittel für eine Person ausreichend waren; viel wichtiger war aber der Zugewinn an Ansehen durch diese Verbindung zur erzbischöflichen Kurie. Der innovative Buchdrucker Gutenberg verstarb am 3. Februar 1468 in seiner Heimatstadt.

Fazit Johannes Gutenberg ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie seine Zeitgenossen mit einem Erfinder in den ersten Jahren umgingen: Er konnte frei zwischen dem Patriziat und den Zünften wechseln. Sobald jedoch nicht mehr nur Einzelpersonen eine „neue Kunst“ ausübten, trugen die Zünfte in den folgenden Jahrzehnten Sorge

24 Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, S. 198, Zeuge 7, „do hette er nu ettliche kunst vor inen verborgen, die er inen nit verbunden was zuo zougen.“ 25 Wagner, Bekannter Unbekannter, S. 128 f. 26 Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, Nr. XVIII*, S. 249–252. 27 Zum Folgenden Wagner, Bekannter Unbekannter, S. 130–135, und Faksimile, S. 131, Abb. 15; Edition bei Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, Nr. XX, S. 256–260. Grundlegend zum Prozess mit Fust: Hans-Michael Empell: Gutenberg vor Gericht. Der Mainzer Prozess um die erste gedruckte Bibel. Frankfurt am Main 2008. 28 Die Urkunde vom 17. Januar 1465 wurde ediert bei Schorbach, Die urkundlichen Nachrichten, Nr. 25, S. 290–292. Zu seinen Rechten zählte auch, einmal im Jahr Kleidung zu erhalten, dazu Ochs, Gutenberg, S. 96 f., die betont, dass es nur wenigen Mitgliedern der von ihr untersuchten Familienverbände gelang, Zugang zum erzbischöflichen Hof zu erlangen.

Konkurrenz im frühen Buchdruck am Beispiel von Johannes Gutenberg

dafür, dass diese Handwerker in die bestehende Zunftstruktur eingegliedert wurden. Dafür schufen die Zünfte die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen in ihren Ordnungen. Eine stetig wachsende Gruppe, die ein neues Handwerk ausübte, wurde als Konkurrenz zur bestehenden Ordnung der bekannten Handwerke und Gewerbe empfunden, die es zu integrieren galt. Wir können nicht genau wissen, was Gutenberg in Straßburg trieb, da die Quellen dazu nur äußerst vage Aussagen machen. Der Buchdruck war eine sehr komplexe Erfindung, für die man nicht nur ein einziges Gerät brauchte, sondern es handelt sich um ein kompliziertes Verfahren, das erst in Einzelschritten „erdacht und entwickelt werden mußte“.29 Fest steht aber, dass Gutenberg Konkurrenz fürchtete und deshalb versuchte, seine Entdeckungen möglichst geheim zu halten. Da er auch auf Mitarbeit und Fremdkapital von anderen angewiesen war, musste er zwangsweise einen kleinen Kreis von Personen einweihen. Es liegt nahe, im Buchdruck eher die Erfindung eines Kollektivs denn eine Erfindung eines Individuums zu sehen. Dennoch war Gutenberg insgesamt mit seiner Geheimhaltungsstrategie sehr erfolgreich: Sein Geschäfts-Geheimnis fand keinen Niederschlag in den Quellen. Deshalb wissen wir nicht, was genau er vor 1448 erfunden und welche Techniken er ausprobiert hatte. Ab 1450 musste er sich dann vor Gericht mit Konkurrenten auseinandersetzen, die im selben Segment wie er, dem Buchdruck, wirtschaftlich reüssieren wollten – aber das ist eine andere Geschichte, auf die ich hier nicht eingehen kann.

29 Darauf wies schon Claus W. Gerhardt eindrücklich hin in seinem Beitrag: Was erfand Gutenberg in Straßburg? In: Gutenberg-Jahrbuch 45 (1970), S. 56–72, hier S. 56, wo er sich gegen die Vorstellung wehrt, Gutenberg habe sein ganzes Leben geradlinig auf die typographische Erfindung hingearbeitet, was Gerhardt für abwegig hält, da „der Buchdruck (…) keine Vorrichtung und kein Gerät, sondern ein technisches Verfahren (ist), für welches Vorrichtungen und Geräte und dazu noch mehrere verschiedene Arbeitsabläufe erfunden bzw. erdacht und entwickelt werden mußten“ (S. 56). Ihm folgt auch mit Nachdruck Köster, Gutenberg in Straßburg, S. 8, der auch auf S. 76 noch einmal betont, dass wir nicht wissen, was die „geheime kunst“ Gutenbergs in Straßburg bedeutet hat.

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Sektion 14: Competitive Concurrence. Netzwerke und ihre Mehrfachnutzung

Elisabeth Natour

Einleitung

Die Frage der strukturellen Bedeutung von Netzwerken für die frühneuzeitliche Gesellschaft erfährt ungebrochene Aufmerksamkeit. Immer dichter werden einzelne Netzwerkbereiche der Diplomatie, der res publica litteraria, der Kultur oder des Handels ausgedeutet, so dass nicht nur die zentralen Inhalte, Materien oder Akteure von Netzwerken, sondern zunehmend auch ihre Ränder erforscht werden.1 Aufschwung erhält die historische Netzwerkforschung zudem durch digitale Methoden, mit denen historische Netzwerke inzwischen in größerem Umfang erfasst und Zentren und Peripherien der jeweiligen Netzwerke sichtbar gemacht werden können.2 Der Einfluss der Globalgeschichte lenkt den Blick seit einigen Jahren vermehrt auf überlokale Vernetzungen und die Medien oder Agenten ihrer Vermittlung.3 Überwiegend werden frühneuzeitliche Netzwerke dabei als spezifizierte Handlungsarenen betrachtet, welche Menschen und Güter in einem bestimmten Bereich miteinander verbanden: Diplomaten gewannen und übermittelten Informationen, Gelehrte tauschten Briefe oder Gaben, Händler akquirierten Waren und Kunden, Mäzene empfahlen ihre Protegés und sich selbst.

1 Zu den Perspektiven historischer Netzwerkforschung: Marten Düring / Ulrich Eumann: Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 39 (2013), S. 369–390, Carola Lipp: Struktur, Interaktion, räumliche Muster. Netzwerkanalyse als analytische Methode und Darstellungsmittel sozialer Komplexität. In: Silke Göttsch / Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster u. a. 2003, S. 49–63. – Idee und Konzeption der Sektion wie auch die Grundlage dieser Einleitung entstanden gemeinsam mit Tobias Winnerling, dem ich wie den übrigen Sektionsteilnehmer:innen für ihre Anregungen an dieser Stelle herzlich danken möchte. 2 Charles van den Heuvel u. a.: Deep Networks as Associative Interfaces to Historical Research. In: Florian Kerschbaumer u. a. (Hg.): The Power of Networks. Prospects of Historical Network Research. London u. a. 2020, S. 189–221. 3 Zur geographischen Ausdehnung der Netzwerkforschung: Paula Findlen (Hg.): Empires of Knowledge. Scientific Networks in the Early Modern World. London u. a. 2018; Kaarle Wirta: Early Modern Overseas Trade and Entrepeneurship. Nordic Trading Companies in the Seventeenth Century. London 2020; zur Bedeutung der Vermittlungsagenten: Sharon Kettering: Patrons, Brokers, and Clients in SeventeenthCentury France. Oxford 1986; Marika Keblusek / Badeloch Vera Noldus (Hg.): Double Agents. Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe. Leiden 2011; zu Medien der Vernetzung: Jürgen E. Müller: Mediale Netzwerke und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. In: Jörg Robert (Hg.): Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Formen, Funktionen, Konzepte. Berlin / Boston 2017, S. 153–179.

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Bei der berechtigten Konzentration auf die Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen isolierter Netzwerkbereiche gerät leicht aus dem Blick, dass diese analytische Trennung mit Blick auf die Akteure immer nur Ausschnitte der jeweiligen Lebenswirklichkeit widerspiegeln kann. Doppel- oder Mehrfachrollen kennzeichnen die frühneuzeitlichen Gesellschaften, ihre Akteure und – so steht zu vermuten – auch die Art, wie Netzwerke genutzt wurden. Als berühmtes Beispiel sei an den Maler Peter Paul Rubens erinnert, der als Diplomat am spanischen, französischen und englischen Hof agierte.4 Weitere prägnante Beispiele einer parallelen Nutzung verschiedener Netzwerke begegnen uns besonders in den beiden Bereichen Handel und Diplomatie.5 Aus pragmatischen Gründen boten sich Mehrfachnutzungen von interpersonalen Vernetzungen stets an. Denn der Charakter einer solchen Verbindung erschöpfte sich nicht in einer einzelnen Funktion wie dem Austausch von Informationen, materiellen oder immateriellen Gütern oder sozialen Ressourcen. Stets eröffnete sich die Möglichkeit, mehrere dieser Zwecke sukzessive oder zugleich zu realisieren. Diplomaten wurden zu Kunstagenten, Politiker zu Gelehrten oder Händler zu Mäzenen. Zumeist geschah dies alles gleichzeitig, zuweilen ergab sich aber auch eine Netzwerkzugehörigkeit aus der vorherigen. Unter dem Oberbegriff der competitive concurrence soll in den vorliegenden Beiträgen die vorherrschende analytische Trennung in Netzwerke eines bestimmten Bereiches bewusst aufgebrochen werden, um sich überschneidende Netzwerke verschiedener Bereiche genauer zu betrachten. Wann kam es zu Überschneidungen und wie lassen sich diese kennzeichnen? Welche Muster lassen sich erkennen, die über punktuelle personale Schnittstellen hinausdeuten? Wann liefen Netzwerke parallel zueinander, wann konvergierten sie? Welche Beweggründe sind greifbar, die eine spezifische parallele oder sukzessive Nutzung von Netzwerken erklären können? Welche Rollen- und Normenkonflikte ergaben sich für die Angehörigen mehrerer Netzwerke und wie wurde ihnen begegnet? Bei der Beantwortung dieser Fragen dient zum einen die Ambivalenz des Konkurrenzbegriffs als Analyserahmen, um den zeitgenössischen Sinn von Doppeloder Mehrfachnutzungen eingrenzen zu können. So könnte die Doppelnutzung von Netzwerken bei einer Zusammenführung Vorteile für ihre Akteure bringen,

4 Michael Auwers: Ambition and Ambivalence. Peter Paul Rubens as a Diplomat. In: Luc Duerloo / R. Malcom Smuts (Hg.): The Age of Rubens. Diplomacy, Dynastic Politics and the Visual Arts in EarlySeventeenth-Century Europe. Turnhout 2016, S. 126–141; für weitere Beispiele: Marian Füssel (Hg.): Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2018. 5 Vgl. beispielhaft Mark Häberlein / Magdalena Bayreuther: Agent und Ambassador. Der Kaufmann Anton Meuting als Vermittler zwischen Bayern und Spanien im Zeitalter Philipps II. Augsburg 2013; Evelyn Korsch: Meriten und Machenschaften des Gregorio Agdollo. Ein Armenier im Dienste Sachsens. In: Annales Mercaturae. Jahrbuch für Internationale Handelsgeschichte 3 (2017), S. 107–138.

Einleitung

die sich womöglich in einem von der Gegenwart geprägten Verständnis von Konkurrenz als Wettbewerbsmodus ausdeuten lassen. So wie die einzelnen Netzwerke in einem agonalen Verständnis des Begriffs als „Konkurrenzräume“ aufgefasst werden können, in denen gleichermaßen die Grundlagen von Güter- und Ressourcenknappheit galten, so lassen sich auch die Schnittstellen unter dem Gesichtspunkt begrenzter Ressourcen, des Angebots und der Nachfrage beleuchten. An der Schnittstelle eines zweiten Netzwerks zu stehen, konnte die Möglichkeiten, im primären Netzwerk erfolgreich zu agieren und damit parallele Anbieter zu übertreffen, vergrößern. Es wird zu klären sein, ob diese Überlegungen als Teil des zeitgenössischen Denkens nachzuvollziehen sind. Oder ob die frühneuzeitliche Gesellschaft einem Wettbewerbsdenken auch jenseits der sozialen Ranghierarchie verschlossen gegenüberstand, wie es die zeitgenössische Benutzung des Begriffs nahezulegen scheint.6 Die empirische Betrachtung von Netzwerknutzungen kann nämlich, zum anderen, dabei helfen, den Konkurrenzbegriff zu historisieren, erlebt dieser doch genau in der Epoche der Frühen Neuzeit seine entscheidende Umdeutung. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde im deutschen Sprachraum das Verb „concurrirn“ benutzt, welches in Wörterbüchern wie dem 1571 in Augsburg erschienenen Teutsche[m] Dictionarius von Simon Roth lediglich als „zusamen oder mit lauffen“ definiert wird.7 Erst ab dem 18. Jahrhundert rückt das Substantiv „Concurrenz/Concurrens“ und damit die rivalisierende Komponente des Begriffs allmählich in den Vordergrund. Im Zedler von 1733 liegt der Schwerpunkt noch auf dem Nebeneinander: „Concurrens, ein concurrent, ein Mitläuffer, Mitwerber, Mit-Erben, Mitgläubiger“.8 In der „Oekonomischen Encyklopädie“ von Johann Georg Krünitz hat sich die Bedeutung um 1785 sichtbar geändert. Sie umschreibt den Wettbewerb um begrenzte Ressourcen im Handel oder zwischen den sich herausbildenden Nationen: Concurrenz, Fr. Concurrence, die Mitbewerbung; der Anspruch, den mehrere Personen, jede für sich, auf eben dieselbe Sache machen. Im ähnlichen Sinn bedeutet bey der Handlung die Concurrenz zwischen verschiedenen Nationen, oder auch, zwischen den verschiedenen Kaufleuten Einer Nation, die mit einerley Waaren handeln, den Wetteifer,

6 Vgl. für eine kritische Sicht auf die Tauglichkeit des Konkurrenzbegriffs für die Frühe Neuzeit: Barbara Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 197–227. 7 Simon Roth: Ein Teutscher Dictionarius […] Augsburg 1571. 8 Art. Concurrens. In: Johann Heinrich Zedler: Großes und vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 6. Berlin 1733, Sp. 915.

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worinn sie, in Ansehung eines häufigern, geschwindern, vortheilhaftern Absatzes dieser Waaren, gegen einander stehen.9

Es liegt im besonderen Interesse dieser Sektion, die verschiedenen Gewichtungen der Konkurrenzbegriffe auszudeuten und dabei die Möglichkeit ihrer Gleichzeitigkeit zu beachten. Konnte ein Netzwerk im strategischen Sinne als Spielraum neuer Handlungsoptionen genutzt werden, um die eigenen Interessen oder die Interessen eines über eine der Verflechtungskategorien verbundenen Handlungskollektivs innerhalb eines kompetitiv ausgerichteten Bereichs durchzusetzen und zugleich einen Modus der Zugehörigkeit innerhalb einer „Semantik der Harmonie“10 zu generieren? Die Beiträge nähern sich damit exemplarisch der Frage an, inwieweit sich der Begriff der Konkurrenz im Zugriff eignet, um die weitgefächerte Bedeutung und konkrete Nutzung unterschiedlicher Netzwerke und ihrer Verbindungen zu umschreiben. Bewusst wird dabei nicht nur die tatsächliche Zugehörigkeit zu einem Netzwerk betrachtet, sondern auch das Argumentieren und Agieren mit den eigenen Zugangsmöglichkeiten zu diesen. Der Aufsatz Tobias Winnerlings widmet sich in einem europäischen Vergleich den Biographien dreier Professorensöhne aus England, den Niederlanden und dem Reich, die im 18. Jahrhundert in die Politik gingen, statt im familiären Stammland der Universitas zu verbleiben. Das Besondere an dem Werdegang der Gelehrtensöhne erscheint nicht so sehr in der Entscheidung gegen eine Karriere innerhalb der Universitätsfamilie, sondern in der ostentativ gepflegten Verbindung von Gelehrtenund Politikernetzwerken durch die Selbstdarstellungen der Söhne in der Tradition der Väter. Dabei stellt Winnerling zur Diskussion, inwiefern die soziale Diversifikation eine bewusste Strategie frühneuzeitlicher Gelehrtenfamilien gewesen sein könnte, um in Anbetracht einer Konkurrenz um universitäre Stellen den erreichten gesellschaftlichen Status und materiellen Wohlstand zu bewahren bzw. zu vergrößern. Mein eigener Beitrag untersucht den Zusammenhang von sozialer Mobilität und Kulturförderung am Beispiel der Kunstpatronage des Papstneffen Antonio Barberinis des Jüngeren und der Musikpatronage der Fugger. Die Frage nach den strategischen Absichten für den Aufbau der aufwendigen kulturellen Netzwerke führt zu Schnittstellen von Kunst und Politik bzw. Musik und Kirche, die nahelegen, dass die Pflege von Netzwerken nicht nur mit einem Auge auf „Konkurrenten“

9 Johann Georg Krünitz: Art. Concurrenz. In: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft […]. Bd. 24. Berlin 1785, S. 304. 10 Stollberg-Rilinger, Logik, S. 199.

Einleitung

geführt wurde, sondern darauf ausgerichtet war, den eigenen sozialen Status zu erhalten oder zu erhöhen. Fabian Fechner nimmt in seinem Aufsatz abschließend eine Metaebene ein, indem anhand von Praktiken des Kartierens die verschiedenen Wissensbestände in eine Logik der Koexistenz eingebettet werden, welche fern eines kompetitiven Konkurrenzdenkens die verschiedenen Wissensbestände um die Mitte des 18. Jahrhunderts „zusamen lauffen“ ließ. An drei Fallbeispielen wird die situative Verwendung von indigenem Wissen, europäischer Entdeckerliteratur und antiken Beschreibungen des afrikanischen Kontinents greifbar. Die Parallelität dieser Wissensbestände zueinander spiegelt sich in der Parallelität der dahinter durch die Quellen angedeuteten realen Netzwerke wider, was sich insbesondere in der fluktuierenden Einschätzung von indigenen Autoritäten oder empirischem Wissen versus tradiertem Wissen zeigt. Der abschließende Kommentar von Ingeborg van Vugt ordnet die Sektionsbeiträge in sich eröffnende Forschungsperspektiven ein und zeigt dabei gegenwärtige und zukünftige Möglichkeiten einer genuin vernetzten und multidisziplinär konzipierten Netzwerkforschung auf.

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Professionale Diversität Zur Netzwerknutzung gelehrter Familien in der Statuskonkurrenz Familiäre Reproduktionsmuster verliefen in der Frühen Neuzeit üblicherweise entlang von Beharrungs- oder Aufstiegsstrategien. Diese waren zumeist spezifisch für ein bestimmtes soziales Milieu: Waren Mitglieder einer Familie in einem gesellschaftlichen Bereich auf respektablen Positionen angelangt, war es sinnvoll, die damit erworbenen Ressourcen, sei das nun ökonomisches oder soziales Kapital, dazu einzusetzen, diese Position zu sichern und den folgenden Generationen damit auch wieder ähnliche Chancen zur Verfügung zu stellen. Damit stellt sich die Frage, ob es sich dabei um einen „Ausscheidungswettbewerb um knappe Ressourcen“ handelte, dessen Akteure daher als Konkurrenten gefasst werden könnten.1 Und sollte das der Fall sein, so stellt sich die Anschlussfrage, ob sich Familien in diesem Zusammenhang als Kollektivakteure betrachten lassen, wenn die „idealtypische Konkurrenzgesellschaft […] eine Gesellschaft individueller, rational handelnder egoistischer Akteure [ist].“2 Dabei kommt die grundsätzliche Schwierigkeit der Definition von ‚Familie‘ als Analysebegriff zum Tragen, unterscheidet sich der Familienbegriff des 18. Jahrhunderts doch durchaus noch vom heute geläufigen.3 Wenn also ein Akteurskollektiv „Familie“ postuliert werden soll, das sich mit anderen, ähnlichen Akteurskollektiven in einer Statuskonkurrenz befand, muss geklärt sein, welche Personen welchen dieser Kollektive jeweils zugerechnet werden sollen. Gleich vorweg: Dieses Problem kann ich an dieser Stelle nicht endgültig lösen. Ich kann hier nur eine genauere Formulierung der theoretisch-methodischen Schwierigkeiten anbieten, die in dieser Richtung weiterführende Untersuchungen überwinden müssten. In den Blick genommen worden sind diese Schwierigkeiten bereits aus den Bereichen der sozialen und der historischen Netzwerkanalyse heraus. Während die Schwierigkeiten der sozialen Netzwerkanalyse mit der Darstellung familiärer 1 Karl-Joachim Hölkeskamp: Konkurrenz als sozialer Handlungsmodus. Positionen und Perspektiven der historischen Forschung. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 33–58; hier S. 35. 2 Ebd. 3 Vgl. aus netzwerktheoretischer Perspektive Andoni Artola Renedo: El patrocinio intraclerical en el Antiguo Régimen. Curias y familias episcopales de los arzobispos de Toledo (1755–1823). In: REDES. Revista hispana para el análisis de redes sociales 21 (2011), S. 273–300, hier S. 278.

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Zusammenhänge zunächst vor allem in der diachronen genealogischen Dimension solcher Untersuchungen lagen,4 stellt sich die Frage des Familienbegriffs dort ebenfalls: Wie groß soll die Einheit sein, die zu anderen Einheiten in Beziehung gesetzt wird?5 Sie muss in jedem Fall durch starke interne Beziehungen, also hohe Kohäsion, gekennzeichnet sein, wenn sie als kollektiver Akteur erfolgreich sein will.6 Und wie sollen diese Beziehungen aussehen? Die starke Fokussierung auf die genealogische Abstammungs- und die dynastische Heiratsbeziehung zwischen Individuen ist hier insofern irreführend, als diese Beziehungen zwar familienkonstitutiv sind, aber nur einen Teil der sozialen Beziehungen ausmachen, in die ein Kollektivakteur „Familie“ eingebettet war. Zwischen den Praktiken, die für die Reproduktion der sozialen Einheit notwendig waren, und denen, die zur Reproduktion des sozialen Status dienten, besteht ein Unterschied, auch wenn die jeweiligen Akte multifunktional waren und sich somit ein breiter Überschneidungsbereich abzeichnet.

Eine Arbeitsdefinition Im Folgenden werde ich mangels einer trennscharfen Forschungsdefinition für den Bereich der Statuskonkurrenz mit „Familie“ das bezeichnen, was heutzutage als Kernfamilie angesprochen wird, also die soziale Einheit, die aus biologischen bzw. sozialen Eltern und ihren Kindern gebildet wird.7 Für das gelehrte Milieu des 18. Jahrhunderts ist diese Definition bereits erfolgreich angewendet worden und auch für die Zeitgenossen plausibel.8 Für die erweiterte Großgruppe, die sich aus Angehörigen mehrerer solcher Einheiten zusammensetzt, verwende ich den in der Forschung bereits gebräuchlichen Begriff des „Familienverbands“. Auf die damit verbundenen Probleme gerade in frühneuzeitlichen Zusammenhängen komme ich daher an den jeweils passenden Stellen zurück. Für die aus Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft lässt sich nicht nur das Beziehungskriterium relativ trennscharf und einfach ableiten. Es gilt – nicht 4 Michael Schnegg: Art. Ethnologie. In: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden 2010, S. 859–867, hier S. 862. 5 Vgl. Claire Lemercier: Analyse de réseaux et histoire de la famille: une rencontre encore à venir? In: Annales de démographie historique 109 (2005), S. 7–31, hier S. 8 f. 6 Ronald S. Burt: Brokerage and Closure. An Introduction to Social Capital. Oxford 2007, S. 27. 7 Vgl. für ähnliche Schwierigkeiten in soziologischen Untersuchungen: Walter Bien / Jan Marbach: Haushalt – Verwandtschaft – Beziehungen: Familienleben als Netzwerk. In: Hans Bertram (Hg.): Die Familie in Westdeutschland. Stabilität und Wandel familialer Lebensformen. Opladen 1991, S. 3–44, hier S. 9–12. 8 Vgl. Theresa Schmotz: Die Leipziger Professorenfamilien im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Studie über Herkunft, Vernetzung und Alltagsleben. Stuttgart 2012, hier S. 91–92, S. 111.

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nur unter frühneuzeitlichen Bedingungen, sondern möglicherweise universal – auch, dass bei Betrachtung dieser Konfiguration die Mechanismen einer Statuskonkurrenz deutlich zutage treten. Es scheint intuitiv plausibel, dass es im Interesse derjenigen ist, die bereits einen vorteilhaften Sozialstatus erwerben konnten, „sich die Prämie dauerhaft zu sichern und diese möglichst keinem weiteren Wettbewerb auszusetzen, der ihren Status bedrohen oder gar aberkennen könnte.“9 Ein Instrument, um erreichte soziale Statuspositionen generationenübergreifend zu sichern, war – vor allem im gelehrten Bereich – die Weitergabe der professionalen Positionen, aufgrund derer der entsprechende Status erreicht worden war.10 Im Bereich des gelehrten Milieus sind entsprechende familiäre Strategien längst nachgewiesen worden. Im akademischen Bereich führte das zu den Strukturen von Verwandtschaft und Verschwägerung, die unter dem Schlagwort der „Familienuniversität“ bekannt geworden sind. Das erfasst aber in vielen Fällen nur einen Teil der Mitglieder der jeweiligen Familien, weil der akademische Bereich damals wie heute nur über eine stark begrenzte Aufnahmekapazität verfügte. Es war also durchaus abzusehen, dass nicht jeder Sohn Professor werden konnte, wenn der Vater Professor war, und nicht jede Tochter einen (zukünftigen) Professor heiraten konnte. Julian Kümmerle hat daher bereits auf die Wichtigkeit von Heiratsverbindungen zur Etablierung eines familiären Netzwerks der Gelehrtenfamilien nicht nur untereinander, sondern auch mit der lokalen Oberschicht hingewiesen.11 Gerade die Formalisierbarkeit der Beziehungen, in die trennscharf voneinander abgegrenzte Kollektivakteure wie die hier betrachteten Familien miteinander traten, wenn sie um Statuspositionen konkurrierten, legt die Nutzung des Begriffs „Beziehung“ nicht nur als gemeinsprachliches, sondern auch konkret netzwerkanalytisches Werkzeug nahe. Dennoch verorten sich die meisten Arbeiten mit Bezug zur Familienuniversität im engeren Rahmen einer thematisch orientierten Forschung zur Gelehrtengeschichte und befassen sich dementsprechend nur mit den Mitgliedern eines solchen Familienverbandes, die akademisch reüssierten. Hermann Niebuhr stellte fest, dass die Marburger Professoren in die oberen Kreise der Hessen-Kasseler Administration einheirateten,12 interessierte sich für diese Verbindungen aber vor allem als

9 Hölkeskamp, Konkurrenz, S. 45. 10 Riitta Jallinoja: Families, Status and Dynasties. 1600–2000. London 2017, S. 13. 11 Julian Kümmerle: Wissenschaft und Verwandtschaft. Protestantische Theologieausbildung im Zeichen der Familie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Arnold Matthieu u. a. (Hg.): Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. Tübingen 2006, S. 159–210, hier S. 177 f. 12 Hermann Niebuhr: Zur Sozialgeschichte der Marburger Professoren 1653–1806. Darmstadt / Marburg 1983, S. 128.

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„genealogische Zwischenglieder“ zwischen den Professores.13 Die sozialgeschichtliche Elitenforschung dagegen, sozusagen von der anderen Seite des Problems her denkend, fragte vor allem nach der akademischen Qualifikation als potentiellem Vorteil für den sozialen Status gesellschaftlicher Oberschichten,14 aber mit einem klaren Fokus auf die Individuen, die sich so einen Platz in der jeweiligen sozialen Gruppe erarbeiten konnten15 – ohne sie im Zusammenhang mit ihrer Herkunftsfamilie zu sehen. Was ist aber mit den familiären Verbindungen, die sich dadurch ergaben, dass nicht alle Kinder einer Familie Aussicht auf Erfolg im selben Milieu haben konnten und sich manche daher anderen Laufbahnen zuwenden mussten (oder wollten)? Auch hier gibt es bereits Verbindungen, die für Familien mit gelehrtem Hintergrund gut untersucht sind und die das Potential hatten, für die gesamte soziale Einheit „Familie“ einen Zusatznutzen zu erbringen, und zwar die Verbindungen zu Druckern und Verlegern.16 Für Gelehrte, die einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Zeit mit dem Schreiben von Texten verbrachten, war das eine sinnvolle Kombination, ebenso wie aus der Perspektive eines Verlegers, der auf zu druckende Texte angewiesen war. Dementsprechend viele familiäre Verbindungen zwischen Akademikern einerseits und Druckern und Verlegern andererseits lassen sich nachweisen. Das wohl prominenteste deutsche Beispiel des 18. Jahrhunderts dürfte die Verbindung zwischen der Gelehrtenfamilie Mencke und der Verlegerfamilie Gleditsch sein. Johann Burchard Mencke (1675–1732), der Sohn des Gründers der „Acta Eruditorum“, Otto Mencke (1644–1707), hatte 1702 Katharina Margaretha Gleditsch (1684–1732) geheiratet, die Tochter Johann Friedrich Gleditschs (1653–1716).17

13 Niebuhr, Sozialgeschichte, S. 134. 14 Heinz Schilling: Vergleichende Betrachtungen zur Geschichte der bürgerlichen Eliten in Nordwestdeutschland und in den Niederlanden. In: Ders. / Herman Diederiks (Hg.): Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland: Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit. Köln 1985, S. 1–32, hier S. 17. 15 Etienne François: Städtische Eliten in Deutschland zwischen 1650 und 1850. Einige Beispiele. In: Schilling / Diederiks, Bürgerliche Eliten, S. 65–83, hier S. 75. 16 Vgl. Kümmerle, Wissenschaft und Verwandtschaft, S. 178. 17 Adalbert J. Brauer: Professor Johann Burchard Mencke, F.R.S. (1674–1732). In: Notes and Records of the Royal Society of London 17 (1962), S. 192–197, hier S. 196; und Hanspeter Marti: Art. Mencke, Johann Burkhard. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums, Bd. 8 (Marq–Or). Berlin / New York 2010, S. 158 f.

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Familie und Politik Wie verhält sich das aber bei Familienmitgliedern, die ein politisches Betätigungsfeld anstrebten? Um im Beispiel zu bleiben: Der ältere Sohn Johann Burchard Menckes und Katharina Gleditschs, Friedrich Otto Mencke (1708–1754), übernahm nicht nur die Leitung der „Acta Eruditorum“ nach dem Tod seines Vaters als „Nova Acta Eruditorum“, sondern war seit 1735 auch königlich-polnischer und kursächsischer Hof- und Justizrat, eine Position, für die ihn seine juristischen Studien qualifiziert hatten, und seit 1743 Ratsherr in Leipzig. Gerade für Familien, deren Mitglieder solche Beamtenpositionen besetzten, hat Stefan Brakensiek bereits 2002 vorgeschlagen, netzwerkanalytisch vorzugehen, um ihren Statuserwerb und -erhalt nachvollziehen zu können.18 Bevor ich aber anhand von Menckes Beispiel dergestalt weitergehe, stellt sich zunächst die Frage, ob er überhaupt in ein Muster passt. Und falls es ein solches Muster geben sollte, ob es sich dann um ein im Wesentlichen mitteleuropäisches oder auf das Heilige Römische Reich zentriertes handelt – wie das in der Diskussion um die Familienuniversität immer mitschwingt – oder ob es sich um eine möglicherweise weiter verbreitete Strukturähnlichkeit handeln könnte, die dann auch in gelehrten Kreisen europäischer Länder mit anders aufgestellten akademischen Systemen beobachtet werden können müsste. Wäre dem so, deutete das darauf hin, dass die gesellschaftliche Funktion der Institution stärker gewichtet werden müsste als ihre Form, was Quervergleiche erleichtern würde. Zum Vergleich habe ich zwei andere Gelehrtensöhne aus zwei anderen westeuropäischen Ländern – den Niederlanden und Großbritannien – herausgesucht, die in ähnlicher Weise betrachtbar sind.19 In allen drei Fällen handelt es sich allerdings um protestantische Beispiele, sowohl was die Mehrheitskonfession der jeweiligen Territorien als auch die persönliche Konfession der jeweiligen Familien und ihrer Mitglieder betrifft. Das liegt auch daran, dass sich in protestantischen (Reichs-)Territorien früh Aufstiegsmuster durch theologische und universitäre Bildung ausprägten.20 Ob sich ähnliche Muster auch außerhalb des protestantischen Bereichs antreffen lassen, ist eine Frage, die außerhalb des Rahmens dieses kurzen Beitrags liegt, aber von weiterführenden Forschungen in Angriff genommen werden müsste.

18 Stefan Brakensiek: Juristen in frühneuzeitlichen Territorialstaaten. Familiale Strategien sozialen Aufstiegs und Statuserhalts. In: Günther Schulz (Hg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001. München 2002, S. 269–290, hier S. 275. 19 Vgl. Tobias Winnerling: Das Entschwinden der Erinnerung. Vergessen-Werden im akademischen Metier zwischen 18. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2021. 20 Vgl. Brakensiek, Juristen, S. 271.

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Beispielfälle Zunächst zum niederländischen Beispiel: Kasper Burman (1696–1755), Sohn des Utrechter und später Leidener Professors der Geschichte, Beredsamkeit, Staatenkunde und des Griechischen Pieter Burman I. (1668–1741), entstammte einer alten Utrechter Professorenfamilie, die bereits seit den Tagen seines Großvaters Frans Burman I. (1632–1678) einflussreiche Positionen an der Universität besetzte. Kasper selbst war studierter Jurist, hatte aber eine politische, keine akademische Laufbahn eingeschlagen. Seit 1724 war er Ratsmitglied der Stadt Utrecht und hatte dort auch als Bürgermeister amtiert. Außerdem war er Mitglied der Utrechter Provinzialstände und seit 1739 als Vertreter der Provinz Utrecht auch Mitglied der Versammlung der Generalstaaten.21 Als britischer Vergleichsfall bietet sich Roger Gale (1672–1744) an, der Sohn des ehemaligen Regius Professors für Griechisch in Cambridge und späteren Dekans von York, Thomas Gale (1636–1702). Thomas Gale hatte zunächst in Oxford promoviert, dann eine kurze Zeit in Cambridge gelehrt und war von dort als Rektor der St. Paul’s School nach London gewechselt, bevor er diesen Posten für den des Dekans in York aufgab.22 Sein Sohn Roger war von 1705 bis 1713 Parlamentsabgeordneter für den Bezirk Northallerton, in dem das Landgut der Familie lag, wurde 1714 Commissioner of Stamp Duties und folgend Commissioner of the Excise, bevor er aus parteipolitischen Gründen beim Regierungswechsel 1735 von der Regierung Walpole auf diesem Posten abgelöst wurde.23 Die Karrieren der Väter, die alle drei vor allem als Gelehrte wahrgenommen wurden, decken hierbei die wesentlichen Möglichkeiten einer gelehrten Karriere im 18. Jahrhundert ab: eine Professorenstelle an der Universität, wie sie Pieter Burman innehatte; die Herausgeberschaft eines angesehenen Journals, wie es Johann Burchard Mencke betrieb; Schul- und Kirchendienst wie bei Thomas Gale. Etwas unterrepräsentiert ist lediglich das höfische Karrierefeld, wenn man davon absieht, dass Johann Burchard Mencke wie sein Sohn kursächsischer Hofrat war. Strukturell gesehen bestehen zwischen den drei Söhnen dabei einige Ähnlichkeiten. Alle drei waren jeweils die ältesten Söhne ihrer Väter. Friedrich Otto Mencke hatte einen jüngeren Bruder, Carl Otto Mencke (1711–1759), der Kanoniker in Wurzen bei Leipzig wurde, und drei – ältere – Schwestern,24 Roger Gale zwei über-

21 Hajo Brugmans: Art. Burman (Caspar of Kasper). In: Petrus J. Blok / Philipp C. Molhuysen (Hg.): Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek. Bd. 4. Leiden 1918, Sp. 350–351. 22 Nicholas Doggett: Art. Gale, Thomas (1635/36–1702). In: Oxford Dictionary of National Biography, 23. September 2004, DOI: 10.1093/ref:odnb/10298. 23 Mary Clapinson: Art. Gale, Roger. In: Oxford Dictionary of National Biography, 2004, DOI: 10.1093/ ref:odnb/10294. 24 Schmotz, Leipziger Professorenfamilien, S. 409.

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lebende jüngere Brüder, Charles Gale (c. 1673/81–1738), Schulleiter in Scruton (Northallerton), und Samuel Gale (1682–1754), ebenfalls als Beamter der britischen Steuerverwaltung tätig,25 und eine Schwester. Kasper Burman war zwar Pieter Burmans einziger Sohn, hatte allerdings drei jüngere Vettern, die Söhne seines Onkels Frans Burman II. (1671–1719), Professor der Theologie in Utrecht. Die Herren Vettern waren Frans Burman III. (1708–1793), Pieter Burman II. (1713–1778) und Johan Burman (1707–1779) – die alle drei gelehrte Karrierewege einschlugen, Frans III. als Professor für Theologie in Utrecht (wie sein Vater und Großvater vor ihm), Pieter II. als Professor der Beredsamkeit in Franeker und Johan als Direktor des botanischen Gartens in Amsterdam.26 Alle meine drei Vergleichsfälle arbeiteten neben ihren anderen Tätigkeiten auch weiter im gelehrten Bereich, und zwar nicht nur in ähnlichen Feldern wie ihre Väter – Kasper Burman und Roger Gale als Historiker, Friedrich Otto Mencke als Herausgeber der „Nova Acta Eruditorum“ – sondern auch viel direkter auf deren Arbeiten bezogen, indem sie nämlich deren Werke fortsetzten oder neu herausgaben. Neben der Herausgeberschaft des Journals edierte Friedrich Otto Mencke die „Orationes“, die „Dissertationes“ und die „Bibliotheca virorum militia“ Johann Burchard Menckes;27 Roger Gale gab aus dem Nachlass seines Vaters dessen Edition des Itinerars des Antoninus mit eigenen Zusätzen heraus und sorgte dafür, dass mittelalterliche Manuskripte aus Thomas Gales Sammlung ediert wurden;28 und Kasper Burman nutzte die Kontakte und Notizen seines Vaters, um ein ihm gewidmetes Lexikon der Utrechter Gelehrten in den Druck zu bringen.29 Sowohl

25 David B. Haycock: Art. Gale, Samuel. In: Oxford Dictionary of National Biography, 2004, DOI: 10.1093/ref:odnb/10295. 26 Tobias Winnerling: How to disentangle four generations of Anthonii Matthaei – and why. In: Markus Friedrich u. a. (Hg.): Genealogical Knowledge in the Making. Tools, Practices, and Evidence in Early Modern Europe. Berlin / Boston 2019, S. 319–342, hier S. 319. 27 Johann B. Mencke: Joannis Burchardi Menckenii Dissertationes literariae: Friderici Ottonis Menckenii olim seorsim publicatas, nunc in unum corpus redegit, et cum sua De Romanorum veterum stipendiis militaribus dissertatione edidit Frid. Otto Menckenius, Jo. Burch. Fil. Hg. v. Friedrich O. Mencke, Leipzig 1734; Ders.: Joannis Bvrchardi Menckenii Dissertationvm Academicarvm […]. Edidit. Et vitam auctoris, cum Joannis Erhardi Kappii, celeberrimi viri, in memoriam Menckenii publice dicto panegyrico, praemisit […]. Hg. v. Friedrich O. Mencke, Leipzig 1734; Ders. / Friedrich O. Mencke: Joannis Burchardi et Friderici Ottonis Menckeniorum Bibliotheca virorum militia aeque ac scriptis illustrium. Leipzig 1734. 28 Roger Gale an Thomas Hearne, London, 24. Juli 1716, Bodleian Library, MS Rawl. H: Letters 6, N° 14a, Bl. 311r–312v; die daraus entstandene Publikation war: Thomas Hearne (Hg.): Johannis de Fordun Scotichronicon genuinum, una cum ejusdem supplemento ac continuatione. E codicibus Mss. eruit ediditque Tho. Hearnius. Oxford 1722. 29 Kasper Burman: Trajectum Eruditum, Virorum Doctrina Inlustrium, Qui in urbe Trajecto, et regione trajectensi nati sunt, sive ibi habitarunt, vitas, fata et scripta exhibens, auctore Casparo Burmanno trajectino. Utrecht 1738; Utrecht 2 1755.

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Mencke wie Gale junior brachten diese Arbeiten kurz nach dem Tod ihrer Väter heraus, ausdrücklich zu deren Angedenken; obwohl Kasper Burman sein „Trajectum Eruditum“ gleichermaßen der Memoria seines Vaters widmete,30 war er damit ein wenig früh dran, denn das Werk erschien 1738 und damit drei Jahre vor Pieter Burmans Tod. Unter den Bedingungen allgemeiner Statuskonkurrenz, also im Ringen um ein knappes Gut – nämlich disponiblen sozialen Status in einer Gesellschaft, in der die meisten sozialen Statuspositionen geburtsständisch, und damit weitgehend indisponibel besetzt waren – gaben alle drei damit ihren Verwandten Möglichkeiten an die Hand, sich innerhalb dieser Situation besser zu behaupten, und boten dabei auch Unterstützung. Wie ließe sich das aber strukturell formalisiert hinsichtlich ihrer Position in einem hypothetischen familiären Netzwerk darstellen?

Muster: Familie statt Formalisierung Den exakten strukturellen Vergleich der Netzwerke aufgrund einer formalen Analyse lässt die Quellenlage leider nicht zu. Sowohl von Friedrich Otto Mencke als auch von Kasper Burman ist zu wenig privates Material überliefert, um die Verbindungen genauer einschätzen zu können. Für Roger Gale gäbe es möglicherweise hinreichende Bestände, vor allem privater Korrespondenz, in der Bodleian Library sowie teilweise in edierter Form, die aber bislang nicht unter diesen Gesichtspunkten ausgewertet wurden. Mir bleibt also nur, ein grobes Schema aufzuzeigen, das als Arbeitshypothese für weitere Forschungen dienen soll. Ich möchte dabei mit den beiden Herren beginnen, die hauptberuflich nicht als Gelehrte tätig waren, also mit Kasper Burman und Roger Gale. In beiden Fällen diente die Memorialisierung der Väter und das Anknüpfen an deren Arbeiten nicht nur dazu, eine Sohnespflicht zu erfüllen und in diesem Zug eher abstraktes akademisches Sozialprestige zu generieren. Damit verbunden war auf einer funktionalen Ebene die Möglichkeit, die väterlichen Kontakte weiterzuführen oder durch die Berufung auf die väterliche Autorität und die eigene gelehrte Tätigkeit neue Kontakte zu knüpfen. Gerade dass es sich bei der Herausgabe väterlicher Werke oder lobender Schriften auf den eigenen Erzeuger um eine etablierte Praxis innerhalb gelehrter Kreise handelte, machte es in bestimmten – bei Weitem nicht allen – Fällen möglich, diesen funktionalen Zusatznutzen unverdächtig erscheinen zu lassen, sich also im Sinn der Statuskonkurrenz Vorteile zu verschaffen, ohne damit zusätzliche Angriffsflächen zu bieten. Besonders spannend sind also gerade diejenigen Fälle,

30 Ebd., Bl. [*4]v.

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bei denen die gelehrte Praxis im strategischen Sinn multifunktional eingesetzt wurde. Roger Gale etwa kam so in Kontakt mit Thomas Hearne (1678–1735), Bibliothekar der Bodleian Library und Herausgeber von Handschriften-Editionen, und vermittelte diesen Kontakt dann an seinen Bruder Samuel Gale weiter.31 Kasper Burman wiederum band seine drei Vettern durch beigegebene Paratexte in sein Gelehrtenlexikon ein, das damit zugleich die Funktion einer familiären Memorialschrift wie auch die der Kommunikation ins gelehrte Milieu übernahm. Seine durch den Vater entstandenen privaten Kontakte in andere gelehrte Familien nutzte er dazu, Quellenmaterial zu beschaffen, das er zur Erstellung des Werks benötigte.32 Trotz ihrer anderweitigen Hauptbeschäftigungen im politischen Bereich hielten also beide, Roger Gale wie Kasper Burman, die Kontakte in den gelehrten Bereich aufrecht und nutzten sie zur Förderung ihrer Familienmitglieder. Inwieweit das auch für ihre politischen Kontakte galt, ist schwerer zu sagen, aber zumindest die Bestellung Charles Gales zum Rektor der Schule in Scruton, dem Ort, in dem auch das Familienanwesen der Gales lag, wurde von Roger Gale nachweislich begleitet: Er unterschrieb als einer der Zeugen die Bestellungsurkunde.33 Friedrich Otto Mencke fügt sich vielleicht nicht ganz einfach in dieses Muster, was einerseits darin begründet sein kann, dass seine Haupttätigkeit spätestens seit seines Vaters Tod im gelehrten Bereich lag, und andererseits darin, dass der Titel des kursächsischen Hofrats im erweiterten Familienverband der Menckes nicht ungewöhnlich war. Die meisten Mitglieder der übrigen Zweige waren Juristen, und die erfolgreichen unter ihnen erwarben den Titel für gewöhnlich im Lauf ihrer Karriere, wie etwa der Vetter seines Vaters, Gottfried Ludwig Mencke (1683–1744).34 Sie fügten sich damit ein Muster, das dazu führte, dass in mitteldeutschen Territorien „Angehörige ein- und desselben Familienverbandes […] als Professoren, Pfarrer, Schulleiter, städtische Ratsherren und fürstliche Räte an exponierter Stelle der gelehrten Führungsschicht vertreten [waren].“35 Im Kreis seiner Vettern und Neffen war Friedrich Otto Mencke also weniger außergewöhnlich positioniert als Roger Gale und Kasper Burman in ihren jeweiligen familiären Zusammenhängen. Gerade das scheint mir aber darauf hinzudeuten, dass hier tatsächlich ein Muster vorliegt: Die in den politischen Bereich gewechselten Söhne waren potentiell in der Lage, als Vermittler zwischen verschiedenen Kontaktfeldern zu arbeiten

31 Vgl. Samuel Gale an Thomas Hearne, London, 26. Mai 1722, Bodleian Library, MS Rawl. H: Letters 6, N° 47a, Bl. 376r–377v. 32 Burman: Trajectum Eruditum, Bl. *3r. 33 British Library, Add MS 39923, f. 26v. 34 O. A.: Art. Mencke (Gottfried Ludwig). In: Johann G. Meusel (Hg.): Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 9. Leipzig 1809, S. 71–73. 35 Kümmerle, Wissenschaft und Verwandtschaft, S. 209.

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und damit der übrigen Familie wertvolle Ressourcen zu erschließen, die bei einer Konzentration auf das gelehrte Feld allein nicht hätten mobilisiert werden können. Sie schlossen damit differente Beziehungsnetze kurz; in der Terminologie Ronald Burts bildeten sie Brücken über strukturelle Löcher im sozialen Netzwerk.36 Damit erweiterten sie das Spektrum an Kontaktmöglichkeiten, über die Zugang zu Informationen und Patronage möglich war, nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Familieneinheit, der sie angehörten.37 Dass diese theoretische Möglichkeit im Einzelfall unterschiedlich erfolgreich realisiert wurde, kann kaum überraschen; aber es scheint mir eine sinnvolle Perspektive zu sein, weitergehend zu vergleichen, ob Gelehrtenfamilien mit einer derartigen Struktur im Schnitt gegenüber sozial weniger diversifiziert aufgestellten Familien einen Vorteil bei der Versorgung ihrer Mitglieder realisieren konnten.

36 Burt, Brokerage, S. 18. 37 Erdmut Jost: Eintrittskarte ins Netzwerk. Prolog zu einer Erforschung des Empfehlungsbriefes. In: Dies. / Daniel Fulda (Hg.): Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung. Halle 2012, S. 103–143, hier S. 106.

Elisabeth Natour

Musiker, Künstler und Mäzene Vom strategischen Nutzen kultureller Netzwerke im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts Die Rolle der Kultur im Politischen ist seit einiger Zeit vermehrt in den Fokus historischen Arbeitens geraten, nachdem sie lange Zeit als unbedeutender Nebenschauplatz des politischen Geschehens galt. Der Nachweis über ihre Bedeutung für die frühneuzeitliche Politik ist dennoch schwer zu führen. Wie lässt sich die Wirksamkeit von „Kultur“ nachzeichnen? Wie messbar ist letzten Endes der Erfolg von Investitionen in die Künste und was versprachen sich die frühneuzeitlichen Zeitgenossen davon? Die im Folgenden erörterten zwei Beispiele aus Politik und Wirtschaft legen nahe, dass die Zugehörigkeit zu einem kulturellen Netzwerk im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts Voraussetzung für die Einbindung in andere – politische, soziale, ökonomische – Netzwerke gewesen sein könnte und von den Zeitgenossen als strategische Erweiterung ihrer Handlungsoptionen eingesetzt wurde. Der Blick auf das Geflecht von musikalischen und künstlerischen Verbindungslinien rückt dabei konsequent das Instrumentarium der Kultur von der Peripherie ins Zentrum des politischen und wirtschaftlichen Geschehens seiner Akteure.

Antonio Barberini d. J. zwischen italienischer Kunst und französischer Politik Die politische Karriere des schillernden Kardinals und Papstneffen Antonio Barberini d. J. (1607–1671) hängt untrennbar mit dem Erwerb von Kunstwerken und ihrer Vermittlung zusammen.1 Antonio Barberini, Sohn einer aufsteigenden toskanischen Familie in Rom, war Neffe des Kardinals Maffeo Barberini, der 1623 zum Papst Urban VIII. gewählt wurde und in seiner Amtszeit in zuvor ungeahntem

1 Vgl. Karin Wolfe: Cardinal Antonio Barberini (1608–1671) and the Politics of Art in Baroque Rome. In: Mary Hollingworth / Carol M. Richardson (Hg.): The Possessions of a Cardinal. Politics, Piety, and Art 1450–1700. University Park, PA 2010, S. 265–293, Dies.: Protector and Protectorate: Cardinal Antonio Barberini’s Art Diplomacy for the French Crown at the Papal Court. In: Jill Burke / Michael Bury (Hg.): Art and Identity in Baroque Rome. Aldershot 2008, S. 113–132; Dies.: Cardinal Antonio Barberini the Younger (1608–1671). Aspects of his Art Patronage. PhD-Dissertation, Courtauld Institute of Art. University of London 1999.

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Ausmaß seine Familie mit Ämtern und Pfründen im Kirchenstaat versorgte.2 Antonio, der mit der Papstwahl seines Onkels bereits als Fünfzehnjähriger lukrative Kirchenämter erhielt, wurde 1627/28 in den Kardinalsstand erhoben. Bei ersten diplomatischen Missionen nach Italien und Frankreich lernte er Giulio Mazzarino kennen, den späteren Kardinalsminister Jules Mazarin, der ihn bis 1634 als Sekretär beriet und seinen kulturellen Aktivitäten eine strategische Richtung gab.3 Antonio Barberini begann, in großem Stil Kunst zu sammeln und als Kunstagent zwischen Künstlern und Auftraggebern des Hochadels intensiv zu vermitteln. Durch ein Netz an Patronagebeziehungen zu Künstlern, durch den Ankauf von Kunstsammlungen und durch das Zurschaustellen des eigenen Reichtums an Kulturgütern baute er seinen politischen Einfluss in Rom und innerhalb der Familie stetig aus und scheint dabei stets eine europäische hochadelige Öffentlichkeit im Blick gehabt zu haben.4 Aufsehen erregte vor allem ein Reiterkarussell, das Antonio Barberini anlässlich eines Besuchs des polnischen Prinzen Carl Alexander von Wasa 1634 in Rom konzipieren ließ.5 Es war die aufwendigste von mehreren Festivitäten, welche die Neffen des Papstes veranstalteten, um Zweifel an Papst Urbans VIII. konfessioneller Integrität zu zerstreuen. Diese hatte durch dessen Unterstützung eines protestantischen Mitglieds der Wasa, nämlich Gustav Adolf von Schweden, ab 1632 ebenso gelitten wie durch Urbans frühere Protektion Galileis, der erst 1633 von der Inquisition verurteilt wurde.6 Als oberster Ermittler des Inquisitionstribunals

2 Ulrich Köchli: Urban VIII. und die Barberini. Nepotismus als Strukturmerkmal päpstlicher Herrschaftsorganisation in der Vormoderne. Stuttgart 2017; Peter Rietbergen: Power and Religion in Baroque Rome. Barberini Cultural Politics. Leiden 2006; Frederick Hammond: The Ruined Bridge. Studies in the Barberini Patronage of Music and Spectacle. Sterling Heights 2010; Janie Cole: Cultural Clientelism and Brokerage in Early Modern Florence and Rome. New Correspondence between the Barberini and Michelangelo Buonarotti the Younger. In: Renaissance Quarterly 60 (2017), S. 729–788; Olivier Poncet: Antonio Barberini (1608–1671) et la papauté. Réflexions sur un destin individuel en cour de Rome en XVIIe siècle. In: Mélanges de l’école française de Rome. Italie et Mediterannée 101 (1996), S. 407–442. 3 Hierzu Wolfe, Politics of Art; Dies., Protector. Der strategische Ausbau kultureller Besitzungen wird deutlich im Vergleich der Inventare von 1633–35, 1636–44 und 1644. Ediert in: Marilyn Aronberg Lavin: Seventeenth-Century Barberini Documents and Inventories of Art. New York 1975, S. 147–187. 4 Zur Bedeutung Andrea Sacchis vor dem Hintergrund brüderlichen Konkurrenz zwischen Antonio und Francesco vgl. Arne Karsten: Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinalnepoten im siebzehnten Jahrhundert. Köln u. a. 2003, S. 132–137. 5 Zum Karussell zuletzt: Joanna Norman: In Public and Private. A study of Festival in Seventeenth Century Rome. In: John H. Mulryne u. a. (Hg.): Occasions of State. Early Modern European Festivals and the Negotiation of Power. Abingdon / New York 2019, S. 229–245. 6 Vgl. Martine Boiteux: Les Barberini, Rome et la France: fête et politique. In: Lorenza Mochi Onori u. a. (Hg.): I Barberini e la cultura europeana del Seicento. Rom 2007, S. 345–360; Hammond, Ruined Bridge, S. 89–101. Zur europäischen und innerkurialen Kritik an Papst Urban VIII. vgl. Daniel Büchel / Arne Karsten: Die „Borgia-Krise“ des Jahres 1632. Rom, das Reichslehen Piombina und Europa. In:

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fungierte Kardinal Guido Bentivoglio, dessen Neffe Cornelio II. im Reiterkarussell von 1634 die überaus prachtvolle Hauptrolle des mantenitore ausfüllte. Die 1635 erschienene Festbeschreibung des Karussells wird Bentivoglio selbst zugeschrieben, was, falls zutreffend, einen besonderen Schachzug Barberinis bedeutet hätte, um sowohl seine eigene Position als auch die der Papstfamilie in der Causa Galilei zu bestätigen.7 Wie der Festakt selbst zielte auch die Festbeschreibung darauf, „meglio accrescere la gloria di Casa Barberina, e rendere sempre più chiaro lo splendore della Nobiltà, e Corte di Roma.“8 Den individuellen Ruhm Antonio Barberinis personifizierte in der Rolle der Fama in der das Fest rahmenden allegorischen Handlung sein favorisierter Kastrat Marc’Antonio Pasqualini.9 Das für Rom neuartige Vergnügen band nicht nur die Mehrheit des römischen Adels zu Ehren Antonios (und des Prinzen) auf die Bühne des Reitplatzes, sondern positionierte ihn auch auf internationaler Ebene. Die Dimensionen des Reiterkarussells ähnelten nämlich denen des Pariser Pferdeballetts von 1612, das der Reitmeister des französischen Königs Ludwig XIII. zu Ehren von Maria de’ Medici hatte aufführen lassen. Diese Referenz war insofern nicht unerheblich, als die Familie der Medici traditionell zu den stärksten Gegenspielern der Barberini gezählt hatte. Und sie war sicherlich nicht zufällig, hatte Barberini doch seit Jahren subtil, aber beharrlich die französischen Interessen am päpstlichen Hof kommuniziert. Wie in Paris, so hatten sich die Machtverhältnisse auch in Rom mittlerweile zu ungunsten der Medici gewandelt. Dem französischen König war das Ereignis nicht entgangen. Bereits während der Vorbereitungen zum Karussell hatte Ludwig XIII. Antonio Barberini den Auftrag erteilen lassen, in der Ehesache von Ludwigs Bruder Gaston und Marguerite von Lothringen beim Papst für ihn vorzusprechen. Als Dank für den zusammen mit Mazarin schließlich errungenen Verhandlungserfolg und keine zwei Monate nach dem zelebrierten Reiterkarussell ernannte der König Antonio Barberini 1634 zum Ko-Protektor von Frankreich. Mazarin blieb als päpstlicher Nuntius in den folgenden Jahren in Paris seine zentrale Verbindung zum französischen Hof. Entgegen der Skepsis und der gegenüber Spanien vorsichtigen Politik Urbans VIII. und des Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 389–412. Ich danke Herrn von Thiessen für den Verweis auf diesen Aufsatz. 7 Der Bericht wurde durch Barberinis Hofmaler Andrea Sacchi opulent bebildert, vgl. Vitale Mascardi / [Guido Bentivoglio]: Festa, Fatta in Roma, Alli 25. di Febraio MDCXXXIV. Roma, [1635], URL: http://diglib.hab.de/drucke/hn-178/start.htm (10.11.2022).  8 Mascardi, Festa, Bl. †2 v. 9 Ebd., S. 11. Ein großformatiges Gemälde des Karussels von Andrea Sacchi und Filippo Gagliardi ließ Barberini in der Sala seines Palastes prominent aufhängen und dekorieren. Vgl.: Christina Strunck: Die Konkurrenz der Paläste: Alter Adel versus Nepoten im Rom des Seicento. In: Daniel Büchel / Volker Reinhardt (Hg.): Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Forschungstagung. Bern 2001, S. 203–233, hier S. 206 f.

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Kardinalnepoten Francesco stellte Antonio seine Unterstützung des französischen Königs immer wieder äußerst effektvoll zur Schau.10 Doch auch Mazarin profitierte. In Paris fiel er durch seine intime Kenntnis der römischen Kunst- und Klientelnetzwerke auf, was ihm die Anerkennung des Kunstliebhabers Richelieu sicherte. Ab 1639 trat Mazarin als diplomatischer Emissär in den Dienst Richelieus und intensivierte seine Zusammenarbeit mit Barberini. Sie gipfelte in einer Strategie diplomatischer Kunstgeschenke an den französischen Hof, die zwischen 1640 und 1644 einen Höhepunkt erreichte.11 Barberini pflegte das Bild eines großzügigen Kunstkenners, schenkte Richelieu und Mitgliedern der königlichen Familie Gemälde, Skulpturen sowie wertvolles Mobiliar und brachte sich wiederholt als Vermittler von Kontakten zu namhaften italienischen Künstlern wie Gian Lorenzo Bernini ins Spiel. Als nach dem Tod Urbans VIII. im Juli 1644 der neue Papst, Innozenz X. Pamphilj, Korruptionsermittlungen gegen die Barberini zustimmte, floh zunächst Antonio nach Paris, dann folgten seine Brüder Francesco und Taddeo. 1646 stellte Mazarin die Familie offiziell unter den Schutz der französischen Krone.12 Er tat dies nicht zuletzt, um dem Papst vorwerfen zu können, pro-spanisch zu agieren, wodurch französische Angriffe auf spanische Stützpunkte in der Toskana gerechtfertigt werden konnten. Auf längere Sicht verpflichtete die Protektion der Barberini durch Mazarin diese, ihr profranzösisches Engagement am päpstlichen Hof fortzusetzen. Kurzfristig aber nutzte Mazarin, der frühere Klient und Bewunderer der Barberini, den Zugriff auf Antonio Barberinis Kontakte und Kenntnisse offensiv, um seine eigene Macht zu festigen. Der Sammelfürst Mazarin hatte sich im Aufbau seiner Sammlungen und dem Erwerb seiner Paläste schon zuvor an den Barberini orientiert.13 Gezielt übernahm Mazarin nun prominente Künstler der Famiglia, wie den Maler Giovanni Francesco 10 Zur Geburt des französischen Kronprinzen 1638 erleuchtete beispielsweise die französische Krone als Feuerwerkmotiv den römischen Himmel vor dem Palazzo Barberini. Der Bericht des umstrittenen Ereignisses erschien erst fünf Jahre später und unbebildert: Antonio Gerardi: Descrittione delle feste fatte in Roma per la Nascita del […]. Rom 1643. 11 Madeleine Laurain-Portemer: Mazarin militant de l’art baroque au temps Richelieu (1634–1642). In: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art Français (1975), S. 65–100, hier S. 86; Wolfe, Politics of Art; Patrick Michel: Mazarin, Prince des Collectionneurs. Les Collections et L’Ameublement du Cardinal Mazarin (1602–1661). Histoire et Analyse. Paris 1999, S. 23–31. 12 Vgl. Ulrich Köchli: Nepoten, Pfründen und Klienten. Die Krise der Familie Barberini nach dem Tod Urbans VIII. In: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hg.): Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006, S. 163–180; Anna Blum, La Diplomatie de la France en Italie du nord au temps de Richelieu et de Mazarin. Paris 2014, S. 139–169, hier S. 163–169. 13 Vgl.: Patrick Michel: Mazarin et les Barberini. Le parallèle des collectionneurs. In: Isabelle Conihout / Patrick Michel (Hg.): Mazarin. Les Lettres et les Arts. Paris 2006, S. 50–65; Ders.: Mazarin – Prince, Silvia Bruno, Progetti romani di Giulio Mazzarino. In: Marc Bayard (Hg.): Rome–Paris 1640. Transferts culturels et renaissance d’un centre artistique. Paris 2010, S. 275–326. Zur italienischen Prägung von Mazarins Politik ohne kulturellen Bezug: Olivier Poncet: Mazarin l’Italien. Paris 2017.

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Romanelli oder den Bühnenbauer Giacomo Torelli, der 1644 sein Aufsehen erregendes Werk über Bühnenmaschinen dem gleichnamigen Onkel Kardinal Antonio Barberini gewidmet hatte.14 Selbst Mazarins berühmter Bibliothekar, Gabriel Naudé, hatte schon im Dienst von Francesco und Antonio Barberini gestanden.15 Die Einführung der italienischen Oper in Paris 1647, ein politischer Coup Mazarins, ist nur über Mazarins Kenntnisse der römischen Barberini-Opern zu verstehen, auch wenn die erste Oper in Paris eine nominell, nämlich dem Komponisten nach venezianische Oper wurde.16 Der Librettist jedoch, Francesco Buti, war der Sekretär Antonio Barberinis, den dieser ihm verleihen musste, die zweite Titelrolle der Oper Orfeo, die seines Gegenspielers Aristeo, sang Marc’Antonio Pasqualini, der bereits erwähnte Lieblingskastrat Barberinis.17 Wie labil Antonio Barberinis Machtposition mittlerweile war, illustriert ein kleines Detail: Orfeo, die eigentliche Hauptrolle, wurde gesungen von Atto Milani, einem Günstling Matthias de’ Medicis, ebenjenes Medici-Sohns, der sich als militärischer Anführer der italienischen Lega 1642 gegen Urban VIII. positioniert hatte. Während der Zeit der Fronde und Mazarins Exil unterhielt Antonio Barberini aus der Provence seine kunstvermittelnden Kontakte an den französischen Hof aufrecht. Die Bereitschaft, Netzwerkverbindungen zu teilen und weiter zu pflegen, zahlte sich aus. 1653 kehrte Antonio Barberini nicht nur glanzvoll nach Rom zurück, sondern beerbte Richelieu im wichtigsten klerikalen Amt am französischen Hof, dem des Grand Aumônier de France. 1657 folgte die Ernennung zum Erzbischof von Reims, dem wichtigsten klerikalen Amt des Landes.

14 Die Bemühungen um Künstler begannen um 1642, waren aber erst nach dem Tod Urbans VIII. erfolgreich, Madeleine Laurain-Portemer: Le Palais Mazarin à Paris et l’offensive baroque de 1654–1650 d’aprés Romanelli, P. de Cortone et Grimaldi. In: Gazette des Beaux-Arts 81 (1973), S. 151–168, hier S. 154; Raffaele Scalamandrè: Mazzarino e l’arte italiana in Francia. La pittura e il “Teatro per Musica” italiani dalla roma dei barberini alla corte di Luigi XIV. Neapel 2001; Giacomo Torelli, Apparati scenici per lo teatro novissimo di Venezia. Venedig 1644, Widmungsepistel. 15 Naudé war auf Vermittlung Antonio Barberinis zuvor bereits bei Richelieu Bibliothekar gewesen. Vgl. Jack A. Clarke: Gabriel Naudé. 1600–1653. Hamden 1970, hier S. 58–82; Lorenzo Bianchi: Gabriel Naudé entre Rome et Paris. Les échanges culturels dans la République des Lettres. In: Marc Bayard (Hg.): Rome–Paris, 1640. Transferts culturels et renaissance d’un centre artistique. Paris 2010, S. 187–198. 16 Margaret Murata: Why the first opera given in Paris wasn’t Roman. In: Cambridge Opera Journal 7 (1995), S. 87–105; Hammond, Ruined Bridge, S. 153–189. 17 Michael Klaper: Vom Ballett zur pièce à machines: Entstehung, Aufführung und Rezeption der Oper L’Orfeo (1647). In: Journal of Seventeenth-Century Music 13 (2007), URL: https://sscm-jscm. org/v13/no1/klaper.html (21.05.2021).

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Die Fugger – Ruhm und Ehre durch Musik? Das zweite Beispiel führt nach Augsburg, einer Stadt, die bereits im 16. Jahrhundert zum kulturellen Glanzlicht Europas aufsteigen konnte. Geschuldet war dieser Umstand der Musik- und Kunstförderung der Fugger, welche ihr Vermögen und ihre kaufmännischen Netzwerke einsetzten, um eine kulturelle Blüte auf allen Gebieten hervorzurufen.18 Wie die Barberini, deren bescheidene toskanische Ursprünge im Textilgeschäft gelegen hatten, stiegen auch die Fugger erst im 16. Jahrhundert in den Adelsstand auf. Als soziale Marker waren der Erwerb von musikalischen Fähigkeiten und Kenntnissen, der Besitz von Musikinstrumenten, aber auch der Kontakt zu führenden Komponisten und Musikern zwar standesgemäß, doch die Intensität und Breite der Fuggerschen Musikförderung war außergewöhnlich.19 Die Grundlagen der Fuggerschen Beziehung zur Musik wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch die humanistisch beeinflussten Brüder Jakob d. Reiche, Ulrich und Georg Fugger gelegt und trugen vor allem in der Enkelgeneration Früchte, also zu einer Zeit, in der die wirtschaftliche Bedeutung der Fugger stetig abnahm. Augenfällig ist der repräsentative Nutzen der entlang der Verwandtschaftslinien ausgebauten musikalischen Patronage auf allen Gebieten. Fuggersche Musiker mehrten als Stadtmusiker das Ansehen der Familie in der Reichsstadt, im Territorium ergänzten sie als verliehene oder vermittelte Instrumentalisten die Kapellen anderer Familien.20 Orgelstiftungen, Orgelrestaurierungen und Organistenstellen setzten klangliche und visuelle Zeichen territorialer und konfessioneller Ansprüche in und um Augsburg.21 Im Reich demonstrierten die Fugger ihre Nähe zur Macht-

18 Franz X. Krautwurst: Die Fugger und die Musik. In: Renate Eikelmann (Hg.): „Lautenschlagen lernen und ieben“. Die Fugger und die Musik. Anton Fugger zum 500. Geburtstag. Augsburg 1993, S. 41–48; Sylvia Wölfle: Die Kunstpatronage der Fugger. 1516–1680. Augsburg 2009; Stefanie Bilmayer-Frank: „Illustri ac generosi Domini“. Gedruckte Musikalienwidmungen an die Familie Fugger im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Augsburg 2016; Konrad Küster: Die Beziehungen der Fugger zu Musikzentren des 16. Jahrhunderts. In: Johannes Burkhardt (Hg.): Anton Fugger (1493–1560). Vorträge und Dokumentation zum fünfhundertjährigen Jubiläum. Weißenhorn 1994, S. 79–98. 19 Vgl. Richard Leppert: Music, Representation and Social Order in Early Modern Europe. In: Cultural Critique 12 (1989), S. 25–55. 20 Franz X. Krautwurst: Musik der Blütezeit. In: Gunther Gottlieb u. a. (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg. Stuttgart 1984, S. 386–391, hier S. 388; Alexander J. Fisher: Music. In: Mark Häberlein / Ann B. Tlusty (Hg.): A Companion to late medieval and early modern Augsburg. Leiden / Boston 2020, S. 553–573, hier S. 562 f. 21 Die Orgelstiftungen der Fugger könnten den Wechsel einiger Fuggersöhne von Handel in Klerus und Politik vor- bzw. nachbereitet haben. Sie sind bislang unzureichend erforscht. Kursorisch: Stefanie Bilmayer-Frank: Die Fugger und die Musik. Konfessionelle Positionierung durch Musik und ihre Grenzen. In: Dietmar Schiersner (Hg.): Familiensache Kirche. Die Fugger und die Konfessionalisierung. Augsburg 2016, S. 57–71.

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elite und der Reichsstadt Augsburg über Musik.22 Selbst der Musikunterricht diente als Statusreferenz. Hans Fugger (1531–1598) nutzte beispielsweise einen Besuch Kaiser Rudolfs II., um dessen Organisten Charles Luython als Lehrer seines Sohnes Jakob zu engagieren.23 Die Vernetzung der Fuggerfamilie über die Vermittlung und Förderung von Musikern, welche mit gewidmeter Musik den Namen Fugger durch zahlreiche Publikation priesen24 oder als Musiker an Fürstenhöfen in und außerhalb des Reichs angestellt wurden, machte die Musikleidenschaft der Fugger zu einem ihrer Markenzeichen.25 Die intensive Verknüpfung musikalischer Patronage mit der Familientradition lässt insbesondere beim genaueren Blick auf den Erwerb und die Stiftung von Musikinstrumenten Funktionen jenseits von Statusrepräsentation erahnen, die sich aus der fluktuierenden Nutzung von Netzwerken ergeben konnten. Als Beispiel sei die Sammlung Raymund Fuggers des Jüngeren (1528–1569) genannt.26 Schon

22 Zur Verquickung von Reich und Stadt um die Mitte des 16. Jahrhunderts: Moritz Kelber: Die Musik bei den Augsburger Reichstagen im 16. Jahrhundert. München 2018, bes. S. 261–271. 23 Vgl. Walter Pass: Der Konstanzer Fürstbischof Jakob Fugger und Hieronymus Bildstein. In: Ders. (Hg.): Musik im Bodenseeraum um 1600. Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums. Bregenz 1974, S. 37–40, hier S. 38. 24 Nahezu sechzig gedruckte Werke wurden den Fuggern allein im 17. Jahrhundert gewidmet, vgl. Bilmayer-Frank, Musikalienwidmungen. 25 Orlando di Lasso wurde von Johann Jakob Fugger (1516–1575), Sohn Raymund Fuggers d. Älteren (1489–1535) und Enkel Jakobs d. Reichen, aus Antwerpen an den Münchner Hof Herzog Albrechts V. vermittelt, Hans Leo Hassler wurde zu Andrea Gabrieli nach Venedig geschickt, bevor er Kammerorganist bei Oktavianus Secundus von Fugger wurde. Mit Hassler lernte Giovanni Gabrieli, der durch Fuggersche Förderung zeitweise bei Orlando di Lasso am Münchner Hof studierte. Bei Giovanni Gabrieli, zu seiner venezianischen Zeit, lernte Gregor Aichinger, der zunächst auf Betreiben Jakob Fuggers (1542–1595) Organist der Fuggerschen Stiftungsorgel von St. Ulrich und Anna in Augsburg gewesen war, bevor er als deutschlandweit berühmter Komponist reüssierte. Vgl. Ignace Bossuyt: Lassos erste Jahre in München (1556–1559): Eine „cosa non riuscita“? Neue Materialien aufgrund unveröffentlichter Briefe von Johann Jakob Fugger, Antoine Perrento de Granvelle und Orlando di Lasso. In: Stefan Hörner (Hg.): Festschrift für Horst Leuchtmann zum 65. Geburtstag. Tutzing 1993, S. 55–67; Horst Leuchtmann: Zur sozialen Stellung europäischer Renaissance-Musiker am Beispiel Orlando di Lassos. In: Johannes Burkhardt (Hg.): Anton Fugger (1493–1560). Vorträge und Dokumentation zum fünfhundertjährigen Jubiläum. Tutzing 1994, S. 47–78; Roger Charteris: An Early Seventeenth-Century Collection of Sacred Vocal Music and its Augsburg Connections. In: Ders. (Hg.): Gabrieli and his Contemporaries. Music, Sources and Collections. Farnham 2011, Kapitel IX. 26 Krautwurst, Fugger, S. 42 f.; Bilmayer-Frank, Musikalienwidmungen; Richard Schaal: Die Musikinstrumenten-Sammlung von Raimund Fugger d. J. In: Archiv für Musikwissenschaft 21 (1964), S. 212–216; Erich Tremmel: Musikinstrumente im Hause Fugger. In: Renate Eikelmann (Hg.): „Lautenschlagen lernen und ieben“. Die Fugger und die Musik. Anton Fugger zum 500. Geburtstag. Augsburg 1993, S. 61–70.

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der Vater, Raimund Fugger der Ältere, hatte Musikalien und Instrumente gesammelt. Unter dem Sohn, also in der 6. Fugger-Generation, wuchs die Sammlung zu einer der größten europäischen Musiksammlungen dieser Zeit heran. Allein 140 Lauten zählt das Inventar von 1566. Lediglich die bereits damals legendäre Sammlung Heinrichs VIII. von England war in Größe und Kostbarkeit der Instrumente vergleichbar.27 Bei den venezianischen, englischen, niederländischen und rheinischen Instrumenten namhafter Instrumentenbauer fallen die allegorisch und damit repräsentativ besonders gewichtigen Lauten, Tasteninstrumente und Blasinstrumente auf. Die verwendeten Materialien, Canna d’India, Ebenholz oder Elfenbein, machten diese Sammlung auch im materiellen Sinne außergewöhnlich kostbar. Zudem sammelte Raymund der Jüngere wertvolle Musikhandschriften und -drucke, seine Musikbibliothek war, wie auch die Instrumentensammlung, überragend.28 Sie ist nicht die einzige bedeutsame Musikaliensammlung der Fugger.29 Anders als zu den Kunstkammern oder Bibliotheken der Fugger existieren keine Quellen, die darauf schließen lassen, dass diese Sammlungen Gästen gezeigt wurden. Zwar passt die außergewöhnlich große Sammlung an Musikdrucken und Handschriften durchaus in das Umfeld Augsburger Patrizier.30 Doch die Instrumentensammlung Raymund Fuggers war mehr als eines Kaisers würdig und kaum auf städtischer Ebene einzuordnen. Ein vergleichender Blick auf ein anderes zentrales Netzwerk der Fugger, und zwar ihre Förderung der bildendenden Kunst, zeigt, dass die Fugger dort einen sozial angepassten Rahmen bei der eigenen Prunkentfaltung nicht überschritten.31 Die Antwort ist eher auf Reichsebene zu suchen. Bedenkt man die Affinität zur Musik der damaligen Herrschaftselite, welche mit der Sammel- und Musikleidenschaft Kaisers Rudolf II. einen ersten Höhepunkt erreichte, erscheint die Möglichkeit, kostbare Instrumente zu vermitteln, als eine plausible Antriebsfeder. Für Hans Jacob Fugger (1531–1598) lässt sich eine gelegentliche Vermittlungstätigkeit von Musiknoten und -instrumenten belegen, welche

27 Vgl. David Starkey (Hg.): The Inventory of Henry VIII. Society of Antiquaries MS 129 and British Library Harley MS 1419. Bd. 1. London 1998, S. 441–444. 28 Richard Schaal: Die Musikbibliothek von Raimund Fugger d. J. Ein Beitrag zur Überlieferung des 16. Jahrhunderts. In: Acta Musicologica 29(1957), S. 126–137. 29 Vgl. die Musiksammlungen von Raymunds Bruder Hans Jakob, von Philipp Eduard (1556–1618), von Hans (1531–1598), von Johann Franz (1613–1668), von Albert (1624–1692) oder die vermutlich auf eine Fuggerstiftung zurückgehende 1770 Stücke umfassende sogenannte Fugger-Tabulatur der Biblioteca Nazionale Turino des frühen 17. Jahrhunderts. 30 Die vier größten Musikbibliotheken des späten 16. Jahrhunderts stammten aus dem Augsburger Umfeld, vgl. Kate van Orden: Books, Readers, and the Chanson in Sixteenth-Century Europe. Oxford 2015, S. 82 f. 31 Hierzu: Wölfle: Kunstpatronage; Dies.: Italienische Kunst für Kirchen und Kapellen des 16. und 17. Jahrhunderts. Kunstpatronage und Konfession bei den Fuggern. In: Dietmar Schiersner (Hg.): Familiensache Kirche? Die Fugger und die Konfessionalisierung. Augsburg 2016, S. 73–98.

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die Annahme stützt, dass er das Handelsnetz nutzte, um besondere Wünsche als Gunstbezeugung zu erfüllen.32 Auch das Instrumentenverzeichnis Raymund Fuggers, mit etlichen Lauteninstrumenten des Schongauer Lautenbauers Laux Posch (Boss, Bosch), dessen Instrumente im gleichen Zeitraum von Wilhelm V. für den Münchner Hof erworben wurden, könnte in diese Richtung interpretiert werden. Vorstellbar ist zudem, dass Instrumentenbestände, ähnlich den Musikern, zu besonderen Anlässen verliehen wurden oder aber im Sinne eines kulturellen Kapitals anlässlich hochrangiger Besuche würdige Geschenke darstellten.33 Wie Antonio Barberini hätte Raymund Fugger außerdem als Patron und als Agent agieren können, was ihm in Bezug auf seine eigenen Klientelnetzwerke, aber auch gegenüber den begünstigten Fürsten Handlungsspielräume eröffnet hätte. Zeitlich fällt der Ausbau der Fuggerschen Musikaliensammlungen in eine letzte Phase der Kooperation der konkurrierenden Handelshäuser der Fugger und Welser. Könnten die Musikaliensammlungen Teil einer gemeinsam getragenen Repräsentationspolitik der Reichsstadt auf Reichsebene gewesen sein, bei der die Welser mit ihrem zweiten Handelssitz in Nürnberg, dem damaligen Zentrum der Musikalienvermittlung in Europa, ein äußerst wertvoller Partner gewesen wären?34

32 So scheint es ein Instrumentenverzeichnis der italienischen Musikalienhändler Bassano zu belegen, welches in der Schrift Hans Jakob Fuggers überschrieben wurde: BayHStA, Kurbayern, Äußeres Archiv, Liber Antiquitatum 3: 4853, Fol. 221–223. Vgl. Mark A. Meadow: Merchants and Marvels. Hans Jacob Fugger and the Origins of the Wunderkammer. In: Paula Findlen / Pamela Smith (Hg.): Merchants & Marvels. Commerce, Science and Art in Early Modern Europe. New York u. a. 2002, S. 182–200. Zu Verbindungen zum ebenfalls sammelnden Erzherzog Ferdinand von Tirol: Pass, Konstanzer Fürstbischof, S. 38. Die Hinweise auf die kulturellen Netzwerke ergeben nicht das Bild einer umfassenden kulturellen Agententätigkeit, wie es für Patrizierfamilien und Diplomaten in Italien, u. a. die Medici, mit denen die Fugger Handel trieben, zuletzt vermehrt erforscht wurde: Vgl. Marika Keblusek / Badeloch Vera Baldus (Hg.): Double Agents. Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe. Leiden / Boston 2011; Elisa Goudriaan: Florentine patricians and their networks. Structures behind the cultural success and the political representation of the Medici Court (1600–1660). Leiden / Boston 2018; Marie Nicoline Steinweg: Cosimo I. Medici – Anton Fugger. Macht und Mäzenatentum in Florenz und Augsburg. Frankfurt am Main u. a. 2012. 33 Beide Praktiken sind von kleineren Höfen des Reichs bekannt, die in dieser Zeit über besondere Ressourcen verfügten, wie der Hof des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel (Festkostüme und hoch ausgebildete Pferde) oder der des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig und Wolfenbüttel (Bücher, Münzen). 34 Vgl. zu den wechselnden Konjunkturen von Konkurrenz und Kooperation und dem Desiderat, diese Überlegungen auf dem Gebiet der kulturellen Repräsentation zu ergänzen: Mark Häberlein: Fugger und Welser. Kooperation und Konkurrenz 1496–1614. In: Ders. / Johannes Burkhardt (Hg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses. Berlin 2002, S. 223–239, hier S. 239. Zu Nürnberg: Frank P. Bär / Ralf Ketterer: Zuverlässigkeit – Innovation – Individualität. Musikinstrumente aus Nürnberg. In: Hermann Maué (Hg.): Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg, 1400–1800. Nürnberg 2002, S. 158–173.

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Oder war die umfassende Musikförderung des Nürnberger Rats, welche mit großen Instrumentaleinkäufen in ebendiesem Zeitraum einherging und der Stadt über die Stadtgrenzen heraus Anerkennung einbrachte, ein Ansporn, die Nürnberger Instrumentenkammer von 90 Instrumenten zu übertrumpfen?35 Beiden Erklärungsmotiven der Konkurrenz und der Kooperation steht das Fehlen einer Öffentlichkeitswirkung der kostbaren Sammlung entgegen. Ein drittes Sammlungsmotiv mag diese Erklärungen ergänzen: Erst zu Beginn des Jahrhunderts war die Instrumentenkunde durch einige musiktheoretischen Drucke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.36 Sie blieb jedoch ein höfisch-exklusives Vergnügen, welches durch die besondere Bedeutung der Musik in der Frühen Neuzeit als Trägerin göttlicher Harmonie und vermittelnder Instanz zwischen Himmel und Erde dem Bereich des Herrschaftswissens zuzuordnen war. In gängiger höfischer Praxis und entgegen den Tendenzen des Buchmarkts war der Zugang zu besonders kostbaren Musikalien oder Instrumenten einem exquisiten Kreis vorbehalten. Der Besitz kostbarer Instrumente, welche im Verborgenen gesammelt wurden, hob ihren Patron auf Augenhöhe mit der Herrschaftselite Europas und kommunizierte Ambitionen, ohne offen in Konkurrenz zu treten und damit die Semantik des Ranges zu verletzen.37 Die Musikpatronage der Fugger scheint diesem Muster zu folgen: Das Handelsnetzwerk ermöglichte den Ausbau eines kulturellen Netzwerks im familiären Kollektiv, das wie eine Art doppelter Boden dem politisch-sozialen Status Sicherheitsnetz und Sprungbrett zugleich sein konnte.

Interdependenz statt Epiphänomen Kulturelle Netzwerke liefen entlang politischer oder wirtschaftlicher Strukturen, aber sie überschnitten sich auch mit ihnen, überlappten sich oder lösten sich ab. So unumstritten es ist, dass kultureller Einfluss dem sozialen und politischen Einfluss folgte, so war der Umkehrfall ebenso Teil zeitgenössischen Handels: Kultureller

35 Das dritte Buch der bedeutsamen instrumentenbaulichen Schrift von Michael Praetorius: Syntagmatis Musici Michaeli Praetorii Tomus Tertius. Wolfenbüttel 1619, lobt den Rat überschwänglich als: „Moecenatibus ac Patronis singularibus artis Musicae ac Musicorum“, um ihn dann mit der Förderung von Orlando di Lasso, Hans Leo Hassler und Andrea Gabrieli in Verbindung zu bringen, vgl. ebd., Bl. ):( 2 a, Bl. ):( 3 b – Bl. ):( 4 a; Markus Paul, Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Berlin / Boston 2011, S. 91–102. 36 Vgl. Tremmel, Musikinstrumente, S. 61 f. 37 Zum gesellschaftlichen Tabu frühneuzeitlicher Konkurrenz: Stollberg-Rilinger: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Jesse (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main 2014, S. 197–227.

Musiker, Künstler und Mäzene

Einfluss konnte sozialen und politischen Einfluss vorbereiten. Die Fragilität der kulturellen Netzwerkstrukturen verleitet dazu, sie als Begleitphänomene der Politik, des Handels oder des sozialen Aufstiegs zu sehen. Doch scheint die frühneuzeitliche Wirklichkeit komplexer. Nimmt man die kulturellen Netzwerke als eigene Entitäten wahr, offenbart sich ein Geflecht teils reziproker, teils asymmetrischer Abhängigkeiten, welches sich bei wechselnder politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Lage verkehren oder gar auflösen konnte. Neue historische Narrative ergeben sich. Die Mehrfachnutzung der vorgestellten Netzwerke, die auf Normen sozialer, gesellschaftlicher Zugehörigkeit rekurrierte, aber auch praktische, strukturelle oder ideelle Zugänge zu politischen Entscheidungsträgern und Ämtern mit sich brachte, lässt die Rolle der Kunst und Musik nicht als Epiphänomen von Politik oder Wirtschaft erscheinen, sondern offenbart unter dem Aspekt vormoderner Konkurrenz vielmehr ihre eigentliche Essenz als Teilhabe an der Macht. Für die aufsteigenden Eliten des frühneuzeitlichen Europas kann die Bedeutung kultureller Netzwerke in der Kommunikation dieser Ansprüche nicht hoch genug eingeschätzt werden.

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Abwesenheit, Vereindeutigung, Standortgebundenheit Die Argumentation mit indigenen Netzwerken am Beispiel geographischen Wissens aus Innerafrika (18. und 19. Jahrhundert) Kartieren als arbeitsteiliger Prozess – dieser wissensgeschichtliche Analyserahmen hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Landkarte nicht als bloßes Endprodukt verstanden wird, das bereits anderweitig bekannte historische Prozesse lediglich illustriert. Jede Karte, betrachtet mit den dazugehörigen Kartenkommentaren, Entwurfsstufen, Neuauflagen und Lesespuren, stellt vielmehr einen Knotenpunkt dar, der Wissensgenese und -transfer als kollektiven Prozess greifbar werden lässt.1 Auf dieser Grundlage sind schon einige Studien entstanden, die Netzwerke um einzelne Kartographen sowie Verleger und Herausgeber von Kartenwerken rekonstruieren.2 Darüber hinaus versuchen verschiedene Arbeiten, einen indigenen Wissensanteil von in Europa produzierten Karten afrikanischer Gebiete auszumachen.3 Statt eines solchen binären Labellings künstlich aufgespaltener Wissensbestände soll an dieser Stelle versucht werden, wissensgeschichtlich zu analysieren, wie auf Karten und in den dazugehörigen Kartenkommentaren strategisch zugrunde liegende Netzwerke von lokalen Informanten offengelegt werden und wie dadurch mit der Herkunft von Wissen argumentiert wird. Im Folgenden soll dies anhand des publikumswirksamsten „weißen Flecks“ der neuzeitlichen Kartographie geschehen, nämlich anhand von Innerafrika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Herausgegriffen werden exemplarisch drei Debatten, die auf verschiedene Modi der Wissensproduktion weisen: Hinführend wird anhand der Kartographie d’Anvilles dargelegt, wie überraschend punktuell trotz ausgefeilter Quellenkritik Referenzen auf lokale Informanten ausfallen können. Der Bericht Oldfields über eine Fahrt auf dem westafrikanischen Calabar-Fluss beschreibt, wie vereindeutigend Redaktionsarbeiten bei Reiseberichten die Vielstimmigkeit bei der Wissensgenese wegkürzen. An den Karten August Petermanns 1 Zusammenfassend Steffen Siegel / Petra Weigel (Hg.): Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung. München 2011. 2 Beispielhaft etwa Imre Josef Demhardt: Der Erde ein Gesicht geben. Petermanns Geographische Mitteilungen und die Entstehung der modernen Geographie in Deutschland. Gotha 2006. 3 Z. B. in Isabel Voigt: Die „Schneckenkarte“. Mission, Kartographie und transkulturelle Wissensaushandlung in Ostafrika um 1850. In: Cartographica Helvetica 45 (2012), S. 27–38.

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zur Erschließung Gabuns wird an prominenter Stelle deutlich, wie standortgebunden die Bewertung lokalen Wissens war.4

D’Anville und die seltenen lokalen Informanten Die Werke des französischen Geographen Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville (1697–1782) gelten als wesentliche Innovation der frühneuzeitlichen Kartographie, da er das Innere Afrikas von Spekulationen freigeräumt und stattdessen nur anerkannte Autoritäten und verlässliche Reiseberichte als Quellengrundlage genommen habe.5 Es wäre jedoch vorschnell, daraus schließen zu wollen, dass d’Anville sich deshalb den neuesten Quellen zugewandt und vor allem Netzwerke von Reisenden und lokalen Informanten gebildet habe. Stattdessen gewann er im Rahmen seiner Kompilationsgeographie vor allem aus antiken und mittelalterlichen Autoritäten eine „connoissance positive“6 über den geographischen Raum, wobei der Umrechnung alter Maße und Wegstrecken seine besondere Aufmerksamkeit galt. D’Anvilles Methode zeigt sein Bestreben, zwischen gesichertem Wissen und bloß Spekulativem zu differenzieren, was er in einigen Fällen in Form von quellenreichen Kartenkommentaren („mémoires“) offenlegt. Die Kriterien bleiben dabei jedoch häufig im Unklaren.7 Im Folgenden sollen anhand von drei Karten d’Anvilles zum afrikanischen Kontinent bzw. zu Teilen desselben untersucht werden, inwiefern der Autor in ihnen bzw. den dazugehörigen „Mémoires“ auf lokale Informanten bei der Wissensgenerierung eingeht.8 Im Jahre 1727 fertigte d’Anville eine genaue Karte Westafrikas an, zwischen dem Cap Blanc (an der heutigen Grenze Mauretaniens zur Westsahara) im Norden und dem Mündungsbereich des Sierra-Leone-Flusses, also das Gebiet zwischen

4 Die wissenschaftsgeschichtliche Epoche der „Entdeckungsgeographie“, die vom späten 15. Jahrhundert bis ins mittlere 19. Jahrhundert andauert, läuft dabei der klassischen Epocheneinteilung zuwider. 5 Stellvertretend, mit weiteren Literaturangaben, Georges Tolias: „Une science de pure érudition“. La géographie critique et comparée selon Jean-Baptiste d’Anville. In: Lucile Haguet / Catherine Hofmann (Hg.): Une Carrière de géographe au siècle des Lumières. Jean Baptiste d’Anville. Oxford 2018, S. 155–178, hier S. 155 f. 6 Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Dissertation sur les sources du Nil, Pour prouver qu’on ne les a point encore découvertes. In: Mémoires de litérature tirés des registres de l’academie royale des Inscriptions et Belles-Lettres 26 (1759), S. 46–63, hier S. 46. 7 Lucile Haguet: Specifying Ignorance on Eighteenth-Century Cartography, a Powerful Way to Promote the Geographer’s Work. The Example of Jean-Baptiste d’Anville. In: Cornel Zwierlein (Hg.): The Dark Side of Knowledge. Histories of Ignorance, 1400 to 1800. Leiden u. a. 2016, S. 358–381, hier S. 373. 8 Nicht berücksichtigt bei dieser Fragestellung werden die hier unergiebigen Afrikakarten von 1727 und 1749 sowie die Carte particulière des royaumes d’Angola, de Matamba et de Benguela von 1731.

Abwesenheit, Vereindeutigung, Standortgebundenheit

7° und 21° nördlicher Breite.9 Besonders dicht ist die Information über die Flüsse, wobei dem Oberlauf des Niger und dem Oberlauf des Gambiaflusses jeweils eine Nebenkarte gewidmet ist.10 Die Quellen seiner Kenntnis legt d’Anville nur an wenigen Stellen offen. Besonders eine dritte und letzte Nebenkarte sticht hervor, die den bis ins 18. Jahrhundert üblicherweise dargestellten Verlauf des Niger zeigt: in etwa von Ost nach West fließend und demnach mit der Mündung in den Atlantik. D’Anville fertigte sie nach den Angaben im Werk von Muhammad al-Idrisi.11 Der arabische Kartograph zählt neben Leo Africanus und Ptolemäus zu den wichtigsten Autoritäten d’Anvilles. Durch den Vergleich der historischen Nebenkarte mit der Hauptkarte wird deutlich, welche Modifikationen der Kenntnisstand Idrisis durch die neueren Landkarten und Berichte der „géographie moderne“ erfährt. Da aber weder Kartenkommentar noch „mémoire“ beigegeben sind, sind die konkreten Quellen der Kenntnis allein der Karte selbst zu entnehmen. Der Kartentitel verrät nur summarisch, dass die Karte „[s]ur plusieurs Cartes & divers Mémoires“ gezeichnet wurde. Auf der Hauptkarte, trotz der topographischen Detailfülle mit Kommentaren zur Ethnographie und Vegetation, sind nur wenige Vorlagen angedeutet. So ist nahe der ersten Südschleife des Gambiaflusses zu einem Dorf erläutert, dass es „nach einer alten portugiesischen Karte“ verzeichnet wurde. An anderer Stelle ist etwas genauer vermerkt, dass ein See nach einer handgezeichneten Karte eines gewissen „S[eigneu]r de la Courbe“ eingezeichnet ist.12 In eben derselben Nebenkarte zum „Oberlauf des Niger bis Timbuktu“ werden an genau zwei Stellen auch afrikanische Stimmen explizit erwähnt. Zur Fließrichtung des Niger wird noch die Vermittlung durch „Memoires nouveaux“ hervorgehoben, 9 Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Carte de la partie occidentale de l’Afrique comprise entre Arguin & Serrelionne. [Paris] 1727. Vgl. hierzu Jean-Charles Ducène: L’utilisation des sources orientales par Jean-Baptiste d’Anville. In: Lucile Haguet / Catherine Hofmann (Hg.): Une Carrière de géographe au siècle des Lumières. Jean Baptiste d’Anville. Oxford 2018, S. 179–202, hier S. 192. 10 Diese beiden Nebenkarten gehen auf weitaus unzuverlässigere Quellen zurück als die Hauptkarte von Arguin & Serrelionne, was auch deren ungenaueren Maßstab erklärt. Es heißt auf dem Kartenblatt selbst: „On avertit que ce Suplement et celui de Gambie ont été dressés sur des connoissances moins sûres, et beaucoup moins circonstanciées, que celles qui ont servi à former le principal de la Carte, et que leur Echelle est réduite au tiers de l’étendue de celle de la Carte.“ 11 Die Nebenkarte findet sich prominent in der oberen rechten Kartenecke neben der Hauptkarte von Arguin & Serrelionne: „Carte dressée sur la Description d’al-Edrissi, Geographe Arabe, qui écrivoit il y a 600. ans. Part. 1. et 2. du I. Climat.“ 12 Der namenlose See befindet sich im Einzugsgebiet des Cacheo-Flusses, der südlich des Cap Rouge in den Atlantik mündet. Der Gewährsmann de la Courbe ist nicht weiter identifizierbar, doch bezieht sich die Angabe wohl auf eine Manuskriptkarte von 1695, die unter dem Titel „Pays compris entre le cap Vert & les îles des sauvages près du cap Tagrin“ in der Französischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird (Collection d’Anville, 08138 B). Ich verdanke diesen Hinweis Dr. Irina Saladin (Tübingen).

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wonach „les Nègres“ von einem zweiten Fluss, dessen Richtung dem Niger (nach Idrisi) entgegengesetzt sei, Kenntnis hätten.13 Auf die Auskunft unbestimmter „Nègres“, die unterhalb des Maberia-Sees leben, verweist d’Anville direkt. Diesen zufolge sei der Maberia-See der Quellsee des Niger. In der Karte d’Anvilles zu Oberägypten von 1759 sind Karawanenwege der sichtbare Hinweis auf indigene Wissensnetze.14 Ihr und einer noch aus demselben Jahr stammenden Karte des afrikanischen Kontinents nördlich der Sahara, die sich dann mit dem gesamten Flussnetz im Inneren Afrikas befasst, kommt besonderes Gewicht zu, da sie durch zwei ausführliche Artikel in den „Mémoires de litérature tirés des registres de l’academie royale des Inscriptions et Belles-Lettres“ erläutert werden. Auf dem Kartenblatt selbst werden, wie bei d’Anville üblich, nur einige wenige Autoritäten erwähnt, vor allem Idrisi und Ptolemäus. Beherrschend als graphische Lösung ist der Abgleich der „alten“ mit der „modernen“ Kartographie, der ein Hauptanliegen d’Anvilles ist. Er erläutert, dass antike Namen in der Karte unterstrichen sind, wodurch es zu einer Synopse antiken und modernen Wissens kommt.15 Beim Beweis der Existenz des „weißen Flusses“ Barh-el-Abiad beruft sich d’Anville auf verschiedene Mémoires des französischen Konsuls in Kairo, Benoît de Maillet (1656–1738). Um jedoch zu belegen, dass man vom Barh-el-Abiad einen bedeutsamen Nebenfluss, den „Astapus Fluvius“ der antiken Geographen, unterscheiden könne, will d’Anville nachweisen, dass de Maillet, „homme curieux & lettré“,16 von den älteren Unterlagen des abessinischen Gesandten und Händlers Hadgi-Ali irregeleitet worden sei. Aus praktischen Gründen sei dieser nicht ständig dem Flusslauf gefolgt, sondern habe unterhalb der Stadt Sennar eine Abkürzung gewählt. So sei ihm die Vereinigung der Ströme Barh-el-Abiad und Astapus entgangen.17 Um argumentieren zu können, dass die Kenntnis eines Ortskundigen irrig ist, nimmt sich d’Anville ein allgemeines Urteil über ‚Nichtgeographen‘ heraus:

13 D’Anville, Carte de la partie occidentale: „Suivant quelques Memoires nouveaux, les Negres ont fait connoître, qu’au dela du Lac Maberia, où ils mettent la source du Senega, il y a une autre Riviere, dont le cours est d’occident en orient […].“ 14 Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Dissertation sur les sources du Nil, Pour prouver qu’on ne les a point encore découvertes. In: Mémoires de litérature tirés des registres de l’academie royale des Inscriptions et Belles-Lettres 26 (1759), S. 46–63, Karte nach S. 46 („Pour l’intelligence de la dissertation sur les sources du Nil“). 15 In der oberen linken Ecke derselben Karte heißt es: „Les dénominations de lieu que appartiennent à l’ancienne Géographie sont ici soulignées.“ 16 Ebd., S. 59. 17 Ebd.

Abwesenheit, Vereindeutigung, Standortgebundenheit

On ne doit guère attendre des voyageurs, dont le motif principal dans leurs courses n’est pas d’enrichir la Géographie, & qui considèrent à peine les lieux de leur passage, qu’ils s’inquiètent beaucoup sur ce qui s’en écarte.18

In der Karte Nordafrikas „pour l’Intelligence du Mémoire sur les Rivieres de l’interieur de l’Afrique“ kombiniert d’Anville zwei von ihm bereits erprobte Mittel, um die Quellen seiner Kenntnis und die Wissensgenese zu betonen.19 Zum einen hebt er antike Namen so wie auf der Karte Oberägyptens durch Unterstreichung ab (allerdings ohne dass dies auf dem Kartenblatt erklärt wird), zum anderen stellt er zwei unterschiedliche topographische Kenntnisstände komparativ gegenüber: So, wie er auf dem Blatt zu Senegambien von 1727 den Niger nach Idrisi auf einer Nebenkarte bringt, bietet er nun am unteren Blattrand eine „Tabula ad Ptolemaicam descriptionem exacta“. Nur im Mémoire, nicht aber in der Karte sind lokale, punktuelle Informationsquellen genannt, und dies auch nur an vereinzelten Stellen deutlicher – verschwindend wenig also gemessen an Ptolemäus, der allenthalben zitiert wird. Im ersten Fall wird der französische Jesuit Claude Sicard (1677–1726) hinzugezogen, der in der Berichtssammlung „Missions du Levant“ Informationen zu einer möglichen Verbindung zwischen Gir-Fluss und dem eigentlichen Nil bietet: Le P. Sicard, [Nachweis in Marginalie: Missions du Levant, t. 11, p. 187] Jésuite, voyageant dans la haute Égypte, rencontra, sur une barque qui descendoit le Nil depuis le fond de la Nubie, un Noir de la ville capitale du royaume de Bournou, duquel il apprit, que la fleuve que traverse le Bournou, confondu d’ordinaire avec le Niger, ainsi qu’on le trouve dans la relation du P. Sicard, se nomme dans le pays Bahr-el-Ghazal, ou rivière de la Gazelle; que cette rivière communique avec le Nil, sur-tout au temps de l’inondation, par un canal nommé Bahr-el-Azrak, ou rivière Bleue.20

Diese Aussage des namenlosen „Noir“ aus Bournou widerspricht der These des Ptolemäus über diese Flussverbindung, und d’Anville erklärt detailreich, warum der griechische Gelehrte zu seiner irrigen Meinung gelangt ist. Seine Verbindung zur nächsten lokalen Quelle kommentiert d’Anville klarer, da er die Auskunft „d’une personne qui avoit commandé plusieurs années au fort Saint-Joseph en Galam“21 hinzuzieht. Der Kommandant gab d’Anville gegenüber an, dass sein Fort 18 Ebd., S. 59 f. 19 Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Mémoire concernant les rivières dans l’intérieur de Afrique, sur les notions tirées des Anciens & des Modernes. In: Mémoires de litérature tirés des registres de l’academie royale des Inscriptions et Belles-Lettres 26 (1759), S. 64–81, Karte beigebunden. 20 D’Anville, Mémoire concernant, S. 67. 21 Ebd., S. 73.

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130 französische Meilen landeinwärts von der Mündung des Senegal entfernt gewesen sei. Diese Distanz war für die Lage des sagenumwobenen Timbuktu (oder auch „Tombut“ genannt) ausschlaggebend, da der Kommandant von den mit Sklaven handelnden Bambaras gehört hatte, dass Timbuktu 48 Tagesreisen vom Fort Saint-Joseph entfernt liege.22 Nur an einer weiteren Stelle werden „les Nègres“ als Gewährsleute genannt, nämlich wenn es um die Frage geht, ob Senegal und Niger zwei getrennte Flüsse sind.23 Zudem werden „les Portugais“, wenngleich ebenfalls nur summarisch, erwähnt.24 In einiger Ausführlichkeit treten zwei Individuen auf, und zwar der französische Konsul in Kairo, Pierre-Jean Pignon,25 und ein Gesandter aus Tripolis. D’Anville kann den Gesandten mit Hilfe des syrischen Dolmetschers Barout dahin befragen, dass Ptolemäus zwei (temporäre) Gewässer in der Sahara miteinander verwechselt.26 Es wird auch hier klar, dass d’Anville nur dann indigenes Wissen hinzuzieht, wenn er besonders genau gegen die überlieferten Autoritäten argumentieren muss.

Oldfields Fahrt auf dem Calabar: Von der Vielstimmigkeit zur Einstimmigkeit bei der Wissensgenese Den Lehnstuhl d’Anvilles hinter uns lassend, basiert das folgende Beispiel auf dem direkten Augenschein. Auf den ersten Blick handelt es sich um einen knappen Bericht von R. A. K. Oldfield über eine Fahrt mit einem Dampfer 120 Meilen den Calabar-Fluss hinauf. Der Bericht wird dadurch legitimiert, dass Oldfield, in Begleitung von John Becroft, den 1832 von C. H. Coulthurst erreichten fernsten Punkt überwindet. Auf drei Druckseiten beschreibt Oldfield in Form von zwei Einträgen vom 30. September und 3. Oktober 1836 knapp, wie er mit den einheimischen Calabar bei einem Schlag gegen die als diebisch und streitsüchtig geschilderten Itú weit ins Landesinnere vordringt. Oldfield benennt mehrere Inseln und Ausläufer des Flusses. Den Umkehrpunkt benannte er wohl nach dem damaligen Hydrographen der Admiralität Beaufort’s Reach. Letztlich spitzt er seine Beobachtungen auf die Frage zu: „Is the Cross or Calabar river a branch of the Quorra or Shary?“27 Mit „Quorra“ bezieht sich Oldfield faktisch auf den Unterlauf des Niger, als die Verbindung zu dessen Oberlauf noch nicht klar war. Seine Beobachtungen, die sich

22 23 24 25 26 27

Ebd. Ebd., S. 69. Ebd., S. 74. Ebd., S. 79. Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 78. R. K. Oldfield: A brief Account of an Ascent of the Old Calabar River in 1836. In: Journal of the Royal Geographical Society 7 (1837), S. 195–198, hier S. 198.

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teilweise durch „information of several respectable traders“28 ergänzten, führten ihn zu einer Bejahung der Frage. Vor allem eine Insel im Calabar-Fluss, die ihn stark an Sunday Island im Quorra erinnerte,29 sowie die Fetische von „several men from the Boson country“, die in seinen Augen ebenfalls Artefakten an den Ufern des Quorra ähnelten, sind für ihn Anhaltspunkte, ebenso die Ethnie der Sklaven, die von den „Calabar chiefs“ verkauft werden.30 Die Leserschaft des Journal of the Royal Geographical Society erfährt, dass Oldfields Beitrag am 12. Juni 1837 verlesen worden war, gefolgt von einer ebenfalls abgedruckten Gegenrede des mitreisenden William Allen, Captain der Royal Navy, die vier Tage später vorgelesen wurde. Allen widerspricht Oldfield, bezeichnet etwaige Flussbifurkationen als Zuflüsse und hält einige „accounts of the natives […] too vague to be entitled to any consideration“.31 Hinsichtlich der Wissensgenese setzt Allen weniger auf indigene Kenntnis oder den eigenen Augenschein, sondern vielmehr auf Analogieschlüsse, wie er abschließend hervorhebt: Der Calabar und der Quorra könnten, obwohl die Mündungen sehr nahe beieinander lägen, sehr wohl unabhängige Flusssysteme bilden, da dies auch in anderen Fällen vorkomme: Gleich östlich flössen sowohl der Rio del Rey als auch der Camaroons-Fluss in die Bucht von Biafra, und auch der Ganges und der Brahmaputra bildeten getrennte Flusssysteme. Im Falle von Oldfields Bericht und Allens Erwiderung sind beide von den Autoren eingesandte Manuskripte im Archiv der Royal Geographical Society erhalten. Ein Blick auf Oldfields Manuskript offenbart, dass es um ein Drittel gekürzt wurde und auch die übrigen Stellen teils stark bearbeitet wurden. Oldfields Bericht ist, wie in der Entdeckerliteratur üblich, auf die eigene Person als Akteur zugeschnitten, unter Erwähnung Becrofts. Ansonsten fällt auf, dass der eigentliche Grund der Reise, die Waffenhilfe für die Calabar, nicht weiter zur Sprache kommt. Zunächst fällt bei der Überarbeitung des Manuskripts zur Drucklegung eine Exotisierung bzw. Biologisierung der Sprache an entscheidenden Stellen auf, wobei den Indigenen in der Sicht der Zeit auch eine Kulturleistung abgesprochen wird: Aus den „Gentlemen“ aus Calabar werden „chiefs“,32 aus den „ladies“, die in der Stadt Berruk-Bah laut König Eyamba ausschließlich Zwillinge zur Welt brächten, werden im Druck „women“,33 und der Begriff der Architektur wird im Druck weggelassen, wenn Oldfield im Manuskript noch vom „style of architecture“ der

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Ebd., S. 197. Ebd., S. 196. Ebd., S. 198. William Allen: Is the Old Calabar a branch of the River Quorra? In: Journal of the Royal Geographical Society 7 (1837), S. 198–203, hier S. 202. 32 Royal Geographical Society (RGS), JMS/1/8, S. 2. 33 Oldfield, A brief Account, S. 196.

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Indigenen spricht.34 Zudem fällt auf, dass die Redaktion den Akt der Namensgebung expliziert. Einschübe wie „which we named“ und „which we called“ verdeutlichen, dass Oldfield und Becroft neue topographische Namen vergeben.35 Nicht nur die detaillierten Schanzarbeiten und Kampfhandlungen werden aus der Druckvorlage getilgt,36 auch die ausführlich beschriebene ethnische Zusammensetzung der Reisegruppe. So bleibt im Druck ein „whiteman“, der Malteser John Lombard, ebenso unerwähnt wie „two col[oure]d men natives of Nufie named John Thomas & Thomas Cooper and four Kroomen“.37 Bei den „kroomen“ handelt es sich um aus der Sklaverei befreite und von der Royal Navy rekrutierte Westafrikaner.38 Nach Schilderung der Kampfhandlungen bietet eine Liste der Verstorbenen und Verwundeten summarische Details über die Reisegruppe, die wohl nicht anderweitig überliefert sind: The following is a list of the names of the persons − John Lombard, a native of Malta. Gunshot wound of the thigh – dead − Benj[ami]n Williams S[ergean]t Major, a remarkably fine Krooman burnt with gunpowder – dead − John Thomas a Native of Nufie. Late Hausa interpreter to the Niger expedition shot in the thigh. This person was with the late Rich[ar]d Lander when he was unfortunately shot about the same part – dead − Schoonen Hope, Head Krooman; Big Jack Brandy; Tom Nimney. Burnt with gunpowder, all very fine muscular men – dead − Thomas Cooper, burnt with gunpowder – in the Hospital. − In the second boat a youth named William Wilson – slight gunshot wound of the shoulder.39

Somit wird die eindeutige Zuspitzung auf eine (europäische) Entdeckerfigur, die mit dem Autor zusammenfällt, erst auf dem Redaktionstisch erledigt, nicht in der Schreibstube des Autors. Mit der Zuspitzung fällt die Information über eine multiethnische Umgebung weg, die neben einem Malteser auch den Übersetzer des Niger-Erkunders Richard Lander sowie „kroomen“ umfasst. Um die Nutzung

34 RGS, JMS/1/8, S. 10. 35 Ebd., S. 5. Von wem genau diese redaktionellen Arbeiten durchgeführt wurden, lässt sich nicht erschließen. 36 Dies ergibt der Vergleich von RGS, JMS/1/8, S. 5–9 mit Oldfield, A brief Account, S. 197. 37 RGS, JMS/1/8, S. 7. 38 Oxford English Dictionary. Bd. 5. Oxford 1933, ND 1970, S. 755 (s. v. „Kroo“). 39 RGS, JMS/1/8, S. 9.

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lokaler Netzwerke für die Aufbereitung des Wissens zu untersuchen, reicht es also nicht aus, sich mit den Publikationen zu beschäftigen. Vielmehr muss idealiter auch die Rezeptions- und Druckgeschichte berücksichtigt werden.

Bowdich bei den Ashanti: Urteil und Umkehr bei Petermann Der erste detaillierte Bericht über das Innere der Gabun-Region stammt vom Briten Thomas Edward Bowdich (1791–1824). Der Handwerkersohn wurde 1814 in Cape Coast Castle an der Gold Coast zum Sekretär der African Company ernannt.40 Drei Jahre darauf nahm er an einer Gesandtschaft ins Landesinnere teil, nach Kumasi, der Residenz des Königs der Ashantee. Sie hatte das Ziel, durch Freundschaftsverträge mit dem König die britischen Stützpunkte an der Küste zu schützen. Einen mehrmonatigen Aufenthalt nutzte Bowdich dazu, einen ausführlichen Bericht zu verfassen. Gleich im Anschluss, vor seiner Rückkehr nach Europa Ende 1817, beschloss er an den unteren Gabun zu reisen. Er verbrachte sieben Wochen in Naango, einer kleinen Stadt 50 Meilen oberhalb der Mündung. Bowdich hatte sich vorgenommen, das den Europäern völlig unbekannte Innere der Gabun-Region zu beschreiben, doch nicht auf Grundlage eigener Reisen, sondern durch sorgfältige Befragung von lokalen Informanten. Zwar war er nicht der erste Europäer in der Region, da diese schon jahrzehntelang von Portugiesen, Niederländern, Spaniern und Engländern, vor allem Sklavenhändlern, frequentiert worden war. Doch war er der Erste, der einen ausführlichen Bericht verfasste, den er dann 1819 in London drucken ließ. Dieser stach dadurch hervor, dass Bowdich die zugrunde liegenden Quellen und die Grenzen der darin getätigten Aussagen deutlich offengelegt hatte.41 In seinem „Sketch of Gaboon, and its Interior“, einer Art Anhang zu seinem Werk über das Ashantee-Reich, räumt er beispielsweise gleich zu Beginn ein: „[U]nfortunately, I had not the requisites for an observation [of the longitude of the Gabon River]“.42 Er beschreibt knapp die Topographie, die Verwaltung, indigene Sprachen, Bräuche, religiöse Vorstellungen, die Tierwelt, die Vegetation und die Musik im Landesinneren, wobei er ein „slight knowledge of botany, and the absence of all instruments“43 unumwunden zugibt. Sobald Bowdich seine Aussagen nicht auf die eigene Anschauung gründet, gibt er die Quellen minutiös an. Die zugrunde liegenden Schriftquellen sind recht über-

40 Zur Biographie Bowdichs vgl. Dietmar Henze: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. Bd. 1. ND Wiesbaden 2011, S. 330 f. 41 Thomas Edward Bowdich: Mission from Cape Coast Castle to Ashantee, with a statistical account of that kingdom, and geographical notices of other parts of the interior of Africa. London 1819. 42 Ebd., S. 422. 43 Ebd., S. 443.

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schaubar, da sich Bowdich im Wesentlichen auf die französische Übersetzung von Dappers erstmals 1668 erschienenen „Beschreibung von Africa“ bezieht.44 Weitaus vielfältiger sind die mündlichen Quellen, wobei Bowdich kaum reiste, sondern vielmehr seinen kurzen Aufenthalt in Naango damit verbrachte, „investigating and compiling the interior geography, as far as I could from the reports of the slaves, and traders.“45 Ein besonderes Augenmerk richtet Bowdich auf eine Verbindung zwischen dem Ogowe und dem Kongostrom. Der Zeuge für diese Annahme wird nicht nur namentlich erwähnt, Wondo, sondern auch über eine ganze Seite beschrieben, als schwarzer „son of the principal trader in Gaboon, called Tom Lawson, who speaks English fluently“.46 Diese Ausführungen Bowdichs sind nicht nur wegen der detaillieren Nennung lokaler Quellen bemerkenswert. Auch die Rezeptionsgeschichte ist ergiebig, wie der Blick in die Publikationen August Petermanns zeigen, eines der Mitte des 19. Jahrhunderts einflussreichsten Publizisten und Wissensmanager auf dem Feld der Entdeckungsgeographie.47 Petermann stand zunächst den Erkundigungen Bowdichs sehr reserviert gegenüber, da sie mit den Maßstäben der Empirie und der exakten Vermessung nicht vereinbar waren. So nahm Petermann Bowdichs Ergebnisse als repräsentatives Beispiel einer geradezu vorwissenschaftlichen Geographie, als Teil einer Vorgeschichte, um auf diesem Hintergrund bei der Erforschung des westlichen Äquatorialafrika zu vermitteln. Zudem nahm er die Erkundigungen des französischen Forschungsreisenden Paul Du Chaillu (1835–1903) in Gabun als übertrieben an und versuchte zwischen diesen und der harschen Kritik Heinrich Barths zu vermitteln.48 Nach den Erkundigungen Paul Servals 1862 aber musste Petermann einknicken. In seinen geographischen Mitteilungen von 1863 gibt er den aktuellen Stand der topographischen Kenntnis wieder. Er stellt dabei fest, dass die Erkundigungen die Angaben Du Chaillus nach dessen erster Reise recht präzise bestätigen. Um jedoch Du Chaillu gegenüber weniger Zugeständnisse machen zu müssen, wertet Petermann die Ergebnisse Bowdichs mit Nachdruck auf: Das Verdienst, die ersten Nachrichten über den Ogowai gesammelt zu haben, gebührt dem Engländer T. E. Bowdich, der Ende 1817 einen siebenwöchentlichen Aufenthalt in dem Ort Naängo oder Georgestown am Gabun dazu benutzte, von intelligenten Händlern und

44 Olfert Dapper: Description de l’Afrique contenant les noms, la situation & les confins de toutes ses parties […]. Amsterdam 1686. 45 Bowdich, Mission, S. 424. 46 Ebd., S. 432. 47 Demhardt, Der Erde, S. 9–12. 48 Fabian Fechner: Zerfallene Synopse, verlorene Grundkarte. Experimente mit Bildfolgen im Zeitalter der Entdeckungsgeographie. In: Tanja Michalsky u. a. (Hg.): Verkoppelte Räume. Karte und Bildfolge als mediales Dispositiv. München 2020, S. 281–307, hier S. 294–301.

Abwesenheit, Vereindeutigung, Standortgebundenheit

zahlreichen Sklaven Nachrichten über die Binnenländer einzuziehen. Wie richtig er diese Nachrichten aufgefasst und kombinirt hat, zeigt am klarsten seine Karte, welche bis auf Du Chaillu bei weitem die beste geblieben ist; nur darin liess er sich durch die eigenthümlichen Anschauungs- und Ausdrucksweise der Eingeborenen zu einem Irrthum verleiten, dass er annahm, der südöstliche Arm des Ogowai (der Rembo N’Gouyai Du Chaillu’s) sei die Fortsetzung des Hauptstromes (des Rembo Okanda), welcher nach Abgabe des Assazee (Nazareth) gegen Südosten umbiege und sich in den Congo ergiesse. Im Übrigen stimmen seine Erkundigungen mit dem, was man seitdem durch Du Chaillu und die Französischen Marine-Aufnahmen erfahren hat, sehr befriedigend, ja sie erstrecken sich weiter in das Innere als die neuen Nachrichten.49

Petermann gesteht zwar einen Fehler ein, um aber umso mehr zu betonen, dass das „Berichtigte“ eigentlich nur ältere Erkenntnisse bestätige und die älteren Erkenntnisse ohnehin ein größeres Gebiet beschreiben. Dass Bowdich mündliche Aussagen erfasst, kompiliert und visualisiert, Serval hingegen exakt vermisst, wird in dieser Passage eigentümlich zweitrangig. Die mittlerweile unhaltbare Hauptthese Bowdichs, dass die Flusssysteme von Niger, Nil und Kongo miteinander verbunden seien, wird ebenfalls zu einem Aspekt unter vielen heruntergespielt – doch dass er darin irrte, sei gerade der „eigenthümlichen Anschauungs- und Ausdrucksweise der Eingeborenen“ geschuldet.

Fazit Der Augenschein bzw. die Stützung auf Netzwerke von Gewährsleuten und Informanten ist kein Wert an sich mit einem bestimmten heuristischen Ort. Es ist vielmehr ein verhandelbares Merkmal der Wissensgewinnung. Anhand der drei diskutierten Beispiele wird deutlich, inwiefern bei diesen Aushandlungsprozessen Vorsicht geboten ist: Sie können gerade in Fällen, wo sie aufgrund des innovativen Rufs eines Kartographen erwartet werden, recht mager dokumentiert sein (d’Anville). Darüber hinaus ist zu bedenken, dass infolge von Glättungen und Auslassungen während des Editionsprozesses Informationen über die Arbeitsteilung bei der Wissensgewinnung verlorengehen können (Oldfield). Schließlich ist die geographische Bewertung von indigener Wissensproduktion durchaus wandelbar, wie die Äußerungen Petermanns zu Bowdich zeigen.

49 August Petermann: Der Ogowai, der Hauptstrom in der Westhälfte des äquatorialen Afrika. Nach den Aufnahmen und Forschungen von Lieutenant Serval, Juli bis Dezember 1862. In: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 1863, S. 445–458, hier S. 445.

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Fabian Fechner

Letztlich ist nach dem Befund auch zu fragen, wie mit der binären Opposition von „indigen“ und „europäisch“ / „westlich“ umzugehen ist. Bei d’Anville sind ja außer Ptolemäus auch Idrisi und Leo Africanus unbestrittene Autoritäten – Grenzgänger also, die in einem kulturellen Kontinuum zwischen Nordafrika und Südeuropa nicht auf eine einzige Zugehörigkeit zu reduzieren sind. Auch lokale Informanten europäischen Ursprungs, die teilweise Jahrzehnte in außereuropäischen Handelsstützpunkten und diplomatischen Vertretungen verbrachten, sind in diese Dichotomie nicht einzuordnen. Gerade darin spiegelt sich deutlich der Pluralismus bei den Modi der Wissensproduktion wider.

Ingeborg van Vugt

Multilayer Networks, Multilayer Historians

The Republic of Letters (1500–1800) is often thought of as a social network, or better as the overlap of different networks. Far from being self-contained, the different networks of the Republic of Letters interacted and competed with the political, religious and economic institutions of their time. For instance, the Dutch burgomaster Gijsbert Cuper (1644–1716) bridged the world of politics and scholarship by employing his political connections for the sake of learning.1 The Florentine librarian Antonio Magliabechi (1633–1714) was dependent on postmasters, shippers, merchants, missionaries and diplomats to exchange books, manuscripts and letters.2 The „information master“ Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) believed that all knowledge was valuable for government.3 By studying the multiplicity of networks to which they belonged, Cuper, Magliabechi and Colbert emerge in all their versatility. Looking at a single type of relationship within a social network risks overlooking the interactions between various kinds of networks.4 How are we, then, to approach the plurality of networks within early modern society? In his paper, Tobias Winnerling touches upon this problem, hinting at the possibilities of a formal network analysis for studying the structural properties of family networks. More in general, a lesson that can be learned from the contributions of Winnerling, Natour and Fechner is to move beyond single layer networks and investigate more complicated, yet more realistic frameworks. By doing so we can confirm hypotheses on how families with members in both academic and political circles were more successful

1 Bianca Chen: Digging for Antiquities with Diplomats. Gisbert Cuper (1644–1716) and his Social Capital. In: Republics of Letters. A Journal for the Study of Knowledge, Politics, and the Arts 1 (2009), pp. 1–18; id.: Politics and letters: Gisbert Cuper as a servant of two Republics. In: Marika Keblusek / Badeloch Vera Noldus (ed.): Double Agents. Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe. Leiden / Boston 2011, pp. 71–93. 2 Ingeborg van Vugt: Using Multi-Layered Networks to Disclose Books in the Republic of Letters. In: Journal of Historical Network Research 1 (2017), pp. 25–51; Jean Boutier et al. (ed.): Antonio Magliabechi nell’Europa dei saperi. Pisa 2018. 3 Jacob Soll: The information master. Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System. Ann Arbor 2009; id.: Jean-Baptiste Colbert’s Republic of Letters. In: Republics of Letters. A Journal for the Study of Knowledge, Politics, and the Arts 1 (2018), pp. 1–17. 4 For an extensive account on the role of political and cultural brokerage in early modern Europe, see Keblusek / Noldus (ed.): Double Agents; Hans Cools et al. (ed.): Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe. Hilversum 2006.

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Ingeborg van Vugt

than families with a less diversified structure (Winnerling); how fine arts and music were embedded in political networks (Natour); and how geographical maps can unravel the strategies and networks employed by cartographers and their informants (Fechner). To explain the way in which different networks evolve, compete, and interact, new modes of representation and analysis are needed: multilayer networks. Multilayer networks are used in the social sciences to create an accurate description of real systems;5 single layer networks, on the other hand, ignore the complexity of society. This applies to past and present alike. The only difference is that the past provides us with more fragmentary and uncertain data than the present. Yet, the reduced availability of historical sources is all the more reason to explore multilayer networks. As noted by Irad Malkin, because of the fragmented state of historical sources, we need new graphic representations that avoid the “pitfalls of dazzling oversimplification”.6 Although the modelling of multilayer networks is complicated, and structured historical data is lacking, I am confident that many of the technical problems will be solved in the foreseeable future. To give nuance and detail to our visualizations, we need to sharpen our digital tools and experiment with network models.7 In fact, some of these tools are already here. As I have shown elsewhere, the software application Nodegoat allows us to model multilayer networks and create interfaces supporting the visualization of various types of data, ranging from correspondence to engravings and social contacts.8 Winnerling, Natour, and Fechner have highlighted the importance of a variety of disciplines – art history, musicology, literature, cartography, economics and politics – to study the wide-ranging activities of historical figures and the dynamics

5 Stefano Boccaletti et al.: The Structure and Dynamics of Multilayer Networks. In: Physics Reports 544/1 (2014), pp. 1–122; Mikko Kivelä et al.: Multilayer Networks. In: Journal of Complex Networks 2 (2014), pp. 203–71. 6 Irad Malkin: A Small Greek World. Networks in the Ancient Mediterranean. Oxford, 2011, p. 19. 7 The use of multimodality can also be found in the work of Matteo Valleriani, who analyzed the edition history of Johannes de Sacrobosco’s 13th century Tractatus “De Sphaera” by means of “multilevel networks”, used to investigate how specific commentaries on this text circulated, which actors were responsible for them and what factors supported or hindered the spread of specific kinds of knowledge. See: ‘De Sphaera | The Sphere’, URL: https://sphaera.mpiwg-berlin.mpg.de/ (22.01.2019). See also, Florian Kräutli / Matteo Valleriani: CorpusTracer. A CIDOC Database for Tracing Knowledge Networks. In: Digital Scholarship in the Humanities 33 (2018), pp. 336–346; Matteo Valeriani et al.: The Emergence of Epistemic Communities in the Sphaera Corpus. Mechanisms of Knowledge Evolution. In: Journal of Historical Network Research 3/1 (2019), pp. 50–91. 8 Charles van den Heuvel et al.: Deep Networks as Associative Interfaces to Historical Research. In: Florian Kerschbaumer et al. (ed.): The Power of Networks. Prospects of Historical Network Research. London / New York 2019, pp. 197–201.

Multilayer Networks, Multilayer Historians

of their networks. Moreover, they have shown the diversity of archival materials needed to answer their research questions. This is in line with the emerging field of the History of the Humanities as proposed by Rens Bod, a digital humanist himself, who argues for a comparative and interdisciplinary approach exploring the patterns and principles shared by the humanities across time and space.9 Network analysis may help us implement this approach by giving us tools to study the interwoven activities and chameleon-like personalities of early modern figures. The real challenge, however, lies on historians themselves, who are required to become multilayer just as the networks they explore.

9 Rens Bod: A New History of the Humanities. The Search for Principles and Patterns from Antiquity to the Present. Oxford 2013.

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Sektion 15: Konkurrieren und Entscheiden in der Frühen Neuzeit

André Krischer

Konkurrieren und Entscheiden Einführende Überlegungen Gibt es Affinitäten, vielleicht sogar strukturelle Zusammenhänge zwischen Konkurrieren und Entscheiden? Immerhin geht es in beiden Fällen um multiple Optionen; um Optionen, die sich deutlich voneinander unterscheiden, die in ihrer Unterschiedlichkeit akzentuiert werden und die deswegen dazu motivieren, Präferenzen zu bilden und möglicherweise sogar eine Wahl zu treffen.1 Die These, die dieser Sektion zugrunde liegt, lautet: Es gibt solche Affinitäten – und es gibt zugleich signifikante Unterschiede. Die genaue Konturierung dieses Nebeneinanders von Affinität und Differenz erscheint insofern erkenntnisfördernd, als man auf diese Weise sowohl „Konkurrieren“ als auch „Entscheiden“ als soziale Praxis besser versteht. Dass das Verhältnis dieser beiden Praxen zueinander bislang weder in den Sozial- noch in den Kulturund Geschichtswissenschaften untersucht wurde, hat wohl auch damit zu tun, dass sowohl „Entscheiden“ als auch „Konkurrieren“ selbst erst in jüngerer Zeit als distinkte Forschungsgegenstände konstituiert worden sind.2 Wo wären aber nun solche Affinitäten zu sehen? Ich möchte an dieser Stelle nur auf historische (1) und praxeologische (2) Parallelen hinweisen: (1) Konkurrieren und Entscheiden sind gleichermaßen Imperative moderner, kapitalistischer Gesellschaften: Konkurrieren ist gut fürs Geschäft, Entscheiden gilt als Ausweis des selbstbestimmten Individuums und immer besser als Zuwarten und Herumlavieren. Von politischen Parteien wird beides erwartet: Dass sie miteinander konkurrieren und auch unter Zeitdruck relevante Entscheidungen treffen. Es ist daher kein Zufall, dass sowohl „Konkurrieren“ als auch „Entscheiden“ zur Typisierung moderner Gesellschaften herangezogen wurden: Uwe Schimank spricht von der modernen Entscheidungs-, Hartmut Rosa von der modernen Wettbewerbs- bzw. Konkurrenzgesellschaft.3 Diese Typisierung geht in beiden

1 Zum entscheidungsbezogenen Verständnis von Konkurrenz vgl. Jörg Stolz: Entwurf einer Theorie religiös-säkularer Konkurrenz. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 25–49. 2 Tobias Werron: Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der „Soziologie der Konkurrenz“. Workingpaper des Soziologischen Seminars 05/09. Luzern 2009. 3 Uwe Schimank: Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne. Wiesbaden 2005; Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft. In: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1 (2006), S. 82–104.

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André Krischer

Fällen mit der Behauptung einher, dass vormoderne Gesellschaften eben noch keine Entscheidungs- und Konkurrenzgesellschaften waren oder sich allenfalls auf dem Weg dorthin befanden. Es kann nun sicher nicht darum gehen, diese Typisierungen so weit wie möglich zurückzudatieren, wohl aber darum, diese Gegenüberstellung von modernen „Konkurrenz- und Entscheidungsgesellschaften“ vs. vormodernen „Aushandlungsund Konsensgesellschaften“ zu problematisieren.4 Denn diese Gegenüberstellung tendiert dazu, das Konkurrenz- und Entscheidungsverhalten in den jeweiligen Gesellschaften zu vereinfachen und die Differenzen zu überzeichnen. Dass in frühneuzeitlichen Gesellschaften auf vielfache Art und Weise miteinander konkurriert wurde, demonstrieren die Beiträge in diesem Band, und dass in dieser Zeit auch mehr entschieden wurde, als modernisierungstheoretische Meistererzählungen wahrhaben wollten, konnte in der neueren Forschung ebenfalls gezeigt werden.5 Es ist daher an der Zeit, nach Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu fragen: Wurde dort, wo miteinander konkurriert wurde, auch entschieden, und umgekehrt: War die Möglichkeit des Entscheidens daran gebunden, dass zuvor miteinander konkurriert wurde – um die Wahrheit, um den besten Vorschlag usf.? Sorgten Konstellationen von Konkurrenz dafür, dass auch Entscheidungen, die fast immer enorme soziale Zumutungen implizierten, leichter und breiter akzeptiert wurden, und umgekehrt: Erfuhr das „Sozialmodell der Konkurrenz“ (Tobias Werron) dort, wo Entscheidungen mit einer hohen Regelmäßigkeit fielen, etwa im englischen Parlament, einen anderen Grad an Legitimation als dort, wo man eher auf Ausgleich und Kompromisse setzte? Darüber lässt sich besser nachdenken, wenn zuvor bestimmt wird, wie sich Konkurrieren und Entscheiden konzeptionell fassen lassen.

4 Konsens war in Mittelalter und Frühneuzeit ein Ergebnis seiner rituellen Inszenierung, die wiederum Teil von Entscheidungsverfahren sein konnte; eine strikte Unterscheidung zwischen Ritual und Verfahren lässt sich mit Blick auf die jüngere Forschung nicht halten, vgl. etwa Barbara StollbergRilinger: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Vormoderne politische Verfahren. Berlin 2001, S. 9–24; Klaus Schreiner: Wahl, Amtsantritt und Amtsenthebung von Bischöfen. Rituelle Handlungsmuster, rechtlich normierte Verfahren, traditionsgestützte Gewohnheiten. In: Ebd., S. 72–118; Gerald Schwedler: Formen und Inhalte. Entscheidungsfindung und Konsensprinzip auf Hoftagen im späten Mittelalter. In: Jörg Peltzer u. a. (Hg.): Politische Versammlungen und ihre Rituale. Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter. Ostfildern 2009, S. 151–179; zur frühen Diskussion um konsensuale Herrschaft vgl. kritisch Wolfgang Reinhard: Zusammenfassung. Staatsbildung durch „Aushandeln“? In: Ronald G. Asch / Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln 2005, S. 429–438. 5 Vgl. etwa die Beiträge in Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2018.

Konkurrieren und Entscheiden

(2) Die heute populärsten Theorien über Konkurrieren und Entscheiden stammen bezeichnenderweise aus derselben Disziplin, nämlich aus den Wirtschaftswissenschaften. Sie teilen das gleiche Menschenbild, und zwar das des homo oeconomicus.6 Diese Figur trifft bekanntlich auf der Grundlage stabiler Präferenzen und konkurrierender Alternativen möglichst rationale Entscheidungen. Empirisch offener und damit auch historisch besser zu operationalisieren ist es dagegen, Entscheiden nicht als einen individuellen oder gar mentalen Vorgang zu verstehen, sondern als eine soziale Praxis: als Konglomerat aus Kommunikation, Körperlichkeit und Materialität, als ein auf verschiedene Partizipanden verteiltes Geschehen, das zwar auf das Fällen einer Entscheidung ausgerichtet ist, sich darin aber nicht erschöpft.7 Diese Praxis ist geschichtlich, d. h. es ist nicht schon immer über alles Mögliche entschieden worden. Entscheiden setzt vielmehr bestimmte Rahmungen voraus, sowohl Deutungsrahmen als auch konkrete und situierte Handlungsrahmen. Entscheiden ist als Praxis performativ: Sie ist für die Beteiligten und Betroffenen sinnlich oder körperlich erfahrbar und unterscheidet sich so von Routinehandeln und unreflektierten Selektionen. Sie ist schließlich auch konfliktbeladen, denn entschieden wird, weil sich die Beteiligten gerade nicht in gütlicher Weise einigen konnten, sondern auf ihren Positionen beharren, die entweder obsiegen oder verworfen werden.8 Gerade weil es sich dabei um eine außergewöhnliche Zumutung handelt, wurde und wird Entscheiden zum Gegenstand von Fremd- und Selbstbeobachtungen, von fiktionalen und nicht-fiktionalen Narrationen und anderen kulturellen Repräsentationen. Prozessualität, Geschichtlichkeit, Rahmungen, Performanz, Konflikt und kulturelle Repräsentationen scheinen Kategorien zu sein, mit denen sich auch Kon-

6 Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. Auf dem Wege zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens. Reflexionen der Dialektik einer interdisziplinären Problemkonstitution. In: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal 1/2019, S. 133–152. 7 Vgl. zum hier skizzierten Konzept des Entscheidens Barbara Stollberg-Rilinger: Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln u. a. 2015, S. 630–634; Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281; Ulrich Pfister: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2018, S. 11–34; Hoffmann-Rehnitz u. a., Diesseits; André Krischer: Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive. In: Barbara Stollberg-Rilinger / Ders. (Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010, S. 35–64. 8 Der Konflikt muss dazu aber entsprechend gerahmt und somit „erlaubt“ werden, i. S. v. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 1983, S. 100–106.

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André Krischer

kurrieren als soziale Praxis beschreiben ließe.9 Das kann ich hier nicht genauer ausführen.10 Wohl aber lässt sich fragen, 1.) in welchen sozialen Konstellationen und Situationen die sozialen Praxen des Entscheidens und Konkurrierens miteinander verschränkt waren und wo sie sich demonstrativ voneinander absetzten, 2.) inwiefern diese Verschränkungen und Absetzungen performativ und damit sichtbar wurden und 3.) welche Folgen diese Verschränkungen und Absetzungen nach sich zogen. Wo also vollzog sich Entscheiden in konkurrierender Art und Weise, wo wurde Konkurrenz wiederum unsichtbar gemacht, um die Entscheidung etwa als göttlichen Wink inszenieren zu können? Und umgekehrt: Wo liefen Konkurrenzen auf Entscheidungen hinaus, inwiefern erzeugte Konkurrenz den Bedarf und die Notwendigkeit einer Entscheidung? Wo und warum blieben Konkurrenzen aber auch unentschieden, wo wurden sie sogar als unentscheidbar repräsentiert? Die BeiträgerInnen dieser Sektion adressieren diese Fragen anhand von drei Detailstudien: Maria Weber fragt am Beispiel von Augsburger Schuldenkonflikten nach der Konkurrenz zwischen gerichtlich-formalen und außergerichtlichinformalen Entscheidungsweisen, wobei dieses Konkurrenzverhältnis aber nicht einfach gegeben war, sondern durch die prozedurale Offenheit des offiziellen Verfahrens erst erzeugt wurde. Ebenfalls am Beispiel des Forensischen, aber für England um 1780, zeigt Alexander Durben, wie Entscheiden durch die Vorstellung und immer weitere Zuspitzung zweier miteinander konkurrierender Fallversionen ermöglicht wurde. Die englischen Verfahren der Sattelzeit zeichneten sich dadurch aus, dass Phasen des Konkurrierens und des Entscheidens voneinander getrennt wurden und aufeinander folgten. Konkurrieren, etwa in Form dramatisierter Parteivorträge, hatte in diesen Verfahren einen hervorgehobenen, performativ akzentuierten Ort. In den Augsburger Verfahren des 15. Jahrhunderts waren Entscheiden und Konkurrieren dagegen enger, aber auch diskreter miteinander verflochten. Bei diesen Verfahren ging es nicht darum, Konkurrenz zu inszenieren, Konkurrieren aber möglich zu machen, ohne dass daraus in jedem Fall eine Entscheidung erwuchs. Mona Garloff zeigt wiederum in ihrem Beitrag für Frankreich um 1600, wie religiöse Wahrheitsfragen zwar in ein explizites Konkurrenzverhältnis gebracht wurden,

9 Simmel bestimmt Konkurrenz als indirekten Kampf ohne Einsatz physischer Gewalt, vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main 1992, S. 323, was an Luhmanns Kategorie des „erlaubten Konflikts“ im Entscheidungsverfahren erinnert (wie Anm. 8). 10 Die Soziologie der Konkurrenz ist übersichtlich, vgl. dazu neben Simmel (wie Anm. 9) und Stolz (wie Anm. 1) v. a. Tobias Werron: Wie ist globale Konkurrenz möglich? Zur sozialen Konstruktion globaler Konkurrenz am Beispiel des Human Development Index. In: Soziale Systeme 18 (2012), S. 168–203 sowie den Beitrag von Christina Brauner und Alexander Engel in diesem Band.

Konkurrieren und Entscheiden

die Ireniker jedoch dafür warben, zur Entschärfung des damit verbundenen Konfliktes auf Entscheidungen vorerst zu verzichten.11 Philip Hoffmann-Rehnitz weitet am Ende noch einmal den Blick und fragt anhand der Beiträge und neuerer Forschungen, wie sich das Verhältnis von Entscheiden und Konkurrieren für die Frühe Neuzeit bestimmen lässt.

11 Auf den Beitrag von Eva-Bettina Krems, der das Verhältnis von Konkurrenz und Entscheiden aus kunsthistorischer Perspektive beleuchtet, mussten wir zu unserem Bedauern verzichten.

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Maria Weber

Konkurrenz oder Koexistenz? Verfahrensvielfalt und Handlungsalternativen in Gerichtsprozessen um Geldschulden

Notorische Schuldner oder soziale Praxisformation? Eigentlich schien das Vorgehen klar: kurz vor Weihnachten 1481 ließ der Augsburger Stadtmüller Heinrich Reischart den Hans Zimmermann vor das Gericht der Reichsstadt Augsburg laden, um eine ausstehende Rückzahlung von Zimmermann zu erlangen. Entgegen den Erwartungen des Müllers nämlich hatte der Zimmermann seine Arbeiten an einer hölzernen Wand und einem beschädigten Fußboden nicht zufriedenstellend erledigt.1 Beide Parteien – Gläubiger wie Schuldner – nahmen diesen Gerichtstermin wahr und erschienen vor den Richtern des Stadtgerichts, um den Sachverhalt zu klären. Das gerichtliche Verfahren um Geldschulden war damit grundsätzlich eingeleitet und es sollte mit der erfolgten Klage seinen formellen und festgelegten Verlauf nehmen. Aber es kam anders: „Nun, alls sy von Rechten gangen seyen, hab der Müller mit dem Zimbermann geredt, ob man nit sunst in die sach möchte kommen. Nun haben sy die sach also abgeredt.“2 Reischart und Zimmermann haben also nach der Eröffnung eines förmlichen Verfahrens über eine eigenstände, außerprozessuale Lösung des Schuldenfalles verhandelt, „ob man nit sunst in die sach möchte kommen“. Situationen wie diese, also Klagen um (private) Geldschulden und Aufforderungen zur Rückzahlung ausstehender Summen, haben sich in der Gerichtsüberlie-

1 An den Gerichtstermin vor Weihnachten schlossen sich fünf weitere an, an denen versucht wurde, mit Schieds- und Tedingsleuten, die die unzulänglichen Arbeiten Zimmermanns besichtigt hatten, eine außerprozessuale Lösung zu finden, siehe Stadtarchiv Augsburg (StAA), Strafamt 2 (1481), S. 80a, 83b, 90, 92 u. 99b. 2 StAA, Strafamt 2 (1481), S. 71a.

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Maria Weber

ferung in ganz Europa3 und darüber hinaus4 überaus zahlreich erhalten.5 Schuldenmachen und entsprechende niedergerichtliche Prozesse zur Eintreibung ausstehender Schulden sind in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus wirtschafts-, rechts- und allgemeinhistorischer Studien geraten, so dass Gabriela Signori jüngst Schulden und Schuldenmachen sogar als ein „Modethema“6 der historischen Forschung bezeichnete.7 Vielfältige Formen der Konkurrenzen lassen sich in diesem Forschungsfeld ausmachen: Konkurrieren um die knappe Ressource Bargeld, Konkurrenz um gutes oder schlechtes Geld, aber auch, und hierum soll es im Folgenden gehen: Konkurrenz zwischen gerichtlich-formellem Verfahren und außergerichtlichen oder außerprozessualen Aushandlungen. Die Vielzahl an Geldschuldenverfahren vor den Niedergerichten lässt sich schwerlich allein mit einer „notorisch schlechten Zahlungsmoral“8 der SchuldnerInnen erklären. Schuldenmachen bildet sich in der Gerichtsüberlieferung

3 Martha Howell / Claire Billen (Hg.): Crédit en ville au Moyen Âge. Historie Urbaine, Themenheft 51/1 (2018); Taylor Lange: Excommunication for Debt in Late Medieval France. The Business of Salvation. New York 2016; Gabriela Signori: Schuldenwirtschaft. Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel. München 2015; Laurence Fontaine: The Moral Economy. Poverty, Credit and Trust in Early Modern Europe. New York 2014; Julie Hardwick: Family Business. Litigation and the Political Economies of Daily Life in Early Modern France. Oxford 2009; Julie Claustre (Hg.): La dette et le juge. Juridiction gracieuse et jurisdiction contentieuse du XIII e au XV e siècle (France, Italie, Espange, Angleterre, Empire). Paris 2006; Craig Muldrew: The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England. London 1998. 4 Fahad Ahmad Bishara: A Sea of Debt. Law and Economic Life in the Western Indian Ocean, 1780–1950. Cambridge 2017. 5 Signori, Schuldenwirtschaft, spricht im Vorwort von einer „stupenden Vielzahl“; siehe auch den aussagekräftigen Titel im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit von Hervé Piant: Des procès innombrables. Éléments méthodologiques pour une histoire de la justice civile d’Ancien Régime. In: Histoire & Mesure 22/2 (2007), S. 13–38. Natürlich sind aufgezeichnete Schuldforderungen nicht nur Gegenstand gerichtlicher Überlieferungen; auch Rechnungs- und Schuldbücher aus dem buchhalterischen Bereich verzeichnen Verbindlichkeiten und Forderungen. Im Zentrum dieser Ausführungen stehen jedoch Schuldenbeziehungen von Personen, die sich keiner buchhalterischen Hilfsmittel bedienten und daher eben vielfach auf Gerichte zurückgriffen. 6 Gabriela Signori: Rezension zu Tyler Lange: Excommunication for Debt in Late Medieval France. The Business of Salvation. Cambridge / New York 2016. In: Zeitschrift für Historische Forschung 44 (2017), S. 536–537, hier S. 563. 7 Nicht zu vernachlässigen sind auch die Studien im Rahmen kulturanthropologischer Forschungsansätze etwa von Carola Lipp: Aspekte der mikrohistorischen und kulturanthropologischen Kreditforschung. In: Jürgen Schlumbohm (Hg.): Soziale Praxis des Kredits. 16.–20. Jahrhundert. Hannover 2007, S. 15–36. 8 Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Mittelalter. 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Köln u. a. 2 2014, S. 940.

Konkurrenz oder Koexistenz?

vielmehr als eine soziale Praxis, als Form einer Geldnutzungsstrategie9 ab, deren Regulierung und Kanalisierung durch die Niedergerichte vorgenommen wurde. Wie das einleitende Beispiel zeigt und worauf die rechtshistorische Forschung bereits hingewiesen hat, fungieren die Niedergerichte und mit ihnen ihr festgelegtes Verfahren als akzeptierte und legitimierte Plattform, um Schulden einzuklagen. Das Schuldenmachen als soziale Praxis zu begreifen bedeutet, Schuldenbeziehungen und Kreditvergabe eben nicht nur im Rahmen ökonomischen Handelns zu betrachten und die Niedergerichte als rein obrigkeitliche Instanz zur Eintreibung offener Schulden zu charakterisieren. Es bedeutet, durch Schuldenbeziehungen einen Schnittpunkt sozialer Handlungen, von „oben“ und „unten“, von Alltag und Regulierung, von Ermöglichung und Zwang, von Formalität und Informalität zu fokussieren, dessen hier formulierte Ambiguitäten charakteristisch für die Vormoderne waren.10 Unterschiedliche Möglichkeiten der Lösung von Schuldenkonflikten standen dabei nebeneinander und wurden zur Anwendung gebracht. Mit Blick auf die Quellenüberlieferung und anknüpfend an das Thema dieses Bandes lässt sich also fragen: Konkurrierten das formelle Verfahren und informelle, außergerichtliche Aushandlungsmöglichkeiten und damit Entscheidungsprozesse miteinander? Erlaubte und eröffnete das formelle Verfahren diese Konkurrenz gar? Zwischen den beiden Polen „Konkurrieren“ und „Entscheiden“ gilt es im Folgenden zu zeigen, 1.) welche Mechanismen innerhalb des städtischen förmlichen Verwaltungshandelns entwickelt wurden, um den Wettbewerb um die knappe Ressource Geld und das Konkurrieren vor Gericht – und damit die Praxisformation des Schuldenmachens – zu kanalisieren. Aus der Perspektive der Justiznutzer und mit Blick auf das einleitende Beispiel lässt sich dabei darlegen, welche Aneignungsprozesse hinter dem Handlungsmodus des Verfahrens standen. Darüber hinaus lässt sich 2.) am Beispiel der bislang von der Forschung nur rudimentär behandelten Überlieferung zum Stadtgericht der Frühneuzeitmetropole Augsburg herausstellen, wie im Verfahren um Geldschulden Entscheidungen von wem generiert wurden und inwiefern formelles Verfahren und außerprozessuale Aushandlungsmöglichkeiten miteinander konkurrierten oder koexistierten.

Das Geldschuldenverfahren vor dem Stadtgericht Augsburg um 1500 Mehr als 30.000 Klagen um Geldschulden sowie 15.000 notariell beglaubigte Schuldenverträge haben sich in der Niedergerichtsüberlieferung des Stadtgerichts in 9 Tim Neu: Geld gebrauchen. Frühneuzeitliche Finanz-, Kredit- und Geldgeschichte in praxeologischer Perspektive. In: Historische Anthropologie 27/1 (2019), S. 75–103. 10 Mischa Suter: Jenseits des „cash nexus“. Sozialgeschichte des Kredits zwischen kulturanthropologischen und informationsökonomischen Zugängen. In: WerkstattGeschichte 53 (2009), S. 89–99.

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Maria Weber

Augsburg aus dem Zeitraum zwischen 1480 und 1532 in Protokollform erhalten.11 Zahlen und eine abstrakte Schriftlichkeit, die schon aufgrund ihrer großen Masse einerseits Fragen nach dem Wie und Warum des Schuldenmachens aufwerfen und andererseits zum Nachdenken darüber anstoßen, welche Rolle das durch das Herkommen der Stadt geprägte, hybride Stadtgericht – bestehend aus rätischen Richtern, dem ehemals kaiserlichen Vogt und dem bischöflichen Burggraf – beim Verfahren um Geldschulden einnahm.12 Zwei Entwicklungen lassen sich hierbei nennen, die das niedergerichtliche Stadtgericht – und nicht etwa das bischöfliche Gericht – zur zentralen Plattform für die Eintreibung oder Aushandlung von Schuldenkonflikten werden ließen: Erstens war die Institutionalisierung des Stadtgerichts schon im 14. Jahrhundert, verstärkt jedoch während des 15. Jahrhunderts mit dem Urbanisierungsprozess der Stadt verbunden, der sich in erster Linie durch die Ablösung der Stadt aus bischöflicher Obrigkeit und einen enormen wirtschaftliche Aufschwung auszeichnet. Dieser Prozess führte dazu, dass sich mit dem Übergang der Obrigkeit auf den Rat auch die jurisdiktionellen Kompetenzbereiche verschoben und der Rat letztlich über alle Fälle von Hoch- und Niedergerichtsbarkeit entscheiden konnte. Verteilt wurden die Zuständigkeiten dabei zweitens auf verschiedene Organe, worunter sich auch das Stadtgericht mit Vogt und Burggraf subsumieren lässt. In mehr als 40 Regelungen wurden vor allem geldschuldenbezogene Vorgänge am Stadtgericht im 15. Jahrhundert festgeschrieben. Basierend auf den normativen Vorgaben einer im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts neugefassten Gerichtsund Verfahrensordnung wurde das Stadtgericht zum Ort für die Einklagung und Registrierung von Schulden.13 Der vermeintlich „notorisch schlechten Zahlungs-

11 Die Ergebnisse dieses Aufsatzes stammen aus meiner Dissertation, die unter folgendem Titel erschienen ist: Maria Weber: Schuldenmachen. Eine soziale Praxis in Augsburg (1480 bis 1532). Münster 2021. 12 Zum Stadtgericht in Augsburg, vor allem in Hinblick auf das Besetzungsverfahren im 15. Jahrhundert, siehe Jörg Rogge: Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter. Berlin / Boston 1996, S. 156–166; zum Stadtgericht aus normativ- rechtshistorischer Perspektive Eugen Liedl: Gerichtsverfassung und Zivilprozess der freien Reichsstadt Augsburg. Augsburg 1958; zu Vogt und Burggraf im 15. Jahrhundert Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt. Augsburg 1971. 13 StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115. Diese Gerichtsordnung hat sich in einer Konzeptschrift im Stadtarchiv Augsburg erhalten. Eine Reinschrift davon findet sich in einer Stadtbuchabschrift in der UB München, 2°Cod. Ms 486, fol. 176r–184r. Den Kern der Gerichtsordnung bilden die Einträge zum Verfahren um „gült“ im Stadtbuch von 1276. Die Gerichtsordnung aus dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts nimmt die Einträge aus dem Stadtbuch auf, erweitert sie, passt sie an, um dann selbst zum Kern einer im 16. Jahrhundert mehrfach angestrebten Gerichtsreform zu werden, siehe etwa die Reformbestrebungen von Franz Kötzler um 1529 sowie von Matthäus Laimann und Georg Tradel. Christoph Becker: „Consuetudines almae Reipublicae Augustanae“ von Matthaeus Laimann und Georg Tradel mit „Notwendigs Bedenckhen“ von Georg Tradel. Eine Zusammenstellung

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moral“ wurde also ein förmliches Verfahren entgegengesetzt, das es dem Gläubiger ermöglichte, seine Forderungen durch die legitimierte Autorität des Stadtgerichts einzutreiben, und das gleichzeitig den Schuldner davor schützte, ungerechtfertigt belangt zu werden. Mit Blick in die Rechtspraxis wird deutlich, dass sich eine Konkurrenz und Entscheidungsvielfalt weniger auf die unterschiedlichen Gerichtspersonen – Richter, Vogt und Burggraf – selbst bezogen hat. Vielmehr gilt es zu zeigen, dass mit dem summarischen Verfahren ein formalisierter Verfahrensverlauf installiert wurde, dessen festgelegte Regeln nicht nur Entscheidungen ableiten ließen oder gar vorgaben.14 Der Interaktionsprozess zwischen Schuldner, Gläubiger und Richter schuf eine gemeinsame Basis, die Erwartbarkeit produzierte und Dissens regulieren konnte – die „Konkurrenz“ zwischen den Parteien wurde im Verfahren performativ sowohl her- als auch in den durch die Handlungen und festgelegten Sprechakte sichtbar gemachten Rollen von Gläubiger und Schuldner dargestellt. Das Verfahren konnte so im Rückgriff auf die fixen Verfahrensregeln und Ablaufschemata diese Konkurrenzen regulieren. Allerdings blieb es in der Praxis vielfach nicht bei der reinen Befolgung der vorgegebenen Handlungssequenzen. Vielfach nämlich folgte auf die formelle Klage ein „Negavit. anders vertragen“,15 das die Klage in den Möglichkeitsraum der eigenständigen Aushandlungen und außerprozessualen Verhandlungen überführte. Zwar machte der Gläubiger mit dem Klageeintrag die Schulden vor den Richtern offiziell, leitete ein Geldschuldenverfahren und damit eine Mahnung zur Zahlung ein. Beide Schuldenparteien aber verzichteten im Anschluss daran auf das formelle Verfahren, ja entzogen sich ihm geradezu, indem sie eigenständig eine Lösung außerhalb des Gerichts suchten. Das weitere Konkurrenzverhältnis ergab sich damit entlang der Lösungsmechanismen: zwischen formellem Verfahren und außergerichtlicher, außerprozessualen Aus- und Verhandlungen. Die Rechtspraxis im Geldschuldenverfahren belegt demnach, was André Krischer in der Einleitung zu dieser Sektion bemerkt: Konkurrieren bezeichnet hier in erster Linie die Möglichkeit, verschiedene Handlungsalternativen zu produzieren, welche der Herstellung unterschiedlicher Lösungen dienten, ja letztlich – so lässt sich aus

Augsburger Stadtrechts mit einer Denkschrift zu seiner Reform Ende des sechzehnten Jahrhunderts (Handschrift der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 2°Cod. Aug. 168). Berlin 2008. 14 Das summarische Verfahren folgte bestimmten Handlungssequenzen, die aufeinanderfolgen konnten, je nach dem, ob der Schuldner bezahlte, anderweitig aktiv wurde oder nicht reagierte. Darüber hinaus wurde nur eine neue Sequenz eröffnet, wenn der Gläubiger vor Gericht erschien – er war zusammen mit den (Re-)Aktionen des Schuldners für das Voranschreiten oder Beenden des Verfahrens in erster Linie verantwortlich. 15 StAA, Strafamt 16 (1495), S. 207a: „Item Andreas Zollers clagt Lorenz, Bürstenbindersgesell und sein Weib um 1 Gulden minder 4 Kreutzer. Negavit. anders vertragen”.

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der effektbeobachtenden ex post-Perspektive sagen – dazu führten, Entscheidungen treffen zu müssen.

Wer generierte welche Entscheidungen? Der Prozess der Entscheidungsfindung verteilte sich beim niedergerichtlichen Geldschuldenverfahren vor dem Augsburger Stadtgericht auf unterschiedliche Handlungssequenzen. Im am häufigsten angewandten summarischen Verfahren waren es idealtypisch betrachtet insgesamt vier Verfahrensschritte, die von Gläubiger oder Schuldner vor Gericht, persönlich oder in legitimierter Stellvertretung vollzogen werden mussten, um dem festgelegten Verfahrensverlauf zu entsprechen und die damit hergestellten Rechte wirksam werden zu lassen. Diese Handlungssequenzen sind in einer Gerichtsordnung aus dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts normativ beschrieben und lassen sich durch Gerichtsprotokolle in der Rechtspraxis dicht beobachten. Beide Quellen ergänzen sich und machen deutlich, dass hinter jeder in der Gerichtsordnung formulierten Norm eine bestimmte Praktik steht, die es im Kontext des Geldschuldenverfahrens vor Gericht nach dem Maßstab der Ordnung zu vollziehen galt. Den Anfang des strukturierten Geldschuldenverfahrens markierte (1.) die förmlich und persönlich eingereichte Klage vor Gericht, womit der Gläubiger die ausstehenden Schulden öffentlich bekannt machte, den Schuldner vor Gericht laden ließ,16 ihn mahnte und ihm zwei Möglichkeiten eröffnete: entweder der Schuldner beglich die ausstehenden Summen innerhalb einer Zeitfrist von acht Tagen oder er antwortete vor Gericht auf die Klage, bestritt sie und führte den Vorgang damit in ein ordentliches Verfahren über.17 Beide Reaktionen auf die Klage beinhalteten die – mehr oder weniger – freiwillige Unterwerfung beider Parteien unter die Prinzipien des Verfahrens, das performativ auf Seiten des Schuldners durch eine sogenannte Gerichtswette (2.) unterstrichen wurde. Mit der Wette erkannte der Schuldner seine Rolle sowie die Forderungen des Gläubigers und die Zuständigkeit des Niedergerichts an und versprach damit gleichzeitig die Begleichung der Schulden innerhalb der Terminfrist. Antwortete der Schuldner

16 Die Ladung zum Gericht erfolgte über die Gerichtsdiener, sogenannte Waibel, wodurch eine Art Öffentlichkeit hergestellt wurde, denn die Gerichtsdiener eilten durch die Stadt und suchten die Schuldner in ihrer Behausung auf, um ihnen die Ladung mitzuteilen. Diese persönlichen Ladungen scheinen um 1500 bei einem Gerichtsboten Ärgernisse erregt zu haben, denn der Bote wurde vom Rat dazu ermahnt, die Ladungen „heimlich“ vorzunehmen, ohne wie bisher geschehen großes öffentliches Aufsehen zu erzeugen, siehe StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 72. 17 Wolfgang Sellert: Die Ladung des Beklagten vor das Reichskammergericht. Eine Auswertung von Kammerbotenberichten. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 84 (1967), S. 202–235.

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allerdings nicht auf die Klage während dieser acht Tage, versäumte er oder sie den Ladungstermin, leistete der Schuldner keine Wette oder hielt ein geleistetes Zahlungsversprechen letztlich nicht ein, hatte der Gläubiger die nächste Station im Geldschuldenverfahren erreicht: er hat, so der terminus technicus, „alle Recht“ am Schuldner erlangt (3.). Machte der Gläubiger die Säumnisse des Schuldners vor Gericht wiederum bekannt und bezahlte der Schuldner seine Schulden nicht innerhalb einer weiteren Terminfrist von acht Tagen, wurde der Gläubiger in dieser Handlungssequenz dazu bemächtigt, zusammen mit dem Burggrafen oder dem Vogt als obrigkeitliche Verantwortliche Pfänder aus dem Haus des Schuldners als Geldäquivalente entnehmen zu dürfen.18 Beglich der Schuldner auch daraufhin seine Schulden nicht durch Münzgeld, konnten die genommenen Pfänder auf der sogenannten Gant (4.) öffentlich an Dritte versteigert („vergantet“) und damit in Bargeld umgewandelt werden.19 Nimmt man die Vorgaben aus der Gerichtsordnung sowie die praktischen Vollzüge zusammen, ergeben sich theoretisch und idealtypisch, je nach vollzogenen oder unterlassenen Handlungen von Seiten der Schuldenparteien, ingesamt neun mögliche Varianten der Verfahrensführung! Entscheidungen wurden, so lässt sich festhalten, prozesshaft und Schritt für Schritt im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens produziert.20 Der Entscheidungsprozess hing dabei unmittelbar von den aktiv und körperlich durchgeführten Handlungen der Schuldenparteien selbst ab: ob eine Klage eröffnet wurde, ob eine Antwort auf die Klage erfolgte oder ob die Pfändung bei Nichtbezahlung durchgeführt wurde. Entscheidungen wurden so gesehen weniger getroffen, als vielmehr im Rahmen eines institutionalisierten Verfahrens mit festgelegten und „habitualisierten Verfahrensweisen“21 abgeleitet. Die Ordnung gab basierend auf den erfolgten Handlungen die Entscheidung vor. 18 Dieses Pfand sollte „den dritten Pfennig besser“ sein als die ursprüngliche Schuldsumme, siehe StAA, Mischbestand Gerichtswesen, Nr. 115; kursorisch auch bei Sabrina Birnbaum: Konkursrecht der frühen Augsburger Neuzeit mit seinen gemeinrechtlichen Einflüssen. Münster u. a. 2014, S. 22–23 und Friedrich Hellmann: Konkursrecht der Reichsstadt Augsburg. Breslau 1905. 19 Der Gläubiger hatte bei der Gant allerdings ein priorisiertes Ersteigerungsrecht der Gegenstände. Aus den Protokollen zur Versteigerung geht auch hervor, dass vielfach der Gläubiger selbst die Gegenstände steigerte, also behielt, in nur wenigen Fällen gelang es dem Schuldner, die Pfandobjekte noch auf der Gant wieder auszulösen. 20 André Krischer: Das Gericht als Entscheidungsgenerator. Ein englischer Hochverratsprozess von 1722. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. Köln u. a. 2015, S. 646–657, hier S. 648–649, wo Krischer mit Blick auf den englischen Hochverratsprozess schreibt: „Das Gerichtsverfahren erfüllte seine Funktion als Entscheidungsgenerator offenbar vor allem dadurch, dass das Entscheiden als Prozess verlief: als ein öffentlich aufgeführtes, zeitaufwendiges, sinnerzeugendes und zugleich reduktives Geschehen.“ Entscheiden durchläuft also unterschiedliche performative Stationen. 21 Ulrich Pfister: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 11–35, hier S. 16.

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Bestritt der beklagte Schuldner die Forderungen des Gläubigers, wie etwa Erasmus Schmid, den, so wörtlich, die „klag frembd nem“,22 so ging das summarische Verfahren in ein ordentliches Verfahren mit „red, antwort und widerred“ über. In einem abwechselnden Frage-Antwort-Schema nahmen hier Kläger und Beklagte ihre Verfahrensrollen ein, wiesen diese Rollen, wie etwa Erasmus Schmid, zurück, erklärten ihre Sichtweisen und Positionen, erweiterten und konkurrierten um die bekannte Informationsbasis, sprachen oder schwiegen, verwiesen auf Zeugen oder Schuldenbriefe, legten Eide ab oder hörten das Urteil, die Entscheidung bzw. die Erkenntnis der Richter an. Die hier nur in aller Kürze skizzierten Teilpraktiken des Verfahrens materialisierten sich mit der Eintragung im Protokollbuch, durch Schulden-, Ladungs- und Pfändungsbriefe – eine schriftliche Materialisierung, die es bereits den Zeitgenossen ermöglichte, durch die geordnete Struktur der Verfahrensordnung den Einzelfall und seine Verfahrensstationen zu narrativieren. Im Zuge der Entscheidungsfindung konnten sich um die eigentlich definierte Situation vor Gericht also unterschiedlichste Interaktionen anlagern. Interaktionen, die innerhalb der Praxisformation „Verfahren“ einerseits im sozialen Nahraum zwischen Gläubiger, Schuldner und Gericht in actu vollzogen wurden und die Präsenz aller Beteiligten erforderten. Andererseits versammelten sich um das formelle Verfahren vielfältige Interaktionen, die es im kondensierten Raum des Gerichts diskursiv zu verhandeln galt, wie eben konkurrierende Meinungen über die Schuldenbeziehung.23 In diesem Prozess ist zu beobachten, dass – wie bereits erwähnt – die Entscheidungsfindung im Verfahren um Geldschulden in enger Anlehnung an die förmlich festgelegten Handlungssequenzen stattfand. Über die in der Gerichtsordnung greifbaren Handlungsnormen hinaus aber existierte in jedem der Verfahrensschritte die Möglichkeit für Gläubiger und Schuldner, den Schuldenkonflikt außerprozessual durch Verträge oder Einigungen zu lösen, wie das einleitende Beispiel belegt und worauf im Folgenden noch einmal zurückzukommen ist. Gläubiger und Schuldner – dies gilt es wiederholt zu betonen – prägten durch ihr Handeln und Sprechen vor Gericht das Geschehen, waren aktive Teilnehmer und entwickelten, wie dies

22 StAA, Strafamt 2 (1481), S. 8b. 23 Deutlich muss betont werden, dass mit den Einträgen in den Protokollbüchern nur bestimmte Stationen des Schuldenmachens bzw. der Schuldenbeziehungen selbst fassbar werden und der Großteil der Interaktionen zwischen Gläubiger und Schuldner nicht empirisch erforscht werden kann. Trotzdem lässt sich zeigen, dass Schuldenbeziehungen aus ineinander übergreifenden, komplexen Situativitäten bestand, die es zu differenzieren gilt, siehe hierzu etwa den methodischen Ansatz der trans-sequentiellen Analyse von Scheffer, Thomas Scheffer: Die trans-sequentielle Analyse – und ihre formativen Objekte. In: Reinhard Hörster u. a. (Hg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden 2013, S. 91–114.

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zeitgenössische Klagspiele vorgaben, „eine ordentlich erzelung“.24 Die Autonomie des Verfahrens wurde dabei nicht infrage gestellt, sondern vielmehr durch die Justiznutzer adaptiert und im aufgezeigten Möglichkeitsraum angeeignet. Vor Gericht konkurrierten nicht nur die Parteien um ihre Rollen. Auch die unterschiedlichen Verfahrensformen und Lösungsmöglichkeiten überlagerten sich, wie sich gezeigt hat. Besonders deutlich wird diese „hybridity“ und „complexity“, wie sie Seán Patrick Donlan und Dirk Heirbaut speziell für die Verflechtung von ius commune und ius proprium im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit innovativ angedacht haben,25 im Neben- und Übereinander von gerichtlichen und außergerichtlichen bzw. außerprozessualen Lösungen. Zwar fungierte bereits das Geldschuldenverfahren weitgehend als Form eines angeleiteten und obrigkeitlich kontrollierten Selbstregulierungsmechanismus, der zweifelsfrei an der „Grenze zwischen Verfahren, Vermitteln und Verhandeln“26 angesiedelt war. Dessen zentraler Punkt kann darin gesehen werden, anhand der formalisierten Handlungssequenzen ganz pragmatisch die überaus große Masse an regelungsbedürftigen Schuldenbeziehungen vor Gericht „entscheidungsfähig“ zu machen.27 Vielfach aber wurden Klagen oder Schuldenbriefe / Schuldenverträge „lediglich“ im Protokollbuch registriert28 – die Aus- und Verhandlung über die Inhalte der Schuldenbeziehung

24 Justinus Göbler: Gerichtlicher Proceß, auß grund der Rechten, und gemeyner übung in drey theil verfasst. Frankfurt am Main 1538, hier Teil I, S. XXVIIIv. 25 Siehe hierzu den Sammelband von Seán Patrick Donlan / Dirk Heirbaut (Hg.): The Laws‘ Many Bodies. Studies in Legal Hybridity and Jurisdictional Complexity, c. 1600–1900. Berlin 2015 oder den Ansatz zur Multinormativität in der Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte, Rechtsgeschichte 25 (2017). 26 Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung. In: Dies. / André Krischer (Hg.): Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verhandeln, Verfahren und Verwalten in der Vormoderne. Berlin 2015, S. 9–31, hier S. 16. 27 André Krischer: Der „erlaubte Konflikt“ im Gerichtsverfahren. Zur Ausdifferenzierung eines Interaktionssystems in der englischen Frühneuzeit. In: Zeitschrift für Soziologie (2014), S. 214–225, hier S. 218. 28 Mit den Schuldenverträgen ließe sich eine dritte Form der Verfahrensgestaltung darlegen, denn die Protokollbücher des Augsburger Stadtgerichts belegen eine enorme Zunahme schriftlicher Schuldenverträge zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Instrumente, die jedoch letztlich den formellen Verfahrensverlauf des Geldschuldenverfahrens modifizierten. Nicht mehr die römisch-rechtlichen Terminsequenzen waren ausschlaggebend für den nächsten Schritt, sondern die durch die Parteien vereinbarten, individualisierten und flexibilisierten Rückzahlungsfristen. Gleichzeitig mit Schuldenbekenntnissen wurde eine Klage überflüssig, da die Sanktion der Bekenntnisse darin bestand, bei Nichteinhaltung der Zahlungsfristen gleich, ohne Klage, zusammen mit dem Gericht zur Pfändung schreiten zu dürfen. Es bildet sich an den Bekenntnissen also eine Transformation im Modus der Schuldenpraktik selbst ab: Wurde der Großteil der Schuldenbeziehungen zunächst durch Klagen bekannt gemacht, verlagerte sich dies vermehrt hin zu schriftlich fixierten Schuldverschreibungen vor dem Gericht selbst. Besonders im für Augsburg bedeutenden Verlagsgewerbe wurden diese Schuldverschreibungen eingesetzt.

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selbst, über den Fortgang der Schuldenbeziehung bei übersessenen Tilgungsraten, der nicht termingerechten Begleichung der Schulden durch den Schuldner oder Abrechnungssituationen in Kontokorrentbeziehungen fanden außerhalb des Verfahrens und des Gerichtsraumes statt. Gläubiger und Schuldner agierten mit oder ohne gerichtlich eingesetzte sogenannte Tedingsleute dabei eigenständig und handelten die Modalitäten der Schuldenbeziehung neu aus. Damit lösten sie die vor Gericht bereits vollzogenen Handlungssequenzen aus dem förmlichen Verfahren heraus. Anders gesprochen, die gerichtliche Kanalisierung des Schuldenmachens und die außerprozessualen Lösungsmöglichkeiten waren weniger in Konkurrenz stehende Optionen, sondern koexistierten vielmehr, wie das einleitende Beispiel um den Stadtmüller Heinrich Reischart und den Hans Zimmermann exemplarisch hervorhebt.

Schluss Was Katrin Nehlsen von Stryck und andere für geistliche Gerichte feststellen konnten, trifft also in erheblichem Maße auch auf die weltliche Niedergerichtsbarkeit im Rahmen des Geldschuldenverfahrens zu: „nach dem urkundlichen Befund überwiegen die gütlichen Formen gerichtlicher wie außergerichtlicher Streitbeilegung“.29 Es sind die unterschiedlichen Verfahrensmöglichkeiten, die Handlungsalternativen eröffneten, die wiederum aus einer Vielzahl an verschiedenen Interaktionssituationen bestanden und Prozesse des Entscheidens, der Konkurrenz oder Koexistenz miteinander in ein “‘bundle’ of activities” verflochten.30 Im vorliegenden Fall ließ sich zeigen, dass die Entscheidungen um Geldschulden nicht durch einen einzelnen richterlichen Akt getroffen, sondern vielmehr allmählich und praktisch hervorgebracht wurden.

29 Karin Nehlsen von Stryk: Zur Typologie spätmittelalterlicher Zivilverfahren. Tradition und gelehrtes Recht. In: Eva Schumann (Hg.): Justiz und Verfahren im Wandel der Zeit. Gelehrte Literatur, Gerichtliche Praxis und Bildliche Symbolik. Festgabe für Wolfgang Sellert zum 80. Geburtstag. Berlin / Boston 2017, S. 101–116, hier S. 115. 30 Theodore Schatzki: The Site of the Social. A philosophical account of the constitution of social life and change. University Park, PA 2002, S. 72.

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Irenik und Entscheiden über den religionspolitischen Frieden in Frankreich im 16. und frühen 17. Jahrhundert

Die Herausbildung und Abgrenzung konfessioneller Identitäten in der Frühen Neuzeit standen unvermeidbar im Spannungsfeld zwischen konkurrierenden religiösen Wahrheitsansprüchen und dem Entscheiden für oder gegen eine Konfession.1 Dabei blieb die konfessionelle Identitätsbildung mit dem übergeordneten Ziel einer Wiedervereinigung der christlichen Kirchen eng verbunden: Die neu entstandenen Konfessionskirchen und kleineren konfessionellen Gruppierungen drängten auf eine dauerhafte Duldung ihres Glaubens, ohne dabei die Hoffnung auf die Einheit der Kirche notwendigerweise ganz aufzugeben. Die Auseinandersetzungen um religiöse Deutungshoheit und die damit verbundene politische Einflussnahme trafen ein Land wie Frankreich insofern besonders hart, als hier religiöse Bürgerkriege zwischen 1562 und 1598 das Land auszehrten und den religiösen Frieden in weite Ferne rücken ließen. Am Beispiel der französischen Religionspolitik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wird die enge Wechselbeziehung von frühneuzeitlichem Toleranz- und Concordiadenken deutlich.2 Im Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Ideen des religiösen Friedens manifestiert sich die Problematik, über konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche überhaupt entscheiden zu können: So waren Zugeständnisse von Ziviltoleranz letztendlich eine Folge der gescheiterten Einigungsversuche im konfessionellen Konflikt. Mit den Toleranzgesetzgebungen konnte die Entscheidungsfindung über die mögliche Form der religiösen Wiedervereinigung in die Zukunft verlegt werden. Zugleich veranschaulichen die konfessionellen Einigungsbemühungen in Frankreich, dass das Entscheiden über die richtige Form des religionspolitischen Friedens als soziale

1 Vgl. Matthias Pohlig: Entscheiden dürfen, können, müssen. Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens. In: Wolfram Drews u. a. (Hg.): Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2018, S. 201–226; Eike Wolgast: Politisches Kalkül und religiöse Entscheidung im Konfessionszeitalter. In: Luther 76 (2005), S. 66–79. 2 Maßgeblich wurde dies für Frankreich von Mario Turchetti herausgearbeitet, vgl. u. a. Ders.: Religious Concord and Political Tolerance in Sixteenth- and Seventeenth-Century France. In: Sixteenth Century Journal 21 (1991), S. 15–25; Ders.: Henri IV entre la concorde et la tolérance. In: Henri IV, le roi et la reconstruction du royaume. Actes du Colloque, Pau-Nérac. 14–17 septembre 1989, S. 277–300; zum Alten Reich Winfried Schulze: Concordia, Discordia, Tolerantia. Deutsche Politik im konfessionellen Zeitalter. In: Johannes Kunisch (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Berlin 1987, S. 43–80.

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Praxis zu verstehen ist, die in hohem Maße auf Kommunikation und Performanz ausgerichtet war.3 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Dynamiken des religionspolitischen Konflikts in Frankreich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Toleranz- und Unionsdenken verstanden werden müssen. In einem ersten Schritt wird dies an der schwierigen Entscheidungsfindung der französischen Friedensedikte des 16. Jahrhunderts veranschaulicht. Im Folgenden werden Inititativen für den religionspolitischen Frieden in der späthumanistischen respublica litteraria untersucht, die im engen Austausch zwischen Gelehrten in Frankreich, England, Venedig, den Niederlanden und im Heiligen Römischen Reich diskutiert wurden. Maßgeblich wurden diese Debatten durch den französischen Gelehrten und Diplomaten Jean Hotman de Villiers (1552–1636) geprägt. Abschließend wird gezeigt, wie sich Vertreter wie Hotman gezielt bestimmter Kommunikations- und Publikationsformen bedienten, mit denen politischen und kirchlichen Entscheidungsträgern Entwürfe für eine dauerhafte friedenspolitische Ordnung an die Hand gegeben werden sollten.

Concordia durch Toleranz? Entscheiden über den Religionsfrieden im Frankreich des 16. Jahrhunderts Bis in die 1560er Jahre zeichnete sich schrittweise ab, dass die Glaubenseinheit in näherer Zukunft nicht realisierbar war. Die Schwierigkeiten einer Einigung waren etwa durch die Religionsgespräche der 1540er Jahre zu Worms und Regensburg, das Kolloquium von Poissy (1561) und nicht zuletzt das Konzil von Trient deutlich geworden.4 Poissy blieb für die französischen Friedensinitiativen bis ins frühe 17. Jahrhundert ein fester Bezugspunkt. Die Ausgangslage des Kolloquiums zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit, zu einer Entscheidung über den konfessionellen Konflikt zu kommen, insofern als eine „für das Entscheiden konstitutive Pluralität und Alternativität der Optionen“5 im Grundsatz nicht gegeben war. Vielmehr verbanden alle beteiligten Parteien das Ziel einer religiösen

3 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln u. a. 2015, S. 630–634. 4 Vgl. Irene Dingel u. a. (Hg.): Zwischen theologischem Dissens und politischer Duldung. Religionsgespräche der Frühen Neuzeit. Göttingen 2018; Marion Hollerbach: Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982; Volker Leppin: Disputation und Religionsgespräch. Diskursive Formen reformatorischer Wahrheitsfindung. In: Christoph Dartmann u. a. (Hg.): Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik. Berlin 2015, S. 231–252. 5 Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 231.

Irenik und Entscheiden über den religionspolitischen Frieden

Einheit mit divergierenden Implikationen: Der humanistische Gelehrte François Bauduin und ihm nahestehende Theologen wie Georg Cassander, Claude d’Espence und Jean de Monluc dachten an eine Wiedervereinigung der Konfessionen, die sich in ihrer Orientierung an der antiken Kirche der ersten vier bis fünf Jahrhunderte und in einer Rückbesinnung auf die gemeinsamen Glaubensgrundlagen als innere Reform der katholischen Kirche vollziehen sollte.6 Dies entsprach im Grundsatz auch dem politischen Kurs der Königinmutter Katharina von Medici, ihres engen Beraters Michel de L’Hospital und des Kardinals Charles de Lorraine, die unter der Zusage gegenseitiger dogmatischer Konzessionen an einer langfristigen Wiedervereinigung innerhalb der katholischen Kirche festhielten. Auf der anderen Seite forderte die Mehrheit der in Poissy anwesenden Bischöfe und Prälaten eine Rückkehr der abtrünnigen Gläubigen ohne Konzessionen in den Schoß der römisch-katholischen Kirche. Vertreter der reformierten Orthodoxie wie Theodor Beza versuchten hingegen, die katholische Seite von der Wahrheit ihrer Glaubensansichten zu überzeugen. Sie erwarteten zu diesem Zeitpunkt die volle Anerkennung ihrer Bekenntnisschrift, nicht die bloße Tolerierung ihres Glaubens. Auf der Suche nach der religiösen concordia strebte jede Partei das Ziel einer Konsensstiftung an, das jedoch in Abhängigkeit von konfessionellen Bedeutungsinhalten unterschiedlich ausgerichtet sein konnte. Entgegen zahlreicher Darstellungen läutete das Scheitern des Kolloquiums von Poissy keinen direkten Kurswechsel der französischen Krone von einer Unions- in Richtung einer Toleranzpolitik ein,7 vielmehr wurde in den folgenden Jahrzehnten, auch in den Bestimmungen des Edikts von Nantes von 1598, an der Wiedervereinigung der Kirchen festgehalten.8 Toleranzgarantien wurden sowohl auf römisch-katholischer als auch auf protestantischer Seite mehrheitlich nur als vorläufige Lösung betrachtet.9 Bei den in den französischen Friedensedikten ausgesprochenen Garantien handelt es sich um eine provisorisch zugestandene Form ziviler Toleranz, auf deren Basis das übergeordnete Ziel der konfessionellen concorde weiterverfolgt werden sollte. Wenn der Augsburger Religionsfrieden (1555) und die verschiedenen französischen Friedensedikte der 1560er Jahre bis zum Edikt von Nantes 1598 in diesem Sinn eine Wiedervereinigungsklausel beinhalteten, war mit diesen Dokumenten jedoch zwangläufig

6 Vgl. Mario Turchetti: Concordia o tolleranza? François Bauduin (1520–1573) e i „Moyenneurs“. Mailand 1984. 7 Vgl. zum älteren Forschungsstand Joseph Lecler: Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme. Paris (1 1955) 1994, S. 808. 8 Vgl. Bernand Cottret: 1598. L’Édit de Nantes. Pour en finir avec les guerres de religion. Paris 1997, S. 176–181; Mack P. Holt: The French Wars of Religion, 1562–1629. Cambridge 2 2005, S. 167–173. 9 Vgl. zum Spektrum der Toleranzvorstellungen Arlette Jouanna: Art. Tolérance. In: Dies. u. a. (Hg.): Histoire et dictionnaire des guerres de religion. Paris 1998, S. 1332 f.; Eckehart Stöve: Art. Toleranz I. In: Theologische Realenzyklopädie 33 (2002), S. 646–663.

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die Existenz von zwei getrennten Konfessionen innerhalb des Heiligen Römischen Reichs bzw. Frankreichs bestätigt worden. Diese veränderte Ausgangslage findet nicht zuletzt in einer semantischen Verschiebung ihren Ausdruck, indem das Festhalten an der unio in den 1560er Jahren zunehmend der Zielvorstellung von reunio, also dem Streben nach der Wiedervereinigung voneinander getrennter Kirchen, wich.10

Irenik als Entscheidungsvermeidung? Friedensprojekte in der respublica litteraria um 1600 Die dauerhafte Sicherung des religionspolitischen Friedens gehörte zu einem der zentralen Diskussionsgegenstände der respublica litteraria des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In diesem europaweit geführten Austausch über Friedensmodelle wird deutlich, dass den richtigen Modi der Entscheidungsfindung große Bedeutung zukam. Dass in Frankreich, England oder Venedig die Idee des Religionsgesprächs um 1600 wiederbelebt wurde, verdeutlicht, dass einer solchen Form der Konfliktlösung durch Autorität trotz der gescheiterten Vorläufer hohes Potential zugeschrieben wurde. Als Modell eines gemeinsamen Gremiums von Vertretern der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit erschien es erfolgversprechend, um zu einer dauerhaften Entscheidungsfindung zu gelangen.11 Die Vorstellung eines Nationalkonzils in Frankreich orientierte sich zwar an den früheren institutionalisierten Vorbildern, blieb jedoch in der personellen Zusammensetzung und dem Verfahren selbst höchst flexibel und an die örtlichen und zeitlichen Umstände anpassbar. So orientierte sich das Religionsgespräch an formellen Verfahren, stand dennoch außerhalb der institutionalisierten Gesetzgebung und unterschied sich damit in der Entscheidungsfindung von den zahlreichen Edikten, die infolge der Religionsfrieden seit den 1560er Jahren erlassen worden waren.12 Mit den irenischen Ansätzen, die in Frankreich in der Regierungszeit Heinrichs IV. ihren publizistischen Niederschlag fanden, wurde die Idee der religiösen 10 Vgl. Howard Hotson: Irenicism in the Confessional Age. The Holy Roman Empire 1563–1648. In: Howard Louthan (Hg.): Conciliation and Confession. The Struggle for Unity in the Age of Reform 1415–1648. Notre Dame 2004, S. 228–285, hier S. 232 f. 11 Vgl. unter Vernachlässigung der irenischen Projekte um 1600 Yves Krumenacker: Religionsgespräche in Frankreich zwischen 1598 und 1685. In: Dingel, Dissens, S. 27–42; zum Nationalkonzilsgedanken William B. Patterson: Henry IV and the Huguenot Appeal for a Return to Poissy. In: Derek Baker (Hg.): Schism, Heresy and Religious Protest. Cambridge 1972, S. 247–257; Marc Venard: Le projet d’un nouveau concile dans la France d’Henri IV. In: Marie F. Viallon (Hg.): Autour du Concile de Trente. Saint-Étienne 2006, S. 47–60. 12 Vgl. zu den unterschiedlichen „Modi des Entscheidens“ Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden, S. 234–239.

Irenik und Entscheiden über den religionspolitischen Frieden

Wiedervereinigung neu belebt. Irenik um 1600 setzte die Ideen religiöser Union und Toleranz in enge Beziehung, womit ihr ein breites Begriffsverständnis zugrunde zu legen ist.13 Die Verknüpfung der beiden Ansätze ermöglichte es argumentativ, weiterhin am Ziel der Kirchenreunion festzuhalten und somit Entscheidungen über den Konfessionskonflikt in die Zukunft zu verlegen. Das Ziel des religiösen Friedens wurde in eine bewusste Traditionslinie gesetzt und knüpfte an die Vermittlungstheologie von Erasmus, Melanchthon und Cassander an. In Verbindung mit einer Wiederaneignung der Patristik war es gerade das humanistische Bewusstsein der zu erhaltenden unio, das sie für die Generation um 1600 anschlussfähig machte.14 In der späthumanistischen Argumentation wurde der Appell an den politischen Frieden häufig als Abgrenzung von Legitimationsstrategien einer konfessionell-vereinnahmenden Irenik dargestellt: In der nicht entscheidbaren Situation über konkurrierende Wahrheitsansprüche wurde damit ein alternatives Lösungsmodell eines dritten Weges beworben, das vorgab, sich diesem Konkurrenzverhältnis zu entheben.

Späthumanistische Irenik am Beispiel des französischen Gelehrten und Diplomaten Jean Hotman Als einer der wichtigsten Protagonisten im Einsatz für den Kirchenfrieden um 1600 darf der französische Gelehrte und Diplomat Jean Hotman de Villiers gelten.15 1552 als Sohn des bedeutenden Rechtgelehrten François Hotman in Lausanne geboren, wuchs er im reformierten Milieu Straßburgs und Basels auf. Jean Hotmans irenisches Engagement begründet sich nicht zuletzt aus der konfessionellen Spaltung seiner eigenen Familie: Sein Vater war als einziger Sohn zum Calvinismus konvertiert, während dessen Brüder zu den führenden Mitgliedern der Liga gehörten. 1616 gab Jean eine Werksammlung seiner Familie („Opuscules françoises des Hotmans“)

13 Unter Irenik werden in Orientierung an Hotson, Irenicism in the Confessional Age, S. 232 all jene Bemühungen verstanden, die sich für eine Beendigung der konfessionellen (oder interreligiösen) Glaubenskämpfe durch Beförderung der Einheit oder zumindest Kooperation der konfessionellen Streitparteien auf dogmatischer, ekklesiologischer oder politischer Ebene einsetzen. 14 Vgl. Markus Wriedt u. a. (Hg.): Die Patristik in der frühen Neuzeit. Die Relektüre der Kirchenväter in den Wissenschaften des 15.–18. Jahrhunderts. Stuttgart 2005; Andreas Merkt: Das Patristische Prinzip. Eine Studie zur theologischen Bedeutung der Kirchenväter. Leiden 2001; in der lutherischen Geschichtsschreibung Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung, 1546–1617. Tübingen 2007. 15 Vgl. Mona Garloff: Irenik, Gelehrsamkeit und Politik. Jean Hotman und der europäische Religionskonflikt um 1600. Göttingen 2014; zu Teilaspekten Fernand Schickler: Hotman de Villiers et son temps. In: Bulletin de la Société de l‘Histoire du Protestantisme français 17 (1868), S. 97–111, 145–161 et passim; G. Posthumus Meyjes: Jean Hotman’s English Connection. Amsterdam 1990.

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heraus, die die Schriften der einzelnen Familienmitglieder trotz erheblicher konfessioneller Differenzen miteinander vereinte. Obwohl er im regelmäßigen Konflikt mit der reformierten Orthodoxie, etwa mit Theodor Beza in Genf, stand, bewahrte er bis zu seinem Lebensende eine enge Bindung an diese Glaubensrichtung. Seine diplomatischen Tätigkeiten ab 1579 in Diensten des Earls of Leicester in England und in den Niederlanden, später für die französische Krone in Solothurn und im Kontext des Jülisch-Klevischen Erbfolgekonflikts als Agent du Roy in Düsseldorf (1609–1614) ermöglichten ihm, mit Gelehrten in den Niederlanden, England und im Heiligen Römischen Reich Friedensansätze zu diskutieren und seine Schriften über diese Netzwerke zu zirkulieren. Seine diplomatischen Erfahrungen flossen ferner in den erfolgreichen Traktat „De la charge et dignité de L’Ambassadeur“ (1613, Erstdruck 1603) ein.16 Hotman hatte ab den 1590er Jahren in Paris damit begonnen, zahlreiche Texte aus ganz Europa zu sammeln, die einen konfessionellen Ausgleich ermöglichen sollten. Für die Versorgung mit Textmaterial konnte er wiederum von seinen diplomatischen und gelehrten Netzwerken im In- und Ausland profitieren. So stand er etwa in langjährigem Kontakt mit Gelehrten wie William Camden, Hugo Grotius, Georg Michael Lingelsheim oder Matthias Bernegger. Man kann die historische Bedeutung von Hotmans Plänen nur durch eine präzise Kontextualisierung verstehen. Um 1600 wurden Friedensinitiativen in vielen europäischen Ländern wiederbelebt, nicht zuletzt in Frankreich und in England: Das Engagement, das zahlreiche Theologen und Gelehrte wie beispielsweise Jean de Serres, Philippe Duplessis-Mornay, Jacques-Auguste de Thou oder Hotman selbst entfalteten, war eng an Herrscherpersönlichkeiten wie Heinrich IV. oder Jakob VI./I. gebunden.17 Nicht zuletzt spielten dabei auch reaktualisierte antirömische Affekte eine wichtige Rolle: Verschiedene Ereignisse in diesen Jahren verstärkten in Frankreich eine antirömische Haltung. Als Beispiele seien der Gunpowder-Plot 1605 und das Venezianische Interdikt 1606 genannt, die eine europaweite erbitterte Auseinandersetzung über die päpstliche Autorität nach sich zogen. Dazu kam, dass Frankreich um 1600 zunehmendem Druck von Rom ausgesetzt war, die Dekrete des Trienter Konzils anzuerkennen.18 Diese Vorgänge trugen zu einer Wiederbelebung der Diskussion über die Gallikanischen Freiheiten bei, und verschiedene

16 Vgl. Lucien Bély: La polémique autour de L’Ambassadeur de Jean Hotman. Culture et diplomatie au temps de la paix de Lyon. In: Cahiers d’histoire 46/2 (2001), S. 327–354. 17 Corrado Vivanti: Lotta politica e pace religiosa in Francia fra Cinque e Seicento. Turin 1963; William B. Patterson: King James VI and I and the Reunion of Christendom. Cambridge u. a. 2 2000; Mona Garloff: Irenik als gelehrte Praxis. Religionspolitische Friedensprojekte im Zeitalter der europäischen Konfessionskonflikte. In: Sarah Lehmann u. a. (Hg.): Begegnungsräume der Konfessionen. Glaubensvielfalt in Medien der Frühen Neuzeit. Leiden 2017, S. 13–36, hier S. 18–20. 18 Hermann Weber: Die Annahme des Konzils von Trient durch Frankreich. In: Historisches Jahrbuch 99 (1979), S. 196–212.

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Stimmen gingen so weit, eine von Rom abgespaltene Nationalkirche zu fordern, die die römisch-katholische und die reformierte Kirche vereinen sollte.19 Gallikanische und reunionspolitische Zielsetzungen verbanden sich zu diesem Zeitpunkt eng, womit auch Fragen der konfessionellen Zugehörigkeit in den späthumanistischen Gelehrtenkreisen marginalisiert wurden: So unterstützen Gelehrte wie de Thou oder Pierre de L’Estoile Hotman in seinen Initiativen für den Kirchenfrieden, obwohl sie im Gegensatz zu ihm dem katholischen Glauben angehörten. In diesen späthumanistischen Gelehrtenkreisen wird die politische Motivation ihrer Ansätze deutlich: Bei der Mehrheit der späthumanistischen Gelehrten handelte es sich keineswegs um Theologen, sondern wie im Falle Hotmans oder de Thous um Juristen, die sich mit den Möglichkeiten des religiösen und politischen Friedens auseinandersetzten und im Dienste der französischen Krone standen. Sie hatten meist ihre Ausbildung an der Universität von Bourges genossen, die als Zentrum der humanistischen Jurisprudenz besonderes Gewicht auf rechtshistorische und -systematische Zugänge legte und auf die Herausbildung des reformierten Glaubens selbst entscheidenden Einfluss genommen hatte.20

Irenik als gelehrte Praxis und die Kommunikation über den religionspolitischen Frieden Hotman, der in einem streng reformierten Umfeld aufgewachsen war, brachte immer wieder seine Nähe zum römisch-katholischen Glauben zum Ausdruck. Diese flexible Glaubenshaltung ermöglichte ihm, seine Zielsetzungen adressatenbezogen anzupassen. Wie aus zahlreichen scharfen Auseinandersetzungen zwischen Hotman und Theodor Beza bzw. dem Genfer Konsistorium deutlich wird, wurde in Hotmans Irenikprogramm insbesondere auf reformierter Seite eine Infragestellung konfessioneller Wahrheitsansprüche gesehen, die die dogmatischen Gegensätze zu verwischen drohte.21 Anhand ihrer Auseinandersetzungen zeigt sich, wie die Reunionsthematik auch hier für konfessionelle Zwecke vereinnahmt wurde. Dies 19 Vgl. William J. Bouwsma: Gallicanism and the Nature of Christendom. In: Anthony Molho u. a. (Hg.): Renaissance Studies in Honor of Hans Baron. De Kalb 1971, S. 809–830; Henri Morel: L’idée gallicane au temps des guerres de religion. Aix-en-Provence 2003; Alain Tallon: Gallicanism and Religious Pluralism in France in the Sixteenth Century. In: Keith Cameron u. a. (Hg.): The Adventure of Religious Pluralism in Early Modern France. Oxford u. a. 2000, S. 15–30. 20 Vgl. Donald R. Kelley: Civil Science in the Renaissance. Jurisprudence in the French Manner. In: History of European Ideas 2 (1981), S. 261–276; Isabelle Deflers: Der juristische Humanismus an der Rechtsschule von Bourges im 16. Jahrhundert. In: Andreas Bauer u. a. (Hg.): Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte. Köln 2007, S. 221–252. 21 Vgl. Scott M. Manetsch: Theodore Beza and the Quest for Peace in France, 1572–1598. Leiden u. a. 2000, S. 291 f. et passim.

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kann gut an einem Streitgespräch veranschaulicht werden, das im zeitlichen Umfeld der 1593 erfolgten Konversion Heinrichs IV. stattfand.22 Die beteiligten Kontrahenten brachten drei unterschiedliche Vorstellungen der religiösen concordia zum Ausdruck, in denen sich die konfessionelle Indienstnahme des Themas manifestiert: Ausgangspunkt des Konfliktes war 1595 der Glaubenswechsel Pierre Victor Palma-Cayets, früherer Hofprediger von Catherine de Bourbon, zum katholischen Glauben. Palma-Cayet propagierte in verschiedenen Texten, wie beispielsweise in „Les Moyens de la réunion en l’Église catholique“ (1597), eine Wiedervereinigung der Konfessionen im Schoß der römisch-katholischen Kirche. Diese Ansätze stießen auf den Widerspruch Theodor Bezas, der sich wiederum eine Reunion nur unter der Ägide der reformierten Kirche vorstellen konnte. Der Genfer Theologe kritisierte jedoch auch die Ansätze des dritten Beteiligten in der Kontroverse: des ebenfalls reformierten Gelehrten Jean Hotman. Dieser nahm für seine Reunionspläne in Anspruch, im Unterschied zu der katholischen und reformierten Indienstnahme der concordia, die Problematik konfessioneller Wahrheitsfindung zu umgehen. Sein Projekt sah eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Christentums und die Lehren der Kirchenväter vor – somit wurden seine Legitimationsquellen in die vorkonfessionelle Zeit zurückverlegt. Den Konsens der Kirchenväter stellte Hotman über die Autorität der Heiligen Schrift. Zwar konnte auch die Patristik konfessionell vereinnahmt werden, jedoch war die Berufung auf einzelne Kirchenväter wie Augustinus oder Irenaeus für Hotman theologisch unverfänglicher als biblische Legitimationsquellen. Obwohl er deutliche Sympathien für den römisch-katholischen Glauben hegte, sah er anders als Palma-Cayet gerade nicht die Notwendigkeit zu konvertieren.23 Hotman verstand die Kirchenreunion als langen Aushandlungsprozess, an dessen Ende die Konfessionen in Orientierung an der antiken Kirche in einer dogmatischen Einheit zusammenfinden sollten. Für diese Übergangsphase berief er sich auf die historisch bzw. biblisch legitimierten Freiräume der Partikularkirchen: Über die gemeinsame Besinnung auf die Grundlagen im Apostolischen Glaubensbekenntnis hinaus war es ausreichend, wenn die dogmatischen Gegensätze erst auf längere Sicht zwischen den Konfessionskirchen beigelegt wurden. Freiheiten auf liturgischer und zeremonieller Ebene konnten für ihn auch im Rahmen einer Union bestehen bleiben. Unter Berufung auf den kleinsten gemeinsamen dogmatischen Nenner umging Hotman theologische Streitfragen bzw. flachte sie in ihrer Komplexität

22 Vgl. Mona Garloff: Concordia durch Toleranz? Kontroversen um Gewissensfreiheit, religiöse Koexistenz und Glaubenseinheit im Umfeld der Konversion des französischen Königs Heinrich IV. In: Sascha Salatowsky / Winfried Schröder (Hg.): Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2016, S. 161–181. 23 Vgl. Manetsch, Beza, S. 291–294.

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ab.24 Mit dem Rekurs auf die stilisierte Einheit des antiken Christentums und das gemeinsame historische Erbe der Reformation gab er argumentativ vor, sich von einer konfessionellen Indienstnahme von Irenik abzugrenzen. Zugleich ermöglichte ihm die Flexibilität seiner theologischen Positionen, seine Pläne aktualitätsbezogen an die politische Ausgangslage anzupassen und seine Werke nicht nur Heinrich IV. und Jakob VI./I., sondern auch Clemens VIII. anzuempfehlen. Die veränderte politische Ausgangslage in Frankreich nach 1610 schränkte zweifelsohne auch die Spielräume des Irenikdiskurses ein: Hotmans letzte aktive konfessionelle Vermittlungsbemühung als Agent du Roy im Jülich-Klevischen Erbfolgekonflikt hatte 1614 seine Abberufung aus Düsseldorf bewirkt, doch suchte er sich weiterhin in den Dienst der französischen Krone zu stellen.25 Seine Publikationen verlagerten sich zunehmend auf außenpolitische Stellungnahmen, die jedoch in Beziehung zum Ziel der Kirchenreunion standen. In seinen Einschätzungen zur europäischen Mächtepolitik wurde die Idee eines vereinigten Christentums zugunsten des Engagements für notwendige konfessionsübergreifende Allianzen aufgegeben. Dennoch hielt Hotman, wie er in seiner weit zirkulierten Streitschrift „Dessein perpétuel des Espagnols à la monarchie universelle“ (1624) formulierte, eine Wiedervereinigung der Konfessionen in Frankreich für essentiell, um die außen- und innenpolitische Durchsetzungsfähigkeit des Landes zu gewährleisten. Ähnliche Überlegungen hatte der Straßburger Gelehrte Matthias Bernegger in seiner drei Jahre zuvor veröffentlichten „Tuba Pacis“ (1621) formuliert, in der er zu einer innerprotestantischen Einigung aufgerufen hatte.26 Berneggers Schrift oder das „Irenicum sive de unione et synodo Evangelicorum“ (1614) des Kurpfälzer Theologen David Pareus zeigen, dass innerprotestantische Unionsansätze in den Konfliktlinien des Dreißigjährigen Krieges in erster Linie zur Absicherung der protestantischen, antihabsburgischen Bündnispolitik verstanden wurden. Ihr Beispiel unterstreicht die Notwendigkeit, Irenik um 1600 in ihren politischen Zielsetzungen zu betrachten. Howard Hotsons Feststellung, dass Irenik bloß „an adjunct of diplomacy in the confessional age“ gewesen sei,27 überspitzt die politischen Moti-

24 Vgl. Garloff, Irenik, S. 94 f.; Thierry Wanegffelen: Ni Rome, ni Genève. Des fidèles entre deux chaires en France au XVIe siècle, Paris 1997, S. 480 f. 25 Vgl. im Folgenden Garloff, Irenik, S. 185–202; zur französischen Außenpolitik J. Michael Hayden: Continuity in the France of Henry IV and Louis XIII. French Foreign Policy, 1598–1615. In: Journal of Modern History 45 (1973), S. 1–23; Friedrich Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände. Berlin 2005, bes. S. 441–443. 26 Alexander Schmidt: Irenic Patriotism in Sixteenth- and Seventeenth-Century German Political Discourse. In: The Historical Journal 53 (2010), S. 243–269, hier S. 262–265. 27 Howard Hotson: Irenicism and Dogmatics in the Confessional Age. Pareus and Comenius in Heidelberg, 1614. In: Journal of Ecclesiastical History 46 (1995), S. 432–456, hier S. 453.

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vationen, trifft aber einen wunden Punkt der traditionellen kirchengeschichtlichen bzw. theologisch-systematischen Auseinandersetzung mit Irenik. Unverfänglicher als eine direkte Positionierung zur konfessionellen Konfliktlage der 1620er Jahre war es für Hotman, sich auf gelehrte Texteditionen zurückzuziehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient seine erfolgreiche Irenikbibliographie „Syllabus aliquot synodorum et colloquiorum“, die erstmals 1607 erschienen war. In Zusammenarbeit mit Hugo Grotius und Matthias Bernegger erfuhr sie 1628 und 1629 zwei erweiterte Neuauflagen.28 Mit den 175 aufgenommenen Titeln wird ein größtmögliches Spektrum des Irenik- und Toleranzdenkens des 16. und 17. Jahrhunderts aufgezeigt, das für die Herausgeber im Rahmen eines Konsenses der etablierten Kirchen und staatlich verordneter Ziviltoleranz möglich war. In der Betonung einer langen Traditionsbildung irenischer Argumente seit dem 15. Jahrhundert wurde überdeckt, dass sich das irenische Denken der späthumanistischen respublica litteraria zunehmend marginalisiert und auf innerprotestantische Bündnisbestrebungen verlagert hatte, die von lutherischer Seite jedoch mit schärfster Konfessionspolemik beantwortet wurden. Die inhaltlich breite Ausrichtung des „Syllabus“ lässt nicht zuletzt Veränderungen in Hotmans irenischem Verständnis selbst beobachten: Seine profilierteren religionspolitischen Stellungnahmen in der Konfliktlage der 1590er Jahre waren bereits selbst Teil eines Traditionsbildungsprozesses von Irenik geworden. Im Vorwort zur dritten Ausgabe des „Syllabus“ von 1629 wird eine pragmatische Haltung Hotmans zur Wiedervereinigung der Kirchen deutlich.29 Ereignisse wie die Belagerung von La Rochelle 1627/28 und die vorausgegangenen politischen Konfrontationen der 1620er Jahre hatten deutlich gemacht, dass eine Reunion der Kirchen nach Hotmans Vorstellungen nur in einer zeitlich unbestimmten Zukunft vollziehbar war. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war diese nur als eine Reintegration der Reformierten in eine katholische Kirche realisierbar, die sich keiner der angestrebten Reformen unterzogen hatte und weit entfernt vom idealisierten Vorbild einer gallikanischen Nationalkirche war. Mehr Spielraum war gelehrt-irenischen Ansätzen in den späten 1620er Jahren nicht mehr gegeben. Auf politischer Ebene war nach der Belagerung von La Rochelle und dem Edikt von Alès (1629), mit dem die Toleranzgarantien von 1598 radikal ein-

28 Jean Hotman: Syllabus aliquot Synodorum et colloquiorum, quae auctoritate et mandato Caesarum et Regum, super negotio Religionis, ad controuersias conciliandas, indicta sunt. [Paris] 1628 [1629] (3. Ausgabe). Vgl. G. Posthumus Meyjes: Jean Hotman’s Syllabus of Eirenical Literature. In: Derek Baker (Hg.): Reform and Reformation. England and the Continent c. 1500–c. 1750. Oxford 1979, S. 175–193. 29 Vgl. Garloff, Irenik, S. 219 f.

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geschränkt wurden, längst entschieden, unter welchen Prämissen konfessioneller Wahrheitsfindung der religionspolitische Frieden langfristig zu vollziehen war.30

Schluss Toleranz- und Reunionsansätze des 16. und frühen 17. Jahrhunderts boten unterschiedliche Lösungsmodelle zur Beilegung der konfessionellen Konflikte an, die im Hinblick auf die Entscheidungsfindung in enger Abhängigkeit zueinander standen: Den Vertretern einer späthumanistischen Irenik wie Jean Hotman ging es darum, konfessionelle Unterschiede weitgehend zu nivellieren, indem dogmatische Konfliktpunkte zu Adiaphora („freigelassenen Mitteldingen“) erklärt und die Möglichkeiten eines Minimalkonsenses aufgezeigt wurden.31 Dieses Programm des religiösen Friedens wurde unter Rückgriff auf eine lange Tradition irenischer Vorbilder abgesichert, womit Lösungsansätze des religiösen Konflikts in das vorkonfessionelle Zeitalter zurückverlegt wurden und das aktuell bestehende Konkurrenzverhältnis entschärft wurde. Auch Toleranzansätze hoben die Notwendigkeit für eine sofortige Einigung über theologische Konfliktpunkte auf. Vielmehr ging es diesen um ein zeitliches Aufschieben von religionspolitischen Entscheidungen, wobei mit dem damit verbundenen Zeitgewinn die Zielsetzung einer langfristigen Durchsetzung des eigenen Bekenntnisses verbunden wurde. Verallgemeinernd bediente sich Irenik im 16. und frühen 17. Jahrhundert immer dann Toleranzforderungen, wenn die politische Ausgangslage keinen Spielraum für die Realisierung reunionspolitischer Zielsetzungen bot. Indem irenische Positionen das Konkurrenzverhältnis religiöser Wahrheitsfragen entschärften, gaben sie eine leichtere Entscheidungsfindung vor. Zugleich suchten sich Vertreter wie Jean Hotman von einer konfessionellen Irenik abzugrenzen, indem er seine Ansätze unter Rekurs auf die Idee der antiken Universalkirche als überkonfessionell auswies. Wie deutlich wurde, lagen allen Bestrebungen um eine Wiedervereinigung der Kirchen konfessionsgebundene Interessen zugrunde, die auf die langfristige Durchsetzung religiöser Wahrheitsansprüche abzielten. So bewahrte Hotman bis zum Ende seines Lebens eine enge Bindung an die reformierte Kirche. Vertreter einer späthumanistischen Irenik setzten zur Sicherung des religiösen Friedens besonders auf die Autorität politischer Entscheidungsträger. Die französischen Nationalkonzilspläne um 1600 zeigen, dass hier institutionalisierte Verfahren zur Entscheidungsfindung in der Tradition der Religionsgespräche seit dem frühen 16. Jahrhundert angedacht 30 Holt, Wars, S. 191–194; Jan-Friedrich Mißfelder: Das Andere der Monarchie. La Rochelle und die Idee der „monarchie absolue“ in Frankreich, 1568–1630. München 2012, S. 245–272. 31 Vgl. zu den Adiaphora Irene Dingel: Historische Einleitung. In: Dies. (Hg.): Der Adiaphoristische Streit (1548-1560). Göttingen 2012, S. 3–15, hier S. 3.

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wurden. Obrigkeitlich abgesicherte Aushandlungsprozesse sollten das forcierte Entscheiden für oder gegen eine konfessionelle Seite verhindern. Selbst wenn die Forderung nach Ziviltoleranz weit unter den Zielsetzungen lag, die der Vorstellung einer Wiedervereinigung der Kirchen entsprach, blieb sie in der konfliktreichen religionspolitischen Lage Frankreichs die einzig realisierbare Möglichkeit. Im irenischen Denken um 1600 bot sie insofern eine pragmatische Minimallösung, als in beiden Spielarten des religiösen Friedens das Entscheiden über konkurrierende religiöse Wahrheitsfragen in eine fernere Zukunft verlagert wurde.

Alexander Georg Durben

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden in englischen Gerichtsverfahren der Sattelzeit

Auch in Gesellschaften, in denen offene Konkurrenz weit weniger positiv konnotiert war als in der Gegenwartsgesellschaft, waren Gerichtsprozesse kommunikative Foren, in denen das Artikulieren von offen konkurrierenden Deutungsansprüchen keineswegs verpönt war. Im Gegenteil: dass die Parteien eines Rechtsstreites deutlich miteinander kontrastierende Auffassungen davon vertraten, wer im Recht war, entsprach dem Regelfall. Vor Gericht wurden aber nicht nur miteinander konkurrierende Fallversionen artikuliert und nebeneinandergestellt, sondern es wurde auch darüber entschieden, welche dieser Fallversionen gerichtlich sanktionierte Geltung beanspruchen durfte, also welche der Parteien Recht bekam.1 Dieses gemeinsame Auftreten zweier sozialer Praktiken, von Konkurrieren und Entscheiden, innerhalb desselben kommunikativen Kontextes wirft analytisch interessante Fragen auf: Wodurch waren Konkurrieren und Entscheiden vor Gericht voneinander abgesetzt, wie waren sie aber auch ineinander verschränkt und aufeinander bezogen? Wie wurde das offene Konkurrieren mit seiner agonalen, konflikthaften Kommunikation vor Gericht eingehegt und funktional auf das Entscheiden bezogen, wie trug das Konkurrieren dazu bei, das Entscheiden auf diesem Forum überhaupt erst zu ermöglichen? Diesen Fragen zum Verhältnis von Konkurrieren und Entscheiden wird hier in einer mikroanalytischen Perspektive anhand des empirischen Kontextes eines Gerichtsverfahrens nachgegangen: des Falles „Minet and Fector“ v. „Gibson and Johnson“, der 1789 vor dem Londoner Court of King’s Bench verhandelt wurde, einem der zentralen Gerichtshöfe des englischen common law, an dem sowohl Strafverfahren als auch zivile Gerichtsverfahren geführt wurden.2 Bei diesem Fall

1 Vgl. zur Gerichtsverhandlung als einem kultur- und epochenübergreifendem Handlungs- und Kommunikationsschema, das in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen aber natürlich unterschiedliche konkrete Ausprägungen annehmen konnte, Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925). München 2002, S. 467 f. 2 Verschiedene Stadien dieses komplexen Rechtsstreites werden in gedruckten law reports für den juristischen Gebrauch behandelt, vgl. Minet v. Gibson, 100 E. R. 689, 3 T. R. 481, Gibson v. Minet, 126 E. R. 326, 1 H. Bl. 569 und Gibson v. Minet, 1 E. R. 784, 2 Bro. P. C. 48, daneben liegen Artikel über einzelne Gerichtsverhandlungen aus der Tagespresse vor, vgl. Minet and Co. v. Gibson and Johnson. In: The Times, 05.11.1789, S. 3 f. und Minet and Fector v. Gibson and Johnson. In: Oracle Bell’s New World, 04.11.1789, S. 1, ebenso wie ausführlichere Thematisierungen in Zeitschriften, vgl.

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handelte es sich um einen von mehreren Gerichtsprozessen im Kontext des Bankrottes der Firma „Livesey, Hargreave and Co.“, der unter den ökonomischen Akteuren der Londoner City in den späten 1780er Jahren für einige Verwerfungen gesorgt hatte. Die bankrotte Firma hatte in ihrem Zahlungsverkehr in erheblichem Ausmaß auf eines der verbreitetsten bargeldlosen Zahlungsmittel des späten 18. Jahrhunderts zurückgegriffen: den Wechsel (bill of exchange), also eine übertragbare Anweisung eines Ausstellers an einen Bezogenen, einem Begünstigten zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Summe Geld auszuzahlen. Livesey, Hargreave and Co. hatte des Öfteren Wechsel auf fiktive Begünstigte ausgestellt und diese dann über fingierte Unterschriften an die eigentlichen Zahlungsempfänger übertragen – eine Praxis, die in der Folge zu Konflikten unter den Gläubigern und Geschäftspartnern der Bankrotteure führte: Mussten die sich aus diesen Wechseln ergebenden Zahlungsansprüche bedient werden oder konnten aus den Wechseln wegen der bei ihrer Ausstellung benutzten Fiktionen gar keine gültigen Ansprüche erwachsen? Konkurrierende Auffassungen in dieser Frage entzweiten unter anderem das Handelshaus Minet and Fector, an das einer der fraglichen Wechsel als Zahlungsmittel gelangt war, und das Bankhaus Gibson and Johnson, das den fraglichen Wechsel akzeptiert hatte, nun aber mit Hinweis auf den fiktiven Begünstigten die Auszahlung der auf dem Wechsel genannten Summe von 720 Pfund verweigerte – damals ein erheblicher Betrag. Der aus dieser Auseinandersetzung resultierende Gerichtsprozess wurde zeitgenössisch als „a Cause of the utmost importance to the Public, and particularly to the Commercial World“3 eingeschätzt; verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete berichteten über ihn.4 Als Untersuchungsgegenstand für die hier interessierenden Fragen empfiehlt sich der Prozess jedoch weniger wegen der in seinem Verlauf erzielten bedeutenden Festlegungen im Bereich des Wechselrechts, sondern vielmehr, weil sich wegen der dichten zeitgenössischen Berichterstattung über den Fall kommunikative Verläufe innerhalb des Verfahrens auch aus der historischen Rückschau bis ins Detail rekonstruieren und auf

Mercantile Cause – Minet and Fector, versus Gibson and Johnson. In: The Gentleman’s Magazine, Bd. 61, Teil 1, London 1791, S. 176–180 und Minet and Fector, against Gibson and Johnson, in Error. In: The Lawyer’s and Magistrate’s Magazine, Bd. 2, Dublin 1792, S. 474–512. 3 [Hughes Minet / James Peter Fector (Hg.)]: Bills of Exchange. A Full and Correct Report of the Great Commercial Cause of Minet and Fector, versus Gibson and Johnson; Decided in the House of Lords, on Monday the 14th of February, 1791: Including the Speeches of the Lord Chancellor, Lord Loughborough, Lord Kenyon, Lord Chief Baron, &c. London 1791, S. iii (Vorwort). 4 Vgl. für einen Überblick über die mit dem Bankrott von „Livesey, Hargreaves and Co.“ verbundenen Gerichtsverfahren aus rechtshistorischer Perspektive J[ohn] K. Horsefield: Gibson and Johnson. A Forgotten Cause Celèbre. In: Economica NF 10 (1943), S. 233–237, übergreifend zur Entwicklung des Wechselrechts Matthew Dylag: The Negotiability of Promissory Notes and Bills of Exchange in the Time of Chief Justice Holt. In: Journal of Legal History 21 (2010), S. 149–175. Siehe auch die in Anm. 2 genannten zeitgenössischen Berichte.

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden

die Beziehung von Konkurrieren und Entscheiden hin untersuchen lassen. Diese Untersuchungen konzentrieren sich hier auf die quellentechnisch gut zugängliche interaktionelle Gerichtsverhandlung und damit nur auf einen spezifischen Teil des gesamten Gerichtsverfahrens. Neben der Gerichtsverhandlung umfasste der gerichtliche Entscheidungsprozess am Court of King’s Bench auch in erster Linie schriftliche vor- und nachbereitende Episoden, die mündlich geführte und öffentlich vor Zuschauern stattfindende Kommunikationsepisode im Gerichtssaal war aber das Kernstück eines adversarialen Verfahrens, wie es vor englischen commonlaw-Gerichten geführt wurde: Hier wurden die konkurrierenden Fallversionen beider Parteien in ihrer Gesamtheit präsentiert und hier wurde die Entscheidung des Gerichtes förmlich verkündet.5

Rollendifferenzierung in „konkurrierende“ und „entscheidende“ Akteure Interessiert man sich dafür, wo Konkurrieren und Entscheiden innerhalb der Verfahrenskommunikation eines Gerichtsprozesses wie Minet v. Gibson jeweils verortet sind, empfiehlt es sich, mit einer Betrachtung der kommunikativen Grundstruktur eines Gerichtsverfahrens zu beginnen. Wie Willibald Steinmetz herausgestellt hat, weisen derartige als Gerichtsverfahren ausgestaltete Kommunikationszusammenhänge eine charakteristische Aufteilung der Teilnehmer auf verschiedene Rollen auf, die sich auf drei basale Instanzen verteilen: „Einer anklagenden Partei steht eine beklagte Partei gegenüber. Beide vertreten sich und ihre Standpunkte vor einer dritten, richtenden Instanz, deren Autorität und abschließendem Urteil sie sich im Vorhinein unterwerfen.“6 Diese Rollenstruktur hat erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Verhältnisses von Konkurrieren und Entscheiden vor Gericht: Sie ordnet nämlich das „Konkurrieren“ auf der einen Seite und das „Entscheiden“ auf der anderen Seite unterschiedlichen Akteuren zu und sorgt damit schon auf der personellen Ebene für eine deutliche Abgrenzung der beiden Felder voneinander. Das Akteurspersonal, das im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Gerichts-

5 Vgl. zum adversarialen Gerichtsverfahren John Hostettler: Fighting for Justice. The History and Origins of Adversary Trial. Winchester 2006, S. 9–20, für einen zeitgenössischen Überblick über die Verfahrensarchitektur eines zivilen Common-law-Verfahrens Johann Jakob Rüttimann: Der englische Civil-Process mit besonderer Berücksichtigung des Verfahrens der Westminster-Rechtshöfe. Leipzig 1851, zur Gerichtsverhandlung bes. S. 166–201. Mit der kommunikativen Zentralität der Gerichtsverhandlung unterschied sich ein Common-law-Verfahren deutlich vom kontinentaleuropäischen Inquisitionsverfahren, das nicht öffentlich war und stärker schriftlich-dezentral geführt wurde, vgl. André Krischer, Die Macht des Verfahrens. Englische Hochverratsprozesse 1554–1848, Münster 2017, S. 4. 6 Steinmetz: Begegnungen vor Gericht, S. 468.

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verhandlungen vor dem Court of King’s Bench als Sprecher in Erscheinung trat, lässt sich in „Konkurrenten“ und „Entscheider“ einteilen.7 Das Konkurrieren war Sache der beiden Prozessparteien, die im Verfahren jeweils eigene Fallversionen artikulierten, also Kombinationen aus Behauptungen darüber, was Sache und was Recht war, die miteinander in direktem Kontrast standen und damit unmittelbar um Geltung konkurrierten. Im späten 18. Jahrhundert trugen die Prozessparteien ihre Fallversionen nicht persönlich vor Gericht vor, sondern wurden von Anwälten (barristers) vertreten, die zur Erhärtung bestimmter Sachverhaltsbehauptungen von den Prozessparteien rekrutierte Zeugen befragten. Das Entscheiden darüber, welche der beiden Versionen offiziell als gültig angesehen wurde und welche der Parteien damit vor Gericht Recht bekam, war dagegen Sache der richtenden Instanz. Auch diese war in der Betrachtungszeit in mehrere Rollenträger ausdifferenziert: Der der Gerichtsverhandlung vorsitzende Richter traf autoritative Festlegungen in zwischen den Parteien umstrittenen Rechtsfragen, über Sachfragen befand dagegen eine Jury aus zwölf Laiengeschworenen.8 Die Akteure erbrachten in der Gerichtsverhandlung jeweils rollenspezifische kommunikative Beiträge. Diese waren in eine klare zeitliche Sequenz eingeordnet, in der die Beiträge der „Konkurrenten“ denen der „Entscheider“ vorgelagert waren: Zunächst schilderte der Klägeranwalt die Fallversion seines Mandanten in einer Gerichtsrede, dann suchte er die zentralen Sachverhalte dieser Fallversion durch das Aufrufen und Befragen der Zeugen der Klägerseite zu belegen, wobei der Anwalt des Beklagten jeweils Kreuzverhöre der Zeugen durchführen konnte. Danach präsentierte die Beklagtenseite in derselben Weise ihren Fall, worauf dem Klägeranwalt noch eine Erwiderungsrede zustand. Schließlich waren die „Entscheider“ an der Reihe: Zuerst fasste der Richter für die Geschworenen in einer Rede, dem summing up, die von beiden Parteien angeführten Beweismittel zusammen und präsentierte der Jury eine scheinbar eindeutige Rechtslage, dann konnte sich die Jury zur Beratung zurückziehen, um abschließend einstimmig ihr Verdikt zu verkünden, eine Festlegung auf die Sachverhaltsversion einer der beiden Parteien.9 Diese Struktur von Rollen und Beitragsformaten machte für alle an der Gerichtsverhandlung Beteiligten schon anhand der jeweiligen Sprecher und völlig unabhängig vom Inhalt ihrer jeweiligen Beiträge klar, wo die Grenzen zwischen den beiden konkurrierenden Fallversionen und zwischen Konkurrieren und Entscheiden lagen:

7 Einen visuellen Einblick in eine Gerichtsverhandlung der Betrachtungszeit mit allen beteiligten Akteuren gibt Rudolph Ackermann: Microcosm of London. Bd. 1. London 1808, Bildtafel 24 „King’s Bench“ ggb. S. 205. 8 Vgl. William Blackstone: Commentaries on the Laws of England. Bd. 3. London 12 1794, S. 349–385. 9 Vgl. Rüttimann, Der englische Civil-Process, S. 175–177 sowie Third Report made to His Majesty by the Commissioners appointed to Inquire into the Practice and Proceedings of the Superior Courts of Common Law. London 1831, S. S. 68 f.

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden

Die Äußerungen des Klägeranwaltes und der Zeugen der Klägerseite waren Teil der einen Fallversion, die von Beklagtenanwalt und Zeugen der Beklagtenseite die der zweiten, beide gemeinsam machten das Konkurrieren aus, wohingegen es sich bei den Beiträgen von Richter und Geschworenen um Entscheiden handelte. Diese klar nach Rollen und Beitragsformaten geordnete sequentielle Struktur prägte auch die Gerichtsverhandlung im Fall Minet v. Gibson vom 3. November 1789, über die in der „Times“ ausführlich berichtet wird. Die Kommunikationsstruktur der Gerichtsverhandlung wurde hier nicht nur implizit durch die Reihenfolge der auftretenden Sprecher und die Natur der von ihnen getätigten Redebeiträge berücksichtigt, sondern an mehreren Stellen von verschiedenen Akteuren der Verhandlung auch explizit in affirmativer Weise thematisiert. So äußert sich Mr. Bearcroft, der barrister des Klägers, in seiner Erwiderungsrede folgendermaßen über die Bemühungen des Beklagtenanwaltes Mr. Erskine: My learned friend has on this, as on most other occasions, exerted himself with equal zeal and abilities. But notwithstanding both, which he posseses in very great perfection, he has not an inch of solid ground to support him.10

Bearcroft verbindet hier einen deutlich markierten Widerspruch in der Sache mit einem respektvollen Anerkennen der Person des Gegenanwaltes, den er nicht nur den Konventionen der barristers entsprechend seinen „learned friend“ nennt, sondern dessen Eifer und Fähigkeiten er auch lobend hervorhebt. Mit dieser besonderen Mischung als Widerspruch und Anerkennung bestätigt Bearcroft die Rollenstruktur der Gerichtsverhandlung: Er widerspricht dem, was Erskine vorgetragen hat, aber er markiert den Umstand, dass Erskine vor Gericht vorgetragen hat, als etwas Übliches und Legitimes, erkennt die Gegenpartei also in ihrer Konkurrentenrolle an. In ähnlicher Weise erfahren auch die Rollen der „Entscheider“ ausdrückliche situative Bestätigung durch verschiedene Akteure: Bearcroft erläutert der Jury etwa, dass der Richter „will direct you in deciding the law“,11 erkennt den Richter also ausdrücklich als legitimen Entscheider in Rechtsfragen an. Erskine dagegen weist eine zur Diskussion stehende Sachfrage gegenüber der Jury als „a subject entirely for your consideration“12 aus, markiert die Geschworenen also als legitime Entscheider in Sachfragen – eine Kompetenz, die auch der vorsitzende Richter Lord Kenyon der Jury noch einmal explizit zuspricht, als er in seiner Beweismittelzusammenfassung bezüglich einer Sachfrage an die Geschworenen gewandt bemerkt, dass „it is for

10 Minet and Co. v. Gibson and Johnson. In: The Times, 05.11.1789, S. 3 f., hier S. 3. 11 Ebd. 12 Ebd.

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you to decide on this point. The Constitution of this country has given you the jurisdiction over it“.13 Diese wiederholten ausdrücklichen Explizierungen der Rollen- und Beitragsstruktur einer Gerichtsverhandlung hängen auch damit zusammen, dass an der Gerichtsverhandlung nicht nur mit dieser Art von Interaktion erfahrene professionelle Rechtspraktiker wie Anwälte und Richter, sondern eben auch juristische Laien wie Zeugen und Geschworene beteiligt waren, denen gegenüber übliche Kommunikationsmuster erläutert werden mussten. Dass die Thematisierungen der Kommunikationsstruktur affirmativ angelegt sind, sie also nicht nur erläutern, sondern auch die Anerkennung ihrer Gültigkeit durch den Sprecher signalisieren, hat jedoch auch eine symbolische Funktion: Durch ihre ausdrückliche Anerkennung kontextspezifischer Regeln und Verhaltensmaximen leisten die „konkurrierenden“ Akteure im Sinne von Niklas Luhmann „unbezahlte zeremonielle Arbeit“14 und legitimieren dadurch den Entscheidungsvorgang. Zu einer solchen konstruktiven Mitarbeit am Verfahren, wie sie etwa im betont zivilisierten Auftreten von Mr. Bearcroft gegenüber seinem Kontrahenten Mr. Erskine zum Ausdruck kommt, wurden die konkurrierenden Akteure durch die Aussicht angehalten, dass auf das Konkurrieren das Entscheiden durch Dritte folgte, das auf Eskalation der Konkurrenzsituation setzende Strategien wenig erfolgversprechend erscheinen ließ.15 Genau in diesem wechselseitigen Einfluss besteht ein erster wichtiger Zusammenhang zwischen Konkurrieren und Entscheiden in Gerichtsverfahren: Die Erwartung des folgenden Entscheidens domestiziert das Konkurrieren, das vorangegangene Konkurrieren legitimiert das Entscheiden.

Generierung von Entscheidbarkeit durch Erzeugen von Kontrasten zwischen konkurrierenden Fallversionen In dieser legitimationsstiftenden Wirkung des durch Kommunikationsregeln eingehegten Konkurrierens erschöpfte sich die Bedeutung des Konkurrierens für das Entscheiden vor Gericht jedoch nicht. Eine weitere wichtige Leistung der Konkurrenzkommunikation bestand darin, dass sie klar markierte und zugespitzte

13 Ebd., S. 4. 14 Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 9 2013, S. 114, zur Anwendung des Konzepts auf historische Verfahren Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung. In: Dies. / André Krischer (Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010, S. 9–31. 15 Vgl. zur Legitimationswirkung der regelkonformen Teilnahme von Vertretern der Entscheidungsbetroffenen am Verfahren André Krischer: Das Verfahren als Rollenspiel? Englische Hochverratsprozesse im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ebd., S. 211–251, hier S. 237–241.

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden

Alternativen in Form von Kontrasten zwischen den präsentierten Fallversionen hervorbrachte und damit Entscheidbarkeit überhaupt erst generierte.16 Dieser Zusammenhang zwischen Konkurrieren und Entscheiden lässt sich konkret nachvollziehen, wenn man der „Bearbeitungskarriere“ von zwei ausgewählten Sachverhaltsbehauptungen folgt, die in der Verhandlung von Minet v. Gibson in der Befragung der Zeugen der Klägerseite erhoben wurden und dann in der weiteren Interaktionssequenz auf bemerkenswert unterschiedliche Weise weiterbearbeitet wurden.17 Einer der für die Kläger aufgerufenen Zeugen war Richard Booth, ein Schreiber in Diensten der Londoner Niederlassung der zahlungsunfähigen Firma Livesey, Hargreaves and Co., die den fraglichen Wechsel auf einen fiktiven Begünstigten ausgestellt hatte. Booth gab an, dass er regelmäßig auf fiktive Personen ausgestellte Wechsel zum Akzeptieren zu den beklagten Bankiers Gibson and Johnson gebracht habe. Dabei sei die Tinte der zwar auf den Ausstellungsort Manchester datierten, in Wirklichkeit aber frisch in London angefertigten Wechsel oft noch feucht gewesen, so dass „any person in the world that looked at them, must have seen they were very recently written.“18 Mit John Collier trat auch ein zweiter Schreiber von Livesey, Hargreaves and Co. als Zeuge für die Kläger auf, der sogar anzugeben wusste, dass ein bestimmter Schreiber des beklagten Bankhauses namens John Hawkins gelegentlich zur Londoner Niederlassung von Livesey, Hargreaves and Co. gekommen sei und dort Wechsel abgeholt habe, deren Anfertigung vor Ort er unmittelbar habe beobachten können.19 Beide Sachverhaltsbehauptungen wurden in ähnlicher Weise von der Klageseite als Indizien dafür präsentiert, dass die Beklagten sich über die bei der Anfertigung der Wechsel benutzten Fiktionen im Klaren hätten sein müssen – im Laufe der weiteren Gerichtsverhandlungen erfuhren die beiden Behauptungen aber ein ganz unterschiedliches Schicksal. Nachdem die Fallversion der Kläger präsentiert worden war, war die Beklagtenseite an der Reihe, unter deren Zeugen sich mehrere Schreiber des Bankhauses Gibson and Johnson befanden. In seinen Kreuzverhören konfrontierte der Klägeranwalt diese Zeugen mehrmals direkt mit Aussagen der Zeugen der Klageseite. Der Schreiber Samuel Tugman wurde etwa auf die feuchte Tinte auf den fraglichen

16 Zur Herstellung von Alternativität als Voraussetzung für Entscheiden als soziale Praxis vgl. Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 229 f. 17 Der Begriff der „Karriere“ wird hier in Anlehnung an Thomas Scheffer verwendet, vgl. Thomas Scheffer: Die Karriere rechtswirksamer Aussagen. Ansatzpunkte einer historiographischen Diskursanalyse der Gerichtsverhandlung. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), S. 151–181, hier bes. S. 159. 18 Minet and Co. v. Gibson and Johnson. In: The Times, 05.11.1789, S. 3. 19 Vgl. ebd.

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Wechseln angesprochen, woraufhin er angab, dass er „did not recollect the circumstance of the bills coming wet for acceptance; if they had been wet, they must have been dry before they got half way.“20 Auch der Schreiber John Hawkins wurde direkt mit Colliers vorheriger Aussage konfrontiert, woraufhin er „positively denied ever having waited at Livesay’s counting-house while Bills were filled up, or that he ever procured the acceptance of them in such a way.“21 Diese beiden Stellungnahmen von Zeugen der Gegenseite zu den Sachverhaltsbehauptungen hatten im Kontext der Gerichtsverhandlung kommunikativ vollkommen unterschiedliche Wirkungen: Tugman kommunizierte explizit Unwissen über den fraglichen Sachverhalt und vermied es damit, sich zu der Aussage des Zeugen der Gegenseite bestätigend oder ablehnend zu positionieren. Wie der Soziologe Paul Drew herausgestellt hat, kann ein solches „not knowing / remembering“ vor Gericht als kommunikative Strategie dienen, um potentiell beschädigende Aussagen der Gegenseite zu neutralisieren, ohne ihnen direkt zu widersprechen.22 Ohne einen solchen direkten Widerspruch bestand hinsichtlich des behaupteten Sachverhalts nun aber kein Kontrast zwischen den Fallversionen, der Alternativen bereitgestellt hätte, zwischen denen entschieden werden konnte – und damit spielte die Angelegenheit mit der feuchten Tinte im weiteren Verhandlungsverlauf keine Rolle mehr. Eine ganz andere Wirkung hatte dagegen Hawkins Stellungnahme: Hawkins widersprach der Aussage eines Zeugen der Gegenseite direkt und sorgte damit für eine direkte Konkurrenz von Geltungsansprüchen zwischen Kläger- und Beklagtenseite hinsichtlich des Punktes, ob Hawkins das Anfertigen von Wechseln bei Livesey, Hargreaves and Co. beobachtet hatte oder nicht. Damit war ein Kontrast zwischen beiden Fallversionen entstanden, der eine Entscheidung ermöglichte – und so wurde diese Angelegenheit noch mehrfach Thema im Verhandlungsverlauf. So griff etwa der Klägeranwalt Bearcroft diesen Kontrast in seiner Erwiderungsrede explizit auf: „What man among you cannot decide whether Collier or Hawkins spoke truth[?]“, fragte er die Jury rhetorisch. The probability of the thing speaks for itself. Is there a man among you twelve who doubts, and is not perfectly persuaded in his own mind, that Gibson and Johnson knew very well, that Thomas White [the name on the bill] was a fictitious person, and that they did not care a farthing about it.23

20 Ebd. 21 Minet and Fector v. Gibson and Johnson. In: Oracle Bell’s New World, 04.11.1789, S. 1. 22 Vgl. Paul Drew: Contested Evidence in Courtroom Cross-Examination. The Case of a Trial for Rape. In: Ders. / John Heritage (Hg.): Talk at Work. Interaction in Institutional Settings. Cambridge 1992, S. 470–520, hier S. 481. 23 Minet and Co. v. Gibson and Johnson. In: The Times, 05.11.1789, S. 4.

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden

Auch der vorsitzende Richter rekapitulierte in seinem summing up noch einmal die Zeugenaussage von Collier, der Hawkins widersprochen hatte, und gab der Jury die Weisung mit auf den Weg, dass, wenn diese Aussage der Wahrheit entsprach, it was certainly pretty notorious to the house of Gibson and Johnson, that these bills were not made payable to real but to fictitious persons; but the evidence of these parties, and the weight and conquence [sic!] of it is peculiarly within your jurisdiction.24

Die Jury schien in der Tat keine Schwierigkeiten zu haben, sich in dieser Angelegenheit eine Meinung zu bilden, denn sie kehrte schon nach nur etwa fünfminütiger Beratung in den Gerichtssaal zurück und verkündete ein Verdikt für die Kläger.25 Konkurrieren vor Gericht ermöglichte Entscheiden also auf einer ganz basalen Ebene: Im Konkurrieren der Parteien wurden klare Alternativen erzeugt, zwischen denen entschieden werden konnte. Gleichzeitig spezifizierte das Konkurrieren diese Alternativen auf handhabbare, sehr spezifische Detailunterschiede in den Fallversionen der Prozessparteien.26

Entscheidungskommunikation als selektiver Rekurs auf Deutungsangebote aus der Konkurrenzkommunikation Das Konkurrieren ermöglichte das Entscheiden aber auch noch auf einer anderen Ebene, indem es nämlich Bausteine lieferte, die in der Herstellung von Entscheidungen Verwendung finden konnten. Dieser Umstand lässt sich bei der Betrachtung der Bearbeitung konkurrierender Sachverhaltsbehauptungen vor Gericht nur schwer greifen, da die Geschworenen ihr Verdikt in geheimer Beratung fällten und es im Gerichtssaal dann nicht begründen mussten, so dass das Verdikt sich nicht in expliziter Weise an bestimmten Elementen der vorangegangenen Kommunikation im Gerichtssaal festmachen ließ. Gut lässt sich das Phänomen aber anhand von umstrittenen Rechtsfragen sichtbar machen, die vom Richter direkt im Gerichtssaal kommunikativ bearbeitet wurden. In seiner Eröffnungsrede versuchte Mr. Bearcroft etwa, die Gerichtsentscheidung in einem vorangegangenen Fall, der sich ebenfalls um einen auf eine fiktive Person ausgestellten Wechsel gedreht hatte, als bindenden Präzedenzfall für die rechtliche Behandlung derartiger Fälle zu etablieren: „As it appeared to him [Bearcroft]

24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. hierzu auch Thomas M. Seibert: Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs. Berlin 2004, S. 152.

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the cause of Tatlock and Harris would have some influence in this cause“, merkte er an, „it certainly had a family likeness to it“.27 Gerade dies wollte Mr. Erksine in der Eröffnungsrede für die Beklagtenseite aber nicht zugestehen: „This case is clearly distinguished from another, somewhat of a similar nature, viz. Tatlock versus Harris“,28 zeigte er sich überzeugt. Auch hier war also ein Kontrast zwischen den Fallversionen der beiden Prozessparteien entstanden, der eine Entscheidung ermöglichte und zu dem sich Lord Kenyon in seinem summing up explizit positionierte: „The question already discussed (viz.) Tatlock against Harris, and which as is admitted bears some relation to the present question, yet is not precisely in point, and does not decide this cause“,29 legte er fest – er wies das Deutungsangebot des Klägeranwaltes also ab und nahm das des Beklagtenanwaltes an. Dass es sich bei derartigen richterlichen Weisungen über die Rechtslage keineswegs um ein reines Schöpfen aus dem abstrakten richterlichen Rechtswissen handelte, sondern vielmehr um Positionierungen gegenüber konkreten, in der vorangegangenen Verfahrenskommunikation unterbreiteten Deutungsangeboten der Prozessparteien, machte Kenyon in einer anderen Frage auch explizit deutlich. Mr. Bearcroft hatte in seiner Erwiderungsrede ein klares Deutungsangebot gemacht, wie die Wirksamkeit von Urkunden rechtlich zu bemessen sei: „I take the law to be this“, hatte er gesagt: „An instrument of any kind of solemn and important nature is to be construed, not according to what it says, but according to its meaning and substance.“30 In seinem summing up nahm Kenyon dann ausdrücklich auf dieses Angebot Bezug – und akzeptierte es: „I adopt the law as laid down by the Counsel for the plaintiffs“, verkündete er. „When you look at paper, you ought also to consider the parties to the transaction. It is not the words of a deed, but the substantial effect of it in the eye of the mind, that ought to govern the transaction.“31 Die Entscheidungskommunikation vor Gericht lieferte hier also nichts originär Neues, sondern rekurrierte auf Deutungsangebote aus der Konkurrenzkommunikation, die damit freilich einen Statuswechsel von parteiischen Angeboten zu gerichtlich sanktionierten Festlegungen durchliefen.32 Die der Konkurrenzkommunikation entnommenen inhaltlichen Bausteine wurden allerdings in der Entscheidungskommunikation selektiv verwendet – es wurden niemals alle Deutungsangebote beider Prozessparteien gleichzeitig in den Status verbindlicher gerichtlicher

27 28 29 30 31 32

Minet and Co. v. Gibson and Johnson. In: The Times, 05.11.1789, S. 3. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu auch André Krischer: Die Co-Produzenten der Entscheidungen. Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen des 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2018, S. 142–167, hier S. 159–166.

Konkurrierende Fallversionen und Entscheiden

Festsetzungen erhoben, sondern nur bestimmte, die sich widerspruchsfrei zu einer Gesamtheit zusammenfügen ließen. Die Leistung der Entscheidungskommunikation lag gerade in dieser Selektivität, nicht in der Originalität der Äußerungen.

Ergebnisse Konkurrieren und Entscheiden waren in adversarialen Gerichtsverfahren nach dem englischen Modell dadurch voneinander geschieden, dass die beiden Praktiken den Inhabern unterschiedlicher Rollen zugeordnet wurden und dementsprechend in unterschiedlichen rollenspezifischen Beitragsformaten innerhalb der Interaktionssequenz einer Gerichtsverhandlung angesiedelt waren – dabei folgte die entscheidungsbezogene auf die konkurrenzbezogene Kommunikation. Trotz dieser strukturellen Trennung waren Konkurrieren und Entscheiden hier allerdings auch eng aufeinander bezogen, so eng sogar, dass auf diesem Forum das eine kaum sinnvoll ohne das andere zu denken ist: Die Artikulation konkurrierender Fallversionen durch die Vertreter der Prozessparteien erfolgte mit Blick auf die erwartete Gerichtsentscheidung und war über die Vorstrukturierung der Konkurrenzkommunikation, die nur für bestimmte Rollenträger und nur zu bestimmten Zeitpunkten in bestimmten Formaten zu erbringende Beiträge vorsah, in den gerichtlichen Entscheidungsprozess eingebettet und auf dessen Anforderungen ausgerichtet. Gleichzeitig ermöglichte das Konkurrieren zwischen den Prozessparteien die Gerichtsentscheidung auf verschiedenen Ebenen erst. Das Formulieren konkurrierender Fallversionen durch die beiden Prozessparteien generierte diskrete Alternativen, über die vor Gericht entschieden werden konnte. Gleichzeitig wurde die zu entscheidende Frage im Zuge des Konkurrierens auf ein handhabbares Maß zugespitzt, da in der vorstrukturierten Kommunikation der Prozessparteien spezifische Kontraste in konkreten Einzelfragen erzeugt wurden. Im Rahmen des Konkurrierens wurden dabei in Form von Sachverhaltsbehauptungen oder Rechtsdeutungsangeboten Referenzpunkte erzeugt, die von den als „Entscheider“ ausgewiesenen Akteuren als Bausteine bei der Verfertigung der Gerichtsentscheidung verwendet werden konnten: Die Jury recherchierte nicht selbst Informationen über den Fall, sondern sie fällte ihr Verdikt auf Grundlage der Aussagen von Zeugen, die von den Prozessparteien rekrutiert und im Gerichtssaal von den Vertretern der Prozessparteien zum Sprechen gebracht worden waren, und auch der Richter griff in seinen Rechtsweisungen auf die Angebote zurück, die ihm die Anwälte in ihren Gerichtsreden unterbreitet hatten. Auch wenn innerhalb der Rollenstruktur der Verfahrenskommunikation deutlich zwischen „konkurrierenden“ und „entscheidenden“ Akteuren unterschieden wurde, war das Konkurrieren der Prozessparteien um die glaubwürdigere Fallversion damit ein essentieller Teil des gerichtlichen Entscheidungsprozesses.

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Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit Versuch einer Verhältnisbestimmung In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, auf der Grundlage der Sektionsbeiträge und neuerer Untersuchungen einige allgemeine Überlegungen darüber anzustellen, wie sich das Verhältnis von Konkurrieren und Entscheiden für die Frühe Neuzeit bestimmen lässt. Die Ausführungen erfolgen vornehmlich aus der Perspektive des Entscheidens und schließen an jüngere Ansätze der historischkulturwissenschaftlichen Entscheidensforschung an.1 Wie von André Krischer in der Einleitung ausgeführt, wird Entscheiden hierbei verstanden als ein sich in prozessualer Weise vollziehendes soziales bzw. kommunikatives Geschehen, das darauf ausgerichtet ist, Entscheidungen hervorzubringen und darüber zukünftiges Handeln festzulegen. Entscheiden und Entscheidung stehen insofern in einem kontingenten Verhältnis zueinander, als sich Entscheidungen nicht einfach aus dem Entscheiden ergeben oder aus diesem unmittelbar abgeleitet werden können. So ist im Entscheiden nicht nur offen, welche Entscheidung, sondern in vielen Fällen auch, ob überhaupt eine Entscheidung getroffen wird. Viele Entscheidensprozesse enden daher auch ohne einen expliziten Entscheidungsakt. Verbindungen zwischen Entscheiden und Konkurrieren sind in ganz unterschiedlicher Hinsicht möglich. So stellt das Vorliegen von konkurrierenden Entscheidungsoptionen, das heißt von Optionen, für die jeweils unterschiedliche Gründe sprechen und die nicht zugleich und miteinander realisiert werden können, eine wesentliche Bedingung für Entscheiden dar. Insofern zeichnet sich dieses gegenüber vielen anderen Formen sozialen Handelns durch die konstitutive Bedeutung des Zweifels aus. Darüber hinaus werden im Entscheiden unterschiedliche Zukünfte, auf die die Entscheidungsoptionen jeweils bezogen sind, erzeugt und damit verbunden konkurrierende Erwartungen gebildet. All diese Konkurrenzen (zwischen Optionen, Zukünften, Erwartungen etc.), die Entscheiden auszeichnen, sind diesem

1 Hierzu sowie zum Folgenden siehe, neben der Einleitung von André Krischer, Barbara StollbergRilinger: Cultures of Decision-Making. London 2016; Philip Hoffmann-Rehnitz u. a.: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft. In: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281; Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2019; Philip Hoffmann-Rehnitz u. a. (Hg.): Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Göttingen 2021, darin v. a. Dies.: Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart – konzeptionelle Grundlagen und historische Entwicklungslinien, S. 9–66.

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nicht einfach vorgelagert, sondern werden im Prozess des Entscheidens kommunikativ hergestellt oder zumindest aktualisiert und, etwa durch die Abwägung und die Bewertung konkurrierender Optionen, transformiert. Wie dies konkret erfolgt, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Möglichkeit besteht darin, Praktiken des Konkurrierens in Entscheidungsprozesse bzw. -verfahren einzubauen, so wie dies, zumindest in modernen (demokratischen) Gesellschaften, bei vielen Personalentscheidungen oder auch im politischen Bereich in Form des Parteien- und Personenwettbewerbs erfolgt. Für moderne (westliche) Gesellschaften erscheint eine solche enge Verschränkung von Entscheiden und Konkurrieren selbstverständlich. Für andere Kulturen und Epochen wie etwa für das frühneuzeitliche Europa gilt dies so allerdings nicht. Inwieweit und in welchen Zusammenhängen lässt sich für die Frühe Neuzeit bzw. das frühneuzeitliche Europa eine solche Verknüpfung von Entscheiden und Konkurrieren beobachten? Und inwieweit wurde das Verhältnis von Entscheiden und Konkurrieren reflektiert und (nicht zuletzt visuell) dargestellt? Die folgenden Ausführungen diskutieren diese Fragen zumindest ansatzweise. Sie orientieren sich dabei an drei allgemeinen Thesen: (1) In bestimmten sozialen Bereichen war Entscheiden, gerade auch in der Verbindung mit Konkurrieren, ein konstitutiver Teil frühneuzeitlicher Lebenswelten und Alltagserfahrungen. Dies gilt vor allem für das Gerichtswesen und die akademische Welt. (2) In vielen anderen sozialen Handlungskontexten wurde Entscheiden und damit auch die Verknüpfung von Entscheiden und Konkurrieren hingegen als problematisch und im Widerspruch zu grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungs- und Wertevorstellungen stehend angesehen. Dies gilt allem voran für die Religion, aber auch mit gewissen Einschränkungen für die Politik und die Wirtschaft (auf Letztere kann hier allerdings nicht eingegangen werden). (3) Es war gerade dieser problematische und nichtselbstverständliche Charakter, der Entscheiden (und, soweit damit verbunden, auch Konkurrieren) in der Frühen Neuzeit eine gewisse kulturelle Bedeutung und Attraktivität gerade für künstlerische Bearbeitungen verlieh, denn dies eröffnete die Möglichkeit, über Figuren und Szenarien des Entscheidens (und Konkurrierens) Bedingungen und Grenzen sozialer Ordnungsbildung sowie deren Überschreitung darzustellen und zu reflektieren.

Entscheiden und Konkurrieren als Teil frühneuzeitlicher Alltagserfahrungen Zu denjenigen sozialen Bereichen, in denen Praktiken und auch Semantiken des Entscheidens und Konkurrierens, gerade in ihrer Verknüpfung, in der Frühen Neuzeit verbreitet und als selbstverständlicher Teil sozialer Normalität anerkannt waren, sticht das Gerichtswesen hervor. Es ist insofern kein Zufall, dass sich zwei

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

Sektionsbeiträge mit diesem auseinandersetzen.2 Der Kommunikation vor Gericht kommt in diesem Zusammenhang deswegen eine wichtige Bedeutung zu, da diese in vielen Fällen, gerade auch im städtischen Kontext, eng mit alltäglichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen, so etwa im wirtschaftlichen Bereich, verbunden war. Wie Maria Weber und Alexander Durben in exemplarischer Weise zeigen, war (nicht nur) in der Frühen Neuzeit gerichtliche Kommunikation maßgeblich durch die soziale Logik des Entscheidens geprägt und spielten Konkurrenzen und Konkurrieren hierbei auf unterschiedlichen Ebenen eine wichtige Rolle, gerade im und für den Vollzug des gerichtlichen Entscheidens selbst. Der besondere Stellenwert, der der Verknüpfung von Entscheiden und Konkurrieren für das vormoderne Gerichtswesen zukommt, zeigt sich in der Waage als einem bis heute zentralen Rechtssymbol. Über dieses wird in allgemeiner Weise das Vorliegen von miteinander in Konflikt stehenden, konkurrierenden Optionen sowie der Vorgang, wie diese miteinander verglichen werden (im Sinne von „Abwägen“), symbolisiert. Damit ist allerdings auch eine bestimmte und durchaus ambivalente Sicht auf (gerichtliches) Entscheiden verbunden, die man als kennzeichnend für die Frühe Neuzeit ansehen kann: Denn das Ergebnis des „Abwägens“ stellt sich letztlich mechanisch ein, dieses muss nur noch abgelesen werden; ein expliziter und gesonderter Entscheidungsakt ist somit nicht nötig. Dem entspricht die Art und Weise, wie in der Frühen Neuzeit gerichtliches Entscheiden und speziell die Rolle des Richters verstanden wurden: Dieser wurde weniger als Entscheider angesehen, sondern vielmehr als derjenige, der zum einen über den Gang des Verfahrens zu wachen und auf die Einhaltung der Regeln zu achten hatte und der zum anderen das Ergebnis, das sich aus dem Gerichtsprozess ergab, feststellte und ihm in Form eines Urteils Geltung verlieh. Dass sich in dieser Hinsicht die Rolle des Richters im Übergang zur Moderne änderte, zeigt sich darin, dass sich (erst) im 19. Jahrhundert die Norm, dass Richter bzw. Gerichte ihre Urteile zu begründen hatten, verbreitete.3 Wie die Beiträge von Maria Weber und Alexander Durben zeigen, dienten (nicht nur) in der Frühen Neuzeit Gerichtsverfahren gerade bei zivilrechtlichen Angelegenheiten dazu, konkurrierende Ansprüche der Alltagswelt in eine rechtliche Konkurrenz, also in eine Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Rechtsnormen und Geltungsbehauptungen, zu überführen.4 Eine hohe lebensweltliche

2 Siehe dazu auch Anja Amend-Traut u. a. (Hg.): Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Göttingen 2021; André Krischer: Die Co-Produzenten der Entscheidungen. Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen des 18. Jahrhunderts. In: Pfister, Kulturen des Entscheidens, S. 142–167. 3 Siehe dazu Clara Günzl: Eine andere Geschichte der Begründungspflicht. Sichtweisen des frühen 19. Jahrhunderts. Tübingen 2021. 4 Die Ausführungen verfahren in gewisser Weise idealtypisch und können dies angesichts der für die Frühe Neuzeit kennzeichnenden Rechtsvielfalt auch nur so tun. Dabei versteht sich, dass in vielen

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Relevanz für die beteiligten Akteure hatte dies insbesondere bei Auseinandersetzungen, die wirtschaftliche Fragen betrafen, zumal wenn es dabei um das gerade in frühneuzeitlichen städtischen Ökonomien notorische Problem der Schulden ging. Dabei ist eine solche Transformation von Konkurrenzen und die damit verbundene Erzeugung rivalisierender rechtlicher Optionen bereits Teil des gerichtlichen Entscheidensprozesses. Für die Herstellung von Optionalität waren dabei die vor Gericht auftretenden Parteien maßgeblich zuständig, nicht zuletzt indem von ihnen konkurrierende Fallgeschichten erzählt und damit auch konkurrierende (vergangene) Wirklichkeiten erzeugt wurden, ebenso wie konkurrierende Zukünfte, die sich aus den jeweiligen Gerichtsurteilen ergeben (konnten). Das materielle, räumliche und mediale Setting, in denen sich in der Frühen Neuzeit gerichtliche Kommunikation vollzog, vor allem aber die ausdifferenzierten Rollen und die damit verbundenen Handlungserwartungen waren denn auch nicht zuletzt darauf ausgerichtet, diese Konkurrenzen und den Entscheidenscharakter von Gerichtsprozessen performativ zu erzeugen. Die Art und Weise, wie Kommunikation vor Gericht durch rituelle oder formale Elemente gerahmt war, hatte dabei oftmals den Zweck, die Zumutungen, die mit gerichtlichem Entscheiden verbunden waren, zu entschärfen, und zwar insbesondere für diejenigen Personen, die die Urteile zu fällen hatten. Hierzu zählt, dass diese weniger als Entscheidungen verstanden wurden denn als Festschreibung des Ergebnisses, das sich im Verlauf des Gerichtsprozesses ergeben hatte. Insofern übernahm der Richter typischerweise eine der beiden von den konkurrierenden Parteien formulierten (Urteils-)Optionen mitsamt ihren Begründungen und kam diesem idealiter im Gerichtsverfahren nicht nur eine neutrale, sondern auch eine weitgehend passive Beobachterposition zu. Eine Verknüpfung von Entscheiden und Konkurrieren ergab sich darüber hinaus, wie Maria Weber zeigt, aufgrund des zum Teil komplementären, zum Teil konkurrierenden Nebeneinanders von verschiedenen, formellen wie informellen Verfahrensformen und -ebenen und der diesen zugrunde liegenden Normen. Entsprechend verbreitet waren in der Frühen Neuzeit Konflikte über die Art und Weise, wie und von wem über bestimmte Materien gerichtlich entschieden werden konnte und sollte. Dies warf die Frage auf, wie eigentlich über das (gerichtliche) Entscheiden entschieden werden konnte und vor allem, wem hierbei die Position der summa potestas bzw. der Souveränität zukam, wenn man darunter in entscheidenstheoretischer Perspektive die Macht versteht, darüber entscheiden zu können, wie entschieden werden soll (oder anders gesagt: Entscheidensentscheidungen zu treffen). Hierbei handelt es sich letztlich um politische Entscheidungen, und insofern, als die für die Frühe Neuzeit zu beobachtende Tendenz zur Unausgetragenheit

Fällen, gerade auch in Strafprozessen, die Kommunikation vor Gericht nicht oder nur bedingt dem hier skizzierten allgemeinen „Modell“ entsprach.

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

von Konflikten, auf die unten noch eingegangen wird, insbesondere für politische Auseinandersetzungen gilt, blieben solche (gerichtlichen) Entscheidenskonflikte oftmals unentschieden. Solche Konflikte und die damit verbundenen Konkurrenzverhältnisse waren allerdings ein wichtiger Gegenstand des frühneuzeitlichen gelehrten Rechtsdiskurses. Für gerichtliches Entscheiden in der Frühen Neuzeit und das Verhältnis von Entscheiden und Konkurrieren vor Gericht ist die akademische Welt aber vor allem deswegen von Bedeutung, weil der Verfügung über gelehrtes (Rechts-)Wissen und bestimmte kommunikative Fähigkeiten, wie sie an den Universitäten vermittelt wurden, eine große Relevanz in der Gerichtspraxis und damit auch für gerichtliches Entscheiden zukam. Dies gilt insbesondere für die Rhetorik als eine der sieben artes liberales, zumal die in der antiken Rhetorik zentrale Gattung der Gerichtsrede explizit auf Entscheiden und damit verbunden auf die kommunikative Erzeugung und den Austrag von konkurrierenden Positionen ausgerichtet ist. Sie ist mit der Disputation als einer, wenn nicht gar der zentralen Form akademischer Kommunikation im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit eng verbunden, verstanden als eine an Argumenten orientierte Auseinandersetzung über konkurrierende, das heißt über sich widersprechende und sich wechselseitig ausschließende Optionen, an deren Ende die determinatio durch den Lehrer (als dem Dritten) steht.5 Bereits in der Scholastik, vor allem in Anschluss an Aristoteles und seine Überlegungen zu prohairesis,6 fand eine intensive Auseinandersetzung mit Entscheiden statt und bildete sich, so Rudolf Schüßler, eine eigene Lehre des Entscheidens unter Unsicherheit aus. Dies steht wiederum zum einen in einem engen Zusammenhang mit der besonderen Bedeutung, die der Disputation innerhalb der akademischen Lebenswelt zukam, zum anderen mit der Entwicklung der universitären Juristenausbildung, war hier doch die Frage, wie mit unsicheren und zweifelhaften Rechtsfällen umgegangen werden kann, von großer rechtspraktischer Relevanz.7

5 Siehe dazu Georg Jostkleigrewe / Martin Kintzinger (Hg.): Disputatio. Wissenschaft im Kontext. Externe Bezüge wissenschaftlichen Entscheidens an der mittelalterlichen Universität. Themenschwerpunkt in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 19 (2016) [erschienen 2018], S. 101–187. 6 Prohairesis wird von Aristoteles im Rahmen der Nikomachischen Ethik als Wahlhandlung, die auf die Erreichung eines bestimmten Ziels ausgerichtet ist, bestimmt. Von Thomas von Aquin und in der Scholastik wird hierfür der Begriff der electio verwandt. 7 Rudolf Schüßler: Die Struktur der scholastischen Entscheidungslehre. In: Uwe Meixner / Albert Newen (Hg.): Schwerpunkt: Philosophie des Mittelalters / Focus: Medieval Philosophy. Paderborn 2002, S. 177–192; Georg Jostkleigrewe: Entscheiden und Verantwortung. Strukturen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung im westeuropäischen Spätmittelalter. Zur Semantik des „Entscheidens“ im akademischen Diskursfeld. In: Hoffmann-Rehnitz u. a., Semantiken und Narrative des Entscheidens, S. 111–132.

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Zum problematischen Charakter von Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit Die reflexive Auseinandersetzung mit Entscheiden und damit verbundenen Formen des Konkurrierens innerhalb gelehrter Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit blieb allerdings eher niederschwellig und weitgehend auf innerakademische und gerichtliche Kontexte bezogen. Gerade im Fall der Religion erschien dagegen die Anwendung von Semantiken und Praktiken des Entscheidens problematisch. Deutlich wird dies an den insbesondere in der frühen Reformation zu beobachtenden Versuchen, akademisch geprägte Kommunikations- und Streitpraktiken wie die Disputation als Modell beim Umgang mit religiösen Konflikten zu nutzen. Gerade mit Blick auf die städtischen Religionsgespräche der 1520er Jahre stellt sich die Frage, ob hier überhaupt etwas entschieden wurde oder ob Entscheiden und Konkurrieren (zwischen unterschiedlichen religiösen bzw. dogmatischen Positionen) letztlich nur inszeniert wurde.8 Wie Mona Garloff in ihrem Beitrag zeigt, wurden solche an Religionsgesprächen und Disputationen orientierte Formen der geregelten und gewaltfreien Auseinandersetzung aber auch im konfessionellen Zeitalter und insbesondere innerhalb der Irenik um 1600 als ein möglicher Weg dafür angesehen, wie mit konkurrierenden religiösen Vorstellungen, Positionen und Ansprüchen sowie mit damit verbundenen dilemmatischen Situationen umgegangen werden konnte, und zwar in einer Weise, die es ermöglichte, zu einer friedlichen Überwindung der konfessionellen Spaltung zu gelangen. Allerdings machen die angeführten Beispiele deutlich, wie problematisch sich das Verhältnis von Religion und Entscheiden in der Frühen Neuzeit (und keineswegs nur hier) darstellt. Denn es erschien im Grunde nicht denkbar, grundlegende Glaubensfragen und konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche zum Gegenstand von Entscheiden zu machen.9 Angesichts einer als ewig geltend und unveränderlich

8 Vgl. dazu Matthias Pohlig: Entscheiden dürfen, können, müssen. Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens. In: Ulrich Pfister u. a. (Hg.): Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Baden-Baden 2019, S. 201–225; Volker Leppin: Disputation und Religionsgespräch. Diskursive Formen reformatorischer Wahrheitsfindung. In: Christoph Dartmann u. a. (Hg.): Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik. Berlin 2015, S. 231–252; Richard Lüdicke: Der Weg zur Entscheidung: Verfahren oder Verhandlung? Die städtischen Disputationen der 1520er Jahre. In: Zeitschrift für Historische Forschung 47 (2020), S. 371–414. 9 Dies heißt keineswegs, dass religiöse bzw. religiös bedingte Fragen nicht auch in der Frühen Neuzeit zum Gegenstand von Entscheiden werden konnten, so vor allem vor Gericht. Allerdings ging es gerade in Inquisitionsprozessen nicht eigentlich um religiöse Entscheidungsprobleme und oftmals auch gar nicht um die Feststellung von Schuld oder Unschuld, sondern darum, ob sich die als Häretiker angeklagten Personen zu ihrer Schuld bekannten und ihr häretisches Verhalten öffentlich bereuten (und damit zumindest im Jenseits auf Vergebung hoffen konnten).

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

gedachten göttlichen (bzw. natürlichen) Ordnung der Welt konnte es eigentlich keine konkurrierenden Wahrheiten geben bzw. konnten divergierende Aussagen zu bestimmten religiösen Fragen nicht konkurrierende Wahrheiten bzw. Realitäten repräsentieren. Somit konnte jeweils nur eine Aussage als wahr gelten, alle damit konkurrierenden Optionen mussten falsch und „häretisch“ sein. Allerdings stellten sich innerhalb des christlichen Lehr- und Wertegefüges aufgrund seiner inhärenten Komplexität, aber auch aufgrund der Komplexität der innerweltlichen Verhältnisse immer wieder „komplizierte Konstellationen und Indifferenzzonen“ ein, aus denen sich konkurrierende Optionen über religiöse Fragen ergaben.10 In solchen Fällen war es oftmals höchst schwierig und zumindest für den „gemeinen“ Gläubigen kaum möglich zu bestimmen, was als wahr und falsch zu gelten hatte. Der Umgang mit solchen schwierigen Situationen wurde, gerade auch in der Retrospektive, aber nicht als Entscheiden gerahmt und ihre (mögliche) Auflösung nicht als Entscheidung verstanden, sondern vornehmlich als Folge göttlichen Wirkens.11 All dies war zwischen den Konfessionen nicht umstritten – umstritten war vielmehr, wem die Fähigkeit und Befugnis zukam bzw. zukommen sollte, in solch schwierigen Situationen für sich und für andere autoritative Aussagen darüber zu treffen, was als religiöse Wahrheiten zu gelten hatte, und wie dies erfolgen sollte. Zudem galt Zweifeln, zumal im Fall der gemeinen Gläubigen, in allen Konfessionen als Sünde, und zwar nicht nur, wenn damit bestimmte Glaubenssätze infrage gestellt wurden, sondern darüber hinaus auch die Art und Weise, wie die Welt eingerichtet ist und welcher Ort einem jeden in dieser zukommt. Zweifeln, das damit verbundene Kontingenzbewusstsein wie auch die Disposition zum Entscheiden wurden konfessionsübergreifend als Ausweis für häretisches Denken und Handeln angesehen. Häretiker bzw. häretische Figuren zeichneten sich demnach im Gegensatz zum wahren Christenmenschen durch ihre Disposition zum Entscheiden aus, was ja bereits in der Wortbedeutung von (pro-)hairesis (Wählen) deutlich wird. Semantiken, Narrative und Metaphoriken des Entscheidens, oftmals in enger Verknüpfung mit solchen des Konkurrierens, wurden in der Frühen Neuzeit denn auch dazu

10 Udo Friedrich: Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach. In: Martina Wagner-Egelhaaf u. a. (Hg.): Mythen und Narrative des Entscheidens. Göttingen 2020, S. 23–45, hier S. 45. Zum Entscheiden über Religion im vormodernen Christentum siehe zuletzt Matthias Pohlig / Sita Steckel (Hg.): Über Religion entscheiden / Choosing my Religion. Religiöse Optionen und Alternativen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum / Religious Options and Alternatives in Medieval and Early Modern Christianity. Tübingen 2021. 11 So wurden etwa in der frühen Reformation Konversionen zur neuen bzw. wahren Lehre nicht als (individuelle) Entscheidungen, sondern als die Folge göttlichen Gnadenhandelns angesehen. Siehe dazu Matthias Pohlig: „Hierin vrteil du frumer Christ Welche leer die warhaffts ist“. Semantiken und Narrative des religiösen Entscheidens in der Reformation. In: Hoffmann-Rehnitz u. a., Semantiken und Narrative des Entscheidens, S. 174–192.

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genutzt, um Figuren des Häretischen und ihr Tun darzustellen, worunter etwa diejenige des (jüdischen) Wucherers und seiner Abkömmlinge wie des Kippers und Wippers zu zählen sind. Dabei wurde, etwa auf einem Flugblatt von 1622 (Abb. 1), sinnfällig gemacht, dass nicht nur das, wofür sich solche Figuren entscheiden bzw. entschieden haben, sondern schon das Entscheiden(-Wollen) als falsch und sündig anzusehen ist.12 Dieser irreguläre Charakter wird dadurch unterstrichen, dass die – in diesem Fall durch Justitia und Avaritia repräsentierten – konkurrierenden Optionen zwar in einer symmetrischen Weise angeordnet sind, jedoch in ihrem Wesen und vor allem in ihrer moralischen Qualität als höchst ungleich ausgewiesen werden. Indem diese grundlegende Asymmetrie der dargestellten Optionalität für die Betrachter:innen deutlich erkennbar ist, ergibt sich für diese gar kein Entscheidungsproblem, sondern nur für diejenigen, die sich innerhalb des häretischen (Handlungs- und Deutungs-)Rahmens befinden. Bis heute ist die Frage, inwieweit über Glaubensfragen entschieden werden kann, (nicht nur) in den christlichen Kirchen grundsätzlich umstritten. Ganz anders verhält es sich mit politischem Entscheiden, denn Politik wird, zumindest im Westen, ein grundsätzlich dezisionistischer Charakter zugemessen und das Treffen von allgemein verbindlichen Entscheidungen als konstitutives Kennzeichen und zentrale Funktion von Politik ausgewiesen. Neben und in enger Verknüpfung mit der Ausrichtung auf das Entscheiden gilt das Konkurrieren (um Macht, Positionen, Problemlösungen etc.) – zumindest für demokratische Regime – als wesentlicher Imperativ von Politik und politischem Handeln. Für die Frühe Neuzeit ist dies erkennbar anders. So war man hier zurückhaltend damit, politisches, auf Fragen des Gemeinwohls bezogenes Handeln als Entscheiden zu rahmen und damit auch die Existenz von miteinander konkurrierenden (Entscheidungs-)Optionen bzw. Personen und Gruppen (Parteiungen) zu thematisieren, stand dies doch im Gegensatz zu zentralen gesellschaftlichen und politischen Grundwerten wie concordia und unaminitas. (Politische) Konflikte blieben insbesondere dann häufig „unausgetragen“, wenn damit grundlegende Aspekte sozialer Ordnungsbildung wie etwa Rangfragen verknüpft waren. Barbara Stollberg-Rilinger spricht in diesem Sinne von einer „Tendenz zur In-der-Schwebe-Halten von Konflikten […], zum Aushalten von Ambiguität und Unentschiedenheit“ und dazu, „konkurrierende Situationsdeutungen […] auch langfristig nebeneinander bestehen“ zu lassen, „bis sie sich womöglich von selbst erledigen“.13 Dies bedeutet natürlich keineswegs,

12 Siehe dazu auch Philip Hoffmann-Rehnitz: Von teuflischen Früchten und hellish designs. Narrative des Entscheidens in der Kipper- und Wipperinflation und der South Sea Bubble. In: HoffmannRehnitz u. a., Semantiken und Narrative des Entscheidens, S. 210–243. 13 Barbara Stollberg-Rilinger: Von der Schwierigkeit des Entscheidens. In: Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, hg. v. Deutschen Hochschulverband. Stuttgart 2013, S. 145–154, hier S. 150 f.; Dies.: Logik und Semantik des Ranges in der Frühen Neuzeit. In: Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

Abb. 1 Flugblatt „Der Jüdische Kipper und Auffwechßler“, o. A., o. O. 1622 (Ausschnitt, ohne Textteil). Quelle: Wikimedia Commons, public domain, https://de.wikisource.org/wiki/Der_ Jüdische_Kipper_und_Auffwechßler#/media/Datei:Der_Jüdische_Kipper_und_Auffwechsler_ 1622.png (03.06.2021).

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dass nicht auch in der Frühen Neuzeit eine Vielzahl politischer Entscheidungen getroffen wurden und Konkurrenzen bzw. Konkurrieren für politisches Entscheiden eine wichtige Rolle spielte. Allerdings bestand in vielen Fällen die Tendenz, die Entscheidungs- und Konkurrenzdimensionen von politischer Kommunikation nicht explizit zu thematisieren und darzustellen, und wenn doch, dann erfolgte dies in aller Regel in einer kritischen Weise. Dass und wie es im frühneuzeitlichen Europa allerdings möglich war, die politische Kommunikation ganz explizit auf die Logik des Entscheidens und Konkurrierens hin auszurichten, macht der englische Fall und die Institutionalisierung konkurrierender parties nach 1660 deutlich. In diesem Zusammenhang verbreiteten sich in der politischen und öffentlichen Kommunikation Semantiken und Narrative des Entscheidens wie auch (und oftmals in enger Verbindung damit) des Konkurrierens, so etwa in den zeitgenössischen Krisendiskursen.14 Dass die Tendenz zur Unausgetragenheit von Konflikten und zur De-Thematisierung von Entscheiden (und Konkurrieren) keineswegs als Kennzeichen von ‚vor-‘ oder ‚nicht-modernen‘ Gesellschaften respektive von „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ anzusehen ist,15 zeigt zudem ein Blick auf die politischen Kulturen der Antike. Insbesondere in den griechischen Poleis, aber auch in Rom wurde unter Bedingungen der Vergesellschaftung unter Anwesenden Konkurrenz und Konflikt bewusst hergestellt und bildeten die Artikulation und die Hervorbringung konkurrierender Auffassungen und Optionen eine wesentliche Grundlage politischen Entscheidens: „Die gesamte Kommunikationssituation [hier: auf den Volksversammlungen] war darauf angelegt, eindeutige Argumente zu formulieren, die Unterschiede zwischen der eigenen Position und der des Gegners antithetisch zuzuspitzen und die Debatten kontrovers und konfliktreich zu führen, und schließlich eine klare Entscheidung für die eine oder andere Position zu erhalten“.16

der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen. Frankfurt am Main / New York 2014, S. 197–227; grundlegend zu Ambiguität und Ambiguitätstoleranz als einem konstitutiven Merkmal der Frühen Neuzeit: Hillard von Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2021. 14 Vgl. dazu André Krischer: „This present crisis“. Zur Semantik der Krise in der politischen Publizistik Großbritanniens im 18. Jahrhundert. In: Rudolf Schlögl u. a. (Hg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2016, S. 371–394. 15 Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224. 16 Elke Stein-Hölkeskamp: Werben um die Mehrheit. Demokratie und Agonalität im klassischen Athen. In: Egon Flaig (Hg.): Genesis und Dynamik der Mehrheitsentscheidung. München 2013, S. 65–78, hier S. 71; siehe auch Karl-Joachim Hölkeskamp / Hans Beck (Hg.): Verlierer und Aussteiger in der „Konkurrenz unter Anwesenden“. Agonalität in der politischen Kultur des antiken Roms. Stuttgart 2019.

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

Konkurrieren und Entscheiden als Gegenstand der künstlerischen und visuellen Darstellung Die Bedeutung, die Entscheiden und Konkurrieren in der politischen und kulturell-religiösen Welt der Antike zukam, machte diese und die damit verbundenen (mythologischen) Figuren, Mythen und Narrative im spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Europa zu einer zentralen Referenz, wenn Entscheiden und Konkurrieren, gerade in ihrer Verknüpfung, repräsentiert wurden. Insgesamt existierte in der Frühen Neuzeit eine Vielfalt an Möglichkeiten, Entscheiden wie auch das Verhältnis von Entscheiden und Konkurrieren darzustellen. Neben der Literatur, auf die hier nicht eingegangen werden kann, gilt dies insbesondere für die Malerei und darüber hinaus für populäre (oftmals kommerzielle) visuelle Medienformate wie Flugblätter und Stiche. Diese relative kulturelle Bedeutung, die dem Thema Entscheiden (und Konkurrieren) in der Frühen Neuzeit auf künstlerischer und speziell visueller Ebene zukam, scheint zunächst in Widerspruch zu den im vorigen Abschnitt umrissenen Tendenzen zu stehen. Allerdings war es gerade der problematische und irreguläre Charakter, der Entscheiden (und Konkurrieren) verbreitet zugeschrieben wurde, der dies zu einem geeigneten Sujet machte, um Bedingungen sozialer und politischer Ordnungsbildung und die ihr zugrunde liegenden Unterscheidungen und Grenzziehungen wie auch deren Übertretung zu reflektieren. Damit konnten die weltlichen Verhältnisse, zumindest in bestimmten Kontexten, als kontingent und gefährdet dargestellt werden. Hinzu kam das dramatische Potential, das dem Sujet „Entscheiden und Konkurrieren“ zu eigen ist. Eines der populärsten Motive stellt in diesem Zusammenhang, neben dem ParisUrteil (oder auch dem Sündenfall), „Herkules am Scheideweg“ dar.17 Annibale Carraccis Bild aus dem späten 16. Jahrhundert (siehe Abb. 2) ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie Entscheiden und Konkurrieren, gerade in ihrem konstitutiven Zusammenhang, in der Frühen Neuzeit miteinander ins Bild gesetzt werden konnten. In enger Anlehnung an den antiken Mythos stellt Carracci Herkules in einer Weise dar, die dem üblichen Bild von Herkules als entschlossenem und tatkräftig handelndem Held diametral entgegengesetzt ist. Vielmehr erscheint Carraccis Herkules als eine Art Anti-Held: Er ist zwar die zentrale Figur des Geschehens, wird aber als Objekt und passiver Beobachter, nicht als handelnder Akteur gezeigt. Der Zweifel und die Unentschlossenheit sind ihm ins Gesicht geschrieben. Als aktiv handelnd werden hingegen die beiden Frauenfiguren (Arete und Eudaimonia bzw. Kakia) dargestellt. Schon der Bildaufbau macht klar, dass diese in

17 Siehe dazu Martina Wagner-Egelhaaf: Herakles – (kein) Entscheider. In: Hoffmann-Rehnitz u. a., Semantiken und Narrative des Entscheidens, S. 244–269.

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Abb. 2 Annibale Carracci: Herkules am Scheideweg (1596), Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel; Quelle: Wikimedia Commons, public domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Annibale_Carracci,_Hercules_at_the_Crossroads,_brighter.jpg (03.06.2021).

einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und sich in einem (rhetorischen) Wettstreit befinden, dessen „Preis“ Herkules bzw. sein zukünftiger Lebensweg ist. Carracci stellt die Konstellation nicht (wie bei anderen frühneuzeitlichen Abbildungen des Herkules am Scheideweg) dar, nachdem die Entscheidung bereits getroffen ist, sondern in einer Situation des Noch-Nicht-Entschiedenseins bzw. zu demjenigen Zeitpunkt, an dem der Übergang zwischen dem Entscheiden und Konkurrieren respektive dem rhetorischen Wettstreit und der Entscheidung stattfindet. Dies erfolgt dadurch, dass Kakia ihre Niederlage anerkennt und im wahrsten Wortsinn das Feld räumt: Sie kehrt Herkules (wie auch den Betrachter:innen) den Rücken zu, nicht ohne ihm einen letzten Blick zuzuwerfen. Damit werden die Konkurrenzsituation und das zugrunde liegende Entscheidungsproblem aufgehoben und geht eine Entscheidung aus dem Wettstreit hervor, ohne dass eine solche von dritter Seite, insbesondere von Herkules selbst, in expliziter Form getroffen werden müsste. Auch Carraccis „Herkules am Scheideweg“ ist durch die paradoxe Verschränkung von Symmetrie im Bildaufbau und Asymmetrie mit Blick auf die (moralische) Qualität der dargestellten, konkurrierenden Optionen gekennzeichnet. Dabei wissen die Betrachter:innen (im Gegensatz zu Herkules) nicht nur, welches die (moralisch) richtige und welches die falsche Seite ist, sondern auch, wer schließlich als Siegerin

Entscheiden und Konkurrieren in der Frühen Neuzeit

aus dem Wettstreit hervorgeht, ja hervorgehen muss. Nicht zuletzt die Parallelen zum Flugblatt von 1622 legen es nahe, Carraccis „Herkules am Scheideweg“ als ein idealtypisches Beispiel dafür anzusehen, wie in der Frühen Neuzeit Entscheiden und das Verhältnis von Entscheiden und Konkurrieren wahrgenommen und dargestellt wurden, so wie sich dies auch in den Vorstellungen über gerichtliches und akademisches Entscheiden (und Konkurrieren) zeigt: Wenn Entscheiden nicht zu vermeiden war, dann sollten sich die Entscheidungsprobleme und die damit verbundenen Konkurrenz- und Konfliktverhältnisse idealiter von selbst, im und durch den Prozess des Entscheidens, auflösen und eine Entscheidung emergieren, gegebenenfalls durch das Eingreifen von externen (außerweltlichen) Kräften, ohne dass jemand mit der Aufgabe, eine explizite Entscheidung zu treffen, und den damit verbundenen Zumutungen konfrontiert würde. Eine Zuschreibung der Verantwortung auf individuelle Personen wird dadurch verhindert, und die Position des Entscheiders bleibt damit letztlich leer.

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