Konkurrenz um öffentliches Gedenken: Erinnerungskulturen im Raum Potsdam und Brandenburg 9783839464250

Öffentliches Gedenken ist durchzogen von Konkurrenz. Private Erinnerungsgemeinschaften versuchen, sich gegenüber öffentl

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German Pages 234 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Ein Workshop wird zum virtuellen MemoryLab
Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung
Potsdam als Raum der Erinnerung
Dissens und Erinnerungskonkurrenz
»Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen«
Gedenkstätten heute im Spannungsfeld von Erwartungsdruck, Opferkonkurrenzen und falschen Maßstäben
»Erinnerung ohne Zwischenfälle«
Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück
Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung an Orten konkurrierender Erinnerungen am Beispiel Sachsenhausen
Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf
Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte
Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848
Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern
Potsdamerinnen ins Licht!
Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg, oder: Wie entsteht eigentlich ein Erinnerungsort?
Parallelwelt des Gedenkens
Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg
Virtuelles Erinnern
Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang
Autor:innenverzeichnis
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Konkurrenz um öffentliches Gedenken: Erinnerungskulturen im Raum Potsdam und Brandenburg
 9783839464250

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Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf (Hg.) Konkurrenz um öffentliches Gedenken

Public History – Angewandte Geschichte Band 20

Editorial Public History ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld an der Schnittstelle zwischen Geschichte und Gesellschaft, zwischen Forschung und Praxis. Themen der Aufarbeitung, Vermittlung und Popularisierung des Wissens über die Vergangenheit haben zwar Hochkonjunktur, jedoch fehlt es noch immer an editorischen Plattformen für die Diskussion und weitere Etablierung der Public History im Kontext von Erinnerungskultur und kulturellem Erbe. Die Reihe Public History – Angewandte Geschichte schließt thematisch daher nicht nur die Forschung über Geschichtsvermittlung und -didaktik mit ein, sondern auch die Arbeit zahlreicher Akteur*innen wie des Museums- und Ausstellungswesens, des Archivwesens sowie populäre und performative Formen der Vermittlung von Geschichte in den Medien oder im Tourismus. Die Reihe verankert die Public History als kooperatives und innovatives Projekt der Historischen Kulturwissenschaften in der wissenschaftlichen Diskussion, entwickelt sie weiter und macht sie öffentlich nutzbar. Willkommen sind daher auch Beiträge, die sich mit der Public History als solcher sowie der Geschichte und Theorie der Geschichtsvermittlung befassen.

Amélie zu Eulenburg, geb. 1984, ist seit 2021 Leiterin des Arbeitsbereichs Gedenkstätten und Erinnerungskultur bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Neben ihrer wissenschaftlichen Mitarbeit in den Bereichen Forschung, Archiv und Ausstellung für die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße Potsdam und der kommissarischen Leitung eben jener führte sie Lehraufträge im Institut für Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin im Studiengang Public History aus. Irmgard Zündorf (Dr. phil.), geb. 1968, ist seit 2009 Leiterin des Bereichs Public History am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und Koordinatorin des Masterstudienganges Public History an der Freien Universität Berlin. Sie war Redakteurin bei H-Soz-Kult und Zeitgeschichte-online und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Haus der Geschichte in Bonn und am Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. 2021 war sie Gastwissenschaftlerin am Centre for Contemporary and Digital History der Universität Luxemburg.

Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf (Hg.)

Konkurrenz um öffentliches Gedenken Erinnerungskulturen im Raum Potsdam und Brandenburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: www.pixabay.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464250 Print-ISBN 978-3-8376-6425-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6425-0 Buchreihen-ISSN: 2700-8193 Buchreihen-eISSN: 2703-1357 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Ein Workshop wird zum virtuellen MemoryLab Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf ................................................9 Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung Josephine Eckert ................................................................... 15 Potsdam als Raum der Erinnerung Martin Sabrow ..................................................................... 25 Dissens und Erinnerungskonkurrenz Potentiale zur Demokratiestärkung Petra Haustein .................................................................... 35 »Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen« Nora Sternfeld (transkribiert und editiert von Josephine Eckert)..................... 43 Gedenkstätten heute im Spannungsfeld von Erwartungsdruck, Opferkonkurrenzen und falschen Maßstäben Thomas Schaarschmidt ............................................................. 51 »Erinnerung ohne Zwischenfälle« Zivilgesellschaftliches Engagement und konkurrierende Narrative in der Gedenkstätte Ravensbrück Insa Eschebach .................................................................... 59

Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Alexandra de León ................................................................. 73 Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung an Orten konkurrierender Erinnerungen am Beispiel Sachsenhausen Kolja Buchmeier, Sjoma Liederwald ................................................. 83 Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf Sichtbarkeit eines kleinen Gedenkortes in Brandenburg Freya Ziegelitz ..................................................................... 97 Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte Norman Warnemünde und Amélie zu Eulenburg .....................................109 Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848 Oliver Gaida ....................................................................... 123 Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern Ronja Kuban ...................................................................... 135 Potsdamerinnen ins Licht! Sieben Stationen auf dem Weg, Potsdam zu einem bedeutenden Erinnerungsort der Frauenbewegung zu machen Sabine Hering/Sarah Zalfen.........................................................149 Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg, oder: Wie entsteht eigentlich ein Erinnerungsort? Josephine Eckert .................................................................. 161 Parallelwelt des Gedenkens Das nachgebaute Potsdamer Glockenspiel im Widerstreit der Erinnerungen Dominik Juhnke ....................................................................175 Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg Ein Interview mit einem Mitglied der Bürgerinitiative Hiroshima-Platz e.V. Miki Takimoto (Interview und Transkript)........................................... 189

Virtuelles Erinnern Tobias Ebbrecht-Hartmann .........................................................197 Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang Nicolas Weicker .................................................................... 211 Autor:innenverzeichnis .......................................................... 229

Ein Workshop wird zum virtuellen MemoryLab Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf

Am Anfang stand ein Workshop im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin zum Thema »Was ist das – Gedenken?« im Wintersemester 2020/21. Das Ansinnen des Workshops war es, eine Tagung zu konzipieren, die sich an Studierende, Forschende, Lehrer:innen und Gedenkstättenmitarbeiter:innen sowie die interessierte Öffentlichkeit richten sollte. Inhaltlich wurde nach den Aufgaben von Gedenkstätten, Geschichtsmuseen und Memorial Museums mit mehrfacher Diktaturvergangenheit in Zeiten von europäischer Demokratiekrise und neuen Nationalismen gefragt. Dabei standen die Funktion, Bedeutung und Gestaltung von Gedenken in der Gegenwart und damit zusammenhängende Konfliktebenen im Fokus der Auseinandersetzung. Neben der Analyse der aktuellen Erinnerungskulturen, von Denkmälern im öffentlichen Raum und ihren oftmals ambivalenten Botschaften, sollte auch die Frage nach der musealen Repräsentation behandelt: Welche geschichtspolitischen Intentionen stehen hinter der Darstellungsweise von einzelnen Zeitphasen? Welche Institutionen, soziale Bewegungen oder Akteure beeinflussen die Erinnerungskulturen, ihre Narrative und ihre Repräsentationen in Ausstellungen? Wo sind sowohl Leerstellen als auch spezifische Sinngebungen erkennbar und welchen gouvernementalen Strategien folgen diese? Wann verändern sich Gedenkrituale und Narrative und werden durch neue Formen des Erinnerns und des Erzählens ersetzt? Gedenkstätten, die auch in Teilen als zeithistorische Museen bezeichnet werden können, sind zentrale Orte des Lernens, sie folgen Lehrplänen an Schulen und inhärenten Logiken der Pädagogik. Wie gelingt es, den Status von Gedenkstätten als umkämpfte Orte, als Austragungsorte von Deutungshoheiten sichtbar zu machen? Wie können Geschichtsbilder und Gedenkrituale dekonstruiert und hinterfragt werden? Wie können postkoloniale oder queere Perspektiven auf historische Orte die Erinnerungskultur öffnen und verändern? Gemeinsam suchten wir nach unterschiedlichen Zugängen aus den

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Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf

Bereichen Gestaltung, Theorie, Literatur, Kunst, Forschung und Gesellschaft, um diese Fragen zu beantworten und neue Impulse für die Praxisarbeit an Gedenkstätten zu entwickeln. Das Wintersemester diente zunächst der Lektüre: Dazu zählten Texte zum »Postheroischen Zeitalter«1 ebenso wie Texte von Nora Sternfeld2 , Insa Eschebach3 , Cornelia Siebeck4 , Max Czollek5 , Patrice Poutrous6 , Michael Rothberg7 oder Gayatri Chakravorty Spivak8 , die sich zum einen mit konkreten Erinnerungsorten und Gedenkstätten auseinandersetzen zum anderen die abstrakte Thematik des Gedenkens und die Theorie von Erinnerungskulturen sowie die Marginalisierung von Gruppen und Individuen, die erinnert oder vergessen werden, diskutieren. Auf dieser Basis wurde eine Veranstaltung geplant, zu der einzelne dieser Autor:innen eingeladen werden sollten. Es wurde schnell deutlich, dass die Studierenden sich keine Veranstaltung im klassischen Sinne wünschten, mit langen Vorträgen und jeweils anschließender Diskussion, sondern dass sie sich ein »MemoryLab« wünschten – ein Labor, in dem verschiedene Gedenk- und Ausstellungsformate unter die Lupe genommen, analysiert und diskutiert und weiterentwickelt werden. So entstand das Konzept für das »MemoryLab21«. Im Zentrum sollte die direkte Auseinandersetzung mit realen Erinnerungsorten in Potsdam stehen, wofür zum Beispiel Stadtrundgänge geplant

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Martin Sabrow: Die postheroische Gedächtnisgesellschaft. Bauformen des historischen Erzählens in der Gegenwart, in: Etienne Francois u.a., (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 311–322; Herfried Münkler und Karsten Fischer: »Nothing to kill and die for…« – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Leviathan, Vol. 28, No. 3, September 2000, S. 343–362. Nora Sternfeld: Das radikaldemokratische Museum, Berlin 2018. Insa Eschebach: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Berlin 2005. Cornelia Siebeck: Kritik der postnationalsozialistischen Selbstvergewisserung, in: (Anti-)Faschismus, Aus Politik und Zeitgeschichte, Vol. 42–43, 2017, S. 23–28. Max Czollek: Desintegriert Euch, München 2018. Patrice Poutrous: Fremd im Bruderland. Vertragsarbeiter und das Ende des Goldbroilers, in: Lydia Lierke und Massimo Perinelli: Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020. Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson und Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, S. 24–28.

Ein Workshop wird zum virtuellen MemoryLab

waren. Die Veranstaltung sollte in der Gedenkstätte Lindenstraße stattfinden, die als Kooperationspartner gewonnen werden konnte. Letztendlich fand das MemoryLab aufgrund der Covid19-Pandemie im digitalen Raum statt, womit einige Formate wegfielen – aber auch neue hinzukamen. Es war nun viel einfacher parallele Workshops durchzuführen, da nur virtuell neue Räume geschaffen werden mussten. Erinnerungsorte konnten nun ganz einfach digital besichtigt werden, auch solche, die nicht zentral in Potsdam lagen. Sie wurden dafür vorab von den Studierenden besucht und gefilmt. Die Online-Sitzungen wurden aufgezeichnet und somit konnte die Tagung relativ einfach und nachhaltig dokumentiert werden. Mit dem Ziel, die Diskussionen partizipativ und dynamisch zu gestalten, schufen unterschiedliche Formate, wie parallel laufende Workshops, Diskussionsrunden, kurze Vorträge und ein World Café, Platz für Interaktionen zwischen Teilnehmer:innen und Referent:innen.

Abb. 1: Screenshot des MemoryLab-Teams, 2021

Das MemoryLab startete mit einer Annäherung an die Frage »Was ist Erinnern?«, um den theoretischen Rahmen der Veranstaltung abzustecken sowie mit der gefilmten Vorstellung verschiedener Erinnerungsorte in Potsdam direkte Bezüge zum Veranstaltungsort herzustellen. Die Orte hatten die Studierenden ausgewählt und gefilmt, wobei sie anhand dieser Beispie-

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Amélie zu Eulenburg, Irmgard Zündorf

le jeweils das Thema der Erinnerungskonkurrenzen verdeutlichten – denn diese ließen sich an jedem Ort finden. Anschließend verteilten sich die Teilnehmer:innen auf drei Workshops, die jeweils schwierige Erinnerungsfelder behandelten. Unter dem Titel »Umkämpfter Raum« ging es um die in Potsdam viel diskutierten Gedenkstätten Lindenstraße und Leistikowstraße. In den Workshops »Die ›Wende‹ im Gespräch« und »Gedenken an den Mauerfall. Einseitiges Erinnern?« wurden verschiedene Erinnerungsdiskurse in Ost und West behandelt und der Fokus auf migrantische Erinnerungen gelegt. Nach einer gemeinsamen Diskussion folgten drei weitere parallele Workshops über die »Erinnerungskonkurrenz in der Bildungsarbeit«, die Schwierigkeiten der Vermittlung von Demokratiegeschichte und dem »Gedenken im digitalen Raum«. Zwischendurch konnten sich verschiedene Initiativen und Akteure der Potsdamer Erinnerungskultur mit Hilfe des Tools »Wonder.me« in einem virtuellem WorldCafe kurz vorstellen. In der Abschlussrunde wurden die Workshopergebnisse von Critical Friends präsentiert. Bereits im Vorfeld war die Veranstaltung auf unterschiedlichen SocialMedia-Kanälen mit eigenen Accounts vertreten. Insbesondere auf Instagram wurden unter anderem die Referent:innen aus unterschiedlichsten Bereichen der Berliner und Potsdamer Erinnerungskultur vorgestellt. Außerdem wurden die potentiellen Teilnehmer:innen auf diesem Weg über den aktuellen Stand der Planung der einzelnen Workshops und Diskussionen informiert und hatten die Chance, schnell und einfach mit den Veranstalter:innen in Kontakt zu treten. Zur nachhaltigen Dokumentation wurden die Einführung der Studierenden, die Keynote, die Podiumsdiskussion und die Abschlussrunden aufgezeichnet und sind via YouTube abrufbar.9 Es zeigte sich, dass digitale Veranstaltungen viele Möglichkeiten bieten, die analog nicht so leicht umzusetzen sind. Trotz der Vorteile, die eine digitale Veranstaltung mit sich bringen kann, kamen alle Beteiligten zu dem Fazit, dass die digitalen Formate die analogen nicht vollkommen ersetzten können. In den letzten Jahren ist die Anzahl an digitalen Events aufgrund der Pandemie drastisch gestiegen. Auch die Forschung und Literatur befasst sich zunehmend interdisziplinär mit dem Thema, ob und wie man digitale Veranstaltungen füh-

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Jederzeit abrufbar auf dem YouTube-Kanal des Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung unter dem Titel »MemoryLab2021: Raum schaffen. Konkurrierende Erinnerungen im Raum Potsdam«. Link: https://youtu.be/1LU4_plCRbc (zuletzt aufgerufen am 25.07.2022)

Ein Workshop wird zum virtuellen MemoryLab

ren sollte.10 Wichtigstes Manko sind sicherlich die fehlenden zufälligen Begegnungen und Gespräche in der Kaffeepause oder auf dem Gang, die über die virtuellen Tools nicht ersetzt werden können.11 Auch die doch nur ausschnitthaft vermittelten Reaktionen der Teilnehmer:innen auf einen Vortrag oder einen Diskussionsbeitrag erfordern neue Kompetenzen von den Referent:innen und Moderator:innen – wenn sie denn weiter in Interaktion mit dem Publikum treten möchten. Und auch eine digitale Stadtführung verlangt von dem Guide, die/der gleichzeitig die Erzählung und die Kamera lenkt, konkrete Überlegungen hinsichtlich der Perspektiven, die auf den jeweiligen Ort gelegt werden. Denn die Teilnehmenden können nicht frei entscheiden, was sie von dem Gedenkort sehen, sondern folgen dem Kameraausschnitt. In einem vorab gefilmten digitalen Rundgang können zudem keine spontanen Änderungen vorgenommen werden. Eine Anpassung an die Vorkenntnisse der Teilnehmer:innen bleibt ebenso aus, wie die Einbindung ganz aktueller Entwicklungen oder Diskussionen. Bei einer Online-Veranstaltung bietet ein digitaler Rundgang den Vorteil, dass Nachfragen auch noch direkt im Anschluss geklärt werden können. Und zudem können viele geografisch teilweise weit auseinanderliegende Orte in einem festen Zeitraum besucht werden. Was fehlt ist das persönliche und direkte Erleben der Orte, das durch Filme oder andere Medien nicht ersetzt aber vielleicht ergänzt werden kann. Für diesen Band haben wir die Referent:innen des Workshops, die Studierenden und weitere Expert:innen für einen Beitrag gewinnen können. Die Buchpublikation war am Anfang des Projekts nicht geplant, aber nach dem Workshop wurde schnell deutlich, dass neben der filmischen Dokumentation auch eine schriftliche wünschenswert ist. Da auch der Verlag transcript uns in unserer Idee unterstützte, erweiterten wir unser Praxisprojekt mit den Studierenden um die Konzeption und Umsetzung einer gedruckten Publikation. Wir

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Siehe u.a. Jens Bregas, Krischan Heberle und Farina Nagels: Digitale Formate in der Personalentwicklung. Überblick und Hilfestellung für die berufliche Praxis (essentials), Berlin/Heidelberg 2022, S. 43–47; Anja Mehnert-Theuerkauf: Ist die post-pandemische Zukunft offline?, in: PPmP – Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, Vol. 7, 2021, S. 263–264; Bernhard Strauß: »Sie sind immer noch stumm geschaltet…!« – Schluss mit digitalen Tagungen!, in:PPmP – Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie, Vol. 8, 2021, S. 309–310. Bernhard Strauß: »Sie sind immer noch stumm geschaltet…!« – Schluss mit digitalen Tagungen!, S. 309.

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danken allen Autor:innen, dass sie sich auf das Verfassen dieser relativ kurzen und essayistischen Diskussionsbeiträge eingelassen haben. Das MemoryLab und auch diese Publikation wären ohne die Mitarbeit der Studierenden des 12. Jahrgangs des Masterstudiengangs Public History an der FU nicht zustande gekommen. Ganz besonderem Dank gilt Miki Takimoto, die die Gestaltung des Konferenz-Designs, des Veranstaltungsbandes und aller Bildbearbeitungsfragen übernahm. Nikolas Weicker war der technische Leiter des Labs, koordinierte vom Kabinetthaus in Potsdam aus die Konferenz-Tools, den Ton sowie die parallellaufenden Workshops und Programme. Josephine Eckert und Alexandra de León führten in die Thematik der Veranstaltung ein und hielten durch ihre Moderation zwischen den verschiedenen Formaten die Veranstaltung zusammen. Ronja Kuban hat durch ihr Lektorat und ihren Überblick im Redaktionsteam dafür gesorgt, dass die einzelnen Beiträge von Studierenden, Gedenkstättenmitarbeiter:innen und Universitätsdozent:innen in der vorliegenden Form vorliegen. Die Kontaktherstellung und die Korrespondenz zum Verlag hat Mandy Schmoor übernommen. Zudem haben alle Studierenden jeweils einen Ort in Potsdam für den virtuellen Rundgang ausgewählt, gefilmt und präsentiert. Ebenfalls danken wir Stefanie Eisenhuth vom ZZF für den Schnitt, die Beschriftung und die Bereitstellung der Konferenz auf YouTube. Darüber hinaus möchten wir dem Land Brandenburg, der Stadt Potsdam und dort insbesondere Birgit-Katharine Seemann danken, mit deren Unterstützung wir das MemoryLab realisieren konnten. Das Kapitel Public History bei der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin, die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße und das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam haben mit ihrer finanziellen Unterstützung diese Publikation ermöglicht.

Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung Josephine Eckert

Am 9. Mai 2021 hing an den Straßenschildern der Geschwister-Scholl-Straße in Potsdam je eine mit weißem Geschenkband befestigte weiße Rose. Zunächst bemerkten viele Passant:innen die Rosen nicht, dann blieben einige aber doch stehen und googelten: Ach, der 100. Geburtstag von Sophie Scholl, ja klar, die Geschwister-Scholl-Straße ist nach ihr benannt. Es war leider nicht nachzuvollziehen, wer die Rosen dort aufhing. Vermutlich waren es Anwohner:innen, die so die widerständische Sophie Scholl und ihrer Mitstreiter:innen würdigten. Die kleine Blumengeste machte allerdings deutlich, wie schnell aus einem unscheinbaren Straßenschild ein lebendiger Erinnerungsort werden kann. Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf eine der vielen, sonst so unauffälligen Details im öffentlichen Raum, die auf historische Ereignisse und die verschiedenen Zeitschichten und Nutzungen dieses Raumes verweisen. So zum Beispiel in der Geschwister-Scholl-Straße. Die Straße erhielt im 19. Jahrhundert den Namen Viktoriastraße, nach der in Potsdam beliebten Ehefrau des preußischen Kronprinzen und späteren Kaisers Friedrich III. Auch die umliegenden Straßen, die in unmittelbarer Nähe zum preußischen Prunkschloss und Park Sanssouci liegen, trugen Namen höfischer Personen. 1945, mit Ende des zweiten Weltkriegs und dem Beginn der sowjetischen Besatzung wurden fast alle Straßen des Viertels umbenannt. Sie heißen seitdem wie Wissenschaftler und Philosophen. Die Viktoriastraße wurde zum Andenken an die im Nationalsozialismus ermordeten Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose nach den Geschwistern Scholl benannt. Das war eine Geste der Umwidmung des öffentlichen Raums und eine Manifestation des postulierten »antifaschistischen Neuanfangs« in der sowjetischen Besatzungszone. Das preußische Potsdam hatte politisch ausgedient – fürs Erste.

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Josephine Eckert

Die Besetzung und Nutzung von öffentlichem Raum als Anknüpfungspunkt für Erinnern und Gedenken hängt unzertrennlich mit der Entstehung einer performativen Erinnerungskultur zusammen. Das gilt sowohl für eine offiziell-staatliche Erinnerungskultur, die in ihrem Sinne Erinnerungsorte gestaltet und subventioniert, aber auch für die Erinnerungsgemeinschaften von Gegengeschichten oder weniger Beachtung findenden historischen Ereignissen. Auch sie brauchen und fordern Zeichen im öffentlichen Raum, an die sie ihre historischen Erzählungen knüpfen können. Erinnern und Gedenken hat also eine räumliche Dimension. Die Frage nach dem Raum ist daher ein Leitthema dieses Sammelbandes: Wie ist Raum für Erinnerung gestaltet und von wem? In Bezug auf die performative Dimension von Erinnerung beschäftigt sich diese Publikation zudem mit der Frage, wie Raum bespielt und genutzt wird. Und schließlich befragen wir Räume auch mit einem wissenschaftlich-didaktischen Blick: Inwiefern und wann eröffnen Räume Möglichkeiten für Forschung und Bildungsarbeit? Die Aneignung eines Raumes für eine historische Erzählung ist schon per se eine Interpretation von Geschichte. Zu jeder historischen Erzählung gibt es aber noch eine andere, eine Gegengeschichte, und zu jeder Erinnerungsgemeinschaft eine, die diese spezifische Geschichtserzählung nicht teilen kann und will. Daher ist das zweite Leitthema des Bandes die Konkurrenz, in der Erinnerungen und erinnernde Subjekte zueinanderstehen können. Diese beiden Begriffe – Raum und Konkurrenz – bilden den thematischen Rahmen der Beiträge, die in diesem Band versammelt sind. Für die inhaltliche Konzeption bot der Sammelband »Erinnern stören – Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive«, 2020 erschienen und herausgegeben von Massimo Perinelli und Lydia Lierke, die Grundlage für die Auseinandersetzung mit sogenannter Gegengeschichte – so versteht sich die genannte Publikation selbst als »Intervention in die Geschichtsschreibung«1 und versammelt Gegengeschichten zur deutschen »Wende«-Erfolgsstory. Zudem zeigte Michael Rothbergs Text zum »Multidirektionalem Erinnern«, dessen deutsche Übersetzung 2021 in der Fachpresse heiß diskutiert wurde, auf, wie die Erzählungen von und das Gedenken an historische Verbrechen 1

Zitat: Lydia Lierke und Massimo Pirelli: Intro, in: Dies. (Hg.): Erinnern Stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Verbrecher Verlag, Berlin 2020, S. 11–30, hier S. 15.

Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung

und Genozide, so unvergleichlich sie sein mögen, textuell miteinander verwoben sind. Statt sie in Konkurrenz um Aufmerksamkeit, Ressourcen und erinnerungskulturelle Relevanz zu verstehen, plädiert Rothberg dafür sie produktiv zusammen zu denken: »Ultimately, memory is not a zero-sum game.«2 Eine Herangehensweise, die auch für die Beiträge in diesem Band als grundlegend gelten darf. Aufhänger für die Auswahl der Themen waren zudem Beispiele aus der erinnerungskulturellen Praxis in Berlin und Brandenburg, so beispielsweise die Erinnerungs- und Gedenkkultur an Orten früherer sowjetischer Speziallager auf dem Grund und Boden vorheriger nationalsozialistischer Konzentrationslager und ihre zeitgenössische, inzwischen als höchst fragwürdig markierte, Rezeption als »rote KZs«. Nicht zuletzt boten die medienwirksamen Denkmalstürze und Umdeutungen von Erinnerungsorten der europäischen Kolonialvergangenheit im Rahmen der Black Lives Matter Bewegung 2020 Anlass sich mit Symbolismus und Performance von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik auseinanderzusetzen. Der erste Teil des Sammelbandes vereint unterschiedliche theoretische Reflexionen zur aktuellen Erinnerungskultur: Es geht um Chancen und Herausforderungen von Konflikten, Rückblicke auf die Entstehung von historischen Erzählungen und Utopien in Räumen, die der Vergangenheit gewidmet sind. Der Beitrag von Martin Sabrow bietet eine grundsätzliche Einordnung der bedeutungsschweren Begriffe Erinnerung und Konkurrenz für die Disziplin der Public History. Darüber hinaus diskutiert er, wieso sich für die Landeshauptstadt Potsdam das Schema der Erinnerungskonkurrenz fast schon prototypisch nachzeichnen lässt. Die Intensität, mit der die Debatten um historische Rekonstruktion in der Potsdamer Innenstadt geführt werden, liegt, so Sabrow, zum einen in dem zwischen Preußen, NS und DDR zerrissenen Bauerbe der Stadt begründet, zum anderen zeige sich in Potsdam aber auch exemplarisch der Geschichtsboom im Zeitalter der Nostalgie. Als »Potentiale zur Demokratiestärkung« versteht Petra Haustein die großen Streitfragen in der deutschen Erinnerungskultur – denn Dissens entstehe in erster Linie durch die wünschenswerte Diversität der Streitenden. In ihrem Beitrag macht Haustein jedoch auch deutlich, dass es im Bereich der Geschichtspolitik qua ihres Sujets grundsätzliche Werte gibt, die nicht verhandelbar sind. Der Beitrag plädiert für einen engen, faktenbasierten Austausch 2

Zitat: Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford University Press, Stanford California 2009, S. 11.

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zwischen Forschung und Erinnerungskultur, um echte Konflikte konstruktiv zu wenden und zugleich solchen, die auf einer Verwechslung von Meinung und Wissen basieren, von vornherein Einhalt zu gebieten. Der transkribierte Wortbeitrag von Nora Sternfeld bei der Diskussionsrunde im MemoryLab21 dient in diesem Band als Ausblick darauf, welche Rollen Gedenkstätten für die Entwicklung einer demokratischen Diskussionskultur spielen könnten – und sollten –, würden sie aus den materiellen Notwendigkeiten und geschichtspolitischen Instrumentalisierungen herausgehoben, in denen sie sie gefangen sieht. Thomas Schaarschmidt widmet sich den komplexen Erwartungen und Anforderungen, mit denen Gedenkstätten im Spannungsfeld von Bildungsarbeit, Forschung und Symbolpolitik konfrontiert sind. Besonders deutlich zeige sich an den Erinnerungsorten mit doppelter Diktaturgeschichte, dass Gedenkstätten die gesellschaftlich notwendigen Foren der ständigen Aushandlung von Geschichtsdeutungen sowie gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen bilden – eine bildungspolitische Aufgabe, der viele Gedenkstätten durchaus gewachsen seien.

Gedenkstätten – Räume der Erinnerungskultur Schulklassen stellen in der Regel die größte Besuchsgruppe in Gedenkstätten dar. Nicht selten hinterlässt ihr Besuch jedoch den Eindruck, dass sie von ihren Geschichtslehrer:innen im Rahmen von Lehrplänen abgesetzt werden mit der Hoffnung, dass diese das Unterrichtsthema mit dem Besuch der Gedenkstätte »abhaken« können. Angesichts des Bildungskonzepts von Gedenkstätten, ihren Ausstellungen und nicht zuletzt der emotionalisierenden Zuschreibung als authentische Orte, scheinen sie den Schüler:innen eine ultimative Lernerfahrung zu bieten. Gedenkstätten sind jedoch nicht dafür konzipiert den Unterricht zu ersetzen. Sie sind Orte, an denen historische Ereignisse zuallererst aufgearbeitet werden und an sie erinnert wird. Ihre Funktion besteht sowohl in der Bewahrung des historischen Ortes als Zeuge der Verbrechen, als auch in der Produktion von historischem Wissen in Archiven, Bibliotheken und Ausstellungen sowie in der Sichtbarmachung von Ereignissen in Form von Tafeln oder Skulpturen. Materielle, pädagogische, ästhetische, hermeneutische und wissenschaftliche Dimensionen treffen hier aufeinander. Gedenkstätten sind darüber hinaus politische Orte, die vom jeweils herrschenden erinnerungskulturellen In-

Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung

teresse beeinflusst sind. Sie bieten Raum für privates Erinnern und öffentliches Gedenken, in deren Wechselwirkung überhaupt erst eine demokratische Erinnerungskultur geschaffen und gefestigt werden kann. Dabei treffen allerdings naturgemäß unterschiedliche historische Narrative und zum Teil gegensätzliche Interessen aufeinander, was durchaus zu Konflikten führen kann.3 Die ehemalige Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, Insa Eschebach, zeichnet in ihrem Beitrag ein eindrucksvolles Bild davon, wie viele verschiedene Interessengruppen einen Anspruch auf die Gestaltung von Gedenkstätten erheben. Dabei ist es die schwierige Aufgabe der Institution und ihrer Mitarbeiter:innen zwischen dem aktivistischem Gedenken zivilgesellschaftlicher Gruppen und dem öffentlichen Gedenken von Mehrheitsgesellschaften zu moderieren. Statt im häufig von gruppenlegitimatorischen Gesten geprägten Gedenken verortet Eschebach die Chance auf ein produktives Miteinander verschiedener Perspektiven in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Alexandra de Léon ergänzt den Blick auf die Gedenkstätte Ravensbrück mit einer Übersicht über die Debatte zum Aufstellen eines Gedenkzeichens für lesbische Frauen. Schwerpunkt ihres Beitrags sind die Motivationen derjenigen, die sich für oder gegen das Gedenkzeichen engagieren und die Erinnerungskonkurrenz, in der sie sich somit befinden. Die Ereignisse zeigen sowohl wie der Akt politischer Sichtbarmachung historische Pionierforschung anstoßen kann, als auch wie im Ringen um erinnerungspolitische Symbole gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden. Der Beitrag von Kolja Buchmeier und Sjoma Liederwald vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin beschäftigt sich mit der pädagogischen Arbeit in Gedenkstätten. Am Beispiel der KZ Gedenkstätte Sachsenhausen setzen sich die Autoren mit der Schwierigkeit auseinander, die doppelte Geschichte von historischen Orten und heterogene Zusammensetzungen von Häftlingsgesellschaften in der pädagogischen Arbeit zu vermitteln, ohne selbst Erinnerungskonkurrenzen zu produzieren. Nicht alle Erinnerungsorte haben die finanziellen Voraussetzungen, wie die Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Freya Ziegelitz stellt in ihrem Beitrag den Erinnerungsort des ehemaligen sowjetischen Speziallagers in Ketschendorf, Fürstenwalde vor. Als ehrenamtlich aufgearbeiteter und bespielter Gedenkort, an dem nur noch wenige historische Spuren sichtbar sind, 3

Vgl. dazu: Habbo Knoch, Gedenkstätten, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.09.2018, Link: http://docupedia.de/zg/knoch_gedenkstaetten_v1_de_2018 (zuletzt eingesehen am 25.11.2022).

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kann er mit der Aufmerksamkeit staatlicher Gedenkstätten nicht konkurrieren. Warum sich ein Besuch trotzdem lohnt und welche Chancen solche »kleinen« Gedenkorte bieten, erörtert sie in ihrem Beitrag. Norman Warnemünde und Amélie zu Eulenburg stellen gemeinsam zwei Potsdamer Gedenkstätten im Spannungsfeld städtischer, föderaler und bundesweiter Erinnerungskulturen vor. Die Arbeit der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße, einem ehemaligen sowjetischen Geheimdienstund Militärgefängnis, und der Gedenkstätte Lindenstraße, dessen Gebäude durch das gesamte 20. Jahrhundert unter den verschiedenen Machthabern ein Ort der politischen Verfolgung war, ist von einem dynamischen Verhältnis zwischen den Opferverbänden und der Gedenkstättenleitung geprägt. Abschließend erweitert der Beitrag von Oliver Gaida den Blick auf die Erinnerungskultur zu Ereignissen jenseits des Jahrhunderts der Diktaturen. Er beschäftigt sich mit öffentlichen Erinnerungszeichen an die Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert. Als Beispiel dient ihm der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin und das Erinnern an Max Dortu in Potsdam, anhand dessen er nachzeichnet, welche Gruppen Orte der deutschen Demokratiegeschichte aus unterschiedlichen Gründen für ihre Geschichtsdeutung nutzten oder heute noch beanspruchen.

Erinnerung im öffentlichen Raum Denkmäler, Informationstafeln, Stelen oder andere materielle Erinnerungszeichen sind Teil der Kulisse unseres Alltags. Und obwohl ihre Gestaltung häufig mit der restlichen Umgebung bricht, werden sie nicht selten übersehen und nicht beachtet. »Das Auffallendste an Denkmälern«, so das berühmte Zitat von Robert Musil, »ist, dass man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt was so unsichtbar wäre, wie Denkmäler«.4 Wenn Denkmäler eingeweiht werden, stellen sie eine Intervention in den öffentlichen Raum dar, sie irritieren, machen neugierig und sorgen dafür, dass Passant:innen sich mit diesen neuen Objekten auseinandersetzten müssen. Sie steigern die Sichtbarkeit der Ereignisse, an die sie erinnern sollen. Meist verlieren sie jedoch diese Wirkung und integrieren sich in ihre Umgebung.

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Zitat aus: Robert Musil: Denkmale, in: Ders: Nachlass zu Lebzeiten, Reclam Verlag, Leipzig 2013 (orig. 1936).

Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung

Dass sie dennoch hoch frequentierte urbane Orte sind, liegt nicht an ihrer Denkmalwirkung, sondern an ihrer Bedeutung als Landmarken, die Orientierung im Stadtraum schaffen und gute Treffpunkte sind, an denen ein paar Sitzbänke oder eine kleine Parkanlage zum Verweilen einladen. Im urbanen Alltag scheinen solche öffentlichen Räume interessanter als alte Geschichten. Gerade sehr alte Erinnerungszeichen erfahren in dieser Hinsicht eine zeitgenössische Umdeutung. So sind beispielsweise sogenannte Bismarcktürme heute Ausflugsziele für freie Tage – völlig unabhängig einer Verehrung des früheren Reichskanzlers, für den sie ursprünglich errichtet wurden. Und dennoch: Denkmäler erschaffen auch Raum für Geschichte. Das ließ sich insbesondere an der hitzig geführten Debatte um Denkmalstürze feststellen, die aus den antirassistischen Protesten der Black Lives Matter Bewegung im Jahr 2020 hervorgingen (die deutschen Bismarcktürme allerdings stehen ließen). Denkmäler geben performativ-memorialen Veranstaltungen, beispielsweise Kranzniederlegungen oder dem Begehen von Gedenktagen aber eben auch Denkmalstürzen, einen authentischen Ort, der nicht nur die Relevanz des Gedenkens im wahrsten Sinne des Wortes manifestiert. Sie ermöglichen auch eine Übertragung des Vergangenen in die Gegenwart. Kein Wunder also, dass Erinnerungsgemeinschaften, die keine solche Verortung haben, sich dafür einsetzen ihren Geschichten einen Erinnerungsort zu geben oder gegen andere, diskriminierende und rassistische Erinnerungsorte protestieren. 2020 eigneten sich die Demonstrierenden kolonialrassistische Denkmäler im Stadtraum an und brachten das in ihnen festgeschriebene Geschichtsbild symbolisch zu Fall. Ronja Kubans Beitrag zeigt, dass diese Welle der Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte im Stadtraum die Landeshauptstadt Potsdam (noch) nicht final erreicht hat. Bis heute gibt es zum Teil unkommentierte und häufig übersehene Spuren kolonialrassistischen Denkens in Potsdam. Der Umgang mit diesem unrühmlichen Erbe wird dadurch erschwert, dass eine Verdeckung, eine Beschilderung zwecks Kontextualisierung oder ein Abriss dieser Teile des UNESCO-Weltkulturerbe preußische Schlösser und Gärten am Denkmalschutz und wohl auch an Preußenfans scheitern. In ihrem Beitrag diskutiert Kuban, was dieses Hindernis für die Dekolonialisierung des Stadtraums bedeutet. Die Art und Weise wie und welche Geschichte im Stadtraum gezeigt wird, lässt darauf schließen, welchem Geschichtsbild die städtische Gesellschaft anhängt. Sabine Hering fordert in ihrem Beitrag die stets männlichen Protagonisten der Vergangenheit heraus und stellt ihnen eine Potsdamer

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Frauengeschichte gegenüber. Mit dem »Frauenwahllokal«, einer Mischung aus Eisdiele, politischem Salon und Ausstellungsort in der Potsdamer Innenstadt hatten sie und Mitstreiterinnen anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Frauenwahlrechts 2018 auf die politische Mitbestimmung von Frauen in der Stadtgeschichte aufmerksam gemacht. In meinem Beitrag zum Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg beschäftige ich mich mit der Sichtbarkeit der Geschichte des Nationalsozialismus in Potsdam. Exemplarisch zeichne ich die Entstehung eines Erinnerungsortes von der Idee bis zur Eröffnung nach. Der Fokus des Beitrags liegt auf der Bedeutung von regionalen oder städtischen Erinnerungsgemeinschaften, der irritierenden Absenz einer lokalen Verortung der NS-Geschichte in Potsdam und der Frage, was ein Gedenkort überhaupt zu einem Erinnerungsort macht. Dominik Juhnke wiederum erläutert die Diskussion um den Niedergang eines Gedenkzeichens. In seiner Recherche kann er die nationalkonservative bis rechtsradikale Vorbelastung der Potsdamer Nachbildung des Garnisonkirchen Glockenspiels eindrucksvoll nachweisen. Das Für und Wider des Glockenspiels, um das seit seiner Nachbildung öffentlich gestritten wird, folgt, so Juhnke, dem jeweils aktuellen Geschichtsbild seiner Zeit. Was in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre noch als akzeptabel galt, brauche in der heutigen Zeit mindestens eine kritische Kontextualisierung. Einen weniger bekannten und daher umso interessanteren Gedenkort stellt Miki Takimoto in Form eines Interviews vor, dass sie mit Masao Fukumoto von der Initiative »Hiroshima-Platz e.V.« führte. Der HiroshimaNagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg erinnert an die Schrecken der Atombomben, die die US-Air-Force im August 1945 über den beiden japanischen Städten abwarf. Da der Befehl zum Abwurf während der Potsdamer Konferenz durch den damaligen US-Präsident Truman in Potsdam abgesegnet wurde, sind Stadtgeschichte und globale Geschichte in diesem Ereignis in besonderer Weise miteinander verstrickt. Trotzdem konnte die Initiative nur gegen Widerstände einen Gedenkort etablieren.

Rituale der Erinnerungskultur im digitalen Raum Die weltweit größte Gedenkveranstaltung für die Opfer der Shoah findet nicht in real life sondern digital statt. Die Social-Media-Kampagne des Jüdischen Weltkongress (WJC) läuft unter dem Hashtag #WeRemember. Weltweit werden seit fünf Jahren am 27. Januar, anlässlich des Holocaustgedenktages zur Be-

Konkurrierende Erinnerungen und Konflikte um Räume – eine Einführung

freiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Menschen dazu eingeladen, sich selbst mit einem Schild, auf dem #WeRemember steht, zu fotografieren und das Foto auf Social Media zu veröffentlichen. Laut einer israelisch-ungarischen Zeitung nahmen allein im Jahr 2017 250 Millionen Menschen teil.5 Auch klassische analoge Gedenkveranstaltungen werden inzwischen häufig über Social Media Plattformen organisiert, verbreitet und beworben. Die Corona-Pandemie hat zudem sogenannte Hybridformate normalisiert, bei denen Menschen je nach Möglichkeit und Vorliebe online oder offline teilnehmen können. Digitales Erinnern kann als neue Form der Kranzniederlegung interpretiert werden, die, im Internet aufgezeichnet, langfristig gespeichert wird. Jeder:m ist mit einfachen Mitteln die Möglichkeit geboten, an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen beziehungsweise Teil einer Erinnerungsgemeinschaft zu werden – Voraussetzung ist lediglich der Zugriff auf einen Computer mit Internetverbindung. Erinnern und Gedenken ist so nicht mehr ortsgebunden, sondern kann weltweite Partizipation erfahren. Auf den verschiedenen Social Media Plattformen, wie Facebook, Instagram, Tiktok oder Twitter, wird überregional und zum Teil transnational um Geschichte gerungen, werden Deutungsweisen diskutiert und dadurch Erinnerungskultur ausgehandelt. So entsteht das Potenzial globale Gedenkkulturen und Erinnerungsgemeinschaften zu erschaffen.6 Auch in Bezug auf die Produktion von historischem Wissen und historische Bildungsarbeit lohnt sich der Blick in die sozialen Medien. Durch das Verlinken von Webseiten, Dokumentationen oder Interviews, die das jeweilige Thema wissenschaftlich untersuchen und kontextualisieren, entstehen neue Formate der Geschichtsvermittlung. Digitales Erinnern bietet die Möglichkeit, niedrigschwellig Informationen zu Verfügung zu stellen und damit geschichtliches Interesse zu wecken und zu fördern – birgt gleichzeitig allerdings auch

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Vgl.: Ein Update der Zeitung Breuer Press zum JWC vom 27. Januar 2017, Link: https ://www.breuerpress.com/2017/01/27/weremember-campaign-draws-more-than-25 0000-participants-reaches-120-million-people/ [zuletzt eingesehen am 18. Oktober 2022]. Als kleines Zukunftsexperiment sind die Leser:innen dazu angeregt die Entwicklung von virtuellen sozialen Realitäten wie beispielsweise dem sogenannten Metaverse, einer Virtual Reality, zu verfolgen und dabei zu beobachten, inwiefern diese neuen digitalen Räume transnationale Erinnerungsorte und -gemeinschaften entstehen lassen werden.

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die Gefahr durch die Verkürzung komplexer Zusammenhänge auf Social-Media-taugliche Formate, die Emotionalisierung von Themen für die Reichweite von Posts und die fehlende Kennzeichnung sogenannter fake news wissenschaftliche Genauigkeit einzubüßen. Tobias Ebbrecht-Hartmann gibt einen Überblick über verschiedene Arten einer digitalen Erinnerungskultur. Er stellt solche Beispiele vor, die materielle Gedenkzeichen ergänzen und solche, die Sichtbarkeit und Informationen für Ereignisse produzieren, denen im öffentlichen Raum bis dato kein Ort zur Verfügung stand. Chancen sieht er insbesondere in ihrem partizipativen Charakter und der daraus entstehenden Multiperspektivität. Der Band schließt mit dem Beitrag von Nicolas Weicker, der die Leser:innenschaft einlädt bei einem »Spaziergang« durch Potsdam Beispiele für umkämpfte Erinnerungs- und Gedenkorte in der Stadt kennen zu lernen, von denen einige auch in den Beiträgen näher diskutiert wurden. Ziel des Sammelbands ist es, sowohl Beispiele für konkurrierende Interessen im Rahmen von Gedenkstätten und Gedenkzeichen vorzustelle als auch Wege für einen produktiven Umgang mit entsprechenden Konflikten aufzuzeigen. So werden im vorliegenden Band möglichst viele verschiedene Perspektiven präsentiert. Daher haben wir uns auch dafür entschieden, die Beiträge von Studierenden, Aktivist:innen und Hochschullehrenden gleichwertig nebeneinander zu stellen. Der Band bleibt zudem bewusst ergebnisoffen. In erster Linie hoffen wir, dass er zur weiteren Auseinandersetzung mit dem dynamischen Thema Erinnern und Gedenken anregt.

Potsdam als Raum der Erinnerung Martin Sabrow

Die Frage nach der Konkurrenz der Erinnerungen im Raum Potsdam umfasst in ihren einzelnen Nomina drei Teilaspekte, auf die ich im Folgenden nacheinander eingehen werde.

Warum Erinnerung? Sehr pauschal gesagt, hat der Raum der Erinnerung in der Zeit »nach dem Boom«1 (Lutz Raphael, Anselm Doering-Manteuffel) den richtungweisenden Aufmerksamkeitsplatz übernommen, den bis in die 1970er Jahre die Zukunft eingenommen hatte. Hermann Lübbe sieht in unserer traditionszerstörenden Fortschrittswelt und ihrer Unbehaustheit den entscheidenden Grund für eine noch nie dagewesene Vergangenheitssehnsucht, die Flohmärkte und Geschichtsmuseen füllt und ganze Städte und Landschaften unabhängig von ihrem ästhetischen Rang unter Denkmalschutz stellt, um so den »änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund« zu kompensieren.2 Auch die so genannte Preußenrenaissance in der DDR der 1980er Jahre beruhte nicht einsträngig auf dem wachsenden Legitimationsbedürfnis des Regimes, sondern entwickelte sich in einer systemübergreifenden Eigendynamik von fachhistorischen Anstößen, politischer Beförderung oder zumindest Nachgiebigkeit und gesellschaftlichem Verlangen. In der immer intensiveren Suche nach authentischen Zeugnissen und in der Pflege der historischen Aura von Erinnerungsorten befriedigen wir seither ein Bedürfnis nach Orientie1 2

Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Hermann Lübbe, Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Ulrich Borsdorf/ Heinrich-Theodor Grütter/ Jörn Rüsen (Hg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13–38.

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rung und Identifikation, das in den fünfziger und noch in den sechziger Jahren die Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft abgedeckt hatte. Ob Eltern in der Nachkriegszeit ihre Kinder mit dem Ziel erzogen, dass sie es einmal besser haben sollten, ob der SED-Chef Walter Ulbricht einer frenetisch jubelnden SED-Konferenz vorschlug, das Wort »unmöglich« aus dem deutschen Lexikon zu streichen oder ob eine Bauplanung in der DDR der 1960er Jahre verlangte, im Heute das Morgen schon mitzusehen – immer stand dahinter ein rücksichtslos wirkender und heute in seiner affektiven Anziehungskraft weitgehend verschwundener Fortschrittsglaube, der »das Alte« entschieden geringer als »das Neue« schätzte und dessen letzte Strahlkraft noch vor gar nicht so langer Zeit die beliebte Einordnung von Menschen und Sachverhalten als »progressiv« und »fortschrittlich« oder »rückständig« und »reaktionär« ausdrückte. Die Krise des Fortschrittsparadigmas, aber auch die Last des Jahrhunderts der Extreme hat mit der Verzögerung einer Generation nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch die gesellschaftliche Orientierungskraft in einem Maße zu prägen begonnen, das die noch um 1970 beklagte Sorge vor dem Verlust der Geschichte nur mehr absurd erscheinen lässt. Über NS-Debatten und Geschichtsausstellungen ebenso wie über die Zeitzeugenbewegung, die Geschichtswerkstätten und das Geschichtsfernsehen hat sich »Erinnerung« parallel zum paradigmatischen Übergang von der Vergangenheitsentlastung zur Vergangenheitsaufarbeitung zu einem der zentralen Verständigungsbegriffe unserer Zeit entwickelt. Der Wille zur Erinnerung prägt die öffentliche Gedenkkultur der Bundesrepublik, und dies bemerkenswerterweise auch und gerade dort, wo diese Erinnerung schmerzlich ist, wo sie Trauer wachruft und Beschämung erzeugt. Die moralische Kraft des Erinnerns in unserer politischen Gegenwartskultur ist so groß, dass das Nicht-Erinnern in Gestalt des Verschweigens, Vergessens, Verdrängens in unserem Denken eine psychische oder soziale Fehlentwicklung beschreibt, eine fatale Abwehr, die etwa Gesine Schwan als »zerstörerische Macht des Schweigens in der Politik« angeprangert hat.3 In unsere Wertewelt sind Erkenntnisse der Tiefenpsychologie eingeflossen, und in ihr bezeichnet das Vergessen ein Krankheitsbild und die Erinnerung den Weg zur Heilung – getreu Sigmund Freuds berühmtem Konzept des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens. In der Übertragung auf die innere Verfassung 3

Gesine Schwan: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt a.M. 1997.

Potsdam als Raum der Erinnerung

sozialer Gemeinschaften kehrt dieses Verständnis von Erinnerung als Gesundung in der bis zum Überdruss zitierten und aus dem Zusammenhang gerissenen Warnung wieder, dass zu ihrer Wiederholung verdammt sei, wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnere.4

Warum Konkurrenz? Die zweite Frage ist schwerer zu fassen. Geschichtsbilder waren nie monolithisch. Auf der Ebene der Nationalstaaten konkurrierten gegensätzliche Meistererzählungen, die etwa in der Betrachtung des Ersten Weltkriegs und der Kriegsschuldfrage den Krieg der Soldaten als Krieg der Deutungen fortsetzten. Die Renaissance des Historischen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts führte zu einem erbitterten Ringen zwischen Alltags- und Strukturhistorikern, zwischen professional und public historians. Vor allem ein Verdacht stand der neuen Lust an der Vergangenheit entgegen, dass sie nämlich einer unhistorischen Verklärung der Vergangenheit diene, die den deutschen Sonderweg zur Idylle verkläre und unter Nostalgieverdacht stehe. Mit dem Kunstwort »Nostalgie« bezeichnet man über zwei Jahrhunderte hinweg die körperlichen und seelischen Symptome einer seltsamen Krankheit, die zunächst im 17. Jahrhundert bei Schweizer Söldnern und Studenten im Ausland diagnostiziert wurde und von hitzigem Fieber begleitet war. Erst mit der Verzeitlichung des ursprünglich räumlichen Krankheitsdiskurses machte der Begriff Karriere als Sehnsuchtswort einer zweifelnden Moderne, die sich nach den Jahren des raumgreifenden Wiederaufbaus in der Zukunft und in ihrer Fortschrittsutopie nicht mehr zu Hause fühlte. Mit der Nostalgie erhielt die Bewahrung der Vergangenheit plötzlich einen Eigenwert, der sich von Jahr zu Jahr immer machtvoller gegen die alten Hoffnungswörter der Stadtplanung wie »autogerechte Verkehrslenkung« oder »umfassende Stadtsanierung« zu behaupten wusste, aber im Geiste des noch mächtigen Fortschrittsdenkens doch den Stempel des Reaktionären trug. Beobachter notierten besorgt die

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Im ursprünglichen Kontext bezog sich die apodiktische Feststellung des spanischen Philosophen George Santayana »Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.« auf den menschlichen und menschheitsgeschichtlichen Lernfortschritt durch Erfahrung. Georges Santayana, The Life of Reason or The Phases of Human Progress, New York 2 1936, S. 284.

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»Rückwärtssehnsucht«, die der »gefühligen Restituierung des Gestern« diene,5 und etwa in Gestalt der »Hitler-Nostalgie« die »Realität des Faschismus« verharmlose. Kein Verdacht hätte irriger sein können: Die Alltagsgeschichte hat uns erst ein tieferes Verständnis für die kumulative Radikalisierung des Nationalsozialismus ermöglicht. Die vermeintliche Entsorgung der Katastrophengeschichte unter dem christdemokratischen Bundeskanzler Helmut Kohl erwies sich in Gestalt des Deutschen Historischen Museums in Berlin als höchst erfolgreiches Unternehmen ihrer nachhaltigen Vergegenwärtigung. Bis zum Aufkommen des Rechtspopulismus, der mit dem Rekurs auf Heimat und Tradition im nostalgischen Fahrwasser schwimmt, schienen sich die Gefahren der Nostalgiekrankheit aufgelöst zu haben, weil in unserer Erinnerungskultur die Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren alten Zeit vom Begehren zur Auseinandersetzung mit ihrem tatsächlichen Schrecken gebrochen wird, besser: weil unsere Lust an der Erinnerung nicht auf eine Rückkehr der Vergangenheit zielt, sondern auf das Lernen aus ihr. Eine andere Konkurrenz ergab sich mit der nach 1989 aufgekommenen Sorge, dass die Auseinandersetzung mit dem zweiten Totalitarismus des 20. Jahrhunderts die mit der ersten deutschen Diktatur verdrängen könne. So ungestüm sich gelegentlich im Streit um die Zukunft der Aufarbeitung die Opfer des Stalinismus als »Opfer zweiter Klasse« betrachten oder ein wie immer gearteter Proportionalitätsausgleich in der Gedenkstättenkultur gefordert wird, hat sich doch in den neunziger Jahren in der Arbeit der beiden Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestags ein antitotalitärer Konsens herausgebildet, der der doppelten Erinnerung heute nach langen Kämpfen einen stabilen Rahmen gibt: »Die NS-Verbrechen dürfen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert werden. Die stalinistischen Verbrechen dürfen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden.«6 Mit dieser Rückwendung zur Vergangenheit auf dem Weg der Erinnerung verbindet sich zudem ein tiefgreifender mentaler Wandel, der sich

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Volker Fischer: Nostalgie. Geschichte und Kultur als Trödelmarkt, Luzern u.a. 1980, S. 36 u. 75. Deutscher Bundestag, Schlußbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit, Drucksache 13/11000 vom 10.6.1998, S. °240.

Potsdam als Raum der Erinnerung

schlagwortartig als Übergang von der Heroisierung zur Viktimisierung bezeichnen lässt. Nicht der Held steht mehr im Mittelpunkt unserer heutigen Geschichtskultur, sondern das Opfer; nicht die Heldentaten von Arminius im Teutoburger Wald über Luther in Worms zu Bismarck in Versailles bewegen uns, sondern die historischen Verletzungen, die Menschen erlitten und die Menschen verursacht haben. Unsere Gedenkstätten sind nicht mehr der Kyffhäuser, das Deutsche Eck oder das Denkmal von Tannenberg, sondern die ehemaligen Konzentrations- und Mordlager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau, die innerdeutschen Grenzanlagen oder das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Der Paradigmenwechsel von der historischen Heroisierung zur historischen Viktimisierung ist kein deutscher, sondern ein europäischer und transatlantischer Trend, der sich in Deutschland in vielen Etappen vollzog: Im Geschichtsbewusstsein der letzten 150 Jahre gab es den erlösenden Helden, wie ihn Bismarck oder Hindenburg verkörperten und später die messianische Führersehnsucht der 1920er und 1930er Jahre zur alles überragenden politischen Macht werden ließ. Neben dem erlösenden Helden stand in dieser Denkwelt stets auch der verratene Held, für den modellhaft der Siegfried der Nibelungensage steht und der im Weltbild der Zwischenkriegszeit in der Dolchstoßlegende nach 1918 seinen beredtesten Ausdruck fand. Den Übergang von der Heroisierung zur Viktimisierung bildete in gewisser Weise schon der Typus des tragischen Opfer-Helden, der sich etwa mit dem LangemarckMythos von 1914, aber auch mit der propagandistischen Inszenierung des Untergangs der 6. Armee vor Stalingrad 1943 verbindet. Den Durchbruch der Opferperspektive brachte in Deutschland 1945 die »Stunde Null« mit der oft als Selbstviktimisierung beschriebenen Haltung der Nachkriegsdeutschen, die sich selbst als Opfer begriffen und die eigene Verstrickung hinter der Selbstwahrnehmung als Opfer brauner Verführung, angloamerikanischer Bombardierung und sowjetischer Siegerwillkür verschwinden ließen. Doch diese wachsende Opfersensibilität vollzog in den 1970er und 1980er Jahren einen einschneidenden Richtungswechsel, der in der Fachwissenschaft und ihren öffentlich ausgetragenen Konflikten die Suche nach der Erklärung für die Machtergreifung 1933 (als Millionen Deutsche zu Opfern Hitlers wurden) ablöste durch die Suche nach der Erklärung für die NS-Vernichtungspolitik von 1938 bis 1945 (als Millionen zu Opfern der Deutschen wurden). In diesem historischen Kontext etablierte sich eine Erinnerungskonkurrenz, die von der Kraft der Identifikation getragen wird und in den vergangenen vier Jahrzehnten enorme politische Sprengkraft gewonnen hat. Es handelt sich nicht um eine staatliche Stolzkultur, wie sie etwa in Polen das Bild der reinen Nati-

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on zu erhalten sucht, wo seit 2018 der Vorwurf einer polnischen Mittäterschaft am Holocaust unter Strafe steht, und nicht anders in der Türkei die Brandmarkung des Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Es ist in Deutschland vielmehr die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur selbst, die in zunehmend erbitterten Streit geraten ist: Immer stärker wird unheilvolle Vergangenheit in unserer Zeit zu einer Auseinandersetzung im Spannungsfeld von historischer Erkenntnisbildung und identitätspolitischem Geltungsdrang, der im Großen die Frage nach dem historischen Ort des Holocaust zwischen moralischer Singularität und postkolonialer Subsumierung betrifft und im Kleinen die Frage, ob eine Mohrenapotheke ihren Namen ablegen muss, weil ihr ursprüngliches Gütesiegel mit der Bezugnahme auf die maurische Heilkunst im heutigen Sprachverständnis als rassistische Demütigung empfunden wird. Die zu fürchtende Beeinträchtigung eines Opferdenkmals für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma durch eine unterirdische S-Bahn-Verlängerung im Berliner Tiergarten wäre noch vor wenigen Jahren vor allem als technische Herausforderung verstanden worden, heute hingegen steht sie als Bedrohung einer durch historisches Leid verbürgten Identität im Raum: »Roma und Sinti fürchten weiter um ihr Denkmal in Berlin-Tiergarten«, titelte die Berliner Presse.7 In dieser Sorge manifestiert sich ein memoriales Denkmuster, dem zufolge eine geschichtspolitisch unsensible Baumaßnahme die physische Vernichtung symbolisch zu wiederholen droht und darum keine Verständigungsbereitschaft zulässt, sondern nur die Wahl zwischen Selbstbehauptung oder Untergang.8

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Jörn Hasselmann: Roma und Sinti fürchten weiter um ihr Denkmal in Berlin-Tiergarten. Roma und Sinti protestieren gegen die Berührung ihres Denkmals durch den Bau der S21, in: Der Tagesspiegel, 15.6.2021, online abrufbar unter: https://www.tagesspie gel.de/berlin/streit-um-den-bau-der-s21-roma-und-sinti-fuerchten-weiter-um-ihr-d enkmal-in-berlin-tiergarten/27288312.html (zuletzt aufgerufen am 25.02.2022). »Die Kritiker werfen der Bahn und der Berliner Verkehrsverwaltung vor, sie nicht in die Planungen einzubeziehen. Die Aktion am Montag stand unter dem Motto »Ohne Stimme, weil ihr nicht hört«. »Weite Teile der Communitys der Sinti* und Roma* in Deutschland sowie Europa werden in den Diskussionen um das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas ignoriert«, teilte der grüne Europaabgeordnete Romeo Franz mit. (…) Die Bahn will nach dem derzeitigen Stand der Planung das Areal des Denkmals nicht beeinträchtigen, wohl aber muss der Gang unter dem Denkmal verändert werden. Zudem müssen einige Bäume gefällt werden, die bislang das Wasserbecken abschirmen. Diese Eingriffe werden abgelehnt. ›Man muss das Denkmal in seiner Gesamtheit als unantastbar erklären‹, teilte Franz mit.« Ebd.

Potsdam als Raum der Erinnerung

Warum Potsdam? Und jetzt die schwierigste Frage: Warum Potsdam? In der Tat: Nirgendwo in der Republik treffen die gegenwärtigen Erinnerungskonflikte vehementer aufeinander als in Potsdam. Der Streit um den Neubau des Stadtschlosses und den Abriss der Fachhochschule, die Auseinandersetzung um den Erhalt des Hotels Mercure und des Café Minsk sowie die Debatte um die »Rebarockisierung« oder gar »Verpuppenstubung« der Stadtsilhouette beherrschen die öffentliche Diskussion seit Jahren in einer anderswo ungekannten Intensität und Grundsätzlichkeit. Allen voran die zumindest als Turm gegenwärtig neu entstehende Garnisonkirche hat nach Jahren der erst leisen, dann immer lauteren Debatte mittlerweile zu einem unversöhnlichen Stellungskrieg geführt, in dem der martialische Turmschmuck der einstigen Militärkirche und der Tag von Potsdam oder die Inschriften des nach 1989 gestifteten Glockenspiels9 zu Argumenten von hoher Feuerkraft werden und das auf dem Boden der 1968 geschleiften Garnisonkirche erbaute Rechenzentrum zum Rückzugsraum, von dem aus der Gegenangriff vorgetragen wird. Drei Gründe für die Intensität der Debatte um den Raum der Erinnerung ausgerechnet im beschaulichen Potsdam stechen hervor, und der erste ergibt sich aus der sozialräumlichen Einzigartigkeit der Stadt. Potsdam ist der ideale Ort für Stellvertreterdebatten; es liegt an der Peripherie Berlins und ist Teil des hauptstädtischen Diskursraums, aber kleinräumiger strukturiert und in seinem Selbstverständnis weniger fragmentiert; Babelsberg und die Berliner Vorstadt, Kirchsteigfeld und Brandenburger Vorstadt liegen weniger weit auseinander als Wedding und Wannsee, Köpenick und Prenzlauer Berg. Anders als Berlin erfährt Potsdam keine prägende bundespolitische Inbesitznahme, und es weist keine industrielle Prägung auf; hier können sich wie in einem städtebaulichen Labor zivilgesellschaftliche Formungskräfte freier entfalten als in den europäischen Metropolen. Der zweite Grund liegt in der städtischen Formbarkeit. Potsdam ist im Wesentlichen keine eigendynamisch gewachsene, sondern eine gezielt gemachte Stadt. Sie war von ihren Anfängen an Residenzstadt mit einheitlich barockem Gepräge, die nach 1945 im Anschluss an einen tiefgreifenden Bevölkerungsaustauch rigoros zu einer sozialistischen Bezirkshauptstadt

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Zur Debatte um das Glockenspiel siehe den Beitrag von Dominik Juhnke in diesem Band.

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umgeformt wurde und nach 1990 wiederum einen radikalen Charakterwechsel erfuhr. »Die Alternativen waren: Barock oder gar nichts, weil eben die Barockfreunde das Geld hatten, und die Stadt hatte es nicht«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Juni 2021 in einem Artikel »Über Potsdam als geistige Lebensform«.10 In Potsdam wird seit 1990 die deutsch-deutsche Zeitenwende verhandelt, aber dies nicht in die offene Zukunft hineingedacht, sondern in die Vergangenheit und ihre Last zurückprojiziert. Gewichen ist das sozialistische Stadtbild, zurückgekehrt ist das friderizianische, und »man muss kein Klassenkämpfer sein, um zu sehen, dass Potsdam gerade an seinen prominentesten Schauplätzen immer mehr so aussieht, wie ein paar sehr reiche Zuzügler aus dem Westen sich das vorgestellt haben«.11 Den dritten Grund sehe ich im besonderen Charakter der in Potsdam anzutreffenden Zeitschichtung. Zeitbrüche weisen auch andere Stadträume in Deutschland auf. Im Fall Potsdams kommt aber hinzu, dass hier besonders kontrastierende Zeitschichten aufeinandertreffen und ausgehandelt werden, die sich zeitlich als Kampf zwischen Preußen und (DDR-)Sozialismus gegeneinanderstellen lassen und räumlich als Auseinandersetzung von linker und rechter Raumbeherrschung. »Streit um Garnisonkirche geht weiter« meldeten die PNN im Februar 2020, und sie hätten dieselbe Überschrift schon zehn Jahre zuvor ebenso ein Jahr später wählen können12 ; »Von Versöhnung keine Spur«, lautete das Pressefazit über eine Diskussion in der Berliner Akademie der Künste zum Wiederaufbau der Garnisonkirche.13 »Unter der Haube Hass und Nationalismus«, betitelte das Neue Deutschland im März 2021 ein erstes Konzept einer Dauerausstellung im Turm der Kirche.14 Ein »Sammlungsort für Antidemokraten« überschrieb der Tagesspiegel dasselbe Vorhaben, dessen Kontroversität im Untertitel gar nicht mehr erkennbar war: »Die Ausstellung in der Garnisonkirche soll die Vergangenheit des Ortes aufarbeiten. Doch das

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Claudius Seidl: Die heimliche Hauptstadt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.6.2021. Ebd. Streit um Garnisonkirche geht weiter. Angriffe auf und Unterstützung für CDU, in: PNN, 18.2.2020. Von Versöhnung keine Spur. Hochkarätig besetzte Diskussionsrunde über die Garnisonkirche, in: MAZ, 6.12.2019. Unter der Haube Hass und Nationalismus. Stiftung Garnisonkirche Potsdam hat ein Konzept für die künftige Dauerausstellung im Turm, in: Neues Deutschland, 15.3.2021.

Potsdam als Raum der Erinnerung

reicht den Kritikern nicht.«15 Nachdrückliche »Sorge um bekanntes DDR-Mosaik« wiederum begleitet in gleich schriller Tonlage die ebenso engagierte »Debatte um Umgang mit dem Rechenzentrum-Denkmal«16 , und noch die adlergeschmückte Wetterfahne mit ihrem wohl gegen das französische Sonnenkönigtum gerichteten Spruch »Nec soli cedit« ist schon Gegenstand heftiger Debatten geworden, »weil diese Wetterfahne die neue Stadtkrone sein könnte«, wie der »Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in Potsdam« befürchtet.17 Natürlich wissen auch die Kritiker, dass weder die Potsdamer Garnisonkirche noch die Frankfurter Altstadt als solche »rechte Räume« sind, sondern erst durch ihre kulturelle Besetzung dazu gemacht werden. Es geht »mehr um Fleisch als um Stein«, befand auch der Architekturtheoretiker Stephan Trüby, der mit seiner These einer rechten Unterwanderung des Frankfurter Rekonstruktionsprojekts eine Debatte über »rechte Räume« ausgelöst und die Behauptung aufgestellt hatte, dass die Rekonstruktionsarchitektur »sich in Deutschland derzeit zu einem Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten« entwickle.18 Aber gerade weil es im Potsdamer Raum der Erinnerung noch stärker als anderswo weniger um Gestern geht, sondern in versteckter Weise vielmehr das Heute verhandelt wird, ist der Streit hier so unversöhnlich geworden. Was bedeutet dieser Befund für das Tun von Zeithistorikern? Als Wächter der Geschichte sammeln wir Wissen, um es fachlich kontrolliert weiterzugeben, wir betrachten es als unsere Aufgabe, historische Mythen zu widerlegen und irrige Aneignungen mit der Vetokraft der Quellen zurückzuweisen. Unsere vielleicht noch vornehmere Aufgabe aber liegt darin, aus der analytischen Distanz heraus die Bewegungskräfte zu ergründen, die den Kampf um das Erinnern und Vergessen in unserer Zeit zu erklären vermögen. Als Historiker dienen wir der Gegenwart nicht zuletzt dadurch, dass wir ihr ein Verständnis für den wandelnden Wert vermitteln, den unsere Zeit dem Modus der Erinnerung als gegenwärtig dominanter Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung beilegt. 15

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Sammlungsort für Antidemokraten. Die Ausstellung in der Garnisonkirche soll die Vergangenheit des Ortes aufarbeiten. Doch das reicht den Kritikern nicht, in: Der Tagesspiegel, 14.3.2021. In: PNN, 6.11.2019. Streit um die Deutung der Wetterfahne. Projektgegner sehen in Symbolik weiterhin Geste der Aggression, in: MAZ, 4.2.2021. Stephan Trüby: Wir haben das Haus am Rechten Fleck, in: FAZ, 16.4.2018.

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Dissens und Erinnerungskonkurrenz Potentiale zur Demokratiestärkung Petra Haustein

Das Interesse an unterschiedlichen Deutungen historischer Ereignisse ist unverzichtbar für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Konflikte um Formen und Inhalt von Gedenken, historischer Bildung und zeithistorischen Ausstellungen zeugen von pluralistischer Debattenkultur und offener Gesellschaft. Langfristiger Dissens, Erinnerungs- oder gar Opferkonkurrenz hingegen sind negativ konnotiert. Was in der Wissenschaft als herausforderndes Analysefeld erscheinen mag, zieht im Gedenken oft die Frage nach Möglichkeiten der Überwindung der Konflikte nach sich. Das Potential von Dissens, um Pluralismus und Demokratie zu stärken steht seltener im Fokus. Frei nach Hans Günter Hockerts so überzeugender wie zutreffender Beobachtung verhält es sich so, dass Gedenkkultur nach Vereinheitlichung verlangt während Wissenschaft nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht zur Differenzierung hat.1 Welche Formen und Inhalte des Gedenkens angemessen sind, muss am historischen Ort selbst eruiert werden. Doch wie sieht das in der Vermittlungs- und Bildungsarbeit aus? Wie steht es um die gesellschaftspolitischen Ziele von Gedenkstätten? Für diese Felder ist eine grundsätzliche Erörterung sinnvoll. Die Autorin wurde gebeten, als »critical friend« im Anschluss an die Tagung »MemoryLab 2021: Raum schaffen. Konkurrierende Erinnerungen im Raum Potsdam« einen freundlich-kritischen Rück- und Ausblick zu geben. Dieser

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Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 28, 2001, S. 15–30. Und online abrufbar unter: https://www.bpb.de/apuz/26154/zugaenge-zur-zeitgesch ichte-primaererfahrung-erinnerungskultur-geschichtswissenschaft (zuletzt aufgerufen am 23.02.2022).

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Petra Haustein

Bitte ist sie gerne nachgekommen, haben doch die inspirierenden Diskussionen und Projektvorstellungen gezeigt, dass der so notwendige Diskussionsund Aushandlungsprozess längst in konstruktivem Gang ist. Im Land Brandenburg der 1990er Jahre ging es zunächst um die Neukonzeption der ehemaligen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Zu erinnern ist an engagiert und emotional geführte Kontroversen. Es ging um nichts Geringeres als die Bewertung des staatlichen Antifaschismus der DDR,2 die Verarbeitung des Schocks über die Funde von Massengräbern aus der Zeit des sowjetischen Speziallagers3 und den Streit um die angemessene Darstellung dieser fortan oft mit dem Attribut »mehrfach« versehenen Geschichte. Der staatliche Antifaschismus hatte bis auf einige Differenzierungen im Verlauf der 1980er Jahre Leidens- und Verfolgungserfahrungen jenseits des kommunistischen Widerstands weitgehend ausgegrenzt und kommunistische Biographien von ihren nicht in das offizielle Geschichtsbild passenden Widersprüchen befreit. Durch diese den SED-Staat stabilisierenden Verzerrungen und Glättungen waren Ursachen, Funktionsweisen und Ziele des Nationalsozialismus fast vollständig auf ökonomische Ursachen reduziert worden.4 Diese Geschichtsdeutung war spätestens seit 1990 nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch ohne zusätzliche Debatten um den Umgang mit der Geschichte des sowjetischen Speziallagers am Ort des nationalsozialistischen Konzentrationslagers hätte sie für intensive Kontroversen gesorgt. Bei aller Berechtigung für einen kritischen Blick auf die heutige staatliche Geschichtspolitik lässt sich hinsichtlich dieser Neukonzeptionen allerdings keinesfalls – wie auf dem Tagungsabschlusspodium zum Thema »Gedenkstätten als den Orten konzentrierter Erinnerung und Gedenkens« von Nora

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Julia Reuschenbach: »Tempel des Antifaschismus«? – die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, online abrufbar unter https://www.bpb.de/geschichte/zeitg eschichte/deutschlandarchiv/199442/tempel-des-antifaschismus-die-nationalen-ma hn-und-gedenkstaetten-der-ddr#footnode1-1 (zuletzt aufgerufen am 23.02.2022). Vgl. Petra Haustein: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006; Annette Leo: Konzentrationslager Sachsenhausen und Speziallager Nr. 7, in: Günther Heydemann/ Heinrich Oberreuther (Hg.): Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 249–282. Vgl. insbesondere Joachim Käppner: Erstarrte Geschichte. Faschismus und Holocaust im Spiegel der Geschichtswissenschaft und Geschichtspropaganda der DDR, Hamburg 1999.

Dissens und Erinnerungskonkurrenz

Sternfeld überlegt – von einer bloßen, machtpolitisch motivierten »Überschreibung« sprechen. Im Gegenteil: Die Gedenkstätten reagierten auf diese herausfordernde Thematik unter Verzicht auf jede Art der Bilderstürmerei mit differenzierten, auf denunziatorische Töne verzichtenden Ausstellungen.5 Gegenläufige Geschichtsinterpretationen, einander ausschließende Geschichtsbilder und Dissens hinsichtlich angemessener Erinnerung an historische Ereignisse gehören jedoch nicht den 1990er Jahren allein. Auch weiterhin stehen sie auf erinnerungskultureller wie geschichtspolitischer Tagesordnung. Eine Frage der Tagung aufnehmend, ob diese Konflikte unbedingt aufgelöst werden müssten oder aber auch produktiv aufgenommen werden könnten, komme ich zu Gedanken und Fragen zum Potential von Dissens für die Stärkung von Pluralismus und Demokratie. Ihre Beantwortung ist in Zeiten des Generationswechsels, von Einwanderung und medialen Veränderungen nicht einfacher geworden. Besuchergruppen in den Gedenkstätten setzen sich zwar seit langem international zusammen. Auch zu den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager und anderen Gedenkveranstaltungen ist allein aufgrund der Internationalität der ehemaligen »Häftlingsgesellschaft« der Konzentrationslager stets mit einem internationalen Kreis der Teilnehmenden zu rechnen. Anders sieht dies jedoch bei Ausstellungseröffnungen, Buchvorstellungen und Podiumsdiskussionen aus. Hier setzt sich der Kreis der Interessierten zumeist aus den Gedenkstätten verbundenen Wegbegleiter:innen zusammen, der gesellschaftliche Diversität kaum abbildet. Die Pluralität der Migrationsgesellschaft spiegelt sich hier wenig. Umso wichtiger werden neue Foren des Austauschs, Nachdenkens, Aushaltens von Dissens sowie des gegenseitigen Zuhörens. Es wäre zu überlegen, ob nicht zunehmend Kooperationspartner:innen aus der interkulturellen Arbeit für die Weiterentwicklung der Gedenkstättenarbeit gewonnen werden können. Vor einer solchen Erweiterung stellt sich die Frage nach Anknüpfungspunkten, Themenschwerpunkten und Zielen, um Beliebigkeit zu vermeiden.

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https://www.sachsenhausen-sbg.de/ausstellungen/dauerausstellungen/von-der-erin nerung-zum-monument/ (zuletzt aufgerufen am 23.02.2022); Günter Morsch (Hg.): Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten), 1996; Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Susanne Lanwerd (Hg.): Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945 – 1995, Berlin 1999.

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Petra Haustein

In Hinblick auf die Problematik der Erinnerungskonkurrenzen fällt ins Gewicht, dass die Migrationsgesellschaft von unterschiedlichsten lebensgeschichtlichen Erfahrungen, politischen Einstellungen, Interessen und Zukunftsvisionen geprägt ist. Ohne an dieser Stelle in die Tiefe gehen zu können, sei die derzeit auch in der medialen Öffentlichkeit intensiv diskutierte Konkurrenz der Erinnerungen an Raubkunst, Kolonialverbrechen und Holocaust erwähnt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Streit um historische Konkurrenz seine Aktualisierung in den Nahostkonflikten, vor allem im jüdisch-palästinensischen Konflikt oder sogar im sogenannten Kampf der Kulturen zwischen »dem« Westen und »der« islamischen Welt findet. Inwieweit dies explizit Themen der Gedenkstättenarbeit sein sollten oder eher als Hintergrund der Gedenkstättenarbeit zu verstehen sind, könnte selbst Teil des Aushandlungsprozesses sein. Die Integration jedenfalls von bislang stillen oder auch nur ungehörten Stimmen mit divergierenden Standpunkten, mitunter auch irritierenden Ansichten wäre ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung pluralistischer Demokratie. Lebt das demokratische Gemeinwesen doch von Vielfalt, Akzeptanz anderer Meinungen, Haltungen, Interessensabwägung und dem Aushandeln von Kompromissen. Da Fragen der Erinnerungs- und Opferkonkurrenz an Orten mit sogenannter mehrfacher Vergangenheit wie Sachsenhausen oder Jamlitz-Lieberose mit ihrer Geschichte als nationalsozialistische Konzentrationslager und sowjetische Speziallager an ein und demselben Ort besonders virulent sind und die Gedenkstättenarbeit seit nunmehr fast drei Jahrzehnten vor große Herausforderungen stellen, soll es im Folgenden um diese Orte gehen.6 Hier stellen sich zum einen pädagogisch wertvolle Fragen, die sich anderenorts nicht in gleicher Weise aufdrängen. Zum anderen wohnt ihnen ein Irritationspotential in Hinblick auf die Bewertung von »Schuld« und »Unschuld«, »Gut« und »Böse« inne, das auch für die weiteren Debatten in Formaten wie dem »MemoryLab« fruchtbare Kontroversen und weiteren Erkenntnisgewinn verspricht. So richtig und wichtig es ist, der von dem Historiker Bernd Faulenbach formulierten Prämisse, derzufolge die nationalsozialistischen

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Ich darf dabei an Überlegungen von Heidi Behrens und mir aus dem Jahr 2002 anknüpfen. Einige der damals von uns aufgeworfenen Fragen erscheinen mir auch heute noch durchaus aktuell: Heidi Behrens/Petra Haustein: Abschied von der Übersichtlichkeit! Vom Verlust vermeintlicher Eindeutigkeiten im aktuellen erinnerungspolitischen Diskurs. Eine Replik auf Jörg Skriebeleit, in: Gedenkstättenrundbrief 106 vom 1. April 2002, S. 3–11.

Dissens und Erinnerungskonkurrenz

Verbrechen mit Verweis auf die stalinistischen nicht relativiert, letztere jedoch nicht bagatellisiert werden dürften, weiterhin zu folgen, so unabdingbar ist es, sie zu konkretisieren und übergreifende Fragen zu formulieren. Irritierend ist dieses geschichtspolitisch und erinnerungskulturell so hoch sensible Terrain nicht zuletzt deshalb, weil wir als Nachgeborene und in der Gedenkstättenarbeit oder zeitgeschichtlichen Forschung Engagierte wohl zum überwiegenden Teil davon ausgehen, grundsätzlich empathisch mit Opfern politischer Gewalt zu sein. Die Debatten über die Bewertung der Geschichte sowjetischer Speziallager haben aber auch etwas Anderes gezeigt: Im Kontakt mit ehemaligen Speziallagerhäftlingen dominiert zunächst häufig Distanz. Versteckt oder offen steht die Frage nach deren Verstrickung in das NS-Regime im Raum. In der Mehrheit – wie hätte dies nach der breiten Unterstützung des Nationalsozialismus auch anders sein können? – handelte es sich um keine Widerstandsbiographien. Berechtigte Skepsis dominiert zudem im Verhältnis zu Vertreter:innen stalinistisch Verfolgter oder Opfern der SEDDiktatur, die die Nähe zu neurechten Kreisen, ihren Publikationsorganen und Parteien suchen bzw. gefunden haben. Empathie scheint sich mit Opfern des Nationalsozialismus hingegen gleichsam automatisch einzustellen. Im Falle der Speziallagerüberlebenden scheint die Entwicklung von Empathie dort leichter zu fallen, wo es sich um Lebensläufe verfolgter Sozialdemokraten oder gar sowohl im Nationalsozialismus als auch im Stalinismus Verfolgter handelt. Auch Menschen, die sich der kritischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen verpflichtet fühlen, ihre eigene Internierung vielleicht sogar als Sühne begreifen, könnten dazu gezählt werden. Hier könnte eine kritische Selbstbefragung der Nachgeborenen ansetzen, ob die Anerkennung von Leid voraussetzt, dass das Opfer sich vor der Haft moralisch erhaben oder wenigstens akzeptabel – und das dann auch aus unserer heutigen Sicht – verhalten hat. Wie immer die Antwort ausfallen mag, es gilt diesen Zugang zu reflektieren und in die Gedenkstättenarbeit einzubeziehen. Birgt aber nicht gerade die Auseinandersetzung mit den Biographien ehemaliger Speziallagerhäftlinge Chancen für die Bildungsarbeit? Hier ergeben sich folgende Fragen fast wie von selbst: Wie haben sich »ganz normale« Menschen bei undemokratischen Entwicklungen, gesellschaftlichen Ausgrenzungen und angesichts beobachteter Gewalt verhalten? Wie unterschiedlich waren die Wege, die sie in stalinistische Haft führten? Wie ausgeprägt war der

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Petra Haustein

Wunsch nach einer freien Gesellschaft? Wie mächtig wirkten nationalsozialistische Moralvorstellungen nach?7 Durch die Beschäftigung mit Biographien von NS-Verfolgten ist nicht zu erfahren, wie die Verbrechen an ihnen möglich geworden sind. Dies kann allenfalls über die Auseinandersetzung mit Prägungen, Mentalitäten, Haltungen, Zielen und dem Handeln der Mehrheitsgesellschaft gelingen. Hier sollte es um die Frage gehen, wie die Mechanismen von Integration in die »Volksgemeinschaft« einerseits und radikaler Ausgrenzung andererseits ineinandergriffen, so dass die Verbrechen – von der Mehrheit getragen – ermöglicht worden sind. Für die Entwicklung von Empathie mit stalinistisch verfolgten Sozialdemokraten wirft dies keine Probleme auf. Wie aber steht es mit der Bewertung des Verhaltens ehemaliger Blockwarte und anderen mittleren und kleinen Funktionsträgern des NS-Regimes? Einerseits handelte es sich um Häftlinge, die in ein sowjetisches Lager gerieten, das jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrte. Andererseits haben Gedenkstätten zu vermitteln, dass das NS-Regime ohne das Zutun der vielen kleinen Rädchen in seinem Getriebe nicht funktioniert hätte. Man wird sie also nicht in jedem Fall uneingeschränkt unter die Kategorie »Opfer« subsumieren wollen, doch erscheint der Gedanke an eine gerechte Strafe im stalinistischen Lager ebenfalls keineswegs vertretbar. Gedenkt man den Opfern des Nationalsozialismus in der Regel in ihrer Gesamtheit8 , war das Absehen von individuellen Lebensläufen in Hinblick auf die stalinistischen Lager ebenso selbstverständlich unmöglich, wollte man vermeiden, Kränze auf den Gräbern ehemaliger NS-Täter niederzulegen. Für die Frage nach dem Potential dieser moralisch nicht leicht beizukommenden Komplexität für die Gedenkkultur und darüber hinaus für die historisch-politische Bildung und die Demokratiestärkung – so meine Eingangsfrage – stellt sich daher eine weitere nicht minder schwer zu beantwortende 7

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Für diese Frage nach wie vor so grundlegend wie inspirierend: Raphael Gross/Werner Konitzer: Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 8. Jg., August/ September 1999, S. 44–69. In Bezug auf die »Häftlingsgesellschaften« Konzentrationslager ergeben sich derart irritierende Fragen allenfalls bei der Forderung nach ehrendem Gedenken an die Gruppe der sogenannten Berufsverbrecher. Selbstverständlich darf die Zuschreibung durch die Täter nicht übernommen werden und ist es auch ein Verbrechen gewesen, tatsächlich schuldig Gewordene in menschenverachtenden Lagern zu internieren. Doch kommt man bei diesen Fragen der Problematik im Umgang mit den Biographien der Speziallagerhäftlinge am nächsten.

Dissens und Erinnerungskonkurrenz

Frage: Sollte die Unrechtmäßigkeit von Lagern in Bezug auf die Bewertung von Haft in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ausschließlich ausschlaggebend bleiben, während bei den Häftlingen der sowjetischen Speziallager zunächst individuell geprüft werden muss, ob es nicht unter Umständen doch »den Richtigen« getroffen hat? Selbst wenn dies sicherlich kaum jemand so verstanden wissen wollen würde, ergibt sich im Subtext dennoch die Frage, ob die Internierung in menschenverachtenden Lagern bei nachgewiesener – mehr oder minder schwerwiegender – Schuld nicht doch gerechtfertigt sein könnte; eine mit Blick auf die politisch-historische Bildungsarbeit kaum vertretbare Vagheit. Auch in Hinblick auf das Verhalten verfolgter Kommunisten ergeben sich teils verstörende Fragen, die nicht im Gedenken, wohl aber im wissenschaftlichen Diskurs und in der pädagogischen Vermittlung ihren Platz finden können: Hatte ein kommunistischer KZ-Häftling nach 1945 das moralische Recht, NS-Funktionsträger oder Sozialdemokraten zu melden oder gar Menschen anzuzeigen, weil sie das nach Kriegsende von ihm selbst angestrebte Gesellschaftsmodell nicht leben wollten? Wie stellt sich das Verhältnis von individueller Rache, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit dar? Der Bedarf an dem von den Studierenden entwickelten Format des Erinnerungslabors ist unübersehbar. Solche Foren sind zukunftsträchtig, gilt es doch bei aller Faktenbasiertheit immer auch, Erfahrungen, Erzählungen, Ansichten und Gefühlen Raum zu geben. Welche Grenzen dieser Raum haben sollte, wird ebenfalls zu erörtern sein, denn jede Art menschenverachtender Haltung, Antisemitismus, Rassismus und Homophobie darf keinen Platz finden. So selbstverständlich dies zunächst klingen mag, so verunsichernd kann beispielsweise nationalistisches Auftreten polnischer Vertreter von KZ-Überlebenden auf Gedenkveranstaltungen sein, wie dies Insa Eschebach eindrücklich für die Erfahrungen in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ausgeführt hat. Auch die Interventionen rechtsrevisionistischer Kreise in die Aufarbeitung von Stalinismus und SED-Diktatur gehören zu dieser Problematik. Um angesichts zunehmender Demokratieskepsis bis -ablehnung sowie wachsendem Antisemitismus und Rechtsextremismus eine faktenbasierte Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu garantieren, muss die Kooperation von Gedenkstätten und Erinnerungsorten mit Wissenschaftseinrichtungen im universitären wie außeruniversitären Bereich gestärkt werden. Denn nur faktenbasiert ist unerbittlichem, die Demokratie in ihrer Konsequenz schwächendem Streit beizukommen. Allein durch engen und kontinuierlichen Austausch zwischen wissenschaftlicher Forschung und erinnerungskulturellen

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Petra Haustein

Akteur:innen ist die von Hannah Arendt9 einst so beeindruckend analysierte demokratieschädliche Verwechslung von Fakten und Meinungen zu erkennen und – wenn möglich – zu überwinden. Auf dieser Grundlage vermögen dann einige Konflikte aufgelöst, andere aber – so wie in der Tagung vorgeschlagen – konstruktiv gewendet werden. Es ist ein schwieriges Unterfangen, mit dieser hier nur ausschnitthaft und allenfalls grob skizzierten Komplexität der Geschichte umzugehen und Formen der Reduktion zu finden, die dennoch nicht simplifizieren. Gerade dies macht Formate wie das »MemoryLab« so wertvoll, denn sie lassen zu, dass wir uns alle als Lernende auf diesem Terrain begreifen.

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Hannah Arendt: Wahrheit und Politik, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 2013, S. 327–370, hier S. 342, zit.n. Judith Zinsmaier: Hannah Arendt und das »postfaktische Zeitalter«, 16.8.2016, online abrufbar unter: www.praefaktisch.de/postfaktisch/hannah-arendt-und-das-postfaktischezeitalter (zuletzt aufgerufen am 23.02.2022).

»Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen«1 Nora Sternfeld (transkribiert und editiert von Josephine Eckert) Wenn wir von »Konkurrenzen« zwischen Opfergruppen sprechen,2 haben wir es nicht mit denselben Gruppen zu tun, in die die Nazis die Leute kategorisierten. Es sind aber auch nicht nur Konflikte zwischen Opferverbänden, die sich heute organisieren, um Forderungen zu stellen. Obwohl es in diesen Konflikten häufig um Identitäten geht, ist es daher schwierig den Begriff Identität in diesem Kontext zu greifen – was bedeutet es schon mit einer Gruppe identisch zu sein? Geht es darum, sich mit der Gruppe zu identifizieren, zu denen die Nazis die Leute machten? Oder eine Identität in der Opfergruppe zu finden, in der sich die Überlebenden selbst subjektivieren, wenn sie Dinge (ein)fordern? Beides ist ganz unterschiedlich. Nicht die Nachfahren der von den Nazis verfolgten Homosexuellen sind eine sogenannte Opfergruppe, sondern andere Homosexuelle heute, die sich politisch subjektivieren, um für eine Erinnerung zu kämpfen, die mit ihrer eigenen Familie erstmal nichts zu tun hat. In anderen Fällen sind es aber tatsächlich die Nachkommen der Ermordeten und Überlebenden, die sich formieren. Es muss auf der einen Seite mit den Betroffenen gesprochen werden, da diese Forderungen an die Gedenkstätte stellen. Andererseits muss die Gedenkstätte auch für sich selbst eine Position in dieser Art von Konflikten finden. Wie wird heute erinnert? Welche Geschichte wird erinnert? Und wer darf für sie sprechen? Letztlich wird in diesen erinnerungskulturellen Debatten auch darum gekämpft, wie sich Gedenkstätten positionieren. Dieser Text stellt daher die Frage: Welche Position kann eine Gedenkstätte innerhalb dieses umkämpften Raumes einnehmen und mit welchen Mitteln nimmt sie diese Position ein? 1 2

Auszug aus der Podiumsdiskussion zum Thema »Opferkonkurrenzen in Gedenkstätten« am 25.6.2021, Memory Lab 2021. In dem Text wird ausschließlich auf NS-Gedenkstätten Bezug genommen.

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Nora Sternfeld (transkribiert und editiert von Josephine Eckert)

Daraus ergibt sich auch die Frage: Was ist eine inklusive Gedenkstätte? Wen soll sie inkludieren und in welche historische Erzählung? In die deutsche Verbrechensgeschichte? In die Erinnerungskultur, die um sie aufgebaut wurde? Und sollten wir nicht eher mit Max Czollek von Desintegration3 sprechen statt von Inklusion?

Zu einer politischen Positionierung von Gedenkstätten Kann, soll, muss, darf eine Gedenkstätte eine politische Aufgabe haben? Ich würde sagen: ja, natürlich, denn wo eine Institution normativ agiert, agiert sie auch politisch. Eine Gedenkstätte hat sich einerseits damit auseinanderzusetzen, was in der Vergangenheit geschah und andererseits ein Verhandlungsraum dafür zu sein, was das Geschehene für die Gegenwart bedeutet. In beiden Fällen kann das nicht ohne politische Positionierung stattfinden. Es ist eine Bedingung für demokratische Kultur, zu verstehen, dass es in Auseinandersetzungsprozessen keine neutrale Position gibt. Jede Positionierung ist parteiisch. Das heißt nicht, dass wir uns gegenseitig nicht hören können, im Gegenteil. Um unsere gegenseitigen Meinungen hören zu können, muss allerdings zuvor offengelegt werden, dass ein Beitrag zur Diskussion notwendig aus einer bestimmten Position heraus geleistet wird. Auch Gedenkstätten haben eine Position und sind somit parteiisch. Sie können gar nicht den Anspruch einer neutralen Moderatorinnenrolle erfüllen, denn eine Gedenkstätte hat immer eine historische und gesellschaftliche Aufgabe. Das macht ihre Arbeit nicht nur normativ, sondern tatsächlich auch politisch. Eine politische Positionierung von Gedenkstätten ist daher nicht undemokratisch. Dass eine Gedenkstätte ein Raum ist, der sich selbst als antifaschistisch versteht, gerade vor dem Hintergrund seiner Geschichte, ein Raum, in dem Antisemitismus, Sexismus und Rassismus keinen Platz haben, ist eine parteiische Position. Diese Positionierung leitet sich aber aus der Rolle von Gedenkstätten ab, denn sie müssen sich dazu positionieren, was es für die Gegenwart bedeutet, dass dort Leute interniert waren. Sie sind dem verpflichtet, was geschehen ist. Sie haben den Anspruch und die Aufgabe, dass nichts, was den Forscher:innen in die Hände gerät, wissenschaftlich verschwiegen wird, weil es in der Gegenwart vielleicht nicht opportun erscheint. Die Erkenntnisse und Schlüsse, die sich aus der Aufarbeitung der Geschichte ziehen lassen, sind 3

Max Czollek: »Desintegriert euch!«, München 2018.

»Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen«

daher vor dem Hintergrund unseres parteiischen Positionierens in der Gegenwart formuliert. Auch die Geschichte der Gedenkstätten selbst ist Teil des Aushandlungsprozesses ihrer politischen Positionierung. Welche Schwierigkeiten entstanden zum Beispiel mit der Wiedereröffnung oder Weiterführung von NS-Gedenkstätten der ehemaligen DDR in der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren? Die Erzählungen in den DDR-Mahn- und Gedenkstätten, die teilweise früher als in der Bundesrepublik existierten, waren von einem Antifaschismus geprägt, der sehr viele andere Verfolgungsaspekte ausblendete. In den heutigen Gedenkstätten ist es notwendig, über diese ausgeblendeten Aspekte zu sprechen. Jahrzehnte nach dem Umbau dieser Gedenkstätten ist aber auch festzustellen, dass es in vielen Fällen eine Überschreibung der historischen DDRErinnerung mit einem bundesrepublikanischen Diskurs gab, der die Stichworte Reflexivität und Offenheit vor sich trägt. Was für eine Erkenntnis lässt sich daraus gewinnen, dass dieser westdeutsche Diskurs durch den Bruch in den 1990erJahren über die andere Erzählung der DDR gewonnen hat? Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger, davor warnte uns schon Walter Benjamin.4 Die wichtigen und wertvollen Ansätze der kuratorischen Reflexivität, die in den 1990er Jahren auf die DDR-Gedenkstätten übertragen wurden, gelten nicht als politisch, sondern als moderierend, reflexiv, kritisch und multiperspektivisch. Nichtsdestotrotz waren sie parteiisch und zeugen von der politischen Positionierung der Gedenkstätten in den 1990er Jahren. Es wurde durch diese Umwandlung eine andere Geschichte überschrieben und es haben nicht zuletzt Mitarbeiter:innen ihre Arbeit verloren, wovon wiederum andere profitierten. Dieser Prozess ist auch Teil unserer Verantwortung. Wir können daraus eine politische Position im 21. Jahrhundert entwickeln.

Zu einer Re-Politisierung von Gedenkstätten Meine Position ist die Position einer Re-Politisierung von Gedenkstätten. Ich plädiere dafür, dass sie sich eingestehen, dass die Aufarbeitung der Geschichte selbst schon eine parteiische Positionierung ist. Die logische Folge wäre eine Re-Politisierung der Institution Gedenkstätte. Die Vorstellung einer 4

Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund-Adorno (Hrsg): Walter Benjamin zum Gedächtnis. Schriften reihe des Instituts für Sozialforschung, Los Angeles 1942.

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inklusiven Gedenkstätte und die scheinbar neutrale Moderatorinnenrolle, die sich viele Gedenkstätten auferlegen, lässt es nicht zu, sich zu Themen wie dem strukturellen Rassismus in Deutschland zu positionieren. Ich möchte daher eine Reflektion über unsere Rolle(n) in der Gedenkstättenarbeit anstoßen. Ich komme selbst aus dem anderen NS-Nachfolgestaat, aus Österreich. Ich habe während der Zeit der Gedenkstätten-Bewegung in den 1980er Jahren studiert. Dieses Engagement hat mich damals sehr bewegt. Die Bewegung war häufig selbstorganisiert und wurde zu Anfang kaum gehört. Dennoch errang sie zunehmend eine Stimme. Sie wurde schließlich auch dort gehört, wo zuvor andere Diskurse gearbeitet haben. Das war ein interessanter politischer Prozess, der natürlich auch in Abhängigkeit von politischen Interessen verlief. Viele haben sehr viel Engagement in den Versuch gesteckt, eine andere Art von Aufarbeitung auszuhebeln. Diese Ereignisse waren für einige Jahre sehr prägend und haben auch tolle Publikationen inspiriert. Die ganze Gedenkstättenbewegung hat sich in diesem Zuge zunehmend institutionalisiert, was schließlich, wie in allen kulturellen Feldern, zu ihrer Neoliberalisierung führte. Die Neoliberalisierung der deutschen Gedenkstätten ist ein interessantes Phänomen. Zwar schafften es die Engagierten tatsächlich in den Gedenkstättenbetrieb, jedoch standen sie nun vor anderen Problemen, die sie nicht durch ihre kritische Reflexivität lösen konnten. Es ging auf einmal um private und politische Gelder und um das großangelegte Programm der Institution Gedenkstätte in Deutschland. Es ging immer mehr um die ach so entleerten Worte der Gegenwart. Aus dieser Perspektive heraus befrage ich solche leeren Worte. Ich befrage den Begriff der inklusiven Gedenkstätte und das Konzept der Identität von Opfergruppen. Ist es möglich, dass diese Konstruktionen aus einem Blick heraus entstehen, der von außen Konkurrenzen wahrnimmt, wo vielleicht tatsächlich gar keine starken Konkurrenzen existieren? Natürlich gibt es Konflikte und gegenläufige Interessen von Opfergruppen, aber meine These ist, dass diese durch die versucht neutrale Position der Gedenkstätten, die sich sowohl auf die eine als auch die andere Seite schlägt, verstärkt werden. Das macht es vielen Leuten schwer. Angesichts der politischen Phänomene im Deutschland der Gegenwart bräuchte es eine solidarische Position, statt einer, die die Gräben vertieft. Die Arbeit von Gedenkstätten ist für unsere Gesellschaft von großem Wert. Im Rahmen dieses Podiums sollen jedoch auch einige Zweifel an der Art und Weise, wie sie arbeiten, zur Sprache kommen. So macht beispielsweise die Notwendigkeit dafür, nach einem bestimmten Schema arbeiten zu

»Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen«

müssen, um finanziert zu werden, deutlich, dass Gedenkstätten neoliberalen politischen Forderungen unterliegen, wie es beispielsweise anhand der Logik der Wiedervereinigung gezeigt wurde. Aber hat eine Gedenkstätte nicht auch andere Verpflichtungen, als solche für die sie finanziert wird, und gibt es nicht auch andere Forderungen, die an sie gestellt werden könnten? Immerhin erkämpften die Überlebenden selbst die Aufarbeitung der Geschichte, woraus die Einrichtung von Gedenkstätten folgte. Die Forderungen nach Erinnerung von den Überlebenden-Organisationen gingen den Verpflichtungen für eine öffentliche Förderung lange voraus. Nicht zuletzt sind Gedenkstätten auch in der politischen Gegenwart verortet. Daher ist auch die Tatsache, dass in Deutschland mit dem NSU wieder Nazis Menschen ermordeten, für die Arbeit von Gedenkstätten bedeutsam. Statt diese Morde anzuerkennen glaubte die Gesellschaft in allen ihren Instanzen und Strukturen, von der Polizei über die Medien bis zu den Demonstrierenden, viel zu lange, dass nicht Nazis diese Menschen umgebracht hatten, sondern dass sich Migrant:innen untereinander umbringen würden. Es kam zu einer Kriminalisierung der Hinterbliebenen und der Ermordeten. Es hat lange gedauert, in dieser deutschen Gesellschaft, bis klar war: das waren NaziMorde. Für eine Gesellschaft stellt sich die Frage, wie sie mit nationalsozialistischen Morden umgehen kann und will. Diese Frage steht meines Erachtens in einem Zusammenhang damit, was die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte in Gedenkstätten in der Gegenwart bedeutet und was sie für die Gesellschaft leisten kann. Auch in Österreich muss über die Erinnerung an die Nazi-Geschichte und über ihr Verhältnis zur Gegenwart gesprochen werden. Denn ohne eine politische Positionierung ist eine Teilhabe an den Diskursen der Gegenwart nicht möglich. Wir müssen uns positionieren zu dem, was passiert. Das bedeutet auf der einen Seite, dass es wichtig ist, die Arbeit der Gedenkstätten fortzuführen, mehr Geld dafür zu verlangen und diese Institutionen nach außen deutlich zu (re)präsentieren. Allerdings müssen sich Gedenkstätten auch die Frage stellen, welche gesellschaftliche Rolle sie einnehmen und welche Position sie damit repräsentieren, wenn sie zwar Vertreter:innen der verschiedensten politischen Richtungen begrüßen, sich zugleich aber nicht zu den nationalsozialistisch motivierten Morden des NSU äußern. Dann stellt sich die Frage, worum es Gedenkstätten und ihren Vertreter:innen eigentlich geht.

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Nora Sternfeld (transkribiert und editiert von Josephine Eckert)

Gedenkstätten als Kontaktzonen Das Konzept der Gedenkstätten als Kontaktzonen verdanke ich Mary Louise Pratt5 und James Clifford6 . Sie haben mit dem Begriff in den 1990er Jahren und von der postkolonialen Theorie aus denkend den vermachteteten Raum des Aufeinandertreffens von unterschiedlichen Positionen bezeichnet. Die Begriffsschöpfung machte es ihnen möglich, das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen nicht nur räumlich, sondern auch in seinen hierarchischen Verhältnissen zu beschreiben. Mary Louise Pratt konnte darüber eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf Literatur in kolonialen Kontexten entwickeln. Sie legte dar, dass Leute auch unter Bedingungen der Kolonisierung Handlungsmacht besitzen. Insofern es einen Raum gibt, gibt es nicht nur die Macht der Kolonisator:innen, sondern es gibt auch das Handlungsfeld der Kolonisierten. Ihr jeweiliges Handeln ist verschränkt. Der Begriff Kontaktzone lässt die Auseinandersetzung mit dem marginalisierten Handlungsfeld zu, während er dennoch den massiven Unterschied innerhalb von Herrschaftsund Gewaltbedingungen berücksichtigt. Den Begriff denke ich zusammen mit dem Begriff des Agonismus bei der Demokratie-Theoretikerin Chantal Mouffe7 . Ihr geht es darum, die demokratische Gesellschaft als solche zu begreifen, in der auch tödliche Konflikte sublimiert werden können. Es geht Mouffe mit dem Begriff um eine Einordnung demokratischer Aushandlungsprozesse, in denen es keine unparteiische Position gibt. Diese Überzeugung habe ich von ihr übernommen: Demokratie ist immer konflikthaft und sie ist immer parteiisch. Aus diesen beiden Theorien entwickle ich meinem Begriff der Kontaktzone, der hilft zu verstehen, was in Gedenkstätten in der Gegenwart geschieht. Ich versuche damit Gedenkstätten in einer situiert universalistischen Position zu setzen, da ich eine neutrale Moderatorinnenrolle von Gedenkstätten für nicht umsetzbar halte. Stattdessen sollten sie eine gesellschaftliche Position einnehmen, die Konflikte anerkennt und formuliert. Es geht nicht darum, anderen ihre Identitätsprobleme zuzuschreiben. Nein, es gilt anzuerkennen, dass unsere Gesellschaft konfliktbelastet und heterogen ist. Für mich

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Vgl. Mary Louise Pratt: Arts of the Contact Zone, in: Profession. New York: Modern Language Association. 91, 1991, S. 33–40. Vgl. James Clifford: Routes. Travel and translation in the late twentieth century, Cambridge/Massachusets 1997. Vgl. z.B. Chantal Mouffe: Agonistics. Thinking The World Politically, London 2013.

»Es geht mir darum, dass die Gedenkstätten sich aus der Positionierung nicht rausnehmen«

heißt politische Positionierung daher nicht (nur) identitätspolitische Positionierung. Eine Positionierung ist in der Gesellschaft auch abhängig von Herkunft und sozialen Zusammenhängen. Sie ist aber auch nicht nur durch sie allein definiert. Daher sollte niemand auf irgendeine Identität reduziert werden. Allerdings dürfen im Umkehrschluss auch die Gedenkstätten sich nicht aus der Positionierung rausnehmen, denn sie sind zwar keine Täter:innen-Nachfahren, aber durchaus Institution, an deren Orten Verbrechen stattgefunden haben. Gerade das macht sie ja aus. Aus diesem Erbe ergibt sich eine bestimmte Verantwortung und eine bestimmte Rolle, die die Gedenkstätte für Gesellschaft übernehmen muss. Dafür muss sie sich politisch positionieren, beispielsweise in Bezug auf aktuelle Nazi-Morde und rechten Terror. Eine Positionierung in der Gesellschaft ist allerdings ebenso abhängig davon, welche Rolle einem Menschen oder einer Institution in dieser Gesellschaft zugeschrieben werden, also welche Formen von Vergeschlechtlichung, Rassifizierung und sozialer Positionierung existieren. Darüber komme ich zurück zu der Position von Mac Czollek, der »Desintegriert euch!« fordert. Anstelle des Konzepts der Inklusion schlägt Czollek vor, dass Personen die Rolle, die ihnen von außen aufgelegt wird, auch zurückweisen können: Weist zum Beispiel zurück, dass ihr als dritte Generation die native informants in dieser Gesellschaft seid. Sagt stattdessen: Nein, ich habe ein anderes Problem, ich habe eine andere Position. Ich stehe auch solidarisch mit anderen, von denen mir gesagt wird, ich stünde mit ihnen in Konkurrenz. Die Gedenkstätten verstärken mit ihren normativen Logiken und ihren neoliberalen Funktionsweisen die Konkurrenz zwischen Opfergruppen. Sie spielen verschiedene Identitäten gegeneinander aus, wenn sie versuchen, alle Sichtweisen in eine neutrale Position zu inkludieren. Ich aber möchte an einem Diskurs arbeiten, in dem es möglich wird, Solidarität zu formulieren. Das Konzept der Opferkonkurrenz als Beschreibung für Konflikte, die mit den bestehenden Diskursen in Gedenkstätten zu tun haben, bringt Opfergruppen gegeneinander in Stellung. Ich lehne diesen Begriff daher ab und spreche mich dafür aus, eine andere Form der Benennung für diese Situationen zu finden. Die Gegenforderung »Desintegriert Euch« ließe sich meines Erachtens für die Gedenkstätten produktiv machen. Ich bin gespannt was passiert, wenn wir von einer anderen Perspektive her auf die Arbeit von Gedenkstätten denken.

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Gedenkstätten heute im Spannungsfeld von Erwartungsdruck, Opferkonkurrenzen und falschen Maßstäben Thomas Schaarschmidt

Für jene Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die bis in die 1980er Jahre gegen Verdrängung und Schlussstrich-Mentalität, gegen ein entdifferenziertes Opferdenken und die Vernachlässigung der historischen Orte der Verfolgung, die Relativierung der NS-Verbrechen und die Ausblendung ganzer Opfergruppen angerannt sind, mögen Gedenkstätten, wie wir sie heute kennen, wie staatstragende Orte der Affirmation eines historisch-politischen Grundkonsenses erscheinen, der sich in den Debatten nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren herausgemendelt hat. Seither erleben wir eine Institutionalisierung, Professionalisierung und Modernisierung der Gedenkstätten, die durch die verlässliche Finanzierung aus Bundes-, Landes- und kommunalen Mitteln ermöglicht wird. Galt es in den 1970er und 1980er Jahren, viele historische Orte erst einmal freizulegen, um sie als Beweismittel für Verfolgung und Alltag in der Diktatur öffentlich sicht- und erfahrbar zu machen, sehen wir uns heute einer ständig wachsenden Gedenkstättenlandschaft gegenüber – mit großen, denkmalgerecht gestalteten Arealen, anspruchsvollen Ausstellungen auf hohem wissenschaftlichen Niveau, modernen Medienangeboten und innovativen pädagogischen Programmen. So wichtig und richtig es ist, Gedenkstätten im Kontext ihrer Entwicklung seit der Nachkriegszeit zu verstehen, so irreführend ist es, die Gedenkstätten von heute an ihren Vorläufern und deren Funktionen bis in die 1980er Jahre zu messen. Diese Unterscheidung fällt uns erstaunlicherweise leichter, wenn wir auf die Mahn- und Gedenkstätten der DDR zurückblicken, die nach 1989/90 der Stein des Anstoßes waren, um die Aufgaben von Gedenkstätten öffentlich zu debattieren. Als inszenierte Orte des antifaschistischen Narrativs dienten

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sie der Legitimation der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung der DDR, was zum Ende der Ära Honecker sogar noch an Bedeutung gewann, als die ideologisch fundierten Zukunftsvisionen der SED im realsozialistischen Alltag zerrieben wurden. Während die offizielle Gedenkkultur der DDR mit dem Fall der Mauer delegitimiert wurde und unterging, ist es schwieriger, eine Zäsur für die Transformation der Gedenk- und Erinnerungskultur im Westen und damit letztlich auch im wiedervereinigten Deutschland zu bestimmen. Unbestreitbar vollzog sich auch in der alten Bundesrepublik seit den späten 1970er Jahren ein fundamentaler Wandel in der historisch-politischen Fundierung der freiheitlich-demokratischen Ordnung, der sich allerdings schlecht an einzelnen Ereignissen wie dem Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Marinerichters Hans Filbinger 1978, der Ausstrahlung der »Holocaust«-Serie ein Jahr später oder der Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 festmachen lässt. Wie grundlegend sich die Einstellung zu Gedenkstätten in den vergangenen 35 Jahren verändert hat, mag ein Zitat von Helmut Kohls Pressesprecher Peter Boenisch illustrieren. Für den 5. Mai 1985, drei Tage vor Weizsäckers Ansprache im Bundestag, hatten sich der Kanzler und US-Präsident Ronald Reagan darauf verständigt, vor dem Besuch auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg die Gedenkstätte Bergen-Belsen zu besuchen, wo Kohl bereits zwei Wochen zuvor eine Rede gehalten hatte. Dessen ungeachtet, kommentierte Boenisch den Staatsbesuch in der Gedenkstätte mit den Worten: »Das ist ja das letzte, dass man noch 40 Jahre nach Kriegsende durchs KZ laufen muss.«1 Und mit dieser – aus heutiger Perspektive skandalösen – Ansicht stand der Bundespressesprecher bei weitem nicht allein. Wie gespalten die bundesdeutsche Gesellschaft auch noch Mitte der 1980er Jahre in der Erinnerung an die NS-Verbrechen war, zeigte sich nur ein Jahr später im »Historikerstreit«, bei dem es vor dem Hintergrund des Kalten Krieges an der Oberfläche um die Vergleichbarkeit nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltverbrechen ging, in der Tiefe aber um das historisch-politische Selbstverständnis des westdeutschen Teilstaats.

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Das Zitat ist im Spiegel-Artikel »›Auf Kohls Rat hören wir nicht wieder‹. Das deutschamerikanische Trauerspiel um das Gedenken an den 8. Mai 1945« vom 28.04.1985 zu finden, online abrufbar unter: https://www.spiegel.de/politik/auf-kohls-rat-hoerenwir-nicht-wieder-a-e9414cbf-0002-0001-0000-000013542066 (zuletzt abgerufen am 28.01.2022).

Gedenkstätten heute

Als nach dem Fall der Mauer in den beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zum Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur die Eckpunkte für das historische Fundament des wiedervereinigten Deutschlands ausgehandelt wurden, waren die Grundpositionen des »Historikerstreits« immer noch präsent. Sie mischten sich nun mit den Erwartungen von DDR-Bürgerrechtlerinnen und -Bürgerrechtlern, ehemaligen Häftlingen und Flüchtlingen, auch die politischen Verfolgungserfahrungen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR angemessen in Gedenkstätten zu repräsentieren. Im Ergebnis führten diese Debatten zum einen zu der bereits genannten Entscheidung, die Gedenkstätten auskömmlich zu finanzieren, um ihren Um- und Ausbau voranzutreiben, zum anderen zu der Erwartung, dass sie über die »doppelte deutsche Diktaturgeschichte« aufklären sollten, um die Deutschen in Ost und West gegen alle anti-demokratischen Verlockungen zu imprägnieren und die gesamtdeutsche Demokratie als grundlegende Lehre aus der Geschichte zu legitimieren. War es in den Erinnerungskonflikten und -konkurrenzen der alten Bundesrepublik lange Zeit vor allem darum gegangen, die Leidenserfahrungen der deutschen Mehrheitsbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, bei den Vertreibungen aus den Ostgebieten und im kommunistischen Machtbereich gegen das Gedenken an die Opfer der NS-Diktatur aufzuwiegen, formierte sich in den Debatten der 1990er Jahre ein neuer antitotalitärer Grundkonsens, der aber anders als im Kalten Krieg einen sensiblen Umgang mit den unterschiedlichen Verfolgungskontexten und ihren Opfern verlangte. Dass die Rückkehr zu einem entdifferenzierten Opfergedenken nun jedoch auf breiten politischen Widerstand stoßen würde, zeigten die heftigen Reaktionen auf Helmut Kohls Entscheidung, die Neue Wache Unter den Linden 1993 zur zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu machen. Einen Weg, wie in Zukunft mit Opferkonkurrenzen in Gedenkstätten umgegangen werden sollte, wies zur selben Zeit Bernd Faulenbachs Formel, dass es keine »Nivellierung der NS-Verbrechen« durch die Erinnerung an das kommunistische Unrecht und keine Bagatellisierung der »Erinnerung an die Verbrechen unter der sowjetischen Besatzung und SED-Herrschaft […] unter Hinweis auf das NS-Unrecht« geben dürfe.2 Dieses Postulat stellte all jene Gedenkstätten vor enorme Herausforderungen, die in den neuen Bundesländern sowohl an KZs, Gefängnisse, Kriegsgefangenenlager oder Stätten des 2

Zitiert nach Habbo Knoch: Geschichte in Gedenkstätten. Theorie, Praxis, Berufsfelder, Tübingen 2020, S. 81.

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Krankenmords in der NS-Diktatur als auch an Speziallager oder Haftorte von SBZ und DDR erinnern sollten. Da in Gedenkstätten das Gelände mit seinen baulichen Überresten das wichtigste Exponat ist, derselbe Raum aber sowohl vor als auch nach 1945 genutzt worden war, waren Konkurrenzen verschiedener Opfergruppen um ihre Repräsentation im Raum des Gedenkens fast unvermeidlich. Hatte Bernd Faulenbach versucht, den drohenden Kontroversen mit seiner »Kompromissformel«3 die Spitze zu nehmen, so taten sich schon bald drei Konfliktfelder auf, die alle eng miteinander zusammenhingen. Obwohl nun in bestehenden und neuen Gedenkstätten an die Repression durch sowjetische Besatzungsmacht, DDR-Justiz und Stasi erinnert wurde, empfanden sich viele ehemalige Häftlinge als »Opfer zweiter Klasse«, weil sie ihr Schicksal im Vergleich zu den Verfolgten der NS-Diktatur nur unzureichend repräsentiert sahen. Gleichzeitig erhoben sich regelmäßig Proteste, wenn bei der Erinnerung an Speziallager und sowjetische Militärjustiz deren Vorgeschichte mit NS-Terror, Holocaust und Vernichtungskrieg ebenso unzureichend thematisiert wurde wie die persönliche Verantwortung nach 1945 Internierter und Verurteilter. Ging es hier jeweils um die Gewichtung der Erinnerung an NS-Diktatur und kommunistische Repression am Ort der Gedenkstätten, resultierte die dritte Konfliktlinie in den neuen Bundesländern aus Abwehrreaktionen gegen eine Meistererzählung, die nicht nur die SED-Diktatur, sondern die gesamte DDR zu delegitimieren schien. In den Auseinandersetzungen der 1990er Jahre, wie mit der Repression in SBZ und DDR umzugehen sei, war es ein schlagendes Argument, dass sich eine Verdrängung wie nach 1945 nicht wiederholen dürfe und stattdessen so schnell wie möglich eine Historisierung der Vergangenheit im Sinne einer schonungslosen Aufarbeitung erfolgen sollte. Das war gut gemeint, ignorierte aber, dass es auch im Westen Jahrzehnte gedauert hatte, bis der Generationenwechsel in den 1970er und 1980er Jahren eine offenere Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur ermöglicht hatte. Bei vielen ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern erweckte die Forderung den Eindruck, als sollte ihnen ein Diktatur-Narrativ übergestülpt werden, das sich überhaupt nicht oder nur bedingt mit ihren persönlichen Erinnerungen an die zweite Dekade der Ära Honecker in Einklang bringen ließ und ihre persönliche Lebensleistung zu entwerten drohte.

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Ebd.

Gedenkstätten heute

Anders als die NS-Diktatur war die DDR nicht in einem beispiellosen Krieg untergegangen, in dem die Deutschen unvorstellbare Schuld auf sich geladen hatten, sondern in einer schleichenden Erosion, in der die SED zwar die Macht mit den Mitteln der Diktatur verteidigte, ihr aber das ideologische Deutungsmonopol zunehmend entglitt, so dass sich gesellschaftliche Freiräume ergaben, die eigensinnig besetzt werden konnten. Verglichen mit dem apokalyptischen Ende des »Dritten Reichs«, in dem sich der schrankenlose Terror in den letzten Kriegsmonaten zunehmend gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hatte, erschienen die 1980er Jahre vielen Ostdeutschen im Rückblick wie die letzten Zuckungen eines diktatorischen Systems, das nur noch zahn- und kopflos reagierte, in denen aber ein wahres »Leben im falschen« möglich war.4 Die Institutionalisierung, Umstrukturierung und Professionalisierung der deutschen Gedenkstätten seit den 1990er Jahren ging also von vornherein mit tiefen erinnerungskulturellen Verwerfungen einher. Dass Zeitgeschichte Streitgeschichte ist und sich Erinnerungsgemeinschaften zu einem großen Teil durch die Abgrenzung voneinander definieren und konstituieren, kann gar nicht oft genug betont werden. Auch wenn Gedenkrituale wie zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar den Eindruck großer Einigkeit vermitteln wollen, ist das Nebeneinander unterschiedlicher Erinnerungskulturen und Konflikte zwischen ihnen in pluralistischen Gesellschaften der Normalfall. Theoretisch hätte es die Möglichkeit gegeben, dass sich einzelne Erinnerungsgemeinschaften ihre eigenen Gedenkorte schaffen, wie im Falle der Denkmäler für die in der NS-Diktatur verfolgten und ermordeten Homosexuellen, Sinti und Roma, oder Gedenkstätten zu fest umrissenen Verfolgungskontexten einzurichten wie in der Stasi-Haftgedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Im Gebäude der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der MfS-Bezirksverwaltung Potsdam in der heutigen Gedenkstätte Lindenstraße scheiterte eine derart eindeutige Zuschreibung schon daran, dass der Haftort bis 1945 Instrument der NS-Justiz gewesen war und dort seit 1934 ein Erbgesundheitsgericht mit Sterilisierungsbeschlüssen die nationalsozialistische RassenhygienePolitik durchgesetzt hatte.5 Als staatlich finanzierte Institutionen sahen sich die meisten Gedenkstätten folglich mit der Aufgabe konfrontiert, nicht die Geschichte, sondern eine

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Christoph Dieckmann: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin 1998. Siehe den Beitrag von Amélie zu Eulenburg über die Gedenkstätte Lindenstraße in diesem Band.

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Vielzahl von Geschichten zu repräsentieren, die erst zusammen genommen ein umfassendes Bild der Verfolgungserfahrungen vermitteln. Um die ganz unterschiedlichen und teils gegenläufigen politischen und gesellschaftlichen Erwartungen aufzufangen und zu integrieren, gingen sie den Weg, möglichst vielen Opfergruppen in ihren Ausstellungen und pädagogischen Angeboten gerecht zu werden. Das breite Spektrum, das sie damit eröffneten, leistete einen wichtigen Beitrag zu einem differenzierten Bild der Lagergesellschaft in den KZ und der Zusammensetzung der politischen Häftlinge in der DDR, verlangte aber gleichzeitig eine präzise zeitliche Einordnung, da sich die Funktion und Gestalt der Haftorte sowohl vor als auch nach 1945 immer wieder verändert hatten. Weder waren 1938 und 1944 dieselben Menschen in den deutschen Konzentrationslagern eingesperrt, noch sahen die Zellen in den vom NKWD bis 1952 genutzten Untersuchungshaftanstalten so wie in den 1980er Jahren aus, bevor sie in Gedenkstätten umgewandelt wurden. War es schon eine extrem anspruchsvolle Aufgabe, am selben Ort, der sich über die Jahrzehnte immer wieder verändert hatte, unterschiedliche Verfolgungsschicksale in zeitlicher Dimension darzustellen, gehört es mittlerweile zum Anspruch fast aller Gedenkstätten, auch die Nachgeschichte der Verfolgungsorte zu reflektieren und mit Fragen zur Nachnutzung und Genese des Gedenkens einen Bogen zur heutigen Gestalt und Funktion der Gedenkstätten zu schlagen. Parallel zur Entwicklung der Täter-Forschung in der Historiographie wurde es für die Gedenkstätten zudem seit den späten 1990er Jahren zum Standard, neben den Opferbiografien auch die Täter zu dokumentieren. Mit ihrer Einbeziehung und dem Abschied von der Opferzentrierung ließ sich ein komplexes Bild der Verfolgungszusammenhänge vermitteln, das mit dem Anspruch der Gedenkstätten einherging, nicht nur isolierte Orte des Terrors zu repräsentieren, sondern diese im Kontext politischer Prozesse und gesellschaftlicher Veränderungen zu verstehen. Damit sollte der irrigen Wahrnehmung entgegengewirkt werden, die Haftorte wären die »emblematischen und prototypischen« Orte der Diktatur, so dass alle anderen Orte »historisch entlastet […], entschuldet und dekontaminiert« würden, so Matthias Heyl zu den KZ-Gedenkstätten Auschwitz und Ravensbrück.6

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Matthias Heyl: »Authentizität – Aura – Aspik.« Im Spannungsfeld von Gedenkstättenpädagogik und Besuchererwartungen, in: Axel Drecoll/Thomas Schaarschmidt/ Irmgard Zündorf (Hg.): Authentizität als Kapital historischer Orte? Die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Erleben von Geschichte, Göttingen 2019, S. 157–173, hier S. 169f.

Gedenkstätten heute

Der hehre Anspruch der Gedenkstätten, Verfolgung und Terror in der NS-Diktatur und in der Zeit der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur ebenso umfassend wie differenziert zu repräsentieren, barg allerdings immer die Gefahr, sich und die Besucherinnen und Besucher zu überfordern, die sich in vielen Gedenkstätten ohnehin mit einem schwer zu deutenden Nebeneinander von Relikten und Zeichen unterschiedlicher Zeitschichten konfrontiert sehen. Hinzu kamen und kommen hohe, teils unrealistische Erwartungen, die von außen an die Gedenkstätten herangetragen werden und sich zudem permanent verändern. So sollen sie als Lernorte nicht nur über Repression in unterschiedlichen diktatorischen Regimen aufklären,7 sondern gleichzeitig das Vertrauen in Demokratie und Menschenrechte stärken, antidemokratischen Verlockungen entgegentreten und die dargestellten Verfolgungszusammenhänge im Sinne einer »multidirektionalen Erinnerung« (Michael Rothberg) in Relation zu anderen Menschheitsverbrechen verhandeln. Jenseits dieser pädagogischen Anforderungen dienen sie nach wie vor als Orte ritualisierten Gedenkens,8 das neben der Trauer um die Ermordeten für die Legitimierung unterschiedlicher Meistererzählungen instrumentalisiert werden kann. Die größten Herausforderungen gehen aber von den sich – mit wachsender zeitlicher Distanz – wandelnden Erwartungen der Gedenkstättenbesucherinnen und -besucher aus, deren Zusammensetzung generationell und kulturell immer diverser wird. Bedenkt man den enormen Entwicklungsschub, den die Gedenkstätten seit den 1990er Jahren erlebt haben, die zentrale Bedeutung, die die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der NS-Diktatur seit der Jahrtausendwende für die Gedenkkultur des wiedervereinigten Deutschlands hat, und die hohen und teils kaum zu vereinbarenden Erwartungen, die sich an die Gedenkstätten richten, wirkt es wie eine romantische Verklärung der »Generation Aufarbeitung«, die Kämpfe gegen Verdrängung und Schlussstrich-Mentalität in der alten Bundesrepublik zum Maßstab ihrer Arbeit in den 2020er zu nehmen. Waren sie bis in die 1980er Jahre der gegenkulturelle Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft, so können »die wichtigsten Ziele der Gedenkstättenbewegung« mit der Institutionalisierung der Gedenkstätten »als erreicht gelten«, wie Habbo Knoch 2020 konstatierte.9

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Verwiesen sei hier auf den Beitrag von Kolja Buchmeier und Sjoma Liederwald über die Gedenkstätte Sachsenhausen in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Insa Eschebach in diesem Band. Knoch: Geschichte in Gedenkstätten, S. 158.

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Mit ihrer professionellen und innovativen Bildungsarbeit sind die meisten deutschen Gedenkstätten heute aber alles andere als Orte der Affirmation oder einer selbstgefälligen Nabelschau. Als Foren der Aushandlung konkurrierender Opfererzählungen und kontroverser Geschichtsdeutungen sind sie zwangsläufig politische Orte, die sich permanent neu erfinden (müssen), um auf die sich ständig verändernden gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren und damit all jenen populistischen Gegenerzählungen entgegenzutreten, für die die Verbrechen der Vergangenheit nur ein »Vogelschiss« sind.

»Erinnerung ohne Zwischenfälle« Zivilgesellschaftliches Engagement und konkurrierende Narrative in der Gedenkstätte Ravensbrück Insa Eschebach

»Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden«, so Hannah Arendt in ihrem Gespräch mit Günter Gaus im Jahr 1964. Der Satz hat an Aktualität bis heute nicht verloren. In der Tat haben sich die nationalsozialistischen Verbrechen als ein ebenso umstrittenes wie »unverdauliches Erbteil unserer Geschichte«1 erwiesen. Bereits in der frühen Nachkriegszeit hat sich kein kohärentes Gedächtnis durchsetzen können. Die geschichtspolitischen Konstellationen in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften waren stark durch den Systemkonflikt zwischen Ost und West geprägt. Während in der SBZ und späteren DDR die antifaschistischen Widerstandskämpfer mit unbedingtem Anspruch auf Nachfolge und Führung im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, dominierten in Westdeutschland zunächst religiöse Deutungsmuster. Das ›Dritte Reich‹ galt als eine »Welt ohne Gott« und wurde als Resultat der Säkularisierung interpretiert. Die Rechristianisierung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft sollte nun aus der selbst verursachten Katastrophe herausführen. Dementsprechend begann man, Orte ehemaliger Konzentrationslager mit christlichen Symbolisierungen zu besetzen: In Flossenbürg wurde 1947 die Sühnekapelle „Jesus im Kerker« errichtet, in Dachau im Dezember 1945 eine auf dem ehemaligen Appellplatz gebaute »Heilig-Kreuz-Kirche« geweiht, die 1960 durch die Wallfahrtskapelle »Todesangst Christi« ersetzt wurde. 1967 ist ein evangelischer Kirchenbau westlich und eine jüdische Gedenkstätte östlich der »Todesangst-Christi-Kapelle« errichtet worden. In der Ortschaft Bergen

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Per Leo, Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur, Stuttgart 2021, S. 23.

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wurde 1961 kurz nach dem Mauerbau die »Sühnekirche vom kostbaren Blut« geweiht.2 Mit dem Schwinden der Systemgegensätze begann in den 1980er und 90er Jahren ein tiefgreifender Prozess der geschichtspolitischen Neuorientierung in Deutschland wie überhaupt in West- und Osteuropa. Unter anderem wurde die Frage verhandelt, inwiefern die jeweils eigene Gesellschaft in den NS-Herrschaftsapparat und die NS-Verbrechen involviert war. Mit der Geschichts- und Gedenkstättenbewegung in Deutschland haben die „Kriegsund Nachkriegskinder«, wie Per Leo argumentiert, »die Not ihrer inneren Verwaistheit« überwunden, »indem sie eine Kultur der produktiven Heimatkritik stifteten«.3 Zahllose Projekte, Initiativen, Gedenkstättengründungen, Ausstellungen usw. zeugen seither von der Vielfalt möglicher Erzählungen über die Jahre 1933 bis 1945. Wir hatten es also nie mit einem geschlossenen, homogenen Vergangenheitsbezug zu tun, sondern mit einem Mosaik verschiedener Schwerpunktsetzungen und Perspektiven in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte. Hinzu kommt, dass soziale Gruppen, Gemeinschaften und auch Nationen jeweils eigene Geschichtsbilder entwickeln und dieselben Ereignisse retrospektiv mit unterschiedlichen Akzenten und Deutungen besetzen – ein Umstand, der zu durchaus konkurrierenden Narrativen um die Vergangenheit führen kann. Schließlich sind die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus ganz wesentlich durch zeitgenössische Einstellungen, medial vermittelte Geschichtsbilder und geschichtspolitische Prämissen geprägt, denn: »In der Erinnerung zeigt sich nicht die Vergangenheit des Vergangenen, sondern die Vergangenheit der Gegenwart, also das, was unter gegenwärtigen Bedingungen von der Vergangenheit kollektiv erinnert wird«, wie Astrid Messerschmidt formuliert.4 Wie weit der gesellschaftliche Konsens in Hinblick auf die Bedeutung von ›Auschwitz‹ auch reichen mag – auf jeden Fall hat sich, wie Ulrike Jureit und Christian Schneider geschrieben haben, der Wunsch einer Identifizierung mit 2

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Vgl. Insa Eschebach, Christliche Symbolisierungen in den KZ-Gedenkstätten der Bundesrepublik Deutschland, in: Dies., Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2005, S. 163 – 184. Leo, Tränen, S. 67. Astrid Messerschmidt, Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit, in: Claudia Lenz u.a. (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg und Münster 2002, S. 103–114, hier S. 103.

»Erinnerung ohne Zwischenfälle«

den Opfern nachgerade zu einer „erinnerungspolitischen Norm« entwickelt.5 Auch Konrad Jarausch konstatiert ein Bestreben zivilgesellschaftlicher Gruppen, »ihre Version der Vergangenheit durchzusetzen, um dadurch Lehren (…) für die Allgemeinheit zu bestimmen«. Geschichtsbilder werden gebraucht, um spezifische »Ordnungsvorstellungen« zu legitimieren und eine Gruppenidentität »durch Ableitung aus einer gemeinsamen Vergangenheit« zu schaffen.6 Dabei erweisen sich Akte öffentlichen Gedenkens als besonders geeignet, um immer auch spezifische politische und soziale Interessen zu artikulieren: Denn gedacht wird stets nur der eigenen Toten. Der Grund dafür ist das Medium des Gedenkens selbst, dessen gruppenlegitimatorische Funktion die Toten der Anderen weitgehend ausschließt. Die Historikerin Jenny Wüstenberg hat eine hilfreiche Differenzierung eingeführt: Sie unterscheidet zwischen einem »öffentlichen Gedenken, das die Mehrheitsmeinung repräsentiert und einem Gedenken, das Werte fördert, die die Mehrheitsmeinung heraus fordern könnten.«7 Anders formuliert: Es gibt so etwas wie eine »Grundspannung zwischen einem repräsentativen und einem normativen Gedenkregime«.8 Im Unterschied zu den staatstragenden, repräsentativen Akten des Gedenkens wie das Niederlegen von Kränzen durch Politiker:innen zielt das normative Gedenkregime auf Protest. Wüstenberg spricht in diesem Zusammenhang von einem »Erinnerungsprotest«: In zivilgesellschaftlich initiierten Akten des Gedenkens suchen Aktivist:innen, öffentlich Veränderungen normativer Setzungen »durch konfrontative Methoden« zu forcieren.9 Zivilgesellschaftlich initiierte Akte des Gedenkens, die auf normativen Wandel zielen, die also gegebene erinnerungskulturelle Schwerpunktsetzungen verschieben, erweitern oder verändern wollen, können bisweilen in einen direkten Widerspruch zur historischen Forschung geraten. Ein Beispiel für dieses Missverhältnis sind die 1065 schwarzen Kreuze, die im Jahr 2004 am Checkpoint Charlie in Berlin installiert wurden und die den sogenannten Mauertoten gewidmet waren; einige dieser Kreuze waren mit Namen der 5 6

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Ulrike Jureit und Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 10. Konrad H. Jarausch, Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz? in: Ders. und Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M. 2002, S. 9–38, hier S. 14f. Jenny Wüstenberg, Zivilgesellschaft und Erinnerungspolitik in Deutschland seit 1945, Berlin 2020, S. 20. Ebenda S. 22. Wüstenberg, Zivilgesellschaft, S. 23

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Toten versehen. Dieser neue Gedenkort geriet aus gleich zwei Gründen in die Kritik. Zum einen, weil die Zahl der 1065 Kreuze historisch nicht korrekt war (eine Studie belegt 138 Mauertote) und zum anderen, weil die Gestaltung des Gedenkortes nicht »dem ästhetischen Empfinden einer diversen und multireligiösen Öffentlichkeit« entsprach.10 Das Gedenken der Mauertoten ging hier einher mit der Forderung, der Diktatur in der DDR möge vergleichbare Aufmerksamkeit zukommen wie dem Nationalsozialismus, ein Konflikt, der bekanntlich lange Zeit auch die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen in Atem hielt. Die Skandalisierung eines historischen Sachverhaltes durch zivilgesellschaftliche Gruppen wie die absurde Steigerung der tatsächlichen Zahl der Mauertoten am Checkpoint Charlie 2004 kann wie gesagt in Widerspruch stehen zu den Geltungsansprüchen der historischen Forschung. Hinzu kommt die gruppenzentrierte Selbstbezogenheit, die Ressentiments, die polarisierenden Sprechmuster mancher zivilgesellschaftlicher Initiativen, die den Umgang mit ihnen nicht gerade einfach machen. Ein Spannungsverhältnis existiert also nicht nur zwischen den repräsentativen und normativen Gedenkregimen, sondern auch zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und einem kritischen Wissenschaftsdiskurs. Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager sind Orte, an denen sich dieses Spannungsverhältnis gegenwärtig besonders deutlich artikuliert. Im Unterschied zu den eher monologisch strukturierten KZ-Gedenkstätten der DDR und der alten Bundesrepublik repräsentieren KZ-Gedenkstätten heute nicht mehr nur eine Erinnerung bzw. eine Botschaft, sondern sind »Kristallisationspunkte« zahlreicher, durchaus divergierender Narrative.11 Ein Beispiel ist die Gedenkstätte Ravensbrück am Ort des zentralen Frauen-Konzentrationslagers des NS-Regimes, eingerichtet 1939 etwa 100 Kilometer nördlich von Berlin. Besonders deutlich wurde mir die Koexistenz auch widersprüchlicher Erzählungen zum ersten Mal im Rahmen des 50. Jahrestages der Befreiung des Lagers im April 1995, zu dem die Landesregierung Brandenburg die Einladung von 3000 ehemaligen Häftlingen aus aller Welt ermöglicht hatte. Die zahlreichen, in Form und Inhalt sehr unterschiedlichen Veranstaltungen erstreckten sich über vier Tage. Es zeigte sich, dass auch völlig unterschiedliche Deutungen der Geschichte unangefochten nebeneinander her existieren konnten wie beispielsweise in der zentralen Gedenkveranstaltung

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Wüstenberg, Zivilgesellschaft, S. 18 Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, APuZ 25–26/2010, S. 10–16.

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am Sonntag, den 23. April auf dem ehemaligen Appellplatz des Lagers: Während die Rede Gertrud Müllers, ehemaliger Häftling und Vorsitzende der deutschen Lagergemeinschaft Ravensbrück, durch die Opposition Faschismus – Antifaschismus strukturiert war und mit dem Appell endete: »Unser Kampf gegen Faschismus und Krieg muss weitergehen«, ging es der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth in geradezu konträrer Diktion darum, »ein Zeichen (…) für Wahrheit und Versöhnung« zu setzen. Nicht nur zählte sie, was damals noch ungewöhnlich war, alle Haftgründe auf, sie betonte auch, dass niemand mehr aus der Erinnerung ausgegrenzt werden solle, dass es ein »Nein zum spaltenden Vergessen« geben müsse.12

Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, um 1940. Aufnahme aus dem SS-Fotoalbum.

Quelle: SBG/MGR, Foto 1643

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Zit.n. lnsa Eschebach, Jahrestage. Zu den Formen und Funktionen von Gedenkveranstaltungen in Ravensbrück 1946 – 1995, in: Dies., S. Jacobeit, S. Lanwerd (Hg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945–1995. Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Bd. 11, Berlin 1999, S. 69–107, hier S. 98f.

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In der Tat wurden jetzt, nachdem der Fokus in der DDR nahezu ausschließlich auf der Heroisierung weiblicher Widerstandskämpfer und karitativ handelnder Frauen und Mütter gelegen hatte, erstmals auch bislang ausgegrenzte und vergessene Haftgruppen zum Thema gemacht – und zwar sowohl in den Forschungsarbeiten zur Geschichte Ravensbrücks, die wesentlich von der historischen Frauen- und Geschlechterforschung inspiriert waren, als auch von zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Initiativen. Die Aktivistinnen waren und sind im Wesentlichen auf dem Feld links-aktivistischer, feministischer, queer-lesbischer und antirassistischer Politiken engagiert und verstehen sich immer auch als »Initiativen des Empowerment« von bislang ausgegrenzten Gruppen. Drei dieser von zivilgesellschaftlichen Initiativen angeschobenen Projekte möchte ich im Folgenden kurz skizzieren: Den Gedenkort Jugend-KZ Uckermark, die Gedenkkugel zur Erinnerung an lesbische Häftlinge und das Gedenkzeichen zur Erinnerung an die Frauen, die als Zwangsprostituierte in anderen Konzentrationslagern eingesetzt worden waren.

Der Gedenkort »Jugendschutzlager Uckermark« In dem 1942 eröffneten »Jugendschutzlager Uckermark« waren etwa 1200 als asozial und verwahrlost geltende Mädchen untergebracht. Dieses Lager war dem KZ Ravensbrück administrativ unterstellt, wurde aber von der weiblichen Kriminalpolizei betrieben. Ab Januar 1945 diente dieses Lager auch als Sterbelager für kranke und ältere Ravensbrück-Häftlinge, die in der Sprache der SS als »arbeitsunfähige«, »bettlägerige Krüppel« angesehen wurden.13 Von der Öffentlichkeit vergessen und für das staatlich reglementierte Gedenkregime der DDR ohne Belang, wurde das Areal bis 1994 als sowjetisches Lager für Tankfahrzeuge genutzt. Von der historischen Topographie des »Jugendschutzlagers« ist heute in dem unwegsamen Gelände nichts mehr zu erkennen.14 Im Jahr 1997 fand das

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Zur Geschichte dieses Lagers und seiner Nachgeschichte vgl.: Unwegsames Gelände. Das Jugendkonzentrationslager Uckermark – Kontroversen um einen Gedenkort, hg. v. von der Forschungswerkstatt Uckermark, Gütersloh 2013. Vgl. lnsa Eschebach, Mit den Augen der Imagination. Zur Gedächtnisgeschichte des Lagers Uckermark seit 1945, in: Unwegsames Gelände, S. 45–66.

»Erinnerung ohne Zwischenfälle«

erste FrauenLesben-Baucamp auf diesem Areal statt, weitere Baucamps folgten. Zahlreiche, teils auch künstlerische Aktionen haben im Lauf der letzten Jahre auf dem Areal stattgefunden mit dem Ziel, einer marginalisierten Vergangenheit Aufmerksamkeit zu verschaffen und auf die Kontinuität der Diskriminierung der als asozial verfolgten Frauen und Mädchen auch nach 1945 hinzuweisen. Dabei sind die geschaffenen künstlerischen Installationen in hohem Maße innovativ und dienen im Unterschied zur konventionellen Denkmalsform als Impulsgeber zur kritischen Auseinandersetzung.

Künstlerische Installationen auf dem Areal des ehemaligen »Jugendschutzlagers Uckermark« 2010.

Quelle: Andrea Genest, MGR/SBG

Das Problem, das die Gedenkstätte Ravensbrück immer wieder beschäftigt hat, war die Umbenennung des Jugendschutzlagers Uckermark in »kz uckermark«: Die Initiative tat dies mit der Begründung, der historische Begriff »Jugendschutzlager« sei verharmlosend, wo doch auch in diesem Lager KZ-ähnliche Bedingungen geherrscht hätten. Im Ergebnis erkundigen sich heute Besucher:innen der Gedenkstätte Ravensbrück nach dem zweiten Konzentrationslager, das es in der Umgebung dort gegeben haben soll. Die beabsichtigte

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Skandalisierung durch eine vermeintliche »Aufwertung« des Jugendschutzlagers hin zu einem KZ führt in diesem, wie auch in dem vorhin erwähnten Fall der 1000 Kreuze, zu einer regelrechten Desinformation.

Das Gedenken an die lesbischen Ravensbrücker Häftlinge Mein zweites Beispiel betrifft die Gruppe lesbischer Häftlinge.15 Im Jahr 1984 hatte eine Gruppe von Frauen aus dem »Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe« der Gethsemane-Gemeinde in Ost-Berlin das erste Mal versucht, dieser Frauen in der Gedenkstätte Ravensbrück öffentlich zu gedenken, eine Aktion, die von der Staatssicherheit verhindert wurde.16 Am 19. April 2015, dem 70. Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück, legte die Gruppe der Autonomen feministischen FrauenLesben aus Deutschland und Österreich eine aus Ton gefertigte Kugel in Ravensbrück nieder, die an die lesbischen Häftlinge erinnern sollte. Da die Setzung dieser Gedenkkugel zuvor nicht beantragt und also von den Stiftungsgremien, die die Setzung von Gedenkzeichen in Ravensbrück stets verhandeln, nicht befürwortet worden war, musste die Kugel wieder entfernt werden. In den folgenden fünf Jahren wurde langwierig und mühsam die Tatsache diskutiert, dass weibliche Homosexualität im »Dritten Reich« (mit Ausnahme von Österreich) kein Straftatbestand war. Und eben aus diesen Grund könne man dieser Frauen, so hieß es, vor Ort nicht gedenken – dies, obwohl noch die Lagerordnung lesbische Kontakte unter Strafe stellte und der prekäre Subjektstatus lesbischer Häftlinge durch die im Lager vorherrschende unbarmherzige Homophobie noch extrem befeuert wurde.17 Mittlerweile ist die Forschung einen Schritt weitergekommen: Wenn weibliche Homosexualität für sich gesehen auch kein Straftatbestand war, so spielte sie doch im Zusammenwirken mit weiteren Verdachtsmomenten – gewissermaßen intersektional – durchaus eine Rolle, wie Laurie Marhoefer an zahlreichen Beispielen nachgewiesen 15 16

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Siehe dazu auch den Beitrag von Alexandre de Leon in diesem Band. Vgl. Samirah Kenawi, Konfrontation mit dem DDR-Staat – Politische Eingaben und Aktionen von Lesben am Beispiel Ravensbrück, in: Gabriele Dennert, Christiane Leidinger, Franziska Rauchut, In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 118–121. Vgl. Insa Eschebach, Homophobie, Devianz und weibliche Homosexualität im Konzentrationslager Ravensbrück, in: Dies. (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 65–78.

»Erinnerung ohne Zwischenfälle«

hat.18 Vor diesem Hintergrund konnte diese Gedenkkugel im Rahmen des 77. Jahrestages der Befreiung 2022 offiziell installiert werden.

Erinnerung an Zwangsprostitution in Konzentrationslagern Eine weitere sozusagen vergessene Gruppe waren die etwa 200 Ravensbrücker Häftlinge, die in den sogenannten Bordell-Kommandos anderer Konzentrationslager Zwangsarbeit leisteten.19 Seit dem Jahr 2003 legen Aktivistinnen aus Bielefeld zu jedem Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ ein Blumengesteck zur Erinnerung an diese Frauen am Fuß der Skulptur »Die Tragende« nieder. Im Rahmen eines von dieser Initiative sehr umsichtig moderierten Prozesses entstand ein Gedenkzeichen, das von den Stiftungsgremien mehr oder weniger befürwortet wurde und 2020 seinen Platz in der Gedenkstätte Ravensbrück gefunden hat. Verschiedene Konflikte und Konkurrenzverhältnisse durchziehen das Feld öffentlichen Gedenkens in Ravensbrück, wobei die »Gedenkkugel« sicherlich die konfliktreichste Verhandlung erfahren hat. Darüber hinaus aber ist das Engagement queer-feministischer Gruppen in Ravensbrück dem, ›klassischen‹, vor allem in der DDR kanonisierten antifaschistischen Gedenknarrativ durchaus nicht nur willkommen. Einige Töchter kommunistischer Häftlinge, die in der DDR einen privilegierten Status genossen, legen die Stirn in Falten angesichts der Versuche feministischer Gruppen, den Marginalisierten, den sogenannten Asozialen, Homosexuellen und Prostituierten unter den Ravensbrück-Häftlingen zu Sichtbarkeit zu verhelfen.

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Laurie Marhoefer, Wurden lesbische Frauen im Nationalsozialismus verfolgt? Mikrogeschichte und Begriff der »Verfolgtengruppe«, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, hg. vom Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V., 21. Jg., 2019, S. 15–48, hier S. 20. Im Januar 2006 eröffnete die Gedenkstätte Ravensbrück ihre erste Ausstellung zum Thema der Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, die in den folgenden Jahren als Wanderausstellung auf Reisen ging und 2013 Eingang in die Hauptausstellung der Gedenkstätte gefunden hat. Vgl. Insa Eschebach und Katja Jedermann, Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Anmerkungen zu einer Werkstatt-Ausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück, in: Insa Eschebach und Regina Mühlhäuser (Hg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 269–278.

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Insa Eschebach

Das Gedenkzeichen zur Erinnerung an die etwa 200 Ravensbrücker Häftlinge, die in sogenannten Bordell-Kommandos anderer Konzentrationslager Sexzwangsarbeit leisteten, Gedenkstätte Ravensbrück.

Quelle: Britta Pawelke, MGR/SBG

Polnische Besuchergruppen und die deutsche Antifa Ein spannungsreiches Verhältnis besteht auch zwischen polnischen Besuchergruppen und der deutschen Antifa; beide Seiten nehmen regelmäßig an den Veranstaltungen der Gedenkstätte aus Anlass der Jahrestage der Befreiung teil. Nahezu 40 000 polnische Frauen und Mädchen waren in Ravensbrück inhaftiert; in fast jeder polnischen Familie ist eine Angehörige der NS-Verfolgung zum Opfer gefallen.20 Als am Jahrestag 2018 die polnische

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Vgl. Andrea Genest, Die Gruppe der polnischen Häftlinge – Geschichte und Erinnerung, in: Insa Eschebach (Hg.), Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte, Berlin 2014, S. 67–93. Dass sich unter den polnischen Häftlingen nicht nur Widerstandskämpferinnen befanden, sondern auch eine große Zahl wegen Arbeitsvertragsbruchs nach Ravensbrück überstellter Zwangsarbeiterinnen sowie eine unbekannte Zahl polnischer Frauen, die wegen Beziehungen zu männlichen Deutschen inhaftiert wurden, spielt im offiziellen polnischen Ravensbrück-Gedächtnis keine Rolle. Hier herrscht Forschungsbedarf, vgl. ebenda S. 70.

»Erinnerung ohne Zwischenfälle«

Präsidentengattin Agata Kornhauser-Duda mit einer großen Gruppe polnischer Überlebender die Gedenkstätte besuchte, trugen einige Feministinnen T-Shirts, auf denen Statements in polnischer Sprache gegen die restriktive polnische Abtreibungspolitik zu lesen waren. Noch ein Jahr später erinnerte sich das polnische Fernsehen an diese Begebenheit und berichtete, »deutsche feministische Kreise« hätten auf dem Gelände des Lagers die »Tötung von Ungeborenen« propagiert. Der verantwortliche Redakteur Cezary Gmyz beklagte darüber hinaus, dass »linke und LGTB-Kreise Ravensbrück zu einem Symbol für das Martyrium von Homosexuelle[n]« machen wollten und zwar »entgegen der historischen Wahrheit«. Auch hier wird erneut das eigentlich obsolete, aber offenbar wirkungsvolle Argument bemüht, weibliche Homosexualität sei kein Haftgrund gewesen.21

Verschiedene Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 73. Jahrestag der Befreiung in der Gedenkstätte Ravensbrück, April 2018.

Quelle: Eberhard Schorr, MGR/SBG

Hingegen befanden sich unter den polnischen Gästen 2018 einige, die Armbinden und eine Fahne der Narodowe Sily Zbrojne (NSZ, Nationale Streitkräfte) trugen. Die NSZ waren eine antisemische Untergrundorganisation, die während des Zweiten Weltkrieges und auch noch in der ersten Nachkriegszeit zum Judenmord aufgerufen hat, weshalb die Gedenkstätte Ravensbrück

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Cerary Gmyz, TVP Info, Zakaz symboli Narodowych Sil Zbrojnych w Ravensbrück, 14.4.2019.

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das Zeigen von NSZ Zeichen und Fahnen verboten hat.22 Im Vorfeld des Jahrestages 2019 hat die Gedenkstätte in Gesprächen mit allen Seiten und in Veröffentlichungen darum gebeten, insgesamt auf das Zeigen von politischen Emblemen und Statements während der zentralen Gedenkveranstaltung zu verzichten. Während die polnischen Gäste dieser Bitte folgten, hielten antifaschistische Teilnehmer:innen unverdrossen Transparente mit politischen Statements in die Höhe, darunter auch »Lesben gegen Rechts«. Das Neue Deutschland vom 15. April 2019 betitelte seinen Bericht über diesen Jahrestag mit der Schlagzeile »Erinnerung ohne Zwischenfälle«, so als ob dieser Sachverhalt allein schon eine Meldung wert sei.

Eine Schlussbemerkung Zum ›Kampf um das Gedächtnis‹ gibt es mittlerweile eine Reihe von Überlegungen, die darauf zielen, die Opferkonkurrenzen in ein Miteinander zu überführen. Michael Rothbergs Buch »Multidirectional Memories«, das für eine produktive Interaktion zwischen verschiedenen Narrativen wirbt, ist ein viel diskutiertes Beispiel.23 Von Aleida Assmann stammt der Begriff des dialogischen Erinnerns: Dieses Modell zielt auf gegenseitige Anerkennung zweier Staaten, die »emphatisch das selbst verursachte und zu verantwortende Leiden der anderen Nation ins eigene Gedächtnis einschließen« könnten.24 Pierre Nora konstatiert, dass »das Gedächtnis trennt, aber die Geschichte eint«. Er plädiert für die Schärfung des Blicks für die einzelnen Erinnerungskulturen, weil »nur aus einem vertieften Verständnis der Unterschiede das Gefühl einer echten gemeinsamen Zughörigkeit erwachsen« könne.25 Nicht zuletzt soll an dieser Stelle Nora Sternfelds Konzept der »agonistischen Kontaktzonen« erwähnt werden, als welche sie die Gedenkstätten sieht. In Anlehnung an Chantal Mouffe spricht Sternfeld vom »Agonismus als

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Das Verbot wurde kurzfristig auch deshalb kontrovers diskutiert, weil zwei weibliche Angehörige dieses Verbandes im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert waren. Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, 2009. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 196. Pierre Nora, Nachwort, in: Etienne Francois und Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, München 2003, S. 681–686, hier S. 686.

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einer Art ›konfliktualem Konsens‹, der den Opponenten als ›legitimen Feinden‹ einen gemeinsamen symbolischen Raum erschließt.« Sternfeld schlägt »Aushandlungsprozesse in der Kontaktzone« vor, in der Hoffnung, dass sich »in diesen Prozessen der Aushandlung unerwartete Solidaritäten ergeben.«26 Gedenkstätten wie Ravensbrück kann man als einen »gemeinsamen symbolischen Raum« oder auch als »Kontaktzone« beschreiben, in dem sich divergierende Narrative begegnen. Gleichwohl aber sind Konzepte wie die des dialogischen Erinnerns, einer »echten gemeinsamen Zugehörigkeit« oder auch Sternfelds Hoffnung auf »unerwartete Solidaritäten« in erster Linie Ausdruck eines wishful thinking. Das Medium öffentlichen Gedenkens scheint aufgrund seines monologischen Charakters und seiner gruppenlegitimatorischen Funktion wenig geeignet, Einsichten in die Vielschichtigkeit historischer Erfahrungswelten zu vermitteln und Dialogbereitschaft zu evozieren. Andere Möglichkeiten eröffnen sich auf dem Feld der historischen Bildung: Hier wäre in der Tat die Entwicklung gemeinsamer Fragestellungen über nationale und identitätspolitische Grenzen hinweg möglich. Dass die Gedenkstätten für diese komplexen Aufgaben aber immer noch zu ungenügend ausgestattet sind, muss in diesem Zusammenhang zumindest kurz erwähnt werden. Nicht zuletzt ist der These Jenny Wüstenbergs zuzustimmen, dass der »Erinnerungsprotest« zivilgesellschaftlicher Gruppen den normativen Wandel in der Gesellschaft voran treibe und Erinnerungskulturen sich überhaupt erst aufgrund dieser Interventionen weiter entwickeln. Gedenkstätten sind Orte, an denen die »Unaufgeräumtheit« der Geschichte stets erneut zutage tritt. Per Leo spricht in diesem Zusammenhang von der Aufgabe, »die identitätsstiftenden Narrative der Erinnerung wieder der Unruhe zu übergeben, die man Geschichte nennt«: Sie sei »der Grund, auf dem wir alle schwanken«.27 Vielleicht ist dieser ›schwankende Grund‹ auch eine Erklärung dafür, warum sich die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Deutschland immer noch und immer wieder so vielfältig und so kontrovers gestaltet.

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Nora Sternfeld, Das radikaldemokratische Museum, Berlin, Boston 2018, S. 125–144. Leo, Tränen, S. 216

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Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahnund Gedenkstätte Ravensbrück Alexandra de León

Mit der Einweihung des Gedenkzeichens für lesbische Inhaftierte am 1. Mai 2022 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, die im Rahmen der Feierlichkeiten zum 77. Jahrestag der Befreiung des Frauenkonzentrationslagers stattfand, wurde ein jahrelanger Streit beigelegt. Der Entscheidung zur offiziellen Würdigung des Gedenkens an homosexuelle Frauen in Ravensbrück gingen langwierige Aushandlungsprozesse zwischen den beratenden Gremien der Gedenkstättenstiftung, wissenschaftlichen Diskussionen, Fachtagungen, Gutachten und Forderungen politischer Aktivist:innen voraus. Dieser Beitrag skizziert die einzelnen Etappen vom weiblichen Gedenken in Ravensbrück bis hin zur Einweihung der Gedenkkugel für lesbische Inhaftierte. Dabei wird das Spannungsfeld »Gedenken an lesbische Frauen in Ravensbrück« aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und die Rolle, die der Gedenkstätte als Austragungsort gesellschaftspolitischer Debatten zukommt, unterstrichen. Seit seiner Errichtung 1939 wurde das größte Frauenkonzentrationslager auf deutschem Boden während des Zweiten Weltkriegs fortwährend ausgebaut. 1941 kam das Männerlager hinzu und ein Jahr später das »Jugendschutzlager Uckermark«, in dem Mädchen und weibliche Jugendliche interniert waren. Mit 132.000 Gefangenen bildeten Frauen und Kinder die größte Gruppe der Inhaftierten. Darauf folgten 20.000 männliche Internierte und 1.200 weibliche Jugendliche aus dem »Jugendschutzlager Uckermark«.1 Das KZ Ravensbrück hatte über 40 Außenlager. Es wird davon ausgegangen, dass etwa

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Vgl. Frauen-Konzentrationslager (1939–1945), in: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, online abrufbar unter https://www.ravensbrueck-sbg.de/geschichte/1939-1945 (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022).

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28.000 Personen die Lagerhaft nicht überlebten, sie starben an den Haftbedingungen, Hunger, mangelnder Hygiene oder wurden gezielt ermordet.2

Interims-Gedenkzeichen für die ermordeten lesbischen Frauen im Frauen-KZ Ravensbrück in Form einer Tonkugel mit Inschrift.

Quelle: Britta Pawelke, MGR/SBG, 2016

Heute wird der Opfer unter anderem durch Denkmäler und Gedenkzeichen gedacht, die auf dem Gelände der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zu finden sind. Will Lammert und Fritz Cremer sind die am meisten repräsentierten Bildhauer in der 1959 errichteten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte. Im Rahmen der Gestaltung des Gedenkareals, entstanden zwischen 1954 und 1957 in dem für Kranzniederlegungen und Gedenkfeiern gedachten Ort, einige Plastiken, die bis heute ihren Platz dort haben. Dazu zählt auch »Die Tragen-

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Vgl. Strebel, Bernhard: Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes, München 2003. S. 510.

Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

de« von Will Lammert, das »Wahrzeichen der Gedenkstätte Ravensbrück«.3 Auf der Plattform am Ufer des Schwedtsees ragt die Bronzeskulptur auf einem sieben Meter hohen Sockel. Dargestellt ist eine Frau, die einen zusammengebrochenen Mithäftling trägt, ein häufig überliefertes Vorkommnis aus dem Haftalltag. Marlies Lammert, die Schwiegertochter des Künstlers, berichtet, dass diese Szene Olga Benario-Prestes zugeschrieben wird.4 Diese Überlieferung habe Will Lammert als potenzielle Vorlage für das Denkmal gedient. Da die Figurengruppe deutliche Elemente der christlichen Symbolik enthält, sollen bereits 1959, während der Einweihung der Gedenkstätte, Vergleiche zu Pietà-Figuren gezogen worden sein, bei denen die Mutter Maria ihren verstorbenen Sohn Jesus in den Armen hält.5 Fritz Cremers Bronzeskulptur »Die Müttergruppe«, befindet sich auf dem Weg zur heutigen Mahn- und Gedenkstätte an der Straße der Nationen und zählt ebenfalls zu den bekannteren Plastiken in Ravensbrück. Bevor man von der unscheinbaren Ravensbrücker Dorfstraße aus an das ehemalige Konzentrationslager gelangt, liegt die Skulpturengruppe am linken Wegrand. Es sind »die Trauernde«, »die Klagende« und »die Unbeugsame«, an deren Kleid sich ein Kind schmiegt. Mit der Dreiergruppe sollte das Gedenken an Frauen und Kindern deutlich in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Figur der Mutter als Symbol für Opferbereitschaft und moralischer Makellosigkeit nimmt bei den Skulpturen der heutigen KZ-Gedenkstätte eine besondere Rolle ein. »Die Mutter in ihrer Funktion als Sorgende, als Anklagende, als Trauernde kann per se

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Nationale Mahn- und Gedenkstätte (1959–1992), in: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, online abrufbar unter https://www.ravensbrueck-sbg.de/geschichte/1959-1992 (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022). Olga Benario-Prestes wurde am 12. Februar 1908 in München geboren. 1925 verließ sie München und zog mit ihrem Mann Otto Braun nach Berlin, wo sie unter anderem für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) tätig war. Gemeinsam mit dem wegen Spionage und Hochverrats angeklagten Otto Braun flohen sie 1928 nach Moskau. Nach ihrer Trennung ging sie eine Beziehung mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCB) Luiz Carlos Prestes ein. Im September 1936 wurde sie von Brasilien nach Deutschland ausgeliefert. Nach Haft im Frauengefängnis Barnimstraße, im KZ Lichtenburg und Ravensbrück wurde sie im Rahmen der Tötungsaktion 14f13 am 23. April 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet. Vgl. Peter Plieninger: Die »Tragende« von Will Lammert, in: Ravensbrück Internationaler Freundeskreis, online abrufbar unter www.ifk-ravensbrueck.de/archiv/abguss-des -modells-der-tragenden/ (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022).

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den Anspruch darauf erheben, das Leiden selbst erfahren zu haben«6 unterstreicht die ehemalige Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Insa Eschebach, in ihrem Aufsatz »Frauen – Mütter – Frieden«. Die Bilder der Mütterlichkeit sowie der Passivität und Schwäche, die als typisch weibliche Zuschreibungen gelten können, zeigen sich auch in dem in Stein gemeißelten Zitat der Schriftstellerin Anna Seghers, das am Übergang zum Gedenkareal am Schwedtsee auf einer Mauer angebracht ist. Die Inschrift lautet: »Sie sind unser aller Mütter und Schwestern. Ihr könntet heute weder frei lernen, noch spielen. Ja, ihr wäret vielleicht gar nicht geboren, wenn solche Frauen nicht ihren zarten, schmächtigen Körper wie stählerne Schutzschilder durch die ganze Zeit des faschistischen Terrors vor euch und eure Zukunft gestellt hätten.« Seghers spricht von »Mütter und Schwestern« und ihren »zarten und schmächtigen Körpern«. Trotz dieser vermeintlich angeborenen Schwäche sollen sie stark wie »stählerne Schutzschilder«, klar als männlich gedeutete Merkmale, gewesen sein. Das Narrativ der schwachen Frau die durch ihre Opferbereitschaft neue Stärke fasst, zieht sich wie ein roter Faden durch das visuelle Gedenken der Mahn- und Gedenkstätte. Eschebach betont in diesem Zusammenhang, dass in der DDR in den skulpturalen Darstellungen nur politisch Inhaftierte gemeint waren und keine Sinti, Roma, Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas und weitere marginalisierte Gruppen.7 Bereits zeitnah nach Ende des Krieges fanden in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück von Frauen organisierte Kundgebungen und Gedenkmärsche mit zehntausenden Teilnehmer:innen statt. Überlebende des Konzentrationslagers waren in verschiedenen Verbänden aktiv, unter anderem im Demokratischen Frauenverbund Deutschlands (DFD), in der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (IDFF) und in der Vereinigung der Verfolgten

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Insa Eschebach: Frauen – Mütter – Frieden. Zur Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, in: Gedenkstättenforum, online abrufbar unter https://www.gedenkstaettenforum.de/uploads/media/GedRund82_3-13.pd f (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022). Insa Eschebach: Frauen – Mütter – Frieden. Zur Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, in: Gedenkstättenforum, online abrufbar unter https://www.gedenkstaettenforum.de/uploads/media/GedRund82_3-13.pd f (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022).

Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

des Naziregimes (VVN) und organisierten regelmäßige Kundgebungen und Gedenkfeiern. Ein Gedenkzeichen für lesbische Inhaftierte gab es zu diesem Zeitpunkt nicht und wurde auch vorerst nicht offiziell diskutiert. Noch bis vor kurzem war das Platzieren eines Gedenkzeichens für homosexuelle Frauen im ehemaligen KZ Ravensbrück dessen ungeachtet höchst umstritten. Seit 1984 versuchen Frauen immer wieder, lesbischen Frauen in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zu gedenken. 1985 wurde einer Gruppe lesbischer Frauen beim Gedenken an lesbische Opfer des Frauenkonzentrationslagers auf dem Gelände der Gedenkstätte von Mitarbeitern der Staatssicherheit beobachtet. Ebenfalls wurden die Seiten des Gästebuchs der Mahn- und Gedenkstätte auf denen die Frauen lesbische Inhaftierte erwähnten, im Anschluss entfernt.8 Das Herausreißen der Seiten durch die Stasi muss als eine politisch motivierte Tat und ein Unterdrückungsmechanismus sowie ein Akt des Unsichtbarmachens staatlich nicht geduldeter Gedenkrituale in der DDR gedeutet werden. Zwar fanden nach der Wiedervereinigung Gedenkveranstaltungen und erinnerungskulturelle Veranstaltungen in Erinnerung an verfolgte lesbische Frauen statt, diese wurden jedoch nicht in der offiziellen, von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Berichterstattung zur Erinnerung an das Frauen-Konzentrationslager aufgenommen und es gab auch keine eigenen Gedenkzeichen vor Ort. Noch 2012 waren Bemühungen von Aktivist:innen, den im Nationalsozialismus verfolgten homosexuellen Männern und Frauen ein gemeinsames Gedenkzeichen zu widmen, vor den Gremien der Gedenkstätte gescheitert. Während in den übrigen KZ-Gedenkstätten in Deutschland und Österreich die Gedenkzeichen für die Opfer der Verfolgung von Homosexuellen den Angehörigen beider Geschlechter gewidmet sind, wurde am Jahrestag 2013 an der Lagermauer der Mahn- und Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück eine Gedenktafel angebracht, die allein verfolgten homosexuellen Männern gewidmet ist. Ihre Inschrift lautet: »Den Männern, die wegen Homosexualität 1939 bis 1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert, geschunden und ermordet wurden.« An der Formulierung wird deutlich, dass es den Initiatoren wichtig war, allein die männlichen homosexuellen Opfer hervorzuheben. Hier zeigt sich bereits die Sorge einiger aus den Erinnerungsgemeinschaften der männlichen homosexuellen Verfolgten: 8

Regine Hader: Die letzten 100 queeren Jahre, in: Goethe Institut, online abrufbar unter https://www.goethe.de/ins/rw/de/kul/mag/22294995.html (zuletzt aufgerufen am 10.01.2022).

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Das Setzen eines gemeinsamen Gedenkzeichens wird als eine Gleichsetzung des Leids von homosexuellen Frauen und homosexuellen Männern gedeutet. Das Argument, dass homosexuelle Handlungen in der Lagerordnung für das männliche sowie das weibliche Geschlecht als Straftat aufgeführt war, ist für Kritiker:innen der Gedenkkugel nicht ausreichend, da sie bei weiblichen Inhaftierten die Homosexualität nicht als Grund der Inhaftierung anerkennen – auch weil diesen keine eigene Häftlingskategorie zugesprochen wurde. Im Gegensatz dazu waren Männer, die nach §175 RStGB verfolgt wurden mit einem rosafarbenen Winkel auf der Häftlingskleidung markiert. Auch Vertreter:innen des LSVDs, wie Alexander Zinn, äußerten Bedenken über eine ihrer Ansicht nach nicht existenten Verfolgung lesbischer Frauen.9 Neben dem Lesben- und Schwulenverbands Berlin – Brandenburg (LSVD), mussten auch die Gremien der KZ-Gedenkstätte davon überzeugt werden, das Vorhaben, lesbischer Frauen zu gedenken, zu befürworten. Das Hauptargument gegen ein Gedenkzeichen war für Mitglieder der beratenden Gremien der Gedenkstätte, dass lesbische Handlungen im Deutschen Reich nicht unter dem §175 RStGB geahndet wurden. Es wurde ausschließlich männliche Homosexualität bzw. homosexuelle Handlungen von schwulen und bisexuellen Männern in dem Paragraphen erwähnt.10 Im Unterschied zum deutschen Strafgesetzbuch, stellte § 129 Ib des österreichischen Strafgesetzbuchs weibliche sowie männliche »Unzucht wider der Natur mit Personen des selben Geschlechts« unter Strafe. Die Nicht-Benennung von Frauen im § 175 RStGB bedeutete allerdings nicht, dass homosexuelle Frauen im Deutschen Reich nicht verfolgt worden sind. Es bedarf einer besonderen Lesart der historischen Quellen und PolizeiAkten: Auch die deutsche Polizei lud Frauen vor, verhörte sie und machte jene, denen ein lesbisches Liebesverhältnis wiederholt nachgesagt wurde, aktenkundig. Rückendeckung bekamen die Verfolgungsbehörden von dem fehlenden Rechtsgrundsatz, dass eine Strafe nur geahndet werden konnte, wenn es ein entsprechendes Gesetz gab. So konnte jegliches potenzielles

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O.N.: Ravensbrück soll Gedenkort für lesbische NS-Opfer werden, in: Siegessäule. We Are Queer Berlin, online abrufbar unter https://www.siegessaeule.de/news/4059 -ravensbrück-soll-gedenkort-für-lesbische-ns-opfer-werden/ (zuletzt aufgerufen am 07.04.2022). Alexander Zinn: Abschied von der Opferperspektive: Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der schwulen und lesbischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67, Nr.11, 2019, S. 945f.

Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

Fehlverhalten nach nationalsozialistischem Maßstab sanktioniert werden.11 Ein Beispiel für solch einen Machtmissbrauch ist der Fall von Margot Liu und Marta Halusa.12 Bei ihnen, wie in den meisten aktenkundigen Kriminalfällen aus der NZ-Zeit, stützte sich die Polizei bei ihren Ermittlungen auf Denunzianten. Die beiden als Lesben beschuldigten Frauen wurden jedoch nicht als solche bestraft, sondern mit Prostitution in Verbindung gebracht und als »asozial« diffamiert bzw. als soziale Gefahr aufgefasst.13 Zudem hatten Frauen, die durch eine Ordnungswidrigkeit aufgefallen waren, schwerere Strafen zu erwarten, wenn sie für lesbisch gehalten wurden. Dass ihnen kein Paragraf der strafrechtlichen Homosexuellenverfolgung zugewiesen wurde, lag auch daran, dass ihnen von der Mehrheitsgesellschaft ihre Sexualität abgesprochen wurde und sie ihre Rolle in der pronatalistischen Frauenpolitik weiterhin erfüllten. Außerhalb der strafrechtlichen Verfolgung gab es verschiedenste Diskriminierungsmechanismen, in Folge derer Frauen, die von NS-Rollenerwartungen abwichen, verfolgt bzw. stigmatisiert wurden – sei es im gesellschaftlichen, kulturellen, beruflichen oder privaten Leben. Das Unsichtbarmachen, die Exklusion aus der Öffentlichkeit war ebenfalls eine Form der Gewalt und Verfolgung, die sich gegen die Existenz lesbischer Frauen richtete. Die Unterdrückung lesbischer Zeitschriften und Verlage sowie die Observierung von Szenelokalen, beliebter Bars und Treffpunkten durch die Kriminalpolizei und Gestapo zeigen die vielfältige staatliche Sanktionierung, die zur Verdrängung lesbischer Kultur aus der Öffentlichkeit und gezielten Zerstörung

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Lücke, Martin: Die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Forschungsdebatten zu Gedenkinitiativen am Beispiel des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70, Nr. 5, 2022, S. 425. Marta Halusa (*1910) und Margot Holzmann (*1912) lernten sich wahrscheinlich 1932 in Hamburg kennen. Ab 1939 wurde Halusa immer wieder denunziert und festgenommen, weil sie mit der Jüdin Holzmann zusammenlebte. Um einer Deportation zu entgehen, heiratete Holzmann Chi-Lan Liu, wodurch sie die chinesische Staatbürgerschaft erhielt. Ihr Mann denunzierte kurz nach der Hochzeit die Frauen und warf ihnen vor, ein lesbisches Liebesverhältnis zu haben. Immer wieder wurden die Frauen inhaftiert. Am 22. April 1945 gelang ihnen die Flucht aus dem Berliner Polizeigefängnis in der Großen Hamburger Straße 26. 1949 emigrierten sie nach England, wo sie bis zu ihrem Tod gemeinsam lebten. Ingeborg Boxhammer: Marta Halusa und Margot Liu. Die Lebenslange Liebe zweier Tänzerinnen, Berlin 2015, S. 56.

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ihrer sozialen Netzwerke führte.14 Die Verfolgung lesbischer Frauen fand aber nicht nur außerhalb der Konzentrationslager, sondern auch innerhalb der Lagerzäune statt. So bestätigen Zeitzeug:innen, dass es Diskreditierung und Gewalt gegenüber homosexuellen Frauen seitens des SS-Personals gab. Auch einige Mithäftlinge verhielten sich lesbischen Frauen gegenüber abweisend und diskriminierend. Gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen waren verboten, ebenfalls das Verheimlichen bzw. Nicht-Melden dieser. Auch hier vertraute das Wachpersonal vor allem auf die Denunziation durch das Umfeld. In Ravensbrück gab es somit eine aktive und auch nach NS-Bestimmungen organisierte Verfolgung und Bestrafung von homosexuellen Handlungen zwischen Frauen. Um der Betroffenen gedenken zu können und die spezifischen Merkmale ihrer Verfolgung adäquat zu benennen, scheint es erforderlich, sich von einer positivistischen Betrachtung des NS-Strafrechts zu lösen und darüber hinaus die systemischen Unterdrückungsmechanismen zu erkennen, die sich sonst bis in die Memorialkultur fortsetzen. Claudia Schoppmann weist darauf hin, dass die heute geläufigen Begriffsbezeichnungen wie »lesbisch« oder »homosexuell« in den 1930er und 1940er Jahren nicht so verbreitet waren, wie es heute der Fall ist. Eine Selbstzuschreibung mit den genannten Begriffen traf also seitens der Betroffenen nicht immer zu.15 Erst in den siebziger Jahren setzte sich im Rahmen der Frauenbewegung die Selbstbezeichnung »lesbisch« als Form des Empowerment durch. Die erste Aktion mit dem Ziel Gedenken an lesbische verfolgte Frauen in Ravensbrück sichtbar zu machen und an ihre Verfolgung zu erinnern, initiierte die Gruppe der Autonomen feministischen FrauenLesben aus Deutschland und Österreich. Aktivistinnen legten im April 2015, anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück, eine Gedenkkugel in der Mahn- und Gedenkstätte nieder, die an lesbische Inhaftierte und ihr Leiden erinnern sollte. Ein Jahr später wurde die Kugel auf Verlangen der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mit der Begründung entfernt, dass über die Verlegung neuer Gedenkzeichen vorab die Stiftungsgremien entscheiden müs-

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Lücke, Martin: Die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Forschungsdebatten zu Gedenkinitiativen am Beispiel des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 70, Nr. 5, 2022, S. 426. Claudia Schoppmann: Zwischen strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im ›Dritten Reich‹, in: Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012. S. 35ff.

Gedenken an lesbische Inhaftierte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

sen. Daraufhin folgte ein offizieller Antrag der Initiative an die beratenden Gremien zum Fortbestehen des lesbischen Gedenkzeichens, was die Debatte, ob und wie lesbischen Frauen gedacht werden sollte, neu befeuerte und eine breitere Öffentlichkeit erreichte. Unterstützt wurde der Antrag vom Internationalen Ravensbrück Komitee. Nach Protesten, Gegenimprovisationen, dem Platzieren und Entfernen von Gedenkkugeln, dem Formulieren und Einreichen von Anträgen, Diskussionen zwischen dem internationalem Beirat und der Fachkommission der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, verschiedenen intensiven Auseinandersetzungen auf Bundesebene, zum Beispiel mit dem Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) und der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sowie einer lebhaften öffentlichen Debatte, konnte der jahrelange öffentliche Streit über ein Existenzrecht der Gedenkkugel im November 2017 größtenteils beigelegt werden. Weiter diskutiert wurde allerdings die passende Inschrift. Im Januar 2020 setzten sich einige Akteur:innen zu einem Runden Tisch zusammen, um nach abermals verhärteten Fronten, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Anwesend waren unter anderem Vertreter:innen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der Initiative Autonome feministische FrauenLesben aus Deutschland und Österreich, Vertreter:innen des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland und weiterer Initiativen sowie Einzelpersonen, um den Text zu diskutieren. Auf der darauffolgenden Beiratssitzung kam es dennoch zu keinem Ergebnis. Erst die Pressemitteilung des LSVD vom 14. Juli 2021 läutete die Einigung auf die gemeinsame Inschrift der Gedenkkugel ein. Diese lautet: »In Gedenken aller lesbischen Frauen und Mädchen im Frauen-KZ Ravensbrück und Uckermark. Sie wurden verfolgt, inhaftiert, auch ermordet. Ihr seid nicht vergessen.« Insgesamt zeigt sich: Auch wenn Kritiker:innen die Mahn- und Gedenkstätte gerne als einen konfliktfreien Ort sehen würden, ist das nicht zu erreichen. Das Gedenken bzw. Formen des Gedenkens werden auch hier regelmäßig neu ausgehandelt. Die Mahn- und Gedenkstätte wird wahrscheinlich immer ein Austragungsort bleiben – für den Umgang mit den Verbrechen, die vor Ort stattfanden sowie aktuelle gesellschaftspolitische Diskussionen, die das Gedenken beeinflussen. Dies sollte nicht als Instrumentalisierung der Geschichte fehlinterpretiert werden, sondern verweist ganz im Gegenteil auf eine sich stetig weiterentwickelnde und offenere Debattenkultur.

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Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung an Orten konkurrierender Erinnerungen am Beispiel Sachsenhausen Kolja Buchmeier, Sjoma Liederwald

Sachsenhausen bei Oranienburg, ein Ort konkurrierender Erinnerungen Die heutige Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen ist vor allem bekannt als Gedenkstätte am historischen Ort des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das ab 1936 unter Aufsicht der SS (»Schutzstaffel«) auf einem Waldstück am nordöstlichen Stadtrand Oranienburgs eingerichtet wurde. Bis zur Befreiung des Lagers durch polnische und sowjetische Truppen im April 1945 durchliefen mindestens 190.000 Gefangene das Lager.1 Im Anschluss nutzte die sowjetische Geheimpolizei NKWD (»Volkskommissariat für innere Angelegenheiten« später »Ministerium für innere Angelegenheiten« oder kurz MWD) zentrale Teile des ehemaligen Konzentrationslagers zunächst als Repatriierungslager für während des Krieges nach Deutschland verschleppte Bürger:innen der Sowjetunion. Im August 1945 wurde schließlich das Speziallager Nr. 7 aus Weesow bei Werneuchen nach Sachsenhausen verlegt. Bei den Speziallagern handelte es sich um ein System von Internierungslagern der sowjetischen Besatzungsverwaltung, in denen zunächst vor allem Angehörige und Mitglieder von NS-Organisationen wie der NSDAP (»Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei«), der SA (»Sturmabteilung)« oder der Gestapo pauschal aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu diesen Organisationen inhaftiert waren. Im Fall des Speziallagers Sachsenhausen kamen ab 1946 auch

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Der aktuelle Forschungsstand zur Geschichte des KZ Sachsenhausen findet sich bei Hermann Kaienburg: Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945. Zentrallager des KZ-Systems, Berlin 2021.

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sogenannte SMT-Verurteilte hinzu: Personen, die von sowjetischen Militärtribunalen meistens wegen Spionage und teilweise auch wegen NS-Verbrechen zu Haftstrafen verurteilt worden waren.2 Insgesamt durchliefen etwa 60.000 Menschen das Speziallager bis es 1950 aufgelöst wurde. Schon 1948 war eine große Gruppe Häftlinge entlassen worden. 1950 wurde etwa die Hälfte der verbliebenen Gefangenen entlassen, die andere Hälfte wurde entweder in den sogenannten Waldheimer-Prozessen zu weiteren Haftstrafen verurteilt oder zur Verbüßung bereits ausgesprochener Haftstrafen in die Gefängnisse der DDR überstellt.3 Bereits zur Zeit ihrer Errichtung im Jahr 1945 waren die sowjetischen Speziallager in Medien der westlichen Besatzungszonen sowie in der westalliierten Öffentlichkeit Gegenstand antikommunistischer Propaganda. So wurde in der West-Berliner Presse in Bezugnahme auf die Speziallager unter anderem von »roten« Konzentrationslagern gesprochen. Bis zur Errichtung der Berliner Mauer 1961 dienten sie in der bundesrepublikanischen Presselandschaft als Leitmotiv, um die SBZ und dann die DDR als Diktatur zu beschreiben.4 In der DDR wurde bis 1988 von offizieller Seite über die Existenz der Speziallager weitestgehend geschwiegen. Erst mit dem Ende der DDR 1989 traten die Speziallager ins öffentliche Bewusstsein und waren Gegenstand heftiger erinnerungspolitischer Debatten. Eingebettet in totalitarismustheoretische Deutungen wurde die Geschichte beider Lager häufig zu einer einzigen »Unrechtsgeschichte« zusammengefasst.5 Daraus entstanden in den 1990er Jahren erin2

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Julia Landau/Enrico Heitzer: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext, Göttingen 2021, S. 9–28. Einen guten Überblick über die Geschichte des Speziallagers Sachsenhausen bietet Lutz Prieß: Das Speziallager des NKVD Nr. 7 (Nr. 1) Sachsenhausen 1945–1950, in: Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945–1950. Band 1. Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 380–410. Vgl. Wolfram von Scheliha: Die sowjetischen Speziallager. Ein Symbol des kommunistischen Unrechts in der publizistischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West bis zum Bau der Berliner Mauer 1961, in: Petra Haustein/Annette Kaminsky/Volkhard Knigge/Bodo Ritscher (Hg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute. Göttingen 2006, S. 10–29. Vgl. Wolfram von Scheliha: Die Forderung nach einem Gedenken an die sowjetischen Speziallager im Zeichen der Totalitarismustheorie führt ins erinnerungspolitische Abseits, in: Deutschland Archiv 39 (2006): 2, S. 283–290.

Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung

nerungspolitische Konflikte um die Ausgestaltung der Gedenkstätte Sachsenhausen, die teilweise bis heute anhalten. Grundsätzlich befürchten die Verbände der Opfer des Nationalsozialismus, dass ihre Hafterfahrungen im KZ Sachsenhausen durch die Erinnerung an sowjetische Verbrechen im Speziallager Sachsenhausen relativiert werden würden. Umgekehrt befürchten die Verbände der ehemaligen Gefangenen des Speziallagers Sachsenhausen, dass ihre Hafterfahrungen durch die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen überdeckt würden.6 Um diesen Konflikt zu lösen wurde durch den Historiker Bernd Faulenbach in den 1990er Jahren für die Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« die sogenannte Faulenbach-Formel entwickelt. Darin wird an die Erinnerungsarbeit der Auftrag formuliert, die NS-Verbrechen nicht durch die Verbrechen des Stalinismus zu relativieren und umgekehrt die Verbrechen des Stalinismus durch Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht zu bagatellisieren.7 Diesen Leitlinien wird in der Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch insbesondere in der Populärliteratur und teilweise auch in der Gedenkstättenarbeit nicht immer gefolgt.8

Gedenkstättenpädagogischer Umgang Der Fokus im gedenkstättenpädagogischen Umgang mit der Geschichte des Speziallagers Sachsenhausen liegt nicht nur in der Einhaltung der »Faulenbach-Formel«, sondern auch in der Einhaltung von gängigen Qualitätsstandards der Gedenkstättenarbeit. Besonders relevant ist hier der »Beutelsbacher Konsens«, der mit seinen drei Kriterien, dem Überwältigungsverbot, dem Kontroversitätsgebot und der Schüler:innenorientierung, seit den späten 1970er Jahren den Rahmen für jedes gedenkstättenpädagogische Programm

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Vgl. Petra Haustein: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzung um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006. Deutscher Bundestag: Schlußbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. Drucksache 13/11000, 10.06.1998. Die Faulenbach-Formel findet sich auf Seite 240 des Berichts. Vgl. Andrew H. Beattie: Die Auseinandersetzung mit den sowjetischen Speziallagern in Deutschland. Eine wechselvolle Geschichte mit beharrlichen Tendenzen, in: Enrico Heitzer/Julia Landau (Hg.): Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext, Göttingen 2021, S. 267–274.

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setzt. Dem Beutelsbacher Konsens zufolge muss das Ziel politischer Bildungsarbeit sein, Schüler:innen in die Lage zu versetzen politisch handeln zu können, weshalb die emotionale Überwältigung zur »Erzwingung« eines gewünschten politischen Urteils zu vermeiden ist. Gemeint ist damit zum Beispiel die Konfrontation mit drastischen Darstellungen von Folter und physischer Gewalt, um eine Verurteilung des Nationalsozialismus oder des Stalinismus zu erreichen. Das Kontroversitätsgebot soll sicherstellen, dass die Adressat:innen politischer Bildung alle bestehenden Optionen und Meinungen kennen, damit sie deren Vor- und Nachteile abwägen können, der Wortlaut des Konsens lautet hier: »Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers scheinen«.9 Die Schüler:innenorientierung soll wiederum sicherstellen, dass den Adressat:innen Mittel und Wege aufgezeigt werden für ihre eigenen politischen Interessen eintreten zu können und selber politische Akteur:innen zu werden. Für die Gedenkstättenarbeit lässt sich aus dem Beutelsbacher Konsens der Auftrag ableiten, die Adressat:innen der gedenkstättenpädagogischen Arbeit in die Lage zu versetzen, selber erinnerungspolitisch handeln zu können. Insbesondere in der Gedenkstättenarbeit zu Verbrechen sozialistischer Regime wird die Gültigkeit des Beutelsbacher Konsens allerdings immer wieder infrage gestellt, da durch die Konfrontation mit dem historischen Ort oftmals nicht die gewünschten politischen Haltungen erreicht würden.10 In der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen sind die Faulenbach-Formel und der Beutelsbacher Konsens Ausgangspunkt für das pädagogische Programm zum Speziallager Sachsenhausen, welches einer der Autoren 2017/18 für die Gedenkstätte entwickelte. Im Folgenden wird das Konzept des Studientags zum Speziallager Sachsenhausen mit seinen pädagogischen Vorannahmen und seinen Themenschwerpunkten vorgestellt, das seit 2018 in der Arbeit der Pädagogischen Dienste der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen zum Einsatz kommt.

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Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Beutelsbacher Konsens. (h ttps://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens/, zuletzt eingesehen am 12.07.2022). So zuletzt geschehen durch den ehemaligen Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, in der Nutzung digitaler Anwendungen in der Gedenkstättenpädagogik. Vgl. hierzu: Claudia van Laak: »Runter mit der Hose«. Virtual Reality im Stasi-Gefängnis. Deutschlandfunk Kultur 17.05.2017. (https://www.deutschlandfunkkultu r.de/virtual-reality-im-stasi-gefaengnis-runter-mit-der-hose-100.html, zuletzt eingesehen am 12.07.2022).

Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung

Neben den oben aufgeführten pädagogischen Herausforderungen ergibt sich bei der Vermittlung der Geschichte des Speziallagers Sachsenhausen auch noch eine inhaltliche Herausforderung. Während bei der Vermittlung der Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen eigentlich immer an bei der jugendlichen Zielgruppe zahlreich vorhandene Assoziationen zum Thema KZ und Nationalsozialismus angeknüpft werden kann, sind solche Vorkenntnisse zur sowjetischen Besatzung bei Weitem nicht so gut abrufbar. Durch eine deutlich geringere popkulturelle Repräsentation der Besatzungszeit im Allgemeinen und der Speziallager im Besonderen beginnt der Studientag viel stärker bei »null«. Die Teilnehmenden sollen aber genauso in die Lage versetzt werden, ein differenziertes Urteil über das Speziallager Sachsenhausen fällen zu können, wie es bei den Programmen zum KZ der Fall ist. Der Studientag hat daher mehr als andere pädagogische Programme der Gedenkstätte Sachsenhausen die Aufgabe, Kontextwissen zu vermitteln und dabei zur Mustererkennung und Urteilsbildung anzuregen. Als Erstes wird dafür am Beispiel der Situation in Deutschland bei Kriegsende auf die historischen Hintergründe eingegangen: Zum Beispiel werden anhand von Fotos und aussagekräftigen Zitaten die Shoah und deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion behandelt. Ebenso werden sowjetische Rachegelüste und die damit verbundene Gewalt gegen die deutsche Zivilgesellschaft thematisiert. Auch wird auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Bestrafung von NS-Tätern als Herausforderung für die Alliierten eingegangen. Zur Vertiefung der Themen »Entnazifizierung« und »Sicherung der Besatzungsherrschaft« wird danach an letzterem Punkt angesetzt und in einer kurzen Quellenübung mit verschiedenen Dokumenten der alliierten Besatzungsherrschaft gearbeitet. Um die Geschichte der Speziallager einordnen zu können, wird zunächst die Strafverfolgung von NS-Tätern sowie die Beseitigung der Naziideologie in der Gesellschaft erläutert. Basierend auf dem Automatic Arrest Handbook der US-Behörden und dem Befehl Nr. 00315 des sowjetischen Geheimdienstes NKWD wurden bereits im April 1945 die ersten Angehörigen von NS-Institutionen verhaftet und interniert. Die sowjetische Militäradministration nutzte darüber hinaus Militärtribunale, um die Beteiligung an NS-Verbrechen aber auch Verstöße gegen das Besatzungsrecht zu ahnden. Dabei sollten nicht nur wie in den Nürnberger Prozessen hohe Funktionäre und Mitglieder der NS-Elite bestraft werden, sondern auch Angehörige der mittleren und niedrigen Dienstränge. Während die Westalliierten die Entnazifizierung vor den Spruchkammergerichten deutlich von der Strafverfolgung von Gesetzesbrü-

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chen des Besatzungsrechts trennten, wurden im Speziallager Sachsenhausen auch Menschen inhaftiert, denen Verstöße gegen das Besatzungsrecht vorgeworfen wurde. Mit Beginn des Kalten Krieges kam das Interesse der Besatzungsmächte hinzu, die jeweilige Besatzungszone langfristig in den eigenen Machtbereich zu integrieren, was schließlich 1949 zur Gründung von BRD und DDR sowie 1950 zur Schließung der Speziallager führte. Die drei Aspekte Nationalsozialismus, Stalinismus und Besatzung können während des Studientags auch in einem Zeitstrahl erarbeitet werden, auf den im weiteren Verlauf des Programms immer wieder zurückgegriffen wird. Je nachdem wie viel Zeit für die Einführung zur Verfügung steht kann die Arbeit an dem Zeitstrahl mit verschiedenen zusätzlichen Methoden ausgedehnt oder kürzer gehalten werden. Soll der Fokus stärker auf ein Verständnis alliierter Besatzungsherrschaft gelegt werden, kann auch an einem detaillierteren Zeitstrahl zur Geschichte des Speziallagers Sachsenhausen gearbeitet werden. Neben der historischen Einordnung ist der zweite Baustein des Studientages die biographische Arbeit und die Situation der Häftlingsgemeinschaft in den unterschiedlichen Phasen der Inhaftierung. Um nachvollziehen zu können wie die drei Entwicklungslinien Nationalsozialismus, Stalinismus und Besatzungsherrschaft das Schicksal der Gefangenen des Speziallagers Sachsenhausen beeinflussten, sollen sich die Teilnehmenden anhand von ausgewählten Biografien ehemaliger Speziallagerhäftlinge die unterschiedlichen Gruppen unter den Häftlingen erschließen. Da die überlieferten Lagerakten in russischer Sprache verfasst und nur schlecht erhalten sind, können diese kaum pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden, weshalb auf andere Zeugnisse der Häftlinge zurückgegriffen wird. Dabei kommen sehr verschiedene Quellen zum Einsatz: schriftliche Erinnerungsberichte, lebensgeschichtliche Interviews aber auch historische Romane11 . Um die Quellen erschließen zu können, werden bei dieser Übung Methoden des quellenkritischen Arbeitens mit inhaltlicher Arbeit und Ergänzungen zum historischen Kontext miteinander kombiniert. Zur Geschichte der Speziallager lassen sich verschiedene Phasen in der Verhaftungspraxis der sowjetischen Besatzungsbehörden ausmachen. Zum

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Mit älteren Teilnehmer:innen kann zum Beispiel mit dem autobiografischen Roman »Kapitän Wakusch: Sachsenhäuschen« des ehemaligen Speziallager-Häftlings Giwi Margwelaschwili gearbeitet werden.

Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung

Beispiel wurden NS-Funktionär:innen wie Willy Wosny12 und Margarete Graßmann13 bereits im Sommer 1945 verhaftet und auch deutlich später entlassen. Dagegen wurden Hubert Polus14 und Reinhard Wolff15 , denen illegaler Waffenbesitz sowie Leonore Belotti16 , der die Verbreitung antisowjetischer Propaganda vorgeworfen wurde, erst nach Beginn des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses im Herbst 1945 verhaftet. Durch eine Übung, in der Verhaftungs- und Entlassungsdaten verschiedener Häftlinge des Speziallagers Sachsenhausen verglichen werden, sollen Muster und Motive der sowjetischen Behörden deutlich werden. 12

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Willy Wosny wurde 1911 in Hennigsdorf geboren und war von 1943 bis Ende des Kriegs Blockleiter der NSDAP in Hennigsdorf. Er wurde am 2. Juni 1945 wegen seiner Tätigkeit für die NSDAP verhaftet und am 12. Juli 1948 aus der Haft entlassen. In den 1980er Jahren verfasste er einen ausführlichen Erinnerungsbericht über seine Haft im Speziallager Sachsenhausen, der in Ausschnitten auch im Studientag eingesetzt wird. Margarete Graßmann wurde 1914 in Teltow geboren und war Jugendgruppenführerin beim Bund Deutscher Mädchen. Am 7. August 1945 wurde sie verhaftet und war bis zum 15. Juli 1948 in den Speziallagern Hohenschönhausen und Sachsenhausen inhaftiert. 1953 verließ sie die DDR und verfasste einen Erinnerungsbericht an ihre Haftzeit, der ebenfalls in Ausschnitten im Studientag eingesetzt wird. Hubert Polus wurde 1930 in Völpke geboren. Im März 1945 wurde er zum Volkssturm eingezogen, entsorgte ihm anvertraute Waffen aber im Wald. Im April 1945 lieferte er jene Waffen bei den sowjetischen Besatzungsbehörden ab. Am 10. April 1946 wurde er dennoch wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet und war deshalb vom 12. Juni 1946 bis zum 11. August 1948 im Speziallager Sachsenhausen inhaftiert. 2017 gab er Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte Sachsenhausen ein Videointerview, das in Ausschnitten im Studientag gezeigt wird. Hubert Polus verstarb 2022. Reinhard Wolff wurde 1929 geboren und wuchs in Altlandsberg auf. Kurz vor Weihnachten 1945 wurde er unter dem Vorwurf eine Pistole zu besitzen vom NKWD verhaftet und erst am 18. August 1948 aus dem Speziallager Sachsenhausen entlassen. 2017 drehten Schüler*innen einen Dokumentarfilm über seine Haftzeit in Sachsenhausen mit dem Titel »Alles um zu überleben«, aus dem Ausschnitte im Studientag gezeigt werden. Leonore Belotti, geb. Fink, wurde 1925 in Königsberg geboren und floh vor der sowjetischen Einkreisung der Stadt im Januar 1945 nach Schwerin. 1946 sandte sie einen Brief mit Schilderungen über sowjetische Verbrechen bei der Eroberung Königsbergs an eine Freundin in der britischen Besatzungszone. Der Brief wurde von der sowjetischen Zensurbehörde abgefangen und Belotti am 26. Juni 1946 wegen antisowjetischer Propaganda verhaftet. Am 4. Oktober 1946 wurde sie zusammen mit ihrer Mutter von einem sowjetischen Militärgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im Februar 1950 wurden beide aus dem Speziallager Sachsenhausen entlassen. Im April 2017 gab sie ein Videointerview, das in Ausschnitten im Studientag gezeigt wird.

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Falls zum Einstieg in den Studientag ein Zeitstrahl erarbeitet wurde, kann dieser als »Maßeinheit« zur weiteren Orientierung eingesetzt werden. Zudem sollte ein Eindruck vom geographischen Aufbau des Speziallagers vermittelt werden, um die Biografien besser in den historischen Kontext einordnen zu können. Erst nachdem sowohl Einzelschicksale, also auch die Zusammensetzung der Häftlingsgemeinschaft als Grundlagenwissen thematisch in der Gruppenarbeit erschlossen wurden, sollte eine Geländeführung am historischen Ort folgen. In diesem Abschnitt des Studientags werden Funktionen wichtiger Gebäude und Bereiche erläutert. So wird ein Übergang zur Auseinandersetzung mit dem Lageralltag geschaffen. Die Führung endet idealerweise im Speziallagermuseum. Dort werden in Kleingruppen anhand von ausführlichen Aussagen ehemaliger Häftlinge sowie der Dauerausstellung zur Geschichte des Speziallagers zwölf verschiedene Aspekte des Lageralltags im Speziallager Sachsenhausen behandelt. Dazu gehören unter anderem die Themenkomplexe »Essen und Versorgung«, »Arbeit im Lager« sowie »Sterben und Tod«. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Lageralltag kann auch über eine geographische Verortung des Erzählten auf einer Karte geschehen. Dazu wird der im Ausstellungskatalog genutzte Lageplan des Speziallagers Sachsenhausen genutzt und die Orte, die in den im Studientag eingesetzten Quellen beschrieben werden, angekreuzt. Durch diese Kombination soll sich zum einen der Ort besser erschließen lassen und zum anderen die Imagination des Erzählten erleichtert werden. Um die weitere historisch-politische Urteilsbildung der Teilnehmer:innen des Studientags zur Geschichte des Speziallagers Sachsenhausen im Sinne des Beutelsbacher Konsens zu fördern, schließt das Programm mit einer Übung zur Reflektion der Lerninhalte ab. Da es sich um ein Programm mit verschiedenen Thematiken handelt und Wissen unterschiedlich schnell angeeignet wird, bieten sich verschiedene Formen der Auswertung besonders an: In Frage kommen eine Positionierungsübung, die Zustimmung bzw. Ablehnung abfragt, oder stille Diskussionsmethoden. Zum Abschluss des Studientages kann ebenfalls auf die Frage nach angemessenen Gedenkformen und -ritualen eingegangen werden. Möglich ist, die Teilnehmenden um eine Einschätzung zu bitten, ob das Speziallager in der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen aktuell in angemessener Weise thematisiert wird. Erfahrungsgemäß kann während der Arbeit im Seminarraum durch die inhaltliche Einbettung der Geschichte der Speziallager in ihren historischen Kontext der Besatzungszeit vermieden werden, mit den Teilnehmenden in

Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung

die Falle des ständigen Vergleichs mit dem Konzentrationslager Sachsenhausen zu tappen. Schwieriger wird dies während des Geländerundgangs: Die Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen stellt an den meisten erhaltenen Gebäuden die Geschichte des Konzentrationslagers in den Vordergrund, wodurch sich automatisch ein vergleichender Blick ergibt. Allerdings hat die Gedenkstätte auch räumliche Möglichkeiten geschaffen, sich mit beiden Phasen der Geschichte des Ortes getrennt voneinander zu beschäftigen. Diese Möglichkeiten sollen im Folgenden beschrieben werden.

Räumliche Gestaltung Die zweifache Vergangenheit des Gedenkortes Sachsenhausen spielt nicht nur in der Gedenkstättenpädagogik eine wichtige Rolle, sondern drückt sich auch in der räumlichen Gestaltung und dem musealen Konzept der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen aus. Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte Anfang der 1990er Jahre entspannte sich eine Debatte darum, welchen Stellenwert die verschiedenen Geschichten des historischen Ortes – die des Konzentrationslagers sowie die des sowjetischen Speziallagers – in der Neukonzeption einnehmen sollten.17 Zwei Positionen wurden in der Debatte besonders deutlich: Auf der einen Seite gab es die vor allem von ehemaligen Speziallagerhäftlingen vorgetragene Position, welche mehr Aufmerksamkeit für die deutschen Nachkriegsopfer forderte, vermeintliche Opferhierarchien zurückwies und dabei immer wieder zumindest implizit auch die Singularität der NS-Verbrechen in Frage stellte. So äußerte sich der Waldheimkameradschaftskreis, ein Zusammenschluss ehemals Inhaftierter der sich für die Aufarbeitung von DDR-Unrecht einsetze, 1994 zur Neugestaltung wie folgt: »Die Opfer des Nationalsozialismus wie des Stalinismus starben als Opfer unmenschlicher, totalitärer Systeme […]. Herauszustellen ist daher die Unmenschlichkeit des Totalitarismus schlechthin, der die jeweilige Ideologie über das Wohl und das Leben seiner Bürger stellt. Dargestellt werden kann 17

Zur Debatte siehe Petra Haustein: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzung um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006 sowie Andrew H. Beattie: Gedenkstätten als Katalysatoren geschichtspolitischer Konflikte. Umstrittene Erinnerung und Konkurrenz der Opfer, in: Heitzer, Enrico u.a. (Hg.): Von Mahnstätten über Zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus? Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen in Polen und Deutschland, Berlin 2016, S. 84–94.

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auch die Methode, mit der Idealismus und Gutgläubigkeit der Menschen zum Kampf gegen sogenannte ›Volks- und Klassenfeinde‹ mißbraucht wurden.«18 Auf der anderen Seite stand die vor allem von ehemaligen KZ-Häftlingen vertretene Gegenposition, welche die Singularität der NS-Verbrechen betonte, gegen eine vermeintliche Relativierung und Verhöhnung von NS-Opfern eintrat und eine Gleichsetzung mit Opfern des Kommunismus befürchtete. Der Verein der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten beispielsweise ließ verlauten: »(Wir) lehnen […] jede Vermischung zwischen nationalsozialistischen Konzentrationslagern und den 1945 von den Alliierten errichteten Internierungslagern ab. Diese Lager, […] wurden errichtet, um die Täter des Jahres 1933–45 und deren Handlanger zu inhaftieren. An diesen Personenkreis im Rahmen oder am Rande einer KZ-Gedenkstätte zu erinnern und ihn in das Gedenken einzuschließen, käme einer Vermischung von Tätern und Opfern gleich.«19 Festzuhalten ist, dass sich hier die Frage nach der Beziehung und dem Verhältnis zwischen zwei Verbrechenskomplexen stellt, die im selben Konfliktraum ausgehandelt wurde. Dabei spielten das Ringen um Anerkennung sowie das Zugestehen von Raum für Erinnerung und Gedenken eine zentrale Rolle. Bekanntlich mündete die Debatte inhaltlich in einem Kompromiss, welcher sich in der bereits erwähnten »Faulenbach-Formel« niederschlug. Interessanter Weise findet dieser Kompromiss auch räumlich-konzeptionell seinen Ausdruck. Der Gedenkort Sachsenhausen zeichnet sich durch ein für KZ-Gedenkstätten durchaus ungewöhnliches, dezentrales Ausstellungskonzept aus. Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte ab 1993 wurde das Gelände kontinuierlich mit verschiedenen Einzelausstellungen zu bestimmten Themenkomplexen wie der Geschichte des Konzentrationslagers Oranienburg, des Konzentrationslagers Sachsenhausen, des Sowjetischen Speziallagers sowie der Geschichte der Gedenkstätte selbst erweitert. Die thematischen Darstellungen sind dabei jeweils mit den konkreten historischen Orten verknüpft. Für das 2001 eröffnete Speziallagermuseum wurde ein Neubau an der Nordspitze des 18

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Stellungnahme des Waldheim-Kameradschaftskreis, 1994, Protokoll über die 91. Sitzung des Innenausschusses, »Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten«, 07. März 1994, S. 539f. Stellungnahme des VVN-BdA, ebd., S. 530f.

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Geländes geschaffen.20 Historisch befand sich hier ab 1943 das Sonderlager des Konzentrationslagers. Die noch erhaltenen Steinbaracken wurden allerdings auch als Unterkunftsbaracken des Speziallagers genutzt. Das Speziallagermuseum ist so räumlich vom Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers getrennt in einem separaten Gebäude untergebracht und befindet sich außerhalb des dreieckigen, ehemaligen Häftlingslagers, dem Kern der heutigen Gedenkstätte.

Lageplan zum historischen Bebauungszustand des Speziallagers Sachsenhausen 1947–1948.

Quelle: Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

Ähnlich wird mit dem besonders sensiblen Thema des Totengedenkens verfahren. Während die auf dem westlich gelegenen ehemaligen Industriehof 20

Hierzu vgl. Horst Seferens: »Der systematische Schein des Unsystematischen«, in: Gedenkstättenrundbrief 105, (2002) 1, S. 14–20.

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des Konzentrationslagergeländes angesiedelten Überreste der »Station Z«, einem ab 1942 als Krematorium und Vernichtungsort genutzten Gebäude, als zentraler Gedenkort für die Toten der Jahre 1936 bis 1945 fungiert, dient das nördlich gelegene Gräberfeld hinter dem eigentlichen Gedenkstättengelände als Gedenkort für die Toten des Speziallagers.

Historische Schichten im Dialog Trotz dieser räumlichen Trennung zwischen den historischen Zeitschichten gibt es auch zwangsläufig Bereiche in Sachsenhausen, an denen sich die verschiedenen historischen Schichten des Ortes überlagern und in einen Dialog treten. Beispielsweise sehen sich Besucher:innen im sogenannten Kartoffelschälkeller in der ehemaligen Häftlingsküche mit mehreren verblassten Wandmalereien konfrontiert. Besonders ins Auge fallen die comicartigen Darstellungen vermenschlichter Gemüse. Kartoffeln schrubben sich gegenseitig, Gurken tragen Kürbisse, Pastinaken inspizieren Karotten, fröhliche Figuren als künstlerische Anspielung auf das Leben im Lager. Daneben befinden sich ruhigere Bilder, eine Landschaftsdarstellung mit Bäumen und See sowie eine Graphik aus bunten Blumen. Es ist nicht unmittelbar klar, aus welcher Periode der Ortsgeschichte die Bilder stammen. Tatsächlich war dies lange selbst unter Gedenkstättenmitarbeiter:innen umstritten.21 Ein Ausstellungstext sowie -film gibt heute Aufschluss über die Geschichte dieser Malereien. Es handelt sich um Überreste sowohl aus der Zeit des Konzentrationslagers als auch des Sowjetischen Speziallagers. Die Landschaftsund Blumenbilder wurden wahrscheinlich von tschechischen KZ-Häftlingen angefertigt. Dass solche Arbeiten von der Lager-SS unbemerkt verrichtet werden konnten, scheint unwahrscheinlich. Vermutlich handelt es sich eher um Auftragsarbeiten. Trotzdem lässt sich die Bedeutung solch idyllischer Bilder im tristen Lageralttag erahnen. Der nach 1945 im Speziallager internierte Trickfilmzeichner Hans Fischerkoesen wiederum fügte die Cartoons hinzu. Auch hier ist nicht klar, unter welchen Umständen er in der Lage war, diese aufwendigen Arbeiten auszuführen und wie er an die benötigten Utensilien kam. Hier treten die historischen Schichten des Ortes eng zusammen und lassen sich kaum unterscheiden. Fast automatisch werden sie dadurch auch 21

Vgl. Martina Madner: Comics im Konzentrationslager, in: taz.die tageszeitung, 27.07.1999, S. 15.

Gedenkstättenpädagogik und räumliche Gestaltung

in Bezug zueinander gesetzt. Denn an beide Zeichnungen stellen sich Fragen nach der Entstehungsgeschichte, den Haftbedingungen, unter denen solche Arbeiten möglich waren, dem Alltag der Häftlinge sowie der Bedeutung von Kunst und Widerstand im Lager. Die Bezüge sind da, ob man will oder nicht. Ist die Herstellung dieser Bezüge nun problematisch oder gewinnbringend? Wir denken, sie ist Herausforderung und Chance zugleich. Es ist Aufgabe der Pädagogik, diese Fragen und Bezüge einzufangen und zu differenzieren, auf die verschiedenen Entstehungskontexte zu verweisen, ohne Parallelen per se zu negieren. Im Idealfall entsteht so ein Dialog, der die Besucher:innen selbst befähigt, historisch adäquat zu vergleichen.

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Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf Sichtbarkeit eines kleinen Gedenkortes in Brandenburg Freya Ziegelitz

Mehr als dreißig Jahre nach der ersten Gedenkveranstaltung auf dem Gelände der ehemaligen DEKA (Deutsche Kabelwerke Aktiengesellschaft) Wohnsiedlung sitzen die drei Vertreter:innen der Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V. Eckhard Fichtmüller (Vorstand), Alfred Schubert (Vorstandsmitglied) und Angela Kiefer-Hofmann (Archiv) gemeinsam mit drei Berliner Studierenden in den Räumen der Initiativgruppe in Fürstenwalde.1 Der Anlass des Gesprächs ist ein bevorstehendes Praxisprojekt, welches von den Studierenden, unterstützt durch das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) und finanziert durch die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD), im Sommer 2021 durchgeführt werden soll. Das Ziel dieses Projekts ist es, das zivilgesellschaftliche Engagement der Initiativgruppe für die Erinnerung an das Speziallager Ketschendorf durch Interviews mit den Vorstandsmitgliedern und ehrenamtlichen Unterstützer:innen zu dokumentieren und zu konservieren. Der Diskurs über Opfer- und Gedenkortkonkurrenzen in Potsdam und Brandenburg erstreckt sich über diverse Erinnerungsorte, Zeitschichten und Themen, die alle eines gemeinsam haben: Sie wollen die Erinnerungen an Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts und ihre Aufarbeitung am Leben erhalten. Die Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V. bemüht sich seit den 1990er Jahren um ein regionales und lokales

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Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes hat sich die Zusammensetzung des Vorstandes der Initiativgruppe verändert. Eckhard Fichtmüller hat den Vorstandsvorsitz abgegeben und auch Alfred Schubert hat sich aus dem Vorstand zurückgezogen. Im Zuge dessen konsolidierte sich ab Oktober 2021 ein neuer Vorstand. Das Archiv wird weiterhin von Angela Kiefer-Hofmann geleitet.

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Gedenken an die Toten des Sowjetischen Speziallagers in Ketschendorf, einem Stadtteil von Fürstenwalde/Spree. Geprägt von institutionalisierten, politischen und persönlichen Aushandlungsprozessen, versucht die Initiativgruppe den Gedenkort zu erhalten und mit Leben zu füllen, um ihn in der Reihe der Gedenkorte in Brandenburg zu etablieren. Damit stehen die Gruppe und der Ort in Konkurrenz zu großen und institutionalisierten Gedenkorten wie z.B. der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen. Sich hier eine Stimme zu verschaffen und für den Erhalt der Gedenkorte zu streiten ist eine Aufgabe, für die sich die ehrenamtlich engagierten Initiativgruppenmitglieder seit deren Gründung 1991 einsetzen. Aus der Erkenntnis und der Motivation heraus, die Geschichte des Speziallagers Nr. 5 Ketschendorf auch selber schreiben und erzählen zu können, vielleicht auch zu müssen, wurde die Initiativgruppe in den letzten 15 Jahren in Fürstenwalde zur Ansprechpartnerin für eine nicht geringe Anzahl an Zeitzeug:innen und Überlebenden des Speziallagers. Mit ihrer Unterstützung und unter Mitarbeit des Historikers Andreas Weigelt gelang es der Initiativgruppe 2014 ein Totenbuch2 für das Speziallager zu publizieren und damit auch die Geschichte des Ortes und die Namen der dort Verstorbenen sichtbar zu machen.

Die Geschichte des Ortes Im Süden der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenwalde/Spree, dem Stadtteil Ketschendorf, befindet sich eine unscheinbare Wohnsiedlung, die sich über zahlreiche Ein- und Mehrfamilienhäuser erstreckt. Auf den ersten Blick erscheint der Ort wie eine herkömmliche Ansammlung von Häusern, gepflasterten Gartenflächen, frisch geharkten Beeten und gepflegten Straßen. Am Eingang der Siedlung, direkt neben einem Café, befindet sich jedoch eine dunkelrote Informationstafel, die über die Geschichte des Ortes informiert. In großen weißen Lettern steht auf dem Schild Sowjetisches Speziallager Nr. 5 2

Das 2014 erschienene Totenbuch des sowjetischen Speziallagers Ketschendorf besteht sowohl aus Namenslisten, derjenigen Menschen, die im Speziallager Ketschendorf gestorben sind, als auch aus einem wissenschaftlichen Text des Historikers Andreas Weigelt. Es ist dementsprechend ein Gedenkbuch an die ehemaligen Insassen Ketschendorfs und gleichzeitig ein Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des Speziallagers. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V. (Hg.): Totenbuch Sowjetischen Speziallager Nr. 5 Ketschendorf 1945–1947, Berlin 2014.

Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf

Ketschendorf. Eine überschaubare Sammlung an kurzen Texten und Bildern klärt die Leser:innen darüber auf, dass die Wohnsiedlung 1940 als Wohnort für Arbeiter:innen der DEKA in Ketschendorf gebaut wurde.3 Mit dem Kriegsende beschlagnahmte die sowjetische Geheimpolizei/NKWD die Siedlung. Es folgte die Einrichtung eines Internierungslagers für Nationalsozialist:innen und Angehörige von NS-Organisationen ab dem 1. Mai 1945. Die Wohnsiedlung wurde nun als Lager genutzt, das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf. Einen Tag später wurden die ersten Personen in den 180 Wohnungen der Siedlung als Speziallagerinsassen interniert.4 Insgesamt wurden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zehn Sowjetische Speziallager errichtet. Ziel der sowjetischen Besatzung war es, das besiegte Deutschland von »feindlichen Elementen«5 zu säubern und somit die SBZ zu entnazifizieren. Bis zur Auflösung des Speziallagers Ketschendorf im Februar/März 1947 wurden dort mehr als 10 000 Menschen interniert. Die Beleglisten verzeichnen mehr als 500 Mädchen und Frauen, 7000 Männer, mindestens 1500 männliche Jugendliche sowie etwa 1500 Gefangene nichtdeutscher Nationalität. Die Zahlen sind unvollständig, da Ketschendorf als Durchgangslager fungierte. Es ist davon auszugehen, dass tausende Inhaftierte nicht registriert wurden. Der häufigste Vorwurf gegenüber den Festgenommenen war der, NSDAP-Funktionär:innen oder Mitarbeiter:innen von NS-Organisationen gewesen zu sein. Jugendliche wurden oftmals wegen der vermuteten Zugehörigkeit zu den »Werwölfen« interniert. Neben vermeintlichen Schuldigen wurden auch Unschuldige und willkürlich verhaftete Menschen in den Speziallagern interniert. Auch Gegner:innen der neuen politischen Ordnung wurden von der sowjetischen Geheimpolizei festgenommen, verhört und inhaftiert. Festzuhalten ist, dass es kaum Gerichtsprozesse gab, die einer Internierung vorausgingen, weshalb die politische Beurteilung der Menschen vielerorts nicht über einen Verdacht und eine anschließende Inhaftierung hinausging.6

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Anna Kaminsky (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, 3. überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Berlin 2016, S. 190. Vgl. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V., Totenbuch, S. 153f. Vgl. ebd., Totenbuch, S. 9. Vgl. ebd.

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Die hygienischen Bedingungen, die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und die fehlende medizinische Versorgung bewirkten eine hohe Sterblichkeit unter den Häftlingen. Derzeit wird davon ausgegangen, dass mindestens 4.620 der Insassen durch die mangelnde Versorgung im Speziallager Ketschendorf gestorben sind. Andere Schätzungen gehen von 6000 Toten aus.7 Bestattet wurden die Verstorbenen in der Nähe der heute angrenzenden Autobahn (A12), am hinteren Rand des Speziallagers. Zunächst wurden Einzelgräber oder kleine Sammelgräber ausgehoben, bereits nach acht Wochen, ab Juli 1945, wurden die Verstorbenen jedoch in Massengräbern verscharrt.8 Nach der Auflösung des Speziallagers Ketschendorf im Frühjahr 1947 wurden die knapp 600 verbliebenden Insassen entweder in andere Speziallager verbracht oder nach »Sibirien«, in das sowjetische Arbeitslagersystem GULag, deportiert.9 Einige wenige wurden auch aus der Haft entlassen.10 1952/53 wurden bei Ausschachtungsarbeiten für Wohnhäuser die Überreste von etwa 4.499 Toten entdeckt. Diese wurden exhumiert und auf dem Grabfeld IX des ca. 40 Kilometer von Ketschendorf entfernten Waldfriedhofs in Halbe umgebettet.11 Die Nutzung des Geländes für eine weitere Wohnsiedlung und damit verbundene Baumaßnahmen sowie das vom SED-Regime unerwünschte Gedenken an die Opfer des Speziallagers Ketschendorf waren wahrscheinlich der Grund für die Exhumierung und Umbettung der Toten. Bis zum Mauerfall und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten fand in Ketschendorf, beziehungsweise Fürstenwalde Süd, kein offizielles Gedenken an das Sowjetische Speziallager statt. Im Gegenteil: Die Geschichte des Speziallagers oder die persönlichen Hafterfahrungen in diesen wurde nicht nur beschwiegen, sondern offiziell als »Hetze« gegen den sozialistischen Staat

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Vgl. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V.: Geschichte, in: Internierungslager Ketschendorf, online abrufbar unter: https://sln5.de/geschic hte/ (zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2022); Vgl. Orte des Erinnerns, Hg. Kaminsky, S. 191. Vgl. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V., Totenbuch, S. 185. Vgl. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V.: Geschichte, in: Internierungslager Ketschendorf, online abrufbar unter: https://sln5.de/geschic hte/aufloesung-des-lagers-ketschendorf/ (zuletzt aufgerufen am 19. 8. 2022). Es sind keine genauen Zahlen über die Entlassungen aus dem Speziallager Ketschendorf vorhanden. Vgl. Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 e.V., Totenbuch, S. 185. Vgl. ebd., S. 216f.

Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf

eingestuft. Erst im Frühjahr 1990 war es möglich am Runden Tisch in Fürstenwalde ein künftiges Gedenken an die Toten Ketschendorfs zu diskutieren, ohne eine Ahndung der Versammlungen zu befürchten. Die Teilnehmer:innen am Runden Tisch waren sowohl ehemalige Lagerinsassen Ketschendorfs als auch Multiplikator:innen der Stadt- und Kirchenverwaltung. Im Zuge ihrer Diskussionen konsolidierte sich die Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf/Speziallager Nr. 5 und beschloss Ende April 1990 am 8. Mai 1990 eine erste öffentliche Gedenkveranstaltung durchzuführen.12 Die Initiativgruppe, geleitet von sieben ehemaligen Insassen des Speziallagers, installierte zudem in den frühen 1990er Jahren Gedenkzeichen am Standort der ehemaligen Massengräber in Fürstenwalde und auf dem Waldfriedhof in Halbe.13 Mit der Gedenkveranstaltung 1990 und der Errichtung der Gedenkzeichen fand die Geschichte des Speziallagers Ketschendorf zum ersten Mal einen festen Ort/Platz in der Stadtgeschichte Fürstenwaldes. Im Anschluss an den Erfolg der ersten Gedenkveranstaltung an die Internierten des Speziallagers Ketschendorf am 8. Mai 1990 beschlossen die Mitglieder der Initiativgruppe Anfang der 1990er Jahre sich für mehr Sichtbarkeit der Grabfelder X und XI auf dem Waldfriedhof in Halbe einzusetzen. Die bis dato unvollständig gekennzeichneten Ruhestätten, der in den 1950er Jahren umgebetteten Verstorbenen des Speziallagers, sollten durch eine Informationstafel sichtbar gemacht werden. Gemeinsam mit dem internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) wurden ab 1990 die Identitäten der Verstorbenen recherchiert, um ein »würdiges Totengedenken zu unterstützen.«14 Anknüpfend an den Bemühungen des DRK und auf Anregungen der Initiativgruppe wurde eine Tafel mit folgender Inschrift installiert: »Ruhestätte von Opfern des Internierungslagers Nr. 5 Ketschendorf. Umgebettet 1952/53.«15 Anschließend an diesen Teilerfolg der Sichtbarmachung definierte die Initiativgruppe in den späten 1990er Jahren ein neues Anliegen bezüglich des Waldfriedhofes in Halbe: Es solle eine Ergänzung der bisherigen Gedenktafeln durch eine Auflistung der Namen der Toten des Speziallagers stattfinden. Trotz der geringen personellen und finanziellen Ressourcen der Initiativgruppe begann 2002 in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine zweijährige Recherche der Initiativgruppe. Es

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Vgl. ebd., S. 233. Vgl. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 241. Ebd.

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gelang der Gruppe die Namen von 4.621 Menschen zu recherchieren, die im Speziallager Ketschendorf gestorben waren. Die Einweihung von 49 Namenstafeln am 8. Mai 2004 an den Grabfeldern X und XI auf dem Waldfriedhof in Halbe ist bis heute ein Höhepunkt der Arbeit der Initiativgruppe, 2009 wurden 213 zusätzliche und korrigierten Namen ergänzt.16

Gedenkstein im ›Wäldchen‹ des ehemaligen Lagergeländes in Fürstenwalde.

Quelle: Freya Ziegelitz, 2021

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Ebd.

Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf

Ein Dokumentationsprojekt Bettina Greiner nennt die Geschichte der Sowjetischen Speziallager in Deutschland eine »erinnerungskulturelle Leerstelle« und spielt damit auf die fehlende Repräsentation von Erinnerungsorten wie denen der Initiativgruppe Ketschendorf an.17 Gegen diese »Unsichtbarkeit und damit Randständigkeit des Themas innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Erinnerungskultur« kämpfen die Engagierten in Fürstenwalde seit der Auflösung des Speziallagers Nr. 5 im Frühjahr 1947 an.18 Denn »trotz intensiver Forschungsanstrengungen« und zunehmenden »Diskussionen um nationale Gedenkstättenkonzepte sind die Speziallager ein ›leerer‹ Erinnerungsort geblieben.«19 Der häufig aufkommende Vorwurf einer »Selbstviktimisierung« der ehemaligen Speziallagerinsassen oder deren Nachfahren belastet den Diskurs zusätzlich.20 Denn »in der landläufigen Logik nationaler Identitätsbildung schließen sich die Opfer- und die Täterrolle kategorisch aus.«21 Inhalte, die nicht in diese feste Vorstellung von kollektiver Erinnerung passen, werden in der öffentlichen Diskussion kaum behandelt. Die weitgehende »Dethematisierung« der Geschichte der Sowjetischen Speziallager schlägt sich bis heute auf die Aufarbeitungsbemühungen der Initiativgruppe Ketschendorf nieder. Der »Wettbewerb um die Anerkennung des Opferstatus« spiegelt sich gerade in der Debatte um die Erinnerung an die Sowjetischen Speziallager und deren Opfer und wirkt sich für die Initiativgruppe Ketschendorf in vielerlei Hinsicht auf ihre alltägliche Arbeit aus.22 Die permanente Konkurrenz zu größeren und bekannteren Gedenkorten im Raum Berlin/Brandenburg macht es der Initiativgruppe nicht leicht, sich in der Öffentlichkeit und der Erinnerungskultur einen Platz zu bewahren.

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Bettina Greiner: Sowjetische Speziallager in Deutschland. Anmerkungen zu einer erinnerungskulturellen »Leerstelle«, in: Andreas Wirsching/Jürgen Zarusky/Viktor Ischtschenko/Alexander Tschubarjan (Hg.): Erinnerung an Diktatur und Krieg, Oldenburg 2015, S. 377–386, hier S. 377. Ebd. Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010, S. 378. Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 208. Ebd., S. 212. Assmann: Unbehagen, S. 206.

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Zusätzlich erschwert es der stark lokale und regionale Fokus der Initiativgruppe in den Austausch mit anderen Initiativgruppen oder Gedenkorten von stalinistischen Verbrechen zu treten. Eckhard Fichtmüller war mehr als zehn Jahre der Vorstandvorsitzende der Initiativgruppe und betont, dass sie »natürlich zu Jamlitz und auch zu Fünfeichen einen lockeren Kontakt« pflegen.23 Fichtmüller weiter: »Wir wissen voneinander, tauschen unsere Informationen aus und sind damit eben auch miteinander verbunden.«24 Eine Zusammenarbeit zwischen der Initiativgruppe Ketschendorf und den großen öffentlich geförderten Gedenkstätten wie Buchenwald, Hohenschönhausen und Sachsenhausen lehnt der Vorstand jedoch ab. Sich in die Abhängigkeit einer staatlich geführten Institution zu stellen und die damit verbundenen Anforderungen und Ansprüche erfüllen zu müssen, scheint für die Initiativegruppe bisher keine Option zu sein. Die Initiativgruppe besteht aus ehrenamtlich tätigen Personen, die sich in ihrer Freizeit der Arbeit für das Gedenken an das Speziallager Ketschendorf verschrieben haben. Das Hauptaugenmerk des Vorstandes liegt dabei laut Alfred Schubert darauf, zu erreichen, dass »die Spezifik der Internierungslager, dass die nicht zu sehr in Vergessenheit gerät bzw. instrumentalisiert wird.«25 Die hierfür vorhandenen Ressourcen begrenzen sich auf die Kapazitäten der ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen der Initiativgruppe. Eckhard Fichtmüller wurde 1990 als Pfarrer und Vertreter seiner Gemeinde an den Runden Tisch Fürstenwaldes entsandt, an dem sich die konsolidierende Initiativgruppe versammelt hatte, um eine Gedenkveranstaltung zu planen. Das seitdem vorherrschende Narrativ der Initiativgruppe fasst er folgendermaßen zusammen: »Jetzt ist es Zeit, jetzt müssen wir an dieses Thema ran und es auch öf-

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Im Zusammenhang mit dem Praxisprojekt von Studierenden der Public History an der FU Berlin führten Josephine Eckert, Thomas Köhler und Freya Ziegelitz Interviews mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter:innen der Initiativgruppe Ketschendorf. Die Zitate von Alfred Schubert, Eckhard Fichtmüller, Ingolf Poetsch und Angela Kiefer-Hofmann sind im Zuge dieser Interviews entstanden. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wurden die zitierten Interviews grammatikalisch angepasst. Hier: Interview zwischen Freya Ziegelitz und Eckhard Fichtmüller in Fürstenwalde am 22. Juli 2021. Im Folgenden abgekürzt als FZ und EF. FZ und EF. Interview zwischen Thomas Köhler und Alfred Schubert am 22. Juli 2021 in Fürstenwalde Spree. Im Folgenden abgekürzt als TK und AS.

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fentlich machen und gleichzeitig auch nochmal eine Form suchen, wo der Toten dann auch auf eine ehrenvolle Weise gedacht wird.«26 Der zumeist subjektive und regionale Zugang zur Geschichte Ketschendorfs erschwert es der Initiativgruppe, sich die Aufmerksamkeit eines überregionalen Publikums zu sichern. Auch hier stehen kleine, privat organisierte Initiativgruppen in starker Konkurrenz zu den großen Gedenkorten, die durch ihre staatliche Förderung auf umfangreiche finanzielle Ressourcen zurückgreifen können. Diese Orte können dadurch sowohl mit einem wechselnden und diversen Programm bespielt werden als auch umfassend beworben werden, wie zum Beispiel mit einem medialen Auftritt in den sozialen Netzwerken. Im Gegensatz dazu sind die Initiativgruppen kleiner Gedenkorte von den Beiträgen ihrer Mitglieder und der Finanzierung konkreter Projekte abhängig. Allerdings überschreitet die Beantragung dieser Mittel laut Eckhard Fichtmüller die Kapazitäten der ehrenamtlich engagierten Mitarbeiter:innen häufig, wodurch es oftmals zu keiner Antragsstellung und daraus resultierend zu keiner Förderung kommt.27 Der Anspruch neue Wege zu gehen, so konträr er sich für manche Initiativmitglieder anfühlen mag, ist jedoch vorhanden. Alfred Schubert ist sich der schwindenden Aufmerksamkeit für die Geschichte Ketschendorfs bewusst. Seiner Meinung nach liegt das unter anderem an der abnehmenden Möglichkeit, Zeitzeug:innen in die Erinnerungsarbeit einzubinden: »Wir versuchen natürlich, so lange noch Zeitzeugen da sind, das aufrecht zu erhalten, aber es wird immer weniger werden und wir werden auch neue Formen finden müssen, wie wir das Gedenken aufrechterhalten.«28 Ergänzend hierzu beschreibt die Archivarin der Initiativgruppe Angela Kiefer-Hofmann »die Aufarbeitung insgesamt« als Umbruch: »Es kommt jetzt […] für die Initiativgruppe Ketschendorf eine Zeitenwende«, derer sich der Vorstand bewusst sei und entsprechend reagieren möchte.29 An dieser Erkenntnis ansetzend, beschloss der Vorstand der Initiativgruppe ab den 2010er Jahren, seine Tätigkeiten auszudehnen und auch eine jüngere Zielgruppe zu berücksichtigen. Sich ein Vorbild an institutionalisierten Gedenkorten nehmend, nahm die Initiativgruppe Kontakt mit Ingolf Poetsch

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FZ und EF. Ebd. TK und AS. Interview zwischen Josephine Eckert und Angela Kiefer-Hofmann am 22. Juli 2021 in Fürstenwalde Spree. Im Folgenden abgekürzt als JE und AKH.

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auf, der seit 2013 als Gedenkstättenlehrer tätig ist, seit 2017 auch für die Geschichtswerkstatt in Fürstenwalde Süd. Gemeinsam mit Schüler:innen umliegender Ortschaften und Städte erkundet Ingolf Poetsch mit Formaten wie Geocaching unter dem Programm Where-I-Go das ehemalige Lagergelände des Speziallagers Ketschendorf. Seiner Meinung nach geht es darum, »die Jugendlichen immer aus ihrer Welt abzuholen« und sie mittels bekannter Medien anzusprechen.30 Er sei bereits des Öfteren davon überrascht worden, wie gut die Schüler:innen auf Bildungsprogramme ansprechen, die ein Thema behandeln, »was vor ihrer Nase, oder vor ihrem Lebensraum selbst überhaupt passiert ist.«31 Mit dem Fokus auf die lokalen Spuren der Geschichte bewegen sich sowohl Ingolf Poetsch, als auch die Initiativgruppe Ketschendorf im Rahmen der aktuellen Zugänge der Museums- und Gedenkstättenpädagogik. In vielen Fällen sind die ehemaligen Lagerstandorte zu Gedenkorten geworden, »deren historische Bausubstanz nicht mehr existieren oder die mehrfach überformt sind.«32 Deshalb bedarf es hier einer medialen Ergänzung, um die historischen Spuren erneut sichtbar werden zu lassen. Im Falle des Speziallagers Ketschendorf sind die Gebäude des früheren Lagers zwar noch vorhanden, allerdings dienen sie inzwischen wieder als Wohnungen, die Häuser sind renoviert und die Vorgärten ordentlich gepflegt. Ohne Erläuterungen oder erkennbare Erinnerungszeichen wird die Geschichte des Ortes nicht sichtbar. Nicht nur die Gedenkstätten haben mit dem Alter der Zeitzeug:innen zu kämpfen, das bei der Planung der Veranstaltungen immer stärker berücksichtig werden muss. Auch die Initiativgruppe Ketschendorf sieht sich stark mit der Frage konfrontiert, wie lange der Vorstand und der enge Kreis der Mitarbeiter:innen noch für die Initiativgruppe tätig sein kann. Eckhard Fichtmüller plante seit einigen Jahren seinen Rücktritt als Vorstandsvorsitzender: »Wenn ich 80 bin, dann lege ich das alles in andere Hände.«33 Nach einer längeren Überredungszeit konnte Eckhard Fichtmüller seinen Enkel für die Leitung des Vorstandes der Initiativgruppe gewinnen. Das Problem hierbei ist jedoch, dass die Mitglieder des neuen und jüngeren Vorstands »in Positionen [sind, F.Z], 30 31 32

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Interview zwischen Thomas Köhler und Ingolf Poetsch am 22 Juli 2021 in Fürstenwalde Spree. Im Folgenden abgekürzt als TK und IP. Ebd. Fabian Müller/Martina Ruppert-Kelly: Gelände erkunden. Virtuelle Medien bei der Vermittlung an Gedenkorten, in: Elke Gryglewski/Verena Haug/Gottfried Kößler/Thomas Lutz/Christa Schikkora (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, S. 251–262, hier S. 251. FZ und EF.

Das Sowjetische Speziallager Nr. 5 Ketschendorf

wo sie selber so eingedeckt sind in Arbeit, dass sie selber dieses alles gar nicht machen können.«34 Das Resümee von Eckhard Fichtmüller ist, dass er und der restliche Vorstand »solange wir es können« die Erinnerungsarbeit weiterführen wollen »und die Stadt wird uns dabei unterstützen, damit wir das erhalten können.«35 Auch Alfred Schubert verschreibt sich weiterhin der ehrenamtlichen Tätigkeit für die Initiativgruppe: »Ich werde, solange meine Kräfte reichen, hier zur Verfügung stehen, um die Arbeit fortzusetzen.«36 Die Stadt Fürstenwalde/Spree als Unterstützerin der Initiativgruppe ist gerade für die Umsetzung von Projekten und die Bereitstellung des Archivs für pädagogische Programme oder Recherchen essenziell. Die Räumlichkeiten der Initiativgruppe im Stadtzentrum Fürstenwaldes werden von der Stadt bezuschusst und sind nur auf diese Weise finanzierbar. Auch die jährliche Gedenkveranstaltung für die Opfer des Speziallagers Ketschendorf könnte ohne die Unterstützung und den Zuspruch der Stadt nicht realisiert werden. Gleichzeitig scheint die Geschichte des Speziallagers jedoch ein stark begrenzter und daher weniger sichtbarer Bestandteil der Stadtgeschichte Fürstenwaldes zu sein: Bis auf den Verweis zur Website der Initiativgruppe Ketschendorf und eines knappen Informationstextes findet die Geschichte des Speziallagers auf der Website der Stadt Fürstenwalde/Spree nur marginal Erwähnung. Weder die Gedenkveranstaltungen noch die Installationen von Gedenkzeichen werden in der Stadtchronik berücksichtigt.37 Es braucht demnach weiterhin ein hohes Maß an Unterstützung von Vorstandmitgliedern, ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter:innen, anderen Initiativgruppen und Institutionen sowie der Stadt Fürstenwalde/Spree, damit die Initiativgruppe Ketschendorf ihre Erinnerungsarbeit weiterführen kann.

Ausblick Während der Drehtage vom 22. bis zum 24. Juli 2021 in Fürstenwalde Spree und dem Austausch mit den Mitarbeiter:innen der Initiativgruppe mit uns als

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Ebd. Ebd. TK und AS. Vgl. Stadt Fürstenwalde Spree: Gedenkstätten, in: Stadtgeschichte Fürstenwalde Spree, online abrufbar unter: https://www.fuerstenwalde-spree.de/seite/205195/stad tgeschichte.html (zuletzt aufgerufen am 5. 4. 2022).

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Student:innen wurde deutlich, dass es ein hohes Maß an Engagement, Beständigkeit und Durchhaltevermögen erfordert, einen solchen Gedenkort Sichtbarkeit in einem konkurrierenden Feld der Gedenkstättenlandschaft zu verschaffen. Die Erinnerungsarbeit der Initiativgruppe kann als erfolgreich bewertet werden. Sie erstreckt sich von der ersten Gedenkveranstaltung 1990 und der Installation von Gedenkzeichen über die Eröffnung der Geschichtswerkstatt am ehemaligen Lagergelände, die Dokumentation von Zeitzeug:innengesprächen, der Einrichtung des Archivs bis hin zur Durchführung unseres Praxisprojekts mit dem Film-Rundgang über das Gelände. Dennoch nimmt der Schwung, den der Umbruch 1990 in die Aufarbeitung der Besatzungszeit gebracht hat, kontinuierlich ab, was sich deutlich in einem Rückgang der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Arbeit der Initiative niederschlägt. Eckhard Fichtmüller fasst seine Motivation für sein jahrzehntelanges Engagement mit folgendem Satz zusammen: »Irgendwie ist es auch ein Stück von dem, was mich geprägt hat.«38 Und genau diese persönliche Facette des Engagements ehrenamtlicher Mitarbeiter:innen ist der Kern einer autonomen Initiativgruppe wie der in Fürstenwalde. In den ehrenamtlichen Freiheiten und Flexibilitäten, die der beständigen erinnerungspolitischen Arbeit manchmal im Weg stehen können, zeigt sich gleichzeitig das Potenzial eines nicht staatlich geführten Zusammenschlusses von Geschichtsbildner:innen. Mit der Durchführung und Archivierung der Interviews erhoffen wir uns eine Konservierung dieses Engagements und möchten die Relevanz der ehrenamtlichen Initiative betonen. Denn von einer Diversität innerhalb der erinnerungskulturellen Arbeit und der Berücksichtigung aller Bestandteile der Geschichte des 20. Jahrhunderts profitieren nicht nur die Erinnerungskulturlandschaft, sondern vor allem die folgenden Generationen. Angela Kiefer-Hofmann schloss ihr Interview mit einem Ausblick in die Zukunft der Initiativgruppe, der hier abschließend wiedergegeben werden soll: »Also insofern wird diese Haltung zur Lagergeschichte sich verändern, das denke ich schon. Aber es muss nicht unbedingt schlechter werden, anders. […] Ich danke ihnen ausdrücklich, dass wir jetzt hier die Gelegenheit hatten, wieder einmal ein bisschen in die Öffentlichkeit zu geraten […].«39

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FZ und EF. JE und AKH.

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte Norman Warnemünde und Amélie zu Eulenburg

In Potsdam thematisieren zwei Gedenkstätten das Thema Repression, Haft und politische Verfolgung im 20. Jahrhundert: Die Gedenkstätte Lindenstraße und die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße. Durch ihre Nutzungsgeschichte thematisiert erstere das Repressionssystem dreier aufeinanderfolgender Diktaturen: Der Gebäudekomplex Lindenstraße 54 wurde als Haftort in der NS-Zeit, während der sowjetischen Besatzung, als sowjetisches Geheimdienstgefängnis und Sitzungsort von Militärtribunalen, sowie daran anschließend während der DDR als MfS-Untersuchungsgefängnis für den Bezirk Potsdam genutzt. Die Gedenkstätte Leistikowstraße bildet am Ort des ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnisses der sowjetischen Militärspionageabwehr alleine die Zeit sowjetischer Nutzung zwischen 1945 und 1991 ab. Den Hauptfokus bilden u.a. quellenbedingt, die ersten zehn Nachkriegsjahre. So werden Themen wie Verfolgung von NS-Tätern, sowjetische Militärtribunale, stalinistische Repression, Besatzung und Spionage thematisiert. Die Geschichten der beiden Orte sind für die sowjetische Zeitschicht bisweilen nicht immer klar voneinander abzugrenzen. Vergleicht man Entstehungsgeschichten beider Gedenkstätten wirft besonders das Thema der städtischen und der im Land Brandenburg bestehenden Erinnerungskulturen und des öffentlichen Gedenkens Fragen auf: Auf welche Initiativen gehen die Gründungen der beiden Gedenkstätten zurück? An wen wird an den beiden Orten erinnert, wem ist das Gedenken gewidmet? Wie können die beiden Gedenkstätten in Bezug zueinander gesetzt werden? Wie grenzen sie sich voneinander ab? Welche Funktion kommt ihnen im öffentlichen Diskurs der Potsdamer Erinnerungslandschaft zu? Welche Erwartungen werden von außen an die Orte herangetragen? Im Folgenden sollen die Erinnerungsorte

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vorgestellt, ihre Geschichte skizziert, die Fragen umrissen und diskutiert werden.

Die Gedenkstätte Lindenstraße Ende 2015 unterzeichnete der damalige Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jacobs die Satzung der neu errichteten Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße: »Die Stiftung dient der Förderung des Andenkens an Verfolgte der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungsherrschaft und der SED-Diktatur«,1 heißt es dort in Paragraph 2, Absatz 1. Die Errichtung einer Stiftung am historischen Ort des ehemaligen Gefängnis Lindenstraße/Otto Nuschke Straße2 im Zentrum von Potsdam, war Ergebnis einer langjährigen Debatte über die Nutzung des Hauses. Gleichzeitig endete damit die Phase einer 15 Jahre währenden unsicheren Projektförderung. Die Finanzierung durch die Landeshauptstadt und das Land Brandenburg war nun gesichert und die Forschungs- und Bildungsarbeit an der Gedenkstätte konnte in einen geregelten Betrieb übergehen. Die Bedeutung des historischen Orts für die Stadtgesellschaft zeigte sich bereits während der friedlichen Revolution. Noch zu Beginn des Jahres 1990 engagierten sich unterschiedliche Akteure vor Ort und in dem Gebäudekomplex, den das MfS (Ministerium für Staatssicherheit der DDR) bis Dezember 1989 als Untersuchungshaftanstalt genutzt hatte. Das ehemalige Gefängnis wurde zum Treffpunkt und Versammlungsort in der politischen Umbruchsphase. Es wurden Büros eingerichtet, für die sich neu gründenden Parteien und politischen Bewegungen, die hier den politischen Alltag gestalteten. Diese organisierten hier unter anderem die Kommunalwahlen im März 1990 für Potsdam und damit die ersten demokratischen Wahlen der DDR. Es gab Ideen und Initiativen, aus dem ehemaligen Gefängnis eine zivilgesellschaftliche Begegnungsstätte zu machen.3 Andere Akteure setzten sich 1 2

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Satzung Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße 2015. Die Potsdamer Lindenstraße wurde 1958 in Otto Nuschke Straße umbenannt. (Otto Nuschke, * 23. Februar 1883 in Frohburg; † 27. Dezember 1957 in Hennigsdorf, deutscher Politiker und CDU-Vorsitzender in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR sowie stellvertretender Ministerpräsident der DDR.) Die Rückbenennung erfolgte 1992. Heinz Schönemann: Die Öffnung des Lindenhotels mit der Ausstellung Politische Plakate von Klaus Staeck im Mai 1990, in: Klaus Staeck Politische Plakate REVISITED, Ausstellungskatalog, Potsdam 2021.

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

noch im Umbruchsjahr für die Musealisierung des Ortes ein, denn der Besucherandrang war enorm: An Wochenenden im Jahr 1990 fanden regelmäßig Führungen durch den Zellentrakt des Hafthauses mit hunderten von Besuchern statt. Die hier engagierten Mitarbeiter des nahegelegenen Potsdam Museums schufen im Frühjahr 1990 Fakten: Sie brachten ein gusseisernes Schild mit der Aufschrift »Museum« an der Eingangstür an.4 Das ehemalige Gefängnis war fortan die zeithistorische Außenstelle des Potsdam Museums, deren Ziel darin lag, die Geschichte des Ortes zu dokumentieren, über den historischen Ort zu informieren und das Inventar des Hafthauses zu bewahren. Ebenfalls zog die Potsdamer Denkmalbehörde in den Gebäudekomplex ein und nutzte frühere Zellen des dreistöckigen Hafthauses und den Innenhof als Lagerort für Überreste von Reliefs oder Skulpturen aus den Potsdamer Parkanlagen. Zu Beginn der 1990er Jahre trugen Mitarbeiter des Potsdam Museums bisher unbekannte und in der DDR tabuisierte Ergebnisse wissenschaftlicher Recherchen über die Geschichte des Hauses in einer Tafel-Ausstellung zusammen. Erstmals wurde die NS-Vergangenheit des Hauses, die Einrichtung des NS-Erbgesundheitsgericht in dem Gebäude ab 1934, die Bedeutung des Gefängnisses als Haftort für die Angeklagten des Volksgerichtshofs, der ab 1943 in der Potsdamer Hegelallee tagte, sowie die Weiternutzung des Haftorts durch die sowjetische Geheimpolizei ab 1945 in einer Ausstellung thematisiert. Das allgemeine Interesse an dem historischen Ort in der Lindenstraße stieg ab da weiter an. Im Februar 1995 gründeten unterschiedliche Akteure der Potsdamer Stadt schließlich den Verein Fördergemeinschaft »Lindenstraße 54« mit dem Anliegen, den Ort als Gedenkstätte zu erhalten. Die Fördergemeinschaft erwarb die Bronzeskulptur »Das Opfer« des Bildhauers Wieland Förster, schenkte sie der Stadt und ließ sie im ehemaligen Gefängnishof aufstellen. Mit diesem Akt sollte die offizielle Anerkennung der Gedenkstätte durch die Landeshauptstadt beschleunigt werden. Die Denkmalbehörde wurde dazu veranlasst, den Hof von den Spolien und weiteren Gegenständen zu räumen um ein würdiges Gedenkareal zu schaffen.5 Die Stadtverordnetenversammlung erhob die Lindenstraße am 4. Oktober 1995 zur städtischen

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Amélie zu Eulenburg: Geschichte einer Ausstellung. Klaus Staeck, Politische Plakate REVISITED, Ebd. Im Jahre 2017 beräumte die Denkmalbehörde die letzten Zellen des ehemaligen Hafthauses und überließ sie der Nutzung der Stiftung.

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Gedenkstätte. Am Buß- und Bettag fand im ehemaligen Gefängnishof die erste öffentlich begangene Gedenkveranstaltung in der Lindenstraße statt.

Denkmal »Das Opfer« von Wieland Förster im Innenhof der Gedenkstätte Lindenstraße

Quelle: Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße/Günter Schneider

In der »Gedenkstätte Lindenstraße für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert«, wie sie nun genannt wurde, setzte sich die Fördergemeinschaft weiterhin für die Weiterentwicklung der Gedenkstätte als historisch-politische Bildungsstätte ein und initiierte im Jahre 2002 die Gründung einer Schülerprojektwerkstatt. Es wurde die Stelle einer Gedenkstättenlehrerin geschaffen und die Geschichte des Hauses und der politischen Repression offiziell in den schulischen Lehrplan aufgenommen. 2003 wurde im Gebäude eine Ausstellung zur Geschichte des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 gezeigt, die wieder große Besucherzahlen erreichen konn-

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

te, was wiederum das öffentliche Interesse stärker auf den Ort lenkte.6 Seit diesem Jahr wurde jährlich eine offizielle Gedenkfeier in Erinnerung an die Opfer des 17. Juni im Innenhof der Gedenkstätte am »Opfer« begangen. In Anlehnung an die 1996 eingeführte Gedenkfeier des deutschen Bundestags an die Opfer des Nationalsozialismus, richtet die Fördergemeinschaft am Gedenkzeichen im Innenhof zudem jährlich seit dem 27. Januar 2005 ein Gedenken in Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz aus. Zu diesem wiederkehrenden Termin werden Ansprachen von politischen Vertreter:innen der Stadt und des Landes gehalten und es finden offizielle Kranzniederlegungen statt. Von 2007 bis 2012 wurden im Rahmen von Projektförderung gezielt Interviews mit Zeitzeug:innen geführt und in Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in aufeinanderfolgenden Ausstellungsprojekten die Geschichte des historischen Ortes beleuchtet.7 Diese Präsentationen bildeten zusammengenommen die erste Dauerausstellung des Hauses, die dort bis heute zu sehen ist. Die Projekte wurden aus unterschiedlichen Fördertöpfen finanziert und beruhten auf keiner langfristigen Unterstützung durch die Stadt oder das Land. Für Irritation in der städtischen Öffentlichkeit sorgte, dass in den zeitlich aufeinanderfolgenden Projekten zunächst die sowjetische Zeit und die DDRZeit erarbeitet wurde und erst im letzten Schritt die NS-Zeit thematisiert wurde. Damit kam der Verdacht auf, dass der DDR ein höherer Stellenwert eingeräumt werde und die NS-Zeit marginalisiert würde. Erläuterungen der Projektleiter:innen, dass dies allein den Förderstrukturen in der Bundesrepublik geschuldet sei, die in den 2000er Jahren mit der Bundesstiftung Aufarbeitung einen herausragenden Drittmittelgeber für die Aufarbeitung der SED-Diktatur hatte und es für die NS-Zeit keine vergleichbare Einrichtung gab, wurden von Kritiker:innen in Zweifel gezogen. Zu den jährlich stattfindenden Gedenkveranstaltungen zählt seit 2012 die Erinnerung an die 1. Sitzung des Erbgesundheitsgerichts im März 1934. Ein Jahr später wurde zudem endlich das Ausstellungsmodul zur Geschichte des Hauses in der NS-Zeit eröffnet. Die Zeit bis zur Eröffnung war von Protesten vor der Gedenkstätte begleitet, insbesondere jeweils zum 27. Januar. Nur ein

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Gabriele Schnell (Hg.): »Freiheit wollen wir!« Der 17.Juni 1953 im Land Brandenburg, Ausstellungskatalog, Berlin 2003. Gabriele Schnell: Das ›Lindenhotel‹, Berichte aus dem Potsdamer Geheimdienstgefängnis, Berlin 2009

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Jahr zuvor hatte der Kulturausschuss der Landeshauptstadt der Errichtung einer Stiftung verbunden mit einer institutionellen Förderung durch Stadt und Land zugestimmt.8 Die Gedenkstätte wurde damit aus der Verwaltungseinheit des Potsdam Museums ausgegliedert und dem Arbeitsbereich des Oberbürgermeisters zugeordnet. 2015 erfolgte schließlich die Errichtung der Stiftung und ermöglichte einen kontinuierlichen Forschungs- und Ausstellungsbetrieb. Neue Forschungen zur Häftlingsgesellschaft und genaue Zahlen über die jeweiligen Insassen und Haftgründe sind in der kommenden Zeit zu erwarten. Damit war die Förderung des Ortes gesichert – nicht aber der inhaltliche Fokus. Die Problematik zeigte sich in der Diskussion um die Gedenkfeiern. 2014 hatte die Landeshauptstadt ein Gedenkkonzept zur Erinnerungskultur in der gesamten Stadt erarbeiten lassen. Mehr als 100 Initiativen und interessierte Bürger waren aufgerufen, an den Leitlinien zum Gedenken mitzuarbeiten, insbesondere an der Frage, an welchen Tagen wo gedacht werden kann oder soll.9 Die offiziellen Gedenkfeiern an der Skulptur »Das Opfer« im Innenhof der Gedenkstätte finden am 27. Januar und am 17. Juni statt. Diese Gedenktage haben sich etabliert und gehören mit Grußworten und Kranzniederlegungen durch politischen Repräsentant:innen von Stadt und Land zum festen Bestandteil der öffentlichen Erinnerungskultur Potsdams. Zur Erinnerung an die sowjetische Zeit finden keine offiziellen Gedenkveranstaltungen in der Gedenkstätte statt. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung und des Gedenkzeichens bisweilen kritisch gesehen. Die Skulptur »Das Opfer«, in seiner Form angelehnt an den christlichen Bildkanon, ist allen Opfern politischer Repression gewidmet, die im 20. Jahrhundert in der Lindenstraße inhaftiert waren und dort gelitten haben.10 Dieses Konzept ein gemeinsames Gedenkzeichen den unterschiedlichen Opfergruppen und Verfolgten des NS-Regimes, der sowjetischen Besatzungsmacht sowie der SED-Diktatur zu widmen, darunter auch den von der sowjeti-

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https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/stiftung-fur-die-gedenksta tte-lindenstrasse-7377940.html, abgerufen am 15. Juli 2022. https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/gedenken-an-hitler-attent at-und-weltkriegsausbruch-7308187.html, abgerufen am 15. Juli 2022. In anderen Gedenkstätten sind durchaus unterschiedliche Gedenkzeichen, von verschiedenen Gruppen sichtbar angebracht und bieten Platz zum Gedenken für individuelle Gruppen und Akteure, vgl. die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

schen Geheimpolizei inhaftierten NS-Tätern, wurde längst nicht von allen Beteiligten und Akteuren angenommen. Heute findet in Potsdam am 27. Januar ein dezentrales Gedenken an unterschiedlichen Orten der Stadt statt, wie am Willy-Frohwein Platz11 , an der Spitzweggasse, früher Bergstraße, in der Nagelkreuz-Kapelle oder am Platz der Einheit.

Die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Eine zweite Gedenkstätte liegt im Norden der Landeshauptstadt im Stadtteil Nauener Vorstadt zwischen Neuem Garten und Pfingstberg. In der Potsdamer Leistikowstraße 1 befindet sich seit 2008 die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam. Als unselbständige Stiftung gehört sie in Treuhänderschaft zum Verbund der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.12 Sie befindet sich am historischen Ort des zentralen Untersuchungsgefängnisses der sowjetischen Militärspionageabwehr und versteht sich als modernes zeithistorisches Museum mit besonderen bildungspolitischen und humanitären Aufgaben. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Geschichte des baulich nahezu einzigartig erhaltenen sowjetischen Haftgebäudes und der mit ihm verbundenen Haftschicksale. Trotz inhaltlicher wie historischer Parallelen zur Gedenkstätte Lindenstraße, gibt es zentrale Unterschiede: 1. Während die Gedenkstätte Lindenstraße ein Ort mehrfacher Vergangenheit ist, hat es im Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße eine ausschließlich sowjetische Nutzung gegeben. Die sowjetische Besatzungsmacht richtete die Arrestanstalt in einem früheren Pfarrhaus am 15. August 1945 ein und betrieb sie bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991. Sie hielt in den ersten zehn Nutzungsjahren zahlreiche deutsche Frauen und Männer sowie vereinzelt Staatsangehörige anderer Länder gefangen. Der weit überwiegende Teil der Inhaftierten waren jedoch sowjetische Bürgerinnen und Bürger. Die Verhaftungsgründe waren vielfältig. 2. Das Gefängnis Leistikowstraße war die zentrale Untersuchungshaftanstalt der sowjetischen Militärspionageabwehr. Dabei handelte es sich um

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Siehe dazu auch den Beitrag von Josephine Eckert in diesem Band. Die vollständige Integration in die brandenburgische Gedenkstättenstiftung soll im Laufe des Jahres 2023 vollzogen sein.

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einen eigenständigen Geheimdienst, der sich in seinen Aufgaben vom NKWD, welcher das Gefängnis Lindestraße nach 1945 betrieb, unterschied. Trotz anfänglicher geheimdienstlicher Kooperation im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, war der Schutz der sowjetischen Besatzungsarmee in der SBZ/DDR eine exklusive Aufgabe der Spionageabwehr. Sie hatte die eigenen Truppen sowohl nach außen als auch nach innen zu schützen. Dies bedeutete, dass man in den eigenen Reihen ebenso wie in der deutschen Zivilbevölkerung nach tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden der Besatzungsmacht suchte. So wurden die meisten deutschen Häftlingen im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts ab 1947 wegen des Verdachts der militärischen Spionage für westliche Geheimdienste festgenommen. Ebenso sind mehrere Fälle von sowjetischen Militärangehörigen dokumentiert, denen wegen Fluchtversuchen in den Westen oder aus anderen Gründen »Vaterlandsverrat« vorgeworfen wurde. In Bezug auf die Verhaftungsgründe unterscheidet sich die Häftlingszusammensetzung daher nach derzeitigem Kenntnisstand von jener im NKWDGefängnis Lindenstraße. 3. Als Untersuchungsgefängnis der Hauptverwaltung Spionageabwehr besaß die Arrestanstalt in der Leistikowstraße eine überregionale Funktion für das gesamte Territorium der SBZ/DDR. Häftlinge wurden zur weiteren Ermittlung aus anderen Haftanstalten dorthin überstellt. Das Gefängnis in der Lindenstraße hatte als NKWD-Haftanstalt dagegen einen regionalen Bezug für das Land Brandenburg.13 Zentraler satzungsgemäßer Zweck der Gedenkstätte Leistikowstraße ist es, »an das im ehemaligen Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in der Leistikowstraße 1 in Potsdam geschehene Unrecht und die Opfer zu erinnern«.14 Hierzu gehören unter anderem der denkmalgerechte Erhalt des ehemaligen Gefängnisgebäudes, die Vermittlung der Geschichte des Ortes in jeglicher Form sowie das Sammeln und Bewahren von Dokumenten und

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Zur Geschichte des Gefängnisses Leistikowstraße siehe allgemein: Reich, Ines; Schultz, Maria (Hg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam, 2. Aufl., Berlin 2019. Satzung der nichtrechtsfähigen Stiftung Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, 5.12.2008, § 2, Abs. 1.

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

Sachzeugnissen zur Geschichte des Hauses, der Häftlinge und der Geheimdienststadt »Militärstädtchen Nr. 7«. Elementarer Bestandteil der Arbeit ist ebenso die Erforschung von Gefangenenbiografien, die durch eine schwierige Aktenlage erschwert wird. Bisher gelang es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rund 1.700 ehemalige Gefangene namentlich zu identifizieren und hunderte Häftlingsbiografien vertiefend zu erforschen. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen die enorme Heterogenität der Häftlinge – nicht nur in Bezug auf Herkunft und Alter, sondern auch in Hinsicht auf die Tatvorwürfe. Letztere reichten insbesondere bei deutschen Gefangenen von teils schweren NS-Verbrechen über Spionage für westliche Geheimdienste bis hin zu Beihilfe zur Fahnenflucht sowjetischer Armeeangehöriger. Letztere gerieten wegen »Vaterlandsverrats« oder krimineller sowie Militärdelikte in Haft. In der ständigen Ausstellung mit ihren mehr als 50 biografischen Bezügen und 19 ausführlichen Biografie-Vitrinen, im begleitenden Audioguide und wissenschaftlichen Publikationen15 wird diese Heterogenität und Komplexität der Häftlingsgesellschaft deutlich sichtbar. Die Darstellungen der Gedenkstätte haben in der Vergangenheit wiederholt zu inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem im Jahr 2003 gegründeten Verein »Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e.V.« geführt. Deren Mitglieder sehen sich nach eigenen Angaben als »Lobby für die Opfer des ehemaligen KGB-Gefängnisses«.16 Auch in Bezug auf eine weitere zentrale Funktion der Gedenkstätte, dem Gedenken, haben sich Diskussionen um diesbezüglich schwierige Fragen ergeben: Wie wird an das Leid der ehemaligen Häftlinge erinnert? Wessen wird gedacht? Welche Schwierigkeiten birgt die Tatsache, dass es insbesondere in

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Siehe u.a. Reich, Ines; Schultz, Maria (Hg.): Sprechende Wände. Häftlingsinschriften im Gefängnis Leistikowstraße Potsdam., Berlin 2015; Warnemünde, Norman: »Kollaborateure«, »Spione«, »Verräter« – sowjetische Bürger*innen im Netz der Militärspionageabwehr SMERSch, in: Drecoll, Axel; Jung-Diestelmeier, Maren (Hg.): Bruchstücke ‘45 – Von NS-Gewalt, Befreiungen und Umbrüchen im Jahr 1945«, Berlin 2021, S. 163–172. Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e.V.: Vereinsgründung, URL: https://www.kgb-gefaengnis.de/10-0-Vereinsgruendung.html [letzter Zugriff: 19.10.2022]; Zu den Konflikten um die Gedenkstätte siehe: Benz, Wolfgang (Hg.): Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2013.

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den ersten Jahren nach 1945 sowohl NS-Täter als auch NS-Opfer im Gefängnis Leistikowstraße gab?

Die beiden Gedenktafeln in der Gedenkstätte Leistikowstraße nach der Kranzniederlegung zur zentralen Gedenkfeier am 15. August 2022.

Quelle: Hagen Immel

Die Problematik wird besonders an den im Innenhof der Gedenkstätte jährlich stattfindenden zwei Gedenkfeiern ersichtlich, ausgerichtet von verschiedenen Akteur:innen und aus Anlass verschiedener historischer Daten. Die Gedenkstätte Leistikowstraße begeht seit 2021 den 15. August als zentralen Gedenktag. Wie in vielen anderen deutschen Gedenkstätten üblich, steht dieses Datum bewusst in einem direkten Bezug zum historischen Ort: Der 15. August erinnert an die Einrichtung des sowjetischen Untersuchungsgefängnisses der Militärspionageabwehr in der Leistikowstraße im Jahr 1945 sowie an den Beginn des bürgerschaftlichen Engagements nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem umliegenden Sperrgebiet am selben Datum im Jahr 1994. Als Redner:innen lädt die Gedenkstätte Vertreter:innen der Politik und ihrer Gremien ein, um Grußworte zu sprechen. Bisher wurden diese

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

auch genutzt, um auf die oben genannte Heterogenität hinzuweisen und die damit verbundene Problematik anzudeuten. Im Nachklang der Reden finden Kranzniederlegungen mit Vertreter:innen aus Politik und Gesellschaft vor der Gedenktafel am einstigen Gefängnisgebäude statt. Die Tafel wurde begleitend zur Eröffnung der Dauerausstellung im Jahr 2012 durch die Gedenkstätte angebracht. Mit der in deutscher wie russischer Sprache verfassten Inschrift »In Gedenken an die Menschen, die in diesem sowjetischen Gefängnis […] gelitten haben.«, steht hierbei abermals der konkrete Ort im Mittelpunkt. Deutlich globaler orientiert ist der jährlich vom Verein »Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e.V.« organisierte Gedenktag. Seine Mitglieder richten in der Gedenkstätte Leistikowstraße seit 2016 am 23. August eine Gedenkveranstaltung aus. Der Verein nimmt das vom historischen Ort losgelöste Datum des Hitler-Stalin-Pakts im Jahr 1939 zum Anlass, um sowohl der Opfer des Nationalsozialismus als auch der Opfer des Stalinismus zu gedenken. Hintergrund ist der 2009 vom Europäischen Parlament beschlossene »Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer und autoritärer Regime«. Der Gedenktag ist insbesondere in der deutschen Erinnerungskultur umstritten. Kritiker:innen befürchten eine Gleichsetzung beider Systeme, Undifferenziertheit in der Verantwortlichkeit für Krieg und Verbrechen und die Negierung der Einzigartigkeit des Holocausts.17 Der Verein verbindet sein Gedenken für gewöhnlich mit einer Vortragsveranstaltung. Im Anschluss findet stets eine Kranzniederlegung an der zweiten Gedenktafel im Innenhof der Gedenkstätte statt. Sie befindet sich direkt neben der oben erwähnten Bronzetafel der Gedenkstätte und wurde zum 23. August 2013 von der »Zeitzeugen-Initiative Ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam« des Vereins angebracht. Sie erinnert im Wortlaut an die »unschuldig Verfolgten der sowjetischen Geheimdienste«. Dem historischen Ort des ehemaligen sowjetischen Untersuchungsgefängnisses in der Leistikowstraße wird hierbei eine Stellvertreterrolle für ein allgemeines Gedenken sowjetischer Repressionsopfer zugeschrieben.18 Eine erste Version der Gedenktafel mit der Formulierung 17

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Vgl. Wetzel, Juliane: Eine Trivialisierung des Holocaust? Der 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2013, S. 250–263. Der genaue Wortlaut der Tafel ist: »Gequält. Gefoltert. Verbannt. Erschossen. Zum Gedenken an unsere Kameradinnen und Kameraden. Gewidmet den unschuldig Verfolgten der sowjetischen Geheimdienste. Zeitzeugen-Initiative ›Ehemaliges KGB-Gefäng-

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»In Gedenken […] an alle Opfer der sowjetischen Geheimpolizei« war nach heftigem Protest des Präsidenten des Zentralrats der Juden bereits im Vorfeld abgeändert worden.19 Aus Sicht der Gedenkstättenmitarbeiter:innen ist ein umfassendes Gedenken an NS- und Stalinismusopfer an einem historischen Ort, in dem der sowjetische Geheimdienst auch Menschen festhielt, die sich schwerer NS-Verbrechen schuldig gemacht hatten, problematisch. Ein Gedenken zum 23. August an genau diesem historischen Ort bürge die Gefahr, Ursachen und Verantwortlichkeiten zu vertauschen, vereinfachte Analogien herzustellen oder, wenn auch nicht intendiert, Relativierungen oder Verharmlosungen Vorschub zu leisten. Die Mitglieder des Vereins teilen diese Ansicht hingegen nicht. Somit zeigt sich hier alljährlich ein größerer, allgemeiner Erinnerungskonflikt, für den die Gedenkstätte Leistikowstraße den Austragungsort darstellt. Denn beide Gedenkfeiern finden vor Ort statt, da die Gedenkstätte dem Verein, trotz der Bedenken, das Gebäude und das Gelände für dessen Feierlichkeiten zur Verfügung stellt. Im Januar 2023 wurde der Konflikt zum Gegenstand einer Sondersitzung des Gedenkstättenkuratoriums, bei der alle Konfliktbeteiligten ihre Perspektiven darlegten. Im Ergebnis fasste dieses oberste Gedenkstättengremium mit seinen Vertretern aus Land und Bund im März 2023 einen einstimmigen Beschluss. Demnach werden die Vereinsvertreter:innen dringend gebeten, von zukünftigen Gedenkfeierlichkeiten am 23. August Abstand zu nehmen. Ferner sollen sie in die Gestaltung des Gedenktages am 15. August als Akteure eingebunden werden. Ob der Beschluss tatsächlich das Ende dieses Erinnerungskonflikts bedeutet, bleibt abzuwarten.

Fazit Die beiden Potsdamer Gedenkstätten haben sich seit ihrem Bestehen zu festen erinnerungskulturellen Größen der Landeshauptstadt entwickelt. Allein durch die weitgehend unterschiedliche Nutzungshistorie ihrer Orte stehen sie dabei

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nis Potsdam‹ – 2012«. Darüber hinaus ist die Gedenktafel mit einem Zitat aus Alexander Solschenizyns Werk »Der Archipel Gulag« versehen. Vgl. o.V.: Einseitiges Erinnern. Zentralrat der Juden kritisiert Gedenkkultur in Potsdam, in: Tagesspiegel/PNN, 26.3.2013, URL: https://www.tagesspiegel.de/potsdam/lande shauptstadt/zentralrat-der-juden-kritisiert-gedenkkultur-in-potsdam-7357018.html [letzter Zugriff: 9.3.2023].

Gedenkstätten in Potsdam: Geschichte und Erinnerungskonflikte

nicht in Erinnerungskonkurrenz zueinander. Vielmehr bilden sie zusammengenommen eine vielschichtige, sich ergänzende, städtische Erinnerungslandschaft zum Thema Repression und Gewalt im 20. Jahrhundert. Teil ihrer Arbeit ist dabei aber auch die Herausarbeitung örtlicher Spezifika durch weitere Forschung. Letztere sollte Ausgangspunkt und Voraussetzung für die Form des Gedenkens an die jeweiligen Opfer beider Orte darstellen. Dass zivilgesellschaftliche Initiativen und Gruppen durchaus eigene Perspektiven auf die Orte sowie ihre Geschichte entwickelt haben und einbringen, haben die Ausführungen zum Gedenken gezeigt. Erinnerungskulturelle Differenzen sind dabei unvermeidlich, mit Blick auf andere Gedenkstätten aber nichts Ungewöhnliches.20

20

Als Beispiel sei an dieser Stelle auf den Streit um die »Gedenkkugel« in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück verwiesen, die an die Verfolgung lesbischer Häftlinge des Konzentrationslagers erinnern soll. Siehe die Beiträge von Insa Eschebach und Alexandra de León in diesem Band.

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Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848 Oliver Gaida

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ein Buch mit dem Titel »Wegbereiter der deutschen Demokratie« herausgegeben. Dass ein Staatsoberhaupt nicht nur ein Gruß- oder Vorwort beisteuert, sondern gleich seinen Namen auf den Buchdeckel setzen lässt, kommt nicht allzu oft vor.1 Weniger überraschend ist hingegen wiederum, dass sich der Band um das Thema Demokratiegeschichte dreht. Mehrere publizistisch bekannte Namen versammelte Frank-Walter Steinmeier mit ihren Beiträgen: Heribert Prantl, Herfried Münkler, Christopher Clark oder Hedwig Richter – daneben noch eine Reihe an weiteren Fachleuten. Sie stellen jeweils eine Biografie vor, die für die Demokratiegeschichte stehen soll. Ungewöhnlich ist dabei, dass der Band ausschließlich das »lange 19. Jahrhundert« berücksichtigt. In der Regel dominieren bei geschichtspolitischen Reden der Repräsentant:innen der Bundesrepublik zur Demokratiegeschichte Bezüge zum 20. Jahrhundert und zur Zeitgeschichte – ebenso in Museen und Erinnerungsstätten.2 Dieses Buch des Bundespräsidenten kann durchaus als Ausdruck eines Trends einer Demokratiegeschichte verstanden werden: Grundsätzlich ist es nichts Besonderes, dass sich liberale »westliche« Staaten wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten von Amerika stark auf ihre frühen demokratischen Wurzeln beziehen. In der Bundesrepublik spielten die langen Entwicklungslinien der Demokratiegeschichte, also bis in das 19. Jahrhundert in die Zeit der Nationenbildung zurückreichend, jedoch kaum eine Rolle. Stattdessen

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Frank-Walter Steinmeier: Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918, München 2021. Vgl. auch Thomas Hertfeld/Ulrich Lappenküper/Jürgen Lillteicher (Hg.): Erinnern an Demokratie in Deutschland. Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016.

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Oliver Gaida

lag der Fokus in der Bundesrepublik begründeterweise auf dem Gedenken an die NS-Gewaltherrschaft, die freilich erst mühevoll erkämpft wurde. Die DDR richtete ihre gedenkpolitische Rhetorik auf eine Geschichte des antifaschistischen Widerstands und der Arbeiterbewegung. Nach dem Mauerfall etablierte sich in der neuen Bundesrepublik das Gedenken an die DDR-Diktatur und die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte. Seit den 2010er-Jahren mehren sich Initiativen, die die Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellten. Daraus resultierte beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft »Orte der Demokratiegeschichte«, die sich am 1. Juni 2017 in Berlin gründete – eines der wichtigsten Impulse für die Gründung einer gleichnamigen Stiftung 2021.3

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Ehefrau Elke Büdenbender legen am 18. März 2021 einen Kranz auf dem Friedhof der Märzgefallenen nieder.

Quelle: BPA

3

AG Orte der Demokratiegeschichte, online abrufbar unter: https://www.demokratie-g eschichte.de/ (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021).

Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848

Als Gründungsdokument der AG »Orte der Demokratiegeschichte« fungierte das »Hambacher Manifest«4 . Darin attestierten die Gründer:innen: »Deutschland hat Anteil an der langen europäischen Demokratie- und Freiheitstradition. Das Wissen um diese Wurzeln ist in unserer Gesellschaft vielfach verschüttet.«5 Die AG hat sich vorgenommen diese beschriebene Situation zu ändern. Inzwischen gehören ihr über sechzig Mitglieder an. Darunter lassen sich sowohl zahlreiche kleinere Geschichtsorte mit engagierten Vereinen oder anderen Initiativen als auch größere Akteure wie beispielsweise »Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.«, »Weimarer Republik e.V.« oder mehrere Politikergedenkstiftungen finden. Schon aufgrund des Namens der programmatischen Grundlage, dem »Hambacher Manifest«, wird deutlich, dass die AG mit dem Verweis auf das »Hambacher Fest« von 1832 die Demokratie- und Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts besonders heraushebt. In der Geschichtswissenschaft entzündeten sich parallel zu den Aktivitäten der AG Debatten um die Rolle des Kaiserreichs in der deutschen Demokratieentwicklung. Sie drehten sich darum, inwiefern die Zeit des Deutschen Kaiserreichs nach 1871 die Entwicklung hin zu einer Demokratie essenziell vorangebracht oder massiv behindert habe.6 Daran lässt sich neben der Initiative der Demokratiegeschichtsorte die aktuelle Brisanz des Themas ablesen. Eine Diskussion löste der von Steinmeier herausgegebene Sammelband zwar nicht aus, jedoch bildet das Werk die aktuelle demokratiegeschichtliche Konjunktur ab. In einem Kapitel widmet sich der Band mehreren Biografien der Revolution von 1848 sowie dem Paulskirchen-Parlament. Diese Revolution würdigte bereits der Bundespräsident Gustav Heinemann mit der Erinnerungsstätte Rastatt, wo die letzten Kämpfe der Revolution tobten. Nichtsdestotrotz nimmt die Deutsche Revolution von 1848 als gescheiterte bzw. unvollendete Revolution ein Schattendasein in der Gedenkkultur ein. Die Revolution erhält nun neue Aufmerksamkeit, allerdings bisher nicht in der Form einer pathetischen heroischen Gedenkkultur, wie es in anderen Gesellschaften teilweise anzutreffen ist. Am Beispiel der 1848er-Revolution lässt sich zeigen, wie die neuesten Entwicklungen der Demokratiegeschichte aussehen und welche

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Hambacher Manifest, 2017, online abrufbar unter: https://www.demokratie-geschich te.de/544/hambacher-manifest/ (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021). Ebd. Beispielsweise durch Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020.

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Vereinnahmungsversuche der Geschichte durch Antidemokrat:innen existieren. Im Zentrum dieses Beitrags stehen die These, dass es einen gegenwärtigen geschichtskulturellen Trend der Demokratiegeschichte gibt und die Frage was ihn ausmacht. Dabei werden kurze Schlaglichter auf die wichtigsten Phänomene des Trends geworfen: die neue Suche nach historischen Demokratieorten, die neue Stiftung als institutioneller Anker und die neue Konkurrenz mit nationalistischen und völkischen Geschichtsdeutungen. Dadurch sollen die Triebkräfte dieser Entwicklung deutlich werden. Dieser Beitrag kann keine umfassende Vermessung des Felds der Erinnerung an die Demokratiegeschichte leisten, möchte aber dazu anregen. Daher werden im Folgenden Beispiele aufgeführt, um einen Einblick in die geschichtskulturellen Möglichkeiten der Demokratiegeschichte zu geben.

Auf der Suche nach historischen Demokratieorten Wie äußert sich das neue Interesse an der deutschen Demokratiegeschichte konkret? Der präferierte Ansatz der oben genannten AG besteht darin, nach »Orten« der Demokratie zu suchen. Dabei muss es sich – im Sinne der »lieu de mémoire« – nicht ausschließlich um geografische und materiell lokalisierte Orte handeln, sondern um langlebige, immaterielle Kristallisationspunkte kollektiven Erinnerns und kollektiver Identität.7 Bei geografischen Orten werden gerade auch unscheinbare Orte ohne monumentalen Charakter in ihrer demokratiegeschichtlichen Bedeutung gewürdigt. An Beispielen für materielle historische Orte der Demokratie, konkret bezogen auf die bereits angesprochene Revolution 1848/49, mangelt es in den Städten Berlin und Potsdam nicht: Im Folgenden werden für Potsdam die Person Max Dortu und für Berlin der »Friedhof der Märzgefallenen« kurz vorgestellt. Sie können als herausragende Beispiele sowohl für eine regionalverankerte, auf die 1848er-Revolution bezogene Demokratiegeschichte als auch für die aktuelle »Wiederentdeckung« von Orten der Demokratiegeschichte bezeichnet werden.

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Étienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde., München 2008; Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale: Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012.

Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848

Der aus bürgerlichem Haus kommende Jurist Max Dortu (1826–1849) schloss sich dem »Politischen Verein« in Potsdam an und fungierte als ein Sprecher der revolutionären Bewegung. Er trat mit Sabotageaktivitäten und Reden politisch hervor. Wegen der Bezeichnung des Prinzen von Preußen als »Kartätschenprinz«, benannt nach einer zeitgenössischen Munitionsart und damit als gewaltvoll gegenüber den Revolutionär:innen charakterisiert, kam er 1848 kurzzeitig in Haft. Nachdem Berlin Ende 1848 wieder durch königstreue Truppen besetzt war, floh Dortu nach Belgien und Frankreich, bevor er 1849 in Baden an bewaffneten Kämpfen teilnahm. Nach der Niederschlagung der Revolution wurde er wegen Hochverrats verurteilt und hingerichtet. Eine Beisetzung in Potsdam untersagte der preußische Staat.8 Schon 1948 erhielt das Geburtshaus von Max Dortu in Potsdam eine Gedenktafel. Insgesamt blieb das Verhältnis des selbsternannten »Arbeiter- und Bauernstaats« zum Potsdamer Revolutionär aber wegen seines bürgerlichen Hintergrunds ambivalent. Immerhin trägt seit 1962 eine Schule seinem Namen, die sich in seinem Geburtshaus befindet. Einen Aufschwung erlebte das Gedenken an den Revolutionär nach 1989: Antimilitaristische Aktivist:innen brachten Dortu als Gegenbild zum Hohenzollern-Potsdam in Stellung und forderten ein Denkmal für ihn. Die Vertreter:innen der Stadt Potsdam taten sich zunächst schwer, Dortu im städtischen Gedenken zu platzieren. Schließlich mussten sie nach 1990 erst einen Umgang mit den damit verknüpften DDR-Geschichtsbildern und ein Verhältnis zum Hohenzollern-Potsdam finden. Heute verleiht die Stadt Potsdam neben regelmäßigen Gedenkveranstaltungen einen nach Dortu benannten Preis für Zivilcourage und gelebte Demokratie. Dieser seit 2017 alle zwei Jahre ausgelobte Preis kann wiederum als Reaktion auf die zivilgesellschaftlichen Forderungen nach einem Gedenken angesehen werden.9 Trotz dieses bekannten Revolutionärs war Potsdam kein revolutionäres Zentrum 1848. Die europäische Revolutionsmetropole war Berlin, aber die Ereignisse rund um die Barrikadenkämpfe vom 18. und 19. März 1848 erfassten auch Potsdam. So beantragten am 22. März 1848 mehrere Soldaten aus Potsdam, an den großen Beerdigungsfeierlichkeiten für die getöteten

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Vgl. ebd. Tobias Büloff: Orte der Potsdamer Demokratiegeschichte als Orte der Erinnerung, in: Michael Parak/Norbert Böhnke (Hg.): Kommunale Erinnerungskultur und Demokratiegeschichte, Berlin 2020, S. 80–91, hier S. 80–84.

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Barrikadenkämpfer in Berlin teilnehmen zu können. Sie wurden unehrenhaft aus dem Militär entlassen. Der riesige Trauerzug für die Toten der revolutionären Barrikadenkämpfe führte durch Berlin bis zum eigenes dafür angelegten »Friedhof der Märzgefallenen« im Volkspark Friedrichshain. Dort liegen bis heute 255 Opfer der Revolution. Dass dabei die Konfession nachrangig war und somit protestantische, katholische sowie jüdische Tote nebeneinander bestattet sind, stellte im 19. Jahrhundert die absolute Ausnahme dar. Schon 1848 avancierte der Friedhof zu einem Protestort und blieb es trotz der Repressionen des Obrigkeitsstaats auch während des Kaiserreichs. Liberale sowie Vertreter:innen der Arbeiterbewegung hielten dort regelmäßig Gedenkveranstaltungen ab. Die Bedeutung des Ortes veranlasste die Revolutionär:innen im Jahr 1918 dazu, die Toten der Revolutionsereignisse im November und Dezember desselbigen Jahres ebenfalls dort zu bestatten, an der Seite der Toten von 1848. In der Weimarer Republik stieg der Friedhof zu einem offiziellen Gedenkort auf, in der NS-Zeit wurde er weitgehend ignoriert und dementsprechend vernachlässigt. Die DDR versuchte den Ort für ihre Zwecke zu nutzen: Sie hob die 1918er-Revolution heraus und inszenierte die 1848er-Revolution als Teil eines teleologischen proletarischen Kampfes. Nach 1990 entwickelte sich langsam wieder eine demokratische Gedenkkultur am »Friedhof der Märzgefallenen«. Inzwischen wird der Gedenkort, der Ausstellungen und pädagogische Angebote bietet, mit einem Besuchszentrum ausgebaut.10 Den »Friedhof der Märzgefallenen« zeichnet sich somit dadurch aus, dass er »[…] ein authentisches kulturelles Produkt der Aufständischen, der Zukunft gewidmet zur Erinnerung an die Ziele der geschlagenen Oppositionsbewegung und immer wieder aufs Neue aufgegriffen und verteidigt von denjenigen, denen dieser historische Akt ein wichtiges politisches Vermächtnis war.«11 Zudem repräsentiert der Friedhof durch die Bestattungen von Toten gleich zweier Revolutionen die langen Entwicklungslinien der 10

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Susanne Kitschun: Der Friedhof der Märzgefallenen. Kulturdenkmal und Erinnerungsort der europäischen und deutschen Demokratiegeschichte, in: Oliver Gaida/Susanne Kitschun (Hg.): Die Revolution 1918/19 und der Friedhof der Märzgefallenen, Berlin 2021, S. 260–278. Jörg Haspel: Zum Umgang mit Gedenkorten in der Berliner Denkmalpflege, in: Susanne Kitschun/Ralph-Jürgen Lischke: Am Grundstein der Demokratie. Erinnerungskultur am Beispiel des Friedhofs der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain, Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 43–54, hier S. 52; Ders.: Der Berliner Friedhof der Märzgefallenen, ein national wertvolles Kulturdenkmal, Berlin 2018, S. 2.

Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848

Demokratiegeschichte. Weil zu den Beigesetzten keine prominenten Persönlichkeiten zählten, richtet sich der Blick auf die einzelnen Unbekannten, die so bedeutsam für die Demokratieentwicklung waren und es nach wie vor sind. Dazu fügt sich das unscheinbare Äußere des Gedenkorts, das über alle Phasen hinweg das Bild des Friedhofs prägte. Ihm verliehen primär die großen Gedenkveranstaltungen samt Massenaufläufen seine gedenkpolitische Bedeutung. Dieser Gedenk- und Ausstellungsort gehört ebenfalls der AG Orte der Demokratiegeschichte an. Der Friedhof der Märzgefallenen organisiert darüber hinaus auch das 175-jährige Revolutionsjubiläum in den Jahren 2023/24. Mittlerweile erhält der Gedenkort Gelder der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, womit deutlich wird, dass die überregionale Relevanz des Ortes anerkannt wird.

Eine Bundesstiftung für die Demokratiegeschichte Im Wesentlichen geht die Einrichtung einer neuen Bundesstiftung auf die Initiative der AG »Orte der Demokratiegeschichte« zurück. Im Juni 2021 beschloss der Deutsche Bundestag zunächst ein Konzept für diese neue Stiftung,12 im Juli folgte ein Gesetz zur Errichtung der besagten Stiftung.13 Alle demokratischen Parteien unterstützen diesen Schritt. Auch auf die Grundsätze der Stiftung konnten sich alle Beteiligten einigen: »Demokratie muss gestaltet, gelebt und weiterentwickelt werden. Für die Versuche, dies zu tun, bietet die Geschichte viele positive Beispiele.«14 Im Rahmenkonzept wird die Bedeutung der Demokratiegeschichte anhand von Beispielorten wie dem

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Rahmenkonzept zur Weiterentwicklung der Orte deutscher Demokratiegeschichte (2021), online aufrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/9 74430/1888580/2c893225f6604d90eca888c58173d29d/2021-04-12-bkm-rahmenkon zept-ortederdemokratiegeschichte-data.pdf?download=1 (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021). Gesetz zur Errichtung einer »Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte« vom 16. Juli 2021, online abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/resource/b lob/974430/1953556/0e31f890a01576f7fc4f479f75c2def6/2021-08-24-errichtungsgeset z-stiftung-orte-der-deutschen-demokratiegeschichte-data.pdf?download=1 (zuletzt aufgerufen am 01.08.2021). Rahmenkonzept zur Weiterentwicklung der Orte deutscher Demokratiegeschichte, 2021, S. 2.

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»Friedhof der Märzgefallen« erläutert. Neben dem 19. Jahrhundert werden aber auch Erinnerungsorte wie die Weimarer Republik und die Friedliche Revolution herausgestellt. Sowohl bei der AG Orte der Demokratiegeschichte als auch bei der Stiftung tritt deutlich hervor, dass das Interesse an ihrem Thema stark mit der zunehmend wahrgenommenen Bedrohung der gegenwärtigen Demokratie verbunden ist. Die wahrgenommene Gefahr resultierte aus dem wachsenden Zuspruch für autoritäre, rechtspopulistische und völkische Positionen, wodurch die gegenwärtige Demokratie als fragil empfunden wird. Institutionen wie die des Bundespräsidenten und die genannten Vereine suchen daher nach Wegen, um die Demokratie zu stärken. Damit geht aber eine Reihe an Herausforderungen einher: Wie lässt sich beispielsweise die Demokratiegeschichte niedrigschwellig alternativ zu einer Geschichte »großer Männer« vermitteln? Darauf gibt das Rahmenkonzept, auf dem die Bundesstiftung fußt, keine hinreichende Antwort, denn darin bleiben zum Beispiel historische soziale Bewegungen (wie die der Arbeiter:innen, der Frauen, der Studierenden oder der Bewegungen für Frieden und Umwelt) unberücksichtigt.15 Nicht zuletzt muss es einer Demokratiegeschichte gelingen, das Demokratie-Konzept selbst zu historisieren. Allzu leicht werden heutige Demokratievorstellungen in die Geschichte eingeschrieben oder es wird abgelehnt, sich mit der Demokratiegeschichte zu befassen, weil gegenwärtige Kriterien für eine Demokratie nicht erfüllt wurden.

Vereinnahmungsversuche durch Antidemokrat:innen Noch ungeklärt ist, wie das Verhältnis zu anderen Feldern der deutschen Gedenkkultur durch die neue Bundesstiftung ausgestaltet wird. So ist die Gefahr noch nicht gänzlich ausgeräumt, dass lediglich positive Beispiele aus der Demokratiegeschichte der Auseinandersetzung mit der NS-Terrorherrschaft oder der SED-Diktatur gegenübergestellt werden. Auf der einen Seite stehen die Gedenkstätten, die sich mit den NS-Verbrechen oder der DDR-Diktatur befassen, durch das Anwachsen antidemo15

Oliver Gaida: Auf der Suche nach Demokratie in der Geschichte, online abrufbar unter: https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/auf-der-su che-nach-demokratie-in-der-geschichte (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021).

Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848

kratischer Tendenzen in Europa unter Druck. Die Einrichtungen sind zuweilen mit der unrealistischen Erwartung konfrontiert, dass sie unmittelbar neue rassistische, antisemitische und demokratiefeindliche Einstellungen verhindern sollen.16 Dies könnte zu einer Art Konkurrenz des Gedenkens führen bzw. zu dem Trugschluss verleiten, dass nun eine Demokratiegeschichte die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und ihren Ursachen partiell ablösen könne. Eine solche Gegenüberstellung wäre aber schon deswegen fragwürdig, weil beispielsweise gerade das Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen einen fundamentalen Beitrag zur Demokratiebildung in der Bundesrepublik leistete. So trug erst die Studierendenbewegung um 1968 dazu bei, dass sich über eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte eine stabilere Demokratie in der Bundesrepublik etablieren konnte.17 Auf der einen Seite sehen Antidemokrat:innen wie die AfD und ihr Umfeld die Demokratiegeschichte als Möglichkeit, um eine re-nationalisierte, aus ihrer Sicht »positive« deutsche Geschichte zu schreiben und sich gegen das Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft zu wenden. Den Weg, den Holocaust oder andere nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren (von der strafbaren Leugnung ganz zu schweigen), beschreiten Vertreter:innen der völkischen Rechten seltener, weil es ihnen weniger anschlussfähig scheint – ein Ergebnis eines Lernprozesses.18 Mit verschiedenen Strategien versuchen sich antidemokratische, rechtspopulistische und völkische Gruppierungen stattdessen daran, die Demokratiegeschichte für sich zu nutzen. Diese Vereinnahmungsversuche sind ein wesentlicher Grund dafür, warum es aktuell eine Konjunktur der Demokratiegeschichte gibt. Sie wird von dem breiten Konsens getragen, dass eine Geschichte der Demokratie nicht denjenigen überlassen werden dürfe, die daraus eine

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Siehe die Debatte um Pflichtbesuche in Gedenkstätten für Schüler:innen: Friederike Gräff: Gedenkstätten-Leiter über Pflichtbesuche. »Die nicht wollen, müssen nicht«, in: taz, 10. Januar 2018, online abrufbar unter https://taz.de/Gedenkstaetten-Leiter-uebe r-Pflichtbesuche/!5472361/ (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021). Vgl. Klaus Wernecke: 1968, in: Tobias Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 178–183. AfD: »Fixierung auf negative Aspekte« deutscher Geschichte, dpa-Meldung, 20. April 2021, online abrufbar unter https://www.zeit.de/news/2021-04/20/afd-fixierung-aufnegative-aspekte-deutscher-geschichte (zuletzt aufgerufen am 21.06.2021).

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neue nationalistische Erzählung machen würden. So richtet sich das »Hambacher Manifest« der AG Orte der Demokratiegeschichte dezidiert gegen die Versuche von Rechtspopulist:innen, das Hambacher Schloss als Symbol für eine nationalistische Geschichtsdeutung zu gebrauchen.19 Versuche der Vereinnahmung lassen sich auch am »Friedhof der Märzgefallenen« ausmachen: Im Jahr 2018 versuchten zum Beispiel die AfD und männliche Vertreter ihrer Jungendorganisation, der »Jungen Alternativen«, die sich aus einem völkischen Burschenschaftsmilieu rekrutiert, die Gedenkfeierlichkeiten zu stören. Sie positionierten sich mit überdimensionierten Deutschlandfahnen in Spalierformation im Eingangsbereich des Gedenkorts. Ein Funktionsträger aus ihren Reihen fasste ihre Sichtweise auf einem SocialMedia-Kanal folgendermaßen zusammen: »Daher darf sich die AfD wohl damit rühmen, den Märzgefallenen nicht entgegenzustehen, sondern sich mit ihnen Schulter an Schulter auf den alten und neuen Barrikaden zu wissen – getreu dem Motto: Der Freiheit eine Gasse!«20 Die Berührungspunkte von Demokratiebewegung und Nationenbildung im 19. Jahrhundert bieten heute die Möglichkeit, sie für heutige nationalistische Narrative heranzuziehen. Gemeint ist damit eine National-Geschichte, wie sie im 19. Jahrhundert begründet wurde, um die Nationswerdung als zwangsläufigen Prozess zu rechtfertigen. Die Geschichte des Nationalismus sollte aber deswegen gerade nicht davon abhalten, die Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts zu würdigen und in einen breiten Kontext zu stellen. Die Konsequenz wäre sonst eine National-Geschichte fortzuschreiben, die es den Rechtspopulist:innen gerade so leicht machen würde, sie zu vereinnahmen und beispielsweise die Revolution 1848/49 isoliert als »deutsche« Revolution für sich zu beanspruchen. Aber gerade diese Revolution stellt einen europäischen »Erinnerungsort« dar. In den Rahmenkonzepten der Bundesstiftung zur Demokratiegeschichte wird die europäische Dimension allerdings bislang noch unzureichend berücksichtigt. Schlussendlich lässt sich durchaus von einem gegenwärtigen Trend in unterschiedlichen Bereichen der Demokratiegeschichte sprechen. Er speist sich vor allem aus einer Auseinandersetzung mit den die Demokratie bedrohenden

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Dennis Riffel: Wie Rechtspopulist*innen Demokratiegeschichte vereinnahmen – eine Bestandsaufnahme, in: Michael Parak/Ruth Wunnicke (Hg.): Vereinnahmung von Demokratiegeschichte durch Rechtspopulismus, Berlin 2019, S. 46–59, hier S. 49f. Zitiert nach ebd., S. 50.

Demokratiegeschichte als gegenwärtiger Trend? Gedenken an 1848

politischen Kräften. Die Gestalt dieser neuen Demokratiegeschichtsschreibung ist aber noch keineswegs klar umrissen und muss noch nach einem Platz in der deutschen Erinnerungskultur suchen. Aufgrund dieser noch gegenwärtig unklaren Verhältnisse konnte das erinnerungskulturelle Themenfeld der Demokratiegeschichte hier nur angerissen werden. Offen sind insbesondere die Fragen danach, wie die neue Bundesstiftung die weitere Ausrichtung der Demokratiegeschichte beeinflussen wird. Dabei liegt das Augenmerk darauf, wie neue Orte erschlossen und diese regionalen Geschichten mit einer europäischen Geschichte der Demokratie verbunden werden. Schließlich ist kein Rückfall in längst überholte nationale Geschichtsschreibung angestrebt. Übergreifend stellt sich die Frage: Was machte Demokratie historisch betrachtet jeweils aus? Dafür richtet sich der Blick offensichtlich – wie am eingangs vorgestellten, vom deutschen Bundespräsidenten herausgegebenen Buch – eher auf das 19. Jahrhundert. Eine weitere Frage, die sich daran anschließt, aber hier nicht diskutiert werden konnte, lautet: Warum liegt der Fokus dieses Buches auf dem 19. Jahrhundert? Die zukünftige Forschung könnte sich zur Beantwortung dieser Frage der These annehmen, dass eine größere zeitliche Distanz, größere politisch gelöste Einsichten in die aktuelle Demokratie verspricht. Es bleibt weitere Forschung abzuwarten, warum sich dieses Interesse für eine Demokratiegeschichte basierend auf dem 19. Jahrhundert schlussendlich hervortut.

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Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern Ronja Kuban

Die Stadt Potsdam ist in der öffentlichen Wahrnehmung und vor allem bei Tourist:innen als ehemalige Residenzstadt Friedrich II. bekannt und beliebt. So verwundert es auch nicht, dass die Stadt im Internet primär mit den zahlreichen Schloss- und Parkanlagen für einen Besuch wirbt.1 Potsdam wird oft mit der Geschichte Preußens assoziiert, für die der Park und das Schloss Sanssouci in der allgemeinen Wahrnehmung zu stehen scheinen. Doch auch die neuere Zeitgeschichte hat in den letzten achtzig Jahren das Bild und die architektonische Gestaltung Potsdams nachhaltig geprägt. So tritt neben der preußischen Geschichte bisweilen ebenfalls das öffentliche Gedenken an die sowjetische Besatzungszone und an die DDR im Stadtbild Potsdams in Erscheinung: Der sowjetische Ehrenfriedhof am Bassinplatz, die Gedenkstätte Lindenstraße oder das Denkmal für die Potsdamer Demokratiebewegung im Herbst 1989 am Luisenplatz sind nur einige Gedenkorte, die hier als Beispiele genannt werden sollen. Mit Blick auf das Prunkstück des öffentlichen Geschichtsbilds, der Erinnerung an die preußische Vergangenheit, werden jedoch im Zuge postkolonialer Debatten in der Geschichtswissenschaft auch koloniale Verstrickungen der preußischen Akteur:innen sichtbar. Betrachtet man also Potsdams Wahrzeichen und Gedenkorte genauer, werden auch Relikte des brandenburgischen und preußischen Sklavenhandels und der deutschen Kolonialgeschichte im Stadtbild evident. Das Thema Kolonialismus und die Aufarbeitung der deutschen Gewaltherrschaft findet in den letzten Jahren vornehmlich Aufmerksamkeit im benachbarten Berlin. In der Bundeshauptstadt werden aktuell vor 1

Dies fällt vor allem auf der Seite »Tourismus« auf der Homepage der Stadt Potsdam auf. Siehe hierzu: https://www.potsdam.de/eine-europaeisch-gepraegte-stadt (zuletzt aufgerufen am 09.02.2022).

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allem Umbenennungen von Straßen mit kolonialem und diskriminierendem Kontext2 sowie das Konzept und die ausgestellten Objekte kolonialer Herkunft im neuen Humboldt-Forum3 öffentlich verhandelt und debattiert. Auch in Potsdam sorgen zivilgesellschaftliche Initiativen wie »Postcolonial Potsdam«4 dafür, dass diese bisher oftmals vergessenen Fragmente der Potsdamer Geschichte mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit im öffentlichen Stadtbild erhalten und sie in der Erinnerungskultur der Stadt allmählich ihren Raum finden. Im Folgenden sollen diese Orte vorgestellt und es soll reflektiert werden, wie sie im öffentlichen Gedenken verdeutlicht und verhandelt werden könnten.

Der brandenburgisch-preußische Sklavenhandel Sowohl die Initiative »Postcolonial Potsdam« als auch die »Steuerungsgruppe Koloniale Kontexte« der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten (SPSG), die ihre Arbeit im Jahr 2020 als Antwort auf die Diskussion um das Humboldt-Forum aufnahmen5 , benennen für Potsdam insbesondere drei Orte, die einen kolonialen Kontext aufweisen: Die »Laternenträger« am Neuen Palais, die »Spit2

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Das aktuellste Beispiel ist hier wohl die Mohrenstraße, die zuletzt für Aufmerksamkeit sorgte, nachdem die BVG auf Kritik von Initiativen einging und sich entschied, einer Umbenennung des U-Bahnhofs zuzustimmen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dies allerdings noch nicht geschehen. Wenn die Straße im Text erwähnt wird, wird sie, um Diskriminierung zu vermeiden, als M-Straße betitelt. Kritiker:innen wie die Initiative No Humboldt 21 kritisieren am Museum, dass außereuropäische Sammlungen aus kolonialem Kontext im Humboldt-Forum auf neopreußische Architektur treffen. Sie fordern unter anderem die Rückgabe der Exponate, verurteilen das »Schmücken mit fremden Federn« und die fehlende Einordnung und Problematisierung der Provenienz der Ausstellungsstücke. Eine ausführliche Resolution der Initiative ist hier zu finden: https://www.no-humboldt21.de/resolution/ (zuletzt aufgerufen am 29.07.2022). Die Initiative »Postcolonial Potsdam« wurde 2014 von Studierenden der Universität Potsdam gegründet und setzt sich dafür ein, Spuren der deutschen und preußischen Kolonialgeschichte in Potsdam aufzuzeigen und zu kontextualisieren. Mit ihrer Arbeit helfen sie, koloniale Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen und darüber aufzuklären. Weitere Infos finden sich auf ihrer Website: https://postcolonialpotsdam.org/ (zuletzt aufgerufen am 06.04.2022). Vgl. Martina Hafner: 86 Objekte im Fokus. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten – Kolonialismus hinter Schloss und Riegel, in: B.Z., vom 05.02.2022, online abrufbar unter: https://www.bz-berlin.de/kultur/kolonialismus-stiftung-preussische-schloesse

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

ze des Kilimanjaro« im Neues Palais sowie das »Erste Rondell« im Park Sanssouci. Bei den »Laternenträgern« am Neuen Palais handelt es sich um zwei Skulpturen aus Sandstein an der Balustrade, die schwarze Menschen darstellen, welche eine Laterne tragen beziehungsweise sie festhalten. Die »Spitze des Kilimanjaro« sind Gesteinsbrocken, die an den Wänden des Grottensaals im Neuen Palais eingearbeitet wurden. Markiert sind die Gesteinsbrocken in der Wand mit einer goldenen Plakette und im »Ersten Rondell« im Park Sanssouci befinden sich Büsten, die ebenfalls, wie die Laternenträger, schwarze Menschen abbilden. Im weiteren Verlauf des Beitrags wird noch näher auf diese Orte eingegangen. Die Verortung im Stadtbild Potsdams macht deutlich, dass diese Darstellungen in den Prachtbauten und Gärten Teil der preußischen Architektur sind. Ähnlich wie die M-Straße in Berlin, veranschaulicht insbesondere das Beispiel des »Ersten Rondell«, dass die deutsche Kolonialgeschichte nicht erst mit den Bemühungen um koloniale Gebiete im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Der Startpunkt der preußischen Kolonialpolitik lässt sich mit den Ambitionen des brandenburgisch-preußischen Kurfürsten um die Errichtung eines Kolonialstützpunkts an der Westküste Ghanas für das Jahr 1682 festmachen.6 Die entscheidenden Motive des Kurfürsten, sich mit der Errichtung des Stützpunktes ebenfalls am transatlantischen Dreieckshandel zu beteiligen, werden in der Forschung mit finanziellem Gewinn und dem Ziel, außenpolitisch eine wichtigere Rolle zu spielen, benannt und erklärt.7 Neben dem Handel mit kolonialen Waren, konzentrierte sich der Überseehandel vor allem auf den Sklav:innenhandel, an dem sich Brandenburg-Preußen nun auch beteiligte und in die Riege europäischer Länder wie Portugal und Frankreich einreihte. Bis 1690 hatte Brandenburg-Preußen bereits zwei Handelsniederlassungen und fünf Forts, über die der Überseehandel, allen voran der Handel mit Menschen afrikanischer Herkunft, organisiert wurde.8 Da in diesem Han-

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r-und-gaerten-arbeitet-die-herkunft-ihrer-ausstellungsstuecke-auf (zuletzt aufgerufen am 28.02.2022). Nils Brübach: »Seefahrt und Handel sind die fürnembsten Säulen eines Estats«. Brandenburg-Preußen und der transatlantische Sklavenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rüdiger Zoller (Hg.): Amerikaner wider Willen. Beiträge zur Sklaverei in Lateinamerika und ihren Folgen, Frankfurt a.M. 1994, S. 11–42, hier: S. 12. Vgl. Andreas Becker: Preussens schwarze Untertanen. Afrikanerinnen und Afrikaner zwischen Kleve und Königsberg vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Heft 1, 2012, S. 1–32, hier: S. 8. Vgl. Brübach: Brandenburg-Preußen und der transatlantische Sklavenhandel, S. 21.

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del ein lukratives Geschäft gesehen wurde, entschied man sich Anfang der 1690er Jahre die »Brandenburgisch-Africanisch-Americanische Compagnie« zu gründen.9 Die brandenburgisch-preußischen Schiffe transportierten die Menschen nach Amerika und Westindien und beteiligten sich somit am weltweiten Sklav:innenhandel und damit an der Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung. Brandenburg-Preußen belieferte vor allem französische und britische Kolonien in der Karibik mit Sklav:innen10 , die vorwiegend auf Plantagen harte Arbeiten verrichten mussten. 1715 wurde »der Schiffsverkehr unter preußischer Flagge nach Afrika und Westindien eingestellt«11 und mit dem Verkauf von Großfriedrichsburg 1721 der Handel mit Sklav:innen aufgrund von fehlendem Absatz endgültig beendet. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert wurden von den europäischen Mächten, die sich an dem Sklav:innenhandel beteiligten, insgesamt zwischen zehn und fünfzehn Millionen Menschen afrikanischer Herkunft über den Atlantik nach Nord-, Mittel- und Südamerika verschleppt und versklavt.12 Allein brandenburgische Schiffe transportierten schätzungsweise 30.000 Sklav:innen von Afrika in die Kolonien in der Karibik, wobei rund 40 Prozent der verschleppten Menschen die katastrophalen Bedingungen der Überfahrt nicht überlebten.13

Sklav:innen am preußischen Hof Eine oberflächliche Interpretation der Rolle Brandenburg-Preußens im weltweiten Sklav:innenhandel mag vielleicht den Anschein erwecken, dass Brandenburg-Preußen »lediglich« die Rolle eines Händlers oder Vermittlers zuteil kam und Menschen afrikanischer Herkunft im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten dieser Zeit nicht gegen ihren Willen nach Brandenburg-Preußen gebracht und versklavt wurden. Doch spätestens durch die Beteiligung am weltweiten Sklav:innenhandel gelangten auch Menschen afrikanischer Herkunft an den brandenburgisch-preußischen Hof. Sogenannte Hofmohren, die Bezeichnung für schwarze Diener:innen am königlichen und kaiserlichen Hofe, waren ab dem 18. Jahrhundert allgegenwärtig an den europäischen könig-

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Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. Becker: Preußens schwarze Untertanen, S. 11.

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

lichen Höfen und so auch im preußischen Königshaus. Sie mussten als Diener:innen, Musiker:innen oder in anderen repräsentativen Tätigkeiten sowie vor allem bei Staatsbesuchen ihre Arbeiten verrichten und sich der Öffentlichkeit präsentieren.14 Die Sklav:innen waren somit Bestandteile der höfischen Inszenierung.15 Bei der Auswahl dieser Diener:innen am Hofe wurde besonders darauf geachtet, Kinder oder Jugendliche ins Land zu holen, wobei deutlich mehr Jungen als Mädchen nach Preußen gebracht wurden. Ein Grund dafür war die angenommene »Formbarkeit« dieser jungen Menschen. Dies beinhaltete unter anderem die Taufe zum christlichen Glauben, welche für die Anpassung in der Regel als unerlässlich galt.16 Über die Herkunft der am preußischen Hof lebenden Sklav:innen lassen sich nur schwer Aussagen treffen, da diese über verschiedene Stationen nach Preußen gelangten.17 Die von den Sklav:innen ausgeübten Tätigkeiten in Preußen lassen sich in verschiedene Kategorien einordnen: Neben den Anstellungen als Diener:innen bei Hof waren sie in Preußen vor allem als Militärmusiker:innen und zu einem sehr geringen Teil auch in freien Berufen zu finden.18 Tätigkeiten in wichtigen Positionen wurden ihnen jedoch verwehrt19 und auch wenn es vereinzelt zur Heirat zwischen schwarzen Diener:innen und weißen Untertanen kam, kann von einer Integration und Akzeptanz der versklavten Menschen keine Rede sein. Vielmehr prägten die ausgeübten Tätigkeiten und der Status als Sklav:in am Hof die rassistischen Vorstellungen, welches die weiße Mehrheitsgesellschaft der Frühen Neuzeit von schwarzen Menschen vornehmlich hatten. Das rassistische »vorgefertigte Bild wie das des dummen, faulen« und naiven schwarzen Menschen sollte sich noch weitere Jahrhunderte halten und war Wegebereiter für weitere Gräueltaten im 19. und 20. Jahrhundert.20 Als Diener:innen am königlichen Hofe sollten sie »domestiziert« und »kultiviert« werden.21 Diese kolonialrassistische Denkweise zeigt sich auch in den architektonischen und künstlerischen Manifestationen kolonialen Gedankenguts, die bis heute in Potsdam zu finden sind. 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. Adrian von Buttlar/Marcus Köhler: Tod, Glück und Ruhm in Sanssouci. Ein Führer durch die Gartenwelt Friedrichs des Großen, Ostfildern 2012, S. 86.

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Relikte des preußischen Sklav:innenhandels und Kolonialismus in Potsdam Um zu verdeutlichen, welches Bild von schwarzen Menschen in Potsdams Schlössern und Gärten nach wie vor zu finden ist, werden im Folgenden die entsprechenden Orte und ihre problematischen Darstellungen vorgestellt. An der Parkseite des Neuen Palais in Potsdam befinden sich zwei Skulpturen schwarzer Männer, die die an der Balustrade eingebauten Laternen tragen. Im Hinblick auf den beschriebenen historischen Kontext liegt die Vermutung nahe, dass sich die Darstellung dieser zwei Laternenträger am Neuen Palais als Sklaven einordnen und erklären lassen (Abb. 1). Von Kaiser Wilhelm II. beauftragt, wurden diese vom Bildhauer Walter Schott zwischen 1892 und 1893 angefertigt.22 Die Laternenträger repräsentieren durch ihren Entstehungszeitpunkt eher das koloniale Gedankengut im deutschen Kaiserreich. Im Zusammenhang mit ihren Standorten, eingebettet in der preußischen Architektur, kann man sie jedoch auch als Symbol für die Kontinuität des rassistischen Weltbilds verstehen, welches vor allem durch den Sklav:innenhandel, an dem sich auch Preußen beteiligte, geprägt wurde. Die zwei schwarzen Männer sind barfüßig und nur mit einem kurzen Gewand als Laternenträger abgebildet. Anders als in künstlerischen Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert, tragen die zwei schwarzen Laternenträger keine in der kolonialen Repräsentation typischen Accessoires wie Ohrringe oder Ketten, die den Status als Bedienstete oder Sklav:innen symbolisierten. Trotzdem lassen sie sich, vergleicht man sie mit anderen Statuen in dem Ensemble, als solche interpretieren. Die Blicke der schwarzen Laternenträger zeigen im Gegensatz zu denen der anderen Statuen im Neuen Palais nicht nach vorne, sondern eher zur Seite, nach innen gerichtet und vermitteln dem Betrachter so einen schüchternen, verängstigten Eindruck. Die anderen Laternenträger, die Römer und Germanen abbilden sollen, blicken dazu im Gegensatz, so wirkt es, entschlossen nach vorne und sind wesentlich detaillierter umgesetzt als die beiden Laternenträger, die schwarze Menschen darstellen sollen: So tragen sie beispielsweise auch Kleidung, deren Details sich mit den mythischen Vorstellungen von antiken Römern und Germanen identifizieren lassen.

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Vgl. Silke Kiesant: Die Skulpturen Schwarzer Menschen als Laternenträger auf der Balustrade des Neuen Palais von Walter Schott, online abrufbar unter: https://www.s psg.de/fileadmin/user_upload/SPSG_KolonialeKontexte_Schwarze-Menschen-als-La ternentraeger-am-Neuen-Palais.pdf (zuletzt aufgerufen am 07.03.2022).

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

Die Steuerungsgruppe »Koloniale Kontexte« der SPSG interpretiert die Statuen unter anderem als Umsetzung der Phantasie des Kaisers Wilhelm II. Sie können aber in der Auswahl, Anordnung und Gestaltung der schwarzen und der mythischen Statuen auch Gemeinsamkeiten ausmachen und beziehen sich hierbei vorrangig auf die antikisierende Kleidung der Statuen, die sowohl die mythischen Statuen als auch die Statuen, die schwarze Menschen darstellen, tragen.

Abb. 1: Laternenträger am Neuen Palais.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Die Steuerungsgruppe »Koloniale Kontexte« deutet letztere vorsichtig als die Darstellung zivilisierter Vertreter des zu kolonialisierenden Kontinents.23 Betrachtet man die Entstehungszeit der Skulpturen Ende des 19. Jahrhunderts

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Vgl. Kiesant: Die Skulpturen Schwarzer Menschen, o. S.

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und die Brutalität, mit der in den deutschen Kolonien zur gleichen Zeit geherrscht wurde, kann hier diese Interpretation der Statuen von der Steuergruppe »Koloniale Kontexte« nicht zugestimmt werden. Denn diese Einordnung liest sich wie ein Zugeständnis einer positiven Absicht und Lesart der Statuen. Viel mehr, so scheint es, reproduzieren sie jedoch die Vorstellungen über schwarze Menschen, die sich schon zu Zeiten Friedrich II. in Literatur, Architektur und Kunst finden lassen. Ähnlich wie die Laternenträger, ist auch die sogenannte Spitze des Kilimanjaro (Abb. 2), die im Grottensaal des Neuen Palais zu finden ist, ein Produkt der kolonialen Bestrebungen des Deutschen Reiches ab den 1880er Jahren. Die Rolle Brandenburg-Preußens und die Beteiligung am internationalen Sklavenhandel in der Frühen Neuzeit kann als Startpunkt der deutschen Gräueltaten und Entwurzelung vieler Menschen afrikanischer Herkunft angesehen werden. Die Darstellungen der Laternenträger und die Spitze des Kilimanjaro zeugen jedoch von der Kontinuität kolonialer Macht und Weltanschauung, die in Potsdam bis heute an verschiedenen Orten sichtbar sind. So wurde im Deutschen Reich der Kilimanjaro auch als höchstes Gebirge Deutschlands angesehen.24 Der Geograph Hans Meyer, der den Kilimanjaro als erster Deutscher bestieg, benannte die Bergspitze in »Kaiser-Wilhelm-Spitze«25 um und verdeutlichte damit das eurozentrische Weltbild der Kolonialisten. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland übergab er dem Kaiser als Symbol, dass der Kilimanjaro nun deutsches Territorium sei, eine Gesteinsprobe des Bergmassivs.26 So fand die »Spitze des Kilimanjaro« als koloniales Beutegut den Weg nach Potsdam und wurde dort zusammen mit anderen Mineralien und Gesteinen im Grottensaal des Neuen Palais verarbeitet und ab 1890 präsentiert.27 Obwohl durch Untersuchungen des Gesteins in den 1980er Jahren festgestellt werden konnte, dass das originale Gestein aus Tansania sich nicht mehr im Grottensaal befindet,28 erinnert bis heute unreflektiert die Inschrift »Spitze des Kilimanjaro« in diesem Saal die Besucher an die ehemalige Kolonie Deutsch-Ostafrika und den kolonialen Machtanspruch Kaiser Wilhelms.

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Vgl. ohne Autor: Koloniale Kontexte. Die »Spitze des Kilimanjaro« im Neuen Palais von Potsdam, online abrufbar unter: https://www.spsg.de/fileadmin/user_upload/SPSG-K OL-KONTXT-KILIMANJUARO.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.03.2022), S. 4. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd.

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

Abb. 2: Potsdam, Neues Palais, Grottensaal, R. 177, »Spitze des Kilimandscharo«.

Quelle: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg/Yann Le Gall

Trotzdem die Laternenträger am Neuen Palais und die sogenannte Spitze des Kilimanjaro, wie bereits erwähnt, durch die SPSG und Initiativen wie »Postcolonial Potsdam« wissenschaftlich erforscht und deren Entstehung aufgearbeitet wird, scheinen weder die Geschichte noch die Überlieferung dieser Orte in der breiten Öffentlichkeit verhandelt zu werden. Dagegen ist das Erste Rondell (Abb. 3), ein rundes Beet, bestückt mit Büsten schwarzer Menschen und antiker Philosophen und Kaiser, im Park Sanssouci einer der Orte mit kolonialem Kontext in Potsdam, dessen Umbenennungsdebatte in den letzten zwei Jahren auch in der lokalen und überregionalen Presse besprochen und dadurch Aufmerksamkeit für den Ort und seine Geschichte geschaffen wurde.29 29

Beispielsweise in der FAZ: Andreas Kilb: Umbenanntes Mohrenrondell. Postkolonialismus in Sanssouci, vom 17.05.2021, online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktue ll/feuilleton/debatten/umbenennung-des-mohrenrondells-in-sanssouci-17344063.h tml#:~:text=Das%20Mohrenrondell%20im%20Schlosspark%20Sanssouci,Jetzt%20 wurde%20das%20Rondell%20umbenannt (zuletzt aufgerufen am 16.03.2022); oder auch im Neuen Deutschland, vom 14.05.2021, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152 023.kolonialismusdebatte-mohrenrondell-nicht-korrekt.html (zuletzt aufgerufen am 16.03.2022).

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Angestoßen wurde die Diskussion um das Rondell in Sanssouci 2014 in der Stadtverordnetenversammlung Potsdams. Andreas Menzel, damaliges Mitglied der Grünen-Fraktion, forderte vom damaligen Bürgermeister Potsdams und den weiteren Mitgliedern der Versammlung eine Stellungnahme zum umgangssprachlich als »Mohrenrondell« bezeichneten Rondell,30 dessen Umbenennung letztendlich im Jahr 2020 beschlossen und 2021 umgesetzt wurde. Die rassistische Bezeichnung des Rondells hatte das Beet mit den Skulpturen im Park Sanssouci noch nicht bei seiner Errichtung Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten. Vielmehr entwickelte sie sich erst rund zweihundert Jahre später im Volksmund der 1960er Jahre und wurde ab diesem Zeitpunkt von Bewohner:innen und Tourist:innen der Stadt Potsdam verwendet. Nachdem die Büsten Jahrzehnte lang im Rondell demontiert waren, erfolgte eine erneute Aufstellung der Büsten erst wieder 1998.31 Die Büsten des Rondells wurden vermutlich das erste Mal zwischen 1750 und 1754 im Park Sanssouci, zur Zeit Friedrichs II., aufgestellt und um 1830 wieder entfernt, nur um Mitte der 1840er Jahre wieder aufgestellt zu werden.32 Über den Bildhauer und die Herkunft der Büsten lassen sich keine sicheren Angaben treffen. Eine Vermutung in der Forschungsliteratur legt nahe, dass sie ein Abbild derjenigen schwarzen Frauen- und Männer-Büsten darstellen, die womöglich schon zur Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm in seiner Kunstsammlung zu finden waren.33

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Vgl. Carola Hein: Kritik an Name für Skultpuren [sic] im Park Sanssouci. Diskussion um »Mohrenrondell« in Potsdam, in: MAZ, vom 25.03.2014, online abrufbar unter: https://www.maz-online.de/lokales/potsdam/diskussion-um-mohrenrondell-inpotsdam-GGVKTF7SCD3M2ZR773YM5PKZ6E.html (zuletzt aufgerufen am 21.11.2022). Vgl. Silke Kiesant/Carolin Alff/Jörg Wacker: Das Erste Rondell im Park Sanssouci und sein Skulpturenschmuck, online abrufbar unter: https://www.spsg.de/filead min/user_upload/SPSG-KOL-KONTXT-ERSTES-RONDELL.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.03.2022), S. 4. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

Abb. 3: Skulptur im Ersten Rondell.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Die Anordnung und Abbildung der Büsten im Ersten Rondell ähneln denen der Laternenträger, die am Neuen Palais zu finden sind. Auch im Rondell werden Abbilder schwarzer Menschen denen von weißen Menschen entgegengestellt. Diese Büsten, die zwei schwarze namenlose Männer und zwei schwarze namenlose Frauen darstellen, sind so ausgerichtet, dass sie auf die zwei Büsten weißer Männer schauen, die Titus Vespanius und einen Philosophen darstellen sollen. Sie rahmen die Büsten der zwei weißen Männer ein und zeigen ähnlich wie die Skulpturen der Laternenträger am Neuen Palais wesentlich weniger Details auf als die Büsten, die einen weißen Mann darstellen. Wie die Laternenträger-Skulpturen zeigen die schwarzen Büsten einfache, antikisierende Gewänder. Zudem zeigt eine der weiblichen schwarzen Büsten eine entblößte Brust. Deuten lässt sich die Gestaltung und Anordnung der vier schwarzen Büsten, die zur Zeit Friedrichs des Großen im Park Sanssouci aufgestellt wurden, als ein Bild der Unterwürfigkeit. Die wenigen Details und die Ausrichtung des Blickes der Büsten könnte man auch als Ausdruck der Unterlegenheit interpretieren. Die »Steuerungsgruppe Koloniale Kontexte« der SPSG betrachtet den bewussten Kontrast zwischen den antiken Abbildungen von Titus Vespanius und einem Philosophen neben den Büsten unbekannter schwarzer Menschen als die »Zurschaustellung des ›kultivierten Wilden‹ oder der ›domesti-

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zierten Urvölker‹, ein kolonialer ›Kultivierungsprozess‹ […]«.34 Auch die Kunsthistoriker Adrian von Buttlar und Marcus Köhler verstehen die Büsten im Ersten Rondell als Repräsentation des »weltumspannenden zivilisatorischen Anspruch[s]« und des Geschichtsbilds Friedrich des Großen.35 Die drei vorgestellten Orte und ganz besonders das Erste Rondell in Potsdam verdeutlichen also ein kolonialrassistisches Weltbild, dessen Geschichte bis in das 17. Jahrhundert und die Zeit des Sklav:innenhandels reicht.

Raum für Erinnern schaffen Doch wie geht man mit diesen Spuren kolonialrassistischen Denkens um? Ähnlich wie bei der Debatte um Straßenumbenennungen in Berlin stehen sich hier Befürworter:innen der vorgestellten Orte, die sich wünschen, dass diese unverändert und unangetastet bestehen bleiben, und Kritiker:innen, die sich einen Abriss oder Veränderung der Orte erhoffen, streitend gegenüber. Der Ruf nach Bewahrung von Traditionen trifft auf die Forderung nach Veränderung. Eine Lösung, die alle Parteien zufrieden stellt, scheint oft nicht umsetzbar. Erschwerend kommt in Potsdam der Fakt hinzu, dass die hier vorgestellten Spuren des Kolonialismus in den preußischen Schlössern und Gärten unter Denkmalschutz stehen. Ein Abriss ist somit also kaum realisierbar. Doch sollten die Skulpturen überhaupt abgerissen werden, oder gibt es andere Möglichkeiten, auf das rassistische Gedankengut aufmerksam zu machen, ohne, wie es Kritiker:innen von Straßenumbenennungen oft beurteilen, Geschichte »auszulöschen«? Wie kann Sichtbarkeit gegenüber Rassismus, den die vorgestellten Orte verdeutlichen, geschaffen werden? Wie können unerwünschte Spuren aus der Zeit des deutschen Überseehandels und Kolonialismus zu Erinnerungsorten werden? Im Sinne von Michael Rothberg und dem Konzept der multidirektionalen Erinnerung kann man die beschriebene Ausgangslage als Chance sehen, »Öffentlichkeit als gestaltbaren Diskursraum zu denken, in dem Gruppen nicht nur feststehende Positionen artikulieren, sondern durch ihre dialogische Verbindung mit anderen überhaupt erst entstehen.«36 Zwar spricht Michael Rothberg

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Vgl. ebd., S. 7. Buttlar/Köhler: Tod, Glück und Ruhm in Sanssouci, S. 88. Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonialisierung, Berlin 2021, S. 29.

Spuren des Kolonialismus in Potsdams Stadtbild und das fehlende Erinnern

vor allem von verschiedenen Opfergruppen im offiziellen Gedenken, doch lässt sich sein Konzept sehr wohl auch auf Erinnerungsorte wie die vorgestellten beziehen und anwenden. Denn es macht deutlich, dass zwei Erzählungen nebeneinander bestehen können, ohne dass eine Erzählung dabei weniger gewichtet wird. Das heißt, dass die Erinnerungskonkurrenzen, die an diesen Orten aufeinandertreffen (preußische Architektur versus Kolonialismus und Sklaverei) genutzt werden können, um Zusammenhänge zu verdeutlichen, anstatt diese zu verschleiern oder durch Abriss zu tilgen. Multidirektionale Erinnerung bedeutet nicht, Geschichte zu entlasten oder zu schmälern. Im Gegenteil: Wenn der vielschichtigen Erinnerung Platz gegeben werden kann, schafft dies die Möglichkeit, wechselseitige Bezugnahmen der historischen Ereignisse gleichzeitig in den Fokus rücken zu können und dabei die historischen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Ähnlich beschreibt es auch Aleida Assmann in ihrem Konzept des dialogischen Erinnerns: »Ich verstehe dialogisches Erinnern ganz pragmatisch als wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte. Durch Aufnahme der traumatischen Erinnerungen der anderen Seite ins eigene Gedächtnis werden die kompakten und einheitlichen Gedächtniskonstruktionen entlang nationaler Grenzen aufgebrochen.«37 Mit einer Intervention an den vorgestellten Orten kann dafür gesorgt werden, dass in Zukunft nicht nur Initiativen wie »Postcolonial Potsdam« auf die multidirektionalen Erinnerungen der Orte aufmerksam werden, sondern dass auch bei Besucher:innen und Bewohner:innen der Stadt Potsdam Achtsamkeit, Interesse und Anteilnahme für (post)koloniale Strukturen und Verschränkungen ausgelöst werden können. Die Umwidmung der vorgestellten Orte zu Erinnerungsorten der deutschen Kolonialgeschichte kann die Möglichkeit schaffen, transnationalen Perspektiven Raum zu geben und »das gemeinsame historische Wissen um wechselnde Täter- und Opferkonstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte«38 zu nutzen und aufzuarbeiten. Eine Intervention kann dabei verschiedene Formen annehmen: Von Informationstafeln, bis hin zur Veränderung der Orte durch Neuanordnungen der Skulpturen

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Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 197. Ebd., S. 199.

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über Führungen durch die Parkanlagen, die das Thema aufgreifen, oder künstlerische Installationen, die in die Orte eingreifen. Denkbar ist dafür auch die Zusammenarbeit mit Personen aus den ehemaligen Kolonien als Möglichkeit der Verarbeitung auf Augenhöhe. Es schafft Chancen, diese Orte als Lern- und Erinnerungsorte in den Vordergrund zu rücken und so produktiv mit kolonialrassistischem Gedankengut zu brechen.

Potsdamerinnen ins Licht! Sieben Stationen auf dem Weg, Potsdam zu einem bedeutenden Erinnerungsort der Frauenbewegung zu machen1 Sabine Hering/Sarah Zalfen

Das Projekt, das im Folgenden vorgestellt werden soll, ist ein lokales, aber überaus charakteristisches Beispiel für das Dilemma, in dem sich die Frauengeschichtsforschung gegenwärtig befindet: Es gibt inzwischen zwar eine gewisse öffentliche Förderung von kommunalen und regionalen Frauenarchiven und -bibliotheken2 und sogar ein Digitales Deutsches Frauenarchiv auf Bundesebene.3 Trotzdem ist die Frauengeschichtsforschung ebenso wenig in den Hochschulen wie in den Museen und Archiven angekommen. Engagierte Forscherinnen oder Initiativgruppen sind nach wie vor auf zeitlich begrenzte Projektförderung angewiesen und haben deshalb selten dauerhafte ›Überlebenschancen‹. So z.B. die Initiativgruppe »Frauenwahllokal« in Potsdam, die wir im Folgenden vorstellen möchten.4 So präsent die Namen und Bilder von Adligen und Königinnen in Potsdam sein mögen, so wenig sichtbar waren lange Zeit die vielen anderen weiblichen Gesichter der Stadtgeschichte. Mit der 2009 vom Autonomen Frauenzentrum Potsdam e.V. ins Leben gerufenen Schriftenreihe über Potsdamer Frau-

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Wir danken Jeanette Toussaint und Jenny Pöller für ihre Hinweise und Überarbeitung des Textes. Die deutschsprachigen Einrichtungen sind zusammengeschlossen bei IDA: Dachverband deutschsprachiger Frauen/Lesbenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen. DDF: [email protected]. Beide Autorinnen dieses Beitrags gehören zu den Gründungsmitgliedern dieser Initiativgruppe.

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en5 und der 2010 folgenden Initiative »FrauenOrte im Land Brandenburg« des Frauenpolitischen Rates Land Brandenburg6 wurden auch in Potsdam Frauen und ihre Bedeutung für die Stadt gewürdigt – darunter Johanna Just7 , Clara Hoffbauer8 und Käthe Pietschker9 . Die Erinnerung an Frauen, die aus Potsdam kamen oder hier gelebt und gewirkt haben, spiegelte sich zudem im Zuge der Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte auch in Straßennamen wider – von der 1995 eingeweihten Anni-von-Gottberg-Straße10 im neu errichteten Kirchsteigfeld über die 1997 geschaffene Marlene-Dietrich-Allee bis zum jüngst eingeweihten Hedy-Lamarr-Platz, letztere Glanzlichter der Filmmetropole Babelsberg. Eine systematische Erinnerungskultur an die »weibliche Geschichte« der Stadt gibt es indes – wie wohl in den meisten Städten – nicht. Dieser Beitrag beschränkt sich darauf, eine Episode nachzuzeichnen, in der ein Projekt genau dies angestrebt hat. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von Potsdamerinnen, die sich 2018 zusammengefunden haben, um das große Ereignis ›100 Jahre Frauenwahlrecht‹ angemessen in Erinnerung zu rufen, zu feiern und es zum Anlass zu nehmen, Potsdamer Frauengeschichte und Frauenpolitik sichtbarer zu machen.11 Die Gruppe, zu der auch die beiden Autorinnen gehören, hat das »Frauenwahllokal« gegründet – als Symbiose von ›Frauenwahl‹ und ›Wahllokal‹. Dabei sollte es sowohl um einen temporären Ort als auch um ein öffentlichkeitswirksames Projekt gehen. Der Ort war ein kleines Eiscafé in der Fußgängerzone, das als »Salon« für Gespräche und Begegnungen dienen sollte. Außerdem war es Standort einer Ausstellung zur Geschichte des Frauenwahlrechts und zu frauenpolitischen Aktivitäten in Potsdam. Das Projekt sollte zunächst zwischen dem 12. November 2018 (Verkündung des Frauenstimmrechts 1918) und dem 18. März 2019 (erste Sitzung des Potsdamer Kommunalparlamentes mit weiblichen Stadtverordneten 1919) stattfinden. Der Zeitraum wurde jedoch aufgrund der anstehenden Kommunal- und Europa-Wahl bis Ende Mai 2019 ausgedehnt. In dem durch diese

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https://frauenzentrum-potsdam.de/frauenzentrum/publikationen/. https://frauenorte-brandenburg.de/. Johanna Just (1861–1929) Pädagogin und Schulgründerin. Clara Hoffbauer (1830–1909) Philanthropin, Gründerin der Hoffbauer-Stiftung. Käthe Pietschker (1861–1949) stiftete u.a. ein Volksbad und eine Bücherei. Anni von Gottberg (1885–1958) Aktivistin in der Bekennenden Kirche. Mitglieder der Initiativgruppe: Alexa Bouwer, Julia Haebler, Sabine Hering, Laura Kapp, Irene Kirchner, Uta Kletzing, Jenny Pöller, Elsa Reinke, Rita Schulze, Jeanette Toussaint, Sarah Zalfen.

Potsdamerinnen ins Licht!

Daten abgesteckten Zeitraum fanden mehr als 50 Veranstaltungen und Auftritte statt.12 Einige dieser Projekte, hier als Stationen bezeichnet, werden im Folgenden vorgestellt.13

Erste Station: Auftritt im Plenarsaal des Landtages: »Der Kampf um das Frauenstimmrecht!« Natürlich musste der Landtag Brandenburg etwas zum hundertjährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts in Deutschland am 12. November 2018 beitragen. Und natürlich suchte das »Frauenwahllokal« nach einem angemessenen Ort für die feierliche Würdigung dieses großen Ereignisses. So kam man zusammen. Die damalige Landtagspräsidentin Britta Stark stellte den Plenarsaal zur Verfügung und sorgte für einen festlichen Empfang, das »Frauenwahllokal« gestaltete das Programm. Schon im Vorfeld waren alle Plätze ausgebucht, die Nachfrage war überraschend groß. Das Programm des Abends am 12. November umfasste folgende Auftritte: Die A-Capella-Gruppe »Gretchens Antwort« sang unter anderem »Don’t stop me now«, das »Theater 89« trug in einer szenischen Lesung die einschlägigen Reichstagsdebatten zwischen 1896 und 1919 und deren Kommentierung von Seiten der Frauenbewegung vor,14 eine der Galionsfiguren der aktuellen Feminismus-Diskurse, Christina Thürmer-Rohr, reflektierte die Entwicklungen, welche das Frauenstimmrecht in Deutschland ausgelöst hat – und welche noch ausstehen.15 Das war ein Auftakt, der breite Aufmerksamkeit und große parteiübergreifende Anerkennung fand. Auch machte er deutlich, wie groß das öffentliche Interesse an dem Thema, wieviel Wissen noch freizulegen und wie groß der Wunsch war, mehr über die im Schatten der großen Figuren der Frauenbewegung stehenden regionalen Aktivistinnen herauszufinden.

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Informationen zu den Veranstaltungen im Einzelnen finden sich auf der Website des »Frauenwahllokals«: https://frauenwahllokal.com. Träger des gesamten Vorhabens war das Autonome Frauenzentrum e.V. Drehbuch »Der Kampf um das Stimmrecht«, Sabine Hering 2018. Der Vortrag von Christina Thürmer Rohr ist nachzulesen auf der Website des »Frauenwahllokals«: https://frauenwahllokal.com/festvortrag-von-christina-thurmer-rohr-fe stveranstaltung-im-landtag-brandenburg-100-jahre-frauenwahlrecht-potsdam-12-1 1-2018/.

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Zweite Station: Die Suche nach den ersten Politikerinnen in Potsdam Das Frauenwahlrecht war vom 12. November 1918 an auf Reichsebene im Rahmen der Verkündung des »allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts« besiegelt. Alle bürgerlichen Parteien hatten es bis November 1918 im Reichstag abgelehnt, aber – Schwamm drüber – jetzt standen die Wahlen an, und die Parteien brauchten Frauen dringend als Kandidatinnen und als Wählerinnen, egal, welche »Weisheiten« sie noch wenige Wochen zuvor über die »Natur der Frau« und ihre mangelnde Eignung für politische Ämter verkündet hatten. Wie sah das in Potsdam aus? Im »Frauenwahllokal« ging es jetzt darum, jene Frauen zu finden und zu würdigen, die sich hier auf regionaler und lokaler Ebene bereits vor 1918 für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatten und bereit waren, politische Mandate und Ämter zu übernehmen. Jeanette Toussaint, die bereits zu den ersten weiblichen Stadtverordneten in Potsdam und im damals noch eigenständigen Nowawes geforscht hatte,16 wurde vom »Frauenwahllokal« beauftragt, weitere Potsdamer und Brandenburger Parlamentarierinnen zu recherchieren. Es gab eine ganze Reihe von Politikerinnen unterschiedlicher Parteien, die bei den ersten Wahlen in die Nationalversammlung, den Reichstag, den preußischen Landtag und in die Kommunalvertretungen von Potsdam und Nowawes gewählt worden waren und dort in Gremien und Ausschüssen aktiv wurden. Diese Frauen brauchten für ihre Würdigung im »Frauenwahllokal« aber nicht nur einen Namen und den Hinweis auf einen Listenplatz, sondern ein Gesicht, eine Gestalt, eine Biografie. Diese sollten in einer von Jeanette Toussaint kuratierten und von Susanne Stich gestalteten Ausstellung präsentiert werden. So wurden die regionalen Politikerinnen Else Bauer, Berta Beyertt, Else Fisch, Anna Flügge, Elisabeth Hoffmann, Berta Hornick, Helene Krohn, Mathilde Lange, Anna Sand, Martha Schulz und Pauline Wuttke davor bewahrt, dass ihr Leben und Werk verschüttet blieben, und es wurde daran erinnert, dass Frauen auch im rechten Spektrum der Politik aktiv waren wie Elisabeth Holmgren für die Deutschnationale Volkspartei.17 16

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Jeanette Toussaint: Zeichen der neuen Zeit. Die weiblichen Stadtverordneten von Potsdam und Nowawes in der Weimarer Republik, in: Dies.: Ein Besen für mutige Frauen. Siebenundzwanzig Gesichter und ein Preis. Potsdam 2016. Hg. vom Autonomen Frauenzentrum Potsdam e.V., S. 56–67. Jeanette Toussaint: Frauen! Fordert das Wahlrecht! Internationale Vorkämpferinnen & Politikerinnen in Potsdam und Brandenburg 1791 bis 1933. Potsdam 2019. Die Broschüre, die begleitend zur Ausstellung erarbeitet wurde, erschien in der Schriftenreihe des

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Das Besondere des »Frauenwahllokals« war aber neben dem historischen Rückblick der aktive erinnerungspolitische Bezug, den es von der Vergangenheit in die Gegenwart herstellte. Die Ausstellung und die Erinnerung an die historischen Aktivistinnen, die Gegenstand zahlreicher Veranstaltungen waren, mobilisierten auch Interessentinnen für eine zentrale Frage, die 2019 aktuell auf der politischen Agenda stand: die Parität von Frauen und Männern in den heutigen Parlamenten.

Dritte Station: Der Preis und die Parität Das »Frauenwahllokal« war zwar nicht unmittelbar in die Genese des ersten deutschen Paritätsgesetzes eingebunden, das in Brandenburg im Januar 2019 beschlossen wurde. Mit seinem vielfältigen Programm, in dessen Zentrum die Forderung nach der Teilhabe von Frauen an der Politik stand, bildete es gleichwohl ein wichtiges argumentatives Arsenal der Paritätsdiskussion. Die Initiativgruppe im »Frauenwahllokal« vertrat die Auffassung, dass die Parität im Grunde der große Bogen sei, welcher das 1918 verkündete Frauenstimmrecht nun 100 Jahre später zu seiner eigentlichen Verwirklichung führen könne. Die damit erfolgte Aktualisierung der Themenstellung zog eine Reihe von Angeboten des »Frauenwahllokals« im Bereich der politischen Bildung und Mobilisierung nach sich. Besonders nachgefragt war etwa das ›Speed-Mentoring‹, in dem Politikerinnen ihre Erfahrungen beim Einstieg in die Politik übermittelten, oder Aktivitäten in Vorbereitung der sogenannten U-18-Wahl im Mai 2019. Die Paritätsgesetze von Brandenburg und auch Thüringen wurden später von den Verfassungsgerichten gekippt. Diese Entscheidungen der Gerichte erzeugten eine nicht zu leugnende Entmutigung der Akteurinnen, die für die Parität in deutschen Parlamenten stritten. Auf der anderen Seite gab es aber auch Ermutigungen, sich weiter für die Parität und die politische Teilhabe von Frauen im Allgemeinen einzusetzen. Eine wichtige Anerkennung dessen kam darin zum Ausdruck, dass die Initiative des »Frauenwahllokals« im Februar 2019 von der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages mit dem Preis für Demokratie

Potsdamer Frauenzentrums und kann dort bestellt werden. Die Ausstellung ist auf der Website des »Frauenwahllokals« zu sehen: https://frauenwahllokal.com/ausstellungeinfuehrung/.

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ausgezeichnet wurde, der in diesem Jahr – anlässlich von 100 Jahren Frauenwahlrecht – statt zu Ehren von Otto Wels zu Ehren von Marie Juchacz vergeben wurde. Die Verleihung des Preises erfolgte im Rahmen der Dialogveranstaltung ›100 Jahre Frauenwahlrecht – Unser Ziel ist Parität‹ der SPD-Bundestagsfraktion am 18. Februar 2019. Die Laudatio auf die Preisträgerinnen hielt die Journalistin Sophie Passmann. Die Entscheidung für das »Frauenwahllokal« begründete sie damals mit der ungeheuren Fülle und Vielseitigkeit des Programms und der gelungenen Verknüpfung der historischen Ereignisse mit den frauenpolitischen Forderungen der Gegenwart und Zukunft.

Vierte Station: Auftritt im Barberini: »Die Hälfte der Welt« Das renommierte Potsdamer Kunstmuseum Barberini befindet sich in einem rekonstruierten Gebäude, in dessen ursprünglichem Bau am 18. März 1919 nach der Kommunalwahl das Potsdamer Stadtparlament – erstmals mit weiblichen Abgeordneten! – tagte. Diese, bei der Museumsleitung bis dahin weitgehend unbekannte Tatsache, stieß auf großes Interesse und öffnete die Türen für das »Frauenwahllokal«, dort am 18. März 2019 eine weitere Großveranstaltung zur Erinnerung an den Anfang der Präsenz von Frauen in der Potsdamer Kommunalpolitik durchzuführen. Der Oberbürgermeister, Mike Schubert, begrüßte das wiederum zahlreich erschienene Publikum mit einem überzeugenden Bekenntnis zur politischen Einflussnahme von Frauen. Jeanette Toussaint nahm in ihrem darauffolgenden Vortrag das Publikum mit auf die Reise zu jenen Frauen, die vor 100 Jahren den historischen Palast Barberini mit ihren politischen Überzeugungen erstmals betraten. Im Anschluss wurde Antje Rávic Strubel mit einem denkwürdigen Vortrag über »Die unerhörte Logik der gleichen Berechtigung« zum Thema der Doppelbödigkeit und zur Ambivalenz von Machtstrukturen und Geschlechterzuschreibungen gefeiert.18 Der Höhepunkt des Abends war aber ein Happening, nämlich die – das gesamte Publikum beteiligende – Gestaltung einer Weltkugel mit Statements und Forderungen von Frauen. Im Sinne des Mottos der Veranstaltung »Uns

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Nachzuhören ist eine »Nach-Lesung« des Textes unter: https://www.dichterlesen.net/ veranstaltungen/veranstaltung/detail/die-unerhoerte-logik-der-gleichen-berechtigu ng-preis-der-literaturhaeuser-2019-2702/.

Potsdamerinnen ins Licht!

gehört die Hälfte der Welt« wurden diese Forderungen auf der weißen Seite der entsprechend vorbereiteten Kugel mit bunten Aufklebern manifestiert.

Präsentation der Kugel »Die Hälfte der Welt gehört uns« vor dem Brandenburger Landtag 2019.

Quelle: Sabine Hering 2019

Diese Installation wurde am nächsten Morgen unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hinüber in den Landtag getragen und dort der sehr wohlwollend gestimmten Landtagspräsidentin als Dokument eines weiblichen Anspruchs auf die Hälfte der Welt übergeben. Wenn sie die Zeit dort überdauert, könnte die Kugel, wenn es eines Tages gelingt, die Geschichte der Frauen in Potsdam an einem dauerhaft installierten Erinnerungsort zu präsentieren, ein wichtiges Ausstellungsobjekt werden.

Fünfte Station: Die Straßennamen – »Frauen in die Mitte« In Potsdam entsteht derzeit auf dem Boden des alten Stadtzentrums ein neues Quartier. Nach dem Wiederaufbau des Stadtschlosses als ›Hülle‹ des Landtags, des Palais Barberini und anderer historisierender Bauten, werden nach dem Abriss der Fachhochschule rund um den Alten Markt neue Häuserblocks er-

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baut – mit entsprechend neuen Straßenverläufen. Das »Frauenwahllokal« hat die Gelegenheit genutzt, sich bei der Benennung von drei der Straßen für die Ehrung von Frauen einzusetzen, die im Umfeld des jetzt zur Debatte stehenden Terrains aktiv waren: für Anna Zielenziger, die bis nach 1936 Vorsitzende des Israelitischen Frauenvereins Potsdam war; für die im Potsdamer Stadtparlament von 1929 bis 1933 aktive Sozialdemokratin Anna Flügge und für die Mitgründerin der Brandenburger CDU im Jahre 1945, Erika Wolf. Es gibt aber nicht nur eine »neue Potsdamer Mitte«, sondern auch die Bürgerinitiative »Mitteschön«, welche seit Jahren für die Wiedergewinnung der durch Bombardierung und Abriss verlorenen historischen Stadtansicht streitet, und die sich nun vehement gegen die Benennung nach den drei Frauen aussprach und für eine Wiedereinsetzung der alten Namen des Areals (Schwerdtfegerstraße, Kaiserstraße und Schlossstraße). Am 5. November 2019 fand die Verhandlung über die Benennung der Straßen in der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung (SVV) statt. Der Kulturausschuss hatte zuvor bereits mehrheitlich für die Frauenstraßennamen votiert. In der SVV eskalierten die Konflikte. Bereits vor dem Rathaus standen die »Mitteschön«Demonstranten und Demonstrantinnen und beschimpften die in den Sitzungssaal drängenden potentiellen Befürworter und Befürworterinnen des Antrags. Auch die fast zwei Stunden dauernde Debatte war emotional aufgeladen. Am Ende votierte eine Mehrheit für den Antrag. In ihrer Rede zur Begründung des Antrags wies Sabine Hering, die Vertreterin des »Frauenwahllokals«, darauf hin, dass es nicht um eine Umbenennung, sondern um eine Neubenennung gehe – und dass die Würdigung dieser drei Frauen längst überfällig sei. Dieser aus Sicht der Initiative große Erfolg war aber nur einer der notwendigen Schritte zur Erinnerung an bedeutende Frauen in Potsdam durch die Benennung von Straßennamen. Vor allem in Babelsberg werden durch die Initiative der Geschichtswerkstatt ›Rotes Nowawes‹ immer wieder Vorschläge für die Würdigung von Frauen im Straßenbild eingebracht. Aber bis das Missverhältnis von nach Männern und Frauen benannten Straßen (etwa 400 Straßen sind nach Männern benannt, nur 41 nach Frauen)19 in Potsdam aufgehoben ist, wird es noch eine Weile dauern.

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Die Antwort der Stadt Potsdam auf eine kleine Anfrage nach dem Anteil der Straßennamen; Vorlage – 19/SVV/1014 informierte darüber, dass 30 % der Potsdamer Straßennamen nach Männern benannt sind, aber weniger als 5 % nach Frauen.

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Sechste Station: »Potsdamerinnen ins Licht« Mit der Europa- und Kommunalwahl am 31. Mai 2019 schloss auch das Potsdamer Frauenwahllokal seine Pforten vorläufig. Wiedererwacht ist es im Januar 2021 mitten in der Corona-Pandemie, obwohl die Pandemie viele Themen und vormals aktuelle und wichtige gesellschaftliche Diskurse vorübergehend überschattet und aus dem Sichtfeld gedrängt hat. In der Zeit, als keine öffentlichen Veranstaltungen, Ausstellungen und Versammlungen möglich waren, suchte die Initiative nach neuen Wegen, um das öffentliche Interesse für die Geschichte von Frauen in Potsdam zu wecken. Voraussetzung war: Es musste unter freiem Himmel stattfinden und durfte keine Menschenansammlungen provozieren. Die Wahl fiel im Endeffekt auf das Medium »Illumination« – das hieß im konkreten Fall: Portraits von Frauen sollten bei Dunkelheit auf eine Häuserwand in der Innenstadt projiziert werden. Dazu musste eine Möglichkeit gefunden werden, einen individuellen Weg zu den Informationen über die Frauen herzustellen. Die Illuminationen wurden zu diesem Zweck mit Podcasts unterfüttert,20 die unter anderem per QR-Code abrufbar waren. Die Stadt Potsdam sagte der Finanzierung dieses Vorhabens zu – und die »Potsdamer Bürgerstiftung« stellte die Wand des alten Klosterkellers, in dem sie damals beheimatet war, als Projektionsfläche zur Verfügung. Jeanette Toussaint wurde wiederum mit der Auswahl der Frauen, der Bildauswahl und der Recherche beauftragt. Die Journalistin Stefanie Schuster erarbeitete die Podcasts und die Grafikerin Susanne Stich übernahm in bewährter Form die grafische Gestaltung. In der damals in jeder Hinsicht ›dunklen Zeit‹ Ende Januar bis Anfang März 2021 wurde fünf Wochen lang jeweils eine Frau in den Abendstunden präsentiert. Aufgrund der Nähe des Klosterkellers zum Alten Markt schien es sinnvoll zu sein, in erster Linie die Trägerinnen der zukünftigen Straßennamen, also die bereits in ihren Funktionen benannten Frauen Anna Zielenziger, Anna Flügge und Erika Wolf vorzustellen. Ergänzend fiel die Wahl auf die Pädagogin und Schulgründerin Johanna Just (1861–1929) und die Landschaftsarchitektin Herta Hammerbacher (1900–1985). Nicht nur die eindrucksvollen Projektionen, sondern auch die ausführlichen, lebendig gestalteten Podcasts haben viel Lob erhalten und die Idee befördert, das Projekt zukünftig vielleicht auch stadtteilbezogen weiterzuführen. Das hieße: auf weibliche Protagonistinnen an ihrem jeweiligen Wohnort (gegebenenfalls an der Wand des Hauses, in dem sie gelebt haben) hinzuweisen und sie damit als ›Nachbarinnen von 20

Abrufbar sind die Podcasts auf der Website des Frauenwahllokals, siehe Fußnote 5.

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gestern‹ vom Sockel landläufiger Erinnerungskultur herunter in den ›emotionalen Nahbereich‹ zu holen.

Lichtprojektion des Portraits von Herta Hammerbacher an die Fassade des Klosterkellers in der Friedrich-Ebert-Straße Potsdam im Rahmen der Aktion Potsdamerinnen ins Licht.

Quelle: Susanne Stich 2021

Potsdamerinnen ins Licht!

Siebte Station: Erfolge und Desiderate Louise Otto Peters hat einmal gesagt, »Die Geschichte aller Zeiten lehrt, daß diejenigen, welche selbst ihre Rechte vergaßen, auch vergessen wurden.«21 Was lehrt uns das? Uns, die wir unermüdlich den Frauen der Vergangenheit auf der Spur sind. Nicht nur den großen Vorbildern, sondern auch denen, deren Handeln bei näherer Betrachtung einer kritischen Beurteilung der Nachgeborenen keineswegs standhalten. Nicht nur den ›gekrönten Häuptern‹, sondern auch all denen, die ein ganz alltägliches Leben geführt haben, unter deren Grabstein aber auch – wie wir von Heinrich Heine gelernt haben – eine Weltgeschichte schlummert. Die inzwischen erfolgende Förderung der Frauenarchive, vor allem des vom Bund geförderten Digitalen Deutschen Frauenarchivs (DDF), ist eine wichtige Errungenschaft, die nach langen Kämpfen erstritten werden konnte. Aber die Forschungen zur Geschichte der Frauenbewegung sind auch vielfach hinter neuen Themenschwerpunkten (unter anderem der Gender-, Diversityoder Queer-Studies) aus dem Blickfeld geraten, ohne in irgendeiner Hinsicht »abgeschlossen« zu sein. Die geringe Anzahl der Professuren in diesem Bereich ist entmutigend. Was aber können wir tun, um für unsere häufig ehrenamtlichen, teilweise nebenamtlichen Recherchen zur Frauengeschichte und zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung die notwendigen Ressourcen und Rahmenbedingungen abzusichern? Wie verschaffen wir dem Thema die Bedeutung, derer es bedarf, um noch die vielen bestehenden Lücken aufzuarbeiten? Wie kann die notwendige Sichtbarkeit erreicht werden, um auch in den Bildungsinstitutionen und im Bereich der Forschung anzukommen? Um einen wirksamen lokalen Erinnerungsort einer jeweils spezifischen Geschichte der Frauenbewegung zu entwickeln, bedarf es nicht nur einzelner engagierter Personen, die der einen oder anderen Spur nachgehen. Es bedarf auch nicht nur einer Rubrik, in der die herausgefundenen Erkenntnisse publiziert werden können. Eine lokale Gruppe, die sich für die Recherchen zusammentut, ist hilfreich, aber erst die Institutionalisierung der Aktivitäten im Rahmen der kommunalen Strukturen (in der Regel Stadtarchiv oder Stadtmuseum) können dazu beitragen, der Erforschung, Erinnerung und Vermittlung lokaler und regionaler Frauengeschichte eine Zukunft zu sichern.

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Leipziger Arbeiterzeitung, Nr. 4 vom 20.5.1848.

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Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg, oder: Wie entsteht eigentlich ein Erinnerungsort? Josephine Eckert

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Erinnerungen und Orten? Das Verorten von Erinnerung ermöglicht es, sie langfristig im Gedächtnis zu behalten. Der Ort funktioniert als Gedächtnisstütze und als Erinnerungsmarker – ebenso wie auch Gegenstände und Personen, sogar Gerüche Erinnerungen in uns wachrufen können. Dieses Prinzip gilt für individuelle Erinnerungen, ebenso wie für die kollektiven Gedächtnisse1 von Gemeinschaften, die eine Vergangenheit teilen und über eine gemeinsame Erzählung dieser Vergangenheit eine Gruppenidentität entwickeln. Erinnerungsorte von Gemeinschaften können Denkmäler und Gebäude, Personen, Gegenstände, Lieder oder Literatur sein. Zu Erinnerungsorten werden sie dadurch, dass sie von einer Gemeinschaft als Symbol für ihre Vergangenheit rezipiert werden. In ihnen bündeln sich individuelle Erinnerungen und machen sie dadurch zu »Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung und Identität« [Hervorhebung J.E.].2 Pierre Nora prägte den Begriff Erinnerungsort (»lieux de mémoire«), als er Objekte, Gebäude und Begriffe zusammentrug, die für die französische nationale Erinnerung von Bedeutung seien.3 Étienne François und Hagen Schulze adaptierten das Konzept 2001 für eine Publikation über deutsche Erinnerungsorte. Seit einigen Jahren wird der nationale Referenzrahmen des Kon1

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Zu dem Begriff vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991 (original La mémoire collective, Paris, 1939); Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. Vgl. und Zitat: Étienne François, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Band 1, München 2009 (2001), S. 18. In deutscher Übersetzung erschien: Pierre Nora, Étienne François (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005.

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Josephine Eckert

zepts aus Sicht einer trans-nationalen Erinnerungskultur aktualisiert, so beispielsweise in Publikationen zu europäischen Erinnerungsorten4 oder Reflektionen über die Verortung postkolonialer Erinnerung5 . In diesem Beitrag wird die Perspektive hingegen stark verkleinert. Erinnerungsorte gibt es auch für regionale und städtische Erinnerungsgemeinschaften. Am Beispiel des erst 2021 fertiggestellten Gedenkkomplexes auf dem Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg wird nachgezeichnet, wie ein Ort für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Potsdam buchstäblich aus dem Nichts neu entstand – und hinterfragt, ob ein Gedenkort auch automatisch schon ein Erinnerungsort ist.

NS-Gedenken in der Erinnerungslandschaft Potsdam Auf der Suche nach Potsdamer Erinnerungsorten zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft sind zunächst solche Orte interessant, an denen entsprechende Gedenkveranstaltungen stattfinden. Bisher fand die jährliche Gedenkveranstaltung der Stadt Potsdam für die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 in der Gedenkstätte Lindenstraße statt. Seit 1995 forscht und informiert diese über die »doppelte Geschichte« ihres Hauses als Untersuchungsgefängnis für rassisch und politisch Verfolgte im Nationalsozialismus sowie als Geheimdienstgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes beziehungsweise des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR.6 Im Hof des ehemaligen Gefängnisses wurde die Skulptur »Das Opfer« von Wieland Förster aufgestellt, die laut der Gedenkstätte »das Leiden von Gefangenen in Gewaltregimen zum Thema hat«.7 Sie

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Siehe beispielsweise die zum Thema Europäische Erinnerungsorte bei de Gruyter, 2012 – 2016: https://www.degruyter.com/serial/euer-b/html?lang=de (zuletzt aufgerufen am 18.5.2022). Vgl. Jürgen Zimmerer: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a.M. 2013, oder auch das Projekt des Goethe-Instituts Lissabon: https://www.re-mapping.eu (zuletzt aufgerufen am 18.5.2022). Siehe den Beitrag von Norman Warnemünde und Amélie zu Eulenburg in diesem Band. Lichter gegen Dunkelheit, in: Website der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, online abrufbar unter: https://www.gedenkstaette-lindenstrasse.de/blog/2022/01/25/lichter -gegen-dunkelheit/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2022).

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

ist seitdem sowohl der Ort des städtischen Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als auch der Mittelpunkt der Gedenkveranstaltungen für die politisch Verfolgten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nach 1945 und später in der DDR.8 Es ist nicht überraschend, dass diese Situation zu Konflikten führte. So kritisiert die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. Land Brandenburg (VVN-BdA Brandenburg), dass es keinen eigenen Gedenkort für die Opfer des NS-Regimes in dem ehemaligen Haftort gibt. In einer Stellungnahme schrieb der Verband 2012: »[Wir] fordern erneut die Trennung der Gedenkorte […]. Nach wie vor lehnen die NS-Verfolgten das gemeinsame Gedenken mit nach 1945 in der Lindenstraße Inhaftierten ab, da sich unter diesen auch Funktionsträger des Dritten Reiches befanden. Ein gemeinsames Gedenken ist nicht zumutbar […].«9 In einer Befragung der verschiedenen Geschichts- und Gedenkakteur:innen aus dem Jahr 2014 sprach sich denn auch die Mehrheit der Stiftungen und Initiativen gegen einen zentralen Gedenkort für die Stadt Potsdam und stattdessen für ein dezentrales, an Ereignisorte gebundenes Gedenken aus.10 Ein weiterer zentraler Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus befindet sich auf dem Platz der Einheit im Zentrum der Stadt. Seit 1975 steht dort das sogenannte Mahnmal für die Opfer des Faschismus von Werner Berg. Dass zu der Anlage anfänglich auch eine Pyramide aus roten Winkeln gehörte, verdeutlicht, dass sie den politisch Verfolgten und insbesondere den kommunistischen Widerstandskämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus gewidmet war. Die Flammenschale (Christian Röhl), die seit 1979 die Pyramide ersetzt, schwächt diesen Eindruck ab. Dennoch steht der Ort deutlich in der

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Zu den Herausforderungen der »doppelten Geschichte« der Gedenkstätte Lindenstraße vergleiche den Beitrag von Amélie zu Eulenburg und Norman Warnemünde in diesem Band. Stellungnahme der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e.V. Land Brandenburg (VVN-BdA Brandenburg) vom 18. Mai 2012 im Anhörungsverfahren zur Gedenkstättenkonzeption (Mitteilungsvorlage des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Potsdam an die Stadtverordnetenversammlung 11/SVV/0947 vom 24.11.2011) und zur Frage der künftigen Trägerschaft der Potsdamer »Gedenkstätte Lindenstraße für die Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert«, S. 1. Vgl. Landeshauptstadt Potsdam: Konzept zur Erinnerungskultur der Landeshauptstadt Potsdam, September 2014 (2. Auflage), S. 6.

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Tradition des antifaschistisch-kommunistischen Gedenkens der DDR, die die rassische Verfolgung in der Shoah und im Porajmos vernachlässigte. In der Zeit nach 1989 wurde das Mahnmal wiederholt mit rechten Parolen beschmiert oder beschädigt.11 Heute findet an dem Ort antifaschistisches Gedenken statt, häufig verbunden mit einem Besuch des sowjetischen Ehrenfriedhofs wenige hundert Meter entfernt. Für ein parteienübergreifendes städtisches Gedenken eignet sich der Ort angesichts seiner DDR-Vergangenheit und der fehlenden Erwähnung anderer Opfergruppen hingegen nicht. Dass Potsdam als Landeshauptstadt des Landes Brandenburg nach wie vor um eine angemessene Verortung der Erinnerung an die Verbrechen NaziDeutschlands ringt, ist zunächst erstaunlich. Immerhin gibt es wie in jeder deutschen Stadt eine ganze Reihe an historischen Schauplätzen, die in Frage kämen. Zahlreiche Stolpersteine weisen auf den letzten Wohnort von jüdischen Potsdamer:innen vor ihrer Ermordung hin, Gedenktafeln machen auf die Deportation der Bewohner:innen des jüdischen Altersheims in Babelsberg durch die Gestapo 194312 oder die Existenz eines KZ-Außenlagers und eines Zwangsarbeitslager auf dem Gelände des heutigen Universitätscampus Griebnitzsee aufmerksam. In Drewitz erinnert ein Mahnmal an den Todesmarsch, der 1945 aus dem KZ Lieberose auf dem Weg ins KZ Sachsenhausen auch durch die Potsdamer Innenstadt führte.13 Gleichzeitig gibt es Forderungen nach mehr Sichtbarkeit für die nationalsozialistische Geschichte Potsdams: Im Mai 2021 haben Stadtverordnete der SPD, der Grünen, der LINKEN und der Fraktion Die Andere diesbezüglich einen gemeinsamen Antrag eingereicht, der auch eine stärkere Erforschung der Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945 beinhaltete.14 Aus der Forderung spricht der Wunsch, das Gedenken in der Stadt zu konkretisieren und es

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Vgl. Stefanie Endlich: Brandenburg, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Eine Dokumentation, Bonn 2000, S. 230–378, hier S. 331–332. Vgl. »Jüdisches Altersheim«, in: Website Geschichtsorte Potsdam, online abrufbar unter: www.geschichtsorte.de/das-juedische-altersheim/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2022). Vgl. Sonderausstellung »Bruchstücke ›45« der Gedenkstätte Leistikowstraße in Kooperation mit dem Haus der Brandenburgisch Preußischen Geschichte, Potsdam, 2021. Vgl. Henri Kramer: Route des Todesmarschs ausschildern, in: Potsdamer Neuste Nachrichten, 21. 04. 2021, online abrufbar unter: https://www.pnn.de/potsdam/gedenkkul tur-in-potsdam-route-des-todesmarschs-ausschildern/27115020.html (zuletzt aufgerufen am 7.3.2022).

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

deutlich auf die Stadtgeschichte anzuwenden, statt an verallgemeinernden Gedenkorten Kränze abzulegen. Die existierenden und zum Teil auch markierten historischen Orte des nationalsozialistischen Terrors scheinen diese Rolle für das Stadtgedächtnis jedoch nicht einzunehmen. Warum? Zum einen muss auf den jahrzehntelangen Unwillen zur Aufarbeitung der nationalen, aber besonders auch der kommunalen Verbrechensgeschichte im NS nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen werden. Viele originale Schauplätze wurden nach Kriegsende überzeichnet oder vernachlässigt und somit vergessen. Für die nachfolgenden Generationen, die sich nicht mehr selbst erinnerten, fehlte eine kollektive Verortung im Stadtraum. Zum anderen lässt sich die Situation auf das zentralisierte Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in der DDR zurückführen. Deren Schwerpunkt lag auf den verfolgten Kommunist:innen und Antifaschist:innen, die dem System in irgendeiner Form Widerstand leisteten. Örtlich konzentrierte sich das Gedenken auf die sogenannten Nationalen Mahn- und Gedenkstätten in den ehemaligen Konzentrationslagern Sachsenhausen, Ravensbrück und Buchenwald. Die zwar obligatorischen, aber kleinen Gedenkorte in den Städten und Gemeinden waren häufig stereotypisiert den antifaschistischen Held:innen oder den gefallenen Soldaten der Roten Armee gewidmet. Einzelschicksale wurden unter diese Form des zentralisierten Gedenkens subsumiert. Andere Schauplätze des NS-Terrors wurden vernachlässigt.15 Erst in den 1980er Jahren steigerte sich das Bewusstsein für und die Sichtbarkeit von anderen Verfolgtengruppen, so beispielsweise des Schicksals von Jüdinnen und Juden. Nicht selten war diese Aufarbeitung lokalen Initiativen zu verdanken.16 So erinnert in Potsdam seit 1979 eine Gedenktafel an die in der Pogromnacht 1938 demolierte und 1945 durch Bomben endgültig zerstörte Synagoge in der Innenstadt, die sich ebenfalls am Platz der Einheit befand. Der Gedenkort wurde auf Initiative von Theodor Goldstein installiert, der auch die Jüdische Gemeinde in Potsdam neugründete.17 Dass über vierzig Jahre lang das städtische Gedenken im Wesentlichen auf die nationale Erzählung des antifaschistischen Widerstands gegen das NS-Regime beschränkt war, führte dazu, dass die (individuelle und kollektive) Erinnerung an Schauplätze des Verbrechens in der Stadt verblasste. Die dezentralen, kleinen Gedenkorte, die seit dem Mauerfall von einer aktiven Zivilgesell15 16 17

Vgl. Endlich: Brandenburg, in: BpB (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des NS, S. 233. Vgl. ebd., S. 234. Vgl. ebd., S. 332.

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schaft geschaffen wurden – beispielsweise die Stolpersteine – können diesen Missstand nicht so einfach ausgleichen. Es fehlte lange an einem Ort, der das städtische Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus konkretisiert und innerhalb der Stadtgeschichte verortet. Ein Ort, der das Schicksal verschiedener Verfolgtengruppen sichtbar macht, anstatt sich auf das (dennoch nicht zu vernachlässigende) antifaschistische Gedenken zu beschränken. Nicht zuletzt fehlte es an einem Ort, der seine Bedeutung nicht mit anderen Interessengruppen teilen muss, wie es im Innenhof der Gedenkstätte Lindenstraße bisher der Fall war. Die Stadt beschloss daher 2020 den Willi-Frohwein-Platz, der bereits seit 2012 als Gedenkort genutzt wird, zu Ehren des namensgebenden Potsdamer AuschwitzÜberlebenden umzugestalten und damit diese erinnerungskulturelle Lücke zu schließen.

»Je mehr du erzählst, je mehr fällt dir ein.«18 – Der Zeitzeuge Willi Frohwein Willi Frohwein19 wurde im März 1923 in Berlin-Spandau geboren. Er besuchte eine katholische Schule und war Mitglied der katholischen Pfadfinder. Der Vater hatte seinen jüdischen Glauben aufgegeben. Mit den sogenannten Nürnberger Gesetzen schuf die NSDAP 1935 eine juristische Grundlage für die Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Für den zwölfjährigen Willi Frohwein, der nun als sogenannter Halbjude galt, war es das erste Mal, dass er von seinen jüdischen Wurzeln erfuhr. Die Familie Frohwein wurde wiederholt denunziert und lebte nach und nach isoliert. Für eine Flucht aus Deutschland fehlte das Geld. Die Ausbildungssuche wurde durch Willi Frohweins sogenannten Blutstatus erschwert, daher fing er eine ungeliebte Lehre als Wäscher und Plätter an. Als Auszubildender wurde er Zeuge der Zerstörung und Plünderung von jüdischen Geschäften, Synagogen und Wohnungen im Novemberpogrom 1938. Die

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Interview Willi F. Holocaust Testimony (HVT-3389), Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam and Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale University Library, 1995/1996. Alle biografischen Angaben über das Leben von Willi Frohwein stammen aus: Willi Frohwein: Von Spandau nach Auschwitz, hg. von der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau, Berlin 2002.

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

Gewaltexzesse nahmen den Jugendlichen stark mit. Er berichtete, wie er im Betrieb zusammengebrochen sei: »Da sind meine Nerven kaputtgegangen. Da war ich fertig und hab geheult wie ein Schloßhund und konnte und konnte nicht aufhören.«20 1942, mit 19 Jahren, wurde er zur Arbeit in einem Rüstungsbetrieb zwangsverpflichtet. Er erzählte, dass er dies als ein gewisses Glück bewertet habe, denn er habe von vielen Jüdinnen und Juden gewusst, die stattdessen nach Oberschlesien transportiert wurden und kurze Zeit später verstorben seien. Den Namen Auschwitz kannte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Willi Frohwein begann sich gegen das System zu wehren. Um die deutsche Kriegswirtschaft zu sabotieren, produzierte er Ausschuss. Das fiel auf und nach mehrmaliger Vorladung entschloss er sich zur Flucht in die Schweiz, die jedoch misslang. Nach monatelanger Haft kam er zurück nach Berlin. Im April 1943 wurde Willi Frohwein in einem überfüllten Zug abtransportiert – das Ziel, Auschwitz, erfuhr er nun auf der Fahrt. Mit seiner Ankunft wurde er direkt in ein Strafkommando in Auschwitz-Monowitz befohlen, wo er täglich zwölf Stunden schwere Säcke im Laufschritt transportieren musste. Die schwere Arbeit und das wenige Essen ließen ihn in kürzester Zeit abmagern. Als sein einziger Freund im Lager Selbstmord beging, habe auch ihn der Lebenswille verlassen. Er wurde krank und in den sogenannten Schonblock verlegt. Zwei Mal wurde er selektiert, das heißt für die Ermordung in den Gaskammern ausgewählt. Beide Male wurde er jedoch wieder von der Liste genommen. Statt Erleichterung habe er Sehnsucht nach dem Sterben gefühlt.21 Dass Willi Frohwein beide Male dem Tod entkam, führte er im Nachhinein darauf zurück, dass seine Mutter einen Brief an den Lagerkommandanten schrieb. Da sein Bruder Wehrmachtssoldat war, erkundigte sie sich in der Rolle der deutschen Soldatenmutter nach dem Verbleib ihres anderen Sohnes. Dass Willi Frohweins Bruder in einem Strafbataillon des Minenräumkommandos fiel, erwähnte sie nicht. Die Lagerleitung sei irritiert gewesen: »Jetzt haben die dort nicht mehr durchgesehen. Es konnte doch nicht sein, ich laufe mit Stern

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Willi Frohwein, in: Diktaturen im Vergleich, Peter-Joseph-Lenné-Schule Potsdam, 2007, Audio abrufbar unter: https://willi-frohwein-platz.de/zeitstrahl/ (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022). Vgl. Candida Splett: Sprechen hilft gegen Albträume. Willi Frohwein, in: Der Tagesspiegel, 05. 02. 2010, online abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/willi -frohwein-geb-1923/1676174.html (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022).

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rum und der andere ist Soldat?«22 Ein Häftlingsschreiber des Lagerarztes entschied schließlich Willi Frohweins Schicksal und machte ihn auf dem Papier zum »Deutschen«. Mit diesem Status bekam er einen Arbeitsplatz in seinem Ausbildungsberuf in der Wäscherei des Lagers, wo es warm war und die Arbeit körperlich weniger schwer. Dort hatte er die Möglichkeit, Wäschestücke zu entwenden, die im Lager gegen Brot eingetauscht werden konnten. Angesichts der näher rückenden Roten Armee entschied die SS im Januar 1945 das Lager Auschwitz zu räumen und schickte alle als arbeitsfähig eingeschätzten Personen auf sogenannte Todesmärsche nach Westen, auf denen unzählige Menschen vor Erschöpfung starben. Im offenen Kohlewaggon wurde Willi Frohwein in das Konzentrationslager Mittelbau-Dora transportiert. Als auch dieses Lager kurz vor der Befreiung durch das US-Militär stand, brachte man ihn in das KZ Bergen-Belsen. Körperlich stark geschwächt erlebte er dort die Befreiung des Lagers durch englische Truppen. Willi Frohwein war 22 Jahre alt, als er nach Berlin-Spandau zurückkehrte. Er bewarb sich bei der Kriminalpolizei, wurde jedoch nicht genommen, was er darauf zurückführte, dass im Polizeiapparat noch immer Nazis arbeiteten. In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, wurde ausdrücklich nach Polizisten gesucht, die keine Nazivergangenheit hatten. Willi Frohwein bewarb sich daher in Potsdam und machte dort bis 1947 eine Ausbildung zum Kriminalkommissar. Er zog nach Potsdam-Babelsberg und gründete eine Familie. Seine Eltern in Spandau besuchte er häufig. Als es ab 1952 den Beamten in der DDR untersagt wurde nach Westberlin zu fahren, gab er seinen Beruf auf und wurde angesichts seiner chronischen Krankheiten aus der Lagerzeit mit 29 Jahren Frührentner. Willi Frohwein arbeitete fortan als Aufnahmeleiter bei der DEFA, baute die Hilfsorganisation Volkssolidarität mit auf, war Mitglied der SED und des 1947 gegründeten VVN-BdA. Als er 1965 in der Zeitung von der Verhaftung Horst Fischers las, dem ehemaligen Lagerarzt in Auschwitz-Monowitz, der auch ihn mehrfach selektiert hatte, meldete er sich als Zeuge. Im groß inszenierten Prozess 1966 sagte er als Hauptbelastungszeuge des Block 9 und einziger Zeuge im Zeugenstand gegen Fischer aus. Es war das erste Mal, dass er über seine Erlebnisse sprach: »Da hatte ich nach der Vernehmung einen Nervenzusammenbruch.«23 Der geständige Fischer wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. 22 23

Ebd. Willi Frohwein. Holocaust Testimony (HVT-3389), MMZ/Fortunoff.

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

Für Willi Frohwein bedeute die Aussage eine Wende: »Mit dem FischerProzess fing ich an zu reden.«24 Er begann als Zeitzeuge über sein Leben zu berichten und sprach fortan häufig mit Jugendlichen. Seine Erzählungen folgten dem Motto: »Man muss ans Herz kommen, dann macht der Kopf schon weiter.«25 2005 trug sich Willi Frohwein in das Goldene Buch der Stadt Potsdam ein. 2009 verstarb er mit 86 Jahren in Potsdam-Babelsberg. Insbesondere Personen, die Willi Frohwein kennengelernt hatten, engagierten sich, an seine Person und sein Lebenswerk zu erinnern. Seine Familie bespielt seit 2011 auch eine Social Media Plattform mit Fotos und Nachrichten.26 Im März 2012 wurde schließlich auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der namenlose Platz am Findling an der Babelsberger Großbeerenstraße nach dem verstorbenen Willi Frohwein benannt. Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, kommentierte die Benennung in einer schriftlichen Stellungnahme als Ehrung aller Überlebenden: »Mit Ihrer Ehrung für Willi Frohwein, der so seinen Platz im Alltag und im Gedächtnis der Potsdamer behält, ehren Sie nach unserem Verständnis […] alle Überlebenden von Auschwitz, die heute an vielen Orten dieser Erde das Gespräch mit jungen Menschen suchen, um sie vor Gefahren von Antisemitismus und Rassismus zu warnen und für Toleranz und die Demokratie zu begeistern.«27

Einen »toten Raum« beleben Am 1. April 2015 beschloss die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung über einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der SPD, von Bündnis 90/ Die Grünen und der CDU/ANW, wonach der Oberbürgermeister mit der »würdevollen und angemessenen« Gestaltung des Willi-Frohwein-Platzes

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Ebd. Zeitzeugengespräch im Lehrerseminar in Potsdam 2008, Quelle: Joachim Polariski. Link zur Gedenkseite für Willi Frohwein auf Facebook: https://www.facebook.com/wil lifrohwein/ (zuletzt aufgerufen am 18.8.2022). Stadt Potsdam, Pressemitteilung Nr. 189, 27. 03. 2012: Erklärung des Vizepräsidenten des Internationalen Ausschwitz-Komitees Christoph Heubner, online abrufbar unter: https://www.potsdam.de/content/189-feierliche-namensgebung-fuer-den-willi-f rohwein-platz (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022).

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zu beauftragen sei. Auch die ergänzenden Forderungen der Fraktion Die LINKE, die umliegenden Schulen und Wohnungsgesellschaften in den Prozess mit einzubeziehen, wurde beschlossen.28 Als Begründung gaben die antragstellenden Fraktionen an, dass zum Holocaustgedenktag 2015 erstmals auch eine Veranstaltung am Willi-Frohwein-Platz stattgefunden habe, jedoch »in Ermangelung eines würdigen Ortes […] Kränze und Blumen am Straßenschild niedergelegt« werden mussten. Alle Zeichen stünden darauf, dass er sich als Gedenkort in der Stadt etablieren würde, daher bedürfe es einer Umgestaltung.29 Tatsächlich nutzten insbesondere zivilgesellschaftliche Gruppen aus Babelsberg den Ort für Gedenkveranstaltungen und historische Bildungsarbeit. Im alltäglichen Sprachgebrauch sind Erinnerungsorte meist Orte, an denen Geschichte im öffentlichen Raum sichtbar ist. Dazu zählen insbesondere historische Bauwerke oder sogenannte authentische Orte, die Schauplatz für historische Ereignisse waren. Nicht selten ist ein Erinnerungsort auch beides. Der zuvor namenlose Willi-Frohwein-Platz war weder das eine noch das andere. Erst die Umbenennung 2012 gab ihm eine Bedeutung. Die Künstlerin Susanne Ahner, die das Konzept für den späteren Gedenkort entwarf, beschrieb ihn als »toten Raum«, gelegen in unwirtlicher Nachbarschaft zum Durchgangsverkehr der viel befahrenen Großbeerenstraße.30 Mit dem Willi-Frohwein-Platz sollte ein Erinnerungsort buchstäblich aus dem Nichts entstehen. Seine Umgestaltung war in die Sanierung des umliegenden Viertels durch den städtischen Sanierungsträger Stadtkontor eingebettet. In einem Beteiligungsverfahren setzten sich die Entwürfe der Landschaftsarchitektin Brigitte Gehrke und der bildenden Künstlerin Susanne Ahner durch. Den ersten

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Vgl. Beschluss der 9. öffentlichen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam am 01. 04. 2015, Gestaltung Willi-Frohwein-Platz, Vorlage: 15/SVV/0123, online abrufbar unter: https://egov.potsdam.de/bi/___tmp/tmp/450810 36/LnBInipPdxAM0Izhv4IAerQYMLOgBSPeNonNkHzM/JugGXjmr/61-Anlagen/01/Be schluss.pdf (zuletzt aufgerufen am 7.3.2022). Vgl. Antrag zur Gestaltung Willi-Frohwein-Platz, Vorlage: 15/SVV/0123, Ratsinformationssystem der Stadt Potsdam, online abrufbar unter: https://egov.potsdam.de/bi/vo0 20.asp?VOLFDNR=23572#searchword (zuletzt aufgerufen am 7.3.2022). Vgl. Erik Wenk: So soll der Frohwein-Platz in Babelsberg aussehen, in: Potsdamer Neuste Nachrichten, 07. 03. 2020, online abrufbar unter: https://www.pnn.de/potsda m/gedenken-an-ns-opfer-so-soll-der-frohwein-platz-in-babelsberg-aussehen/25619 508.html (zuletzt aufgerufen am 2.3.2022).

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

Schritt machten allerdings Schüler:innen des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums in Babelsberg, das ganz in der Nähe des Platzes liegt. Von 2018 bis 2020 beschäftigte sich der Seminarkurs Kunst und Geschichte mit Recherchen über Willi Frohwein und erarbeite gemeinsam mit Gehrke und Ahner ein Konzept zur Gestaltung eines Gedenkortes. In einer Umfrage, die die Schüler:innen auf dem Platz durchführten, wurde deutlich, dass die wenigsten Babelsberger:innen mit dem Namen Willi Frohwein etwas anfangen konnten oder überhaupt wussten, dass der Platz nach ihm umbenannt wurde. Im Oktober 2018 veröffentlichte die zehnte Klasse daher eine einstündige Radiosendung31 im Freien Radio Potsdam, mit der sie nach eigener Aussage das Wissen über Frohweins Geschichte und sein Engagement in das Bewusstsein der Stadt tragen wollten. In der Umfrage zeigt sich die berühmte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Umbenennung sollte den Willi-Frohwein-Platz zu einem Erinnerungsort der Stadtgesellschaft machen, den Platz des AuschwitzÜberlebenden im »Alltag und im Gedächtnis der Potsdamer«32 erhalten. Allerdings kannte die Stadtgesellschaft, bis auf einige Geschichtsinteressierte und direkte Angehörige, weder Willi Frohwein noch sein Engagement und schon gar nicht die neue Bedeutung des unwirtlichen Platzes. Wie also sollte hier ein Erinnerungsort im Sinne Noras entstehen? Zunächst ging es darum, Sichtbarkeit und Bewusstsein zu schaffen, wie eine Schülerin des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums erklärte: »[A]lso wir sind da, wenn wir zum Sport gefahren sind, einfach nur rübergefahren [. D]er [Platz] wurde […] nicht wahrgenommen. Das war halt so ein […] Platz […] in Babelsberg […]. Deshalb wurde er umgestaltet, um die Bedeutung […] hervorzuheben.«33 Auf dem Platz musste der Stadtbevölkerung die Geschichte von Willi Frohwein zunächst einmal erzählt werden, damit er anschließend als Ort der Erinnerung und des Gedenkens an Willi Frohwein funktionieren würde. Dieser Anspruch

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Zu hören ist die Sendung unter diesem Link: https://youngsounds.medienwerkstat t-potsdam.de/sendungsarchiv/schul-projekt-willi-frohwein-platz (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022). Christoph Heubner, s.o. Interview der Autorin mit einer beteiligten Schülerin des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums, die an der der zweiten Projektphase mitwirkte, durchgeführt am 11. 06. 2021.

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schlägt sich in der Gestaltung nieder, die einen starken Fokus auf den Informationsgehalt des Gedenkortes legt. Er wurde im März 2021 für die Bevölkerung geöffnet und besteht aus zwei sogenannten Erinnerungsinseln. Die sie umgebenen Grünflächen sind mit Kanten aus Metall eingefasst, in die Zitate von Willi Frohwein eingelassen sind. Ein Rondell informiert über seinen Lebens- und Leidensweg. Im Zentrum steht eine Stuhlskulptur, die ebenfalls Zitate und Fotos von Willi Frohwein trägt und über QR-Codes auf die Website https://willi-frohwein-p latz.de/ verweist. Die Website wurde von einer weiteren zehnten Klasse des Jahrgangs 2020/2021 am Bertha-von-Suttner-Gymnasium im Schwerpunktfach Gesellschaftswissenschaften erstellt. Die Schüler:innen recherchierten biografische Details und Audioaufnahmen aus Interviews von Willi Frohwein und betteten diese in einen Zeitstrahl ein. Eine Ablagestelle für Kränze ist mit dem Zitat »…dass wir nicht vergessen: alle Menschen sind Menschen, egal wie sie aussehen, wie sie heißen, welche Gebrechen sie haben – dass wir Menschen behandeln wie Menschen (Willi Frohwein 1995)« überschrieben.

Der Gedenkort am Willi-Frohwein-Platz in Babelsberg.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Der Willi-Frohwein-Platz in Potsdam-Babelsberg

Willi Frohwein – ein Potsdamer Erinnerungsort? Während die Namensgebung 2012 noch auf Willi Frohweins Geburtstag fiel, wurden die Pläne für den Umbau des Platzes zu einer Gedenkstätte durch den Sanierungsträger der Stadt Potsdam 2020 am offiziellen Holocaustgedenktag anlässlich der Befreiung von Auschwitz veröffentlicht und die Fertigstellung wurde für 2021 ebenfalls zum Holocaustgedenktag angekündigt. Die Zeitung Potsdamer Neuste Nachrichten (PNN) berichtete denn auch folgerichtig: »Der Willi-Frohwein-Platz am Findling in Babelsberg soll zu einer Gedenkstätte für die Holocaustopfer umgestaltet werden.« [Hervorhebung J.E.]34 Über Willi Frohweins Biografie besteht ein starker Bezug zur Stadtgeschichte. Die Gedenkstätte ist darüber hinaus als zentraler NS-Gedenkort, als Mahnmal und als neue Bühne des städtischen Holocaustgedenkens angelegt. Dafür wurde besonders auf ihre Funktionalität geachtet: »Ziel war es, einen angemessenen Gedenkort zu schaffen, der die unterschiedlichen funktionellen Ansprüche (Wegeverbindungen, Veranstaltungen, Aufenthalt, Grünfläche) berücksichtigt«, so die Stadt Potsdam.35 Ob sich der Platz in das kollektive Gedächtnis der Stadt als Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus einschreiben wird, ist zum Zeitpunkt dieses Textes (Stand 2022) noch nicht abschließend zu bestimmen. Allerdings werden die Gedenkveranstaltungen, die nun regelmäßig dort stattfinden werden, ebenso wie Exkursionen von Schulklassen oder Studierenden, die mit dem Zeitzeugenmaterial von Willi Frohwein arbeiten, dazu beitragen, den Ort weiter in das Bewusstsein der Städter:innen zu rücken. Der Habitus gegenüber dem Platz als Gedenkort wird ihn auch zunehmend als Erinnerungsort im Gedächtnis der Stadtgesellschaft verankern. Auch die Einbindung von Anwohner:innen und Schüler:innen in den Entstehungsprozess wird dazu beitragen. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass zivilgesellschaftliche Akteure die Umbenennung anstießen, besitzt der Platz zwar nur eine geringe histori-

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Peer Straube: Willi-Frohwein-Platz wird zur Gedenkstätte, in: PNN, 30. 01. 2020, online abrufbar unter: https://www.pnn.de/potsdam/neugestaltung-willi-frohwein-platz-wi rd-zur-gedenkstaette/25492660.html (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022). Stadt Potsdam, Pressemitteilung Nr. 169, 22. 03. 2021: Willi-Frohwein-Platz nach Beteiligungsverfahren neugestaltet, online abrufbar unter: https://www.potsdam.de/169-w illi-frohwein-platz-nach-beteiligungsverfahren-neugestaltet (zuletzt aufgerufen am 11.3.2022).

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sche, dafür aber eine hohe urbane Bedeutung, die sich mit seiner möglichen Nutzung als Freizeitfläche und Aufenthaltsort weiter steigern kann. Es wird interessant sein zu beobachten, ob und inwiefern der neue Gedenkort die bestehenden Konflikte in der Erinnerungslandschaft Potsdam schlichten wird. Erst 2020 hatten Stadtabgeordnete der CDU erneut die Umwidmung des Mahnmals für die Opfer des Faschismus auf dem Platz der Einheit ins Gespräch gebracht.36 Der Vorstoß sah vor, das Mahnmal zu einem Mahnmal für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert umzuwidmen. Dies widersprach dem Gedenkkonzept der Stadt von 2014 und der Vorschlag wurde denn auch abgelehnt. Er zeigt aber exemplarisch, dass das Ringen um die kommunalpolitische Erinnerungskultur, ebenso wie die gegenläufigen Interessen von verschiedenen Opferverbänden noch nicht befriedet sind. Die Gedenkstätte am Willi-Frohwein-Platz wird es ermöglichen, dem Holocaustgedenken eine Verortung unabhängig von der ehemaligen, staatlich-antifaschistischen Gedenkkultur der DDR am Platz der Einheit zu geben. Gleichzeitig kann sie das Mahnmal im Hof der Lindenstraße ergänzen und als bisher zentralen kommunalen Gedenkort für politisch Verfolgte des 20. Jahrhunderts entlasten. Für die Geschichte anderer Verfolgtengruppen im Nationalsozialismus, so von als homosexuell oder als behindert Verfolgten oder den Verfolgten des Porajmos, fehlt eine städtische Verortung jedoch nach wie vor. Die Informationsstelen über Willi Frohweins Biografie werden darüber hinaus nicht nur mehr Sichtbarkeit für die rassische Verfolgung von Jüdinnen und Juden in der Shoah schaffen. Da Willi Frohwein sich nach dem Krieg primär als antifaschistischer Widerstandskämpfer organisierte und engagierte, wird an dem Gedenkort auch die Verbindung von jüdischen und widerständischen Verfolgtenbiografien betont, die in der deutschen Erinnerungskultur häufig vernachlässigt wird.37 Es lässt sich daher darauf hoffen, dass der WilliFrohwein-Platz zukünftig nicht lediglich als Bühne für kommunalpolitische Symbolpolitik genutzt wird, sondern dass die Persona Willi Frohwein selbst zu einem Potsdamer Erinnerungsort wird.

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Henri Kramer: CDU will Faschismusdenkmal umwidmen, in: PNN, 28. 10. 2020, online abrufbar unter: https://www.pnn.de/potsdam/neue-gedenkdebatte-in-potsd am-cdu-will-faschismusdenkmal-umwidmen/26310950.html (zuletzt aufgerufen am 12.3.2022). Zur einseitigen Darstellung der als jüdisch Verfolgten vgl. Max Czollek: Desintegriert Euch!, München 2018.

Parallelwelt des Gedenkens Das nachgebaute Potsdamer Glockenspiel im Widerstreit der Erinnerungen1 Dominik Juhnke

Vorspiel Die Geschichte des nachgebauten Potsdamer Glockenspiels beginnt im April 1984. Im Kino läuft »Die Unendliche Geschichte«, das Fantasy-Epos nach Michael Endes gleichnamigem Roman. Der Film handelt von Atréju und dem Drachen Fuchur, von der Kindlichen Kaiserin und der Wunschodyssee eines kleinen Jungen durch das grenzenlose Reich Phantasien. Im Radio läuft »Big in Japan«, die Hitsingle von Alphaville. Die drei jungen Männer stammen aus Ostwestfalen, gegründet hat sich die Band in Münster. Thema des Songs ist die Sehnsucht nach Ausbruch, der Traum vom Großrauskommen in einer anderen Welt. Und in Iserlohn, Südwestfalen, nur knapp 70 Kilometer entfernt von Münster, erträumt sich zur gleichen Zeit ein gewisser Max Klaar ebenfalls Großes und Fantastisches. Klaar fängt damit an, Briefe zu schreiben, in denen er um Geldspenden bittet. Er plant, ein Glockenspiel nachzubauen, finanziert durch Gleichgesinnte. Nicht irgendein Geläut soll es werden, sondern das einst weltberühmte Glockenspiel der mindestens ebenso berühmten Potsdamer Garnisonkirche soll auferstehen. Was 39 Jahre zuvor im alliierten Bombenangriff auf Potsdam zerstört wurde, will der Bundeswehroffizier 1

Dieser Essay basiert auf dem vom Autor im Auftrag der Landeshauptstadt Potsdam angefertigten Gutachten über den Glockenspielnachbau (Januar 2021). Zur Vertiefung siehe auch Dominik Juhnke: »Unser bestes Pferd im Stall«. Public Historians im Einsatz für ein Glockenspiel, in: Frank Bösch/Stefanie Eisenhuth/Hanno Hochmuth/Irmgard Zündorf (Hg.): Public Historians. Zeithistorische Interventionen nach 1945, Göttingen 2021, S. 413–428.

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in der Iserlohner Winkelmannkaserne neu erklingen lassen: Melodien, die Soldaten wie Bürger »zu Gehorsam gegen Gottes Gebote« mahnen, zu Treue und Redlichkeit auffordern. Mit 4.500 DM startet Klaar, bereits im Oktober ist das erste Finanzierungsziel von 25.000 DM erreicht. Beflügelt durch den Anfangserfolg wird mit der »Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel e.V.« (kurz: TPG) ein eigener Verein gegründet, der der Spendeninitiative einen organisatorischen Rahmen gibt. Vorsitzende sind ein 60-jähriger Iserlohner Dachdeckermeister, der in seiner Rentenzeit an der Dortmunder Universität zum Historiker promoviert, sowie ein 62-jähriger Iserlohner Sparkassenbeamter, gebürtiger Sachse, der für die CDU im Stadtrat sitzt. Klaar, ebenfalls CDU-Mitglied, wird Geschäftsführer des Vereins. Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und sozialen Ausgleich schreibt man sich in die Satzung. Und natürlich: die deutsche Wiedervereinigung, idealerweise in den Grenzen von 1937. Wenn das geschafft sei, wenn der Sozialismus besiegt und Deutschland von Pommern bis Baden, von Schlesien bis Friesland wieder geeint ist, dann wolle man das neu geschaffene Glockengeläut an die Stadt Potsdam schenken. Hoch droben im Turm der dann ebenfalls wiederaufgebauten Garnisonkirche sollen die Glocken schwingen, über der ehrwürdigen Barockstadt an der Havel ertönen und die gottergebenen deutschen Soldaten auf dem Weg zur Predigt begleiten. »Hallo Preußen« lautet der Richtspruch für die ersten neun Glocken; wohlwollend berichtet der Iserlohner Kreisanzeiger über die Einweihungszeremonie im November 1984. In den nächsten Wochen und Monaten weitet Klaar seine Werbeaktivitäten und das Spendennetzwerk aus. Er bemüht sich um finanzielle Unterstützung beim Bundeskanzleramt, Bundespräsidialamt und in den höchsten Bundeswehrkreisen. Der Bundesinnenminister, der Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen, zwei Ministerpräsidenten und Berlins Regierender Bürgermeister gehören laut Klaar zu den Geldgebern. Besonders die Spende Richard von Weizsäckers, der im Mai 1984 zum Bundespräsidenten gewählt wird, schlachtet die TPG werbewirksam aus. Kernzielgruppe der Bemühungen aber bleiben Wehrmachtsveteranen: Die TPG inseriert Anzeigen in Kameradschaftsblättern und Soldatenzeitungen, etwa in Soldat im Volk oder der Nationalzeitung. Klaar schreibt regelmäßig »Rundbriefe« an seine Spender, es entstehen Broschüren mit Informationsmaterial. Zudem werden Musikkassetten und CDs mit preußischen Marsch- und Kirchenliedern produziert, eingespielt vom Dortmunder Polizeimusikkorps. Die Gedenkvermarktung steht unter dem Label »Preussische Stunde«, jenes Motto, das man sich seit 1986 als Titel für die Veranstaltungen im Kasernenhof ausgedacht hat. Wenn

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man so will, liefert die TPG Mitte der 1980er Jahre das komplette Merchandise für den rechtskonservativen Glockenfreund mit Preußenaffinität. Und hat Erfolg damit: Mehr als 450.000 DM kommen bis 1987 zusammen, in drei Etappen werden insgesamt 40 Glocken nachgegossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Nach der Wiedervereinigung wird das Geläut satzungsgemäß von Iserlohn nach Potsdam überführt und am 14. April 1991 feierlich auf der dortigen Plantage, dem Platz an der Dortustraße, eingeweiht.

Schräge Töne Preußische Marschlieder, Werbekampagnen in Soldatenzeitungen und 40 Glocken als Geschenk für Potsdam? Das klingt merkwürdig, selbst für die 1980er Jahre. Was aus heutiger Sicht wie das Traditionsgeschwurbel Ewiggestriger anmutet, trägt für Befürworter und Unterstützer der Iserlohner Initiative das Signum der »Traditionspflege«. Traditionen zu pflegen, das meint für die Pflegenden sich um überkommene Werte und Vorstellungen zu kümmern; zu schützen und zu bewahren, was droht, vernachlässigt und vergessen zu werden. »Traditionspflege« ist das Amalgam aus Geschichts- und Identitätspolitik, »Traditionspflege« ist Sinnstiftung durch anekdotenhafte, romantisierte Geschichtstradierung: »Unser« Erinnern gegen deren Erinnern, »unsere« Vergangenheit, wie wir sie erlebt haben und wie wir sie interpretieren, gegen das offizielle Geschichtsbild einer Mehrheitsgesellschaft, das sich an das, was uns ausmacht, nicht mehr erinnern will. Die spezielle Traditionspflege der TPG ist fest im nationalkonservativen Milieu verankert: Heimat und Erbe, Kameradschaft und Ehre, Frömmigkeit und Pflichterfüllung sind positiv besetzte Wortfelder; das Gedenken an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und die Rückbesinnung auf ein als ruhmreich empfundenes Preußen gehören zu den Definitionsmerkmalen der Erinnerungskultur. Es mag als Gemeinplatz erscheinen, dass besonders im Milieu der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und Soldatenvereine, die ein Gros des Spendenpools bilden, ein derart eigensinniges Geschichtsbild gepflegt wird. Gleichzeitig wäre es aber historisch zu kurz gedacht, den Nachbau des Potsdamer Glockenspiels zum Nischenprojekt rechtsradikaler Militärfetischisten zu erklären, die Geld von Altnazis sammeln. Vielmehr wirkt das Erinnerungsangebot der Iserlohner TPG sehr anziehend auf heterogene Gesellschaftsgruppen, denen Spendenmotive ganz verschiedenartiger Graduierung zuzuschreiben sind. Das Projekt ist Sammelbecken: für Anrainer

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der Winkelmannkaserne, die sich am Klang der Musik erfreuen. Für Traditionalisten, Preußenapologeten und Barockconnaisseure. Für Wert-, Nationalund Rechtskonservative. Für Mitglieder wie Wähler:innen einer Prä-Merkel CDU. Für Heimatvertriebene und Ostpreußen-Nostalgische, organisiert in Landsmannschaften und Vertriebenenverbänden. Für Menschen, die noch Kindheits- oder Jugenderinnerungen an das alte Potsdam haben. Für Menschen, deren Väter oder Brüder als Soldaten gekämpft haben. Für Menschen, die in der Garnisonkirche getauft oder konfirmiert wurden. Für Bundeswehrsoldaten, die sich durch den Traditionserlass von 1982 zur Traditionsgründung ermuntert sehen. Für Schützen- und Militärmusikfreunde, wie etwa die Angehörigen des Iserlohner Bürger-Schützen-Vereins 1705, Schnittstelle der TPG in die Stadtgesellschaft. Für Vereinsmitglieder des semper talis Bund, des Preußeninstituts, der Evangelischen Notgemeinschaft, der Clausewitz-Gesellschaft oder des Kyffhäuserbundes. Für Revisionistinnen und Revisionisten, Revanchistinnen und Revanchisten. Für Alt-Rechte und Neu-Rechte. Für Kaiserenkel Louis Ferdinand, der eine Glocke unter seinem Namen stiftet. Für Monarchisten und Royalisten, für Hohenzollernfans und Fans der Preußenrenaissance. All diese Menschen eint ein Geschichtsbewusstsein, dem Klaars TPG mit dem Glockenspielnachbau eine prominente Bühne verschafft: Man wird ja wohl noch erinnern dürfen. Machen wir dieses Sammelbecken konkreter: »257. ID – Berliner Bären« steht als Inschrift auf einer der Glocken, die von Beginn an im Geläut hängt. Ihr Schriftzug ehrt die 257. Infanteriedivision der Wehrmacht, 1939 in Berlin-Karlshorst aufgestellt, 1941 beim Überfall auf die Sowjetunion beteiligt, 1944 vernichtend geschlagen. Spitzname: »Berliner Bären«. Glockenspender sind die Angehörigen der »Kameradschaft 257. Infanterie-Division«, die zwischen 1978 und 1991 einen eigenen »Rundbrief« herausgeben. Ähnliches gilt für die »Traditionsgemeinschaft Fallschirm-Panzer-Jäger-Abteilung 1«, die ebenfalls 1984 eine Glocke mit dem Schriftzug »Fsch PZ JG Abtlg 1« stiftet. Bei dieser Wehrmachtsveteranenvereinigung sind es »Jahresbriefe«, die für das Iserlohner Projekt werben. Der »Traditionsverband der Ostpreussischen Infanteriedivision Nr. 121« wiederum ruft in seinem »Mitteilungsblatt« zu Spenden auf und bringt 1987 das Geld für eine Glocke mit der (falsch geschriebenen) Inschrift »Suum Quique/121. Inf-Div« zusammen. Das Blatt vermeldet im Dezember 1987, die Angehörigen »unserer stolzen Adlerschilddivision« hätten dazu beigetragen, dass die »Erinnerung an den Einsatz einer ruhmreichen Truppe im Zweiten Weltkrieg wachgehalten wird!« Das

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sind sie also, die Netzwerke von Wehrmachtsveteranen, die zu Ehren ihrer Kampftruppen Glocken gießen lassen. Kein Soldatenverband, sondern der Name eines Inseratenblatts steht seit 1987 als Inschrift auf einer 300kg schweren Glocke des Geläuts: »Celler Sonntagskurier«. Verbindungsmann zwischen niedersächsischer und westfälischer Provinz ist der stellvertretende Landrat des Hochsauerlandkreises, Rudolf Kraft von der CDU. Kraft, so weiß die Westfälische Rundschau zu berichten, habe Klaus Tänzer, den Chefredakteur des Celler Sonntagskurier, auf die Iserlohner Spendenaktion aufmerksam gemacht. Und Tänzer, zugleich Celler Ratsherr und Kreistagsabgeordneter, weiß seine Leserschaft für das Glockenspielprojekt zu begeistern: 8.155 DM kommen für die Celler Glocke zusammen; den Scheck überreicht der Chefredakteur persönlich an Max Klaar, wie ein Foto vom 8. April 1986 im Iserlohner Kreisanzeiger beweist. So weit, so harmlos? Im November des gleichen Jahres beschäftigt sich auch der niedersächsische Landtag mit dem Celler Sonntagskurier und seinem Chefredakteur. Unter Drucksache 11/703 geht es um gefälschte Leserbriefe, die Tänzer veröffentlicht hatte, in denen gegen Flüchtlinge gehetzt und Politiker beleidigt wurden. In seinen Leitartikeln hatte Tänzer zudem Wohnheime von Asylbewerbern als »Orientbasar« und »Terror-Getto« bezeichnet. Sein Fremdenhass brachte dem Lokaljournalist Gegendarstellungen und Geldstrafen ein; die Staatsanwaltschaft Lüneburg strengte schließlich sogar ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung an. So klingen sie also, die Heimatschützer mit fremdenfeindlicher Gesinnung, die Geld für ein Glockenspiel zusammenlegen. Teil der zweiten Ausbaustufe von 1986 ist auch eine Glocke mit der Aufschrift »Kein Unglück Ewigk – Schlesische Truppen«. Urheber ist die 1982 gegründete »Arbeitsgemeinschaft Traditionsverbände Schlesischer Truppen« unter Vorsitz von zwei Ex-Wehrmachtsoffizieren. Die Schlesier-AG stiftet unter obigem Glockenmotto und verteilt über das gesamte Bundesgebiet Gedenksteine, Ehrenmale und Bronzetafeln sowie ebenjene 112kg schwere Glocke für die Iserlohner Kaserne. Eine Publikation von 1997 bilanziert den Erinnerungserfolg: Man sei »einer der ersten soldatischen Verbände« gewesen, der an dem Glockenspiel mitgewirkt habe; die Glocke ertöne mittlerweile in Potsdam und solle helfen, »die ethnische (sic!) Orientierungslosigkeit zu verringern«. Das ist, kaum verschleiert, die Botschaft der Schlesier-Glocke, die verrät, welches Weltbild eigentlich gepflegt wird. Einer der Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft taucht auch auf den Einweihungsfotos vom April 1991 im Publikum auf, ein hagerer älterer Mann mit schmalem Oberlippenbart

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im Clark-Gable-Stil der 1930er Jahre. Da sitzen sie also in der ersten Reihe, die traditionsaktiven Rentnerinnen und Rentner und lauschen den Klängen der Glocken – mit Gehstock am Arm, Querbinder am Kragen und Angst vor Überfremdung im Herzen.

Stimmungsbild Im heraufziehenden Memory-Boom der 1980er Jahre ist die Geschichte des nachgebauten Glockenspiels nicht erzählbar, ohne auf den Mangel historischer Sensibilität jener Zeit zu verweisen. Oder anders gesagt: Um zu verstehen, welche geschichtspolitische Dimension dem Projekt zu attestieren ist, müssen wir uns den erinnerungskulturellen Hintergrund der Spendeninitiative von 1984ff. vergegenwärtigen. Wir reden schließlich von einer Zeit vor der ersten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Institut für Sozialforschung von 1995, die mit dem öffentlich gepflegten Mythos einer sauberen Wehrmacht aufräumte. Wir reden von einer Zeit vor der Goldhagen-Kontroverse von 1996, die die Kollektivschuld der »ganz gewöhnlichen Deutschen« in den Fokus der Aufmerksamkeit stellte. Und wir reden, 20 Jahre nachdem Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht worden war, von einer Zeit, in der Eichmanns Arbeitsplatz, jene Schaltzentrale des Holocaust und heutige »Topographie des Terrors«, noch als Schutthalde unter dem Namen Prinz-Albrecht-Gelände firmierte. Was heute Konsens ist – Mitte der 1980er Jahre war es das nicht. Selbst der Streit der Gelehrten, ob es diesen Konsens überhaupt geben könne, also jener Historikerstreit von 1986 darüber, ob deutsche Historiker den Nationalsozialismus relativierten, wenn sie dem von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen mit wissenschaftlicher Analyse seine Einzigartigkeit absprächen, zeichnete sich erst am Horizont ab, als in Iserlohn bereits die Glocken läuteten. Währenddessen hatte Bundeskanzler Kohl auf seiner Israelreise 1984 die Gnade der späten Geburt für sich und seine Generation beansprucht und 1985 mit US-Präsident Reagan auf dem Bitburger Soldatenfriedhof an Kriegsgräbern der Waffen-SS gestanden. Es sind jene Jahre, in denen versucht wurde, das Verhältnis Deutschlands zu seiner Geschichte zu normalisieren; jene Jahre, in denen durch Versöhnen und Vereinnahmen bewältigt werden sollte, was nicht zu bewältigen ist; jene Jahre, in denen die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen zwar größtenteils vollzogen war, in denen von einer ebenso umfassenden wie sensiblen historischen Aufarbeitung der NS-Zeit aber noch keine Rede sein konnte.

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In diese Jahre fällt der Höhepunkt der Iserlohner Spendeninitiative. Ihren Nährboden bilden »Denkfiguren rechten Spießertums, Weltbilder einer im Kern kaum belehrbaren Stammtischbrüderschaft«, wie sie Der Spiegel in der Rede des Bundestagspräsidenten Jenninger vom November 1988 identifizierte (Ausgabe 46/1988). Jenninger hatte anlässlich des 40. Jahrestags der Novemberpogrome vermeintliche Wahrheiten über die Täter aussprechen wollen. Durch seine Schilderungen in erlebter Rede, mit zahlreichen Nazi-Zitaten und ohne historische Distanz klang das zum Missfallen des Bundestagsplenums aber so, als buhle er um Verständnis dafür, dass man auf Hitler hereingefallen sei. Verführt zum Genozid? Das Bild von Hitler als Verführer zu zeichnen, ruft die gleichen Assoziationen hervor, wie der Topos von Hitler als »Lump« und Missbraucher – wir kommen später dazu. Es geht darum zu rechtfertigen, warum man sich zum Mitmarschieren und Mitschießen, zum Wegschauen und Wegducken anstiften ließ; warum man sich einer nationalsozialistischen Mordelite unterworfen habe und zwölf Jahre später wie aus einem Alptraum erwacht sei. Im Grunde laufen die versuchte Normalisierung des Gedenkens zwischen Iserlohn und Bonn parallel: Wo der Nationalsozialismus als Ausnahmefall infolge einer gescheiterten Republik verstanden wird, können Preußens Glanz und des Kaiserreichs Gloria wieder umso sinnstiftender hervortreten. Wunderbar einordnen lässt sich in diesen erinnerungskulturellen Brückenschlag auch Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung« (1985). Man kann nämlich geflissentlich überhören, dass Weizsäcker die Lebenslüge vom verführten Deutschen schonungslos abstraft und mahnt, Versöhnung könne es nur durch Erinnern geben. Und sich nur den Teil der Rede zu eigen machen, in dem es heißt, dass es keine Kollektivschuld gäbe und Deutschland am 8. Mai befreit worden sei – was man dann wiederum darauf beziehen kann, dass ein unschuldig gebliebenes Preußendeutschland die Last der Hitler-Diktatur losgeworden sei. Das ist das Spannende an solchen Momenten, in denen die Erinnerungskultur einem fundamentalen Wandel unterworfen ist, dass dieser Wandel eben nicht gesamtgesellschaftlich einvernehmlich aufgegriffen wird, sondern von verschiedenen Empfängern verschiedentlich interpretiert wird. Woran man nämlich geschichtskulturell anknüpfen sollte, welche Vergangenheit man nach der Befreiung erinnern wollte, darüber waren Bundeswehroffizier Klaar und Bundespräsident Weizsäcker gar nicht so unterschiedlicher Ansicht. Zumindest zu Beginn empfand Weizsäcker Sympathien für die Iserlohner Spendensammlung, gehörte zu den frühesten Geldgebern und verfasste eine Grußbotschaft zur Einweihung. Weizsäcker, im Zweiten Weltkrieg als Soldat

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im Potsdamer Infanterieregiment Nr. 9 am Überfall auf Polen beteiligt, wurde quasi zum Testimonial der Glockenkampagne: Zeitungsartikel und Spendenwerbung kamen nicht ohne den Hinweis aus, dass sich der Bundespräsident am Vorhaben beteiligt habe. Von seinem Engagement grenzte sich Weizsäcker erst in späteren Jahren ab und erklärte es mit persönlicher Nostalgie. Und was ist mit der Wiedervereinigung, die das Jahrzehnt beschließt und als deren Symbol der Glockenspielnachbau bis heute gilt? Die Anerkennung der DDR sowie der de facto-Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete im Warschauer Vertrag von 1970 wurde zu Beginn der 1980er Jahre politischer Konsens der Bundesrepublik. Die Hoffnung der Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimat, die sie seit Jahrzehnten in die Hände der Unionsparteien gelegt hatte, fand im Korridor der realpolitischen Möglichkeiten, in dem sich die Regierung Kohl bewegte, keinen Widerhall mehr. Dass Klaar die Vertriebenenverbände und Landsmannschaften leichterhand als Spender gewinnen konnte und den Glocken die ehemaligen Ostprovinzen als Inschriften eingraviert wurden, ist daher als klingender Erinnerungsaufruf zu interpretieren. Die Glocken sind Zeichen des Widerspruchs gegen die Fortführung der Neuen Ostpolitik und gegen die Bestätigung des Status Quo, sie sind Protestdemonstration gegen das Verblassen der Wiedervereinigungsziele und gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Nicht zufällig lautet der Vereinszweck der TPG, die »ungelöste Deutsche Frage […] im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu halten«; nicht zufällig ist einer der Vereinsvorsitzenden Mitglied im Bundesvorstand der Exil-CDU; nicht zufällig soll Franz Josef Strauß, Gegner des Warschauer Vertrags, zu den Spendern gehört haben; und nicht zufällig bezeichnet Max Klaar den entschiedenen Kritiker der Ostpolitik, Axel Springer, als seinen Mentor in Fragen der Wiedervereinigung. Dass die größte und teuerste Glocke, finanziert durch über 50.000 DM an Privatspenden, bis 1991 auf ihrer Flanke eine Umrissskizze von Deutschland in den Grenzen von 1937 trug, fügt sich ins Bild: Das nachgebaute Glockenspiel ist Denkmal für die deutsche Wiedervereinigung – aber eben nicht für jene Wiedervereinigung, wie sie am 3. Oktober 1990 Realität wurde.

Missklänge Die Grenzen dessen, wie in Deutschland an den Nationalsozialismus, die Weimarer Republik oder das Kaiserreich erinnert wird, haben sich in den letzten Dekaden stetig verschoben. In öffentlichen Debatten wurde ausgelotet,

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was noch tolerierte Erinnerungsform ist und was nicht mehr geht, was »Traditionspflege« sein darf und was nicht. Um das nachgebaute Glockenspiel gab es diese Debatten ebenfalls, mit einem vorläufigen Höhepunkt im September 2019, als der Potsdamer Oberbürgermeister die Abschaltung des Geläuts veranlasste. Das löste Widerstand aus, eine Bürgerinitiative traf sich zum Protestsingen unter dem Musikinstrument und pries die Glocken als harmloses Zeitzeugnis der Wiedervereinigung. Mit Nachdruck wies dagegen der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt auf die rechtslastigen Initiatoren und Spender des Projekts hin. Ein offener Brief sowie eine von Oswalt initiierte Petition, zudem seine auf umfangreichen Archivrecherchen fußenden Veröffentlichungen machten allen Beteiligten deutlich, dass das einstige Wahrzeichen der Stadt nicht länger satisfaktionsfähig sei und nur sein Abriss oder allenfalls ein rudimentärer Verbleib als Klettergerüst noch als Optionen taugen. Solch scharfer Angriff gegen den Erinnerungssound der Glocken war nicht neu. Seit seiner Ankunft in Potsdam war das Instrument wiederholt Ziel von Protestaktionen, an ihm wurde Flatterband mit Hakenkreuzmotiv angebracht (1996), es war Opfer eines Bauschaumanschlags (2003) und wurde zum Thema diverser Anfragen und Beschwerden in der Stadtpolitik. Besonders interessant ist: Welche Inschriften jeweils im Fokus der Kritik standen, spiegelte die jeweils aktuellen Gesellschaftsdebatten wider. So wurden bereits 1991 Glockenschriftzüge ausgemacht, die den Verantwortlichen in Potsdam problematisch erschienen. Im Brennpunkt standen jene sieben Inschriften, die 1986 von den Heimatvertriebenen gespendet worden waren und an die ehemaligen deutschen Ostgebiete erinnerten, »Schlesien«, »Ostpreussen«, »Pommern« etc. Warum diese Inschriften heute fehlen, erfahren wir durch eine Episode, die sich im Rheinland abgespielt hat: Im November 1990, fünf Monate vor der feierlichen Einweihung des Musikinstruments, kam es zu einem Treffen, das die beiden Beteiligten unabhängig voneinander als Schlüsselmoment für die Geschenkübergabe erinnern. Das Treffen fand am Kölner Hauptbahnhof statt. Aus Potsdam reiste der Vorsitzende des Kulturausschusses an, unterwegs im inoffiziellen Auftrag des SPD-Oberbürgermeisters. Die Mission des CDU-Politikers war durchaus delikat: Das Geschenk aus Iserlohn, das wollte man in Potsdam schon gerne annehmen, vor allem das Geld, dass die Traditionsgemeinschaft zum Wiederaufbau der barocken Stadtmitte beizusteuern versprach, war gern gesehen. Was nur eben in einem frisch wiedervereinigten Deutschland nicht mehr akzeptabel war, das waren jene revanchistischen Haltungen, die den Glocken für die ehemaligen deutschen Ostgebiete eingeschrieben waren. So handelte der ostdeutsche Lokalpolitiker

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mit Max Klaar, seinem Parteifreund aus dem Westen, einen Kompromiss aus: Die in Potsdam unerwünschten Inschriften wurden vor der Überführung abgeschliffen, Schenkung und Einweihung konnten daraufhin wie geplant ablaufen. Diese Übereinkunft ist übrigens kein Geheimnis: Es ist der Potsdamer Politiker selbst, der bereits 2006 in einem Gedenkband über die Garnisonkirche das konspirative Treffen am Kölner Hauptbahnhof öffentlich gemacht hatte. Indes, auch die Abschleifung von 1991 war nicht der früheste Vorbehalt gegen den Gedenkcharakter des Glockenspielnachbaus. Bereits 1984 kommt es mit Aufstellung der ersten neun Glocken auf dem Iserlohner Kasernendach zu einer öffentlichen Auseinandersetzung, bei der ebenso wie in allen folgenden Aushandlungsmomenten die Buchstaben auf den Glocken im Mittelpunkt standen. Genauer gesagt: Im Dezember 1984 war es eine einzelne Inschrift, um die sich die Diskussion drehte. Die Widmung der Basisglocke »Gott schütze unser Bataillon« nahmen sieben evangelische Geistliche aus Iserlohn und Umgebung zum Anlass, ihrer Sorge vor einer Vereinnahmung der Kirche durch Politik und Militär Ausdruck zu verleihen. Es »wäre der verhängnisvolle Geist von gestern«, schrieben die Geistlichen am 13. Dezember 1984 im Iserlohner Kreisanzeiger, wenn der Schriftzug nicht für alle Bataillone und Länder gelte, der Schutz Gottes nicht universal für alle Menschen erbeten werde. »Verhängnisvoller Geist von gestern« – das meint die ungute Verknüpfung nationalistischen Strebens mit protestantischem Glauben; das meint die seit dem »Tag von Potsdam« 1933 verlorene Unschuld der Garnisonkirche. Der Leserbrief ist vor allem ein Aufruf, sich dem Wettrüsten der Supermächte und der atomaren Gefahr entgegenzustellen, »sich einem politischen Handeln zu verweigern, das zu einem Anstieg der Bedrohung führt.« Bis Februar 1985 entwickelte sich aus dem Einspruch der Sieben eine in Leserbriefen und Kommentaren zunehmend erbittert geführte Debatte. Unterstützer des Glockenspiels, Nachbarn und Anwohner beschrieben, wie sie sich am Melodienklang erfreuen und drückten ihre Sympathie für Bundeswehr und Glockeninstrumente aus; sehr wohl könnten »unsere Staatsbürger in Uniform« Traditionen pflegen, schließlich habe »unsere Geschichte« nicht erst 1933 begonnen oder 1945 geendet. Kritiker wiederum fühlten sich an die »Gott mit uns«-Losungen auf den Koppelschlössern der Wehrmacht erinnert; es geht um blasphemische Redeweisen, abstoßend wirkende »PreußentumSchwärmerei«, aufbrechende Narben, kompromittierte Erinnerungen und die Frage, an welche Tradition man anknüpfen wolle. Schließlich meldete sich Anfang Januar 1985 Max Klaar selbst im Iserlohner Kreisanzeiger zu Wort. Er

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bittet herzlich, dass man »an den Rand der Verleumdung gehende Vermutungen über unser Traditionsverständnis« unterlasse; er habe »ein preußisches Sendungsbewusstsein bei meinen Geschichtsstudien nie finden können« und Hitler sei »in nichts ein Preuße, in vielem aber ein Lump« gewesen, der »preußisches Gedankengut zu mißbrauchen suchte«. Hitlers Anhänger seien nicht »Menschen preußischen Geistes« gewesen, das hätten »die Männer des 20. Juli 1944 zu unserer Ehrenrettung bewiesen«. Hier taucht er auf, der Topos von Hitler als Lump, eingebettet in Klaars Auffassung, dass »meine Geschichtsstudien« und »unser Traditionsverständnis« einem allgemeinen Geschichtskonsens entgegenstünden. Die wenigen Zeilen lesen sich wie der Nukleus eines Gedenkkampfes, der den Glockenspielnachbau ebenso wie den Wiederaufbau der Garnisonkirche in den nächsten mehr als dreißig Jahren begleiten wird. Die Grundfrage lautet, damals wie heute: Was darf wie erinnert werden? Für die einen, Klaar und die Glockenspielbefürworter, steht Preußen in keiner Verbindung mit dem Nationalsozialismus und sei daher vom Makel Hitler reingewaschen; für die anderen, angeführt von den evangelischen Pfarrern der Friedensbewegung, ist Preußen Brutstätte jener unheiligen Allianz zwischen Glaube und Militär, die der Welt Kriege und millionenfaches Leid bescherte. Es geht bei den Debatten nie wirklich um das Musikinstrument: Immer ist das Glockenspiel nur Aufhänger, um das eigene Geschichtsbild zu propagieren; immer ist das Geläut nur Vehikel für den Versuch, im Widerstreit der Vergangenheitsdeutungen den öffentlichen Raum mit Botschaften zu besetzen.

Schlussakkord 35 Jahre lang spielte das nachgebaute Glockenspiel zwei Lieder, »Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit« sowie »Lobe den Herren«. Abwechselnd alle dreißig Minuten erklangen die Hymnen von Preußentum und Protestantismus, erst im Westen, dann im Osten. Zumindest was das Melodienspiel angeht, endet die Geschichte des nachgebauten Potsdamer Glockenspiels mit seiner Stilllegung 2019. Seitdem steht das Geläut verstummt auf der Wiese, verdreckt vom Wetter, gezeichnet von Graffiti. In der Stille der Glocken hallen die offenen Fragen am Lautesten: Wer wird hier eigentlich unkommentiert im öffentlichen Raum geehrt? Wofür stehen die Namen und Abkürzungen auf der Stiftertafel am Fuß des Stahlgerüstes? Wie will die Stadt Potsdam zukünftig mit einem ihrer umstrittensten Denkmäler umgehen? Und wo ist bloß die Stifterurkunde

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abgeblieben, die angeblich bei Schenkung übergeben worden ist, sich aber im städtischen Besitz nicht mehr auffinden lässt? Man kann mit guten Argumenten den Daumen über das Geläut senken: Rechtsgerichtete Initiatoren mit neurechten Gesinnungen begeisterten rechtslastige Spendenwillige. Die Konsequenz wäre, das unliebsam gewordene Geschenk abzusägen und einzuschmelzen. Oder aber, so lautet die Alternative zum Abriss, man setzt sich mit den Glockenschriftzügen auseinander, klärt über die historischen Zusammenhänge und gesellschaftlichen Hintergründe auf, die zur Entstehung des Nachbaus geführt haben. Schließlich gibt das verstummte Instrument seltene Einblicke in eine Parallelwelt des Gedenkens: Rund um das Objekt könnte man eine Geschichte über das Wirken der Veteranen- und Vertriebenenverbände in der alten Bundesrepublik aufbereiten; man könnte ihre Netzwerke und Strukturen analysieren, über ihre Schuldrelativierung, ihre Erinnerungspflege und ihre Funktion als Auffangbecken für Kriegsversehrte, Geflüchtete und ehemalige Wehrmachtsangehörige diskutieren. Man könnte das geschichtspolitische Agieren der Hohenzollern vor und nach 1990 dokumentieren. Man könnte die irrlichternde Traditionssuche der Bundeswehr darstellen. Man könnte eine Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik an einem Objekt in den neuen Bundesländern anschaulich machen, eine dann wahrhaft verflochtene Ost-West-Geschichte. Ja, eigentlich könnte man direkt am Geläut anfangen, die Potsdamer Stadtgeschichte der letzten 30 Jahre zu schreiben, so viele Biografien, so viele Erzählungen, so viele Mythen ranken sich um das verstummte Geläut. All die Kontroversen um seinen geschichtskulturellen Wert verdichten sich letztlich auf zwei Möglichkeiten mit dem verstummten Geläut umzugehen: Entweder arbeitet eine ihrer Historie so bewusste Stadtgesellschaft wie diejenige Potsdams am historischen Schauplatz auf, warum ein rekonstruiertes Glockenspiel seit 1991 und davor breit akzeptierte Form des Gedenkens war – und macht dabei auch die eigene Verantwortung, Wohlwollen und Versäumnisse transparent. Oder die Potsdamer Stadtgesellschaft erklärt im Bewusstsein ihrer historischen Bedeutung, keine um geschichtliche Deutungshoheit konkurrierende Parallelerinnerung im öffentlichen Raum mehr zu tolerieren – und löscht gemeinsam mit den Glocken jenes Stück bundesrepublikanischer Vergangenheit aus, das heute nur mehr Unbehagen verursacht. Zumindest solange es steht, bleibt das schweigende Carillon ein unkonventionelles Denkmal – und jede der 40 Glocken Teil einer unendlich verschlungenen Geschichte.

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Das nachgebaute Potsdamer Glockenspiel, Gesamtansicht

Quelle: Dominik Juhnke, 2020

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Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in PotsdamBabelsberg Ein Interview mit einem Mitglied der Bürgerinitiative Hiroshima-Platz e.V. Miki Takimoto (Interview und Transkript)

Zwei Stationen vom Potsdamer Hauptbahnhof entfernt Richtung Berlin erreicht man den S-Bahnhof Griebnitzsee. Weitere fünf Minuten Fußweg entfernt durch eine ruhige Villengegend liegt ein kleiner, dreieckiger Platz, der den Namen Hiroshima-Nagasaki-Platz trägt. Dort befindet sich heute ein Denkmal, das an die Geschichte der Atombombenabwürfe und deren Opfer erinnern soll. Straßen und Plätze mit Hiroshima im Namen sind über ganz Deutschland verteilt, viele haben dabei allerdings keinen Bezug zur Geschichte. Nicht so der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg, der wegen dem nebenstehenden »Trumanhaus«, benannt nach dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman, der 1945 während der Potsdamer Konferenz hier wohnte, gezielt als Ort des Denkmals ausgewählt wurde. Denn während der Konferenz wurde der Abwurf der Atombombe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki mit Zustimmung des amerikanischen Präsidenten befohlen. Das Denkmal besteht aus einem großen Felsbrocken und einer Steinplatte mit zwei Steinen und Inschriften auf Deutsch, Englisch und Japanisch. Diese zwei Steine sind verstrahlte Steine, die aus Hiroshima und Nagasaki nach Potsdam transportiert wurden. Der rechte, viereckige Stein ist aus Hiroshima und war damals im Straßenbahngleis verlegt. Der linke, runde Stein ist aus Nagasaki. Er lag in einem Shinto-Schrein, als die Bombe fiel und nur circa 800 Meter entfernt von dem Schrein explodierte. Aufgestellt wurde das von dem japanischen Bildhauer Makoto Fujiwara auf Anregung der Bürgerinitia-

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Miki Takimoto (Interview und Transkript)

tive »Hiroshima-Platz e.V.« angefertigte Denkmal am 25. Juli 2010.1 Das Denkmal wurde vollständig durch private Spenden aus ganz Deutschland und auch aus Japan finanziert. Masao Fukumoto, mein Interview-Partner, ist eines der Mitglieder der Bürgerinitiative Hiroshima-Platz e.V. und kümmert sich noch heute regelmäßig um das Denkmal. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Initiative sammelte er Spenden und verhandelte mit der Stadt Potsdam, um die Errichtung des Denkmals zu realisieren. Ich interviewte ihn am 30. Mai 2021 in Potsdam. Im Folgenden ist eine zusammengefasste Version des Interviews zu lesen.

Der Hiroshima-Nagasaki-Gedenkort in Potsdam-Babelsberg.

Quelle: Miki Takimoto, 2021

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Die Webseite zur Initiative ist unter diesem Link abrufbar: www.hiroshima-platz-pots dam.de/de/ueberuns.htm (zuletzt aufgerufen am 06.06.2022).

Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg

Miki Takimoto (MT): Warum ist das Denkmal an diesem Ort in Potsdam notwendig? Einerseits ist hier in Deutschland nur wenig bekannt, dass Potsdam etwas mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki zu tun hatte. Andererseits glauben viele Menschen in Japan, dass die Potsdamer Erklärung vom 26. Juli 1945, die von Japan eine bedingungslose Kapitulation verlangt hat, als Teil der Konferenz der drei alliierten Großmächte in Potsdam beschlossen wurde. Das stimmt jedoch nur bedingt, denn in der Konferenz wurde nicht über die japanische Kapitulation, sondern über die deutsche Nachkriegszeit verhandelt. Die Potsdamer Erklärung wurde nur am Rande der Konferenz zwischen den amerikanischen und britischen Vertretern festgelegt. Der damalige US-Präsident Harry S. Truman hatte während der Konferenz vom 15. Juli bis zum 2. August 1945 in der dem heutigen Hiroshima-Nagasaki-Platz gegenüberstehenden Villa gewohnt. Das Haus nannte man damals »a little white house«, um zu verdeutlichen, dass das US-Machtzentrum in dieser Zeit in Potsdam lag. Nicht nur US-Präsident Truman, sondern auch weitere Politiker wie der Außenminister James F. Byrnes, der Kriegsminister Henry L. Stimson und der General George C. Marshall waren in Potsdam. Die Vereinigten Staaten haben wahrscheinlich nach der Kapitulation Deutschlands im Laufe des Monats Mai 1945 beschlossen, Atombomben auf japanische Städte abzuwerfen. Dann folgte der erste Atombombentest am 16. Juli 1945 mit einer Plutoniumbombe, als Präsident Truman bereits in Potsdam war. Es war nur offen, wann und gegen welche Städte in Japan Atombomben eingesetzt werden sollten. Auf die Bitte des für die Atombombenoperationen verantwortlichen Generals Carl A. Spaatz hat der Generalleutnant und der militärische Leiter im sogenannten Manhattan-Projekt Leslie Groves einen militärischen Befehl entworfen und ihn per Telegramm an Marshall in Potsdam geschickt. Stimson und Marshall haben von Potsdam aus den Entwurf genehmigt. Der militärische Befehl zum Abwurf von Atombomben wurde dann am 25. Juli 1945 in Washington von General Thomas T. Handy unterschrieben und dem für die Operationen zuständigen General Spaatz erteilt. Danach wurden am 6. und 9. August 1945 Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Viele behaupten, dass der US-Präsident Truman für die Atombombenabwürfe den Befehl von Potsdam aus erteilt hat. Hat er das wirklich getan? Dafür gibt es keine Beweise. Tatsächlich brauchte man weder einen Befehl noch die Genehmigung des Präsidenten. Er hatte alles dem Militär für die ersten Ope-

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Miki Takimoto (Interview und Transkript)

rationen mit Atombomben überlassen und dabei in Potsdam nur beobachtet, wie es damit läuft. Das könnte man als eine stille oder schweigende Genehmigung des Präsidenten betrachten. Aus diesen historischen Hintergründen ist die Inschrift des Denkmals entstanden, die wie folgt lautet: »Am 25. Juli 1945 wurde mit Zustimmung des amerikamischen Präsidenten aus Washington D.C. der militärische Befehl zum Abwurf der Atombomben erteilt.« Das Wort »Zustimmung« soll als stille Zustimmung interpretiert werden. In den USA wird immer noch behauptet, dass man mit dem Abwurf der Atombomben viele (amerikanische) Menschen gerettet habe. War es wirklich so? Diese Begründung des Abwurfs besagt, dass die USA entschieden haben, wer getötet und wer gerettet werden darf. Dann muss ich mich fragen, wer dann das entscheiden darf? Meiner Meinung nach darf das niemand entscheiden. Aber die USA haben es getan und viele unschuldige Zivilisten getötet. Sie haben damit das Recht zum Leben von vielen Menschen ignoriert. Dazu muss ich noch sagen, dass es damals in den USA vielfach rassistische Vorurteile gegenüber asiatischen Menschen gab. Hier in Deutschland ist auch wenig bekannt, dass während des Zweiten Weltkriegs Immigrant:innen mit japanischer Abstammung in den USA in Lagern eingesperrt worden sind. Im Krieg wird immer das Menschenrecht ignoriert und durch Angriffe auf Bürger:innen verletzt, wie etwa durch die damaligen Atombombenabwürfe. Dadurch starben viele Menschen und die Überlebenden litten unter schweren Spätfolgen. So etwas darf nie wieder wiederholt werden. Dafür sind wir und weitere Generationen verantwortlich. Um uns daran zu erinnern, ist der Platz und das Denkmal als Gedenkort da. Deshalb ist er hier vor dem Trumanhaus genau an der richtigen Stelle. Mit den damals in Hiroshima und Nagasaki verstrahlten Steinen wird die Verbindung zwischen dem Ort der Entscheidung und deren Auswirkung gezogen.

MT: Gab es Kritiken und Widerstände? Einige Potsdamer Bürger:innen haben das Vorhaben kritisiert, da sie mit der japanischen Geschichte wenig anfangen konnten. Sie haben argumentiert, dass es besser gewesen wäre, wenn sich Potsdam nicht international, sondern eher lokal mehr mit den Verbrechen während der sowjetischen Besatzung nach dem Krieg beschäftigen würde. Ein CDU-Bundestagsabgeordneter soll dem Oberbürgermeister von Potsdam einen Beschwerdebrief geschickt haben mit der Begründung, dass das

Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg

Vorhaben bilaterale Beziehungen zwischen den USA und Deutschland störe. Ich glaube, wir haben Glück gehabt, dass die Konferenz der drei Großmächte nicht in Berlin, sondern in Potsdam stattfand. Stünde das Trumanhaus in Berlin, dann hätten wir das Vorhaben sicher nicht vor dem Haus umsetzen können. In Berlin wäre der politische Druck sehr viel größer gewesen. Im Trumanhaus in Potsdam-Babelsberg residiert jetzt die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. Sie schließt sich der amerikanischen Begründung an, weshalb die Atombomben abgeworfen werden mussten, und hat sich geweigert, mit uns für das Vorhaben zusammenzuarbeiten. Das Haus liegt an der Karl-Marx-Straße. Der Stiftung gefällt der Straßenname nicht. Sie will sie lieber in Truman-Straße umbenennen lassen. Sie wollte uns nur unterstützen, falls die Straße gemäß ihrem Wunsch umbenannt werden könnte. Auch der ehemalige Geschäftsführer der amerikanischen Industrie- und Handelskammer zu Berlin hat unser Projekt scharf kritisiert und versuchte vergeblich, vor Ort die Einweihungsfeier zu stören. Er hat vor der Einweihung des Denkmals in einer Potsdamer und einer Berliner lokalen Tageszeitung einen Beitrag mit dem Titel »Potsdam hilft Japan bei der Geschichtsklitterung« veröffentlicht. Er hat dort geschrieben, dass der Gedenkort Japans Kriegsschuld verschweigt.2 Ich gebe zu, dass wir uns intern mit der Kriegsschuld Japans ganz wenig auseinandergesetzt haben. Für mich ist es immer sehr wichtig festzuhalten, dass Japan ein Täterland des Krieges war. Ich bedauere sehr, dass Japan die Kriegsschuld nicht anerkennt und sich bisher gegenüber den asiatischen Ländern für den Krieg nicht offiziell entschuldigt hat. Ich versuche immer, die Einladung des Oberbürgermeisters von Potsdam für unsere Veranstaltungen am Gedenkort nicht nur dem japanischen Botschafter, sondern auch den amerikanischen und weiteren asiatischen Botschaftern wie denen aus China, Korea usw. zukommen zu lassen. Es ist auch nicht einfach, die Beteiligten davon zu überzeugen. Trotzdem versuche ich es immer wieder.

2

Robert S. Mackay: Potsdam hilft Japan bei Geschichtsklitterung. Gedenkort für Hiroshima verschweigt Tokios Kriegsschuld, in: Der Tagesspiegel, 30.06.2010, online abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/meinung/positionen-potsdam-hilft-japan -bei-geschichtsklitterung/1872594.html (zuletzt aufgerufen am 06.06.2021)

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Miki Takimoto (Interview und Transkript)

MT: Warum musste der Platz von Hiroshima-Platz auf HiroshimaNagasaki-Platz umbenannt werden? Bis Ende 2011 hieß der Platz Hiroshima-Platz und jetzt heißt er HiroshimaNagasaki-Platz. Von Anfang an war für mich klar, dass der Platz HiroshimaNagasaki-Platz heißen soll. Bis zur Umbenennung dauerte es aber mehr als fünf Jahre. Die Umbenennung war nicht einfach, da der Name »Hiroshima-Platz« bereits 2005 vom Stadtverordnetenhaus von Potsdam beschlossen worden war. Intern im Verein war es auch nicht einfach, alle von der Umbenennung zu überzeugen. Hier in Europa denkt man, dass das Wort »Hiroshima« einen symbolischen Charakter für die Abschaffung von Atombomben hat. Ich höre auch in Demonstrationen hier nur »No More Hiroshima«, während man in Japan immer »No More Hiroshima, No More Nagasaki« ruft. Hier in Deutschland höre ich oft, dass das Wort »Hiroshima« ausreicht. Ich kann diese Auffassung aber nicht teilen. Unsere Veranstaltungen organisieren wir normalerweise weder am 6. August noch am 9. August, sondern am 25. Juli, dem Tag des Befehls für die Atombombenabwürfe. Damit wollen wir die Städte Hiroshima und Nagasaki, auf die die Atombomben abgeworfen wurden, gleich und fair behandeln. Falls wir eine Veranstaltung am 6. August haben würden, dann sollten wir auch am 9. August eine Veranstaltung organisieren. Es ist für die Erinnerungskultur wichtig, dass man sich an die beiden Tage erinnert, die nie vergessen werden dürfen. Aus diesem Grunde musste der Platz Hiroshima-Nagasaki-Platz heißen.

Nachwort Das Interview fand an einem warmen, sonnigen Sonntagnachmittag statt. Um das Denkmal versammelten sich viele Menschen, Eltern und Kinder sowie Jugendliche, die Eis essend miteinander redeten und spielten. Einige saßen auf dem großen Denkmalstein und andere wandten den Blick auf die Inschrift des Denkmals. Der Hiroshima-Nagasaki-Gedenkort scheint sich als ein Ort des täglichen Lebens etabliert zu haben. Die Friedrich-Naumann-Stiftung bleibt allerdings bis heute noch bei der Position, nichts mit dem Gedenkort zu tun haben zu wollen. Gleichzeitig wissen Fukumoto und die Initiative, dass die Arbeit an dem Gedenkort noch nicht abgeschlossen ist. Durch angewehten Sand auf dem Platz ist die Inschrift oft nicht mehr zu lesen, weshalb die Initiativmitglie-

Der Hiroshima-Nagasaki-Platz in Potsdam-Babelsberg

der den Stein regelmäßig abwischen. Um dieses Problem zu lösen, verhandeln sie bisher ohne Erfolg mit der Stadt Potsdam, den Platz umzugestalten, zum Beispiel durch das Pflanzen einer Wiese. Außerdem wollen sie das Denkmal der Stadt schenken, also es von privater in öffentliche Hand geben, damit es in Zukunft weiter geschützt werden kann. Aber auch das verzögert sich. Die anfänglichen Schwierigkeiten um das Denkmal scheinen vorbei zu sein, aber es ist wohl zu früh zu sagen, dass sich die globale Erinnerung in Form des Gedenkorts an diesem lokalen Raum dauerhaft niedergelassen hat.

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Virtuelles Erinnern Tobias Ebbrecht-Hartmann

Im Zuge der Ausweitung virtueller Lebenswelten werden auch digitale Medienumgebungen zunehmend zu Orten des Erinnerns.1 Insbesondere das Internet und soziale Medienplattformen haben einen vernetzten, allerdings durch zunehmende Unübersichtlichkeit charakterisierten, Erinnerungsraum ausgeprägt, der nicht in Konkurrenz zu den vielfältigen physischen Erinnerungsorten steht, sondern diese erweitert. Geprägt ist dieser virtuelle Erinnerungsraum durch gleichzeitig segmentierte und vernetzte Formen des Gedenkens. Dies spiegelt einerseits eine Pluralität von Erinnerungspraktiken wider, die auch und gerade nicht-institutionelles Gedenken, Formen der Alternativ- und Gegenerinnerungen und auch Erinnerungskämpfe mit einschließen. Andererseits ermöglichen virtuelle Erinnerungsräume aber auch die Herausbildung von sich weiter ausdifferenzierenden Erinnerungsgemeinschaften, die sich von klassischen Erinnerungskollektiven – wie beispielsweise nationalen Erinnerungsgemeinschaften – unterscheiden.2 Schließlich befördert der Netzwerkcharakter digitaler Plattformen und sozialer Medien auch die Verwobenheit verschiedener Erinnerungen und digitaler Erinnerungspraktiken.

1

2

Vgl. den Versuch einer Kategorisierung in Ewa Turkowska: Entgrenzung der Erinnerung. Digitale Erinnerungskultur an den Holocaust, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017, S. 51–69. https://doi.org/10.18778/2196-8403.2017.02 (zuletzt aufgerufen am 06.09.2022). Vgl. zu Erinnerungskulturen im digitalen Zeitalter auch Andrew Hoskins: Memory of the multitude. The end of collective memory, in: ders. (Hg.): Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition, London 2018, S. 85–109.

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Digitale Erinnerungsorte Virtuelle Erinnerungsräume ersetzen in den meisten Fällen keine bereits existierenden Erinnerungsorte wie Denk- oder Mahnmale, Gedenkstätten oder Museen. Sie erweitern diese vielmehr, beispielsweise indem Besucher:innen durch die Verwendung von QR-Codes, die an solchen Orten mit Hilfe von Informationstafeln angebracht werden, Zugang zu zusätzlichen Informationen erhalten können, die beispielsweise auf einer Website oder durch in einem YouTube-Kanal gespeicherte Videos bereitgestellt werden. Ausgelöst durch die im Zuge der COVID-19 Pandemie notwendig gewordene Schließung von Museen und Gedenkstätten, hat beispielsweise die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen bei Berlin eine Reihe von YouTube-Videos produziert, die in knapper Form weniger bekannte Orte und Objekte aus der Geschichte des Lagers vorstellen.3 Diese Videos können heute auf dem Gelände der Gedenkstätte von Besucher:innen mithilfe von QR-Codes auf ihren eigenen Mobilgeräten aufgerufen werden.4 Ein anderes Beispiel stellt das 2014, erst 23 Jahre nach dem rassistischen Pogrom in der sächsischen Kleinstadt Hoyerswerda errichtete Mahnmal dar, das Besucher:innen mithilfe eines QR-Codes ermöglicht eine auf Polizeiberichten basierende Chronik der Angriffe vom September 1991 auf Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam einzusehen (Abb. 1).5

3

4

5

Vgl. Tobias Ebbrecht-Hartmann: Entfernte Erinnerung. Wie Gedenkstätten auf die COVID-19 Pandemie reagieren, in: Yad Vashem E-Newsletter, November 2020. Online abrufbar unterhttps://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/november-2020/e ntfernte-erinnerung.html (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Die Videos können auf dem YouTube Kanal der Gedenkstätte aufgerufen werden: htt ps://www.youtube.com/playlist?list=PLndvSczTtrig5kTcUoKFco8OeoT-pz4C2 (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Online findet sich die Website unter: http://scan-hy.de/denkmal/damals.html (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022).

Virtuelles Erinnern

Abb. 1: Mahnmal »Offene Tür – offenes Tor« von Martina RohrmoserMüller mit QR-Code zum Gedenken an die rassistischen Pogrome im September 1991 in Hoyerswerda.

Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0/»SeptemberWoman«

Die Website wurde von der Stadt bereitgestellt. In diesem Fall dient die Erweiterung auch zur Kontextualisierung. Das Mahnmal selbst, ein schlichtes Tor mit einem Regenbogen, enthält keine Informationen über das Ereignis, an das erinnert wird. Die Inschriften markieren lediglich den Zeitpunkt »Herbst 1991« und die mit dem Mahnmal verbundene Botschaft »Hoyerswer-

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da vergisst nicht – wir erinnern«.6 Die sehr allgemein gehaltenen Texte auf dem Denkmal spiegeln die jahrelangen Kontroversen um das Mahnmal sowie den Widerstand aus der Bevölkerung dagegen wider. Damit bietet die virtuelle Erweiterung die einzige Möglichkeit, wenn auch eingeschränkt auf die Perspektive der Polizeiberichte, einen Eindruck vom historischen Geschehen zu bekommen, das in der Stadt lange Zeit verschwiegen wurde. Entsprechend können virtuelle Erinnerungsräume auch als Platzhalter für inexistente oder (noch) nicht realisierte physische Erinnerungsorte fungieren. Ein bekanntes, recht frühes Beispiel eines solchen virtuellen Gedenkens ist das Onlinearchiv der »Portraits of Grief«, das auf kurzen Artikeln über die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA basiert, die von Mitte September bis Ende Dezember 2001 in der New York Times (NYT) erschienen sind.7 Zehn Jahre später wurden sie als Teil des Projekts »The Reckoning: America and the World a Decade after 9/11« als interaktives Webarchiv und ergänzt um Videos über das weitere Schicksal von Hinterbliebenen und Familien neu zugänglich gemacht.8 Die mehrfach remediatisierten Erinnerungen an die Opfer von 9/11 (zuerst in der Printedition der NYT, dann in einem Buch, auf einer Website und schließlich als Onlinearchiv) verdeutlichten neue Formen des Gedenkens im digitalen Zeitalter, die wiederum verschiedene Erinnerungsereignisse zueinander in Beziehung setzen, wie das jüngste Projekt der NYT »Those We’ve Lost« zeigt, das den Opfern der COVID-19 Pandemie Namen und Gesicht geben soll.

Multimediales Erinnern Websites ermöglichen es insbesondere nicht-institutionellen Erinnerungsakteuren einen öffentlich zugänglichen Ort für erst kurze Zeit zurück liegen6

7

8

Vgl. Barak Ben-Aroia und Tobias Ebbrecht-Hartmann: Memorials as discursive spheres. Holocaust and Second World War iconography in public commemoration of extremist-right violence, in: Memory Studies 14(4), 2020, S. 797–818, hier: S. 805. Eine Archivversion der ersten Onlineedition der »Portraits of Grief« findet sich noch immer online unter: https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/pages/national/ portraits/?p=041 (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Eine Archivversion der alphabetisch sortierten Portraitsammlung und der ergänzenden »Portraits Redrawn« ist auch weiterhin zugänglich: https://archive.nytimes .com/www.nytimes.com/interactive/us/sept-11-reckoning/portraits-of-grief.html (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022).

Virtuelles Erinnern

de oder lange Zeit vergessene Ereignisse zu schaffen.9 Zum Beispiel war eine Website 2006 für Jugendliche aus Hoyerswerda, die später die Gedenkinitiative »Pogrom 91« gründeten, das einzige Forum, um die in der Stadt beschwiegenen oder umgedeuteten rassistischen Angriffe von 1991 zu recherchieren und zu dokumentieren. Heute dient eine umfangreiche Webdokumentation mit Videos und Texten als alternativer virtueller Erinnerungsort zu dem allgemeinen und verknappten offiziellen physischen und digitalen Gedenkorten in der Stadt. Die Website www.hoyerswerda-1991.de ging zum 25. Jahrestag der Pogrome online und dokumentiert die historischen Ereignisse ebenso wie den Umgang und das Gedenken an sie nach 1991 (Abb. 2). Besonders die Erfahrungen der Betroffenen und die Reaktionen aus der lokalen Bevölkerung stehen dabei im Zentrum.

Abb. 2: Screenshot aus der Webdokumentation www.hoyerswerda-1991.de, die als Informationsarchiv, alternativer virtueller Erinnerungsort dient.

Quelle: Tobias Ebbrecht-Hartmann, 2022

Webdokumentationen oder iDocs (interaktive Dokumentationen) bieten dabei die Möglichkeit, die Erinnerungen an historische Ereignisse mit der Vermittlung von historischen Informationen und multiperspektivischen Formen

9

Vgl. zu ähnlichen Formen von Web-Memorials auch Aaron Hess: In digital remembrance. Vernacular memory and the rhetorical construction of web memorials, in: Media, Culture & Society 29(5), 2007, S. 812–830.

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digitalen Erzählens zu verbinden. Kate Nash beschreibt Web- oder iDocs als »body of documentary work, distributed via the internet that is both multi-media and interactive.«10 Webdocs kombinieren also verschiedene Medien, beispielweise Videos, Fotos und Text, und weisen den Nutzer:innen eine aktive Rolle bei der Navigation durch die bereitgestellten Materialien und Geschichten zu. Auf diese Weise nehmen sie am Erzählprozess teil. Webdocs, die auch gleichzeitig als virtuelle Erinnerungsorte fungieren, weiten die partizipatorischen Anteile auf das Gedenken aus. Ein anderes Beispiel stellt die Website zum Gedenken an die im Februar 2020 von einem Rechtsextremisten ermordeten Opfer des rassistischen Anschlages in Hanau dar. Sie verbindet Videos, Texte, Hintergrundinformationen und Bilder sowie Fotografien der Betroffenen, um den Opfern Namen und Gesicht zu geben und gleichzeitig die Hintergründe und den Umgang mit dem Attentat zu beleuchten.11 Auf der Seite »Nachrufe« öffnen sich Pop-up-Fenster mit biographischen Informationen, wenn die Nutzer:innen auf die Bilder der Opfer klicken. Ein zentrales partizipatives Element der Website ist ein virtuelles Kondolenzbuch. Nutzer:innen haben die Möglichkeit eine kurze Videooder Textnachricht im Andenken an die Ermordeten zu hinterlassen. Auch Institutionen wie Gedenkstätten nutzen zunehmend die Möglichkeit über digitale Gästebücher mit ihren Online-Besucher:innen in Kontakt zu treten. Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen ermöglichte beispielsweise Nutzer:innen der Website www.befreiung1945.de, die anstelle der aufgrund der COVID-19 Pandemie weitgehend abgesagten Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag der Befreiung erstellt worden war, im digitalen Gästebuch eine Nachricht zu hinterlassen. Die Website dokumentiert Reden und Grußbotschaften in Form von kurzen Videos und bietet multimedial aufbereitete Hintergrundinformationen zur Lagergeschichte sowie der Situation zum Zeitpunkt der Befreiung an.12 Wie die Gedenkstätte Bergen-Belsen haben auch andere KZ-Gedenkstätten auf die durch die Schließungen im Zuge der ersten Lockdowns ausgefal-

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Kate Nash: Modes of interactivity. Analyzing the webdoc. In: Media, Culture & Society 34(2), 2012, 195–210, hier: 197. Die Website ist online zugänglich unter: https://www.hanau-steht-zusammen.de/ (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Die Website zum Gedenken zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ist online einsehbar unter: https://www.befreiung1945.de/de/75-jahre -befreiung/ (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022).

Virtuelles Erinnern

lenen Gedenkfeiern mit der Entwicklung von virtuellen Orten des Gedenkens reagiert.13 Auf den digitalen Gedenkseiten wurden multimediale Inhalte von externen Plattformen wie beispielsweise YouTube oder Vimeo eingebettet und als Teil einer virtuellen Gedenkfeier kuratiert. Auf diese Weise entstanden Formen eines vernetzten, virtuellen Gedenkens, die die Orte aus der Distanz zugänglich machen sollten.

Hashtag-Erinnerung Ein zentrales Element dieser Herstellung und Vernetzung virtueller Erinnerungsgemeinschaften auf verschiedenen Onlineplattformen waren und sind Hashtags, die, insbesondere in den sozialen Medien, als wichtiges Kommunikationsinstrument fungieren. Hashtags dienen zur Klassifikation und Annotation von Inhalten und erleichtern so deren Auffindbarkeit und das Teilen mit anderen Nutzern. Auf sozialen Medienplattformen konstituieren Hashtags aber auch neue virtuelle Räume, die durch das Interesse an bestimmten Themen oder Ereignissen definiert werden. Auf diese Weise lassen sich durch Hashtags auch virtuelle Erinnerungsräume schaffen, die sich an bestimmte physische oder virtuelle Orte oder Erinnerungsakteure binden, diese aber wiederum auch im Hinblick auf andere Ereignisse erweitern können. Bereits zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar 2020 lancierten KZ-Gedenkstätten aus Deutschland beispielsweise den Hashtag #75Befreiung. Unter diesem Hashtag sollten Beiträge zur Geschichte der Konzentrationslager und ihrer Befreiung auf Twitter, Instagram und Facebook sichtbar gemacht und damit die Gedenkaktivitäten verschiedener Institutionen vernetzt werden.14 Mit Hilfe extra eingerichteter Bots konnte die Verbreitung der damit verknüpften Posts auf Twitter zusätzlich intensiviert werden. Nach der 13

14

Vgl. Tobias Ebbrecht-Hartmann: Die Erinnerung an den Holocaust in Zeiten von COVID-19. Eine Bestandsaufnahme, in: Zeitgeschichte-online, September 2020, online abrufbar unter: https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/die-erinnerung-de n-holocaust-zeiten-von-covid-19 (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Vgl. Iris Groschek: #75befreiung. Digitales Gedenken 2020 (Teil 1), in: Lernen aus der Geschichte 06/20, 29.07.2020, online abrufbar unter: http://lernen-aus-der-geschicht e.de/Lernen-und-Lehren/content/14865 (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022) und dies.: #75befreiung. Digitales Gedenken 2020 (Teil 2), in: Lernen aus der Geschichte 07/20, 23.09.2020, online abrufbar unter: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-L ehren/content/14900 (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022).

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Schließung der Gedenkstätten und der Absage der Veranstaltungen vor Ort bzw. ihrer Überführung in kleine symbolische im Fernsehen oder durch soziale Netzwerke übertragene Gedenkakte wurde #75Befreiung zu einer Art virtuellem Gedenkort, der die digitalen Gedenkformate verschiedener Gedenkstätten verknüpfte, bündelte und für Nutzer:innen sichtbar und zugänglich machte. Auch die oben beschriebenen digitalen Gedenkinitiativen nutzten diese Vernetzungsmöglichkeit. So diente der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen #75Befreiung beispielsweise als virtueller Rahmen für einen digitalen Erinnerungsort, der verschiedene Beiträge zum 75. Jahrestag der Befreiung miteinander verband. Zusammengeführt wurden die Beiträge von Gedenkstättenmitarbeiter:innen, Politiker:innen, Vertreter:innen von Betroffenenorganisationen und von Überlebenden auf einer eigenen Website, die damit zum Ort des virtuellen Gedenkens wurde.15 Hashtags ermöglichen aber auch partizipative Erinnerungspraktiken in digitalen Medienumgebungen. So rief die israelische Gedenkstätte Yad Vashem ihre Follower auf sozialen Medienplattformen wie Instagram und Facebook im April 2020 dazu auf, anlässlich des israelischen HolocaustGedenktages kurze Videos zu posten, in denen sie Namen von Opfern des Holocaust vortragen. Diese Videos sollten mit den Hashtags #RememberingFromHome und #ShoahNames markiert werden. Dadurch entstand eine virtuelle Namenslesung, die Nutzer:innen weltweit miteinander zu einer virtuellen Erinnerungsgemeinschaft verband. Hashtags begünstigen auch multidirektionale Formen des Erinnerns, da sie das Gedenken an verschiedene historische Ereignisse miteinander in Beziehung bringen, bzw. spezifische Erinnerungen in andere Kontexte stellen können.16 So verwendet beispielsweise ein Instagram-Post der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Bild des Anhängers einer jüdischen Frau aus dem Ghetto Piotrków den Hashtag #WomensHistoryMonth. Damit wird das Objekt mit anderen Posts in Beziehung gesetzt, die demselben Hashtag verwenden. Die Erinnerung an eine Frau im Holocaust steht damit neben Biographien

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Vgl. Tobias Ebbrecht-Hartmann: Entfernte Erinnerung. Wie Gedenkstätten auf die COVID-19 Pandemie reagieren, in: Yad Vashem E-Newsletter, November 2020. Online abrufbar unter https://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/november-2020/ entfernte-erinnerung.html (zuletzt aufgerufen am 29.08.2022). Vgl. Ebbrecht-Hartmann: Die Erinnerung an den Holocaust in Zeiten von COVID-19. Zum Konzept der multidirektionalen Erinnerung vgl. Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Berlin 2021.

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von Frauen aus anderen historischen Epochen und verbindet damit auch verschiedene Erinnerungen miteinander. Orli Fridman hat darauf hingewiesen, dass Hashtags auch zum Bestandteil von Erinnerungsaktivismus werden können. Als solche markieren sie Auseinandersetzungen um gegenläufige Erinnerungen und tragen dazu bei, die Sichtbarkeit von vergessenen, ignorierten oder beschwiegenen historischen Ereignissen zumindest in sozialen Netzwerken zu erhöhen. Mit Bezug auf Erinnerungskonflikte im ehemaligen Jugoslawien und Versuche mit dem Hashtag #MyNakbaStory palästinensische Erinnerungsnarrative 70 Jahre nach ihrer Flucht und Vertreibung im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges in die öffentliche Auseinandersetzung zu tragen, bezeichnet Fridman diesen Einsatz von Hashtags als »Hashtag Memory Activism«. Dabei handelt es sich um digitale Formen des Erinnerns an umstrittene Vergangenheiten (»contested pasts«), die als Teil alternativer Erinnerungsarbeit im Zuge von sozial-politischen Kampagnen benutzt werden, um anderen, vergessenen Erinnerungen Raum zu geben.17 Zum ersten Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau, initiierte die dortige Initiative »Partnerschaft für Demokratie« die Kampagne #SayTheirNames. Begleitet von den Portraits der Ermordeten, sollte der Hashtag dazu beitragen, die Namen der Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Auf ihrer Website erklärt die Initiative ihre Motivation: »Im Gedenken an Fatih, Ferhat, Görkhan, Kaloyan, Mercedes, Said Nesar, Sedat und Vili. […] Diese Namen sollen den Namen des Attentäters überschatten. Aus diesem Grund werden in den sozialen Medien die Namen und Fotos der Ermordeten geteilt.«18 Entsprechend zirkulierten Internetmemes19 mit den Bildern und Namen der Opfer von Hanau (Abb. 3).

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Orli Fridman: ›Hashtag Memory Activism‹. Online Commemorations and Online Memory Activism. In: Observing Memories 5, December 2021. URL: https://europeanmem ories.net/magazine/hashtag-memory-activism/(letzter Aufruf: 1.9.2022). Vgl. #SayTheirNames. Online abrufbar unter: https://www.demokratie-leben-hanau.d e/projekte/projekte-2021/saytheirnames-projekt (zuletzt aufgerufen am 01.09.2022). Memes werden hier nach Schifman verstanden als: »groups of digital items that share common characteristics of content, form, and/or stance, created with awareness of each other, and circulated, imitated, and transformed by many users via the Internet«, Limor Shifman: Memes in Digital Culture. Cambridge 2014, S. 41.

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Abb. 3: Leicht teilbares Internetmeme zum ersten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau mit dem Hashtag #saytheirnames sowie den Bildern und Namen der Ermordeten.

Quelle: Tobias Ebbrecht-Hartmann

Solche Memes vermitteln ihre Botschaft auf eingängige Weise durch die Verbindung von Text- und Bildelementen.20 Memes ähneln sich in Inhalt, Form oder Haltung und können daher einfach nachgeahmt und leicht geteilt werden. Sie eignen sich daher besonders für aktivistische Formen digitaler 20

Vgl. Limor Shifman: Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, Berlin 2014; Dirk von Gehlen: Meme. Muster digitaler Kommunikation, Berlin 2021.

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Erinnerungskultur.21 Die Memes zum Gedenken an die Opfer von Hanau entsprechen dieser Beschreibung. Sie verwenden dieselbe Kombination von Hashtag und Bild, und sie teilen eine gemeinsame Haltung gegenüber Rassismus und rechter Gewalt im Gestus digitalen Gedenkens. Die Hashtag-Kampagne auf Twitter, Instagram und Facebook wurde um eine analoge Dimension ergänzt. Interessierte konnten Schilder mit dem Hashtag online herunterladen und ausdrucken und Fotos von sich mit dem Schild wiederum unter dem Hashtag #SayTheirNames posten. Auf diese Weise entstand eine gemeinsame deutschlandweite Gedenkkampagne, in der der Hashtag als erinnerungsaktivistisches Mittel eingesetzt wurde, um die Erinnerung an die Opfer und die rassistische Tat zu intensivieren, und gleichzeitig ein virtueller Erinnerungsraum entstand, der zum partizipativen Gedenken einlud.

Vernetztes Erinnern Durch den Erfolg der Kampagne wurde der Hashtag #SayTheirNames in den vergangenen Jahren schließlich zu einem vielseitig genutzten Mittel für die Erinnerung an Opfer von rechtsextremer und rassistischer Gewalt. So finden sich unter diesem Hashtag neben Beiträgen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau heute auf Twitter Posts in Erinnerung an die Opfer des NSU, des rechtsextremen Brandanschlages 1993 in Solingen und anderer Opfer rechter Gewalt. Auf diese Weise konstituiert der Hashtag nicht nur einen spezifischen ereignisbezogenen virtuellen Erinnerungsraum, sondern ermöglicht eine wesentlich umfassendere Sicht auf die erschreckenden Dimensionen von Rassismus und Rechtsextremismus, in der das Gedenken an die Betroffenen im Zentrum steht. Dieser Erinnerungsraum kann sich auch auf die gesamte Weltgeschichte ausdehnen und so nationale, transnationale und lokale Formen des Gedenkens sowie gegenläufige Erinnerungen virtuell aufeinander beziehen bzw. auch zu einem Raum der Austragung von Erinnerungskonflikten werden. Der populäre Hashtag #OnThisDay (auch #OTD) wird sowohl von institutionellen als auch

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Tommaso Trillò und Limor Schifman: Memetic commemorations. Remixing far-right values in digital spheres. Information, Communication & Society 24: 16 (2021), 2486.

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privaten Erinnerungsakteuren verwendet und für ganz verschiedene Ereignisse eingesetzt. Posts über Nationalsozialismus und Holocaust stehen neben Erinnerungen an die Zeit der DDR, Hinweisen auf Ereignisse aus der deutschen Kolonialvergangenheit oder Geburts- und Todesdaten berühmter Personen. Der Hashtag wird von Initiativen und zivilgesellschaftlichen Organisationen genauso verwendet wie von Parteien, und er dient auch dem Zweck Gegenerinnerungen zu verbreiten, beispielsweise im Kontext von Kampagnen der die deutsche Erinnerungskultur ablehnenden Partei Alternative für Deutschland (AfD).22 Ein Hashtag wie #OnThisDay trägt also zur generellen Intensivierung historischer Wahrnehmung und damit auch historischen Bewusstseins bei, indem Geschichte Teil der üblicherweise eher gegenwartsbezogenen Newsfeeds und Timelines von Nutzer:innen sozialer Medien wird. Er konstituiert aber auch einen virtuellen Raum für multidirektionale Erinnerungen, die durch den geteilten Hashtag miteinander verbunden und aufeinander bezogen werden. Schließlich kann #OnThisDay aber auch Teil von Gedenkkampagnen werden und einen virtuellen Ort von Erinnerungskonflikten bilden.

Ausblick Digitale Formen des Erinnerns konstituieren heute vielschichtige und oft unübersichtliche virtuelle Erinnerungsräume, die analoge und digitale Praktiken miteinander verbinden, gegenläufige und multidirektionale Erinnerungen aufeinander beziehen, neue Erinnerungsgemeinschaften konstituieren und Raum für alternatives Gedenken oder Gegenerinnerungen schaffen. Es entstehen partizipative und kollaborative Praktiken des Erinnerns und virtuelle Informations- und Begegnungsräume, die physische Gedenkorte erweitern oder ergänzen. Obwohl Erinnerung in den sozialen Medien meist segmentiert und oft auch verkürzt über Posts, Memes oder Hashtags stattfindet, trägt doch der Netzwerkcharakter von Onlinemedien dazu bei, neue Formen eines netzwerkartigen Gedenkens herauszubilden. Websites und Onlinearchive dienen

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Richardson-Little, N., Merrill, S., & Arlaud, L.. Far-right anniversary politics and social media: The Alternative for Germany’s contestation of the East German past on Twitter. Memory Studies 15: 6 (2022), 1360–1377.

Virtuelles Erinnern

außerdem als umfangreiche und informative virtuelle Gedenkorte. Webdokumentationen können dazu beitragen, Geschichte informativ und interaktiv zu vermitteln. Virtuelles Erinnern ist daher ein dynamischer Prozess, der bestehende erinnerungskulturelle Praktiken adaptiert und transformiert.

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Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang Nicolas Weicker

Ein großer und wichtiger Bestandteil des MemoryLab21 war ein Stadtspaziergang durch Potsdam, bei dem die Teilnehmer:innen ausgewählte Potsdamer Denkmäler und Erinnerungsorte kennenlernten. Da der Rundgang digital stattfinden musste, haben die verantwortlichen Studierenden kurze Videos von den Gedenkorten aufgenommen und in einem Voice-Over erläutert. Mit Hilfe der Filmclips wurden die Denkmäler einerseits geografisch und andererseits historisch verortet. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Wahrnehmung des Denkmals sowohl im politischen als auch im sozialen Kontext. Der digitale Stadtspaziergang ermöglichte es, unterschiedliche Orte der Erinnerung im Raum Potsdam zu präsentieren, potenzielle Konflikte zu den Gedenkzeichen zu erläutern und so auf diese aufmerksam zu machen.1 Bei den insgesamt zehn Gedenkorten und -zeichen, die in dem Rundgang gezeigt wurden, ist deutlich geworden, dass viele von ihnen wenig bis keine Aufmerksamkeit bekommen und in Vergessenheit geraten sind. Diese Erkenntnis trifft aber nicht nur auf Potsdam zu: Viele Bürger:innen gehen fast täglich über Plätze oder an Denk- und Mahnmälern vorbei, ohne diese wirklich zu beachten, geschweige denn zu wissen, wofür diese stehen. Im Folgenden wird hier, entsprechend des virtuellen Rundgangs, eine Auswahl der Gedenkorte beschrieben und historisch eingeordnet. 1

Im Aufbau der Tagung hatte der digitale Rundgang zudem den Zweck, Überleitungen aber auch kleinere »Pausen« beispielsweise zwischen der Begrüßung und den partizipativen Workshops zu schaffen. Darüber hinaus eröffneten die Videos die Möglichkeit, die Gedenkorte gesammelt darzustellen und den Besucher:innen einen Einblick in die Erinnerungslandschaft Potsdam zu geben. Die präsentierten Orte entsprechen einer subjektiv getroffenen Auswahl, denn in Potsdam und Umgebung gibt es noch viele weitere solcher Gedenkorte.

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Nicolas Weicker

Das Denkmal für den 4. November auf dem Luisenplatz

Das Brandenburger Tor am Luisenplatz.

Quelle: Alexandra de Leon, 2021

Durch das Potsdamer Brandenburger Tor, das ursprünglich mit der zweiten Barocken Stadterweiterung im Jahr 1733 errichtet wurde, dann aber nach dem Siebenjährigen Krieg 1770/71 von Friedrich dem Großen neu gestaltet und neu gebaut wurde, gelangt man zum Luisenplatz. Dieser entstand ebenfalls im Zusammenhang mit der zweiten Stadterweiterung. Er wurde 1744 unter Friedrich II. angelegt und diente ursprünglich als Holzsammelplatz. 1854 wurde der Platz durch Peter Joseph Lenné neu gestaltet und erhielt eine Fontäne. Eine Parkfläche mit gepflastertem Boden und nur noch wenigen Bäumen wur-

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

de 1939 auf dem Platz angelegt. In der Zeit der DDR wurde der Platz vor allem für Volksfeste und Weihnachtsmärkte benutzt. In dieser Zeit kam es auch zu zwei Namensänderungen: 1945 zum Brandenburger Platz und 1951 zum Platz der Nationen. Im Jahr 1991 erhielt der Platz dann wieder seinen ursprünglichen Namen Luisenplatz zurück. Im Zuge der Bundesgartenschau 2001 gestaltete man die Fläche wieder neu mit Pflanzen und einer Fontäne, sozusagen als eine Neuinterpretation der ursprünglichen Entwürfe von 1854. Für diese »Renaturierung« wurden die dort genutzten Parkplätze in eine Tiefgarage verlegt. Erst im Jahr 2020 entstand hier einer der jüngsten Erinnerungsorte Potsdams.

Denkmal für den 4. November 1989 auf dem Luisenplatz.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Anstoß dafür gab bereits 2012 eine Ausstellung in der Gedenkstätte Lindenstraße. Dort wurden Bilder gezeigt, welche dem kollektiven Gedächtnis der Stadt nicht mehr so stark in Erinnerung waren – Bilder vom 4. November 1989. An diesem Tag fand auf dem damaligen Platz der Nationen die größte Demonstration während der friedlichen Revolution 1989 in Potsdam statt. Die

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Stadt wollte inzwischen einen zentralen Ort schaffen, um an den Herbst 1989 zu erinnern. 2018 wurde ein Gestaltungswettbewerb ausgeschrieben,2 der 2019 und 2020 durchgeführt wurde. Aus insgesamt neun Entwürfen konnte sich der Potsdamer Künstler Mikos Meininger bei der Jury durchsetzen. Gemeinsam mit dem Potsdamer Architekten Frédéric Urban und der Grafikdesignerin Tuulia Faber schufen sie ein öffentliches Denkmal aus künstlerisch gestalteten Stahlplatten in Form des Schriftzugs »4.11.1989«. Die Platten selbst sind mit über 100 Fuß-, Schuh-, und Handabdrücken von stadtbekannten Demonstrant:innen versehen, welche damals an dem Protest teilnahmen. Außerdem sind Slogans der damals verwendeten Transparente in die Platten eingelassen. Diese wurden mit phosphoreszierendem Kunstharz gefüllt, sodass sie im Dunkeln aufleuchten. Zusätzlich wurde eine Webseite mit allen zusätzlichen Informationen und Bildern rund um die Demonstration und das Denkmal erstellt.3 Ein QR-Code am Denkmal selbst verlinkt die Webseite, die weitere Informationen anbietet. Am 4. November 2021, 32 Jahre nach der Demonstration, wurde das Denkmal am Luisenplatz mit Zeitzeug:innen und originalen Tonaufnahmen eingeweiht. »Das Denkmal transportiert den Spirit von damals ins Heute«, so der Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) bei seiner Rede während der Einweihungsfeier.

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Zuvor mussten bei der Planung der Umsetzung die Finanzierung und die Tatsache geklärt werden, dass das Denkmal im Boden verlegt werden müsse, da sonst Urheberrechte der Luisenplatz-Gestalter verletzt worden wären. Jederzeit abrufbar unter: www.potsdamer-demokratiebewegung89.de (zuletzt aufgerufen am 27.07.2022).

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

Das Gedenkensemble auf dem Platz der Einheit Der Platz der Einheit mit Blick in die Mitte des Platzes.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Die nächste Station des Spaziergangs ist der Platz der Einheit in Potsdam. Der Platz, der zu den ältesten Plätzen Potsdams gehört, wurde unter König Wilhelm I. angelegt und trug bis nach dem Zweiten Weltkrieg den Namen Wilhelmplatz. 1946 bekam er unter Bezugnahme auf die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED seinen heutigen Namen. Sein aktuelles Aussehen hat der Platz mit der Neugestaltung zwischen 1997 und 1999 erhalten.

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Das Mahnmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer am Platz der Einheit.

Quelle: Ronja Kuban, 2021

In der südöstlichen Ecke dieses Platzes steht das 1975 errichtete Mahnmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer. Heute befindet sich in der Mitte des Mahnmals eine große Feuerschale. Ursprünglich hatten der Bildhauer Joachim Fitzermann und der Stadtarchitekt Werner Berg anlässlich des 30. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus ein Ensemble aus Mauer und Pyramide entworfen. In der Mitte befand sich bei der Einweihung 1975 eine auf der Spitze stehende, rote Pyramide zusammengesetzt aus mehreren roten Dreiecken zum Gedenken an die Opfer des Faschismus. Die Dreiecke waren angelehnt an die roten Winkel der Häftlingskleidung, welche politische Häftlinge in Konzentrationslagern tragen mussten. Bereits 1979 wurde die Pyramide durch eine Feuerschale vom Metallgestalter Christian Roeh ersetzt, weil der SED-Bezirksleitung die bisherige Ausführung nicht mehr zusagte. Im rechtwinkligen Bogen schließt in mehreren Steinreihen eine Gedenkwand das Ensemble nach zwei Seiten hin ab. Die Inschriften lauten: »Unser Opfer unser Kampf gegen Faschismus und Krieg« und »Den Lebenden zur Mahnung und Verpflichtung«. Das Aussehen der Mauer entspricht der in der DDR typischen Gestaltung von Gedenkstätten aus Mauer und Ehrenflamme. Die metallene Feuerschale, welche schwungvolle Blütenblätter aus Stahlblech darstellt, wirkt

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

dem gegenüber jedoch zeitlos. Die sich öffnende Blüte schützt die ewige Flamme im Kern der Schale, sie ist umgeben von Natursteinplatten und Pflastersteinen im Boden, die sich strahlenförmig ausbreiten und das Licht der Flamme in alle Richtungen leitend symbolisieren soll. Feierstunden und Kranzniederlegungen wurden dort abgehalten. Das Denkmal diente weniger dem Gedenken selbst als vielmehr der Darstellung von Gedenken zum Zwecke der Repräsentation. Ende 2020 sorgte ein Antrag der Potsdamer CDU in der Stadtverordnetenversammlung für Aufregung, denn diese wollte das Denkmal zur Gedenkstätte für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert umwidmen. Dies war nicht der erste Versuch dem Platz einen anderen Namen zu geben: So wollten ihn sowohl die CDU 2009 als auch die AfD 2018 in den »Platz der Deutschen« umbenennen. Doch blieb bis jetzt jeder Versuch der Umbenennung des Platzes oder der Umwidmung des Mahnmals erfolglos. Nicht weit von diesem Mahnmal entfernt befindet sich an einer Hauswand eine Gedenktafel, die 1979 enthüllt wurde und an die Alte Synagoge erinnern soll, die an dieser Stelle noch bis 1955 stand. Sie wurde von Nationalsozialisten während des Novemberpogroms 1938 zwar ausgeplündert, aufgrund der benachbarten Hauptpost jedoch nicht in Brand gesetzt. Erst 1945 wurde sie durch Bomben zerstört und zehn Jahre später abgerissen.

Denkmal für den unbekannten Deserteur am Platz der Einheit.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

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Eine weitere Station auf dem Platz der Einheit ist das Denkmal für den unbekannten Deserteur an der südwestlichen Ecke des Platzes der Einheit. Der aus der Türkei stammende Bildhauer Mehmet Aksoy schuf die zwölf Tonnen schwere Marmorskulptur im Auftrag des Bonner Friedensplenums. Der Stein wirkt mehrfach gebrochen und gespalten und erinnert mit seinen Abdrücken und Umrissen an den Abdruck eines menschlichen Körpers. Die für den Künstler typische »Negativform« soll in diesem Fall »den Konflikt eines Soldaten, der zwischen Treue und Verrat hin und hergerissen ist und sich letztlich seinem Bestimmungsort aus moralischen Gründen entzogen hat«4 , darstellen. Das Denkmal entstand in den 1980er-Jahren, als die Friedensbewegung in der Bundesrepublik neuen Aufwind durch politische Ereignisse wie dem NATODoppelbeschluss bekam. Am 1. September 1989 wurde das Denkmal auf dem Friedensplatz der damaligen Bundeshauptstadt Bonn vor circa 1.200 Zuschauer:innen enthüllt. Dort stand es jedoch lediglich auf einem Tieflader und musste kurz nach der Enthüllung wieder wegtransportiert werden. Die beantragte Aufstellung war an den Mehrheitsverhältnissen im Bonner Stadtparlament gescheitert: Unter anderem wegen des damaligen Bonner Bürgermeisters, Hans Daniel (CDU), der die »Fahnenflucht« nicht verherrlicht sehen wollte. Durch gerichtliche Unterstützung konnte aber die dortige Enthüllung auf dem Tieflader durchgesetzt werden. Anschließend wurde das Denkmal an verschiedenen Orten in Bonn aufgestellt, bis sich nach 1990 der »Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer« in Potsdam dafür einsetzte, das Denkmal in der Bonner Partnerstadt Potsdam aufzustellen. Dafür kooperierte der Verein mit dem Bonner Friedensplenum. Doch sowohl in Bonn als auch in Potsdam kam es zu Auseinandersetzungen wegen des Denkmals und auch die Frage, ob man Deserteuren ein Denkmal setzen dürfe, wurde diskutiert. Dennoch stimmten die Potsdamer Stadtverordneten im Jahr 1990 einer Aufstellung am Platz der Einheit zu, wenn auch zu Beginn nur zeitlich befristet auf ein halbes Jahr. Am 2. September 1990 konnte das Denkmal am Platz der Einheit feierlich enthüllt werden und blieb schlussendlich lange über die geplanten sechs Monate dort stehen. 1997 vereinbarten der »Verein zur Förderung der Friedensarbeit e.V.« und die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam, dass das

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Schermer, Dirk Alexander, Denkmal für den unbekannten Deserteur. Mehmet Aksoy, 1989, in: Kunst im öffentlichen Raum. Potsdamer Innenstadt, hg. v. Landeshauptstadt Potsdam – FB Kultur und Museum, FB Grün- und Verkehrsflächen, Potsdam 2015a, S. 3.

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

Denkmal als Leihgabe für mindestens zehn Jahre in der ehemaligen Garnisonsstadt Potsdam belassen werde. Während der Neugestaltung des Platzes im Zuge der Bundesgartenschau 2001 bekam das Denkmal eine voraussichtlich dauerhafte Stelle auf dem Platz der Einheit. Inzwischen ist das Denkmal zu einem markanten Anlaufpunkt für Kundgebungen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen geworden.

Das Sowjetische Ehrenmal am Bassinplatz Die nächste Station des Stadtspaziergangs ist der nur wenige Meter vom Platz der Einheit entfernte Bassinplatz. Er ist heute der größte Platz Potsdams und entstand unter König Wilhelm I. zwischen 1737 und 1739 – wie der Platz der Einheit – während der barocken Stadterweiterung. Mit der Entstehung des angrenzenden Holländischen Viertels, wurde ein »Holländisches Bassin« gestaltet, welcher das Wasser des umliegenden Sumpfgebietes sammelte und unterirdisch mit dem Stadtkanal sowie durch offene Gräben mit dem Heiligen See verbunden war. In der Mitte des Bassins wurde eine kleine Insel mit einer Gloriette – einem offenen Pavillon oder Gebäude in einer Gartenanlage — im holländischen Stil angelegt. 1752/53 wurde die evangelische Französische Kirche am südöstlichen Rand des Platzes für die verfolgten Hugenotten aus Frankreich erbaut. Trotz wiederholter Umbaumaßnahmen und Erneuerungen drohte das Bassin durch das Abwasser der Häuser immer wieder zu versumpfen, weshalb man ab 1825 mit der teilweisen Zuschüttung begann. Es kam erneut zu einigen Neugestaltungen und in den Jahren 1867 bis 1869 wurde die katholische Kirche St. Peter und Paul auf dem Platz erbaut. Durch den unangenehmen Geruch und wegen gesundheitlicher Bedenken nach einer Typhusepidemie wurde der Rest des Bassins 1875 zugeschüttet. Heute ist der Bassinplatz unter anderem auch wegen der Bücherverbrennung bekannt: Am 22. Mai 1933 wurde auf dem Platz von den Nationalsozialisten als verboten eingestufte Literatur aus privaten Haushalten und Schulen öffentlich auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Knapp 90 Jahre später, im Jahr 2020, schlug der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung Pete Heuer (SPD) vor, den Bassinplatz zu einem Gedenkort an die Bücherverbrennung zu machen, was zunächst abgelehnt wurde, aber nun mit der Zustimmung der Stadtverordneten im Jahr 2023 doch realisiert werden soll. Die Gloriette wurde vom Krieg und den Bomben verschont, dennoch wurde sie 1945 abgerissen und an dessen Stelle der heute noch zu sehende sowjetische Soldatenfriedhof errichtet.

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Sowjetischer Ehrenfriedhof mit Ehrenmal am Bassinplatz, dahinter die katholische Kirche St. Peter und Paul.

Quelle: Ronja Kuban, 2021

Der Friedhof samt Ehrenmal wurde für 383 sowjetische Soldaten, die in oder um Potsdam gefallen sind, durch die Sowjetische Militäradministration zwischen 1946 und 1949 errichtet. Die einzelnen Gräber mit eigenem Stein und Pflanzenbett zeigen dabei den Rang der Verstorbenen an. Wie an anderen Orten ist diese Kriegsgräberstätte an repräsentativer Stelle angelegt worden – dies kann als Mittel der moralischen Erziehung der besiegten deutschen Bevölkerung interpretiert werden, um dieser vor Augen zu halten, welches Opfer die Rote Armee für den Kampf und Sieg über die deutschen Nationalsozialisten erbracht hat. Ein 14 Meter hoher Obelisk, steht im Zentrum des Friedhofes. Das Sowjetische Ehrenmal wurde 1948 errichtet. Es soll »Stärke, Erhabenheit und

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

Ewigkeit«5 ausstrahlen. Der Obelisk wird von vier überlebensgroßen, bronzenen Rotarmisten, welche die vier Waffengattungen der Sowjetarmee6 repräsentieren, umringt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich dazu verpflichtet, Kriegsgräberstätten wie diese dauerhaft zu erhalten. Jährlich werden dort am 8. Mai, zum Tag der deutschen Kapitulation, Blumen niedergelegt und Gedenkveranstaltungen abgehalten. Darüber hinaus scheinen der Friedhof und das Ehrenmal hinter der Kirche jedoch in Vergessenheit zu geraten. 1972 wurde der Bassinplatz zum zweitgrößten Busbahnhof der DDR umgebaut. Nach dem Umbau des Straßenbahnsystems im Jahre 2002 wurde der Busbahnhof wieder verlegt. Heute wird immer noch eine Fläche von circa 3.800 Quadratmetern als Parkfläche genutzt, welche jedoch im Normalfall für Touristenbusse und Taxen reserviert ist. Seit 1996 findet auf dem Platz regelmäßig ein Wochenmarkt auf einer Fläche von circa 3.600 Quadratmetern statt. Der umgangssprachlich genannte »Bassi« steht heute für Zusammenkünfte und ein friedliches Miteinander und ist zu einem stark frequentierten und öffentlichen Treffpunkt für junge Menschen geworden. Hier verbringen aber nicht nur Jugendliche ihre Freizeit, es finden auch überwiegend friedliche politische Veranstaltungen und Demonstrationen sowie Sport-, Musikund Kulturveranstaltungen statt.

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Berlins Taiga (Hg.), Sowjetischer Ehrenfriedhof Bassinplatz in Potsdam, Potsdam, o.D., online: https://berlinstaiga.de/themen/friedhoefe-ehrenmaeler/sowjetischer-ehrenf riedhof-bassinplatz-potsdam/.(zuletzt aufgerufen am 27.11.2022) Einen Wachsoldaten, einen Panzerfahrer, einen Marine-Infanteristen und einen Piloten.

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Gedenken an der Glienicker Brücke Die heutige Glienicker Brücke bildet die Grenze zwischen Berlin und Potsdam.

Quelle: unsplash.com/Henrik Bortels, 2021

Die berühmte Glienicker Brücke ist eine viel befahrene Brücke, über die die Bundesstraße 1 führt und die gleichzeitig die Landesgrenze zwischen Berlin und Brandenburg markiert. Bereits um das Jahr 1660 wurde an dieser Stelle eine Holzbrücke errichtet, damit Kurfürsten und Könige aus Potsdam schneller zum Jagdschloss Glienicke kamen. 1754 wurde sie dann auch für eine tägliche Postwagenverbindung, die Journalière, benutzt. Da die Brücke immer stärker frequentiert war, wurde sie im Jahr 1777 erneuert. Sie bestand immer noch aus Holz, hatte aber nun ein Geländer und eine Zugbrücke in der Mitte. Der Weg nach Berlin wurde zur ersten preußische Musterchaussee ausgebaut und bald war der Verkehr zwischen den beiden Residenzstädten so angestiegen, dass die Holzbrücke Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts durch eine massive, breitere Steinbrücke ersetzt werden musste. Alexander von Humboldt soll zu der von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Brücke

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

gesagt haben: »Der Blick von der Glienicker Brücke wetteifert mit den schönsten Punkten der Welt.«7 Die Bevölkerungsdichte stieg stark an und die ehemalige preußische Musterchaussee wurde auch in der Zeit des neugegründeten Deutschen Reiches nach 1871 zu einer wichtigen Hauptstraße. 1905 wurde die steinerne Brücke abgerissen und zwei Jahre später um dem Pendlerverkehr gerecht zu werden die erste Konstruktion mit eisernem Überbau eröffnet. Mit der Gründung Großberlins 1920 markierte die Glienicker Brücke die Landesgrenze an das angrenzende Brandenburg. 25 Jahre später, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde die Brücke zum ersten Mal zur Filmkulisse: Im UFA-Film »Unter den Brücken« spielten einige Szenen an der Glienicker Brücke.8 Im April 1945 floh die Wehrmacht vor der Roten Armee von Potsdam nach Wannsee und die Glienicker Brücke wurde – vermutlich ungewollt – hinter ihnen zerstört.9 Schnell wurde nach dem Krieg eine provisorische Holzkonstruktion aufgebaut und bereits zu Beginn 1948 eine Kontrollstelle mit Polizeikräften errichtet. Denn fortan war die Brücke nicht nur die Grenze zwischen Berlin und Potsdam, sondern auch die Grenze zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Besatzungszone. Im Dezember 1949 konnte dann die neue Brücke eingeweiht werden, welche ironischerweise den Namen »Brücke der Einheit« von den DDR-Machthabern erhielt.10 Spätestens seit der Unterzeichnung des Generalvertrags am 26. Mai 1952 war eine Überquerung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. In dem Jahr wurde die Brücke für den Autoverkehr gesperrt und West-Berliner:innen sowie West-Deutsche konnten nur noch mit einer Sondergenehmigung die Brücke passieren. Mit dem Mauerbau 1961 wurde die Grenzübergangsstelle endgültig für den Personenverkehr gesperrt und war Teil des »antifaschistischen Schutzwalls«. Auf der Glienicker Brücke wurden dreimal Spione der Mächte des Kalten Kriegs ausgetauscht. Schnell erlangte sie aufgrund der filmischen und literarischen Aufarbeitung der Austauschaktionen ihren Ruf als »Bridge of Spies«. Fluchtversuche ereigneten sich ebenfalls auf der Brücke, wie beispielsweise 7 8 9

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Blees, Thomas, Glienicker Brücke. Ausufernde Geschichten, Berlin-Brandenburg 1998, S. 7. Käutner, Helmut, Unter den Brücken, DVD, 99 min., Deutschland 1944. Die Wehrmacht hatte als Vorkehrung Dynamitpatronen an die Brückenpfeiler befestigt, die dann versehentlich im letzten Kampf durch sowjetischen Beschuss entzündet wurden. Siehe Blees, Glienicker Brücke, S. 59. Bis 1985 behielt sie diesen Namen, bevor sie stillschweigend wieder in Glienicker Brücke umbenannt wurde.

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der Grenzdurchbruch Richtung West-Berlin mit einem gestohlenen LKW am 11. März 1988. Am Tag nach dem Mauerfall wurde die Brücke wieder für alle Personen geöffnet. Im Jahr 1990 wurden nach und nach die Grenzvorrichtungen abgebaut und die Brücke renoviert. Anschließend wurde die Havellandschaft um die Glienicker Brücke UNESCO Weltkulturerbe und die Brücke 1992 unter Denkmalschutz gestellt.

Die Nike ʻ89 am Rand der Glienicker Brücke.

Quelle: Josephine Eckert, 2022

Heute erinnern mehrere Denk- und Mahnmäler an die Geschichte der Brücke. Im November 1999 initiierte die Fördergemeinschaft »Lindenstraße 54« neben der Brücke die Aufstellung der Bronzeplastik Nike 89 des Bildhauers Wieland Förster. Die auf einer Granitsäule stehenden Skulptur, ein weiblicher Torso mit Beinen, wurde als Symbol des Sieges und des Friedens errichtet. Sie wurde zum zehnjährigen Jubiläum der Grenzöffnung dort aufgestellt und soll die leidvolle, aber hoffnungsvolle Geschichte des Ortes verdeutlichen.

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

Die Fördergemeinschaft setzte sich ebenfalls dafür ein, dass ein Stahlband mit der Aufschrift »Deutsche Teilung bis 1989« an der Grenzlinie auf dem Bürgersteig auf der Glienicker Brücke eingelassen wurde. Es wurde anlässlich des 51. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer eingeweiht Der Künstler und DDR-Bürgerrechtler Bob Bahra stellte sich dabei einen im Asphalt versunkenen eisernen Vorhang vor, inspiriert vom Null-Meridians in Greenwich (London). Außerdem weist ein weißer Markierungsstreifen aus Phosphorfarbe auf die Grenze hin und an dem nördlichen Zugang auf der Berliner Seite wurde eine Gedenktafel angebracht. Hier ist zu lesen: »Die von 1904 bis 1907 errichtete GLIENICKER BRÜCKE wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1949 als »Brücke der Einheit« wieder eröffnet. Die Machthaber der DDR, die ihr diesen Namen gaben, verhinderten jahrzehntelang die Einheit Deutschlands. Nach dem Mauerbau 1961 durfte die Brücke nur noch von alliierten Militärs und Diplomaten passiert werden. Durch die friedliche Revolution in der DDR ist die »Glienicker Brücke« seit dem 10. November 1989 wieder für jedermann offen.«

Eine Gedenkstele für Zwangsarbeiter auf einem Friedhof Ein vergleichsweise unbekannter Ort ist der Friedhof an der Goethestraße im Potsdamer Babelsberg, der 1881 errichtet wurde, als die Einwohnerzahl im Laufe des 19. Jahrhunderts im damaligen Nowawes immer stärker anstieg. Der Friedhof wurde 1931/32 nach Westen hin erweitert und ist geprägt durch einen alten, überwiegend aus Eichen bestehenden Baumbestand.Unter anderem ruhen hier der Schriftsteller und Wissenschaftspublizist Bruno-Hans-Bürgel (1875 – 1948), der Chemiker Prof. Dr. Max Volmer (1885 – 1965), der Theologe Dr. Theodor Hoppe (1846 – 1935), der Maler und Grafiker Prof. Werner Nerlich (1915 – 1999), die Schauspielerin Ilse Werner (1921 – 2005) und der Szenenund Bühnenbildner Prof. Alfred Hirschmeier (1931 – 1996).Außerdem wurde östlich im Friedhof eine Kriegsgräberanlage für gefallene deutsche Soldaten des ersten Weltkrieges errichtet. Eine weitere Kriegsgräberanlage im oberen westlichen Teil wird den Opfern eines Bombenangriffs im April 1945 während des Zweiten Weltkrieges und einzelnen gefallenen Soldaten gedacht. Außergewöhnlicher ist jedoch die Stele, die an die ausländischen Zwangsarbeiter:innen, welche während ihres erzwungenen Aufenthaltes in Potsdam-

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Babelsberg ums Leben kamen, erinnert.11 Insgesamt gab es in Potsdam rund 70 Zwangsarbeiterlager, von denen kaum noch Spuren in der Stadt zu finden sind. Auf einer der vier Seiten der Stele steht geschrieben: »Mit der Durchsetzung der nationalsozialistischen Expansionspolitik während des zweiten Weltkrieges wurde der deutschen Industrie der ungehinderte Zugriff auf ausländische Arbeitskräfte möglich die je nach ihrem Herkunftsland einem ausgeklügelten System von sonderrechtlichen Bestimmungen unterworfen waren mit denen ihre Rechte und Freiheiten beschnitten wurden in den PotsdamBabelsberger Betrieben mußten auf dem Höhepunkt des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte 1943/1944 etwa 7000 Frauen und Männer Zwangsarbeit leisten die meisten dieser Arbeitskräfte kamen aus Polen den Ländern der Sowjetunion Frankreich und den Niederlanden währende des Luftangriffes auf die Stadt Potsdam in der Nacht vom 14. April 1945 starben in Babelsberg:« Auf einer anderen Seite stehen dazu die Namen der 25 Zwangsarbeiter:innen und der Verweis auf acht unbekannte Menschen, die während des Luftangriffs in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 in der Stadt Potsdam ums Leben kamen. Die Stele ist vor allem deshalb außergewöhnlich, weil an die Zwangsarbeiter:innen individuell und nicht nur anonym gedacht wird und dies zusätzlich in direkter Nachbarschaft zum Gedenkzeichen an die gefallenen Soldaten und Zivilist:innen. Somit ist der Friedhof ein Ort der Begegnung und der Erinnerung an mehrere unterschiedliche Opfergruppen.

Schluss Der hier vorgestellte Rundgang beinhaltete auch noch weitere Orte, die in diesem Band in separaten Beiträgen behandelt werden. Dazu zählen der Hiroshima-Nagasaki-Platz, das Potsdamer Glockenspiel, die Gedenkstätten in der Leistikowstraße und in der Lindenstraße sowie der Willi-Frohwein-Platz. All diese Orte sind umkämpfte Erinnerungsorte. Sie bieten Anlass zur Diskussion

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Während der Zeit der Tagung war die Stele zur Restaurierung in einer Steinmetzwerkstatt und konnte daher nicht fotografiert werden.

Erinnerungs- und Gedenkorte in Potsdam – ein virtueller Stadtspaziergang

und zur Neubewertung. Daher werden die Erinnerungskonflikte um diese Orte, im Sinne der Einführung zu diesem Band, auch nicht als Problem, sondern als Chance für die Auseinandersetzung mit der Geschichte betrachtet.

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Autor:innenverzeichnis

Kolja Buchmeier (MA) ist wissenschaftlicher Volontär bei der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und leitete mit Sjoma Liederwald die Projektwerkstatt »Erinnerungswerkstatt. Die Zukunft der Gedenkkultur gestalten« an der Technischen Universität Berlin. Tobias Ebbrecht-Hartmann (Dr.) lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem und forscht zur Holocaustgeschichte in den digitalen Medien. Josephine Eckert studiert den Master Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Bereich Public History/Direktion und im Leibniz-Forschungsverbund »Historische Authentizität«. Insa Eschebach (Dr.) lehrt am Institut für Religionswissenschaften der Freien Universität Berlin und war bis 2020 Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück/ Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Fürstenberg an der Havel. Amélie zu Eulenburg (MA) leitet den Arbeitsbereich Gedenkstätten und Erinnerungskultur bei der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und war wissenschaftliche Mitarbeiterin und bis 2021 kommissarische Leiterin der Gedenkstätte Lindenstraße. Oliver Gaida (MA) ist Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert/Nationalsozialismus und engagiert sich im Paul-Singer-Verein für den Erhalt des Friedhofs der Märzgefallenen in Berlin.

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Konkurrenz um öffentliches Gedenken

Petra Haustein (Dr.) ist assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Sabine Hering (Prof. Dr.) ist Professorin i.R. für Gender, Wohlfahrtsgeschichte und Sozialpädagogik an der Universität Siegen, war Mitbegründerin des Archivs der deutschen Frauenbewegung in Kassel und Teil der Initiativgruppe »Frauenwahllokal« in Potsdam. Dominik Juhnke (MA) arbeitet als assoziierte Wissenschaftler am LeibnizZentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Leibniz-Forschungsverbund »Historische Authentizität«. Ronja Kuban studiert den Master Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft beim Forschungsverbund SED-Staat und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Arbeitsbereich Wissenschaft. Alexandra de León studiert den Master Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet in der Social Media Abteilung des DDR Museums in Berlin. Sjoma Liederwald (MA) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und leitete mit Kolja Buchmeier die Projektwerkstatt »Erinnerungswerkstatt. Die Zukunft der Gedenkkultur gestalten« an der Technischen Universität Berlin. Martin Sabrow (Prof. Dr.) war bis 2021 Leiter des Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Professor für Neuste und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Thomas Schaarschmidt (Prof. Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und lehrt an der Universität Potsdam. Nora Sternfeld (Prof. Dr.) ist Kuratorin und Professorin für Kunstpädagogik an der Hochschule für bildende Künste Hamburg.

Autor:innenverzeichnis

Miki Takimoto studiert den Master Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Kommunikations-Assistentin bei dem Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin. Norman Warnemünde (MA) ist Bildungsreferent in der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam. Nicolas Weicker studiert den Master Public History an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Werkstudent bei dem historischen Forschungsinstitut Facts & Files. Sarah Zalfen (Dr.) ist Referentin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg und Teil der Initiativgruppe »Frauenwahllokal« in Potsdam. Freya Ziegelitz (MA) studierte den Master Public History an der Freien Universität Berlin, studiert den Master Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin und führt als Guide Besuchsgruppen durch NS-Gedenkstätten. Irmgard Zündorf (Dr.) ist Leiterin des Bereichs Public History am LeibnizZentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und koordiniert den Masterstudiengang Public History an der Freien Universität Berlin.

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Geschichtswissenschaft Manuel Gogos

Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

Frank Jacob

Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2

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