Konfession, Politik und Gelehrsamkeit: Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit 3515116052, 9783515116053

Johann Gerhard ist einer der bedeutendsten lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts. Bekannt ist er vor allem aufgrun

120 16 1MB

German Pages 280 [282] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG: Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte
POLITISCHE NORMEN UND PRAXIS, POLITIKBERATUNG
Mathias Schmoeckel:
Ein Denker des Ausgleichs. Die Rechtslehre des Johann Gerhard
Georg Schmidt:
Johann Gerhard über Widerstand und den Prager Frieden
Siegrid Westphal:
Gerhards Tätigkeit als Superintendent und seine Visitationspraxis
Hendrikje Carius:
Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz. Aspekte des kommunikativen
Austausches zwischen Gerhard und Christine von Sachsen-Eisenach
RELIGIONS- UND KIRCHENPOLITIK
Ernst Koch:
Die politische Ethik Johann Gerhards und der theologischen Fakultät
Jena im Blick auf den Beginn des Dreißigjährigen Krieges
Joar Haga:
Gerhard (un)seen from Copenhagen? Danish Absolutism and
the Relation between State and Church
Patrizio Foresta:
Die ekklesiologische Auseinandersetzung zwischen Roberto Bellarmin
und Johann Gerhard anhand der Loci De ecclesia und De conciliis
THEOLOGIE, PHILOSOPHIE UND GELEHRTENKULTUR
Robert Kolb:
“A time of Shadows and Signs”. Johann Gerhardʼs Use of the
Old Testament in Early Homiletical and Devotional Writings
Stefan Michel: Johann Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk
Daniel Gehrt:
Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617 am Beispiel der ernestinischen
Herzogtümer. Formen, Kontexte und dynamische Prozesse
Ulman Weiß:
Beobachtungen zur Publizistik von Johann Gerhard
Sascha Salatowsky:
Rückkehr einer verfemten Disziplin. Gerhards Privatvorlesung zur
Metaphysik aus dem Jahre 1603/4
Recommend Papers

Konfession, Politik und Gelehrsamkeit: Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit
 3515116052, 9783515116053

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Konfession, Politik und Gelehrsamkeit Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit Herausgegeben von Markus Friedrich, Sascha Salatowsky und Luise Schorn-Schütte

Kulturwissenschaften Franz Steiner Verlag

Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit – 11

Markus Friedrich / Sascha Salatowsky / Luise Schorn-Schütte (Hg.) Konfession, Politik und Gelehrsamkeit

gothaer forschungen zur frühen neuzeit Herausgegeben vom Forschungszentrum und der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Schriftleitung: Martin Mulsow und Kathrin Paasch Band 11

Markus Friedrich / Sascha Salatowsky / Luise Schorn-Schütte (Hg.)

Konfession, Politik und Gelehrsamkeit Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11605-3 (Print) ISBN 978-3-515-11606-0 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte Einleitung ...........................................................................................................

7

POLITISCHE NORMEN UND PRAXIS, POLITIKBERATUNG Mathias Schmoeckel Ein Denker des Ausgleichs. Die Rechtslehre des Johann Gerhard .................... 19 Georg Schmidt Johann Gerhard über Widerstand und den Prager Frieden ................................ 37 Siegrid Westphal Gerhards Tätigkeit als Superintendent und seine Visitationspraxis .................. 51 Hendrikje Carius Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz. Aspekte des kommunikativen Austausches zwischen Gerhard und Christine von Sachsen-Eisenach ..... 69

RELIGIONS- UND KIRCHENPOLITIK Ernst Koch Die politische Ethik Johann Gerhards und der theologischen Fakultät Jena im Blick auf den Beginn des Dreißigjährigen Krieges .............................. 93 Joar Haga Gerhard (un)seen from Copenhagen? Danish Absolutism and the Relation between State and Church ............................................................. 113 Patrizio Foresta Die ekklesiologische Auseinandersetzung zwischen Roberto Bellarmin und Johann Gerhard anhand der Loci De ecclesia und De conciliis ................. 133

6

Inhaltsverzeichnis

THEOLOGIE, PHILOSOPHIE UND GELEHRTENKULTUR Robert Kolb “A time of Shadows and Signs”. Johann Gerhardʼs Use of the Old Testament in Early Homiletical and Devotional Writings........................... 147 Stefan Michel Johann Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk ..................................... 163 Daniel Gehrt Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617 am Beispiel der ernestinischen Herzogtümer. Formen, Kontexte und dynamische Prozesse .............. 177 Ulman Weiß Beobachtungen zur Publizistik von Johann Gerhard ......................................... 225 Sascha Salatowsky Rückkehr einer verfemten Disziplin. Gerhards Privatvorlesung zur Metaphysik aus dem Jahre 1603/4 ..................................................................... 261

EINLEITUNG Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte Johann Gerhard (1582–1637) ist einer der bedeutendsten lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts.1 Bekannt ist er vor allem aufgrund seines dogmatischen Hauptwerks Loci theologici, das in neun Bänden von 1610 bis 1622 in Jena erschien und eine umfangreiche Rezeption im Protestantismus, aber auch im Katholizismus erlebt hat. Es gilt als die umfassendste Dogmatik der lutherischen Orthodoxie. Darüber hinaus verfasste Gerhard zahlreiche Erbauungsbücher, die hohe Auflagen erzielten. Neben seiner Funktion als Professor der Theologie von 1616 bis zu seinem Tod in Jena wirkte er viele Jahre ferner als Prediger, Seelsorger sowie als Berater von Fürsten und Fürstinnen. Obgleich seine Bedeutung für die lutherische Orthodoxie in der Forschung unbestritten ist, sind zahlreiche Facetten seines Werkes bis heute jedoch nicht ausreichend untersucht. Dabei ist die Quellenlage für eine umfassende Erforschung von Leben und Werk des Gelehrten Gerhard als sehr gut zu bezeichnen. Die Forschungsbibliothek Gotha bewahrt seinen Nachlass sowie den seines Sohnes Johann Ernst Gerhard (1621–1668). Er setzt sich aus ihren Korrespondenzen, theologischen Werkmanuskripten, Lebensdokumenten sowie von ihnen angelegten Briefsammlungen des 16. Jahrhunderts, aber auch aus juristischen, medizinischen, philosophischen, philologischen, historischen und naturwissenschaftlichen Texten zusammen und bildet so eine einzigartige Quelle für die Rekonstruktion eines Gelehrtenlebens in der Frühen Neuzeit. Der über 200 Bände umfassende Nachlass gelangte zusammen mit dem Ankauf der über 6.000 Einzeltitel der Bibliotheca Gerhardina 1678 in die herzoglichen Sammlungen nach Gotha. Er wurde in den Jahren 2009 bis 2013 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts in der Forschungsbibliothek Gotha tiefenerschlossen und so erstmals der Wissenschaft in vollem Umfang online recherierbar zur Verfügung gestellt.2 Hinzu kommen die zahlreichen Neudrucke der Texte Johann 1

2

Zu Leben und Werk vgl. immer noch Erdmann Rudolph Fischer: Vita Iohannis Gerhardi quam e fidis monumentis, magna ex parte nondum antea editis, atque ex instructissima serenissimi Ducis Gothani Bibliotheca benignissime secum communicatis, luculenter copioseque exposuit […]. Leipzig 1723. Zwischenzeitlich liegt eine englische Übersetzung vor: The Life of John Gerhard. Translated by Richard J. Dinda and Elmer Hohle. Malone (Texas) 2001. Vgl. die Datenbank HANS (Handschriften, Autographen, Nachlässe, Sonderbestände) der Forschungsbibliothek Gotha unter http://hans.uni-erfurt.de/. Die Erschließung des GerhardNachlasses wird demnächst auch als gedruckter Katalog beim Harrassowitz Verlag erscheinen.

8

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

Gerhards, die von Johann Anselm Steiger seit einigen Jahren ediert werden.3 Und auch im englischsprachigen Raum gibt es Neuherausgaben seiner Schriften.4 Gleichwohl fehlen weiterhin umfassende Studien zum Werk des Gelehrten. Zudem wurde er bislang fast ausschließlich als Dogmatiker von der theologiehistorischen Forschung in den Blick genommen, wie die Studien von Bengt Hägglund und Reinhard Kirste zum Schriftverständnis, von Johannes Wallmann zum Theologiebegriff, von Konrad Stock zur Eschatologie, von Martin Honecker zum Kirchenrecht und Richard Schröder zur Christologie belegen.5 Selbst hier bleiben noch beträchtliche Lücken zu wesentlichen Bereichen der Dogmatik wie der Trinitäts- und Rechtfertigungslehre oder der Lehre von den guten Werken. Auch die mehrmals aufgelegte Schrift Methodus studii theologici von 1620, die als Leitfaden für das Theologiestudium diente,6 oder die bedeutende, mehrbändige Confessio Catholica (1634–1637), in der Gerhard die Richtigkeit der Lehren des Luthertums aus der Geschichte der Patristik gegen das zeitgenössische Papsttum belegte,7 müssen noch auf ihre Eigenarten hin untersucht und in den zeitgenössischen Kontext eingebettet werden. Überhaupt ist über die Rezeption von Gerhards Werk im Luthertum, aber auch bei den Katholiken und Reformierten wenig be3 4 5

6

7

Vgl. die von Johann Anselm Steiger herausgegebene Reihe Doctrina et Pietas. Zwischen Reformation und Aufklärung. Texte und Untersuchungen, die seit 1997 im Verlag frommannholzboog (Stuttgart-Bad Canstatt) erscheint. Vgl. jüngst Johann Gerhard: Sacred Meditations. Translated with a preface by William Pappilon. London 1801. Reprint 2011. Vgl. Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards: Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. Lund 1951. Reinhard Kirste: Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegriff bei Johann Gerhard in der Auseinandersetzung mit Robert Bellarmins Schriftverständnis. Göttingen 1976. Johannes Wallmann: Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt. Tübingen 1961. Konrad Stock: Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt. München 1971. Martin Honecker: Cura Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968. Richard Schröder: Johann Gerhards lutherische Christologie und die aristotelische Metaphysik. Tübingen 1983. Vgl. Johann Gerhard: Methodus studii theologici, publicis praelectionibus in Academia Jenensi Anno 1617. exposita. Jena (1620) 31654. Es handelt sich hierbei um eine der frühen Beschreibungen des Theologiestudiums aus der Feder eines Jenenser Theologen. Zu diesem Themenfeld vgl. die Studien von Marcel Nieden: „Rationes studii theologici. Über den bildungsgeschichtlichen Quellenwert der Anweisungen zum Theologiestudium“, in: Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (Hg.): Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. Tübingen 2006, S. 211–230. Ders.: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006. Vgl. Johann Gerhard: Confessionis Catholicae, in qua doctrina Catholica et Evangelica, quam Ecclesiae Augustanae Confessioni addictae profitentur, ex Romano-Catholicorum Scriptorum suffragiis confirmatur […] liber primus [–secundus]. Nürnberg 1634–1637. Quentin D. Stewart nennt diese Schrift „a massive and dispassionate work of Protestant polemics that reflected the detail of the age in which he [sc. Gerhard] lived – voluminous and ornate“ (Lutheran Patristic Catholicity. The Vincentian Canon and the Consensus Patrum in Lutheran Orthodoxy. Wien u.a. 2015, S. 136).

Einleitung

9

kannt. Die Frage, in welcher Weise er schulbildend gewirkt hat, kann bis jetzt nicht beantwortet werden. Nicht anders sieht es für die praktische Theologie aus. Vor einigen Jahren hat Johann Anselm Steiger zu Recht festgestellt, dass die „Tätigkeit Gerhards als Seelsorger, Erbauungsschriftsteller, Prediger, ja auch als Exeget, noch in keiner Weise umfassend und sachgerecht dargestellt worden (ist)“.8 Die Desiderata lassen sich auch auf andere Bereiche ausdehnen. So ist Gerhards Einfluss auf die Religions- und Kirchenpolitik in Thüringen und im Alten Reich kaum beleuchtet. Auch seine Schlüsselstellung innerhalb der europaweit ausstrahlenden nachreformatorischen politischen Theologie als breit rezipierter und vernetzter theologischer Politiktheoretiker und -berater für Fürsten, Fürstinnen sowie andere Obrigkeiten ist noch nicht genügend erforscht. An diesem Punkt setzte die interdisziplinäre Tagung „Konfession, Politik und Gelehrsamkeit: Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit“ an, die vom 5. bis 7. September 2013 in der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung durchgeführt wurde. Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis dieser Tagung, obgleich bedauerlicherweise nicht alle Vorträge für die Veröffentlichung aufgenommen werden konnten.9 Vor dem eben beschriebenen Hintergrund versucht der Band einen neuen Anstoß für die Erforschung der Person Gerhard und 8

9

Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 18. Steiger selbst beschreibt anschließend umfassend Gerhards Wirken als Seelsorger und Erbauungsschriftsteller. Vgl. ebd., S. 27–157. Vgl. hierzu auch ders.: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben: Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Leiden u.a. 2002. – Steigers Einschätzung gilt freilich nicht nur für Gerhard, sondern praktisch für die gesamte lutherische Orthodoxie, die seit längerem erneut ein Schattendasein in der Forschung fristet. Daran haben auch die zwischenzeitlich erfolgten Studien im Rahmen des Konfessionalisierungsparadigmas wenig geändert, obgleich es einen stark erweiterten Zugriff auf diese Bewegung mit sich brachte. Vgl. nur den Sammelband Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1992, der bezeichnenderweise nur noch wenige Beiträge zu rein dogmatischen oder frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekten, dagegen deutlich mehr Beiträge zu praktischen und lebensweltlichen Themen wie der Sozialethik und Kirchenzucht, dem Religionsbann, der Predigt und Kirchenpraxis in Bezug auf die Gebet- und Gesangbücher sowie schließlich der Kunst enthält. Leider verhinderte der viel zu frühe Tod von Merio Scattola (Padua), dass sein Vortrag zu „Gerhard und die Politica Christiana des frühen 17. Jahrhunderts“ in diesen Sammelband aufgenommen werden konnte. Er hatte in seinem Vortrag gezeigt, dass Gerhard nicht nur die Sonderstellung der Obrigkeit als eine Errungenschaft der Reformation anerkannt, sondern dieser damit zugleich auch das ius reformandi zugestanden habe. Merio Scattola arbeitete überzeugend den für das Luthertum auch in anderen Zusammenhängen charakteristischen Mittelweg heraus, der zwischen einem zu wenig an Obrigkeit im Katholizismus eines Roberto Bellarmin und Francisco Suárez (ganz im Sinne der päpstlichen plenitudo potestatis) und einem zu viel an Obrigkeit bei den Remonstranten rund um Jacobus Arminius (im Sinne eines absolutistisch-autokratischen Staates) zu vermitteln versucht habe. Gerhard habe daher sowohl theokratische wie monarchistische Tendenzen abgelehnt, stattdessen den Locus De magistratu politico als einen Fürstenspiegel zur Realisierung der einen umfassenden communitas christiana konzipiert.

10

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

seines umfassenden Werks mit besonderer Berücksichtigung seines handschriftlichen Nachlasses zu geben. Er konzentriert sich hierbei auf die drei Aspekte „Politische Normen und Praxis, Politikberatung“, „Religions- und Kirchenpolitik“ sowie „Philosophie, Theologie und Gelehrtenkultur“, wobei der erste und zweite Aspekt eng miteinander verbunden sind. Erstmals werden auf diese Weise der „politische“ Theologe Gerhard und seine zentralen Handlungsfelder sowie seine Religions- und Kirchenpolitik in den Blick genommen. Dabei stehen insbesondere die Interdependenzen zwischen Theologie, Politik und Gelehrtenkultur sowie ihre Verortung innerhalb der zeitgenössischen konfessionell-politischen Konfrontationen, der gelehrten, politischtheologischen Diskurse sowie der reichs- und territorial(-politischen) Rahmenbedingungen im Mittelpunkt. Auch wenn hierbei an bestehende Forschungen zum politischen Aristotelismus der Frühen Neuzeit10 – insbesondere zu den protestantischen Autoren Johannes Althusius (1563–1638),11 Henning Arnisaeus (1575– 1636)12 und Hermann Conring (1606–1681)13 – angeknüpft werden kann, so liegt bei Gerhard doch eine besondere Konstellation vor. Er hielt nicht nur in seiner Funktion als noch junger Hochschuldozent an der Artistenfakultät Disputationen zur Politik14 und verfasste später Traktate zu politischen und rechtlichen Fragen aus überwiegend theologischer Sicht, sondern war in späteren Jahren als Berater in politischen Angelegenheiten für das ernestinische Herzogtum Sachsen-Gotha und Sachsen-Weimar tätig. Hierüber sind wir durch einige Handschriften informiert, die sich im Bestand der Forschungsbibliothek Gotha befinden und hier erstmals mit berücksichtigt worden sind. Diese doppelte Sichtweise auf Gerhards politische Theorie und Praxis spiegeln die vier Beiträge der ersten Sektion „Politische Normen und Praxis, Politikberatung“ wider. Mathias Schmoeckel (Bonn) stellt in seinem Beitrag jene politisch-rechtlichen Schriften Gerhards vor, die dieser für die Discursus academici de iure publico des 10 Vgl. hierzu einleitend Horst Dreitzel: „Politische Philosophie des Aristotelismus“, in: Helmut Holzhey (Hg.): Grundrisse der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 4. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Erster Halbband. Hrsg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, S. 639–672. 11 Vgl. Otto Friedrich von Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. Breslau 1880. Emilio Bonfatti u.a. (Hg.): Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius. Wiesbaden 2002. Philipp A. Knöll: Staat und Kommunikation in der Politik des Johannes Althusius. Untersuchungen zur Politikwissenschaft in der Frühen Neuzeit. Berlin 2011. 12 Vgl. Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica“ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970. 13 Vgl. Horst Dreitzel: „Hermann Conring und die Politische Wissenschaft seiner Zeit“, in: Michael Stolleis (Hg.): Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983, S. 135–172. Michael Stolleis: „Machiavellismus und Staatsräson: Ein Beitrag zu Corings politischem Denken“, in: ebd., S. 173–199. 14 Vgl. Johann Gerhard: Centuria quaestionum politicarum. Cui adiuncta coronis, quae continet explicationem ζητήματος, an diversae religiones in bene constituta republica tolerandae. Jena 1604.

Einleitung

11

Jenaer Rechtsgelehrten Domenicus Arumaeus (1579–1637) beisteuerte, und vergleicht sie in einem zweiten Schritt mit den umfangreichen Ausführungen des Locus De magistratu politico im sechsten Band der Loci theologici von 1619. Dabei zeigt sich, dass Gerhard die Rechts- und Poltikgeschichte – auch die zeitgenössische eines Arnisaeus, Jean Bodin (1530–1596) und Justus Lipsius (1547–1606) – recht gut kannte. Gleichwohl hatte er seine Stärken nicht so sehr in der juristisch-politischen, sondern eher in der theologisch geprägten Argumentation über religiöse, obrigkeitliche und kirchenrechtliche Fragen.15 Gerhard kam hierbei immer wieder auf den für ihn zentralen Punkt einer guten Herrschaft, die vor allem zur Steigerung der Volksfrömmigkeit beitragen solle, und auf die für ihn nicht minder wichtige Frage der Duldung Andersgläubiger16 zurück. Georg Schmidt (Jena) beleuchtet in seinem Beitrag Gerhards Position zum Thema Widerstand im Allgemeinen sowie besonders im Blick auf den Prager Frieden von 1635. Als Anhänger Luthers sprach er sich dezidiert gegen Umsturzversuche aus und lehnte ein Widerstandsrecht der Untertanen gegen die Obrigkeit ab.17 Schmidt verortet Gerhard daher im Umfeld der Monarchomachen.18 So hat Gerhard im Zusammenhang mit dem Prager Frieden die Ansicht vertreten, dass ein unbilliger Friede allemal besser sei als ein gerechter Krieg.19 Für Georg Schmidt bestätigte Gerhard hiermit zumindest in theoretischer Hinsicht die „konservative“, ganz auf die Lehre des Neuen Testaments gestützte Grundhaltung des Luthertums, wonach die gottgegebene Ordnung – wie sie sinnbildlich in der DreiStände-Lehre zum Ausdruck kommt20 –, zu bewahren sei. 15 Hierzu bereits umfassend Martin Honecker: Cura Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968. 16 Zu Gerhards Toleranzkonzept vgl. jüngst auch Walter Sparn: „Religiöse Toleranz am Maß politischer Klugheit. Johann Gerhard und Theophil Lessing zur staatlichen Religionspolitik“, in: Sascha Salatowsky und Winfried Schröder (Hg.): Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2016, S. 39–57, hier: 42–48. 17 Zu Gerhards Position vgl. ferner Luise Schorn-Schütte: Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-theologische Sprachen im Europa der frühen Neuzeit. München 2015, S. 107–111. Zu den interkonfessionellen Debatten um das Widerstandsrecht Robert von Friedeburg: „Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit (1523–1668): Konfessionen, klassische Verfassungsvorbilder, Naturrecht, direkter Befehl Gottes, historische Rechte der Gemeinwesen“, in: Christoph Strohm und Heinrich de Wall (Hg.): Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Berlin 2009, S. 115–166. 18 Zu dieser politischen Richtung vgl. Horst Dreitzel: „Die Monarchomachen“, in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 4/1, S. 613–638. 19 Vgl. ferner Jörg Baur: „Die Leuchte Thüringens. Johann Gerhard (1582–1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges“, in: Lutherische Theologie und Kirche 12 (1988), S. 89–110. Neuabdruck in ders.: Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen. Tübingen 1993, S. 335–356, hier: 354–356. 20 Zur Darstellung dieser Lehre in Luthers Reformation vgl. im Einzelnen Oswald Beyer: „Natur und Institution. Luthers Dreiständelehre“, in: ZThK 81 (1984), S. 352–382. Peter Manns: „Zwei-Reiche-Lehre und Drei-Stände-Lehre“, in: Erwin Iserloh und Gerhard Müller (Hg.): Luther und die politische Welt. Stuttgart 1984, S. 3–26. Luise Schorn-Schütte: „Die DreiStände-Lehre im reformatorischen Umbruch“, in: Bernd Moeller (Hg.): Die frühe Reformati-

12

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

Einen unmittelbar praktischen Aspekt von Gerhards Tätigkeit als Superintendent von Heldburg beschreibt Siegrid Westphal (Osnabrück) in ihrem Beitrag zu dessen Visitationspraxis. Visitationen, seit den frühen 1520er Jahren in den lutherischen Territorien üblich, dienten vor allem der Überprüfung der kirchlichen, schulischen, aber auch sozialen Verhältnisse vor Ort und waren so ein wichtiger Teil der Herrschaftsstabilisierung, geschahen sie doch stets in enger Abstimmung mit der Obrigkeit. Siegrid Westphal verortet die Visitationspraxis in dem größeren Zusammenhang der Konfessionalisierung und kann so zeigen, wie Gerhard als Funktionsträger des landesherrlichen Kirchenregiments agierte. Deutlich wird jedoch auch, dass Gerhard sich zunehmend als ein Gelehrter verstand, der sich von dieser Aufgabe zu befreien versuchte. Er geriet so in einen gewissen Konflikt mit seinem Landesherrn, der ihn immer stärker in die Kirchenorganisation einzubinden gedachte und ihn 1615 sogar zum Generalsuperintendenten für Coburg ernannte. Die Schilderung der Umstände von Gerhards Berufung als Theologieprofessor noch im selben Jahr nach Jena belegt einmal mehr, dass er zwischenzeitlich zu einer exzeptionellen Figur des orthodoxen Luthertums geworden war. Wie tief und ernsthaft sich Gerhard seiner Funktion als Seelsorger, Gesprächspartner und Ratgeber verschrieb, belegt der Beitrag von Hendrikje Carius (Gotha), der sich mit der umfangreichen Korrespondenz zwischen Gerhard und der Herzogin Christine von Sachsen-Eisenach beschäftigt. Damit gerät die seit einigen Jahren verstärkt untersuchte Rolle der Herrschaftsträgerinnen der Frühen Neuzeit in den Blick, die sich auch aktiv in die Interaktion zwischen Hof und gelehrten Theologen einbrachten. Ein Paradebeispiel hierfür ist gerade Herzogin Christine, die mit Gerhard einen intensiven Austausch über theologische Probleme, insbesondere zum Abendmahl, führte, der zu dem von Gerhard bewusst nicht forcierten Übertritt der Herzogin vom reformierten zum lutherischen Glauben führte. Der Beitrag zeigt einen Gerhard, der sich vor allem seinem Gewissen verpflichtet fühlte und sich in diesem Zusammenhang sogar über eine Weisung seines Herzogs hinwegsetzte. Auch wenn diese Haltung gewiss nicht als Akt des Widerstands zu werten ist, so belegt sie doch eine aus Gerhards Sicht notwendige Distanz zwischen dem obrigkeitlichen und theologischen Stand. Jenseits des eben beschriebenen normativen Verhältnisses zwischen Kirche und Obrigkeit gestaltete sich die Religions- und Kirchenpolitik des Luthertums – und damit kommen wir zum zweiten Aspekt des Sammelbandes mit insgesamt drei Beiträgen – in der Praxis vielfältiger, auch was die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit und den anderen Konfessionen betraf. Es ist bekannt, dass Abraham Calov (1612–1688) die Religionspolitik des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688) scharf kritisierte, weil sie aus seiner Sicht zu einer „Aufsaugung des Kirchenwesens in den absolutistischen Staat“, so Johannes Wallmann, geführt habe.21 Gerhard hat solche Konflikte mit der Obrigkeit nicht aushalten müssen, on in Deutschland als Umbruch. Gütersloh 1998, S. 435–461. Neuabdruck in dies.: Perspectum. Ausgewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstages. Hrsg. von Anja Kürbis u.a. München 2014, S. 251–279. 21 Johannes Wallmann: „Abraham Calov – theologischer Widerpart der Religionspolitik des großen Kurfürsten“, in: Stefan Oehmig (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Re-

Einleitung

13

befand er sich doch im Kernland der Ernestiner, die sich als Sachwalter des Luthertums verstanden. Gleichwohl fiel es ihm sichtlich schwer, sich in politischmilitärische Händel hineinziehen zu lassen, die er nicht vollends überblicken konnte, wie Ernst Koch (Leipzig) in seinem Beitrag zeigt. So hat er in den gemeinsam mit den Kollegen der theologischen Fakultät in Jena verfassten Gutachten zu den gerade beginnenden politisch-militärischen Auseinandersetzungen im Jahre 1618/19, die in den Dreißigjährigen Krieg münden sollten, die Ansicht vertreten, im Zweifel keiner Kriegspartei beizutreten, sondern den „mittleren“ Weg der Neutralität zu wählen. Weder wollte er die Katholiken noch die Calvinisten in ihren politisch-militärischen Ambitionen unterstützen. Ernst Koch kann hierbei zeigen, wie bei Gerhard und seinen Kollegen nicht nur theologische Überzeugungen, sondern auch realpolitische Erwägungen und seelsorgerische Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung spielten. Die Theologie sollte nicht leichtfertig zum Steigbügelhalter einer falsch verstandenen expansionistischen Politik werden. Frieden war das Grundziel aller praktischen Bemühungen des lutherischen Theologen. Dem Verhältnis von Kirche und Staat ist auch der Beitrag von Joar Haga (Oslo) gewidmet. Gerhard dient hier als Ausgangspunkt eines Vergleichs zwischen dem Alten Reich und dem Königreich Dänemark-Norwegen, der einen wesentlichen Unterschied in der Auffassung des Staatsverständnisses ans Licht bringt. Während Gerhard in seinem umfangreichen Locus De ministerio ecclesiastico des 6. Bandes der Loci theologici die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der Obrigkeit betonte, sprach sich der Bischof von Kopenhagen, Hans Wandal (1624–1675), für das absolutistische Modell der Herrschaft aus, indem er die Übertragung der allumfassenden Rechte – auch der Verantwortung hinsichtlich der cura religionis – durch Gott an den König vom Alten Testament her begründete. Hier zeigt sich eine fundamentale Differenz im Kirchenverständnis der beiden lutherischen Theologen, die für die Ausprägung der beiden Varianten der Kirche als unabhängige Institution bzw. als Staatskirche verantwortlich gewesen ist. Einen ganz anderen Aspekt der Gerhardschen Kirchenpolitik beleuchtet Patrizio Foresta (Bologna) in seinem Beitrag zur Ekklesiologie. Dieser Locus markiert einen bleibenden Konflikt zwischen den Katholiken und Protestanten, der nicht ohne Grund zur Kirchenspaltung als Folge der Reformation geführt hat. Einer der prominentesten Gegner der Protestanten war hierbei immer wieder der Jesuit Roberto Bellarmin (1542–1621), der mit seinen Disputationes de controversiis (1586–1593) ein Standardwerk zur Polemik verfasst hatte, an dem sich auch formation. Weimar 1995, S. 303–311. Zitiert nach dem Neuabdruck in ders.: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze 3. Tübingen 2010, S. 338–347, hier: 341. Zur obrigkeitlichen Kritik vgl. ferner Luise Schorn-Schütte: „Obrigkeitskritik im Luthertum? Anlässe und Rechtfertigungsmuster im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert“, in: Michael Erbe u.a. (Hg.): Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Mannheim 1995, S. 253–270. Dies.: „Umstrittene Theologen. Die Rolle der Hofprediger zwischen Herrscherkritik und Seelsorge im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Matthias Meinhardt u.a. (Hg.): Religion Macht Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2014, S. 27–47.

14

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

Gerhard wiederholt abgearbeitet hat.22 Davon zeugt neben seinen Loci theologici auch die Disputationsreihe Bellarminus orthodoxias testis (1629–1633). Patrizio Foresta zeigt, wie Bellarmin nicht nur die katholische Kirche als hierarchisch strukturierte, sichtbare und vor allem rechtgläubige Kirche gegen protestantische Angriffe verteidigte, sondern auch den Konziliarismus zugunsten des Primats des Papstes ablehnte. Gerhard rekurrierte in seiner Antwort vor allem auf dem consensus quinquesaecularis, um die apostolische Kirche als die wahre Kirche zu erweisen, die bereits vor den Verfälschungen durch die katholische Kirche bestanden habe. Man merkt an diesem Punkt, dass die Kirchengeschichte hier immer noch als eine Verfallsgeschichte und nicht als eine historisch bedingte Ausprägung des Glaubens gedeutet wurde.23 Nicht zuletzt die Loci theologici beweisen Gerhards enorme, von der Antike bis in seine Gegenwart reichende Gelehrsamkeit in der Theologie, die inhaltlich alle ihre Bereiche, sowohl den theoretischen wie den praktischen, umfasste. Wie wenig hierbei das Zerrbild von der dogmatisch starren Theologie der lutherischen Orthodoxie zutrifft, wie es noch August Tholuck in seinen Schriften mit zum Teil wüsten Beschimpfungen gezeichnet hat,24 wird deutlich, wenn man Gerhards erbauliche Schriften in den Blick nimmt. Sie verbinden die Gelehrsamkeit mit einer tiefen Frömmigkeit, die jene von Winfried Zeller geprägte Formel einer „Frömmigkeitskrise“25 gerade in der lutherischen Orthodoxie als unhaltbar erweist.26 Robert Kolb (St. Louis, Missouri) beschreibt in seinem Beitrag – der zugleich die dritte und letzte Sektion zu Gerhard als Theologen, Philosophen und Gelehrten mit insgesamt fünf Beiträgen einleitet –, wie sehr der Erbauungsschriftsteller Gerhard alle seine diesbezüglichen Schriften auf Jesus Christus als den Kristalli-

22 Einen gewiss ungewöhnlichen Weg hat der Straßburger Theologe Johann Georg Dorsche (1597–1659) mit seinem Werk Thomas Aquinas dictus Doctor Angelicus exhibitus confessor veritatis evangelicae (1656) eingeschlagen, in dem er mit Thomas gegen Bellarmin in den wichtigsten Loci argumentierte. – Eine konfessionsübergreifende, theologische Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte von Bellarmins Disputationes de controversiis ist ein dringendes Desiderat der Forschung. 23 Vgl. hierzu ausführlich Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007. 24 Vgl. August Tholuck: Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlauf des 17. Jahrhunderts. Hamburg u.a. 1852. Gerhard fungierte hierbei freilich als rühmliche Ausnahme; ihn nannte Tholuck einen der „gelehrteste(n) unter den Theologen dieser Periode und durch seine Demuth und Bescheidenheit eine(n) der liebenswürdigsten“ (Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des dreißigjährigen Krieges. Berlin 1859, S. 177–197, hier: 177). Vgl. ferner ebd., S. 187. 25 Winfried Zeller: „Zum Begriff der ,Frömmigkeitskrise‘ in der Kirchengeschichte“, in: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Band 2. Marburg 1978, S. 1–13, hier: 7. 26 So bereits Walter Sparn: „Die Krise der Frömmigkeit und ihr theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum“, in: Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, S. 54–82.

Einleitung

15

sationspunkt der ganzen Bibel ausgerichtet habe.27 Gerhard übernahm hiermit die ganz traditionelle lutherische Lesart des Alten Testaments als „Zeichengeber“ für die Ankunft des Messsias, wie sie das Neue Testament dann verkündet hat. Im Wissen um die enorme Bedeutung der „richtigen“ Bibelexegese, für die er selbst zusammen mit vielen bedeutenden lutherischen Theologen harte Auseinandersetzungen insbesondere mit der katholischen Kirche führte,28 hat Gerhard in seiner deutschsprachigen Postilla von 1613 in kompakter Form die hermeneutischen Prinzipien seiner Bibelexegese benannt, die vor allem den modus catecheticus & modus mysticus zur Erbauung und Stärkung der Gläubigen umfassen. Hieraus ergibt sich, wie Robert Kolb zeigt, die eminent praktische Ausrichtung der Erbauungsschriften Gerhards, die an die von ihm mitgeprägte Bestimmung der Theologie als einer der Medizin (und eben nicht der Ethik) analogen Disziplin erinnert.29 27 Zum Prinzip der imitatio Christi bei Gerhard vgl. auch Thomas Illg: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011, S. 229–239. 28 Bekanntlich hat Gerhard in die zweite Auflage des ersten Bandes seiner Loci theologici den erstmals 1610 veröffentlichten Tractatus de legitima scripturae interpretatione in leicht überarbeiteter Weise integriert, um den von katholischer Seite, zuletzt von Roberto Bellarmin, immer wieder geäußerten Ansichten, die Bibel sei dunkel, noch deutlicher entgegenzutreten. Vgl. Gerhard: Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione (1610). Lateinisch – deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Vanessa von der Lieth. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 8–382. Ders.: Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicatorum tomus primus. Jena 1615, S. 78–188. Zu Gerhards Hermeneutik vgl. Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift. Reinhard Kirste: Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift. Zu den theoretischen Grundlagen der Bibelexegese der lutherischen Orthodoxie vgl. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung. Teil I. Gütersloh 1964, S. 71– 132. Johann Anselm Steiger: Philologia sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Neukirchen-Vluyn 2011. Zu einzelnen lutherischen Theologen vgl. Volker Jung: Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov. Stuttgart 1999. Michael Coors: Scriptura efficax. Die biblischdogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift. Göttingen 2011. 29 Vgl. hierzu bereits die Vorrede Gerhards in: Quinquaquinta meditationes sacrae ad veram pietatem excitandam & interioris hominis profectum promovendum accomodatae. Jena 1606. Zitiert nach dem Neuabdruck in ders.: Meditationes sacrae (1606/7). Lateinisch–deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, hier: Teilband 1, Praef., S. 13f.: „Qui Theologiam Medicinae conferunt, & multi sunt, & rem recte explicare videntur. Ut enim duplex Medinae finis, sanitatem in corpore humano conservare, eandemque amissam cuperare: ita Theologia, quoad animae morbos, eodem modo duplicem agnoscit finem, ostendit namque, non solum quomodo a peccatis liberemur, sed etiam quomodo in gratia conservemur.“ Zur deutschen Übersetzung vgl. Teilband 2, Vorrede, S. 351. Zum historischen Zusammenhang dieses Vergleichs von Theologie und Medizin bei Gerhard vgl. Wallmann: Der Theologiebegriff bei Gerhard, S. 50–53. Ernst Koch: „Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606)“, in: PuN 13 (1987), S. 25–46, hier: 45f. Für eine breitere Diskussion im Luthertum vgl. Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie: Christus medicus und theo-

16

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

Wie wichtig Gerhard eine Verbreitung der „frohen Botschaft“ des Neuen Testaments war, belegt auch seine umfassende Mitwirkung am sogenannten Ernestinischen Bibelwerk, das freilich erst nach Gerhards Tod 1641 erscheinen konnte. Anhand neuer Fundstücke im Gerhard-Nachlass sowie im Thüringischen Staatsarchiv Gotha zeigt Stefan Michel (Leipzig), dass Gerhard bereits an den Planungen des Großprojekts beteiligt war, das insbesondere von dem späteren Herzog Ernst I. (1601–1675) von Sachsen-Gotha zur Stärkung der Frömmigkeit in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gefordert und gefördert wurde. Gerhard sorgte nicht nur für die Organisation des Projekts, sondern führte auch die Korrekturgänge durch und kommentierte selbst die wichtigen Bücher Genesis, Daniel und Johannesoffenbarung. Gerade die redaktionelle Mitarbeit an dieser Edition belegt auch hier die führende Stellung Gerhards als Theologe im Thüringer Raum und weit darüber hinaus. Dies ergibt sich auch aus den Betrachtungen von Ulmann Weiß (Erfurt) zur Publizistik Gerhards, die im Laufe dieses nicht einmal besonders langen Lebens einen enormen Umfang angenommen hat.30 Erstmals werden hier Gerhards Publikationen im Blick auf Übersetzungen, Widmungen, Vorreden, „Auftragswerke“ sowie Drucker und Verleger beschrieben. Es zeigt sich, dass Gerhard mit den Widmungen seiner Schriften an die politische Obrigkeit eher zurückhaltend war, sie lieber mit ihm nahe stehenden Personen verband. Viele seiner Schriften, insbesondere die erbaulichen, aber doch auch seine dogmatischen, verkauften sich gut, so dass sie von den Verlegern gerne ins Programm aufgenommen worden sind. Auch Übersetzungen ins Deutsche oder in andere europäische Landessprachen belegen die Attraktivität seiner Schriften. Nach Arndts Paradiesgärtlein düften die Meditationes sacrae die erfolgreichste Erbauungsschrift des Luthertums sein. Daniel Gehrt (Gotha) beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den akademischen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Reformation 1617 an der Universität Jena sowie an den Gymnasien in Altenburg, Coburg, Gotha und Weimar in Thüringen. Dabei stützt er sich weniger auf die öffentlichen Kirchenpredigten bzw. landesherrlichen Verordnungen, die zumeist im Mittelpunkt der bisherigen Studien – und dann mit einem Fokus auf Wittenberg – standen, als vielmehr auf die akademischen Reden und Disputationen bzw. auf die eher aus privater Motivation verfassten Gelegenheitsschriften sowie historiographischen Arbeiten. Alle diese Dokumente geben rund um die Feierlichkeiten einen tiefen Einblick in die lutherische Memorialkultur eines Gebietes, das nach dem Verlust der Kurwürde von 1547 zum ernestinischen Kernland wurde. Insbesondere die Salana wurde zum Leuchttum des „gnesiolutherischen“ Glaubens ausgebaut – natürlich logia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit; mit Edition dreier Quellentexte. Leiden u.a. 2005. Sascha Salatowsky: „Dic cur hic? Die philosophische Ethik der Lutheraner im frühen 17. Jahrhundert“, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 11 (2006), S. 103–158, hier: 145–147. 30 Vgl. hierzu vor allem die Bibliographia Gerhardina, 1601–2002. Verzeichnis der Druckschriften Johann Gerhards (1582–1637) sowie ihrer Neuausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen. Bearbeitet und herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Peter Fiers. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.

Einleitung

17

in Abgrenzung zum „philippistisch“ geprägten Wittenberg. Daniel Gehrt kann zeigen, wie die Streitfrage De vocatione Lutheri insbesondere bei Johann Gerhard zu dem intensiven Bemühen führte, historische und biblische Belege für die Weissagung auf Luther zu finden, auch wenn er ihn gerade nicht als einen Apostel stilisierte, der eine direkte göttliche Offenbarung empfangen habe. Gerhard stieß damit eine Entwicklung an, die nachfolgend zu einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber einer möglichen problematischen Überhöhung Luthers im Sinne einer biblischen Lichtgestalt führte. Eine Hagiographie nach katholischer Art konnte nicht das Ziel sein. Einen weiteren Aspekt von Gerhards Gelehrtenleben beleuchtet der Beitrag von Sascha Salatowsky (Gotha), der sich mit dessen früher, nur als Handschrift überlieferter Privatvorlesung zur Metaphysik von 1603/4 beschäftigt. Damit wird der Blick auf ein weiteres Desiderat der Gerhard-Forschung gelenkt, nämlich auf seine Philosophie, mit der er den damaligen Gepflogenheiten folgend sein Studium begann und die er selbst eine Zeit lang in Jena als Adjunkt der philosophischen Fakultät unterrichtet hat.31 Die Philosophie blieb bei Gerhard wie überhaupt im Luthertum streng an ihre Funktion als ancilla theologiae gebunden, um ihre rein instrumentelle Verwendbarkeit in theologischen Zusammenhängen sicherzustellen.32 Keinesfalls durfte sich die Philosophie eine Deutungsmacht in den res sacrae anmaßen. Dies galt besonders für die Realwissenschaft der Metaphysik, deren Wiederkehr am Ende des 16. Jahrhunderts nach Walter Sparn einen der „erstaunlichsten Vorgänge in der Geschichte der protestantischen Universitäten“33 markiert. Gerhards Vorlesung zur Metaphysik ist ein frühes Beispiel dieser Rückkehr. Sascha Salatowsky stellt zum ersten Mal ihre wesentlichen Inhalte dar und ordnet sie in den zeitgenössischen Kontext ein. Wie eingangs erwähnt, kann der Sammelband nicht alle Desiderata der Gerhard-Forschung beseitigen. Sein Ziel wäre erreicht, wenn er neue Anstöße liefert für eine weitergehende Beschäftigung mit einem Werk, das für die weitere Entwicklung der lutherischen Orthodoxie prägend sein sollte. Für ein Gesamtverständnis dieser Bewegung wird man jedenfalls an Gerhards Schriften nicht vorbeikommen.

31 Hierzu sind vor allem seine beiden frühen Disputationen, die er noch als Respondent in Wittenberg hielt, zu rechnen. Vgl. im Einzelnen: Jakob Cocus (Präs.) und Johann Gerhard (Reps.): Pro disputatione Physices, de motu, infinito, et vacuo. Wittenberg 1601. Tobias Tandler (Präs.) und Johann Gerhard (Resp.): Disputatio VII. De facultatibus animae in genere. Wittenberg 1601. Bereits in Jena führte Gerhard als Präses die Disputationen De philosophiae constitutione (Jena 1603) und Theoremata de praedicabilibus in genere et specie (Jena 1603) und vor allem die zehn Disputationen umfassende Reihe Centuria quaestionum politicarum (Jena 1604) durch. 32 Zu diesem Themenkomplex vgl. z.B. Gerhard: Methodus, p. II, s. II, c. I, S. 89–131, der ausführlich über den usus & abusus philosophiae in theologia handelte, einem klassischen Topos jeder Einführung in die Philosophie oder Theologie dieser Zeit. Zum Zusammenhang Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, S. 14–16. 33 Sparn: Wiederkehr der Metaphysik, S. 5.

18

Markus Friedrich, Sascha Salatowsky, Luise Schorn-Schütte

Der Sammelband ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Ausbaus der Forschungsbibliothek Gotha zu einer „Forschungs- und Studienstätte für die Kulturgeschichte des Protestantismus in der Frühen Neuzeit“ entstanden. Die Herausgeber bedanken sich bei der Forschungsbibliothek Gotha für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung. Zu großem Dank verpflichtet sind wir auch Anne-Marie Düfert, Louisa-Dorothea Gehrke und Helene Jung für die redaktionelle Unterstützung bei der Herstellung des Sammelbandes. Die Herausgeber Gotha, Hamburg und Frankfurt am Main im September 2016

EIN DENKER DES AUSGLEICHS Die Rechtslehre des Johann Gerhard Mathias Schmoeckel 1. JOHANN GERHARD UND DOMENICUS ARUMAEUS IM KONTEXT Man kann sich den Vorstellungen Johann Gerhards zu Staat und Recht von zwei Seiten nähern. Zum einen gibt es nicht wenige Beiträge von ihm in Domenicus Arumaeus’ (1579–1637) Discursus academici de iure publico, die dieser zwischen 1615 und 1623 publizierte. Zum anderen finden sich umfangreiche Ausführungen in seinen Loci theologici, darunter allein fast 300 Seiten zu „De magistratu politico“.1 Beide Passagen zeigen Johann Gerhard jeweils in einem unterschiedlichen Kontext. So verweist bereits der Titel der Loci theologici auf das Vorbild Melanchthons, und wie bei ihm waren daher hier Ausführungen zu Gesetz und Obrigkeit angezeigt. Im Werk des Arumaeus zeigt sich Gerhard dagegen im Kontext der Universität zu Jena und der Weimarer Politik. Die Discursus academici, so verstehe ich sie, stellen den Beitrag von Arumaeus und weiterer Kollegen seines Umkreises dar, die Politik der Weimarer Herzöge zu unterstützen.2 Schon seit der Zeit der Reformation war den Wettinern die Nützlichkeit einer Universität zur Unterstützung der eigenen Herrschaft besonders im Gefüge des Reichs deutlich geworden. Daher sorgten die Ernestiner nach dem Verlust von Wittenberg auch in Jena für Ersatz. Arumaeus’ Ansatz lag nun darin, mit dem ius publicum einen abstrakten Diskussionsrahmen zu schaffen, der die Interessen der Weimarer Herzöge in besonderer Weise schützte. Der große Vorzug der Argumentation mit dem ius publicum lag dabei in der Unabhängigkeit von der konfessionell gespaltenen Theologie und in der nie hinterfragten Unterstellung, man könne wie im römischen Recht gleichsam allein aufgrund wissenschaft1

2

Vgl. Bibliographia Gerhardina, 1601–2002. Verzeichnis der Druckschriften Johann Gerhards (1582–1637) sowie ihrer Neuausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen. Bearbeitet und herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Peter Fiers. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, Nr.80.6. Dieser sechste Band der Loci wurde erstmals publiziert 1619. Vgl. Mathias Schmoeckel: „Dominik Arumaeus und der Beginn des öffentlichen Rechts in Jena“, in: Robert von Friedeburg und Mathias Schmoeckel (Hg.): Konfessionelle Einflüsse auf Rechts- und Staatslehren des 17. Jahrhunderts im Vergleich. Berlin 2014, S. 85–127, dort auch mit weiteren Verweisen auf die Literatur zu Arumaeus und das geistige Umfeld. Zum politischen Kontext Georg Schmidt: „,Absolutes Dominat‘ oder ,deutsche Freiheit‘. Der Kampf um die Reichsverfassung zwischen Prager und Westfälischem Frieden“, in: Richard von Friedeburg (Hg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich. Berlin 2001, S. 265–284.

20

Mathias Schmoeckel

licher Argumentation zu Lösungen kommen, die „gerecht“ und unpolitischer Natur seien. Auf diese Weise wurde das Gefüge des Reichs, ohne das der Herzog nur ein unbedeutender Territorialherr eines eher kleinen Ländchens gewesen wäre, nicht in Frage gestellt. Dem Kaiser wurde dagegen damit vorgegeben, die hergebrachten Grundsätze des Reichs als leges fundamentales zu achten und ebenso die Wahlversprechen der Wahlkapitulationen befolgen zu müssen. Ebenso konnte sich der Herzog von Weimar einerseits gegen Übergriffe starker Reichsfürsten, z.B. der albertinischen Cousins, mit Hilfe des „Rechts“ wehren. Andererseits konnte er im Zusammenwirken mit anderen Reichsfürsten den Rahmen für legitime Tätigkeiten von Kaiser und Reichsständen schaffen. Schließlich bot das ius publicum die Möglichkeit, die Herrschaft im Territorium gegenüber den Untertanen theoretisch auszugestalten. Arumaeus gilt seit seinen Nachrufen weithin als Begründer des öffentlichen Rechts als Lehrfach.3 Natürlich schuf er nicht den Begriff des ius publicum, den es seit der Antike gab für jene Rechtsfragen, welche das Interesse der Öffentlichkeit tangierten.4 Er entwickelte ebenso wenig die Themen, die dem ius publicum zugeordnet wurden. Oft handelte es sich dabei um alte Rechtsfragen, etwa de iurisdictione, die in Verbindung mit der Ausübung von Hoheitsgewalt standen oder heute dem Völkerrecht zugeschlagen werden. Die fünf Bände der Discursus academici de iure publico leisteten damit die Entwicklung eines Lehrfachs und Argumentationsfeldes, das neben das ius civile gestellt wurde. Arumaeus war weder der erste Autor der Materie noch leisteten seine Sammelbände Unerhörtes. Doch im Vergleich zu den zeitgenössischen Ansätzen war seine fünfbändige Sammlung besonders praktisch und umfassend. Ihr professioneller juristischer Stil half bei der Verbreitung des Werks sowie des neuen Rechtsgebiets und half damit, das neue Lehrfach zu etablieren.5 Den lutherischen Kontext bei dieser Entstehung zeigte schon Michael Stolleis auf.6 Christoph Strohm betonte daneben noch das Wirken reformierter Autoren.7 Allerdings verlor sich bald der konfessionelle Rahmen des neuen Rechtsgebiets. Dies ging umso leichter, als katholische Schüler der Jenenser Fakultät ohne Verzögerung die Vorzüge der Argumentation auch für ihre Territorialherren erkannten und 3 4

5 6 7

So seit Hermann Conring: „Dissertatio de republica Imperii Germanici communi“ (1652), in: Ders., Operum tomus II. […] continens varia scripta ad historiam, prudentiam civilem, et ius publicum. Hg. v. Johann Wilhelm Goebel. Braunschweig 1730, S. 11f. Vgl. Inst. 1.1.1.4: „publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad singulorum utilitatem pertient.“ Dig. 1.1.1.2: „publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem: sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim. Publicum ius in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus constitit.“ Vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1. Reichspublizitistik und Policeywissenschaft: 1600–1800. München 1988, S. 214f. Vgl. Stolleis: Geschichte, Bd. 1, S. 141; ebenso Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica“ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970, S. 368 und 387. Vgl. Christoph Strohm: Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2008, S. 315–438.

Ein Denker des Ausgleichs

21

umsetzten. Ein konfessioneller Vorbehalt gegenüber dieser protestantischen Erfindung blieb allerding erhalten und zeigt sich vor allem in der Skepsis des Heiligen Stuhls, der diese Werke auf den Index librorum prohibitorum stellte. Arumaeus war nicht der alleinige Autor der Discursus academici bzw. nur zum Teil. Er verstand es jedoch, sowohl seine Kollegen als auch Schüler dazu zu bewegen, passende Abhandlungen zur Verfügung zu stellen. So ist dieses work in progress nach 1615 vor allem als Gemeinschaftsleistung der Salana unter der Leitung von Arumaeus als spiritus rector zu verstehen. 2. FRAGESTELLUNG So offensichtlich die juristische Leistung der Discursus academici ist, so wenig leuchtet die Beteiligung eines Theologen ein. War es nur eine Verlegenheitslösung, um die Bände zu füllen, oder gab es inhaltliche Gründe für Johann Gerhard, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen? Welchen Beitrag konnte er zu der Entstehung dieser neuen juristischen Materie geben? Dabei sind zum einen die Rechtsfragen interessant sowie Gerhards dazugehörige Antworten. Sie geben Auskunft über inhaltliche Prägungen, die Gerhard der neuen Materie geben will. Ebenso aufschlussreich ist aber auch der Argumentationsstil der Beiträge, zumal in den Loci theologici die gleichen Fragen abgehandelt werden. Johann Gerhards Beitrag zur Rechts- und Staatslehre wurde bisher nur selten analysiert.8 Robert v. Friedeburg, Michael Stolleis und Horst Dreitzel verweisen nur gelegentlich auf ihn,9 ebenso Merio Scattola.10 Man erkennt daran, dass Gerhard sicherlich als Theologe von überragender Bedeutung war und so im Gedächtnis geblieben ist, jedoch nicht zu den Autoren gehört, die bisher als Klassiker der Staats- und Rechtslehre des 17. Jahrhunderts angesehen werden. Die letzte größere Auseinandersetzung mit Gerhard im juristischen Kontext stammt von Martin Honecker,11 der sich besonders der Kirchenordnung widmete, für die nach lutherischem Verständnis die Obrigkeit allerdings eine zentrale Rolle spielte. 8

Auf die theologische bzw. kirchengeschichtliche Literatur soll hier wegen des thematischen Fokus nicht näher eingegangen werden, vgl. nur zuletzt zur Theologie der lutherischen Orthodoxie Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997; ders., „Johann Gerhard. Ein Kirchenvater der lutherischen Orthodoxie“, in: Peter Walter und Martin H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Darmstadt 2003, S. 54–69. 9 Vgl. Robert v. Friedeburg: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669. Berlin 1999, S. 84; Stolleis: Geschichte. Bd. 1, S. 111. 10 Vgl. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 68, Anm. 154; nicht bei Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus. 11 Vgl. Martin Honecker: Cura Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968. Nur zur

22

Mathias Schmoeckel

In Abgrenzung zu dieser älteren Literatur soll es hier um die Beiträge Gerhards vor allen in Arumaeus’ Discursus academici gehen (dazu 3.). Erst danach sollen die Ergebnisse kurz mit den Auffassungen der Loci verglichen werden (dazu 4.). Zunächst geht es dabei um inhaltliche Fragen, also zu welchen Problemen Gerhard Stellung nahm, welche Position er dazu bezog. Danach soll der Stil seiner Argumentation dargestellt werden. Der Vergleich mit den Loci theologici macht dann deutlich, wie sich die Darstellungen Gerhards in den verschiedenen Kontexten unterscheiden bzw. was die besondere Färbung der beiden Herangehensweisen ausmacht. 3. THEMEN UND POSITIONEN VON JOHANN GERHARD IN DEN „DISCURSUS ACADEMICI“ I. Überblick nach Aufsätzen und Themen Beiträge von Gerhard finden sich im vierten Band der Discursus academici. Diese sind nicht thematisch geordnet, sondern enthalten scheinbar eher all jenes, was Arumaeus in die Hände geriet und brauchbar erschien. Umfang, Diskussionsstil und sogar die Sprache der discursus unterscheiden sich, zumal gerade Gerhard zwei größere deutschsprachige Werke beisteuerte. Gerhards Beiträge bilden nicht einmal einen einheitlichen Block. Eine Argumentationslinie in der Reihenfolge der Publikation ist nicht erkennbar. Im Einzelnen steuerte Johann Gerhard die folgenden Beiträge bei:12 -

Disc. 6, S. 20v–31v: De Corrupto Rei monetariae statu? Disc. 7, S. 32r–39r, ein Beitrag ohne Titel, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Regeln für einen Staat gut sind. Disc. 8, S. 39v–40r: An electio, an vero succeßio praeferenda? Disc. 9, S. 40v–41r: An Princeps legibus solutus? Disc. 10, S. 41v–43r: Quibus studiis Principem potißimum deditum esse oporteat? Disc. 11, S. 43r–43v: An Legati mandati fines transgredi liceat? Disc. 12, S. 44r–44v: An Legati munera accipere poßint? Disc. 13, S. 45r–46v: An ferendae in Rebusp. Christianis Judaeorum Synagogae? Disc. 14, S. 47r–48r: An fines Imperii bello ampliandi? Disc. 15, S. 48v–49r: An licitum subditis religionis causa a Rege deficere ac contra eum arma capere? Disc. 18, S. 73r–89r: Ob alle und jede Unterthanen in einer jedwedern Policey irer von Gott ihnen vorgesetzten Obrigkeit ohne unterscheidt also zum Gehorsam obligiret, daß sie wider dieselbe in einem Tyrannischen vornehmen und Bedrängung/ in Religions Sachen ohne Verletzung ihrer Gewissen zu keinem Defensions Mitteln schreiten können?

hier nicht weiter relevanten Beziehung zur kirchenrechtlichen Praxis vgl. Johann Anselm Steiger: „Kirchenordnung, Visitation und Alltag. Johann Gerhard (1582–1637) als Visitator und kirchenordnender Theologe“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 55 (2003), S. 227–252. 12 Die Angaben beziehen sich auf Dominicus Arumaeus: Discursuum academicorum de jure publico […]. Volumen quartum. Jena 1623; verzeichnet ebenfalls – bis auf Disc. acad. 18 – bei Steiger: Bibliographia Gerhardina, Nr. 332.

Ein Denker des Ausgleichs -

23

Nicht von Gerhard namentlich gezeichnet ist der Discursus 38 (S. 158r–192v) Rathsames/ Schrifftmässiges /außführliches Bedencken/ Von dem Hochsträfflichen Müntzunvesen/ so jetzt eine Zeit hero hin unnd wieder verübet worden ist/ Auff Einhellige Meynung und Beliebnüß vieler und vornehmer Theologorum Durch die Theologische Facultet zu Jena gestellet.

Natürlich umfasste die theologische Fakultät mehr Mitglieder als nur Gerhard, deren Werke für Arumaeus praktikabel hätten seien können. Doch könnte man aufgrund Gerhards einflussreicher Stellung vermuten, dass dessen Renommee helfen sollte, das Publikationsprojekt durchzusetzen. Gerhard selbst hatte sich schon mit einigen Fragen beschäftigt, etwa dem Münzrecht. Insoweit fiel es ihm leicht, sich anzuschließen. Der erste Beitrag Gerhards gilt der sehr speziellen Frage zum Münzrecht. Das Thema ist sicherlich wichtig für eine gesunde Wirtschaft, jedoch als Materie des Straf- und Geldrechts scheinbar weit entfernt von der Theologie. Danach schließt sich eine Beschäftigung übr die Grundlegung des Staates an. Kurze Beiträge gelten dann der Frage, ob ein Fürst gewählt werden soll, ob er wirklich über dem Recht stehe, also legibus solutus sei, und welche Ausbildung ein Fürst erhalten solle. Diese eher allgemeinen Fragen liegen theologischen Fragestellungen durchaus näher. Drei heute als völkerrechtlich qualifizierte Fragen schließlich sich an, die durchaus von unterschiedlicher Tragweite und Aussagekraft sind. Gerhard beschäftigte sich mit der Frage, ob Gesandte die Grenzen überschreiten und Abgaben (munera) in Empfang nehmen dürfen. Viel grundlegender ist dagegen die Frage, ob sich das Reich mit den Mitteln des Kriegs erweitern darf. Mit den staatskirchenrechtlichen Fragen aus heutiger Perspektive und damit viel eher für einen Theologen geeignet erscheint dann die Beschäftigung mit dem Recht der Juden, sich Synagogen errichten zu dürfen. Noch grundsätzlicher ist die Frage, ob sich Untertanen gegen einen ungläubigen Herrn auflehnen dürfen. Vom Umfang der bedeutendste Beitrag gilt demselben Thema, dieses Mal aus der Perspektive der Untertanen. Gerhard stellt die Frage, wie weit der Gehorsam der Untertanen gegenüber einem Herrn anderer Religion reichen darf. Der Überblick zeigt Themen auf, die der Religion nahe stehen bzw. durchaus Klärungen aus der Perspektive dieses Fachs erfordern. Gleichzeitig widmete sich Gerhard jedoch auch ganz speziellen Rechtsfragen wie etwa dem Münzwesen. Obgleich sich auch diese Materien einer moraltheologischen Betrachtung öffnen, sind sie viel technischer und spezieller und wirken als Themen eines Theologen eher überraschend. II. Inhaltliche Positionen Hinsichtlich des Münzrechts führte Gerhard mit einer Einleitung zu Midas aus, dass es sich um das Vorrecht des Fürsten (princeps) handele. Im Fall der Fäl-

24

Mathias Schmoeckel

schung müsse mit Härte gegen die Verbrecher vorgegangen werden.13 Die Sicherheit der Währung diene dem Wohl der Respublica, welches das oberste Gesetz darstelle. Man dürfe die Währung nicht zum privaten Wohl (privatum commodum) missbrauchen.14 In seiner Zeit der „Kipper und Wipper“15 stellte dies eine reelle Gefahr dar. Der Begriff princeps lässt offen, ob Gerhard den Kaiser oder den Territorialherrn meinte. Ganz offensichtlich ging er aber von den bestehenden Münzrechten insbesondere der Kurfürsten nach der Goldenen Bulle aus und verwies auf den Landgrafen von Hessen, welcher sein Münzrecht usurpiert haben sollte. Gerhard nannte konkret gebräuchliche Münzen, besonders den berühmten Joachimst(h)aler der Grafen Schlick, so dass er offensichtlich das in der Praxis bestehende Münzrecht meinte. Seine Argumentation stärkte die Fürsten, die ihr Prägerecht letztlich zur Sicherstellung einer gesunden Wirtschaft ausübten. Bei den allgemein notwendigen Eigenschaften des Staates nannte Gerhard zunächst die Pflege der Religion, der pietas, der Gottesfurcht sowie von Frieden und Eintracht.16 Verschiedene Religionen dürften daher nicht nebeneinander toleriert werden, sonst entstünden Kämpfe.17 Der Vertrag von Passau von 1552 wird dann zum Angelpunkt seiner Argumentation. Mit diesem Vertrag habe sich das Reich endgültig für das Nebeneinander der beiden Konfessionen entschieden. An den Wirkungen für die Befriedung des Reichs18 und der Familien, in denen verschiedene Konfessionen nebeneinander gelebt werden, wird der heilsame Einfluss des Vertrags vorgeführt. Das Mosaische Recht müsse insgesamt gemildert werden und könne nicht unmittelbar gegen Straftäter auch in Religionssachen angewandt werden.19 Die Todesstrafe sei zudem inzwischen ungebräuchlich.20 Im Ergebnis plädierte Gerhard also dafür, die Angehörigen der anderen Religion zu dulden, sofern sie nicht subversiv für ihre Religion werben.21 Zur Bestimmung des Nachfolgers eines Fürsten hielt Gerhard die Wahl für geeignet. Man folge besser der virtus als der Natur.22 Er präzisierte dann jedoch, dass dies nur für die Wahl des Kaisers gelte. Bei Königen hingegen gestatte das Gesetz auch die Erbfolge und man dürfe dem durchaus folgen, zumal die Herrschaft durch einen Sklaven unerträglich sei. Das Gesetz wurde hier also zum An13 Vgl. Gerhard: „De Corrupto Rei monetariae statu?“, in: Arumaeus: Disc. 6, S. 29v. 14 Vgl. Gerhard: „De Corrupto Rei monetariae statu?“, in: Arumaeus: Disc. 6, S. 27r: „Finis monetae cudendae est Reipublicae salus […].“ 15 Vgl. Wolfgang Trapp: Kleines Handbuch der Münzkunde und des Geldwesens in Deutschland, Stuttgart 1999, 77f. 16 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 32v, nr. 1. 17 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 32v, nr. 1. 18 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 36r, nr. 29, zum Vertrag von Passau aus dem Jahr 1552 und „cujus beneficio dulcissima nostra patria pacatior fuit“. 19 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 39r, nr. 50. 20 Zur Diskussion gegen die Todesstrafe vgl. bereits Honecker: Cura Religionis, S. 125. 21 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 38v, nr. 48. 22 Vgl. Gerhard: „An electio, an vero succeßio praeferenda?“, in: Arumaeus: Disc. 8, S. 39v: „Virtus semper certior ductrix, quam Natura; quae nulla stirpis habita ratione, sua partitur dona; electio autem fit secundum Virtutem […].“

Ein Denker des Ausgleichs

25

gelpunkt seiner Argumentation. Dieses rechtfertigt allein die sonst nicht gebotene Differenzierung der Nachfolge bei Kaiser und Fürsten. Der Fürst stand für Gerhard nicht über dem Gesetz, weil dieser ein Geschöpf des Schöpfers und der Schöpfung sei. Damit stehe er unter den Gesetzen der polis, der Natur und der Vernunft.23 Das Gesetz, selbst das des Staates, postulierte er damit als Grundlage der fürstlichen Herrschaft. Es überrascht wenig, dass Gerhard für den Fürsten eine umfassende Bildung verlangte und dabei nichts als scheinbar überflüssiges Wissen ausgelassen werden dürfe.24 Bei den Legaten betonte Gerhard ihre Stellung als – modern gesprochen – Vertreter, die nur im Rahmen ihres Auftrags handeln dürfen. Der Legat sei zwar mit allen Befugnissen ausgestattet, doch könne er diese nur im Rahmen seines Mandats ausüben.25 Offenbar argumentierte Gerhard hier ganz juristisch. Bei der Frage, ob der Legat Geschenke annehmen dürfe, stellte Gerhard sofort fest, dass es international einen entsprechenden Brauch gebe. Man müsse daher unterscheiden zwischen der Absicht, den Legaten zu bestechen, und den üblichen Geschenken, die Zeichen des Respekts und der Großzügigkeit sein sollten.26 Recht, Gesetz und sogar der Brauch werden damit als Grundlagen der öffentlichen Ordnung herangezogen. Zum Bau der Synagogen betonte Gerhard, dass die Juden in der Regel in Übereinstimmung mit dem Römischen Recht sowie friedlich und ruhig lebten. Die Legende vom getöteten Christenkind in Verona kannte und nannte er, doch mit einer gewissen Distanzierung. Die Juden hätten ein Recht auf eine Synagoge, neue dürften allerdings nur mit der Zustimmung des Fürsten gebaut werden.27 Weiterhin dürften Juden keine Ehe mit Christen schließen und sollten ein äußeres Zeichen tragen, um sie von Christen zu trennen. Hinsichtlich des Kriegsrechts rekurrierte Gerhard ohne Nennung zunächst auf die Lehre des Thomas von Aquin, wonach nur ein mit höchster Autorität ausgestatteter Fürst den Krieg befehlen könne.28 Allgemein argumentiert Gerhard jedoch anschließend, dass in der Vergrößerung des Landes kein Glück liege und viele durch den Krieg geschädigt würden. Beispiele antiker Literatur nutzte er zur Illustration. Das Recht der Obrigkeit in Religionsangelegenheiten gestaltete Gerhard ganz nach Luthers Vorgaben. Aufgabe der Obrigkeit sei die Herstellung von Ruhe und Sicherheit. Selbst die schlimmste Herrschaft von Caligula und Nero habe Gott nicht umstoßen wollen. Wenn man mit der Regierung und deren Religion nicht übereinstimmen könne, bleibe nur die Flucht als Ausweg. Dabei solle man aller23 Vgl. Gerhard: „An Princeps legibus solutus?“, in: Arumaeus: Disc. 9, S. 40v: „Princeps est sub lege poli, naturae, rationis.“ 24 Vgl. Gerhard: „Quibus studiis Principem potißimum deditum esse oporteat?“, in: Arumaeus: Disc. 10, S. 41v–43r. 25 Vgl. Gerhard: „An Legati mandati fines transgredi liceat?“, in: Arumaeus: Disc. 11, S. 43r. 26 Vgl. Gerhard: „An Legati munera accipere poßint?“, in: Arumaeus: Disc. 12, S. 44v. 27 Vgl. Gerhard: „An ferendae in Rebusp. Christianis Judaeorum Synagogae?“, in: Arumaeus: Disc. 13, S. 46v. 28 Vgl. Gerhard: „An fines Imperii bello ampliandi?“, in: Arumaeus: Disc. 14, S. 47r, nr. 1.

26

Mathias Schmoeckel

dings eher das Leben als Gott aufgeben, also sich eher kreuzigen lassen als selbst Christus erneut zu kreuzigen.29 Der größere Discursus 18 differenziert zwischen Untertanen, „welche mere & absolute subditi seynd“, und solche, „welche sind Statos & ordines regnis“, „gleichsamb ein Theil der Herrschaft“.30 Diese Unterscheidung ermöglicht ihm, die genannte Position für die einfachen Untergebenen weiter aufrecht zu halten, für die Fürsten des Reichs jedoch andere Regeln anzunehmen. Ihnen sei als Fürsten nämlich ein Gestaltungsrecht im Reich mit übertragen worden. Als Teil der Macht müssten sie die Obrigkeit mit begründen, gegen die sich die Untertanen nicht auflehnen durften, ohne Gottes Ordnung zu widerstreben. Hier argumentierte Gerhard zum einen durchaus juristisch geschickt mit der bestehenden Ordnung des Reichs. Dabei verwies er auf das Reichsrecht und die Verträge sowie reziprok geleistete Eide zwischen den Fürsten, die sich allesamt dazu verpflichtet hätten, das geltende Recht zu achten.31 Allerdings dürften sie nicht gleich mit Waffen agieren. Zunächst sollten sich die Stände für ihre Schützlinge nur mit Worten einmal oder mehrfach verwenden. Helfe das nicht, dürfe man auch Nachbarherrschaften bitten, Einspruch (intercessio) einzulegen. Schaffe das keine Abhilfe, müsse man beten. Erst dann stellte Gerhard vorsichtig die Frage, ob die Stände zur Verteidigung des rechten Glaubens auch Gewalt gegen den Herrscher anwenden dürften. Dabei differenzierte er zwischen einer nur vereinzelt unrecht handelnden Herrschaft und einer echten Tyrannis.32 Offensiv dürfe man eigentlich überhaupt nicht agieren, allerdings dürfe man sich wehren.33 Dies gelte erst recht, wenn mehrere verletzt würden.34 Dann könnten die Stände aufgrund ihres Amtes (ex Magistratus officio) sogar verpflichtet sein, den Schutz im Notfall mit Waffengewalt zu gewähren.35 Ein solches Widerstandsrecht stünde aber denjenigen nicht zu, die wie Räte in den Städten oder Beamte im Dienst eines Fürstentums stünden.36 Nur den Reichsstän29 Vgl. Gerhard: „An licitum subditis religionis causa a Rege deficere ac contra eum arma capere?“, in: Arumaeus: Disc. 15, S. 49r. 30 Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen in einer jedwedern Policey irer von Gott ihnen vorgesetzten Obrigkeit ohne unterscheidt also zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 74r. 31 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 75r. 32 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 74v. Eingehend zum Widerstandsrecht Luise Schorn-Schütte: „Politica Christiana in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: Robert v. Friedeburg (Hg.): Politics, Law, Society, History and Religion in the “Politica” (1590s–1650s). Hildesheim u.a. 2013, S. 59– 85, hier: 69 und 85. 33 Zum Offensivkrieg bereits bei Honecker: Cura Religionis, S. 132. 34 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 76r. 35 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 76v. 36 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 78v. Zum Widerstandsrecht bei Gerhard vgl. bereits bei Honecker: Cura Religionis, S. 134f.

Ein Denker des Ausgleichs

27

den wollte er dieses Widerstandsrecht zubilligen.37 Hier argumentierte Gerhard nun mit den angeborenen Rechten der Fürsten nach dem Vorbild von David, der sich auch nicht gegen die Herrschaft von Saul aufgelehnt habe. Damit verwies er auf das göttliche Recht, ebenso aber auch auf die natürliche Billigkeit der Verträge im Reich, durch welche die Parteien, also auch die Reichsfürsten, gegenseitig verpflichtet seien, das Religionsrecht zu wahren.38 Gerhard argumentierte ebenso ganz pragmatisch. Es sei sehr gefährlich, wenn die Untertanen einen Aufstand anzettelten. Werde der Vater wahnsinnig, wäre es dann nicht die Pflicht der Mutter, die Kinder zu schützen?39 Würde man anderes zulassen, entstünde viel Unsinn.40 Selbst die Richter des Alten Testaments hätten sich im Fall der Not gegen den König gewandt; Gerhard verwies hierfür auf Richter 3,1 und Macc. 2f. Gerhard zitierte damit viel aus der Bibel, ebenso aber auch Luther. III. Grundentscheidungen Gerhard erscheint in diesen Discursus zum einen darum bemüht, Frieden zu bewahren. Dies gilt besonders für Religionssachen und schließt eine Milderung der Strafpraxis ein. Zum anderen ging es ihm immer wieder darum, die Position der Weimarer Herzöge zu stärken. Ein allgemeiner Zug, Gewalt nach Möglichkeit auszuschließen, lässt sich in seinen Schriften erkennen. Die Obrigkeit dürfe nicht mit Gewalt zum Glauben zwingen. Eher sei sie verpflichtet, Schutz gegen solchen Zwang zu gewähren.41 Durch die besondere Autorität des Vertrages von Passau maß Gerhard dem religiösen Ausgleich im Reich den obersten Rang zu. Nur in ganz eng begrenzten Fällen dürfe noch Gewalt angewandt werden.

37 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 79r. 38 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 80v: „ex mutuae obligationis modo“. Zum Spannungsfeld der lutherischen Lehren zum Widerstand im 17. Jahrundert vgl. Wolfgang Sommer: „Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters“, in: Friedburg (Hg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit, S. 245–262, hier: 262f. Viel schärfer betont jetzt Robert v. Friedeburg die Gehorsamspflicht nach lutherischen Autoren des 17. Jahrhunderts, s. Friedeburg: „Der ,gewissenlose‘ Fürst in der lutherischen Kritik des Dreißigjährigen Krieges“, in: Michael Germann und Wim Decock (Hg.): Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen. The Conscience in the Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations (erscheint 2016). 39 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 83v. 40 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 85r: „ex consequente absurdo“. 41 Vgl. Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen zum Gehorsam obligiret“, in: Arumaeus: Disc. 18, S. 88v–r.

28

Mathias Schmoeckel

Im Übrigen zweifelte Gerhard in großem Maße das herkömmliche Strafrecht an. Zwar bestritt er nicht die Berechtigung von Strafen allgemein,42 doch immerhin die Todesstrafe sei ungebräuchlich geworden. Er predigte zwar keine religiöse Toleranz, weil er Toleranz mit Akzeptanz gleichsetzte, welche nicht gewährt werden könne. Doch gelangte er zum Ergebnis, dass Juden zu dulden seien. Er wollte ihnen sogar den Gebrauch der eingerichteten Synagogen zugestehen.43 Im Reich bedeutete der Vertrag von Passau für ihn, dass der Einsatz von Gewalt zur Klärung der Konfessionsfrage ausgeschlossen und insoweit Friede eingekehrt sei. Im Übrigen sieht man, dass im Zweifel die Stellung des Herzogs von Weimar gefördert wurde. Vielleicht sei das Wahlrecht besser, doch für Fürsten sei das Erbrecht fest etabliert. Im Reich gebe es keinen legitimen Gebrauch der Gewalt, sofern dies nicht mit den Reichsständen abgesprochen sei. Widerstand sei nicht erlaubt und verletze Gottes Ordnung. Doch der Reichsfürst müsse diese Ordnung erst etablieren und habe somit die Pflicht, in seinem Territorium und im Reich für eine ordnungsgemäße Obrigkeit zu sorgen. IV. Argumentationsweisen Die Förderung der Position der Reichsfürsten und damit des eigenen Territorialherren weist auf den politischen Zweck des Gesamtunternehmens der Discursus academici hin. Dies stellt die deutlichste Angriffsfläche dar, die Gerhards Lehren bilden. Ansonsten wirkt seine Argumentation in diesem Rahmen durchaus angemessen. Er betonte die Herrschaft des Gesetzes, unter welche auch die Fürsten gestellt seien. Das Reich sah er konstituiert aus den Verträgen, etwa dem Vertrag von Passau, und den Absprachen, welche die Fürsten untereinander und gegenseitig binden würden. Selbst die Gewohnheit trat ihm zufolge als Gewohnheitsrecht neben Gesetz und Vertrag und begründete rechtliche Pflichten. Durchgängig betonte er die Argumentation mit dem Gesetz. Im Text schaffen die juristischen Allegationen, welche die großen Autoren des Ius Commune unter Einschluss der bekannten Kanonisten zitieren,44 Eindruck. Gerhard konnte Arumaeus, Arnisaeus und Bodin passend heranziehen und zeigt sich so auf der Höhe der Diskussion seiner Zeit.45 Die Zitate beweisen, dass sich Gerhard einer juristischen Bibliothek bediente, um seine Aufsätze zu schreiben. Doch blieben die Verweise in der Regel allgemeiner Natur. Nur ausnahmsweise zitierte Gerhard Elemente des römischen Rechts, etwa aus dem Codex Justinians, den Novellen. Teilweise verwies er auf rechtshistorische Literatur, um die Geltung von Normen nachzuweisen. 42 43 44 45

Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 34v. Hierzu bereits Honecker: Cura Religionis, S. 122f. Z.B. Panormitanus: Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 35r. Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 6, S. 26v.

Ein Denker des Ausgleichs

29

Die Argumentation mit dem Alten und den Neuen Testament entwertet dieses Bild nicht. Zum einen werden die Episoden aus dem Alten Testament als Beispiele und colorandi causa zitiert, jedoch nicht als unumstößliche Autoritäten herangezogen. Es wird deutlich, dass das mosaische Recht gemildert werden müsse und damit keine unumstößliche Autorität darstellt. Wie bei Luther sind die Bücher Mose einfach nur der „Juden Sachsenspiegel“, also ein altes und vielfach veraltetes Recht. Die Belege aus dem Neuen Testament werden zwar unmittelbar als Gesetz angesehen,46 doch verschränken sie sich mit der juristischen Argumentation. Sie helfen ethische Grundsätze zu etablieren und werden herangezogen, wenn konkrete Normen fehlen. Insoweit sind sie Ausdruck einer subsidiären Rechtsordnung, wie dies in der Zeit weithin gesehen wurde.47 Durchaus kundig verwies Gerhard immer wieder auf die Erfahrungen anderer Länder, was man füglich als Rechtsvergleichung bezeichnen kann. Deutlich unterschied er zwischen den Rechtsordnungen von Germania, Francia oder der Türken etc.,48 wobei auswärtige Regelungen zur Abschreckung oder als Vorbild dienen konnten. Selbstverständlich zog Gerhard auch theologische Autoritäten, etwa Augustin von den Vätern, vor allem aber Luther, immer wieder heran. Die Texte verschleiern insoweit nicht, von einem Lutheraner zu stammen. Allerdings sind die Zitate selten entscheidend für seine Argumentation. Eine Ausnahme gilt für die Argumentation mit einem Axiom bzw. locus, was eine klare Übernahme von Melanchthon darstellt. Allerdings war die axiomatische Methode nicht allein Lutheranern vorbehalten49 und wurde so wohl nicht als konfessionsspezifisch wahrgenommen. Gerhard verwies auf die Regel „Evangelium non abolet politicas“. Sie enthält eine verdeckte Übernahme von Melanchthon50 und sollte bedeuten, dass das Evangelium das Gesetz weder ersetzt noch verdrängt, sondern nur bestätigt. Weltliche Ordnung und die Verheißung des Glaubens durch das Evangelium fügen sich danach nicht zusammen, sondern betreffen unterschiedliche Bereiche der menschlichen Existenz. Allerdings setze das Gesetz die Verheißung des Glaubens voraus, sonst finde man darin wie Luther nur die Bestätigung menschlicher Unfähigkeit, das Gesetz zu halten. Hier tauchen damit Inhalte lutherischer Theologie auf, die nur angetippt, aber nicht erklärt werden. Indem Gerhard offenbar seine theologischen Stärken nicht ausspielte, wird noch einmal deutlich, dass er sich der Argumentationsweise de iure publico anpassen wollte.

46 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 35r, nr. 21. 47 Vgl. David von Mayenburg: „Jedermann sei untertan seiner Obrigkeit“. Die Rolle von Röm. 13 bei der Beanspruchung und Durchsetzung von Gehorsam im Recht des Alten Europa. Antrittsvorlesung zur Vollziehung der Habilitation an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität, Bonn, 23.11.2012, erscheint demnächst. 48 Vgl. Gerhard, in: Arumaeus: Disc. 7, S. 35v, nr. 27. 49 Vgl. Jan Schröder: Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). München 22012, S. 27f. 50 Vgl. CR 13, S. 428, 430f., 438.

30

Mathias Schmoeckel

V. Juristische Schwächen Dennoch enttäuschen die genannten Passagen in juristischer Hinsicht. Der Vertrag von Passau (1552) wird erwähnt, allerdings nicht der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der mindestens ebenso einschlägig war. Eine Abgrenzung der jeweiligen Bedeutung findet damit nicht statt. Die juristischen Argumente gleichen somit Floskeln, die nicht weiter erklärt oder hinterfragt werden können. Die Stärke des ius publicum, so unbedingt aus juristischen Lehren abgeleitet werden zu können wie das Römische Recht, würde mehr juristische Autoritäten und eine genauere Auseinandersetzung mit juristischen Lehrmeinungen voraussetzen. Die Beiträge Gerhards wirken nicht wie die eines Juristen, sondern eher wie die eines Amateurs. Sicherlich waren sie dem Inhalt nach für Arumaeus brauchbar. Doch gerade im Vergleich mit Arumaeus’ eigenen Werken wird dessen überlegene juristische Argumentation deutlich. Dessen Antworten werden unmittelbar aus juristischen Quellen und Lehrmeinungen, vor allem aber auch aus den Dokumenten der Reichsordnung abgeleitet. Während Gerhard immer wieder pauschal auf den Vertrag von Passau verwies, konnte Arumaeus die leges fundamentales und die Wahlkapitulationen systematisch auswerten. Auch im Hinblick auf die Konsistenz der Argumente können Gerhards Discursus nicht überzeugen. Warum das Wahlrecht nur für den Kaiser, aber nicht für die Fürsten richtig sei, begründete er nur mit der gesetzlichen Lage. Einen weiteren Grund der Differenzierung konnte er nicht anbringen. Diese kann daher schwerlich überzeugen. Später argumentierte er dann mit den angeborenen Rechten der Fürsten, die für die Begründung der fürstlichen Herrschaft keine Rolle spielen sollten. Man vermisst hier also eine Stringenz, die Arumaeus fast bis zur Redundanz ausspielen konnte. 4. VERGLEICH MIT DER ARGUMENTATION DER LOCI THEOLOGICI I. Inhaltliche Entsprechungen Es gibt kaum inhaltliche Widersprüche zwischen den Discursus academici und den Loci theologici. Deren umfangreiche Darlegungen können hier jedoch nicht weiter wiedergegeben werden. Gerhards Ausführungen in seinen Discursus academici unterscheiden sich von seiner Lehre in den Loci theologici allenfalls in Akzentverschiebungen, die zudem überwiegend der anderen Darstellungsweise geschuldet sind. Während sich Gerhard in den bisher betrachteten Discursus kurz und allgemeinverständlich hielt, wird die Darstellung in den Loci eher von einer epischen Breite gekennzeichnet und soll die Wissenschaftlichkeit seiner Theologie erweisen. Was in den Discursus kurz angetippt wurde, wird in den Loci ausführlich diskutiert. Dabei wird an jeder Stelle deutlich, dass ein Theologe argumentiert, der es an Kenntnis der Bibel und der Literatur sowie an exegetischen Fähigkeiten ohne weiteres mit Calvin aufnehmen kann. Die Ausführungen zum Magistrat beleuchten

Ein Denker des Ausgleichs

31

das Thema und lassen kaum eine Frage offen. Ausführlich wurden die causa efficiens, instrumentalis, materialis und formalis des Magistrats dargestellt. Er leitete die Existenz des Magistrats aus den Dienern her, die sich Moses zur Verwaltung Israels in Ex. 18,21 anschlossen, allen voran sein Schwiegervater Jethro.51 Gerhard definierte die Macht des Magistrats als beschränkt auf die vorgegebene Ordnung.52 Jede Herrschaft stamme von Gott und wie die Vasallen gegenüber ihrem Lehngeber seien die Könige und Fürsten an seine Gesetze gebunden, weil sie seine Lehnnehmer seien. Gegenüber Gott könne es daher keine potestas absoluta geben.53 So wird deutlich, dass Gerhard hier theologisch, nicht juristisch bzw. feudistisch argumentiert. Die absolute Macht bzw. Majestät stehe nach Bodin allenfalls dem Kaiser zu, doch ein guter Fürst erkenne die Herrschaft der Gesetze an. Er habe die Macht, selbst zu regieren, also konkret „in ordinando“, um Gesetze zu erlassen, „in judicando“, um sie durchzusetzen sowie „in vendicando“, um Gute zu loben und den Bösen zu wehren.54 Gerhard zitierte Juristen wie Petrus Gregorius Tholosanus oder die Politiklehre des Justus Lipsius.55 Es ging ihm um Präzisierungen, etwa der Voraussetzungen der Macht, die er mit Bodin darin sah, zur Herrschaft aufgerufen zu sein (provocatio). Die Macht sollte nicht nur zeitweilig zur Verfügung stehen, vielmehr sollten die Fürsten über sie als eigene verfügen können und über den Gesetzen stehen.56 Für die Definition imperialer Macht zitierte er Justinian.57 Doch seine Argumentation blieb theologischer Natur. So bestehe die Aufgabe des Magistrats (finis magistratus) vor allem (principalis) darin, Ruhe und Sicherheit zu gewähren. Erst danach (intermedius) folge deren inhaltliche Ausprägung, etwa als Hüter beider Tafeln des Moses.58 Daran anknüpfend führte er aus, wie sich der Magistrat gegenüber Gott, sich selbst, anderen Amtsträgern und dem Volk benehmen müsse. Sein Ziel war dabei die Wahrung der pietas im Staat.59 Gerhard erklärte, wie der Magistrat beim Volk Ehrbarkeit und Gerechtigkeit fördere, etwa durch Gesetzgebung.60 Die Ausgestaltung der Argumentation zeigt den Unterschied zu den Discursus. Zur Frage, ob in einem Staat mehrere Religionen zu dulden seien, wog Gerhard ausführlich die Argumente und Literaturstimmen dafür und dagegen ab.61 Selbst der Verweis auf den Vertrag von Passau, durch den die Vertreter des Augs51 Vgl. Gerhard: Loci Theologici (ed. Preuss). Tomus sextus. Berlin 1868, lc. XXIV: De magistratu politico, S. 266–562, hier: p. I, c. 4, nr. 99, S. 310. 52 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr. 119, S. 318: „ad leges et normam superioris alicuius potestatis restricta“. 53 Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr. 120, S. 319. 54 Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr. 121, S. 319. 55 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr. 122, S. 319f zur majestas. 56 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr. 123, S. 320. 57 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 5, nr.124, S. 320. Nach Justinian besteht die imperiale Macht darin, allein Gesetze geben können, jurisdictio sine provocatione auszuüben, Magistrate einzusetzen, Steuern und Zölle zu erheben sowie das Waffenrecht etc. 58 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, nr. 140f., S. 329f. 59 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 165f., S. 342. 60 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 213, S. 373. 61 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 199f., S. 362.

32

Mathias Schmoeckel

burgischen Bekenntnisses und Katholiken sich gegenseitig nicht länger als Ketzer ansähen,62 lässt die Darstellung nicht ins Juristische abgleiten. Vielmehr zählte Gerhard dann gleich die Positionen von Katholiken und danach von Calvinisten auf, die eine scharfe Verfolgung der Ketzer vertraten. Ausführlich setzte sich Gerhard mit der Frage auseinander, ob das Tridentinum jene dogmatische Klärung des Christentums gebracht hätte, auf welche der Vertrag von Passau und die Reichsgesetze verwiesen und bis zu deren Klärung die Konfessionen einstweilen geduldet werden sollten.63 II. Unterschiedliche Argumentationsweisen Diese Dominanz der theologischen Argumentation verschärfte im Ergebnis eher Gerhards Gedankengang. Die einzelnen Fragen, warum der Fürst vom Volk einen Eid auf die Religion verlangen dürfe64 oder wieweit das Widerstandsrecht gegen vom Glauben abweichende Fürsten reiche,65 werden in den Loci nicht nur ausführlicher, sondern auch stringenter und zwingender beantwortet. Dabei werden die Positionen durchaus verständlicher dargestellt, etwa wenn das Widerstandsrecht der Untertanen kein Interventionsrecht vermittle, sondern nur Bitten und Gegenvorstellungen geäußert werden dürften sowie Selbstverteidigung zulässig sei. Bei der Frage nach der Toleranz gegenüber Juden offenbarte Gerhard eine gewisse Kenntnis hebräischer und jüdischer Schriften. So verwies er auf kabbalistische Texte und ungenannte Rabbanim sowie deren Lehrmeinungen.66 Die Diskussion der etablierten Lehrmeinungen67 lässt seine Differenzierung zwischen zu weitgehender Toleranz und faktischer Duldung plausibler erscheinen als die Darlegung in den Discursus.68 Dabei erweist er sich hier sogar als härter, insoweit er keine Synagogen und das Bürgerrecht nur im Notfall zulassen will.69 Sogar die

62 63 64 65

66

67 68 69

Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 201, S. 365. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 202f, S. 366f. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 210, S. 372. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. I, nr. 211, S. 372f. Zu einem Casus conscientiae Gerhards selbst und seinem Widerstand gegen seinen Landesfürsten sowie zu seiner kohärenten theologischen Argumentation vgl. Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard, S. 241f. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 223, S. 380. Dazu Steiger: „Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u.a.) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplans von Glassius und einer Bibliographie der von ihm konzipierten Studienbibliothek“ , in: Christiane Caemmerer und Jörg Jungmayr (Hg.): Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997. Amsterdam u.a. 2000, S. 191–252, hier: 193, Anm. 4 mit weiterer Literatur. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 224, S. 381. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 224f., S. 381f. Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 226, S. 384.

Ein Denker des Ausgleichs

33

Duldung gegenüber Zigeunern wegen der von ihnen ausgehenden Bedrohung hielt er hier für unangebracht.70 Besonders deutlich werden seine Vorzüge der Argumentation in der ausführlichen Begründung der Grenzen von Strafgewalt. Gleichzeitig zeigen sich hier wieder seine Milde und Innovationsbereitschaft. Er würde offenbar am liebsten ganz auf Todesstrafen verzichten, da keiner ein Recht habe, das Leben eines anderen zu nehmen.71 Er akzeptierte jedoch, dass diese harte Strafe in besonderen Einzelfällen notwendig sei. Also komme die Anwendung der Todesstrafe in seltenen Ausnahmefällen letztlich doch in Betracht.72 Auch dürfe zur Verteidigung des Glaubens nicht zu den Waffen gegriffen werden.73 Im Gegensatz zu den Lehrmeinungen von Katholiken und Calvinisten komme die Todesstrafe für den Fall der Ketzerei nicht in Betracht.74 Nur wenn sonst ein Aufruhr drohe und die öffentliche Ordnung bedroht sei, sei diese Strafe gerechtfertigt. Diesen Fall könne man aber bei der Häresie nicht annehmen.75 Ganz allgemein schloss hier Gerhard, dass es unchristlich und häretisch sei, Ketzer so hart zu verfolgen: „Saevire in haereticos usque ad sanguinem est haereticum et Antichristianum. Ergo ecclesia Christiana ab eo debet abstinere.“76 Doch selbst der ungläubigen Obrigkeit werde Gehorsam geschuldet.77 Was man in den Ausführungen allerdings wiederum vermisst, ist juristische Präzision. Der Leser erhält allgemeine Wertungen, die im Wesentlichen aus der Bibel und theologischen Autoritäten mittels einer geschickten Exegese abgeleitet wurden. Offen bleibt dabei zumeist der Anwendungsbereich und der Abgleich mit entgegengesetzten Grundsätzen. So fragt sich, auf wen die Beschreibung des Magistrats zielt: auf jegliche Macht oder doch nur auf die Fürsten im Reich? Vielleicht waren auch nur die intermediären Instanzen wie die Stadträte und Beamten gemeint. Was Gerhard bei den Discursus präzisierte, ließen die Loci offen. Eingangs wurden die Könige eingeschlossen. Die majestas beschrieb den Kaiser und alle Macht wird als „tanquam Dei vicarius“78 beschrieben. Klar nahm Gerhard nur die Gehilfen der Regierungen von diesen Regelungen aus.79 Doch inwieweit lassen sich die Stände als Gehilfen des Kaisers oder schon als Magistrate verstehen?

70 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 227, S. 384f. 71 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 307, S. 439. 72 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 310, S. 440 nur „raro & tarde“. 73 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 318, S. 447. 74 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 314, S. 444f. 75 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 334, S. 457f. 76 Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 335, S. 458. 77 Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. II, nr. 480, S. 553. 78 Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 6, s. V, membr. II, nr. 317, S. 446. 79 Vgl. Gerhard: Loci Theologici VI, lc. XXIV, p. I, c. 7, S. 521: De adjunctis Magistratus.

34

Mathias Schmoeckel

5. SCHLUSS Die Ähnlichkeit der Positionen der Discursus und der Loci zeigt, dass Gerhard bei Arumaeus’ Projekt nicht mitwirkte, um neue Ideen zu entwickeln. Eher wiederholte er dort seine Gedanken. Der deutschsprachige Aufsatz suggeriert, dass es ihm hier auf die Verbreitung seiner Ansichten ankam. Ansonsten wollte er wohl das Projekt auch insgesamt unterstützen. Gerhard folgte in seiner Lehre und Methodik grundsätzlich Melanchthon. Dies gilt auch im Hinblick auf sein Anliegen, im Politischen mit Maß und Milde vorzugehen. Discursus und Loci zeigen Gerhard dabei durchaus in unterschiedlichem Licht: Hier der politisch opportun positionierte, argumentativ etwas kurz greifende Amateur, dort der elegante theologische Exeget. Der Abdruck von Gerhards Schriften im Werk des Arumaeus half dem Theologen, seine Beiträge und Gedanken weiter zu verbreiten. Man könnte einwenden und argumentieren, dass Fachwissenschaften und damit der Gegensatz zwischen Amateuren und Spezialisten erst allmählich entstanden. Noch im 18. Jahrhundert konnten Amateure vielfach bedeutsame Entdeckungen leisten. Doch wenn es de iure publico auf die Zwangsläufigkeit der Argumentation wie im ius civile ankam, hätte die juristische Allegation häufiger, die Deduktion stringenter sein müssen. Es wird also deutlich, dass das Gemeinschaftswerk der Discursus academici unter Arumaeus’ Leitung nicht ohne Verlust der dogmatischen Schärfe und wissenschaftlichen Präzision möglich war. Gerhards Beitrag zur Debatte um Recht und Staat am Beginn des 17. Jahrhunderts, besonders in den Loci communes, ist dennoch durchaus originell und individuell gefärbt. Er erweist sich als Denker des Ausgleichs, der Schärfen des Systems zu verhindern suchte.80 Dabei finden sich sogar einige „Calvinismen“, die weniger durch Calvin selbst als durch seine Schüler vermittelt zu sein scheinen. -

-

So übernahm Gerhard zum einen die Deutung des Fürsten als vicarius Dei, was bei Calvin und seinen Schülern Dreh- und Angelpunkt der Staatslehre bildete, durch die den Herrschenden zwar zunächst die Macht umfassend gewährt, dann aber wieder inhaltlich gebunden wurde. Während die feudalrechtliche Deutung bei Calvin fehlt, findet sie sich erst bei seinen Schülern,81 doch ebenso bei Gerhard. Calvin selbst trat keineswegs für eine Milderung der Strafen ein, doch konnte man dies aus seiner Lehre folgern. Man kann daher beobachten, dass Calvins Schüler diese Konsequenzen lehrten und in die Praxis umsetzten.82 Schon bei dem sächsischen Pfarrer Valentin Weigel (1533– 1588) findet sich eine Spur dieser Gedanken; er ging sogar soweit, die To-

80 Ähnlich Luise Schorn-Schütte: „Politica Christiana“, S. 69. 81 Vgl. Josef Bohatec: Calvin und das Recht. Graz 1934, S. 186. 82 Vgl. Schmoeckel: Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2014, S. 225.

Ein Denker des Ausgleichs

35

desstrafe ganz abzulehnen.83 Er wurde nach seinem Tod ketzerischer Gedanken bezichtigt und es erstaunt daher wenig, dass Gerhard ihn nicht zitierte. Die Verwandtschaft der Gedanken ist jedoch auffällig. Es handelt sich hier um typische Verschmelzungen von ursprünglich konfessionell spezifischen Rechtslehren, die sich aber leicht von Vertretern anderer Konfessionen übernehmen ließen. Weiterhin macht die Beteiligung eines Theologen an dem juristischen Gesamtwerk von Arumaeus deutlich, dass die Theologie immer noch ein bestimmendes Wort mitzureden hatte. Melanchthon betonte jedoch den eigenständigen Wert der Jurisprudenz immer wieder. In methodologischer Hinsicht liegt die bedeutendste Errungenschaft der Reformation wohl in der Säkularisierung der Wissenschaft und der Erkenntnis der methodischen Eigengesetzlichkeit aller Fächer.84 Man kann die Vorrangstellung der theologischen Fakultäten mit modernen Augen als mittelalterliches Relikt ansehen. Doch wollte man in Jena offenbar soweit nicht gehen. Alberico Gentilis berühmte Forderung „Silete Theologici in munere alieno!“ schloss eigentlich die Mitwirkung von Theologen bei juristischen Fragen kategorisch aus.85 Gentili betonte damit in der Nachfolge Melanchthons, dass juristische Argumentation und Erkenntnis anders erfolgen als die theologische. Ein juristischer Text erfordert daher nicht nur spezielle rechtliche Kenntnisse, vielmehr können theologische Kenntnisse hierbei geradezu stören. Trotz der neuen methodologischen Lehre blieb jedoch das besondere Ansehen der Theologie als erste Wissenschaft erhalten, vor allem angesichts eines so berühmten wie bewundernswerten Repräsentanten des Fachs wie Johann Gerhard. Aus der Sicht von Arumaeus und seiner Gruppe bildete diese Reputation Gerhards einen ersten Grund, ihn an dem Projekt der Discursus academici zu beteiligen. Man versteht, dass Arumaeus die Unterstützung Gerhards in Weimar und im lutherischen Lager gut brauchen konnte. Im Hinblick auf den Autorenkreis stellte diese Beteiligung einen Prestigegewinn dar. Doch Gerhards Gedanken und Positionen waren zudem auch inhaltlich hilfreich, um die politischen Anliegen der Reformation und des Weimarer Hofes zu stärken. Dabei war es gerade Gerhards Suche nach politischem Ausgleich, die Arumaeus’ Ansatz des ius publicum unterstützte. Letztlich waren es wohl Gerhards Milde und seine Suche nach Maß, die seine Teilnahme am Projekt des Arumaeus interessant werden ließen.

83 Vgl. Schmockel: „Metanoia. Die Reformation und der Strafzweck der Besserung“, in: Reiner Schulze u.a. (Hg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung. Münster 2008, S. 29–58, hier: 38–41. 84 Schmoeckel: Das Recht der Reformation, S. 60f. 85 Vgl. Christoph Strohm, „,Silete theologi in munere alieno‘. Konfessionelle Aspekte im Werk Alberico Gentilis“, in: Heinrich de Wall (Hg.): Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit. Berlin 2014, S. 195–223, hier: 204.

JOHANN GERHARD ÜBER WIDERSTAND UND DEN PRAGER FRIEDEN Georg Schmidt Johann Gerhard war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der wohl renommierteste Theologe der Jenaer Universität. Wie viele seiner Kollegen hat er sich auch als Politikberater verstanden und sich in politische Fragen eingemischt. Ganz im Sinne der politica christiana wollte er den Fürsten und ihren Regierungen den Weg zu einem christlichen Regiment weisen.1 Er übersah, dass die lutherischen Fürsten weniger an konkreten Handlungsanweisungen als vielmehr an einer biblischen Legitimation ihrer Vorstellungen interessiert waren. Die weltlichen Obrigkeiten hatten Luthers Zwei-Regimenter-Lehre, das landesherrliche Kirchenregiment und das ius reformandi genutzt, um die Politik als autonomen Bereich zur Gestaltung der innerweltlichen Verhältnisse aus der Bevormundung der Theologie zu befreien. Die evangelischen Geistlichen wurden zwar gefragt, doch ihr Rat war alles andere als ein Gesetz für das politische Handeln. Widersprachen sie ihrer Obrigkeit und insistierten auf ihrer Position, mussten sie nicht selten das Land verlassen. Der Spielraum für politisierende Theologen war eng. Fürst und Regierung saßen am längeren Hebel, zumal Luther ihnen zur Überwindung des Papsttums und der alten Amtskirche, aber auch zur Beilegung von Aufruhr und Streit, das weltliche Regiment in nahezu absoluter Form zugewiesen hatte. Die Untertanen – auch die geistlichen – sollten gehorchen, es sei denn, die obrigkeitlichen Forderungen galten nicht dem Schutz, sondern dem Verbot von Gottes Wort oder riefen zur Sünde auf. Der lutherische Imperativ des Gehorsams befreite die weltlichen Obrigkeiten von lästigen Einwänden der Theologen, die selbst auch über weltliche Angelegenheiten bestimmen wollten. Die protestantischen deutschen Landesherren ließen sich von ihren Geistlichen zwar beraten, aber nicht mehr bevormunden. Das Luthertum war in seiner herrschaftsbezogenen Ausprägung, die sich im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seit seiner Etablierung ,von oben‘ durchgesetzt hatte, zu einer mehr oder weniger deutschen Angelegenheit geworden. Dänen und Schweden verweigerten sich der Engführung des Konkordienwerks ebenso wie etliche deutsche Fürsten. In den westeuropäischen Freiheitskämpfen war dieses Luthertum nicht mehr zu vermitteln: Hier setzte sich die calvinistische Variante der Reformation durch, auch weil die Reformierten sich der 1

Vgl. Luise Schorn-Schütte: „Politica christiana. Eine konfessionelle oder christliche Grundordnung für die deutsche Nation?“, in: Georg Schmidt (Hg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. München 2010, S. 245–264, bes. 257–264.

38

Georg Schmidt

Gegenreformation entschiedener in den Weg stellten als die Lutheraner.2 Eine Ausnahme bildeten allerdings die lutherischen Weimarer Herzöge vor und während des Dreißigjährigen Krieges. Sie nahmen für sich selbst und für die Jenaer Universität das wahre Luthertum in Anspruch, sympathisierten aber schon aus Abneigung gegenüber Kursachsen politisch mit dem reformierten Lager.3 Sie unterstützten den Winterkönig und alle gegen die kaiserlich-katholische Hegemonie gerichteten Kräfte, und sie unterzeichneten den Prager Frieden nur aus Angst vor der militärischen Überlegenheit des Kaisers. Herzog Bernhard unterwarf sich nicht. Er verfügte über eine Armee, die er gegen den Kaiser einsetzen wollte, und er war im engeren Sinn kein Reichsstand. Johann Gerhards Gutachten zum Widerstand und sein Schreiben an den Darmstädter Kanzler zum Prager Frieden 1635 spiegeln das „deutsche“ Dilemma des orthodoxen Luthertums. Die Überlegungen sind nur auf die „deutschen“ Verhältnisse des Augsburger Religionsfriedens und einer limitierten, vertraglich vereinbarten obersten kaiserlichen Herrschaft bezogen. Für diese Konstellation gelten auch Gerhards politisch relevante Vorstellungen (1.) zum Widerstand und (2.) zum Prager Frieden. Sie werden (3.) mit anderen Meinungen konfrontiert und (4.) im Fazit kommentiert. 1. POLITISCHE VORSTELLUNGEN, INSBESONDERE ZUM WIDERSTAND Johann Gerhard hatte Medizin in Wittenberg, danach Theologie in Jena und damit an derjenigen Universität studiert, die seit ihrer Gründung dem wahren Luthertum verpflichtet war.4 Welche theologisch-dogmatischen Positionen sich damit verbanden, hing von den jeweiligen Umständen ab. Es ging weniger um eine eindeutige konfessionelle Ausrichtung als vielmehr um die Rivalität mit den beiden albertinischen Universitäten in Wittenberg und Leipzig, mit denen Jena zwar auch kooperierte, im Kampf um die lutherische Klientel aber in erster Linie konkurrierte. Das wahre Luthertum war in Jena mehr eine Marke als eine dezidierte dogmatische Festlegung, wie sich vor allen Dingen in den Auseinandersetzungen mit und um Flacius Illyricus gezeigt hatte.5 Das landesherrliche Kirchenregiment und das ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens gaben den ernestinischen 2 3

4 5

Vgl. dazu Georg Schmidt: „Luther und die Freiheit seiner ,lieben Deutschen‘“, in: Heinz Schilling (Hg.): Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme. Berlin u.a. 2015, S. 173–194. Vgl. dazu Georg Schmidt: „Die ernestinisch-thüringische Alternative. Wahres Luthertum und offensive Politik“, in: Werner Greiling u.a. (Hg.): Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation. Köln u.a. 2014, S. 269–283. Vgl. Joachim Bauer u.a. (Hg.): Die Universität Jena in der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2008, S. 25–45. Vgl. Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011.

Gerhard über Widerstand

39

Herzögen alle Möglichkeiten, für ihr vorrangiges politisches Ziel, die Rückgewinnung der Kur, den lutherischen Glauben zu instrumentalisieren. Gerhard wechselte im Mai 1604 von Jena an die altlutherische Marburger Universität, wo er im August 1605 den dramatischen Übergang zum reformierten Bekenntnis6 und die militärische Unterdrückung des prolutherischen Bürgeraufstandes erlebte.7 Seine konfessionellen Polemiken richteten sich fortan gleichrangig gegen die katholische Amtskirche und die Sekten,8 zu denen er auch die Calvinisten zählte. Auf Wunsch seiner Mutter beendete er sein Studium nicht in Tübingen, sondern in Jena, wurde 1606 Superintendent in Heldburg und kehrte zehn Jahre später als Professor an die Salana zurück. Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen, ein entschiedener Verfechter des Konkordienluthertums, der bis 1615 als Vormund der jungen Weimarer Herzöge regierte, hatte seinen Ruf vorbereitet und durchgesetzt.9 Gerhard gilt als Vertreter der Drei-Stände-Lehre. Zumindest innerkirchlich sollten diese – Gemeinde, Amtsträger und Obrigkeit bzw. Nähr-, Lehr- und Wehrstand – eng und vertrauensvoll zusammenwirken. Allerdings war es der Landesherr, der wegen des ihm seit 1555 zustehenden ius reformandi allein über das Bekenntnis entschied: Es sollte einheitlich sein, um jeden Ansatz zur discordia in einem Gemeinwesen zu vermeiden. Die private Religionsausübung durfte nach Gerhard jedoch freigestellt werden.10 Der Herrscher musste – wie schon Luther gefordert hatte – alle äußeren Bedrohungen des wahren Glaubens abwehren. Bei der weltlichen Obrigkeit liefen alle Fäden zusammen. Sie besaß die gesetzgebende, strafende und richterliche Gewalt, zeichnete für die politische Ordnung und die Durchsetzung des rechten Glaubens verantwortlich und sollte die Untertanen anhalten, ein frommes, ehrbares und friedfertiges Leben zu führen.11 Gerhard, der seine akademische Karriere mit Vorlesungen zur Politik begonnen hatte, orientierte seine Empfehlungen an der Bibel, an Luthers Texten und an der Reichsverfassung. Im Kapitel „De magistratu politico“ des 6. Bandes seiner Loci theologici betont er unter anderem die für alle verbindliche Pflicht der Vaterlandsliebe. Die patria müsse jeder mit seinem Leben schützen. Wer dies nicht tue, breche einen impliziten Eid.12 Kriege dürften nur legitime Obrigkeiten führen, denen Gott das Schwert gegeben habe. Sie seien als gerechte Kriege erlaubt, „wenn wir Gewalt von uns und den Unsrigen abwehren und so das Vaterland, die 6

Volker Press: „Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655)“, in: Walter Heinemeyer (Hg.): Das Werden Hessens. Marburg 1986, S. 267–331, hier: 294–296. 7 Jörg Baur: „Die Leuchte Thüringens. Johann Gerhard (1582–1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges“, in: Jörg Bauer: Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen. Tübingen 1993, S. 335–356, hier: 341. 8 Martin Honecker: „Art. Gerhard, Johann“, in: TRE 12 (1984), S. 448–453, hier: 451. 9 Jörg Baur: „Johann Gerhard“, in: Martin Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7. Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart u.a. 1993, S. 99–120, hier: 107. 10 Martin Honecker: Cura Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968, S. 122f. 11 Honecker: Cura Religionis, S. 112–121. 12 Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden 2007, S. 50f. und 74.

40

Georg Schmidt

Freiheit und die Eltern mit Waffengewalt beschützen.“13 Der wahre Glaube dürfe nicht offensiv mit Gewalt verbreitet werden. Gerhards politische Positionen sind identisch mit denjenigen Luthers. Er gehörte einerseits zum Kreis des Dresdener Hofpredigers und dezidierten Calvinistenhassers Hoë von Hoënegg (1580–1645) und fügte sich andererseits auch in den spezifischen Jenaer Kontext des wahren Luthertums mehr oder weniger harmonisch ein. Hier war alles ein wenig anders als an den vom Konkordienluthertum geprägten Universitäten. Unter der Führung des Juristen Dominicus Arumaeus (1579–1637) und des Politiktheoretikers Wolfgang Heider (1558–1624) war in Jena ein Gelehrtenzirkel entstanden, der später als „Pflanzschule der deutschen Publizistik“ gerühmt wurde.14 Dieser Kreis diskutierte und publizierte über Krieg und Frieden, die Legitimation und Kontrolle von Herrschaft, Souveränität und Widerstand. In diesem Umfeld publizierte der Weimarer Prinzenerzieher Friedrich Hortleder (1579–1640) 1617/18 seine für die Entwicklung des Reichsstaatsrechts überaus wichtige Quellensammlung zum Schmalkaldischen Krieg. Damit wollte er an die offene Wunde des Kurwechsels im Hause Wettin 1547 erinnern. Er ließ die jungen Herzöge zudem die kaiserliche Wahlkapitulation mit einer Tyrannenherrschaft vergleichen, um so die vertragliche Grundlage des Kaisertums zu erläutern.15 Auch der nationale und gegen eine kaiserliche Monarchie gerichtete politische Ideenhaushalt der von den reformierten Anhaltern und den lutherischen Ernestinern samt ihren Höflingen gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft speiste sich aus solchen Vorstellungen einer gemischten Verfassung und einer limitierten kaiserlichen Monarchie.16 Gerhard profitierte von den Argumentationsmustern dieses in erster Linie auf die Reichsverfassung und die kulturelle Einheit der deutschen Nation fokussierten Gelehrtenkreises. Arumaeus druckte jedenfalls 1623 dessen Gutachten zum Widerstand im 4. Band seines juristischen Sammelwerkes. Ganz in diesem Sinn macht Gerhard hier die jeweilige Verfassung zur unhintergehbaren Richtschnur darüber, wer unter welchen Bedingungen zur Gegenwehr berechtigt ist. Deswegen erläutert er zunächst den Unterschied zwischen bloßen Untertanen und den Ständen, „welche sind Status & ordines regni“, die durch die Wahl ihres Oberhauptes sowie Verträge und Privilegien selbst ein Teil der Herrschaft sind. Die Untertanen haben der von Gott eingesetzten Obrigkeit zu gehorchen. Gerhard verweist auf Luthers vereindeutigende Übersetzungsinterpretation des Römerbriefes und führt 13 A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 70. 14 Andreas Klinger und Alexander Schmidt: „Die Universität zwischen Reich und Fürstenstaat“, in: Universität Jena, S. 73–95, hier: 85. 15 Vgl. Moriz Ritter: „Friedrich Hortleder als Lehrer der Herzöge Johann Ernst und Friedrich von Sachsen-Weimar“, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Alterthumskunde 1 (1880), S. 188–202. Andreas Klinger: „Art. Hortleder, Friedrich“, in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 3. Berlin 2014, Sp. 408–414. 16 Georg Schmidt: „Die Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft als politisch motivierte Sammlungsbewegung und höfische Akademie“, in: Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer – eine teutschertzige Gesellschaft. Heidelberg 2001, S. 5–37.

Gerhard über Widerstand

41

aus, dass ein Tyrann nicht bei jedem Vergehen, sondern nur dann, wenn er die Religion und das ganze Gemeinwesen zu zerstören drohe, seine obrigkeitliche Qualität einbüße. Für die Untertanen sei es in jedem Fall besser zu gehorchen, als die Waffen zur Hand zu nehmen, denn wer sich der Obrigkeit widersetze, widerstrebe Gottes Ordnung. Wehren dürften sich nur die Reichsstände, weil sie Teil an der Herrschaft besäßen und von Gott berufen seien. Sie müssten ihre Untertanen auch mit Waffengewalt schützen, wenn diese von einem Tyrannen angegriffen werden, denn Gott habe ihnen das Schwert zur Rache über die Bösen und zum Schutz der Frommen gegeben. Bevor sie es einsetzten, müssten sie jedoch andere Mittel versuchen: supplizieren, benachbarte Herrscher um Intervention bitten und Gott durch Gebete ersuchen. Untertanen und Landstände, Räte und Beamte dürften sich dagegen nur verteidigen, denn ihnen habe sich kein Fürst verpflichtet und ihnen habe Gott das Schwert nicht gegeben. Im Übrigen setze die Bibel die irdische Ordnung nicht außer Kraft, denn das Evangelium lehre nichts gegen die weltlichen Rechte. Darauf hätten schon Luther und seine Kollegen anlässlich der Widerstandsdiskussion 1531 hingewiesen. Die Religion sei kein rechtmäßiger Kriegsgrund, doch gegen jeden, der deswegen angreife, dürfe man sich wehren.17 Das Gutachten, das letztlich nur Luthers Positionen in dieser heiklen Frage wiederholt und erläutert, war angesichts der brisanten Konstellation in Böhmen und im Reich interpretationsfähig. Gerhard sah in dem gewählten Kaiser einen an die Reichsgrundgesetze und die Wahlkapitulation gebundenen administrator reipublicae. Wenn er gegen seine Pflichten verstieß, durften die Reichsstände gegen ihn vorgehen.18 Bewusst offen blieb freilich, ob der Kaiser zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges gegen seine Verpflichtungen verstoßen hatte und tyrannisch geworden war. Darum aber ging es nach der Übertragung der Pfälzer Kurwürde und des größten Teils dieses Territoriums an Maximilian von Bayern. Die Weimarer Herzöge verharrten nicht nur an der Seite der Gegner Kaiser Ferdinands II., sondern leisteten aktiven militärischen Widerstand. Gerhards Nähe zu bestimmten monarchomachischen Vorstellungen ist augenfällig, gehört aber zum häufig übersehenen Grundbestand des obrigkeitlich dominierten deutschen Luthertums: Die Reichsstände – und nur sie – durften dem Kaiser entgegentreten, weil dieser als gewählter und vertraglich gebundener Herrscher kein Monarch im eigentlichen Sinn war. Wenn er gegen seine vertragsrechtlichen Zusagen verstieß und die deutsche Freiheit verletzte, waren die Reichsstände, die ihn kontrollierten und mitregierten, zum Widerstand verpflichtet. Die im Zuge der Einführung der Reformation entstandene Auffassung einer alten „deutschen Freiheit“ als Leitidee der Reichsverfassung ging auf die Libertas Germanorum des Tacitus zurück. Sie war von den deutschen Humanisten, insbe17 Johann Gerhard: „Ob alle und jede Unterthanen in einer jedwedern Policey irer von Gott ihnen vorgesetzten Obrigkeit ohne Unterscheidt also zum Gehorsam obligiret […]“, in: Dominicus Arumaeus: Discursus Academici de jure publico. Bd. 4. Jena 1623, S. 73–89, Zitat 74. Vgl. Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1609. Berlin 1999, S. 82–84. 18 Vgl. A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 85.

42

Georg Schmidt

sondere von Ulrich von Hutten, zunächst als kulturelles Distinktionsmerkmal gegen Rom in Stellung gebracht worden. Auch Luther bediente sich dieser Vorstellung. Die evangelischen Fürsten begründeten damit ihren Anspruch auf politische Mitgestaltung aller Reichsangelegenheiten und sprachen von einem freien Reich. Auch katholische Reichsstände, allen voran die Herzöge von Bayern, wandten sich unter Verweis auf die deutsche Freiheit gegen die monarchischen Ambitionen Kaiser Karls V.19 Luther und die Reformationen besaßen für die nun verfassungsrechtlich ausgedeutete deutsche Freiheit eine katalysatorische Wirkung, unterlagen später aber selbst der damit einhergehenden Rahmenkontrolle durch Kaiser und Reich. Diese verhinderte die Etablierung despotischer und auch fundamentalistischer Herrschaft. Die dogmatische Verengung des Konkordienwerks blieb reichsrechtlich eine „private“ Übereinkunft lutherischer Reichsstände. Nicht alle Augsburger Konfessionsverwandten unterzeichneten die Konkordienformel. Sie führte nicht zu neuer Einheit, sondern spaltete die Protestanten in Lutheraner, Konkordienlutheraner und Reformierte.20 2. DER BRIEF ZUM PRAGER FRIEDEN Johann Gerhard gutachtete 1635 über den Prager Frieden in Form eines Briefes an Anton Wolff von Todenwarth (1592–1641), Kanzler der Landgrafschaft HessenDarmstadt. Er hatte um Rat gebeten, ob ein evangelischer Reichsstand den Prager Frieden guten Gewissens annehmen könne oder den Krieg fortsetzen müsse bis auch für die Untertanen in Böhmen, Österreich und Mähren die Religionsfreiheit wiedererlangt worden sei. Gerhards Antwort erschien 1636 als selbständiger Druck auf Deutsch und Latein.21 Anton Wolff von Todenwarth und sein Bruder Dr. Johann Jakob gehörten zu den Darmstädter Vermittlern des Prager Friedens.22 Anton Wolff hatte 1603 in Jena und danach in Gießen Jura studiert und leitete seit 1624 die Darmstädter Politik, die sich – vor allem wegen des Erbschaftsstreites mit Hessen-Kassel – stark am Kaiserhof orientierte. Der Kanzler geriet in den Verdacht, zum katholischen Glauben konvertiert zu sein. Er dementierte am 13. März 1628 in einem Schreiben an den Gießener Superintendenten: Sein ganzes Leben beweise das Gegenteil, 19 Vgl. Georg Schmidt: „Die Idee ,deutsche Freiheit‘. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches“, in Georg Schmidt, Martin van Gelderen u.a. (Hg.): Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850). Frankfurt am Main 2006, S. 159–189. 20 Vgl. Irene Dingel: Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts. Gütersloh 1996. 21 Vgl. Johann Gerhard: Schreiben. […] An den Fürstlichen Hessischen Cantzler Herrn D. Antonium Wolffium in Lateinischer Sprach abgangen. Darinnen diese Frage decidiret wird: Ob ein recht Evangelischer ReichsStand den Pragerischen Frieden mit unverletzten Gewissen annehmen könne […]. [s.l.] 1636 (VD17 14:005348G). 22 Vgl. Volker Press: „Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655)“, in: Walter Heinemeyer (Hg.): Das Werden Hessens. Marburg 1986, S. 267–331, hier: 309f.

Gerhard über Widerstand

43

denn wenn er konvertiert wäre, würde er nicht mehr seine Funktionen ausüben, sondern „die reichthum, die mir schon vor vilen jahren und seithero oftmahls von der höhe des bergs gezaigt, accepetirt haben“.23 Die Gerüchte wollten freilich nicht verstummen: Wolff wurde auf dem Regensburger Kurfürstentag 1630 für einen katholischen Gesandten gehalten. Er musste sich die geharnischte Kritik des Braunschweiger Delegierten an Kurfürst Johann Georg von Sachsen anhören, der nur an seinen eigenen Nutzen denke und die anderen Protestanten zugrunde gehen lasse. Gottes Strafrute werde ihn züchtigen. Gemeint war mit dieser Philippika aber auch der Darmstädter Landgraf Georg II., der Schwiegersohn des sächsischen Kurfürsten, der eine ähnlich kaisertreue Politik betrieb und davon ebenfalls politisch profitierte.24 Johann Gerhard wusste, für wen er gutachtete, und er wusste, dass der Prager Frieden die deutsche Nation spaltete. In Weimar, Kassel und Lüneburg, wo es noch evangelische Armeen gab, war ein Militärbündnis gegen dieses schmähliche Friedensdiktat, das die Reichsverfassung aushebelte, ernsthaft erwogen worden. Doch nach der Niederlage der Schweden bei Nördlingen und angesichts der ausgemergelten Lande wollte sich schließlich sogar der Kasseler Landgraf Willhelm V. unterwerfen. Die kompromisslose kaiserliche Politik trieb ihn dann allerdings in die Arme Frankreichs und Schwedens.25 Die politische Propaganda, die mit einer nationalen Rhetorik die Befreiung Deutschlands von fremden Mächten forderte, stieß nicht nur bei den vom Frieden ausgeschlossenen Reichsständen, sondern selbst in Kursachsen auf Widerstand. Die Pfarrer beschuldigten ihren eigenen Landesherrn, die Schweden, die ihr Blut für die evangelische Sache vergossen hätten, und die evangelischen Glaubensbrüder im Stich gelassen zu haben. Bei dieser Kritik spielten gewiss auch die lutherischen Antichrist- und Endzeitvisionen eine Rolle, die den schwedischen Kriegszug in Deutschland begleitet hatten.26 Ein Friede mit dem Kaiser als dem Parteigänger des Papstes widersprach den Überzeugungen derjenigen, die in Gustav II. Adolf ein Werkzeug Gottes auf dem Feldzug gegen den Antichristen – Kaiser, Papst und Türken – gesehen hatten.27 Gerhard hatte dagegen in einer lateinischen Friedenshymne betont, dass sich Gott nun endlich dem deutschen Volk erbarmt habe, das lange die Beute des schmutzigen Mars gewesen sei.28 Wie die vertragsschließenden Parteien betrachtete er den Frieden als das Mittel, um das erschöpfte und zerstörte Heilige Römi23 Wilhelm Martin Becker: „Die religiöse Stellung des hessischen Kanzlers Anton Wolff von Todenwarth“, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, NF 11 (1902), S. 89–93, hier: 93. 24 Vgl. Ralf-Peter Fuchs: Ein „Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. München 2010, S. 78–80. 25 Vgl. Press: „Hessen“, S. 310f. 26 Vgl. A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 373. 27 Vgl. Georg Schmidt: „Der ,Leu aus Mittenacht‘. Politische und religiöse Deutungen König Gustavs II. Adolf von Schweden“, in: Mariano Delgado und Volker Leppin (Hg.): Gott in der Geschichte. Zum Ringen um das Verständnis von Heil und Unheil in der Geschichte des Christentums. Stuttgart 2013, S. 325–349. 28 Vgl. Baur: „Leuchte“, S. 356.

44

Georg Schmidt

sche Reich deutscher Nation aus seiner großen Not zu retten. Gott hatte das deutsche Volk mit dem Krieg für seine Sünden bestraft und ihm nun aus dem Elend geholfen. Dies ist auch der Grundtenor der Gerhardschen Position zum Prager Frieden. Er kommt zu dem Schluss, ein evangelischer Reichsstand könne diesen Frieden annehmen, ohne sein Gewissen zu verletzten. Wer für die Fortsetzung des Krieges plädiere, um die Religionsfreiheit in Böhmen durchzusetzen, unterschätze die Not des Krieges und den Nutzen des Friedens, der wie ein Frühling sei: Alles blühe und gedeihe. Die freyen Künste sind in grossem auffnehmen/ die Jugend wird wol erzogen und informiret, die Alten haben ruhige Tage/ und die Jungfrawen freyen ehrlich […] Frommen gehet es wol/ und die bösen dürffen so offt nicht sündigen.29

Krieg zerstöre hingegen alles: „Es kan kein Mensch aussprechen was vor grosses übel und unheil man im Kriege erfahren muß.“30 Bemerkenswert ist Gerhards Vergleich: „wenn eine privat Person einen Todschlag begehet/ wird es vor eine grosse Ubelthat gehalten/ geschicht aber ein solche offentliches Morden/ muß es eine Ritterliche Tugend heissen […].“31 Auch Scipio habe unbillige Friedensmittel einem rechtmäßigen Krieg vorgezogen. Gegen den Prager Frieden werde eingewandt, dass er unchristlich sei, weil man die nachbarlichen Seelen dem „päbstischen Aberglauben“ und der Gefahr einer ewigen Verdammnis überlasse. Die Kritiker wollten einen wegen der Religionsfreiheit begonnenen Krieg so lange fortsetzen, bis für alle „unsers Glaubens Mitgenossen/ ein freyes Religions Exercitium erlanget werde“.32 Doch dies geschehe nur aus unbesonnener und unsinniger Liebe zum Krieg. Über sie könne man sagen: Wenn manchen seine böse Sach/ Zu Kriegen bald hat auffgebracht/ So soll dann die Religion, B’schönen die b’gierd zur Region.33

Diese Unterstellung richtete sich wohl in erster Linie gegen die Schweden und die reformierten Reichsstände, traf aber auch auf die Weimarer Herzöge zu, allen voran auf Bernhard. Es gehe jetzt nicht darum – so Gerhard weiter –, welche Bedingungen für die Augsburger Konfession am günstigsten seien, sondern ob der vorliegende Frieden angenommen oder der blutige Krieg fortgesetzt werden solle. Die Geschichte zeige, dass auch 1552/55 für die Glaubensgenossen in Österreich und Böhmen nichts erreicht worden sei. Nun stehe immerhin im Vertragstext, wie sehr sich der sächsische Kurfürst um günstigere Regelungen bemüht habe, ohne den Kaiser umstimmen zu können. Zudem finde sich im Abschied des Leipziger Konvents, der die Basis für den jetzigen Krieg bilde, nichts von dem Ziel einer 29 30 31 32 33

Gerhard: Schreiben, S. Aijv. Gerhard: Schreiben, S. Aiijr. Gerhard: Schreiben, S. Aiijr–Aiijv. Gerhard: Schreiben, S. Aiijv. Gerhard: Schreiben, S. Aiiijv.

Gerhard über Widerstand

45

Wiedererlangung der Religionsfreiheit in Böhmen oder Österreich. Der Krieg sei für die mit dem Blut der Vorfahren erfochtene deutsche Freiheit des Religionsund Profanfriedens geführt worden. Dies sei jetzt erreicht und der Frieden müsse daher angenommen werden. Überdies sei unklar, ob die Reichsstände überhaupt das Recht besäßen, den Kaiser anzugreifen, wenn dieser den Untertanen in seinen „Erbkönigreichen und Ländern“ die freie Religionsausübung verweigere. Ferdinand II. sei diesbezüglich gegenüber den Reichsständen in keiner Pflicht. Zwar habe der böhmische Majestätsbrief 1609 die Religionsfreiheit garantiert, doch die böhmischen Stände seien im Krieg besiegt worden und hätten damit wohl diese Zusagen und Privilegien eingebüßt. Bisher hätten darüber hinaus die evangelischen Reichsstände das ius reformandi nicht in Frage gestellt. Demnach stehe es allein den Landesfürsten zu, „daß er einer oder der andern Religion/ der Unterthanen wiederfechtens ungeachtet/ ein frey öffentliches Exercitium verstatte“. Diese Regel gelte auch für die kaiserlichen Erblande. Wer wolte oder köndte derwegen den Reichs-Ständen rathen/ daß sie weil etlichen außwärtigen Königreichen und Provincien die ReligionsFreyheit abgeschlagen worden/ darümb wieder Keys. May. dero sie mit Eyd und Pflicht verwand/ sich aufflehnen […]34

sollen. Sie dürften die Religionsfreiheit dort nicht mit Waffengewalt erkämpfen. Stattdessen sollten sie Gott bitten, den Kaiser entsprechend zu lenken bzw. an ihn supplizieren. Gott habe Maximilian II. und Rudolf II. bewogen, die evangelische Religion zuzulassen. Dies könne er bei Ferdinand II. ebenfalls bewirken. Die böhmischen und österreichischen Untertanen sollten den Mut nicht sinken lassen oder gar „die Rebellischen Waffen wieder die hohe Obrigkeit ergreiffen“.35 Im Kapitel „De magistratu politico“ seiner Loci theologici hatte Gerhard noch zugestanden, dass Obrigkeiten notfalls zugunsten fremder, wegen des Glaubens bedrängter Untertanen mit Waffengewalt intervenieren dürften, um sie zu schützen – aber nur, wenn zuvor an der Regierung beteiligte Adlige darum gebeten hätten.36 Daran mangelte es 1635 gewiss nicht. 3. ANDERE MEINUNGEN Joachim Gerdson widersetzte sich der allgemeinen Friedenssehnsucht, die auch die lutherischen Theologen ergriffen hatte. Er ließ 1636 ein Gutachten der Helmstädter Fakultät samt einem anonymen Kommentar drucken,37 den er wohl 34 35 36 37

Gerhard: Schreiben, S. Bijv und Bijr. Gerhard: Schreiben, S. Biijr. Honecker: Cura Religionis, S. 132–134. Joachim Gerdson: Copey dreyer Schreiben/ den Pragerischen Friede betreffend: I. Ihrer Fürstl. Hn. Hertzog Georgens zu Braunschweig und Lüneburg Gewissens-Frag uber selbiges Friedens Annehmunge. II. Der Theologischen Facultät zu Helmstadt Antwort auf dieselbige. III. Eines Lutherischen vornehmen und hochgelahrten Theologi Bedencken uber solches Consilium und beantwortung. [s.l.] 1636. URL: http://diglib.hab.de/drucke/336-3-theol2s/start.htm [letzter Zugriff: 18.05.2016].

46

Georg Schmidt

selbst verfasst hatte. Im Vorwort parallelisiert Gerdson den Prager Frieden mit dem Interim. Die evangelischen Fakultäten beugten ihre Knie vor dem „Pragerischen Baal“. Die Helmstädter Theologen hatten ganz ähnlich wie Johann Gerhard argumentiert. Da Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg durch den Frieden in seinen Rechten nicht beeinträchtigt werde, dürfe er im Zeichen der Religion keinen Krieg gegen seine Mitstände oder gegen den Kaiser als höchstes weltliches Oberhaupt führen. Das Normaljahr 1627 und die 40jährige Suspension des Restitutionsediktes tangierten niemanden an seinen Rechten. Dass in Böhmen die evangelische Religion nicht mehr ausgeübt werde dürfe, sei misslich, doch weder der Religionsfrieden noch Gottes Wort erlaubten, deswegen den Krieg fortzusetzen. Da zudem das eigene Land verarmt sei und den Krieg nicht mehr finanzieren könne, dürfe ein evangelischer Fürst diesen Frieden nicht ausschlagen. Zwar werde die neue kaiserliche Armee nur zu einem Teil aus Protestanten und zu drei Teilen aus Katholiken bestehen, doch dies sei unerheblich, da nach Annahme des Friedens die Waffen schweigen sollten. Sicherheit biete nur Gott. Die Obrigkeiten müssten in erster Linie für die Verringerung der Sünden und Laster sorgen. Gegen diese Apologie wetterte der beigefügte Kommentar: Die Theologen hätten sich vom „süssen Namen des Friedens“ betören lassen. Ihr Gutachten lasse sich nicht mit Gott begründen und fördere nur die Trennung unter den Protestanten. Die Stände seien sehr wohl mit dem Prager gegen den Augsburger Religionsfrieden beschwert worden: Die beiden Friedensarchitekten Dr. David Döring und Dr. Anton Wolff – „ungeachtet sie eine Jesuiten Stirne haben“ – würden die Ansichten der evangelischen Theologen wohl kaum bestätigen.38 Der Herzog von Württemberg und andere Reichsstände blieben zudem von der Amnestie ausgeschlossen. Diejenigen, die noch bewaffnet seien, hingegen nicht. Doch was geschehe, wenn einmal alle Protestanten ihre Waffen niedergelegt hätten? Gegen die Nennung der beiden evangelischen Hauptunterhändler erschien 1637 ein erbitterter Widerspruch, der inhaltlich jedoch lediglich hervorhob, dass David Döring und die anderen sächsischen Unterhändler nicht für sich, sondern im Einvernehmen mit dem Kurfürsten gehandelt hätten. Beigefügt war ein kurfürstlicher Befehl, dass jeder bestraft werde, der etwas anderes behaupte.39 Die eigentliche Kritik Gerdsons blieb unwidersprochen. Durfte ein evangelischer Fürst diesen Prager Frieden mit gutem Gewissen annehmen? Dagegen sprachen laut Gerdson, dass die deutsche Nation Wortbruch begehe und die zur Sicherung des christlichen Glaubens geschlossenen Bündnisse breche. Falls Schweden sich nicht mit diesem Frieden arrangiere, werde der Krieg ohnehin von neuem beginnen. Die Unterzeichner des Friedensvertrages schlössen ein Bündnis mit den Feinden der evangelischen Religion und den Patronen des Antichristen und übergäben die evangelische Kirche ihren armierten Feinden. Auch gehe es in Böhmen, das die Habsburger nicht als seine Erbherren anerkannt habe, nicht um die Einfüh38 Gerdson: Copey, hier: III. Bedencken, S. 20f. 39 Gottfried Harnisch: Antwort auff eines boßhafftligen Calumnianten, so sich Joachimum Gerdson […] nennet […] [s.l.] 1637 (VD17 39:126132G).

Gerhard über Widerstand

47

rung, sondern um den Erhalt des evangelischen Glaubens. Zudem sei der Hinweis, dass der Krieg aus finanziellen Gründen nicht weitergeführt werden könne, kein theologisches Argument. Insgesamt müsse festgestellt werden, dass der Friede kein Friede sei, weil er die Protestanten zwinge, „mit den Papisten und Verfechtern des Antichristischen Babsthumbs wider ihre wohlverdiente Glaubens- und Bundtsgenossen offensive zu kriegen“.40 Der Krieg gegen die Papisten müsse deswegen fortgesetzt werden, sofern diese keinen besseren Vergleich anböten. Der Friede gefährde die evangelische Religion und liefere die Protestanten dem Kaiser aus. Sie übergäben ihm ihr Kriegsvolk und dürften sich nicht mehr untereinander verbünden. Niemand wisse, ob die Papisten nicht bereits heimlich gegen den Frieden protestiert hätten. Ihnen sei nicht zu trauen. Zwar habe man sich mit Gottes Beistand zu trösten, doch heiße dieser Frieden nicht, Gott zu versuchen, wenn man alle eigenen Mittel zur Verteidigung aus der Hand gebe? 4. FAZIT 1. Warum thematisierte Gerhard die für die Protestanten problematischen Aspekte des Prager Friedens nicht? Wollte er verhindern, dass mit seinem Brief Politik gemacht wurde? 1620 hatte er erfahren, wie ein von ihm im Auftrag der Weimarer Herzöge eingeholtes Gutachten der Wittenberger Fakultät mit einer anderen Überschrift sinnentstellend gedruckt worden war. Es hatte den lutherischen Ständen geraten, den Kaiser nicht unterstützen zu müssen, wenn dieser sie angreifen wolle.41 Die Frage des angeblich von Calvinisten gedruckten Gutachtens lautete hingegen, ob ein Reichsstand dem Kaiser in diesem böhmischen Krieg Beistand leisten müsse.42 Dies gab der Neutralitätsempfehlungen einen anderen Sinn. Die ebenfalls von den Weimarer Herzögen befragten Jenaer Theologen erläuterten am 27. März 1620, dem Kaiser nicht beizustehen, heiße noch nicht, gegen ihn kämpfen zu müssen.43 Auch Johann Gerhard hatte in einem Gutachten für Herzog Jo40 Gerdson: Copey, hier: III. Bedencken, S. 34. 41 Vgl. Erklärung dessen am 25. Januarii 1620. Dem Durchläuchtigen Hochgebornen Fürsten und Herren/ Herrn Johann Ernsten dem Jüngern […] Auff S.F.G. gnädiges begehren von den Theologen zu Wittenberg gegebenen Bedenckens […] uber diese Frage: Ob ein Lutherischer Stand Röm. Key. May: assistentz zu leisten bedencken tragen solle/ wenn von derselben die Lutherischen bekrieget werden solten? Wittenberg 1620. Hierzu: Helmut Tiedemann: „Johann Ernst II. Von Sachsen-Weimar und die Universität Wittenberg“, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, N.F. 32 (1937), S. 233–239. G. Schmidt: „Anfänge der Fruchtbringenden Gesellschaft“, S. 17f. 42 Vgl. Bedencken. Der Churfürst: Sächsischen Theologen zu Wittenberg. Uber die Frage. Ob ein Standt deß Reichs/ dem Römischen Kayser/ inn diesem Böhmischen Krieg/ Beystand zu leisten/ nicht Billich Bedencken tragen solle. [s.l.] 1620. 43 Vgl. Consilium oder Bedencken der Theologischen Facultet zu Jehna. Dem Durchleuchtigen […] Fürsten […] Johan Ernst dem jüngern Hertzogen zu Sachsen […] wegen jetziger Böhemischer Unruhe auff I. F. Gn. gnädigst begehren gestellet und ubergeben. [s.l.] 1620. Hierzu Josef Polišenský: „Die Universität Jena und der Aufstand der böhmischen Stände in den Jah-

48

Georg Schmidt

hann Casimir seine große Sorge um den Frieden artikuliert.44 Die jungen Weimarer Herzöge hatten jedoch alle Warnungen ignoriert und vielleicht sogar dafür gesorgt, dass das Wittenberger Gutachten mit der falschen Frage veröffentlicht wurde. 2. Wie alle Befürworter des Prager Friedens rückte Gerhard das klassische Argument der Pazifisten in den Mittelpunkt: Selbst ein unbilliger Friede sei besser als ein gerechter Krieg. Gerhard beschuldigte diejenigen, die seine Ansicht nicht teilten, der Kriegstreiberei, die ihre Machtpolitik mit der Religion lediglich bemäntelten. Tatsächlich stärkte der Prager Frieden den Kaiser. Er schloss die Calvinisten und auch einige Lutheraner aus, überließ die böhmischen Glaubensgenossen ihrem katholischen Schicksal und erzwang den Bruch des Bündnisses der Protestanten mit den Schweden. Vielleicht antizipierte Gerhard die kursächsische Erklärung. Sie besagte, dass mit dem Tode Gustavs II. Adolf das Bündnis erloschen sei. Die Waffenbrüderschaft habe zwar bis 1634 fortgedauert, doch die Schweden hätten nicht mehr die deutsche Freiheit wiederherstellen wollen, sondern expansionistische Ziele verfolgt.45 Zudem könne kein Bündnis, „die dem Vaterland von Natur schuldige Pflicht abnichtigen“.46 Gerhard berief sich vor allem auf das deutungsoffene Wohl des deutschen Vaterlandes, zu dem Böhmen seines Erachtens nicht gehörte. Er nutzte das tacitistische Argument der conservatio reipublicae, also die sonst von den Theologen verteufelte Staatsraison. Niemand müsse ewig Krieg führen, wenn er die eigenen Vorstellungen nicht durchsetzen könne. Der Darmstädter Vermittler Christian Liebenthal hatte während der Pirnaer Gespräche 1634 offen erklärt: Auf dem Frieden beruhe „ratio status boni publici“.47 Galt der Grundsatz – Not kennt kein Gebot – auch für theologische Expertisen? 3. Die Behauptung Gerhards, der Reichs- und Religionsfrieden werde mit dem Prager Frieden wiederhergestellt, ist nur richtig, wenn die reformierte Konfession zu den verbotenen Sekten gezählt und für den Ausschluss einzelner lutherischer Reichsstände ausschließlich politische Gründe angeführt werden. Der kursächsische Hofprediger Hoë von Hoënegg hatte dagegen am 3. Mai 1635 seinen Herrn daran erinnert, dass er als ein im Krieg nicht überwundener Kurfürst sich vom Kaiser keinen Vertrag aufzwingen lassen müsse. Da die Kaiserlichen die Pirnaer Noteln geändert und statt „Augsburgische confessionsverwante“ „protestirende“ in den Vertrag gesetzt hätten, seien nun die Calvinisten ausgeschlossen. Er selbst wolle dies nicht, doch zur Augsburger Konfession gehörten sie nun einmal nicht. Zudem könne der Kurfürst in einen Krieg gegen Schweden gezogen werden, „durch dero armee doch ihre land und leute vermittelst Gottlichen beistandes und

44 45 46 47

ren 1618-1620“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 7 (1958), S. 441–447, hier: 445f. Vgl. Baur: „Gerhard“, S. 107 und 111f. Vgl. A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 379. Christoph Siegfried von Grünenwalde: Danckbarkeit des Churfürsten zu Sachsen gegen Schweden […]. [s.l.] 1637. A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 375.

Gerhard über Widerstand

49

mit einbüssung dess edl königlichen bluts zweimal salviret worden“.48 Der Hofprediger fragte überdies, ob der Kurfürst mit den Kräften, die er als Antichristen bekämpft habe, wirklich Frieden schließen wolle. Im Januar hatte er geraten, angesichts der hohen Kosten und Verluste nun nichts zuzugestehen, was für die wahre Kirche noch erreichbar sei. Gott habe die babylonische Hure gezüchtigt, „dz. Römische antichristliche Bapstumb“. Er möge dem Kurfürsten beistehen, dass er von den Papisten nicht betrogen werde.49 4. Den misslichen Vorwurf, die böhmischen Protestanten würden mit dem Prager Frieden zum Götzendienst gezwungen, entkräftete Gerhard mit politischen Argumenten. Dabei übernahm er die kaiserliche Deutung: Böhmen sei ein Erbkönigreich der Habsburger. Ferdinand II. rekatholisiere die Länder der Wenzelskrone mit dem Recht des Siegers, Österreich aufgrund des ius reformandi. Die Habsburger hatten in Pirna und Prag behauptet, die Religionsprivilegien hätten den Krieg in Böhmen verursacht und der Kaiser werde deren Wiederaufleben niemals zustimmen.50 Der Krieg, den der Prager Frieden beenden sollte, hatte demnach erst mit dem Leipziger Konvent begonnen. Böhmen war zuvor besiegt und auch über die Kurpfalz längst entschieden worden. Rückgängig gemacht wurden lediglich die schwedischen Eroberungen. 5. Deutschland war 1635 kriegsmüde. Die lutherischen Fürsten und ihre Theologen schauten auf das Reich, sprachen von der deutschen Freiheit und meinten das ius reformandi. Die weltliche Herrschaft über den Glauben sicherte ihres Erachtens Ruhe und Ordnung. Der Prager Frieden spielte jedoch dem Kaiser alle Trümpfe in die Hand. Angesichts der Dominanz der kaiserlichen Waffen hatte er die Bedingungen noch einmal verschärft,51 wie ein Vergleich mit den Pirnaer Noteln zeigt.52 Ferdinand II. mussten alle Armeen unterstellt werden und er sollte 120 Römermonate Reichssteuern erhalten. Zu deren Bezahlung verpflichtete sich jeder Reichsstand mit der Vertragsunterzeichnung. Vollends unangreifbar wurde der Kaiser, weil das Bündnisverbot Widerstand fast aussichtslos machte.53 Kurfürst Johann Georg I. war ein nützlicher Juniorpartner. 1635 rückte ein monarchisch regiertes Reich näher denn je: Der Prager Friede war eigentlich ein Kriegsbündnis der Reichsstände gegen die auswärtigen Mächte. Er habe – so urteilte der Pfälzer Rat Ludwig Camerarius – „libertas Germanicae die gurgel fast abgesto48 Gutachten Hoës, 3. Mai 1635, in: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten, 1618–1651. Zweiter Teil, zehnter Band. Der Prager Frieden von 1635. 2. Teilband (Korrespondenzen). Bearbeitet von Katrin Bierther. München u.a. 1997, S. 692–695, hier: 693f. 49 Gutachten Hoës, 30. Januar 1634, in: Die Politik Maximilians I. von Bayern, S. 403–409, hier: 405. 50 Fuchs: Ein „Medium zum Frieden“, S. 128f. 51 Vgl. Andreas Neuburger: Konfessionskonflikt und Kriegsbeendigung im Schwäbischen Reichskreis. Württemberg und die katholischen Reichsstände im Südwesten vom Prager Frieden bis zum Westfälischen Frieden (1635–1651). Stuttgart 2011, S. 43–45. 52 Pirnische und Pragische Friedens Pacten […]. [s.l.] 1636. Zitiert nach A. Schmidt: Vaterlandsliebe, S. 371. 53 Vgl. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806. München 1999, S. 166–173.

50

Georg Schmidt

chen“.54 Gerhard ignorierte diese möglichen Folgen seiner Politikberatung. Er zog ein unter dem Kaiser geeintes und friedliches deutsches Reich allen anderen irdischen Konstellationen vor, denn nur die monarchische Staatsform garantierte ein wohlgeordnetes Staatskirchentum.55

54 Ludwig Camerarius zitiert nach Georg Schmidt: „,Absolutes Dominat‘ oder ,deutsche Freiheit‘. Der Kampf um die Reichsverfassung zwischen dem Prager und dem Westfälischen Frieden“, in: Robert von Friedeburg (Hg.): Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Berlin 2001, S. 265–284, Zitat S. 272. 55 Honecker: Cura Religionis, S. 111.

GERHARDS TÄTIGKEIT ALS SUPERINTENDENT UND SEINE VISITATIONSPRAXIS Siegrid Westphal 1. FORSCHUNGSSTAND Die Forschung hat Johann Gerhards Tätigkeit als theologischer Dogmatiker, als Universitätsgelehrter, als Seelsorger und Verfasser zahlreicher Trost- und Erbauungsschriften sowie als politischer Ratgeber zu Recht gewürdigt.1 Sein zehnjähriges Wirken als Superintendent von Heldburg und Generalsuperintendent von Sachsen-Coburg wurde bisher jedoch eher „stiefmütterlich“ behandelt. Ganze drei Aufsätze bzw. Monographien widmen sich diesem Zeitraum von 1606 bis 1616, in dem immerhin das zentrale Werk der Loci begonnen wurde und andere wichtige Predigten und Trostschriften entstanden.2 Nicht zuletzt deshalb hat die Forschung immer wieder den Zusammenhang von kirchlicher Praxis und deren theologische Reflexion in den Schriften Gerhards betont. Die Loci seien ganz auf das Leben und die kirchliche Praxis ausgerichtet,3 der usus practicus spiegele die alltäglichen Erfahrungen, die Gerhard in seiner kirchlichen Praxis gewonnen habe.4 Diese Perspektive dominiert in den Forschungen zu Gerhards kirchenpraktischer Tätigkeit. Die erste quellenbasierte Arbeit – ein Vortrag des Pfarrers Ferdinand Schmidt von 1893 – fußt auf einer Reihe von Coburger Archivalien, die leider nicht zitiert werden und sich heute nur noch teilweise im Staatsarchiv Coburg befinden.5 Schmidt kommt im Stile der Forschungen des 19. Jahrhunderts zu dem Urteil, „daß für den großen Dogmatiker des Luthertums auch das Kleinste in seinem Amt nicht zu gering war. Auch die Kirchenzucht übte er fleißig.“6 1896 befasste sich Georg C. B. Berbig auf der Basis der im Gerhard-Nachlass überlieferten Visitationsprotokolle von 1610 und 1613 mit der Visitationstätigkeit Ger-

1 2

3 4 5 6

Vgl. den Überblick bei Johann Anselm Steiger: Art. „Gerhard, Johann“, in: Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller u.a. (Hg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 2. Berlin 2012, Sp. 557–571. Ferdinand Schmidt: Johann Gerhard in Heldburg. Meiningen 1893. Georg Carl Bernhard Berbig: D. Johann Gerhards Visitationswerk in Thüringen und Franken. Gotha 1896. Johann Anselm Steiger: „Kirchenordnung, Visitation und Alltag. Johann Gerhard (1582–1637) als Visitator und kirchenordnender Theologe“, in: ZRGG 55 (2003), S. 227–252. Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 19. Vgl. Berbig: Visitationswerk, S. 5. Vgl. F. Schmidt: Gerhard. F. Schmidt: Gerhard, S. 28.

52

Siegrid Westphal

hards.7 Auch Berbig betont, wie gewissenhaft Gerhard bei der Vorbereitung vorgegangen sei und mit welch großem Eifer er das Werk geleitet habe.8 Die von Gerhard verfasste Kirchenordnung, die Casimiriana, wird als Frucht praktischer Erkenntnis charakterisiert, Gerhards Lebensprinzip als praktisches, lebendiges Christentum geschildert.9 Erst mehr als hundert Jahre später – 2003 – widmete sich Johann Anselm Steiger Gerhards Tätigkeit als Visitator und kirchenordnender Theologe ebenfalls auf der Basis der Visitationsprotokolle, die er in großer Abhängigkeit zur Kirchenordnung Gerhards sieht. Er gelangt zu der mit Abstand günstigsten Bewertung Gerhards. Er sei „nicht gesetzlich, sondern evangelisch motiviert“ gewesen.10 Nicht Recht, sondern auf „Gelindigkeit bedachte Verkündigung“ habe ihn geleitet. Er habe sich darum bemüht, die Missstände vor Ort zu beheben und nur in ganz seltenen Fällen das Konsistorium veranlasst, tätig zu werden. Er wollte nicht vorschnell Verwaltungsakte in Gang setzen. Gerhard habe zudem Methodik und Rahmenbedingungen seiner Visitation selbst ausgearbeitet. Steiger möchte auf diese Weise zeigen, dass Gerhard sein kirchenleitendes Amt im Prinzip als Seelsorger wahrnahm und dass das landesherrliche Kirchenregiment nicht gleichbedeutend mit Vergesetzlichung und Verrechtlichung zu sehen ist. „Kirchenvisitationen waren seelsorgerlich motiviert und gehören als integraler Bestandteil zur orthodoxen Programmatik.“11 Allen drei aus theologischer Perspektive entstandenen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie sich darum bemühen, im überragenden Dogmatiker Gerhard auch einen überragenden Praktiker zu sehen. Die ausschließliche Betrachtung von Gerhard als Visitator lässt ihn als singuläre „Lichtgestalt“ erscheinen. Keiner der Autoren ordnet Gerhards Tätigkeit in größere Zusammenhänge ein. Auch die aktuellste Arbeit von Steiger kontextualisiert die kirchenleitende Funktion Gerhards nicht, obwohl doch das Visitationswesen seit mehr als 50 Jahren intensiv erforscht 7

Vgl. Berbig: Visitationswerk. Die Akten zur Spezialvisitation der Superintendentur Heldburg 1610/11 und zur Generalvisitation im Herzogtum Sachsen-Coburg 1613 sind Teil des Gerhard-Nachlasses, der in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt wird. Unter Chart. A 634 finden sich zum Großteil eigenhändig von Gerhard verfasste deutsche Visitationsprotokolle und ergänzende Quellen zur Durchführung der Visitationen. Der Bestand Chart. A 633, Bl. 2r–39v, beinhaltet von Johann Gerhard eigenhändig geführte deutsche Protokolle von Sitzungen des Coburger Konsistoriums vom 1. März 1615 bis 4. April 1616. Die Hinweise auf diese Quellenbestände verdanke ich Herrn Dr. Daniel Gehrt, Bearbeiter des Nachlasses von Johann Gerhard und seinem Sohn in der Forschungsbibliothek Gotha. Im Staatsarchiv Coburg lassen sich dagegen keine Unterlagen zu den von Gerhard durchgeführten Visitationen finden. Offenbar hat Gerhard die Akten in seinem Besitz behalten. Auch im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sind keine Quellen über die von Gerhard durchgeführten Visitationen vorhanden. Im Thüringischen Staatsarchiv Meiningen findet sich im Bestand Amtsarchiv Heldburg unter Konsistorialsachen Nr. 1355 ein Bericht Gerhards und des Rats von Heldburg an das Konsistorium wegen des Kantors Lautensack. 8 Vgl. Berbig: Visitationswerk, S. 6. 9 Vgl. Georg Carl Bernhard Berbig: „Zur Composition der Casimirianischen Kirchenordnung vom Jahr 1626“, in: Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht 6 (1896/97), S. 176–190. 10 Vgl. im Folgenden Steiger: „Kirchenordnung“, S. 251. 11 Steiger: „Kirchenordnung“, S. 249.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

53

wird und als wichtiger Bestandteil der reichen Konfessionalisierungsforschung anzusehen ist.12 Im Folgenden soll es nicht darum gehen, Gerhard als einen unbestreitbar bedeutenden Theologen in Frage zu stellen, aber ein vergleichender Blick auf das gut untersuchte Visitationsgeschehen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts soll dazu dienen, ihn vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung als Funktionsträger des landesherrlichen Kirchenregiments einzuordnen. Gleichzeitig soll damit auch ein Licht auf das Verhältnis von Gerhard zu seinem Landesherrn, Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564–1633), geworfen werden, das bisher kaum das Interesse der Forschung gefunden hat. Gerhards politische Vorstellungen wurden zwar aus ideengeschichtlicher Perspektive schon intensiver beleuchtet, allerdings standen dabei vor allem seine in den Loci Theologici unter dem Abschnitt De Magistratu Politico ausgeführten Vorstellungen zum Widerstandsrecht und zur Vaterlandsliebe im Mittelpunkt.13 Gezeigt werden soll, dass Gerhard zwar als grundsätzlich fürstentreuer Landesdiener sein kirchenleitendes Amt pflichtbewusst und gewissenhaft ausübte und damit die unter schwierigen Umständen 1586 angetretene Landesherrschaft von Johann Casimir auf verschiedenen Ebenen stützte. Allerdings sah er im Aufbau der Landeskirche und der konfessionellen Durchdringung der Untertanenschaft nicht sein Hauptanliegen. Er verstand sich als Gelehrter, der an der Universität wirken und sich allenfalls der Ausbildung von theologischem Nachwuchs widmen wollte. Damit befand er sich in einem gewissen Gegensatz zu seinem Landesherrn, der ihn immer stärker in seine Kirchenorganisation einzubinden gedachte. Vor diesem Zwiespalt gilt es, Gerhards kirchenleitende Tätigkeit einzuordnen und zu bewerten. Als Quellengrundlage werden neben den Visitationsprotokollen und anderen Visitationsakten aus der Forschungsbibliothek Gotha die im Staatsarchiv Coburg überlieferten Archivalien, ältere Literatur sowie das Ehrengedächtnis14 Gerhards auf seinen Landesherrn Johann Casimir anlässlich von dessen Tod im Jahre 1633 herangezogen.

12 Hier sei auf folgende Überblickswerke verwiesen: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hg.) unter Mitarbeit von Franz Brendle: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register. Münster 1997. Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002. Thomas Brockmann und Dieter J. Weiß (Hg.): Das Konfessionalisierungsparadigma. Leistungen, Probleme, Grenzen. Münster 2013. 13 Vgl. Robert von Friedeburg: Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt: Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530–1669. Berlin 1999. Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden 2007. 14 Vgl. Delineatio imperialis collegii historici a sinceris aliquot doctisque Germanis gloriose & feliciter fundandi ad cordatos et eruditos. [s.l.] 1687, Nr. 12 [ohne eigene Paginierung]. Nachweis: ThULB Jena, 4 Diss. philos. 47 (1). Das Ehrengedächtnis Gerhards auf Johann Casimir in lateinischer und deutscher Sprache ist Teil einer Sammlung von Leichenpredigten auf Fürsten, die sich um Deutschland verdient gemacht haben.

54

Siegrid Westphal

Folgende Aspekte sollen beleuchtet werden: Zunächst wird ein Blick auf die Landesherrschaft von Johann Casimir und seine kirchenpolitischen Maßnahmen gerichtet, um mit Hilfe des Konfessionalisierungsparadigmas die Bedeutung des Visitationswesens und des landesherrlichen Kirchenregiments für die Herrschaftsausübung sichtbar zu machen. Dann wird Gerhards Wirken als Superintendent betrachtet, und zwar am Beispiel seiner Visitationspraxis von 1610 und 1613. Das Verhältnis zu seinem Landesherrn soll anhand seiner Berufung zum Generalsuperintendenten 1615 und den Ruf an die Universität Jena 1616 analysiert werden. 2. HISTORISCHER KONTEXT Es war keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, dass Herzog Johann Casimir zusammen mit seinem Bruder Johann Ernst 1586 die Regierung über ein eigenes Herrschaftsgebiet übernehmen konnte, denn ihr Vater Herzog Johann Friedrich II. (der Mittlere) war aufgrund seines reichsfeindlichen Verhaltens geächtet worden.15 Nachdem er jahrelang den fränkischen Ritter Wilhelm von Grumbach und dessen Anhänger bei seinen gewaltsamen Fehden unterstützt und den schließlich geächteten Reichsritter sogar in seiner Residenz Gotha aufgenommen hatte, kam es 1567 zur Gothaer Exekution, die von dem Widersacher der Ernestiner, Kurfürst August von Sachsen, im Namen von Kaiser und Reich durchgeführt wurde. Grumbach und seine Anhänger wurden hingerichtet, Johann Friedrich, der sich von den Grumbachschen Aktivitäten die Wiedererringung der sächsischen Kurwürde für die eigene, ernestinische Linie erhofft hatte, wurde in kaiserliche Gefangenschaft genommen, in der er bis zu seinem Lebensende 1595 verblieb. Zunächst übernahm der reichs- und kaisertreu gebliebene Bruder Johann Friedrichs, Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar, die Vormundschaft über die Ehefrau Elisabeth und ihre drei unmündigen Söhne, Friedrich (1563–72), Johann Casimir (1564–1633) und Johann Ernst (1566–1638). Zur Bezahlung der Exekutionskosten verständigten sich die Reichsstände jedoch auf dem Speyrer Reichstag 1570 darauf, dass die ernestinischen Lande geteilt und die Restitution sowie Einsetzung der Söhne von Johann Friedrich in ihren Landesteil erfolgen sollte, um daraus die Exekutionskosten zahlen zu können. Da Johann Wilhelms Interessen dadurch berührt wurden, wurden die Kurfürsten von Brandenburg, Pfalz und Sachsen nun zu Vormündern der Kinder Johann Friedrichs bestellt. Sie wurden beauftragt, bis zur Volljährigkeit der Herzöge einen Statthalter einzusetzen, der die Verwaltungs- und Regierungsgeschäfte unter ihrer Kontrolle führen sollte. Eine kaiserliche Kommission erarbeitete am 6. November 1572 in Erfurt einen Teilungsvergleich, wonach die Söhne Johann Friedrichs die fränkischen Ortlande um Coburg sowie Anteile im westlichen Thüringen um Eisenach und Gotha 15 Vgl. Hans Patze und Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. 5, Teil 1: Politische Geschichte in der Neuzeit. Köln 1982. Thomas Klein: „Ernestinisches Sachsen, kleinere thüringische Gebiete“, in: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hg.) unter Mitarbeit von Franz Brendle: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 4: Mittleres Deutschland. Münster 1992, S. 8–39.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

55

erhielten.16 Die Erfurter Teilung schuf nicht nur zwei ernestinische Territorien mit gemeinschaftlichen Institutionen (Universität Jena, Schöppenstuhl, Hofgericht und Konsistorium), sondern grundlegend neue Rahmenbedingungen für die beiden Söhne Johann Friedrichs, Johann Casimir und Johann Ernst, die 1572 nach Coburg gebracht wurden. Ihr ältester Bruder Friedrich war im gleichen Jahr verstorben, ihre Mutter Elisabeth begab sich zu ihrem Mann in die Gefangenschaft nach Österreich. Die Söhne standen nun ganz unter dem Einfluss der Vormunde, wobei August von Sachsen die beiden anderen Vormunde mehr und mehr in den Hintergrund drängte. Als 1573 Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar starb und Kurfürst August von Sachsen auch die Vormundschaft über dessen beide Söhne durchsetzen konnte, geriet das gesamte ernestinische Territorium unter kursächsischen Einfluss. Bis zum Tod von August 1586 hatte dies tiefgreifende Folgen, zum einen politisch, zum anderen kirchenpolitisch. „Denn die nach kursächsischem Vorbild in Coburg und Weimar eingesetzten Regierungskollegien waren ohne eigene Regierungsbefugnis und lediglich Organe der Dresdner Regierungsspitze.“17 Kirchenpolitisch wurden die Gnesio-Lutheraner, die unter Johann Wilhelm einen scharfen antialbertinischen Kurs verfolgt hatten, aus ihren Ämtern entfernt und gemäßigtere Theologen eingesetzt, so dass die massiven Lehrstreitigkeiten dadurch eingedämmt werden konnten.18 Gleichzeitig wurde die maßgeblich von kursächsischen Theologen erarbeitete Konkordienformel zur Grundlage des Glaubens in allen wettinischen Territorien. Durch die Einführung der 1577 erlassenen kursächsischen Visitations- und Kirchenordnung in den ernestinischen Gebieten kam es zu einer weiteren Angleichung der kirchlichen Verhältnisse. Als Johann Casimir auch in Vormundschaft seines jüngeren Bruders Johann Ernst nach dem Tod Augusts von Sachsen 1586 die Regierung im CoburgEisenacher Fürstentum antrat, galt es, eine ganze Reihe von Problemen zu lösen. Vorrangig war der Aufbau von Zentralbehörden, um die vorherige enge Abhängigkeit von Kursachsen zu lösen und einen auf das eigene Herrschaftsterritorium ausgerichteten Verwaltungsapparat zu installieren.19 Dies geschah durch ein Geheimratskollegium, in dem die Leiter aller wichtigen Regierungsbehörden vereint waren und das gemeinsam in einem eigens in Coburg am Markt errichteten repräsentativen Gebäude, der Kanzlei, residierte. Als wichtiges Zeichen des Herrschaftsaufbaus kann auch die 1593 erfolgte Errichtung eines eigenen Konsistoriums in Coburg angesehen werden.20 Johann Casimir und sein Bruder signalisier16 Vgl. Hans Stephan Brather: Die ernestinischen Landesteilungen des 16. und 17. Jahrhunderts: ein Beitrag zur Geschichte des Territorialstaates in Mitteldeutschland. Diss. masch. Jena 1951, S. 13–36. 17 Patze/Schlesinger: Geschichte, S. 8. 18 Vgl. Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionsbildung. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011. 19 Vgl. Gerhard Heyl: „Die Zentralbehörden in Sachsen-Coburg 1572–1633“, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 1961, S. 33–116. 20 Vgl. Patze/Schlesinger: Geschichte, S. 19.

56

Siegrid Westphal

ten damit, dass sie eine eigenständige Kirchenorganisation nicht nur in Abgrenzung zu Kursachsen, sondern auch zu Sachsen-Weimar aufzubauen gedachten. Allerdings hatten sie dabei mit erschwerten Rahmenbedingungen zu kämpfen. Die aus der Gothaer Exekution resultierenden Kosten lasteten noch immer auf dem Land, die Statthalterregierung hatte keine Entschuldung herbeigeführt. Politisch waren dadurch enge Grenzen gesteckt, zumal es 1596 noch zu einer weiteren Teilung des Coburger Territoriums kam, um Johann Ernst nach seiner Heirat eine eigene Hofhaltung in Eisenach zu ermöglichen. Dies hatte wiederum zur Folge, dass Sachsen-Weimar über die gegen seinen Willen erfolgte Teilung verstimmt war. Nicht zuletzt deshalb wurde nun auch die Gemeinschaft von Hofgericht, Schöppenstuhl und Universität Jena aufgekündigt. In Reaktion darauf errichteten Johann Casimir und Johann Ernst 1598 ein eigenes gemeinsames Hofgericht und einen Schöppenstuhl sowie ein akademisches Gymnasium in Coburg, das zu einer Universität ausgebaut werden sollte. Alle Entwicklungen liefen auf die völlige Eigenständigkeit der beiden ernestinischen Linien hinaus. Sachsen-Weimar lenkte nun aber ein. In Vergleichsverhandlungen wurden Hofgericht und Schöppenstuhl in Coburg zugestanden, jedoch die Gemeinschaft der Universität Jena wiederhergestellt. Trotzdem besaß Johann Casimir ein großes Interesse daran, das Gymnasium zu einer vorbildlichen Bildungsinstitution auszubauen, um den eigenen politischen und theologischen Nachwuchs heranzuziehen. Neben dem Aufbau von Zentralbehörden, dem Gerichts- und Bildungswesen sowie einer eigenständigen Kirchenorganisation, konzentrierte sich Johann Casimir darauf, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ritterschaft zu unterbinden und mit ihnen einen Ausgleich zu finden, um die eigene Landeshoheit zu stärken. Dies erreichte er mit dem „Casimirschen Abschied“ von 1612, worin die Ritterschaft die landesherrlichen Rechte anerkannte, er ihnen aber im Gegenzug ihre Rechte und Privilegien wie die Patrimonialgerichtsbarkeit beließ. Zahlreiche Verordnungen begleiteten den Prozess der Herrschaftsergreifung und -durchdringung, so dass die Forschung von einer der modernsten Zentralverwaltungen in Thüringen spricht, die lange Zeit Vorbildcharakter besaß.21 Johann Casimir gelang es damit, sein Herrschaftsgebiet allmählich zu konsolidieren und in seinem Sinne zu gestalten. Der zu Beginn seiner Herrschaft erfolgte Aufbau einer eigenen Kirchenorganisation diente dabei zweierlei Zwecken. Zum einen sollte damit gegenüber Kursachsen und Sachsen-Weimar politische Eigenständigkeit im Innern signalisiert werden,22 zum anderen war es das Ziel, 21 Vgl. Patze/Schlesinger: Geschichte, S. 18. 22 Hinsichtlich der Reichspolitik gibt Johann Casimir der Forschung bis heute Rätsel auf. Insbesondere sein Verhältnis zu Kursachsen wird unterschiedlich bewertet. Während die ältere Forschung – trotz aller Abhängigkeit von Kursachsen – durchaus eigenständige Züge bei Johann Casimir ausmachen konnte, sieht die neuere Forschung nur geringe Handlungsspielräume. Vgl. die divergierenden Einschätzungen bei Heinrich Glaser: „Politik des Herzogs Johann Casimir von Coburg. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des 30jährigen Krieges“, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 17 (1895), S. 403–616. Thomas Nicklas: „Prosopographie eines Reichspolitikers: Johann Casimir von SachsenCoburg (1564–1633)“, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 64 (1993), S. 127–146.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

57

das Kirchenwesen in dem geographisch heterogenen Herrschaftsgebiet zu vereinheitlichen, um einen konfessionell geschlossenen Untertanenverband zu schaffen. Diese strukturelle Verzahnung von Religion und Politik, Kirche und Territorialstaat, die sich als gesellschaftlicher Fundamentalvorgang bei allen drei Konfessionen findet, wird in der historischen Forschung – trotz erheblicher Diskussionen – weiterhin mit dem Begriff „Konfessionalisierung“ umschrieben.23 Charakteristische Merkmale sind die Herstellung konfessioneller Geschlossenheit durch die Entwicklung eines Bekenntnisses und entsprechender Normen sowie ihre Durchsetzung durch Funktionsträger und Institutionen, die Festigung der eigenen Konfession durch Propaganda und Abgrenzung nach außen, die Verinnerlichung der Konfession durch Bildungsmaßnahmen, die konfessionelle Disziplinierung der Untertanen durch Kontrolle und Festlegung auf die eigenen religiösen Praktiken sowie die Entwicklung einer konfessionsspezifisch geprägten Sprache.24 Obwohl die etatistische Perspektive des Konfessionalisierungsparadigmas kritisiert worden ist, besteht Einigkeit der Forschung darüber, dass gerade das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert durch eine intensivierte Religiosität geprägt sei. Zum Teil wird mit Blick auf die obrigkeitlichen Intentionen auch von „Konfessionsfundamentalismus“ gesprochen, der auf die bedingungslose Durchsetzung der eigenen religiösen Wahrheit zielte.25 Die Neuformierung des Herzogtums Sachsen-Coburg lässt sich im Großen und Ganzen in diesen Prozess einordnen und zeigt in idealer Weise die staatsbildende und herrschaftsintensivierende Wirkung der Konfession, die durch obrigkeitliche Institutionen und gesellschaftliche Funktionsträger implementiert werden sollte. Nachdem Johann Casimir eine Zentralverwaltung mit entsprechenden Behörden installiert hatte, legte er großen Wert darauf, geeignete Persönlichkeiten zu gewinnen, die nicht nur ausgezeichnete Voraussetzungen mitbrachten, sondern auch seine Intentionen mittrugen. Dabei wird ihm bei der Auswahl seiner engsten Mitarbeiter eine „glückliche Hand“ beschieden.26 Auch die Berufung Johann Gerhards als Superintendent von Heldburg im Jahr 1606 wird in diesem Sinne entsprechend positiv gewertet. 3. JOHANN GERHARD ALS SUPERINTENDENT VON HELDBURG Wie genau es dazu kam, dass der in Quedlinburg geborene Gerhard im Jahre 1606 mit gerade einmal 23 Jahren zum Superintendenten in Heldburg berufen wurde, 23 Vgl. Heinz Schilling: „Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620“, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1–45. 24 Vgl. Wolfgang Reinhard: „Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 257–277. 25 Vgl. Heinz Schilling: „Gab es um 1600 in Europa einen Konfessionsfundamentalismus? Die Geburt des internationalen Systems in der Krise des konfessionellen Zeitalters“, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2005, S. 69–94. 26 Patze/Schlesinger: Geschichte, S. 18.

58

Siegrid Westphal

lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Gerhard selbst sagt dazu in seiner Ehrensäule auf den verstorbenen Herzog: Jh. Fürstl. Gn. habe ichs zu dancken/ daß dieselbe mich/ da ich noch auff der hohen Schule zu Jehna studieret/ so bald zu der Superintendentz Heldburgk ordentlich und mit Einwilligung der Kirchen daselbst beruffen/ da sie nur in einer einigen Predigt mich gehöret/ unangesehen ich kein Landkind noch Jh. Fürstl. G. angeborner Unterthan gewesen. Jh. Fürstl. Gn. habe ichs zu dancken/ daß auff wolermeldter hohen Schule ich den Gradum Doctoris erlanget/ weil nicht allein Jh. Fürstl. Gn. mir in Gnaden anbefohlen/ denselben zu bitten/ sondern auch aus Fürstlicher Milde die Kosten hierzu gereichet.27

Gerhard hatte offenbar darauf gehofft, nach seinem Theologiestudium an der Universität Jena eine Professur zu erhalten, besaß aber wohl in dem Professor der Theologie, Peter Piscator, einen Widersacher, der ihm diesen Weg verstellte.28 Gerhard war deshalb auf der Suche nach einer angemessenen akademischen Position, Herzog Johann Casimir benötigte dagegen fähige Theologen, die einer Neuorganisation der Kirche vorstehen und damit zur Vereinheitlichung des Kirchenregiments beitragen sollten. Dazu gehörte auch das Gymnasium Casimirianum, das der Herzog zu einer Universität ausbauen wollte, um sich unabhängiger von Jena zu machen. Gerhard war wohl zunächst die theologische Professur am Gymnasium und das Archidiakonat an der Stadtkirche in Coburg angeboten worden, dringenderer Bedarf schien jedoch in der Ephorie Heldburg geherrscht zu haben, die schon über ein Jahr nicht mehr besetzt war.29 Nach seiner Probepredigt vor dem Herzog wurde Gerhard die Vokation für dieses kirchenleitende Amt und die Aufsicht über das Gymnasium übergeben. Die Akte darüber gilt leider als verloren. Ferdinand Schmidt konnte sie für seinen Vortrag wohl noch verwenden, denn er berichtet darüber, dass Gerhard aus Bescheidenheit eine Reihe von Argumenten vorgebracht habe, um diese Aufgabe nicht antreten zu müssen.30 Er sei zu jung, fühle sich der Aufgabe nicht gewachsen, befürchte den Vorwurf der Günstlingswirtschaft und ihm fehle die Zustimmung seiner Mutter.31 Dem konnte offenbar dank Fürsprache der Äbtissin Maria von Quedlinburg bei der Mutter abgeholfen werden, so dass Gerhard nolens volens zum Superintendenten von Heldburg berufen wurde. Am 24. August 1606 wurde Gerhard von dem Coburger Generalsuperintendenten Melchior Bischoff ordiniert und am 6. September 1606 in sein Amt eingeführt.32 Ohne dass die Gründe dafür bekannt sind, wünschte der Herzog, dass Gerhard in Jena zum Doktor der Theologie promoviert wurde und übernahm dafür auch

27 Delineatio imperialis collegii, Nr. 12: EhrenGedaechnuß Des […] Johan Casimirn. 28 Jörg Baur: „Die Leuchte Thüringens, Johann Gerhard (1582–1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges“, in: Ders.: Luther und seine klassischen Erben: theologische Aufsätze und Forschungen. Tübingen 1993, S. 335–356, hier: 342. 29 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 5. 30 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 5. 31 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 5. 32 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 6. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 229.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

59

die Gebühren von 650 Reichstalern, allerdings nicht ohne die Universität aufzufordern, alle überflüssigen und unnötigen Kosten zu vermeiden.33 Am 13. November 1606 wurde Gerhard zum Doktor der Theologie in Jena promoviert und trat nun – mit hohen akademischen Würden versehen – sein neues Amt an. Der Superintendentur Heldburg unterstanden rund 22 bis 26 Geistliche, über die Gerhard die Aufsicht führen sollte. Er hatte zudem die Amtsgeschäfte der Ephorie Heldburg zu versehen. Zweimal die Woche hatte er in Heldburg zu predigen, einmal die Woche an den Konsistorialsitzungen in Coburg teilzunehmen und einmal im Monat öffentliche Disputationen im Casimirianum abzuhalten.34 4. DIE VISITATIONSTÄTIGKEIT VON JOHANN GERHARD Wie er diese Aufgaben ausgeübt hat, bleibt allerdings weitgehend offen, denn Gerhards kirchenleitende Tätigkeit ist – außer den Disputationsthesenreihen am Casimirianum – im Prinzip nur durch die Visitationsprotokolle und Begleitakten belegt, die sich in seinem Nachlass befinden. In den Staatsarchiven Coburg und Meiningen sowie im Landeskirchlichen Archiv der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern existieren so gut wie keine Spuren von Gerhards Wirken. Die Forschung hat dies zum einen mit Kriegsverlusten erklärt, zum anderen – wie Steiger – mit Gerhards Haltung, nicht vorschnell Verwaltungsakte in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite ist aus seiner Heldburger Zeit eine Reihe von wichtigen Schriften überliefert, die zeigen, dass Gerhard offenbar genug Raum für wissenschaftliche Studien und die Abfassung von theologischen Werken, Erbauungsliteratur und Gutachten blieb.35 Zudem hat er den Herzog auch auf verschiedenen Reisen begleitet. Die Vermutung liegt nahe, dass er die Anforderungen seines Amtes zwar erfüllte, sich aber immer stärker auf seine theologischen Studien und Schriften fokussierte. Deutlich wird dies vor allem bei seiner Tätigkeit als Visitator. Johann Casimir war daran gelegen, Einblick in die kirchlichen Verhältnisse seines Landes zu erhalten, in dessen einzelnen Landesteilen unterschiedliche Kirchenordnungen galten und die kirchlichen Verhältnisse mitunter ungeklärt waren.36 Durch Spezialund Generalvisitationen sollten die Geistlichen und Lehrer in ihrer Lehre überprüft, die Kirchengüter erfasst, die Vergütung der in Kirchendiensten stehenden Personen sichergestellt und die Kirchenzucht in den Gemeinden eruiert werden. Ziel war die Abfassung einer einheitlichen Kirchenordnung, um ein geschlossenes Kirchenwesen auf der Basis der rechten Lehre herstellen zu können. Nun war dies keinesfalls eine neue Aufgabe, denn seit der Reformationszeit hatten sich in den verschiedenen lutherischen Landeskirchen strikte Organisati33 Vgl. Staatsarchiv Coburg, LA E 1910: Den Superintendent zu Heldburg betr. 1606. Schreiben Johann Casimirs an die Theologische Fakultät zu Jena vom 10. Oktober 1606. 34 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 7. 35 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 12. Steiger: Art. „Gerhard“, Sp. 560–566. 36 Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 229. Die in den Akten von 1613 enthaltene Instruktion dürfte bereits 1610 zur Anwendung gekommen sein.

60

Siegrid Westphal

onsformen herausgebildet, durch die der Landesherr die herrenlos gewordene bischöfliche Jurisdiktion ausübte und an der Spitze der Landeskirche stand. Geistliche und weltliche Ordnung blieben somit eng aufeinander bezogen. Als Johann Gerhard 1610 damit beauftragt wurde, in seiner Ephorie eine Spezialvisitation durchzuführen, war dies keine große Herausforderung, denn er konnte auf zahlreiche Erfahrungswerte zurückgreifen. Das Herrschaftsgebiet von Johann Casimir war schon seit der Reformationszeit lutherisch geprägt, vielerorts galt die Kirchenordnung von Kurfürst August von Sachsen (1580) und Gerhard verfasste auf Befehl des Herzogs die Visitationsinstruktionen auf der Basis des in dieser Ordnung enthaltenen Visitationsbefehls,37 wobei es in erster Linie um die strenge Kontrolle des geistlichen Amts gehen sollte.38 Zu diesem Zweck sollten die Personalien sorgfältig und nach einem einheitlichen Schema erfasst werden, was sicherlich das Besondere der Visitationsprotokolle von 1610 ausmacht. Pfarrer nahmen eine Schnittstelle zwischen kirchlichen Aufsichtsbehörden und Gemeinden ein, deshalb wurden an sie auch besondere Anforderungen gestellt, insbesondere dann, wenn es galt, ein Herrschaftsterritorium zu zentralisieren und zu vereinheitlichen. Theologische Abweichler und für das Amt ungeeignete oder schlecht ausgebildete Pfarrer sollten konsequent ermittelt, ermahnt und im Falle von Renitenz oder wenig Aussicht auf Besserung aus dem Amt entfernt werden. Landesherr und kirchenleitende geistliche wie weltliche Räte waren hier ganz auf einer Linie, auch den Gemeinden und Stadträten selbst war in der Regel daran gelegen, dass Pfarramt und Schule gut betreut wurden, wünschte man doch die Reinheit der Kirchengemeinde. Gerhards Visitationsaufgabe kann deshalb ganz im Sinne der Konfessionalisierungsforschung als obrigkeitlich stützend und herrschaftsstabilisierend bezeichnet werden, auch wenn er durchaus über Handlungsspielräume verfügte. Bei der Vorgehensweise konnte sich Gerhard ebenfalls an einer etablierten Praxis orientieren. In vielen lutherischen Territorien wurde auf der Basis des in Kursachsen erarbeiteten „Unterrichts[s] der Visitatoren“ (1528) schon seit Jahrzehnten ein bis zwei Mal jährlich visitiert. Die Heldburger Spezialvisitation wurde von einer gemischten Kommission aus zwei geistlichen (Johann Gerhard und Hofprediger Martin Gnüge) und einem weltlichen Rat (Johann Bechstedt) durchgeführt, sie zog von Ort zu Ort und schickte zur Vorbereitung offene Zettel an Pfarrer und Gemeindemitglieder sowie Schreiben an die Kirchenpatrone,39 um diese um Unterstützung der Visitation zu bitten.40 Die Befragungen verliefen nach einem bestimmten Schema, indem zuerst die Personalien des Pfarrers, dann die kirchlichen Generalia, die Mängel an der Gemeinde und dem Schulwesen, am Pfarrer bzw. dem geistlichen Personal und schließlich auffällige Einzelpersonen erfasst wurden. Der angestrebten strengen Kontrolle des geistlichen Amtes trugen 37 Vgl. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 122r–147v: Visitationsartikel [vor 1613]. 38 Vgl. Berbig: Visitationswerk, S. 10. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 229. 39 Vgl. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 2r–7v: Verzeichnis der den Pfarrern und Kirchendienern mitzuteilenden Informationen in Vorbereitung der Visitation in der Superintendentur Heldburg [1610]. 40 Vgl. Berbig: Visitationswerk, S. 5.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

61

die Visitatoren Rechnung, indem sie sechs Kriterien prüften: die Predigt, die wissenschaftliche Befähigung, das Verhalten, die Kirchenbücher, das Verzeichnis der Besoldung sowie die Konzepte der im Jahr zuvor gehaltenen Predigten. Gerhard hat die Visitationskommission geleitet und die Protokolle weitgehend eigenhändig verfasst. Der höchste Quellenwert wird dabei den Kurzbiographien der Pfarrer beigemessen,41 die Informationen über das Alter, die Dienstzeit, den Studienort, die universitäre Ausbildung, die Familie, die Zahl der Kinder, persönliche Wünsche, die Bezahlung sowie die Qualität bei der Versehung des geistlichen Amtes, die Sprachkenntnisse und Hilfsmittel bei der Abfassung von Predigten sowie die Bekenntnistreue geben. Weder bei der Vorbereitung noch dem Modus der Durchführung musste Gerhard also Neues entwickeln, sondern passte Altbekanntes an die Landesverhältnisse an. Auch die Ergebnisse der Visitation sind wenig überraschend, vergleicht man sie beispielsweise mit anderen zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Visitationen.42 Die Pfarrer verfügten weitgehend über die gewünschten Kompetenzen, mit den wenigen Ausnahmen beschäftigte sich das Konsistorium. Gerhard sondierte dabei gleichzeitig, welche Geistlichen für höhere Ämter empfohlen werden konnten.43 Bemängelt wurden bei den Geistlichen in der Regel die zu langen Predigten und ihre öffentliche Strafpraxis. Es gab aber auch eine Reihe von Kritikpunkten an der Lebensführung, die im Protokoll festgehalten wurde.44 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Amtsführung von Gerhard in Heldburg selbst überprüft wurde, er allerdings wieder als Protokollant in Erscheinung trat, was die Glaubwürdigkeit der Aussagen einschränkt. Ursprünglich waren es fünfzehn Kritikpunkte, die in der Überarbeitung dann zu elf zusammengefasst wurden.45 Bemängelt wurde bei ihm beispielsweise, dass die Sonntags- und Werktagspredigten sowie die Leichenpredigten zu lang seien, im Sommer drei Mal die Woche der Katechismus examiniert werde oder keine Christmesse gehalten werde, auch die Ehegerichtsordnung soll nicht verlesen worden sein. Moniert wurde vor allem, dass sich das Almosenwesen in großer Unordnung befinde, die fremden Bettler den einheimischen das Brot entziehen. Während diese Monita in der Forschung bisher nicht rezipiert wurden, wird immer wieder der Punkt hervorgehoben, dass Gerhard den Armen mit Arznei geholfen habe,46 was bestens in die Vorstellung von Theologie als geistlicher Seelenarznei passt.47

41 Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 230. 42 Vgl. Siegrid Westphal: Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg, 1542–1614. Frankfurt am Main 1994. 43 Vgl. StA Coburg, LA E Nr. 1312: Der Herr Superintendent zu Heldburg verschreibt Nic. Cantor in Hildburghausen zum Predigtamt. 44 Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 232. 45 Vgl. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 11r–18v: Protokoll der Visitation für Heldburg, 3. Dezember 1610. 46 Vgl. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 16r. 47 Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 248f.

62

Siegrid Westphal

Von einer Konzentration auf die Lehre und das geistliche Amt kann dennoch bei genauer Betrachtung der Visitationsprotokolle nicht die Rede sein.48 Vielmehr ergeben sich durch die Heldburger Visitation eher detaillierte Einblicke in die Lebenswelt frühneuzeitlicher Gemeinden. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich nicht von anderen Visitationen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Die aktuelle Konfessionalisierungsforschung geht davon aus, dass die überwiegende Zahl der Untertanen kein eindeutiges Konfessionsbewusstsein besaß. Die Vermittlung von Identifikationswissen, das auf innere Einstellungen und äußere Verhaltensweisen zielte, sei deshalb mit Blick auf die Laienreligiosität ein wichtiges Ziel gewesen. Angesichts des Umstands, dass sich Religiosität öffentlich, rituell und korporativ vollzogen habe,49 seien zahlreiche Edikte und Verordnungen erlassen worden, welche „die christliche Botschaft im konfessionellem Gewand“ im Alltag implementieren sollten. Eine Reihe von Regionalstudien hat jedoch gezeigt, dass diese Bemühungen letztlich am Widerstand der Untertanen scheiterten, die an etablierten Verhaltensweisen und rituellen Praktiken festhielten.50 Dies wird vor allem bei den Geschlechterbeziehungen deutlich, die seit der Reformationszeit besondere Aufmerksamkeit erfuhren, was sich in einer Fülle von normativen Vorgaben niederschlug.51 Die Konsistorien und Kirchenräte waren überwiegend mit Fällen dieser Art beschäftigt, was sich auch in Coburg zeigt.52 Die Erfahrungen aus dieser Tätigkeit schlugen sich in umfangreichen Eheordnungen nieder, die Eingang in die Kirchenordnungen fanden, wie das auch bei der Casimiriana zu sehen ist. So verwundert es nicht, dass die Protokolle Gerhards unter dem Punkt „Mängel und Gebrechen der Gemeinde“ die auch aus anderen Visitationen bekannten Klagen enthalten, beispielsweise über Reste von Aberglauben wie Segensprechen und magische Riten, über Streit und Hass in der Gemeinde, ein Übermaß an Essen, Trinken, Tanzen, anstößiges öffentliches Betragen (Gotteslästern, Fluchen, Lichtstuben), sexuelle Verfehlungen und Verletzungen der Sabbatheiligung bzw. mangelnder Besuch des Abendmahls. Obrigkeitliche wie kirchliche Sittenzucht folgten dabei dem Leitfaden der Zehn Gebote. Die Protokolle von 1610 bieten somit einen Einblick in den Pfarrstand der Zeit und die kirchliche Situation in Sachsen-Coburg, sie zeigen aber vor allem die ländliche Lebenswelt und die Probleme bei der Durchsetzung konfessioneller Normen. In diesem Sinn hat die Forschung die Visitationsprotokolle auch gelesen 48 Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 249. 49 Vgl. Andreas Holzem: „Der ,katholische Augenaufschlag beim Frauenzimmer‘ (Friedrich Nicolai) – oder: Kann man eine Erfolgsgeschichte der ,Konfessionalisierung‘ schreiben“, in: Thomas Brockmann und Dieter J. Weiß (Hg.): Das Konfessionalisierungsparadigma. Leistungen, Probleme, Grenzen. Münster 2013, S. 127–164, hier: 134. 50 Vgl. Westphal: Frau, S. 345. Andreas Holzem: Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800. Paderborn 2000. 51 Vgl. Siegrid Westphal und Inken Schmidt-Voges u.a. (Hg.): Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit. München 2011. 52 Vgl. FB Gotha, Chart. A 633, Bl. 2r–39v: Protokolle von Sitzungen des Coburger Konsistoriums, 1. März 1615 – 4. April 1616.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

63

und interpretiert.53 Über Gerhard selbst sagen sie eigentlich wenig aus. Ob sich aus ihnen tatsächlich ableiten lässt, dass Gerhard sein kirchenleitendes Amt als Seelsorger ausübte,54 scheint angesichts der eingeschränkten Quellengrundlage zumindest fraglich. So fehlen für diesen Zeitraum die Akten des Konsistoriums, die Auskunft über die konkreten Maßnahmen in Reaktion auf die Ergebnisse der Visitation geben könnten. Auch Anweisungen des Herzogs sind nicht überliefert, ebenso mangelt es an Quellen aus der Feder Gerhards für die Zeit nach der Visitation, die Auskunft über die Umsetzung von angeordneten Maßnahmen geben könnten. Dies sieht für die 1613 angeordnete Generalvisitation im Herzogtum SachsenCoburg etwas besser aus. Hier existieren neben den Visitationsprotokollen die Protokolle der Sitzungen des Coburger Konsistoriums vom 1. März 1615 bis 4. April 1616 unter Leitung Gerhards. Hier galt die Kirchenordnung als strenger Maßstab, auf die sich gerade bei Eheangelegenheiten bezogen wurde.55 Allerdings fällt auf, dass die Protokolle der Generalvisitation von 1613 im Unterschied zu den sorgfältig formulierten Protokollen der Spezialvisitation von 1610 teilweise sehr kursorisch und fast flüchtig geführt wurden.56 Die Personalia der Pfarrer nehmen viel weniger Raum ein. Neben vielen Beschwerdepunkten finden sich standardisierte Randbemerkungen wie „ist erinnert“, „ist angeordnet“, „ist ermahnet“, „ist verglichen“, „ist abgeschafft“, „soll forthin geschehen“, „soll gebessert werden“, „stehet bei Synodus“ usw. Nur an sehr wenigen Stellen werden ausführlichere Informationen gegeben oder Anweisungen erteilt. Bei einer Reihe von Gemeinden wird den Pfarrern sogar aufgetragen, die Beschwerden über die Gemeinde zu bündeln, diese öffentlich im Namen der Visitatoren von der Kanzel zu verlesen und die Gemeinde zu ermahnen sowie ihnen Strafe anzudrohen. Eine der wichtigen Aufgaben der Visitationskommission, nämlich die Kirchenzucht in den Gemeinden zu überprüfen und dann durchzusetzen, wird somit wieder an die Pfarrer delegiert. Nicht nur diese Beobachtungen, sondern auch der Umstand, dass an einem Tag teilweise bis zu sechs Gemeinden visitiert wurden, verweist auf besondere Eile der Kommission, ohne dass dafür ein Grund ersichtlich wird. Stutzig macht aber die Versicherung Berbigs, dass es dennoch nicht an Gründlichkeit gefehlt haben soll.57 Bei Schmidt heißt es, dass die Visitatoren trotz stürmischer Eile sehr gründlich vorgingen und alles Mögliche prüften.58 Diese Bemerkungen gleichen fast einer Entschuldigung für den eher problematischen Eindruck, den die Protokolle hinterlassen. Sicherlich dürfte die deutlich größere Zahl an zu inspizierenden Gemeinden ein Grund für die laxe Protokollführung gewesen sein. Denkbar

53 54 55 56

Vgl. Berbig: Visitationswerk. Steiger: „Kirchenordnung“. Vgl. Steiger: „Kirchenordnung“, S. 251. Vgl. FB Gotha, Chart. A 633, Bl. 2v. Vgl. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 121r–491v: Protokolle der Visitationen in den Superintendenturen Gotha, Heldburg, Eisfeld und Römhild. 57 Vgl. Berbig: Visitationswerk, S. 6. 58 Vgl. F. Schmidt: Gerhard, S. 23.

64

Siegrid Westphal

scheint aber auch, dass Gerhard zu diesem Zeitpunkt bereits andere Prioritäten besaß. 5. DIE BERUFUNG ZUM GENERALSUPERINTENDENTEN Dies lässt sich auch an den Umständen zur Vokation als Generalsuperintendent ablesen.59 Schon Mitte Juni 1614 zeichnete sich ab, dass der amtierende Generalsuperintendent Melchior Bischoff aus Alters- und Krankheitsgründen sein Amt nicht mehr lange würde ausüben können. Herzog Johann Casimir wünschte deshalb, dass Johann Gerhard Bischoffs Position übernimmt, stieß aber auf heftigen Widerstand Gerhards, der zudem noch Unterstützung bei Freunden suchte. Sechs Monate wehrte sich Gerhard gegen die Wünsche des Herzogs. Nach dem Tod Bischoffs am 18. Dezember 1614 wurde Gerhard nach Coburg beordert, um auf Bitte des Verstorbenen nicht nur an der Beerdigung teilzunehmen, sondern auch die Leichenpredigt in der Stadtkirche zu halten. Gerhard wurde nun direkt mit den Wünschen des Herzogs konfrontiert, brachte aber eine Reihe von Argumenten vor, um nicht Generalsuperintendent werden zu müssen.60 Er fühle sich gesundheitlich zu schwach, er besitze für dieses hohe Amt nicht die nötigen Qualitäten, er fürchte die Überhäufung mit Arbeit und die Predigten in der weitläufigen Kirche, die er mit seiner schwachen Stimme kaum erfüllen könne. Vor allem brauche er Ruhe für die angefangenen Schriften (Loci und Harmonia evangelica), die Torsi bleiben müssten, wenn er das Coburger Amt übernehmen würde.61 Gleichzeitig verwies Gerhard jedoch darauf, dass er das Amt antreten würde, wenn ihm die offenbar schon einmal in Aussicht gestellte Dimission an die Universität bei nächster Gelegenheit genehmigt würde. Drei Rufe hatte Gerhard schon erhalten (1610/1611 nach Jena, 1613 nach Wittenberg), deren Annahme ihm Johann Casimir nicht gestattet hatte. Nun sah Gerhard angesichts der vakanten Generalsuperintendentur die Chance, seinen Landesherrn verbindlich festzulegen. Johann Casimir sicherte Gerhard tatsächlich zu, dass durch die Annahme des Coburger Amtes ein Ruf an die Universität nicht ausgeschlossen sei. Daraufhin nahm Gerhard die Vokation am 21. Januar 1615 an.62

59 Vgl. StA Coburg, Konsistorium Nr. 1362: Die durch den Tod des Generalsuperintendenten Melchior Bischoff erledigte Stelle wird 1615 durch Dr. Johann Gerhard wieder besetzt. 60 Vgl. Schmidt: Gerhard, S. 25. 61 Vgl. StA Coburg, Konsistorium Nr. 1362, Bl. 18–21: Schreiben Johann Gerhards aus Coburg an die Mitglieder des Konsistoriums vom 31. Dezember 1614. 62 Landeskirchliches Archiv der ELKB, Generalsuperintendentur Coburg 88–27: Extract auß denen Coburg. Consistorial-Actus die Wiederbesetzung einiger alldasiger GeneralSuperintendenten betr.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

65

6. DER RUF AN DIE UNIVERSITÄT JENA Nun wollte es der Zufall, dass nur ein knappes halbes Jahr später an der Universität Jena die dritte theologische Professur vakant wurde und Kurfürst Johann Georg von Sachsen als Vormund des Sachsen-Altenburger Herzogs Gerhard dafür vorschlug.63 Johann Casimir befahl daraufhin, Gerhard dazu zu befragen.64 Dieser zeigte sich hinsichtlich des Vorschlags vordergründig zwar befremdet, weil er das Amt des Generalsuperintendenten erst vor einem halbe Jahr angenommen hatte, verwies aber auf die Wünsche des Kurfürsten, die man nicht ignorieren könne.65 Johann Casimir habe verschiedene Vokationen aus wohlerwogenen Ursachen abgelehnt, aber gegenüber dem Kurfürsten versichert, dass er einem Ruf nach Jena nichts entgegenzusetzen habe. Bei der Coburgischen Vokation sei diese Zusage erneuert worden. Gerhard griff zudem noch einmal die Argumente auf, die er beim Ruf nach Coburg vorgebracht hatte und argumentierte, dass die Predigt in einer so großen Kirche wie in Coburg auf die Dauer nicht zu ertragen sei und ihm schwer, ja fast unmöglich falle. Man wisse zudem nicht, wann es wieder eine akademische Stelle in der Nähe gebe. Zudem glaubte er, dass durch die Generalvisitation und die Kirchenordnung das Kirchenwesen in einen richtigen und ruhigen Stand gesetzt worden sei. Er meinte, dass mit der Unterweisung der Studierenden in Jena dem Fürsten mehr gedient sei. Die Vokation auszuschlagen sei ihm aus den genannten Umständen unverantwortlich. Ohne Gewissensverletzung könne er nicht von der einmal gefassten Meinung abweichen. Er sei aber aufgrund der bisher erwiesenen Gnaden bereit, trotz der Stelle in Jena weiterhin in fürstlichen Diensten zu verbleiben und wann immer es möglich sei, nach Coburg zu kommen. Er würde auch bei der Besetzung behilflich sein und einen Nachfolger vorschlagen. Der erste Ruf der Theologischen Fakultät an Gerhard erging am 5. August 1615 und löste bei Kanzlei und Räten in Coburg einen Sturm der Entrüstung aus.66 Man argumentierte damit, dass der schnelle Wechsel Gerhards nicht nur bei der Bürgerschaft und dem ganzen Fürstentum, sondern auch bei den angrenzenden Territorien und speziell den katholischen, einen seltsamen Eindruck hinterlassen könnte.67 Es könnte der Gedanke entstehen, dass ihm nach angetretenem Amt besondere Widerwärtigkeiten entgegengebracht worden seien. Kanzler und Räte befürchteten üble Nachrede für den Fürsten, aber auch für Gerhard selbst, da er nur wenige Monate bei der Generalinspektion dabei gewesen sei.68 Die Landesregierung war offenbar mit der Ausführung der Generalvisitation und den anschließen63 Vgl. StA Coburg, LA E 2104: Des Herrn Superintendenten Dr. Johann Gerhards Vocation in die Theologische Facultät nach Jena an Dr. Ambrosii Reudenii statt 1615, hier: f. 1–2: Schreiben des Kurfürsten Johann Georg von Sachsen an Herzog Johann Casimir vom 18. Juli 1615. 64 Vgl. FB Gotha, Chart. A 633, Bl. 22r: Protokollnotiz von Gerhard vom 3. August 1615. 65 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 3: Schreiben Gerhards an den Kanzler vom 4. August 1615. 66 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 4–8: Schreiben des Kanzlers und der Räte an den Fürsten vom 5. August 1615. 67 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 5. 68 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 6.

66

Siegrid Westphal

den Maßnahmen nicht zufrieden. Daher rieten Kanzler und Räte dem Herzog, an den Kurfürsten zu schreiben und die Berufung Gerhards angesichts des Zustands der Landeskirche abzulehnen. Am 5. Oktober 1615 erging ein zweiter Ruf an Gerhard,69 der am 10. Oktober 1615 wiederum an den Herzog schrieb und darauf verwies, dass er an der Universität durch Unterweisung der Landeskinder mehr tun könne als durch seine Anwesenheit im Land.70 Mit Blick auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe hinsichtlich des Zustands der Landeskirche argumentierte er, es komme nur noch auf die Exekution an. Dass Gerhard die Professur um jeden Preis wollte, zeigt sich an seinem neuerlichen Angebot, weiterhin in fürstlichen Diensten zu verbleiben und wann immer es möglich sei, nach Coburg zu kommen, um den Herzog zu unterstützen. Er erklärte sich auch hier wieder bereit, bei der Suche eines Nachfolgers behilflich zu sein. Gerhard verfasste am 2. Dezember 1615 ein weiteres Schreiben an den Herzog, da sein Gesuch nicht in Gnaden aufgenommen worden war. Er bemühte sich nun darum, jedes Gegenargument zu entkräften.71 Insbesondere setzte er sich mit dem Umstand auseinander, dass das Gehalt eines dritten Professors niedriger war als sein Gehalt in Coburg und die Position auch weniger angesehen. Er hielt dagegen, dass es für alle eher positiv zu bewerten sei, wenn er auf Geld und Ehre sowie weitere Äußerlichkeiten verzichte und einzig und allein auf Gottes Ehre, die Kirche sowie die Posterität und das Wohl der Landeskinder sehe.72 Wohl auch auf Druck Kursachsens und auf Rat des Konsistoriums lenkte Johann Casimir kurz darauf ein,73 aber er verpflichtete Gerhard in der Tat dazu, zweimal im Jahr nach Coburg zu fahren, dort dem Examen im Gymnasium beizuwohnen und mit den Lehrern über alles zu sprechen, was der Förderung der Schule diene. Gerhard sollte dem Fürsten sowie seinem Bruder zudem auf Wunsch für schriftliche Gutachten zur Verfügung stehen und nach Gelegenheit den Fürsten persönlich aufsuchen. Er sollte die fürstlichen Stipendiaten an der Universität Jena inspizieren und wöchentlich ein exercitium disputationis mit ihnen halten, um sie beim Predigen zu verbessern. Zudem sollte er bei Bedarf für Visitationen und Synoden zur Verfügung stehen.74 Johann Casimir erklärte sich sogar bereit, dafür die Kosten zu tragen. Wichtig war es für den Herzog auch, dass die Kirchenordnung vor der Abreise Johann Gerhards nach Jena in Druck gehen sollte.75 Die Abreise selbst sollte erst zu Beginn des neuen Jahres erfolgen, damit Gerhard wenigstens ein Jahr lang als Generalsuperintendent gewirkt hatte. Warum 69 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 17. 70 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 18–19: Schreiben Gerhards an Johann Casimir vom 10. Oktober 1615. 71 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 20–23: Schreiben Gerhards an Johann Casimir vom 2. Dezember 1615. Vgl. FB Gotha, Chart. A 633, Bl. 33v–34v. 72 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, hier f. 21. 73 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 25–26: Schreiben Gerhards an Johann Casimir vom 6. Dezember 1615. 74 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 31–32: Postscriptum Johann Casimirs vom 24. April 1614. 75 Vgl. StA Coburg, LA E 2104, f. 25–26: Schreiben Gerhards an Johann Casimir vom 6. Dezember 1615, hier: 26.

Gerhards Tätigkeit als Superintendent

67

es dann noch einmal zehn Jahre gedauert hat, bis die Kirchenordnung gedruckt wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Gerhard blieb also in Coburger Diensten und durfte ohne Genehmigung des Fürsten die Universität Jena nicht verlassen. Dafür erhielt er jährlich einhundert Gulden. So wundert es auch nicht, dass Gerhard in der Ehrensäule auf den verstorbenen Herzog schreibt, dass er „nunmehr in die sieben und zwantzig Jahr derselben ich bedienet gewesen“.76 Gerhard war nach dem Tod Johann Casimirs sehr daran gelegen, seinem akademischen Umfeld die ihm zu Teil gewordene lebenslange fürstliche Gnade zu vermitteln und das herzliche Einvernehmen mit seinem Landesherrn zu demonstrieren. So verweist er darauf, dass er Johann Casimir auf verschiedenen Reisen begleitet und ihm dabei als Hofprediger und Beichtvater gedient habe. Er sei in seiner Coburger Zeit nicht nur immer wieder an die fürstliche Tafel geladen worden, sondern Johann Casimir habe auch an der Hochzeit von Gerhard in Heldburg teilgenommen und ihn persönlich zur Trauung begleitet. Offenbar zeigte sich Johann Casimir – laut Aussage Gerhards – wegen der Berufung Gerhards nach Jena nicht nachtragend, denn er richtete für ihn ein Abschiedsbankett aus. Jh. Fürstl. Gn. habe ichs zu dancken/ daß nach Abtretung der GeneralSuperintendentz dieselbe nicht desto weniger (welches sonst bey den Sächs. Höfen selten zu geschehen pfleget) mit vorigen Gnaden biß an Jhren seligen Hintritt mir zugethan verblieben.77

Gerhard argumentiert letztlich ganz entsprechend den Anforderungen an eine Leichenpredigt, dass Johann Casimir ein frommer Fürst gewesen sei, in dessen Herz eine der beiden wichtigsten herrscherlichen Tugenden, nämlich die Gottseligkeit, verankert gewesen sei. Nicht zuletzt deshalb sei über Johann Casimir keine Klage zu führen. Wie sich das Verhältnis von Johann Gerhard und seinem Landesherrn Johann Casimir nach 1616 tatsächlich gestaltete, bleibt künftigen Forschungen vorbehalten. 7. FAZIT Die kirchenleitende Tätigkeit Gerhards verweist auf einen Aspekt seines Obrigkeitsverständnisses, der bisher kaum im Mittelpunkt der Forschung gestanden hat. Diese hat sich vor allem mit Blick auf seine Politiklehre in den Loci auf die Debatte um das Widerstandsrecht der Untertanen gegen einen rechtmäßigen, aber unfrommen Fürsten und den Aspekt der Vaterlandsliebe fokussiert. Gerhard hatte aber keinerlei Bedenken, sich in den Dienst eines frommen Fürsten zu stellen und dessen Herrschaft durch seine vielfältigen Funktionen zu stützen, auch wenn er für sich selbst andere berufliche Perspektiven favorisierte. Obrigkeitshörig war er jedoch nicht, sondern wusste in pragmatischer Weise seine individuellen Interessen mit landesherrlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Das Verhältnis von Johann Gerhard und Johann Casimir lässt sich damit sehr gut in die aktuellsten Forschungen zur Hofgeistlichkeit einordnen, die darauf verweisen, dass eben 76 Delineatio imperialis collegii, Nr. 12: EhrenGedaechnuß, hier: Vorrede. 77 Delineatio imperialis collegii, Nr. 12: EhrenGedaechnuß, hier: Vorrede.

68

Siegrid Westphal

nicht nur das Mahner- und Wächteramt zum Selbstverständnis der evangelischen Geistlichen gehörte, sondern auch die selbstverständliche Annahme, dass die Obrigkeit von Gott gegeben sei, der man deshalb Gehorsam schulde.78

78 Vgl. Matthias Meinhardt, Ulrike Gleixner u.a. (Hg.): Religion Macht Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800). Wiesbaden 2014.

VON EINEM „CHRISTLICHEN GESPRECH“1 ZUR ALLIANZ Aspekte des kommunikativen Austausches zwischen Johann Gerhard und Christine von Sachsen-Eisenach Hendrikje Carius Die differenzierte Betrachtung von Herrschaftsstrukturen in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, ein breites Spektrum an Herrschaftsbeteiligung von Fürstinnen und ihre Bedeutung als Akteurinnen im kommunikativen Netzwerk des Altes Reiches sichtbar zu machen und herauszuarbeiten.2 In diesem Zusammenhang hat die Frühneuzeitforschung den Bereich der Religion als Politikfeld von Herrscherinnen bzw. Herrschaftsträgerinnen besonders in den Blick genommen und insbesondere ihre Rolle im Prozess der Konfessionsbildung und damit in religionspolitischen Kontexten hinterfragt.3

1 2

3

FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13r–14v, hier: 13r: Brief Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606. Dazu mit weiterer Literatur: Heide Wunder: „Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit“, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 27–54. Katrin Keller: „Kommunikationsraum Altes Reich. Zur Funktionalität der Korrespondenznetze von Fürstinnen im 16. Jahrhundert“, in: ZHF 31 (2004), S. 205–230. Dies.: „Die Kurfürstin im Alten Reich. Korrespondenz und Klientel im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 83 (2012), S. 189–206. Dies.: „Frauen und dynastische Herrschaft. Eine Einführung“, in: Bettina Braun u.a. (Hg.): Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2016, S. 13–26. Vgl. im Einzelnen Heide Wunder, Helga Zöttlein und Barbara Hoffmann: „Konfession, Religiosität und politisches Handeln von Frauen vom ausgehenden 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 1 (1997), S. 75–98. Anke Hufschmidt: „Christliche Lebenspraxis und Legitimation. Zur Bedeutung der Religiosität von niederadligen Frauen für die Konfessionalisierung des Weserraums im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Heide Wunder (Hg.): Dynastische Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht. Berlin 2002, S. 239–264. Ute Essegern: Fürstinnen am kursächsischen Hof. Lebenskonzepte und Lebensläufe zwischen Familie, Hof und Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 2007. Zum aktuellen Forschungsstand siehe auch: Daniel Gehrt und Vera von der Osten-Sacken (Hg.): Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zur Religionspolitik und Bekenntnisbildung. Göttingen 2015. Generell zu Frauen in der Zeit der Reformation und Konfessionalisierung z.B.: Heide Wunder: „Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 239f. Olwen Hufton: Frauenleben. Eine europäische Geschichte, 1500–1800. Frankfurt am Main 1998, S. 499–506, 513–517, 556–560, 571f. Anne Conrad: „Ehe, Semireligiosentum und Orden – Frauen als Adressatinnen und Aktivistinnen der Gegenreformation“, in: Zeitsprünge 1 (1997), S. 529–545.

70

Hendrikje Carius

Auch die Forschungen zur evangelischen Geistlichkeit, insbesondere zu den Hofpredigern in den letzten Jahren, haben auf die im Einzelnen noch zu erforschende Rolle von Fürstinnen in der politischen Interaktion zwischen Hof und gelehrten Theologen verwiesen.4 Abgehoben wurde dabei nicht zuletzt auf die Patronagebeziehungen zwischen Theologen und Fürstinnen als Form bürgerlich-adeliger Kooperation.5 Liegen hinsichtlich der Allianz zwischen Fürstinnen und Theologen für verschiedene Territorien im frühneuzeitlichen Alten Reich Untersuchungen vor, steht deren Erforschung für den ernestinischen Herrschaftsbereich noch weitgehend aus.6 Dies gilt insbesondere für die Kommunikation und Kooperation des Jenaer Theologen Johann Gerhard mit Herrschaftsträgerinnen.7 In das umfangreiche Korrespondenznetzwerk Johann Gerhards eingebunden waren insbesondere fürstliche und adlige Frauen.8 Mit Blick auf diese Korrespondenzen ergibt sich zunächst ein thematisch heterogenes Bild, das Gerhard in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern als theologischen Berater und Seelsorger im Rahmen fürstlicher praxis pietatis, als Berater oder Kommunikationspartner im Rahmen weiblicher Leseund Bildungspraxis oder als Ansprechpartner in seiner Funktion als Bildungs- und Erziehungsexperte für die ihm anvertrauten studierenden Söhne9 sichtbar werden lässt.

4

5 6

7 8

9

Siegrid Westphal: Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1542–1614. Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 57–117. So insbesondere die Studien von Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig. Gütersloh 1996. Wolfgang Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Göttingen 1988. Matthias Meinhardt u.a. (Hg.): Religion Macht Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800). Wiesbaden 2014. Vgl. dazu Magdalena Drexl: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelle des femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600. Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 289–325. Vgl. Gehrt/Osten-Sacken: Fürstinnen. Für den Themenbereich Heiratspolitik und Fürstenehen vgl. Anne-Simone Knöfel: Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner. Köln u.a. 2009. Stefanie Walther: Die (Un-)Ordnung der Ehe: Normen und Praxis ernestinischer Fürstenehen in der Frühen Neuzeit. München 2011. Vgl. Johann Anselm Steiger: Art. „Gerhard, Johann“, in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 2. Berlin 2012, Sp. 557–571. Im Nachlass Gerhards in der Forschungsbibliothek Gotha sind knapp 110 Briefe überliefert. Der Kreis konzentriert sich vornehmlich auf thüringische bzw. ernestinische Fürstinnen: Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt (1584–1652); Anna von Schwarzburg-Sondershausen (1574–1640); Dorothea Sophia von Sachsen-Altenburg, Äbtissin von Quedlinburg (1587– 1645); Elisabeth von Sachsen-Altenburg (1593–1650); Maria von Sachsen-Weimar (1574– 1617); Margaretha von Sachsen-Coburg (1573–1643); Sophie Eleonore von Sachsen (1609– 1671). Für die Söhne z.B. von Agnes Schenkin und Freiherrin von Tautenburg (1576–1636); Johanna von Schlick (geb. 1579); Katharina Sibylla von Gutenstein.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

71

In Inhalt und Umfang ragt dabei der Briefwechsel mit Christine von SachsenEisenach (1578–1658) besonders hervor: Es ist die umfangreichste und zeitlich längste Korrespondenz, die Gerhard mit einer Herzogin geführt hat. Im Unterschied zu den anderen Briefwechseln mit Fürstinnen und adligen Frauen widmet sich dieser dezidiert theologischen Fragen. Im Folgenden wird der Fokus auf eben jenen kommunikativen Austausch Gerhards mit Christine von Sachsen-Eisenach gelegt und die zentralen Leitthemen der Korrespondenz herausgearbeitet. Von besonderem Interesse sind dabei sowohl die religionspolitischen Aktivitäten der Herzogin im Kontext der Konfessionalisierung10 als auch die Beratungsaktivitäten Gerhards für die Herzogin. Die Untersuchung der Korrespondenzbeziehung kann zugleich wichtige Aspekte für die Analyse des Selbst- und Amtsverständnisses sowie des konfessionellen Profils des Theologen liefern. Zudem gilt es, das in der Korrespondenz greifbare Allianzverhältnis zwischen Gerhard und Christine von Sachsen-Eisenach anhand der gemeinsamen Handlungsfelder zu konturieren. 1. CHRISTINE VON SACHSEN-EISENACH (1578–1658) In einem ersten Schritt sei der Blick auf die im reformierten Bekenntnis erzogene Herzogin Christine von Sachsen-Eisenach gerichtet. Die 1578 in Kassel geborene Tochter Sabines von Württemberg (1549–1581) und des Landgrafen Wilhelms IV. von Hessen-Kassel (1532–1592) entstammte einem von Förderung botanischen, empirisch-technischen und astronomischen Wissens geprägten Hof.11 Kassel, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts „Knotenpunkt im Netzwerk des internationalen Calvinismus“,12 wurde mit der Konversion ihres Bruders Moritz von Hessen-Kassel (1572–1632) zum Calvinismus sowie dem – im Zuge der 1605 erlassenen sogenannten Verbesserungspunkte – erfolgten Konfessionswechsel zum Zentrum der reformierten Konfession. 10 Zum in der Forschung diskutierten Konfessionalisierungsparadigma als gesamtgesellschaftlicher Fundamentalvorgang einer strukturellen Verzahnung von Religion und Politik, der zur Bildung des frühmodernen Staates führte vgl. Heinz Schilling: „Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620“, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1–45. Vgl. zum Forschungsstand u.a. Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, S. 63–75. 11 Vgl. Bruce T. Moran: „The Kassel Court in European Context. Patronage Styles and Moritz the Learned as Alchemical Maecenas“, in: Gerhard Menk (Hg.): Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft. Marburg 2000, S. 215–228. Margret Lemberg: „Frauen um Landgraf Moritz. Wirkungsmöglichkeiten einer Fürstin zu Anfang des 17. Jahrhunderts“, in: ebd., S. 173–195, hier: 193. 12 Holger Th. Gräf: „Die Kasseler Hofschule als Schnittstelle zwischen Gelehrtenrepublik und internationalem Calvinismus. Ein Beitrag zu den institutionen- und sozialgeschichtlichen Grundlagen frühneuzeitlicher Diplomatie“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 105 (2000), S. 17–32, hier: 20. Vgl. ferner Claudius Sittig: „Kassel“, in: Wolfgang Adam und Siegrid Westphal (Hg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit, Bd. 2. Berlin 2012, S. 1037–1091.

72

Hendrikje Carius

Christine heiratete 1598 den lutherischen Herzog Johann Ernst von SachsenEisenach (1566–1638), den sie um zwanzig Jahre überlebte.13 Sie galt bereits nach dem zeitgenössischen Verständnis als außerordentlich gebildet und wissenschaftlich interessiert, war insbesondere in Geschichte und Mathematik ausgewiesen.14 Sie war in ein umfangreiches, im Einzelnen jedoch noch zu rekonstruierendes Korrespondenznetzwerk mit fürstlichen wie gelehrten Korrespondenzpartnerinnen und -partnern eingebunden. Seit 1631 war sie mit dem Gesellschaftsnamen „die Freigebige“ Mitglied der Tugendlichen Gesellschaft (TG 61), ein 1619 in Rudolstadt gegründetes protestantisches Netzwerk von hochadligen Frauen, das auf die Beförderung von christlicher Sittlichkeit und Tugend zielte.15 Christine galt innerhalb ihrer Familie als Autorität, deren Vermittlungsgeschick bei innerfamiliären Konflikten genutzt wurde. Für Familienmitglieder wie Landgraf Moritz von Hessen-Kassel fungierte sie außerdem als politische Ratgeberin.16 Christine von Sachsen-Eisenach wurde in ihrem Wirken bislang nicht systematisch von der Forschung in den Blick genommen; bis in jüngere Darstellungen hinein fand auch das kulturelle und religionspolitische Handeln der Herzogin nur knapp Erwähnung.17 Im Rahmen der Edition eines Briefes Johann Gerhards an Christine aus dem Jahr 1606 hat bereits Johann Anselm Steiger auf dieses Desiderat aufmerksam gemacht und auf die sozialgeschichtliche Relevanz der Korrespondenz verwiesen, die „einen exemplarischen Einblick in die fundierte theologische Bildung von adeligen Frauen zu Beginn des 17. Jahrhunderts gewährt“.18 13 Sie war die zweite Gemahlin nach dem Tod der ersten Frau Elisabeth von Mansfeld (1565– 1596). 14 Vgl. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Sect. 2, Th. 21. Leipzig 1842, S. 244. Vgl. auch Christoph von Rommel: Neuere Geschichte von Hessen, Band 2. Kassel 1837, S. 314, FN 26. Johann Christian Friedrich Harless: Die Verdienste der Frauen um Naturwissenschaft und Heilkunde. Göttingen 1830, S. 157. 15 Vgl. Linda Maria Koldau: Frauen – Musik – Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln 2005, S. 301f. Klaus Conermann: „Die Tugendliche Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Fruchtbringenden Gesellschaft. Sittenzucht, Gesellschaftsidee und Akademiegedanke zwischen Renaissance und Aufklärung“, in: Daphnis 17 (1988), S. 513–626. Gabriele Ball: „Die Tugendliche Gesellschaft – Programmatik eines adeligen Frauennetzwerkes in der Frühen Neuzeit“, in: Jill Bepler und Helga Meise (Hg.): Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit. Die böhmische Bibliothek der Fürsten Eggenberg im Kontext der Fürsten- und Fürstinnenbibliotheken der Zeit. Wiesbaden 2010, S. 337–361. Das Gesellschaftsbuch ist in der Forschungsbibliothek Gotha überliefert: FB Gotha, Chart. B 831. 16 Hinweise darauf bei Lemberg: „Frauen“. Dies.: Juliane Landgräfin zu Hessen (1587–1643). Eine Kasseler und Rotenburger Fürstin aus dem Hause Nassau-Dillenburg in ihrer Zeit. Darmstadt u.a. 1994. 17 Biographische Anhaltspunkte in der Literatur sind der Leichenpredigt Christines von Sachsen-Eisenach entnommen: Personalia. Die Weyland Durchleuchtige vnd Hochgeborne Fürstin und ... Fraw, Fraw Christine, Hertzogin zu Sachsen, Gülich, Cleve vnd Berg, Geborne Landgrävin zu Hessen, Landgrävin in Thüringen. [s.l.] [1658]. 18 Johann Anselm Steiger: „Interkonfessioneller Diskurs, geistlicher Widerstand gegen die Obrigkeit und poimenische Katechese. Ein Brief Gerhards an die Fürstin Christina von Eisenach“, in: Ders.: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

73

Ähnlich hat Matthias Richter auf Bedeutung und editorische Herausforderungen des Corpus hingewiesen.19 Einseitig konfessionelle Darstellungen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert haben sich Christine über die schillernden Pole ihres konfessionellen Handelns genähert: einerseits über das ihr zugeschriebene, dezidiert reformiert orientierte konfessionspolitische Engagement, in Eisenach „alles Calvinisch [zu] machen“20 und andererseits dem „Conversionsgeschäft“,21 ihrem Konfessionswechsel zum Luthertum. Dabei nutzten die Ausführungen das zunächst im reformierten Sinn konfessionspolitische Wirken der Herzogin für lutherische Abgrenzungsstrategien und konfessionelle Selbstidentifikation gegen den Calvinismus. 2. KONTEXT UND QUELLENLAGE Die Herzogin bewahrte nach ihrer Heirat mit Johann Ernst von Sachsen-Eisenach mehr als eine Dekade ihre reformierte Identität – jedoch nicht nur als Teil ihrer eigenen religiösen Praxis, sondern sie versuchte durchaus, diese auch am Hof und darüber hinaus zu etablieren. Ihre Handlungsspielräume wurden mit ihrer Heirat hinsichtlich ihrer reformierten Religionsausübung nicht beschränkt, insofern im Ehevertrag keine Religionsklausel verankert war und sie nicht auf die lutherische Konfession verpflichtetet wurde.22 Die lutherische Religionszugehörigkeit war erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts für die Mitglieder der sich als Garanten des Luthertums verstehende Dynastie der Ernestiner festgeschrieben.23 In einem größeren Rahmen sichtbar wurde Christines konfessionelles Agieren bereits in den ersten Ehejahren in der Gottesdienstpraxis, bei der das reformierte Gesangbuch von Ambrosius Lobwasser, die 1573 herausgegebene erste vollstän-

19

20 21 22

23

Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 229–275, hier: 240–241. Vgl. Matthias Richter: „Johann Gerhard (1582–1637) und seine Korrespondenz“, in: HansGert Roloff (Hg.): Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliches Symposion. Berlin 1998, S. 137–145. Als Schwägerin von Juliane Landgräfin zu Hessen gerät auch Christine von Sachsen-Eisenach in den Blick bei Lemberg: Juliane Landgräfin zu Hessen. Georg Michael Pfefferkorn: Merkwürdige und auserlesene Geschichte von der berümten Landgraffschaft Thüringen. Frankfurt und Gotha 1684, S. 85. Vgl. auch ebd., S. 86, 103–104. August Toluck: Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während der Zeit des dreißigjährigen Krieges. Berlin 1859, S. 182. Vgl. auch Ludwig Koch: Art. „Thüringen“, in: RE 16 (1862), S. 110–160, hier: 144–145. Vgl. Eheliche Verschreibung zwischen Herzog Johann Ernst zu Sachsen und Fräulein Christina geborner Landgräfin zu Hessen, von 1. Mart. 1598. Nebst dem dazu gehörigen Verzichtsbriefe vom 14. Mai 1598, abgedruckt in: Rommel: Geschichte von Hessen 2, S. 361–375. Die Festlegung erfolgte im Testament Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha von 1654. Vgl. Siegrid Westphal: „Das dynastische Selbstverständnis der Ernestiner im Spiegel ihrer Hausverträge“, in: Helmut G. Walther u.a. (Hg.): Die Ernestiner: Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel. Köln u.a. 2016, S. 33–54, hier: 36. Dazu auch Walther: (Un-)Ordnung, S. 60 und 63.

74

Hendrikje Carius

dige deutsche Übersetzung des Genfer Psalters, auch in der Eisenacher Pfarrkirche zum Einsatz kommen sollte.24 Sowohl Johann Ernst als auch der Kanzler und Geheime Rat Andreas Knich (1560–1621) ließen die Herzogin in ihrem konfessionellen Engagement offensichtlich gewähren.25 Die bekenntnismäßige Koexistenz des Herzogpaares sowie die Toleranz gegenüber den Reformierten führten im Herzogtum jedoch ab 1611 verstärkt zu Spannungen, die in Zusammenhang mit einem Personalwechsel an der Kirchenspitze standen. Der neue Generalsuperintendent von Eisenach Nicolaus Rebhan (1571–1626) wandte sich fortan strikt gegen die reformierten Tendenzen in Sachsen-Eisenach.26 Aufgrund des daraufhin auch auf die Herzogin ausgeübten konfessionspolitischen Drucks machte sie es sich zur Aufgabe, die lutherische Lehre als die konfessionelle Option der Ernestiner für sich auf den Prüfstand zu stellen. Sie stand dabei vor allem aber auch unter zeittypischen Anfechtungen und Glaubenszweifeln, insofern sich Glaubens- und Heilsgewissheit nur innerhalb der konfessionell bestimmten Deutungsangebote erlangen ließen.27 Hierbei kam einem konfessionsübergreifenden theologischen Beraterkreis und insbesondere Johann Gerhard ab 1606 – mit Antritt seiner Funktion als Superintendent in Heldburg – eine entscheidende Rolle zu. Es entwickelte sich auf Initiative der Herzogin mit Gerhard ein Briefwechsel, der für die Jahre 1606 bis 1611 am dichtesten belegt ist.28 Im Nachlass Gerhards sind heute 21 Briefe Christines von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard (1606, 1608–1611,1623/24, 1631/33/36/37) erhalten. Zudem sind elf Briefentwürfe Gerhards an Christine überliefert, zum Teil ist der Inhalt seiner Schreiben stichpunktartig notiert.29 Fast bis zu seinem Lebensende schrieben sich der Theologe und die Herzogin, nahmen am persönlichen Lebensgang des ande24 Dies geschah entsprechend Rebhan allerdings „non sine scandalo publice“. FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 1r–260v, hier: 252r: Nicolaus Rebhan: Historiae ecclesiasticae Isenacensis (Auszug), Eisenach 1621. 25 Vgl. Hans Patze und Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens, 1. Teil, 1. Teilband: Politische Geschichte Thüringens in der Neuzeit. Köln u.a. 1982, S. 36. 26 Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 252r–260v. Vgl. auch das zum größten Teil eigenhändig erstellte Exemplar der Eisenacher Kirchengeschichte von Rebhan in ThStA Gotha, Geh. Archiv, E XVI, 8, Bl. 685–723r: Nicolaus Rebhan: Historiae ecclesiasticae Isenacensis liber tertius. Continet hic liber res in Eccl[esi]a Isenacensi gestas, seculo a Christo Salvatore nato, decimo septimo. Zu Rebhan vgl. Julius August Wagenmann: Art. „Rebhan, Nicolaus“, in: ADB 27 (1888), S. 755f. 27 Vgl. dazu mit weiterer Literatur Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006, S. 413–418. 28 Der letzte Brief von Christine an Johann Gerhard ist auf den 23. Juni 1637 datiert. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 421r–422v. Zur Rolle Christines bzw. zur Korrespondenzbeziehung zwischen der Herzogin und Johann Gerhard vgl. Erdmann Rudolph Fischer: Vita Ioannis Gerhardi […]. Leipzig 1723, S. 58–61, 166, 179f., 186f., 252f., 257 und 451 sowie Carl Julius Böttcher: Das Leben Dr. Johann Gerhard’s für christliche Leser insgemein erzählt. Leipzig/Dresden 1858, S. 46–47, 87. 29 Die untersuchte Korrespondenz ist Teil des in der Forschungsbibliothek Gotha überlieferten Nachlasses Johann Gerhards: FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 421r–427v und 430r–433v sowie Chart. A 601, Bl. 7r–12v, 15r–17v, 21r–21av, 22r–23v, 40r–v, 45r–46v, 56r–57v, 60r–60av, 67r–68v und 69r–70v.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

75

ren teil. Der kommunikative Austausch umfasste unterschiedliche Ebenen und Kommunikationsstränge. So wurde zeitweilig auch Barbara Gerhard (1594– 1611), die Ehegattin des Theologen, einbezogen, für den zehn Briefe aus den Jahren 1608 bis 1611 überliefert sind. Im Briefwechsel dominieren seitens Christines Handschreiben und handschriftliche Zusätze,30 die mit der dezidiert persönlich-informellen Ebene des Austausches korrespondieren. Komplimentschreiben aus der Spätphase ihrer Korrespondenz, wie Dankesschreiben für Dedikationen, sind entsprechend den Regeln des höfischen Briefzeremoniells formalisiert verfasst.31 3. BERATUNG, KOMMUNIKATIVER AUSTAUSCH, ALLIANZ: THEMEN UND PROJEKTE Johann Anselm Steiger hat sich der Korrespondenz zwischen Johann Gerhard und Christine von Sachsen-Eisenach insbesondere unter der Perspektive der Briefseelsorge gewidmet.32 Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse der katechetischen Dimension, insofern Gerhard den von der Herzogin gewünschten Rat eines lutherischen Theologen hinsichtlich jener Wahrheiten leistet, die für die Erlangung des Seelenheils unentbehrlich schienen. Steiger hat in diesem Zusammenhang bereits ausführlich die Brisanz der Korrespondenz Gerhards mit der reformierten Herzogin herausgearbeitet. Deren Hintergründe seien hier daher nur rekapituliert: Johann Gerhard hielt auf Befehl seines Landesherrn, Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564–1633), kurz nach seinem Antritt als Superintendent von Heldburg im September 1606 in Coburg eine Predigt, die auch Christine von Sachsen-Eisenach, Schwägerin des Herzogs, hörte. Christine war beeindruckt und wünschte eine weitere Predigt über Lk 8,1033, worauf sich zwischen dem Superintendenten und der Herzogin zwar in Anwesenheit des Hofmeisters und Hofpredigers, dennoch entgegen dem Hofzeremoniell, ein mehrstündiger interkonfessioneller Disput zu den lutherisch-reformierten Lehrunterschieden, vor allem über das Abendmahl und die Prädestination entwickelte. Details aus der Sicht Johann Gerhards sind aus seinem Brief vom 19. September 1606 an den Coburger Kanzler Volkmar Scherer (1556–1612) bekannt, dem er – selbst ratsu30 Z.B. in den Briefen Christines von Sachsen-Eisenach der Jahre von 1631 bis 1637, FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 421r–427v. 31 Zur frühneuzeitlichen Briefkultur: Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969. Sophie Ruppel: „,Das Pfand und Band aller Handlungen‘ – Der höfische Brief als Medium des kulturellen Austauschs“, in: Dorothea Nolde und Claudia Opitz (Hg.): Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2008, S. 211–223. Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.a. 2010. 32 Vgl. Steiger: Gerhard, S. 229–275, hier: 240f. 33 Lk 8,10: „Euch ist es gegeben, zu wissen das Geheimnis des Reiches Gottes; den andern aber in Gleichnissen, dass sie es nicht sehen, ob sie es schon sehen, und nicht verstehen, ob sie es schon hören.“

76

Hendrikje Carius

chend bzw. rückversichernd – die geschilderten Begebenheiten darlegte: Danach hörte Christine Gerhards Argumentation aktiv an und formulierte Gegenargumente.34 In Nachbereitung des Gesprächs übersandte sie Gerhard einen, wie er ausdrücklich betont, „durch vndt durch mit eygnen handen“35 geschriebenen Brief mit einem Fragenkatalog, den letzterer dann auch umfassend beantwortete.36 Für den Blick sowohl auf die Bedeutung, die Gerhard der Beratung und dem interkonfessionellen Austausch zuwies, als auch das darin zum Ausdruck kommende Selbst- und Amtsverständnis, interessieren die folgenden Zusammenhänge und Argumentationsmuster: Johann Casimir untersagte dem Geistlichen weitere persönliche Unterredungen mit der Herzogin. Christines sowie Johann Gerhards Versuche scheiterten, dennoch eine Erlaubnis zu erwirken. Johann Casimir ließ Gerhard übermitteln, dass seine Anordnung zu befolgen sei; er solle sich nicht „dazu gebrauchen (zu)laßen“, „ohne außdrucklichen bevehll“ des Herzogs mit Christine zu kommunizieren.37 Johann Casimir schreibt Christine dabei – entsprechend der Darstellung Gerhards – nicht nur eine Instrumentalisierung des Theologen für ihre religiösen Aktivitäten zu, sondern auch eine Grenzüberschreitung der normativ festgeschriebenen Geschlechterordnung. Als ausschlaggebender Grund wurde das generelle Schweigeverbot von Frauen in der Kirche herangezogen. Aufgabe von Geistlichen wie Gerhard sei es danach, dafür Sorge zu tragen, dieses Gebot durchzusetzen.38 Die Argumentation war somit ursprünglich eher geschlechtsspezifisch orientiert als religionspolitisch aufgeladen. Johann Casimir selbst stand Reformierten nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, berief er doch den Rechtsgelehrten Peter Wesenbeck (1546–1603) nach Coburg, der die reformierte Konfession weiter ausüben konnte. Zum pfälzischen Kurfürstentum, das sich dem Calvinismus zugewandt hatte, unterhielt er weiterhin gute politische Beziehungen.39 Eine doppelte Ausdeutung mit den Kategorien Geschlecht und Religion wurde erst ex post hinzugefügt. So projiziert Ferdinand Schmidt eine typische Perspektive des 19. Jahrhunderts auf Gerhards angebliche Intention, das Gespräch mit Christine aufrecht zu erhalten. Danach meinte er, „wenn er sie jetzt abbräche, könne die Herzogin annehmen, der Lutheraner streiche vor der Reformierten, der Mann vor

34 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 2r–6v, hier: 3r. Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. Vgl. Steiger: Gerhard, S. 233f., 241–243. 35 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 3v: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 36 Die sechs Fragen betreffen das Abendmahl, eine Zusammenstellung christlicher Glaubensartikel, die Herbornische Bibelübersetzung, eine katechetische Schrift, die Gerhard verfassen sollte, die Prädestinationslehre sowie die Beraubung der Sakramente. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 7r–12v: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, Heldburg, 21. September 1606. Vgl. Steiger: Gerhard, S. 232. Edition des Briefes in ebd., S. 245–253. 37 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 3v–4r: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 38 Vgl. Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 252v. Ferner die Darstellung bei Toluck: Lebenszeugen, S. 182. 39 Vgl. Patze/Schlesinger: Geschichte, S. 20.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

77

dem Weibe die Segel. Das ging wider seine Ehre.“40 Der Rekurs auf eine solchermaßen semantisch aufgeladene Kategorie der Ehre, angelegt am konfessionellen Konflikt und der Geschlechterhierarchie, ist jedoch anachronistisch. Wie Johann Anselm Steiger im Rahmen der Edition des in diesen Zusammenhängen entstandenen Briefes Johann Gerhards an die Herzogin gezeigt hat, geriet er damit vielmehr in einen grundlegenden Gewissenskonflikt. Er schreibt dem Coburger Kanzler: Nun ists an dem, daß ich in meinem gewißen nicht finden kan, wie es einmahll vor Gott zuverantworten, daß ich auff diese ihre schrifft meine antwort nicht geben solte, vndt kan ich meiner einfalt nach nicht begreiffen, zu welchem ende mein gnediger Herr sölches mier verboten.41

Dem Anliegen Johann Casimirs kann und will Gerhard – trotz seines dabei formulierten Unbehagens – nicht entsprechen. Gleichwohl ist er bestrebt, den mit seinem beabsichtigten Gewissenshandeln gleichzeitig verbundenen Konflikt mit der landesherrlichen Obrigkeit zu vermeiden. Nichtsdestotrotz widersetzt sich Gerhard schließlich – gemäß dem religiös fundierten Auftrag nach 1. Petr 3,1542 – dem ausdrücklichen, obrigkeitlich angeordneten Kommunikationsverbot.43 An Scherer schreibt er: „Es stehet in Gottes bevehl da, daß wier sollen rechenschafft geben einen ieden der vnsers glaubens grund begehret, vndt was will es doch für ein ansehen gewinnen bey der frommen vndt gelerten fürstinn, wen ich meiner Zusage nicht nachkomme, wen ich sie in vorgelegten zweivelhaftigen puncten nicht vnterrichte.“44 Durch die Weiterführung des Austausches über das Medium Brief leiste Gerhard, so Steiger, auf der Grundlage von Apg 5,29, nach der Gott mehr zu gehorchen sei als den Menschen, ganz explizit geistlichen Widerstand gegen die weltliche Herrschaft.45 In seiner Argumentationslinie, mit der er die Widerstandspflicht begründet, pointiert Gerhard neben dem bereits ausgeführten Motiv des 40 Ferdinand Schmidt: Johann Gerhard in Heldburg. Vortrag, Schriften des Vereins für Meiningische Geschichte und Landeskunde 16. Meiningen 1893, S. 8. 41 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 4v: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 42 1. Petr 3,15: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist.“ 43 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 40r: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, Heldburg, 12. Oktober 1606. 44 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 4v: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 45 Vgl. Steiger: Gerhard, S. 241–245. Zum lutherischen Widerstandsdenken u.a. Luise SchornSchütte: „Obrigkeitskritik im Luthertum? Anlässe und Rechtfertigungsmuster im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert“, in: Michael Erbe u.a. (Hg.): Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift für Hans R. Guggisberg. Mannheim 1996, S. 253–270, sowie zum aktuellen Forschungsstand mit weiterer Literatur: Robert von Friedeburg: „Die lutherische Orthodoxie und die Debatte um das Widerstandsrecht“, in: Meinhardt u.a. (Hg.): Religion Macht Politik, S. 307–322. Vgl. auch den Forschungsstand aus Perspektive des Selbst- und Amtsverständnisses bei Wolfgang Sommer: „Zum Selbst- und Amtsverständnis lutherischer Hofprediger“, in: ebd., S. 163–176.

78

Hendrikje Carius

eigenen Gewissens, dem göttlichen Gebot, der Notdurft46 auch sein Amt bzw. seinen Stand: Jedoch erkenn ich mich schuldig, ohne Ansehn einiger Gefahr oder Ungnad‘, ja auch mit Verzeihung meines Lebens vor jedermann, zuförderst vor hohen Personen, denen die Erfahrung der Wahrheit ein Ernst, zu bekennen was ich im Herzen für wahr und göttliches Wort gemäß erachte. Denn da es seyn kann, will ich gern zugleich Gottes und meines gnädigen Fürsten und Herrn, auch meinen Stand, darin mich Gott gesetzt, erhalten.47

Mit dem Auftrag zur Lehre und Verteidigung des Wortes Gottes sieht Gerhard in seinem Wächter- und Mahneramt zudem die Kenntnisnahme gegenläufiger Glaubensstandpunkte als zentral an.48 Er löste den Gewissenskonflikt mit Blick auf die Gehorsamspflicht gegenüber der weltlichen Obrigkeit in der Praxis dann für sich insofern pragmatisch, als er Christine von Sachsen-Eisenach darum bat, die weitergeführte Korrespondenz zu verbrennen.49 Dass er dies selbst nicht tat, wirft auch ein Licht auf Gerhards Umgang mit diesem innerhalb seiner Gesamtkorrespondenz mit fürstlichen und adligen Frauen exzeptionellen Austausch. Nach dem – letztlich auch für das praxisbezogen entfaltete Amtsverständnis des jungen Gerhard – aufschlussreichen Auftakt folgte ein Briefwechsel mit zunächst vorrangig theologischen Themen. Der Diskurs bezog sich dabei vor allem auf lutherisch-reformierte Lehrunterschiede insbesondere im Bereich der Prädestination und des Abendmahls. Gegendarstellungen ließ sich die Herzogin von Gregor Schönfeld (1559–1628), Kasseler Superintendent und ab 1611 Theologieprofessor sowie Konsistorialrat in Marburg, liefern.50 Konkret standen im Austausch mit Gerhard Themen wie ein von der Herzogin schriftlich verfasstes Glaubensbekenntnis, ein Buchprojekt sowie die Abhaltung eines lutherisch-reformierten Kolloquiums im Zentrum, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Christine entwickelte im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten unterschiedliche theologische sowie konfessionspolitische Projekte, die sie mit Unterstützung Gerhards umzusetzen bestrebt war. Wie etwa Dorothea Susanna von SachsenWeimar (1544–1592)51 unter anderen religionspolitischen Herausforderungen 46 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 4v: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606: „[…] weil es nicht allein die hohe notturfft, sondern auch Gotteswort, ia mein gewißen, vndt viell vrsachen erfoddern, das an ferner vnterrichtung nichts gesparet werde.“ In einem Brief an Christine vom 27. September 1606 formuliert Gerhard pointiert, dass er ihren Fragenkatalog aus folgenden Gründen beantworten muss: „göttliches gebot, gewissens vndt unvermeidliche nottdurft“ (FB Gotha, Chart. 601, Bl. 15r–17v, hier: 15v). 47 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 40r: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, Heldburg, 12. Oktober 1606. 48 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 5r: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 49 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 22r: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, Heldburg, 28. September 1606. Vgl. Steiger: Gerhard, S. 243. 50 Dazu auch Georg Martin Raidel: Epistolae virorum eruditorum ad Johannem Gerhardum, Nürnberg 1740, S. 66. 51 Vgl. zu Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung, und dynastische Identitätsstiftung vom

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

79

rund vierzig Jahre zuvor, hat auch Christine im September 1606 dazu ein eigenes – im Nachlass Gerhard in Abschrift überliefertes – Glaubensbekenntnis verfasst, das in seiner theologischen Sprengkraft im konfessionellen Zeitalter einem Politikum gleichkommen konnte.52 Neben der konfessionellen Positionsbestimmung sollte ihr Bekenntnis nicht nur eine Grundlage für die lutherisch-reformierte Diskussion mit Gerhard und ihrem reformierten Beraterkreis, hier vor allem dem Kasseler Superintendenten Schönfeld, bieten.53 Ihre Absicht war es vor allem, damit auch an den Kanzler Sachsen-Eisenachs heranzutreten, um ihrer Position eine Grundlage und politisches Gewicht zu verleihen – auch, weil die Landstände sie offenbar „der religion halber verdechtig“ hielten.54 Ihr Ziel war es nun, sich mit dem schriftlich fixierten Bekenntnis dem Wort Gottes öffentlich konform zu zeigen und damit die Verdächtigungen zu entkräften. Ihr Bekenntnis bezeichnet sie eingangs als ein auf der Basis von göttlicher Gnade, Lektüre und Anhörung biblischer und anderer rechtgläubiger Personen formuliertes „herzen grundt bekenndtnüs“.55 Mit Bezug auf den aktuellen Konfessionsdissens zur Gnadenwahl entfaltet sie zunächst ausführlich ihre reformierte Position zur Gnadenwahl und anschließend zum Abendmahl. Angesichts ihres auf Positionsbestimmung zielenden religionspolitischen Anliegens, das sie mit dem Bekenntnis verband, nutzt sie wiederholt das rhetorische Topos der eigenen Einfalt („mein einfeltiges vndt hertzgründliches bekenndtniss“56), das sie in ihrer Bekenntnisschrift auch geschlechtsspezifisch konnotiert („einfältiges Weib“57), um sich trotz Ausreizung ihrer Handlungsspielräume kompatibel mit den gesellschaftlich-religiösen Normen- und Wertvorstellungen zu zeigen. Damit verbunden ist die Betonung ihres Anspruchs, das Bekenntnis nicht zu ihrer, sondern zu Gottes Ehre zu formulieren.58

52 53 54 55 56 57 58

Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011, S. 436–525. Irene Dingel: „Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar (1544–1592) im Spannungsfeld von Konfession und Politik. Ernestinisches und albertinisches Sachsen im Ringen von Glaube und Macht“, in: Enno Bünz u.a. (Hg.): Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation. Leipzig 2005, S. 175–192, sowie die Beiträge zu Dorothea Susanna im Band: Gehrt/Osten-Sacken: Fürstinnen. Vgl. Dingel: „Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar“. Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 28r–30av: Glaubensbekenntnis Christines von SachsenEisenach (Abschr.), September 1606. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13r–14v, hier: 13v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 28r: Glaubensbekenntnis Christines von Sachsen-Eisenach, September 1606. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13r–14v, hier: 13v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 30r: Glaubensbekenntnis Christines von Sachsen-Eisenach, September 1606. Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606.

80

Hendrikje Carius

Christine übersandte Gerhard ihr Bekenntnis und bat um Lektüre, Rat und anschließende Rücksendung.59 Dass sie Gerhards Rat („christlichen raht vndt vnderweysung“60) eingeholt hatte, sollte jedoch geheim bleiben, zumal sie ihn nicht dezidiert in seiner Amtsfunktion um die theologische Bewertung ihres Bekenntnisses angefragt hat.61 Ihr Fokus richtet sich vielmehr auf die persönliche Einschätzung Gerhards („allein seines hertzen grund“), dem sie Verschwiegenheit zusichert.62 Die historischen Hintergründe um Christines Bekenntnis und dessen religionspolitische Reichweite können hier im Einzelnen zwar nicht rekonstruiert werden. Überliefert ist zumindest eine erste Reaktion Gerhards vom 27. September 1606. Sachlich und zurückhaltend wirft er ein, dass ein solches „hochbedenckliches werck“ genau von allen Seiten zu betrachten sei. Überdies geht er davon aus, dass die gelehrte Herzogin auch durchaus selbst einschätzen könne, wie sich die Punkte ihres Bekenntnisses konfessionell einordnen ließen.63 Erst einige Zeit später muss er mit Blick auf das Bekenntnis nochmals seine Positionen zur Gnadenwahl und zum Abendmahl auf einem recht hohen theologischen Niveau entfaltet haben.64 Im zeitlichen Umfeld des Bekenntnisses steht ein von Christine initiiertes und vorangetriebenes Buchprojekt, mit dem sie Gerhard beauftragte.65 Es war eines der zentralen Themen aus der Anfangszeit der Korrespondenz, das die Herzogin und den Theologen weiter miteinander verband. Ziel war es, eine Zusammenfassung aller Glaubensartikel zu erstellen, die zur „Seeligkeit Nothwendig zu wißen“66 seien.67 Diese sollte Gerhard verzeichnen und mit Sprüchen des Alten und 59 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606. 60 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 18r–20v, hier: 18r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 28. September 1606. 61 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 13r, 14r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606: „Ohne meldung seines rahts oder seines nahmens“. 62 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 14r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 26. September 1606. 63 FB Gotha, Chart. 601, Bl. 15r–17v, hier: 15v–16r: Johann Gerhard an Christine von SachsenEisenach, Heldburg, 27. September 1606. 64 In einem beigelegten Bericht, der allerdings nicht zusammen mit dem Entwurf überliefert ist. Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 45r–46v: Johann Gerhard an Christine von SachsenEisenach, 18. November 1606. Vgl. die Antwort Christines von Sachsen-Eisenach vom 10. Dezember 1606 in FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 47r–48v, hier: 47r: „[…] ob solche schon gar disputirlich verfast vndt deswegen meinem verstandt zu hoch idoch wil ich solche desto offter vberlesen vndt gott ahn ruffen das er mich solchs recht wolte verstehen lehren“. Aus ihrem Schreiben geht hervor, dass ihr auch von Gregor Schönfeld eine Anwtort vorliegt, dem sie ihr Bekenntnis ebenfalls übersandt hatte. 65 Vgl. dazu Steiger: Gerhard, S. 244–245. 66 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 18r–20v, hier: 20r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Coburg, 28. September 1606. 67 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 7r–12, hier: 8r: Johann Gerhard an Christine von SachsenEisenach, Heldburg, 21. September 1606. Hierzu Steiger: Gerhard, S. 247f. Vgl. auch die Abschrift eines Briefes von Christine von Sachsen-Eisenach durch Gerhard in FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 25r–27v. Edition bei Steiger: Gerhard, S. 234–240.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

81

Neuen Testaments beweisen. Darin sollte er auch die von den Gegnern der ‚reinen Lehre‘ angeführten Sprüche erklären, deren Namen er allerdings nicht nennen sollte. Die Herzogin wünschte sich also insgesamt ein Handbuch, das als explizit unparteiisches Medium eine von Gerhard nur biblisch fundierte und seinem Gewissen verpflichtete Entfaltung der strittigen Fragen präsentieren sollte: Doch ist mein […] begeren nochmahls der h[err] d[oktor] wolte keines menschen ahnsehen oder meinung zuviel nach volgen sondern alles so er in seinem gewissen vor recht erkandt es werde angenohmen oder verworffen von wem es wollte setzen vndt sonderlich dero selbige in den wider in ander lauffenden sprüchen vndt artickeln undt derselbigen vergeltung doch ohne anziehung einiger menschen.68

Die Finanzierung der Schrift wollte die Herzogin übernehmen – allerdings ohne Nennung des Namens der Auftraggeberin und Förderin.69 Gerhard bestätigte das Vorhaben der Herzogin als „herlich, nützlich werck“.70 Er folgte ihrem Wunsch, arbeitete einige Bereiche aus, insbesondere zum Thema Gnadenwahl und Abendmahl und übersandte es der Fürstin. Vermutet wurde, dass aus dieser Initiative die Ausführliche Schrifftmessige Erklerung der beyden Artickel Von der heiligen Tauffe vnd Von dem heiligen Abendmahl (1610)71 ebenso hervorging wie zwei weitere Schriften, die Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi (1611)72 sowie die unvollendete Schrift Von der person vndt ampt vnsers Herrn Jesu Christi.73 Neben dem Buchprojekt als eines der Leitthemen der frühen Korrespondenz war es der engagierte Versuch Christines, ein lutherisch-reformiertes Kolloquium zu realisieren, in dem Johann Gerhard als lutherischer Protagonist fungieren sollte. Sie forciere dieses „heftig“ und „mit macht“ – wie es in einem Bericht des Ei68 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 61r–62v, hier: 61r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Tenneberg, 16. Juli 1608. 69 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 47r–48v, hier: 47v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 10. Dezember 1606. 70 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 21v: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, September 1606. 71 Vgl. Johann Gerhard: Ausführliche Schrifftmessige Erklerung der beyden Artickel Von der heiligen Tauffe vnd Von dem heiligen Abendmahl / Solcher massen angestellet / daß iegliche Puncten derselben mit allen vnd jeden dahin gehörigen Zeugnissen der heiligen Schrift bewiesen vnd die darwider streitend scheinende örter erkleret werden […]. Jena 1610. Vgl. Jörg Baur: „Johann Gerhard“, in: Martin Greschat (Hg.): Orthodoxie und Pietismus. Gestalten der Kirchengeschichte. Band 7. Stuttgart 1982, S. 99–119, hier: 105. Steiger: Gerhard, S. 244. Das Buch übersandte Gerhard im November 1610 an die Herzogin. Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 94r: Christine von Sachsen-Eisenach an Barbara Gerhard, 18. Januar 1611. 72 Vgl. Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers HErrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten / Also angestellet / daß wir dadurch zur Erkentnis der Liebe Christi erwecket werden / vnnd am innerlichen Menschen seliglich zunehmen mögen. Jena 1611. 73 Vgl. Johann Gerhard: Von der person vndt amptt vnsers Herrn Jesu Christi [o.D.]. Manuskript FB Gotha, Chart. A 81, Bl. 238r–272av. Ediert von Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Martin Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Leiden u.a. 2002, S. 295–395. Vgl. ebd., S. 288.

82

Hendrikje Carius

senacher Superintendenten Nicolaus Rebhan heißt.74 Die von Rebhan überlieferte Begründung zielte auf ihre eigene Positionsbestimmung, nach der sie aus einem Kolloquium „am besten lernen“ könnte, „welches theil recht oder vnrecht hette“.75 Mit dem Wunsch nach einem Kolloquium konnte sie sich gegenüber der Kirchenleitung allerdings vorerst nicht durchsetzen. Diese verfolgte dazu eine doppelte Argumentationsstrategie: Zum einen wurde auf die bisher ergebnislos abgehaltenen Kolloquien verwiesen. Zum anderen wurde auch das kontroverstheologische Format für das Vorhaben abgelehnt, in dem die von einem Kolloquium ausgehende Gefahr betont wurde: Die Herzogin werde dadurch noch mehr verwirrt, da jeder seine Meinung „zum scheinlichsten defendiren“ werde.76 Eng mit diesem Thema verbunden war die Frage des Abendmahls, die ein weiterer Konfliktpunkt Christines mit der Kirchenleitung unter Rebhan bedeutete. Rebhan nahm diese „Controversia cum Principe“77 ausführlich in seine Geschichte Eisenachs auf, war diese doch ein Ausweis für seinen Erfolg im Amt sowie im Einsatz für das Luthertum gegen die reformierte Konfession.78 Den Ausschlag für den Konflikt gab dessen mündlich und schriftlich formulierte Verweigerung, der Herzogin wie seine Vorgänger trotz ihres reformierten Bekenntnisses das Abendmahl zu reichen. Denn – so formulierte er in einem Bericht gegenüber dem Coburger Hofprediger Martin Gnüge (1568–1613) – sie bekenne sich „categorice vnd expressi zum Calvinismus“ und „erkleret dabey zu leben vnd zu sterben“.79 Christine von Eisenach hatte deutlich gemacht, dass sie den lutherischen Abendmahlsbegriff zwar nicht gänzlich verwerfe, aber die Lehre der Reformierten dem Wort Gottes gemäßer erachte und somit das Abendmahl weiterhin nach reformiertem Ritus vornehmen wolle.80 Christine schaltete über ihren Bruder Moritz von Hessen-Kassel die reformierten Konsistorialräte Gregor Schönfeld und Kaspar Sturm (1545–1628) sowie Johann Goddäus ein, die sich für ihre Zulassung zum Abendmahl auch im reformierten Sinn („sensu et fide Calvinorum“) stark machten, jedoch erfolglos blieben. Die brisante Entscheidung, eine landesherrliche Obrigkeit vom Abendmahl auszuschließen, legitimierte Rebhan mit Gewissensgründen, die er biblisch begründet, aber durchaus auch polemisch entwickelt: Nicht „privat=Affect / Muthwill / Halsstarrigkeit / Ehrgeitz oder Tiranney“, sondern Not, so schreibt er am 19. März 1611 Christine, würde ihn zu dieser Verweigerung veranlassen.81 74 75 76 77

78 79 80 81

FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 114r–117v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge, [s.a.] (Abschr.). FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 114v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 114v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. Vgl. Christian Franz Paullini: „Historia Isenacensis variis literis et bullis caesarum, pontificium, prinicipium, aliorumque conspersa“, in: Ders.: Rerum et antiquitatum Germanicarum syntagma, varios annales, chronica et dissertationes comprehendens. Frankfurt am Main 1698, S. 223–228, hier: 224. Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 252r–260v. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 114r: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge, [s.a.] (Abschr.). Nicolaus Rebhan an Christine von Sachsen-Eisenach, 19. März 1611, in: Paullini: „Historia“, S. 224. Nicolaus Rebhan an Christine von Sachsen-Eisenach, 19. März 1611, in: Paullini: „Historia“, S. 226.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

83

Sonst beginge er eine „unverantwortliche Heucheley und thätliche Verleugnung“ seines Glaubens. Die weitere Argumentationskette umfasst neben der Glaubensverleugnung auch sein Gewissen und Amt sowie die Gefahr intrakonfessioneller Konflikte und göttlichen Gnadenverlusts.82 Bei ihrer Zulassung zum Abendmahl, schreibt Rebhan der Herzogin mit drastischen Worten, „wäre das Sacrament bey uns nicht mehr ein Zeichen der Einigkeit des Glaubens und Bekentniß, sondern ein Polnischer Stiefel und Deckel zweyer wiederwertiger Religionen“.83 Er könne auf der Kanzel kaum gegen den Calvinismus predigen sowie seine Zuhörer warnen und zugleich „das Böse gutheissen“, d.h. eine Reformierte zum Abendmahl zulassen. Rebhan verband seine Argumentation darüber hinaus mit einer prinzipiellen Kritik an der Wahrnehmung ihrer Rolle als Ehefrau des regierenden Fürsten und Landesmutter, in dem er die Herzogin fragte, warum sie sich denn „tanto cum scandalo vnd betrübung Ill[ustrissimi] mariti […] von vns absondern wollte“.84 Er aktivierte damit einen innerhalb der politischen Funktionselite des Territoriums virulenten Vorwurf, war doch die persönliche Frömmigkeit einer Fürstin immer auch Teil des öffentlichen Wohls und damit politisch angelegt.85 Widersetzte sich Gerhard aus Gewissensgründen der weltlichen Herrschaft, um sein Amt wahrzunehmen, ist auch hier bei Rebhan die im geistlichen Amt gestellte Gewissensfrage der Kristallisationspunkt, mit der der landesherrlichen Obrigkeit Gehorsam im geistlichen Bereich verweigert wird. Beide Theologen haben dabei aus ihrer unterschiedlichen pastoralen Funktion heraus Gewissensentscheidungen getroffen und gegen obrigkeitliche Anordnungen umgesetzt, wobei die jeweiligen politischen Kontexte noch genauer zu beleuchten wären. Rebhan führt Christine im Unterschied zu Gerhard sehr deutlich vor Augen, dass ihre bisherige Glaubenspraxis mit Gewissensverletzung und Glaubensverleugnung einhergeht. Letztlich sind dies auch jene Punkte, die sie einige Jahre zuvor zum Austausch mit Johann Gerhard bewegt hatten. Welche Rolle hatte nun Johann Gerhard in den beiden Punkten der Ausrichtung eines interkonfessionellen Kolloquiums sowie der Abendmahlsfrage? Interessanterweise ist in dem Schreiben Rebhans an den Coburger Hofprediger Gnüge die Beschwerde Christines darüber enthalten, dass man „sie nur auf d[oktor] Gerharden“, verweise „aber das gegentheil wolte man sie nicht hören laßen“.86 Wurde Gerhard 1606 der persönliche Kontakt mit Christine untersagt, war er es nun, der als Lehrautorität und in seiner Vorbildfunktion für die Konsolidierung der Landeskirche für das Luthertum eintreten sollte. Rebhan war sich sicher, dass nur Gerhard über einen entsprechenden Einfluss auf die Herzogin verfügt und entsprechende Expertise als Lehrautorität mitbringt, um dem reformierten Kon82 Vgl. Nicolaus Rebhan an Christine von Sachsen-Eisenach, 19. März 1611, in: Paullini: „Historia“, S. 225. 83 Nicolaus Rebhan an Christine von Sachsen-Eisenach, 19. März 1611, in: Paullini: „Historia“, S. 225. 84 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 115r: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. 85 Vgl. Katrin Keller: „Hüterin des Glaubens. Fürstin und Konfession in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in: Gehrt/Osten-Sacken: Fürstinnen, S. 35–61, hier: 50. 86 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 116r–v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge.

84

Hendrikje Carius

fessionsgegner theologisch versiert zu parieren. Rebhahn wandte daraufhin Gnüge gegenüber jedoch ein, dass dem Gelehrten Schönfeld nicht er, sondern „seines gleichen“, Johann Gerhard oder Balthasar Mentzer (1565–1565), gegenübertreten müssten. Seine Antworten würden bei der Herzogin letztlich nicht gelten, zumal sie „gegen den Calvinismus so starck affectionieret“ sei. Auch in der Abendmahlsfrage sollte Gerhard eingeschaltet werden. Davon wurde allerdings aufgrund des Ablebens seiner Ehefrau Ende Mai 1611 Abstand genommen, so dass keine Einschätzungen zu Gerhards Position getroffen werden können.87 In seinem Nachlass sind lediglich der Bericht Rebhans und eine Abschrift des Abendmahlsbekenntnisses überliefert, das Christine nach einem Gespräch mit dem Eisenacher Superintendenten Nicolaus Rebhan auf Druck ihrer Räte eigenhändig verfasst hatte: Ich glaub das der herr Christus im Abentmahl selbst gegenwertig sey, vnd vbergebe mir mitt aber nich[t] in dem gesegneten brodt vnd wein seinen waren leib vnd blut zu einer gewißen versicherung, das ich vergebung der sunden haben, vnd mit Ihm in ewigkeit leben soll, vnd obschon Chr[ist]us gen himmel gefahren vnd von dannen nicht ehe bis zum gericht widerkommen wird, zweifele ich doch nicht, das er mich laut seiner verheißung nicht allein seines geistes, gnugthuung, gerechtigkeit, leben, craft vnd wirkung sondern auch der substantz vnd wesens seines warhaftigen leibes vnd bluts theilhaftig mache zum ewigen leben, vnd weil ich solches nicht sehen erforschen oder begreiffen kan, eigne ich mirs durch den glauben zu, so mir von Gott aus gnaden mitgetheilet ist, vnd halte, da es aus oder durch wirkung des h. geistes geschehe, vnd begehre es nicht zu erforsch[en] wie es zugehe.88

Rebhan befand zwar, dass das Bekenntnis „im grunde noch Calvinisch“ sei – man es aber dabei belassen könne. Auch die Kollegen Rebahns verständigten sich darauf, dass Christine mit diesem Bekenntnis „viel neher zu vns getreten als zuvor geschehen“ und ihr so mit ihrem Amt dienen könnten.89 Dogmatische Probleme wurden mit dem Hinweis auf die Fügsamkeit der weiblichen Verfasserin ausgeklammert.90 Im Nachgang distanzierte sich Christine zunächst auf Anraten ihres Bruders Moritz von Hessen-Kassel gegenüber Rebhan von ihrem Bekenntnis, das auf Druck der Räte übereilt verfasst worden sei.91 Rebhan riet ab und sie ließ die politisch brisante Angelegenheit auf sich beruhen, nicht ohne ihr Engagement für ein Kolloquium aufrechtzuerhalten und das Anliegen zu formulieren, sich weiter „weisen“ zu lassen. Dieses wurde ihr nun gewährt, und es kam in Eisenach zu einem gemeinsamen lutherisch-reformierten Gespräch zur Frage des Abendmahls zwischen Nicolaus Rebhan und Gregor Schönfeld in Anwesenheit der Herzogin.92 Entsprechend der Überlieferung Rebhans verlief dieses zu Ungunsten des refor87 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 115v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. 88 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 117r: Abendmahlsbekenntnis Christines von Sachsen-Eisenach (Abschr.), April 1611. Vgl. Paullini: „Historia“, S. 228. 89 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 115v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. 90 Vgl. „Editam hanc confessionem non a dogmatista, sed a femina quae docilem.“ Dogmatische Fragen sind jedoch ausgeführt bei: Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 257vf. 91 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 115v: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. 92 Zum Kolloquium vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 115v, 116r: Nicolaus Rebhan an Martin Gnüge. Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 258r–260r.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

85

mierten Vertreters und die Herzogin ging letztlich nach dem Kolloquium so weit, sich dem lutherischen Abendmahlsverständnis gemäß zu bekennen: Ich bleibe bey den worten des Herrn Christi, vnd glaube, daß ich, laut derselben im heiligen abentmal seinen waren leib vnd blut warhafftig eße und trincke, wie es aber zugehe, bekummere ich mich nicht ümb, sondern laß Christum den Herrn dafür sorgen, laß es seiner allmacht vnd weißheit heimgestellet seyn.93

Der strikte konfessionelle Kurs Rebhans im Sinne der lutherischen Lehre sowie der politischen Einheit und Ordnung hatte Wirkung gezeigt. Fundamental für das Verständnis der Zusammenhänge ist der Blick auf das Abendmahl in seiner symbolischen wie politisch-sozialen Bedeutung.94 Gerade im Zeitalter der Konfessionalisierung war das Abenmahl Ausdruck einer „sakralen Fundierung und Legitimierung des konfessionell geeinten Gemeinwesens“,95 das als zentraler Teil der Repräsentation der konfessionellen Herrschaft und der konfessionellen Abgrenzung fungierte. Mit der Weigerung Rebhans zur Fortführung der bisherigen Abendmahlspraxis stand diese politische Funktion des Abendmahls zur Disposition. Christines Bestreben nach einer langfristig theologisch begleiteten, individuellen Gewissensentscheidung wurde durch die neue, an öffentlicher Dynamik gewinnende politische Situation konterkariert. Dieser konnte sie sich im Rahmen der an sie gerichteten Rollenerwartung als Landesmutter nicht mehr entziehen. Christines Bekenntnis wurde daher auf lutherischer Seite als Erfolg gefeiert, der in der Literatur bis ins 19. Jahrhundert nachwirkte. So wurde etwa die Gestaltung der Reformationsfeierlichkeiten 1617 in Sachsen-Eisenach kausal mit dem Konfessionswechsel der Herzogin und der in diesem Zuge erfolgreich beseitigten reformierten Aktivitäten verbunden.96 In einem Artikel in der von Johann Jacob Herzog herausgegebenen Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche aus dem Jahr 1862 heißt es: „Herzog Johann Ernst freute sich ohne Zweifel über den glücklichen Erfolg, und ließ darum das hundertjährige Jubelfest der Reformation auf das Feierlichste begehen.“97 Befindet sich die neuere Forschung zu Konfessionswechseln von Fürstinnen insgesamt noch weitgehend in den Anfängen,98 so trifft dies auch für den Konfessionswechsel Christines zu, der einer weiteren Erforschung bedarf. Dies gilt nicht 93 Vgl. Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 259v. Ebenso Paullini: „Historia“, S. 229. 94 Ruth Slenczka: „Die gestaltende Wirkung von Abendmahlslehre und Abendmahlspraxis im 16. Jahrhundert“, in: European History Online (EGO), published by the Institute of European History (IEG), Mainz 2010-12-09. URL: http://www.ieg-ego.eu/slenczkar-2010-de. URN: urn:nbn:de:0159-20101025241 [Letzter Zugriff: 15.09.2016]. 95 Ruth Slenczka: „Die gestaltende Wirkung“. 96 Damit einher ging die Verdrängung der von Christine von Sachsen-Eisenach protegierten Reformierten vom Hof sowie von reformierten Bürgern aus der Stadt. Vgl. Rebhan: Historiae, in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 260r–v. Paullini: „Historia“, S. 229. 97 Koch: Art. „Thüringen“, in: RE 16 (1862), S. 145. 98 Vgl. Siegrid Westphal: „Konversion und Bekenntnis. Konfessionelle Handlungsfelder der Fürstinwitwe Anna im Zuge der Rekatholisierung Pfalz-Neuburgs zwischen 1614 und 1632“, in: Gehrt/Osten-Sacken: Fürstinnen, S. 317–344, hier: 317f.

86

Hendrikje Carius

nur für die Rolle ihres Gemahls Johann Ernst von Sachsen-Eisenach, sondern auch Johann Gerhards. Denn anders als beim Buchprojekt lässt sich für Gerhard aus der Korrespondenz heraus weder in der Frage des Kolloquiums noch der Abendmahlsfrage bzw. des Konfessionswechsels eine dezidiert aktive Rolle belegen – zumal dem Briefwechsel zu entnehmen ist, dass er nicht auf einen Glaubensentscheid hinwirkte. Gerhard stand zwar für eine interkonfessionelle Diskussion zur Verfügung, war aber insgesamt darauf bedacht, die mit der Herzogin verhandelten Aktivitäten nicht an die politische Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Er akzeptierte die gleichzeitige Beratung durch reformierte Theologen, mahnte jedoch die Vermeidung „offentlichen schrifften oder anderer Weitläufftigkeit“99 an. Er zielte dabei insbesondere auf die Funktion der Herzogin als Exempel, als „Schule der Gottseligkeit, zucht vnd aller erbarkeit“100 und damit auf die normativ zugeschriebenen Pflichten einer Landesmutter als Unterstützerin von Kirche und Glauben. Mit dem Blick auf die Frage nach den frühneuzeitlichen Patronage-, Klientelbzw. Allianzverhältnissen zwischen Fürstinnen und Theologen stand zunächst die Frage im Zentrum, wie Christine von Sachsen-Eisenach die theologische Expertise Johann Gerhards für ihre konfessionelle Positionsbestimmung nutzte. In den letzten Jahren ist im Rahmen der Untersuchung zur kulturellen Praxis an kleineren und mittleren Höfen des Alten Reiches deren hohes Kultur- und Bildungsniveau aufgezeigt worden. Beleuchtet wurden dabei insbesondere das Lesen und Büchersammeln als ein zentrales Handlungsfeld von hochadligen Frauen, das wiederum Grundlage zu eigenen kulturellen Aktivitäten bot.101 Die hochadligen Frauen nutzten dabei ihre Netzwerke und wandten sich auch an Gelehrte bzw. Theologen wie Johann Gerhard, um Anleitung und Unterstützung sowohl bei der Lektüre als auch der Bücherakquise zu erhalten. In seiner Funktion als Theologe, Seelsorger und Buchexperte nahm Gerhard durch seine Beratung somit kontinuierlich Einfluss auf die Lese- und Sammelpraxis von Fürstinnen. Die Korrespondenz mit Christine gibt auch zu diesem Bereich einige Aufschlüsse, ging sie doch auch auf ihre Bucheinkäufe ein und bewertete die Erstlektüre religiös-erbaulicher Literatur. Dabei bemaß sie ihre Lektüre auch hinsichtlich ihrer konfessionellen Verortung und antizipierte etwa Gerhards Missfallen über Kauf und Lektüre reformierter Schriften.102 99 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 45r–46v, hier: 45v: Johann Gerhard an Christine von SachsenEisenach, Jena, 18. November 1606. 100 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 56r–57v, hier: 57r: Johann Gerhard an Christine von SachsenEisenach, Heldburg, 3. April 1608. 101 Vgl. Bepler/Meise (Hg.): Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit. Ulrike Gleixner: „Die lesende Fürstin. Büchersammlungen als lebenslange Bildungspraxis“, in: Juliane Jacobi u.a. (Hg.): Vormoderne Bildungsgänge, Selbst- und Fremdbeschreibung in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2010, S. 207–223. Susanne Rode-Breymann und Antje Tumat (Hg.): Der Hof. Ort kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2013. 102 Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 77r–78v, hier: 77v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 31. Januar 1609. Hier spielt sie auf ein „arianisches Büchlein“ aus Polen an, von dem sie vermutet, dass es eine calvinistische Schrift ist. Es handelt sich um die

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

87

Typische Allianzen zeigten sich darüber hinaus im Medium der Dedikationen.103 Gerhard versandte seine Schriften wie an andere Fürstinnen auch an Christine, der er 1623 zusammen mit Gräfin Anna Sophia zu Schwarzburg und Hohnstein den fünften Band seiner Schola Pietatis zudachte, mit persönlichen Widmungen, die dem jeweiligen Buch vorangestellt waren.104 Sie wurden hierbei als positive Identifikationsfiguren hinsichtlich ihrer christlichen Tugend und ihres Einsatzes für den Glauben statuiert.105 Warben Theologen mittels Dedikationen um Unterstützung bei den solchermaßen Bedachten, bekräftigten die Dankesschreiben der Herzoginnen die in den Widmungen aktualisierte Verbindung durch eine Bestätigung ihrer Gewogenheit, ihrer beständigen Affektion. Im Gegenzug sicherte die Herzogin weitere ideelle Unterstützung zu, die im Falle Christines in Form finanzieller Gaben oft auch materialisiert wurde.106 Das zwischen Fürstinnen und Theologen bestehende Arrangement äußerte sich in politisch wirksamer Weise mithin in Stellenbesetzungsfragen, so empfahl Gerhard über die Herzogin Personal für Kirchenämter.107 Oder Christine trat selbst als Vermittlerin in Erscheinung, um für die in dieser Weise protegierten Studenten einen der begehrten Plätze im Professorenhaushalt Gerhard in Jena zu erlangen.108 Ihre mikropolitische Betätigung, das Vermitteln von Posten, war ein typisch weibliches Handlungsfeld, das – wie neuere Forschungen gezeigt haben – zur Stabilisierung des frühneuzeitlichen Staates beitrug.109

103 104

105

106 107 108 109

in Heidelberg gekaufte Postille „POstilla oder Außlegung der Sontags Euangelien vnd anderer Fest Der allgemeinen Kirchen durch das gantze Jahr“ von 1587 des polnischen Calvinisten Grzegorz z Żarnowca (1528–1601). Sie äußert gegenüber Gerhard, dass ihr die Schrift insgesamt gefiele, resümiert „viel disputation“ mit den Jesuiten, die aber ohne sonderliche Polemik gehalten sei. Vgl. auch Christines Frage nach Gerhards Position zum 1602 bis 1604 vom reformierten Theologen Johannes Piscator (1546–1625) herausgegebenen Herbornischen Bibelwerk, die er unter anderem in seinem Brief vom 21. September 1621 erläutert. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 7r–12v, hier: 8v–9r. Dazu ausführlich Steiger: Gerhard, S. 257–264. Vgl. Drexl: Weiberfeinde, S. 289. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 424r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 14. Juli 1633. Für die Übersendung von Gerhards Auslegung des Hohelieds (Postilla Salomonaea, 1631) dankte sie mit einem Schreiben vom 27. Juli 1631. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 425r. Zu den Widmungen Gerhards vgl. auch den Beitrag von Ulman Weiß in diesem Sammelband. Vgl. Johann Gerhard: Scholae Pietatis Liber V. Das ist/ Christlicher und heilsamer Unterrichtung/ was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher gestalt er sich an derselben uben soll. Jena 1623, hier: Vorrede (unpag.): „[…] sonderbahrer Eyfer zur Gottseligkeit vnd Liebe zu Gottes Wort, mit welcher sie neben andern Christlichen vnd Fuerstlichen Tugenden menniglich vorleuchten […].“ Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 56r–57v, hier: Bl. 56v: Johann Gerhard an Christine von Sachsen-Eisenach, Heldburg, 3. April 1608. Ferner die Beispiele im Beitrag von Ulman Weiß in diesem Band. Z.B. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 91r: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 30. April 1610. Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 426r–v: Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 24. Januar 1636. Vgl. dazu Matthias Schnettger: „Weibliche Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Einige Beobachtungen aus verfassungs- und politikgeschichtlicher Sicht“, in: Zeitenblicke 8 (2009),

88

Hendrikje Carius

Schließlich trug die Herzogin auch zur Aufwertung des symbolischen Kapitals des lutherischen Theologen bei, insofern sie dessen theologische Expertise ihrem dynastischen Netzwerk vermittelte und weitere Kontakte initiierte. Sie verbreitete dabei das Bild vom Ireniker Gerhard, etwa bei ihren Aufenthalten am Heidelberger Hof, wo sie dessen außerordentliche Gelehrsamkeit und sein dem „frieden geneygtes gemüht“ heraushob und sich gleichzeitig für die Vernetzung reformierter Theologen mit Johann Gerhard engagierte.110 Das wechselseitige persönliche Verhältnis zwischen Gerhard und Christine zeigt sich nicht zuletzt im Einsatz der Fürstin als Vermittlerin für das Ehepaar Gerhard. Wie eingangs angedeutet, war die sehr junge Ehefrau Barbara Gerhard, geb. Neumaier (1594–1611), ebenfalls in die briefliche Kommunikation eingebunden. Johann Gerhard hatte sie, aus einer wohlhabenden Weimarer Familie stammend, 1608 geheiratet.111 Christine wandte sich direkt an Barbara Gerhard und leitete damit eine sehr persönliche Ebene der Korrespondenz ein. Johann Gerhard hatte Christine gegenüber kurz nach der Hochzeit Schwierigkeiten angedeutet, die schon bei den Hochzeitsfeierlichkeiten am 19. September 1608 deutlich geworden waren.112 Die Probleme bezogen sich auf die offenbar mit seinem Lebensentwurf inkompatibel erscheinenden weltlichen Ansprüche seiner Ehefrau, ihre geäußerte Furcht vor Beschränkung ihrer Lebensfreude, Jugend und Schönheit durch die Ehe mit einem Geistlichen. Christine sah sich in der Verantwortung, Barbara Gerhard ihre Funktion als Pfarrfrau und damit ihre zentrale gesellschaftliche Vorbildfunktion ausführlich auseinanderzusetzen. Am 13. Januar 1609 schreibt Christine an Barbara Gerhard: „[…] mitt schmertzen [habe ich] erfahren das sich die frau doktorin auff der hochzeyt vndt auch noch gar vnfreundtlich gegen den h[errn] d[oktor] verhalten vndt das solches durch verhetzung edtlicher leudte alhir solte geschehen sein […]“, die ihr in die ohren gereicht, als wenn es schade das die f[rau] d[oktorin] als die zeyt noch so eine schöne vndt junge reiche jungfrau, einen solchen schwartzen […] pfaffen haben solte […]. Den was mangelt dem h[errn] d[oktor] ahn schöne des leybes ist er nicht einem menschen gleich […] vndt zu den da es schon also wär wie es doch jn warheyt nicht ist so bedenkt doch sein recht christlich vndt verstendig gemüht […] ja da er gleich so schwartz als ein mohr machte jn doch sein hoher verstandt vndt christlich ein gezogen leben schöner als den schönsten menschen jn der gantzen welt.113

110 111 112 113

Nr. 2: Katrin Keller (Hg.): Gynäkokratie. Frauen und Politik in der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit). URL: http://www.zeitenblicke.de/2009/2/schnettger [Letzter Zugriff: 15.09.2016]. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 77r–78v, hier: 77v–78r. Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 31. Januar 1609. Erwähnung auch in einem Brief an Barbara Gerhard vom 23. Januar 1609 in: ebd., Bl. 75r–76r, hier: 76r. Barbara Neumeier war Tochter von Johann Georg Neumeier (1570–1597) und Elisabeth, geb. Schröter. Vgl. Fischer: Vita, S. 252. Karl Palmer: Lebensbilder von Erbauungsschriftstellern der lutherischen Kirche für das evangelische Christenvolk. Stuttgart 1870, S. 57–58. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 75r–76r, hier: 75r–v: Christine von Sachsen-Eisenach an Barbara Gerhard, Eisenach, 23./31. Januar 1609.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

89

Gleichzeitig legt sie sowohl die Vorzüge Gerhards dar, die sie erstens an seinen Intellekt und zweitens an ein geistlich orientiertes Leben mit ihm koppelt. Sie wertet zudem den Ehemann gegenüber seiner Frau strategisch auf, indem sie ihre persönliche Zuneigung zu ihm und der geistlichen Lebensform mit Barbara Gerhards Auffassung kontrastiert: […] was der f[rau] d[oktorin] miss felt als das stille geistliche leben das solte mich am aller meysten erfreuen vndt alles so mir sonst zu wider vndt beschwerlich leicht vndt liblich machen ja ich wollte alle widerwertigkeyt gering achten wen ich so ein gottseelig ehegemahl als die f[rau] d[oktorin] haben solte.114

Das Mahnschreiben („mütterliche ermanung“115) ist trotz aller Kritik wohlwollend und mit Verständnis für die Lebenssituation Barbara Gerhards als einen „jungen Menschen“116 gehalten, in dem sie ihre Lage zum einen in einen größeren Kontext stellt und zum anderen auch hier wieder mit ihrer persönlichen Lage verbindet.117 Zugleich macht sie deutlich, dass jeder Stand und jede Person Widrigkeiten und Anfechtungen ausgesetzt sei, von denen auch sie selbst, die Herzogin, betroffen sei. Bemerkenswert ist ihr Angebot an Barbara Gerhard, mit ihr bei einem Besuch „von grundt vnsers hertzens“ ins Gespräch zu kommen „vndt eines dem andern seine noht (zu) klagen“.118 Sie bietet aber auch pragmatisch ganz konkreten Rat etwa in der Kleiderfrage an, um Barbara Gerhard Wege für eine gleichermaßen schöne wie standesgemäße Kleidung als Pfarrfrau aufzuzeigen. Insgesamt greift Christine in ihrem breit entfalteten Mahnschreiben Elemente des in den zeitgenössischen Ehespiegeln fixierten Ehediskurses auf, die mit Blick auf ein christliches, moralisch-religiöses Leben Handlungsorientierung für Ehepartner boten.119 Nichts sei, so die Herzogin, beschwerlicher als ein schlechter Ehestand. Als Voraussetzungen für eine gelungene Ehe weist sie die Attribute schön, jung und reich als alleinige Kriterien zurück. Als Bedingung stellt sie vielmehr einen mit Affektenkontrolle einhergehenden, in ihren Taten sichtbaren „frommen“ und „wohlgezogenen“ Lebensstil in den Vordergrund.120 In ihrer Vermittlerrolle bietet sie der jungen Frau an, bei Johann Gerhard um Verständnis für sie zu bitten.121 Christines Intervention schien erfolgreich gewesen zu sein,

114 115 116 117 118 119

120 121

FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76r. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76v. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 75v. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76r: „Die frau d[oktor] darff nicht denken das ich solches alles so ich geschrieben nicht zum theil selbst erfahren vndt ausgestanden haben sollte.“ FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76r. Vgl. dazu Heribert Smolinsky: „Ehespiegel im Konfessionalisierungsprozeß“, in: Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte. Gütersloh 1995, S. 311–331. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76r: Christine von Sachsen-Eisenach an Barbara Gerhard, Eisenach, 23./31. Januar 1609. Vgl. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 76v.

90

Hendrikje Carius

wie wenig später, Ende Januar 1609, ein Brief der Herzogin andeutet.122 Der weitere Briefwechsel mit Barbara Gerhard thematisierte unter anderem Buchlektüren, alltagsgeschichtlich relevante Belange sowie Themen, die sie mit Johann Gerhard verhandelte (z.B. Stellenbesetzungen) und die ihm übermittelt werden sollten. Die Ehe zwischen Barbara und Johann Gerhard währte nicht lange, denn Barbara Gerhard starb bereits 1611 am Kindbettfieber.123 Mit der zweiten Ehefrau Gerhards Maria (1597–1660), Tochter des Gothaer Bürgermeisters und Mediziners Johann Mattenberg (1550–1631), die er 1614 heiratete, ist kein Briefwechsel im Nachlass Gerhards überliefert. 4. FAZIT Der intensive, interkonfessionelle Austausch Johann Gerhards mit Christine von Sachsen-Eisenach war ein singuläres Phänomen innerhalb seiner in Briefwechseln fassbaren Interaktion mit Herrscherinnen bzw. Herrschaftsträgerinnen. Auf Grundlage der bekannten Korrespondenzbeziehungen Gerhards mit Fürstinnen lässt sich in der Regel eine situative, weniger eine systematische Beratung für protestantische Regentinnen im Alten Reich dokumentieren. Diese bezogen sich auf ein enges Netzwerk, das kaum über den ernestinischen Einflussbereich hinausging. Dabei stand er in einem dynastisch dominierten Allianzverhältnis vor allem mit den ernestinischen Fürstinnen in ihren klassisch weiblichen Handlungsfeldern. Gerhard nahm hier Einfluss auf ihre christliche Lebens- bzw. Frömmigkeitspraxis und stützte ihren herrschaftsstabilisierenden Einsatz für die konfessionelle Identität im ernestinischen Herrschaftsbereich. Die Untersuchung des kommunikativen Austausches zwischen Johann Gerhard und Christine hat anhand exemplarischer Themenschwerpunkte der insgesamt aus kulturhistorischer Perspektive hochinteressanten Korrespondenz Anknüpfungspunkte aufgezeigt, die einer weiteren (komparativen) Kontextualisierung in der historischen Praxis bedürfen. Eine genaue Analyse des theologischen Diskurses im Anschluss an die Studie bzw. Edition Johann Anselm Steigers ist dabei ebenso wünschenswert wie die weitere Erforschung der konkreten politischen Konstellationen, in die die Abfassung der Bekenntnisse, der Glaubenswechsel sowie das konfessionelle Handeln Christines als Haus- und Landesmutter insgesamt eingebettet waren. Deutlich geht aus dem Briefwechsel hervor, dass die Initiative zum Austausch zunächst von der an theologischen Debatten und der Klärung strittiger konfessioneller Fragen interessierten Fürstin ausging. Gerhard stieg in die von ihr entwickelten Projekte ein, wiegelte jedoch ab, sobald politische Positionen nach außen zu vertreten waren. Hatte Gerhard zu Beginn des Austausches mit Christine in 122 Sie zeigt sich erfreut über die Nachricht Gerhards, dass „gott das wasser angefangen in wein zuverwandeln“. Christine von Sachsen-Eisenach an Johann Gerhard, Eisenach, 31. Januar 1609. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 77r–78v, hier: 77r. 123 Vgl. Jakob Stöcker: Christliche Leich und Trostpredigt […] Der […] Frawen Barbaren Neumeierin. Jena 1611. Fischer: Vita, S. 256, 468.

Von einem „christlichen gesprech“ zur Allianz

91

seinem Brief an den Kanzler betont, dass er ihr gegenüber konsequent konform mit der lutherischen Lehrmeinung argumentiert habe,124 so ist dieser Befund für den vorliegenden Briefwechsel insgesamt symptomatisch. Akzente setzte Gerhard zwar konsequent für die lutherische Lehre, ohne jedoch polemische Argumentationsmuster zu aktivieren. Resultierte aus der innerprotestantischen Ausdifferenzierung eine von publizistischem Kampf begleitete Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der lutherischen und reformierten Konfession, spiegelte sich dies in dem Briefwechsel keineswegs wider – gleichwohl der Konfessionsdissens mit den damit verbundenen Problemen in der Glaubenspraxis Tenor und Impetus der Kommunikation blieb. Johann Gerhard moderierte das religionspolitische Engagement Christines zwischen den Fronten im Sinne der lutherischen Konfession und des inneren politischen Friedens. Die Offenheit des kontroversen intellektuellen Austauschs blieb davon aber unberührt. Für Argumentationen der konfessionellen Gegenseite zeigte er im Sinne seines pastoraltheologischen Ansatzes Offenheit.125 Der Casus Christine, ihre zunächst reformierte Religionsausübung im lutherischen Sachsen-Eisenach, geriet zum Exemplum für die Verhältnisbestimmung von weltlicher Obrigkeit und kirchlicher Amtsgewalt in der Praxis und war darüber hinaus Ausdruck des territorialen Konfessionalisierungsprozesses. Mag Gerhards Weiterführung des Austausches mit Christine gegen obrigkeitliche Anweisung von einer „unerhörten Kritikfähigkeit Gerhards der weltlichen Obrigkeit gegenüber und von einer beeindruckenden Entschiedenheit“126 gezeugt haben, kann dies zwar auch für den Fall der kompromisslosen Abendmahlsverweigerung durch den Eisenacher Superintendenten angenommen werden. In diesem Fall ist jedoch im Unterschied zu Gerhard die (religions-)politische Unterstützung in einem auf konfessionspolitische Einheit der Landesherrschaft setzendes Umfeld zu berücksichtigen, auf das Rebhan mit seiner Amtsverweigerung und Obrigkeitskritik gegenüber der Herzogin setzen konnte. Insgesamt deckt sich der Befund trotz der im Einzelnen vorliegenden Differenzen hinsichtlich der Wahrnehmung des Amtes mit aktuellen Forschungen zum selbstbewussten Amtsverständnis evangelischer Geistlicher, das als unterstützendes wie kritisch angelegtes Wächteramt mit Respekt gegenüber der von Gott gegebenen Obrigkeit einherging.127 Anhand der hier skizzenhaft dargestellten brieflichen und persönlichen Beziehung von Johann Gerhard zu Christine kann die Entwicklung eines zunächst geheimen Beratungs- zu einem typischen, wechselseitigen Allianzverhältnis zwischen einem Theologen und einer Herrschaftsträgerin nachgezeichnet werden. Nutzte die Herzogin den Austausch mit Gerhard für ihre konfessionelle Positionsbestimmung, nahm Gerhard mit seinem sich in diesem Prozess schärfenden kon124 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 3v: Johann Gerhard an Volkmar Scherer, Heldburg, 19. September 1606. 125 Ähnlich argumentiert Steiger: Gerhard, S. 242f. 126 Steiger: Gerhard, S. 242. 127 Vgl. analog dazu die Einschätzungen bei Meinhardt u.a. (Hg.): Religion Macht Politik, insbesondere von Wolfgang Sommer: „Zum Selbst- und Amtsverständnis lutherischer Hofprediger“, in: ebd., S. 163–176, hier: 176.

92

Hendrikje Carius

fessionellen Profil128 als lutherischer Theologe zwar seelsorgerlichen wie theologiepolitischen Einfluss auf das religionspolitische Engagement der Herzogin, war jedoch auf politischer bzw. religionspolitischer Ebene nur ein Akteur unter vielen. Erst in einem erweiterten, noch genauer zu erforschenden historischen Rahmen wird sich das politikgestaltende Arrangement zwischen dem Theologen und der Herzogin im Prozess der Konfessionalisierung, konkret im Spannungsfeld zwischen reformierter und lutherischer Theologie, Glaubenspraxis sowie Konfessionspolitik, weiter qualifizieren lassen.

128 Vgl. Fischer: Vita, S. 87.

DIE POLITISCHE ETHIK JOHANN GERHARDS UND DER THEOLOGISCHEN FAKULTÄT JENA IM BLICK AUF DEN BEGINN DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES Ernst Koch 1. DIE WETTINISCHEN TERRITORIEN UND DER BEGINN DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES Die politische Situation Mitteldeutschlands war seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, auf das Verhältnis zwischen Kurfürstentum und herzoglichem Sachsen bezogen, gekennzeichnet durch das deutliche Übergewicht des Kurfürstentums gegenüber den ernestinisch-thüringischen Territorien. Die beiden relativ langen vormundschaftlichen Regierungszeiten der Albertiner im ernestinischen Thüringen – 1572 bis 1586 und 1605 bis 1615 –, gegenüber denen die ernestinische Vormundschaftsregierung im albertinischen Sachsen zwischen 1586 und 1591 kaum ins Gewicht fiel, verliehen dem kurfürstlichen Haus erheblichen politischen Vorsprung. Hinzu kamen die wiederholten Teilungen der Herrschaft im ernestinischen Bereich, die zu einer Dezentralisierung der wettinischen Herrschaftsfunktionen in Thüringen führte. Noch der 1615 zur Mündigkeit gekommene Herzog Johann Ernst d.J. (1594–1626) war am kurfürstlichen Hof erzogen worden. Der Ausgang des Schmalkaldischen Krieges warf lange Schatten. Auch mental waren die Folgen des Schmalkaldischen Krieges immer wieder zu spüren, dann nämlich, wenn die politische Lage in Europa Hoffnungen auf eine Revision des Status quo weckte.1 In Dresden nahm man dies wahr: Kurfürst Johann Georg I. verlangte für die Entlassung von Johann Ernst aus der Vormundschaft eine schriftliche Garantie dafür, für sich und seine Brüder die unter der vormundschaftlichen Regierung entstandene Rechtslage einzuhalten und in Religionsangelegenheiten sowie in Sachen des hennebergischen Erbschaftsproblems stets Kursachsen zu konsultieren. Da der jüngste Bruder des jungen Regenten erst 1625 mündig wurde, drohte diese Anforderung die Vorherrschaft Kursachsens nochmals zu verlängern. Das Problem wurde diplomatisch unbefriedigend verschleppt, und der Vorgang beschwor die alten ernestinischen Ängste und Vorbehalte erneut herauf.2 1 2

Zum Folgenden vgl. Wolfgang Huschke: „Politische Geschichte von 1572 bis 1775“, in: Hans Patze und Walter Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens. Bd. V 1,1. Köln 1982, S. 105–110. Vgl. Frank Müller: Kursachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622. Münster 1997, S. 171.

94

Ernst Koch

Johann Ernst lehnte sich, befördert durch den Tod seiner Mutter im Sommer 1617, an seine dem Calvinismus verbundene anhaltische Verwandtschaft an, zu der als sein Onkel Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen gehörte, der über die Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft auch kulturell mit Sachsen-Weimar Verbindung aufnahm. So kam es, dass Johann Ernst im November 1619 auf der Tagung der der protestantischen Union verbundenen Stände in Nürnberg anzutreffen war. Gutachten seiner weimarischen Berater, unter ihnen Friedrich Hortleder, bekräftigten ihn in seinem Vorhaben, sich politisch und militärisch dem „Winterkönig“ anzuschließen. Er erhielt im Januar 1620 das Patent eines pfälzischen Obersten mit dem Auftrag, 2000 Söldner zu werben. Damit war er Zeit seines kurzen Lebens in die kriegerischen Auseinandersetzungen verwoben, während er die Regierungsgeschäfte seinen Brüdern Wilhelm und Ernst (später „der Fromme“ genannt) überließ. Die Intervention des Kurfürsten Johann Georgs I., der ihn an seine Zustimmung zu den Bedingungen seiner Regierungsübernahme erinnerte, vergiftete das Verhältnis zu Kursachsen vollends. 2. DIE EINSCHALTUNG DER THEOLOGISCHEN FAKULTÄTEN Die politisch-militärischen Ereignisse der Jahre 1618/19 erforderten auch die Aufmerksamkeit der Theologischen Fakultäten, die sich mit Anfragen der ihnen zugehörigen Obrigkeiten konfrontiert sahen bzw. selbst aktiv wurden. Die Greifswalder Theologische Fakultät hatte sich bereits am 23. November 1618 auf Anfrage einer einzelnen Person hin zur Sache geäußert. Sie berief sich auf Luthers Position zum Widerstandsrecht und unterschied zwischen juristisch-weltlicher und genuin theologischer Argumentation. Allein der Obrigkeit komme es zu, Gewalt auszuüben. „[…] außwendige Wehr/ vnd Waffen/ Krieg vnd eusserliche Gewalt“ seien nicht das Mittel, „dadurch reine Lehre gepflantzet oder vertheidiget wird“. Widerstand der Untertanen führe am Ende zur Aufhebung des Standes der Obrigkeit.3 Am 12. Januar 1620 wandte sich die Theologische Fakultät Wittenberg brieflich an den kurfürstlichen Geheimen Rat. Sie sprach von der Betrübnis der frommen Christen „so wohl wegen des Calvinischen, als wegen des Papistischen Hauffens“.4 Die Machenschaften der Jesuiten hätten letztlich das Ziel, die Herrschaft 3

4

Georg Dedeken: Thesauri consiliorum et decisionum Volumen II Politica continens. Das ist: Vornehmer Universiteten hochlöblicher Collegien/ wolbestalter Consistorien/ auch sonst hochgelährter Theologen und Juristen Rath, Bedencken, Antwort, Belehrung/ Erkentnüß/ Bescheide und Urtheil, in und von allerhand schweren Fällen und wichtigen Fragen: belangend/ so wol Religions: Glaubens: Gewissens: Kirchen: Ampts: und Ehe: als Bürgerliche und andere Sachen/ wie dieselbe täglich fürfallen und gereget werden mügen […]. Der Ander Theil. Hamburg 1623, S. 325–326 (Bedencken der Theologischen Facultet zu Gryphiswald) mit Zitat S. 326. Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Halle (im Folgenden: UAHW), Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 523r–526v: Gutachten der Theologische Fakultät Wittenberg an den Geheimen Rat, 12. Januar 1620.

Die politische Ethik Johann Gerhards

95

von Papst und spanischer Monarchie zu stabilisieren und die lutherischen Kirchen auszulöschen.5 Sei es doch nicht unbekannt, „wie die Jesuiten offt gerathenn, Das die Hohen Häupter mehr bedachts solten sein, zu kriegen wieder die Lutheraner, als wieder die Turckenn“. Hier wiederhole sich, wie aus Luthers Auseinandersetzung hervorgehe, die Situation der Reformation. Man könne sogar beobachten, „das die hohen, sonst vnschuldigen Haupter, Catholisches theils, doch bißweilen von diesem ihrem Geistlichen gesiendlein betrogen vndt wieder ihre eigene intention vbel angefuhrett werden können“. Aber auch die lutherischen Kirchen seien „wegen ihres großen vndancks vndt beharrlichen vnbußfertigkeitt, dem hohen Gott eine straffe schuldig“, was aber keinen Grund zur Untätigkeit darstelle.6 So appellierten die Wittenberger Theologen an die Berufung Kursachsens als Tradent der Lehre, die auf Martin Luther als Propheten zurückgehe. Adressat ihres Briefes seien der Kurfürst und der Geheime Rat „alß die furnembsten Seulen der Churf. Regierung“, denn es müsse „neben dem Heilsamen Politischen frieden auch die reine Lutherische Lehr vnuerkurtzt bleiben“. Sie müsse „noch weiter vndt weiter außgebreittet“ werden, das gehe „alle Lutherische Kirchen“ an.7 So betonten sie auch im Blick auf „die Gottfurchtigen Außländischen, so ein sonderlich auge vndt hoffnung auf Sachsenn haben“.8 Auch die Theologische Fakultät Leipzig scheint zur gleichen Zeit die Frage nach legitimem Widerstand gegen die im Gange befindlichen politischmilitärischen Prozesse beschäftigt zu haben. Vom 12. Januar war ein Gutachten der Fakultät datiert. Es setzte mit der Reflexion der Frage ein, wo eigentlich die Kompetenz zur Beantwortung anstehender Frage liege und rekurrierte auf Martin Luthers Unterscheidung der beiden Regimente Gottes: „Wie […] ein Schuster Schuh machen oder verkauffen sol/ das ist eines Theologi Ampt nicht zu lehren […].“ Einen weiteren Ansatz verfolgten die Leipziger mit der Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Obrigkeit – keinem Untertan sei es erlaubt, gegen die Obrigkeit Krieg zu führen.9 Das Gutachten verwies dafür und auf die Grenzen obrigkeitlicher Macht auf einschlägige neutestamentliche Texte, denn Gott habe auch dem Kaiser „kein sonderlich Recht verstattet“. Auf den Einwand, „Es were schad/ daß ein gantzes Land umb eines ungleubigen Königs willen das exercitium verae religionis sollte verlieren/ und die liebe posteritet auch darumb bringen“, räumte das Leipziger Bedenken ein, das dies wohl so sei, dass sich aber darin der Zorn Gottes äußere10 und die Bewohner zu umso tieferer Frömmigkeit anspornen werde. Aufgabe der Theologen sei es in diesem Falle das Gebet, aber auch bei der 5

UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 524v: „[…] de fide haereticis non seruanda, ad maiestatem Papae, & Monarchiam Hispanicam stabiliendam, vndt im grundt ad exterminationem Ecclesiarum Lutheranarum […].“ 6 UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 525r. 7 UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 525v. 8 UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 526r. 9 Dedeken: Thesaurus, S. 323–325 (Bedencken der Theologischen Facultet zu Leipzig. Ob Unterthanen/ welche der Religion halber von ihrer Oberkeit beschweret werden/ defensive einen Krieg führen mögne?) mit Zitat S. 323. 10 Dedeken: Thesaurus, S. 324.

96

Ernst Koch

Obrigkeit vorstellig zu werden, an die nächst höhere Instanz zu appellieren oder gar die Flucht und das Leiden. Was die Juristen zur Frage des Widerstands gegen die Obrigkeit zu sagen hätten, müsse man ihnen überlassen. Die Wittenberger Initiative blieb aber vorerst in Wittenberg liegen, denn der Brief vom 12. Januar erreichte den Geheimen Rat erst am 24. Januar. Die Ursache dafür war wahrscheinlich, dass inzwischen weitere Prozesse im Gange waren. Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg hatte sich ebenfalls am 12. Januar an Herzog Johann Ernst in Weimar mit der Aufforderung gewandt, er solle sich gegenüber den Böhmen zurückhalten.11 In Dresden waren seine Initiativen zum Anschluss an die Union bekannt geworden. 3. DAS ERSTE JENAER GUTACHTEN VOM JANUAR 1620 Nun schaltete Johann Ernst auch die Theologische Fakultät Jena ein. Er forderte ein Gutachten an, das darüber Auskunft geben sollte, ob er dem Kaiser oder den Böhmen beistehen oder wie er sich sonst verhalten solle. Es lag ihm, datiert vom 18. Januar, „(v)erfaßt gegen den Leipschen [= Leipziger] Kreißtagk“, vor.12 Die Theologen versicherten, es sei „mit blutigen Zehren zubeweinen, Das der [sic!] heimlich […] mißtrawen, so sich bishero zwischen den ständen des Böhmischen Reichs vndereinander als auch gegen das Haupt der Itzigen vnd vorigen Kaiserlichen Ma(iestä)t gleichsam in der Aschen legende, erhalten“.13 Damit verbunden sei die Sorge um die Kirche. Die Jenaer fügten hinzu, sie würden gern auch andere Gutachten in ihre Überlegungen einbeziehen „oder mit andern reinen rechtgläubigen Theologen vertrawliche Unterräde pflegen“,14 eine Erwägung, die in den im folgenden Jahrzehnt in Gang kommenden Gesprächen zwischen kursächsisch-albertinischen und thüringisch-ernestinischen Theologen realisiert werden sollte. Notwendig sei es auch, das geltende Reichsrecht, aber auch geheime Abmachungen, die viel Misstrauen erregten, in die Erwägungen einzubeziehen.15 Schließlich seien die Gedanken der beiden Konfliktparteien zu erkunden, um zwischen Skylla und Charybdis hindurchzugehen „vnd an dem port eines vnversehrten vnd Vnbeschwerten gewißens frölich auszutreten“.16 In einer ersten Überlegung (1) war es den Jenaern war wichtig, daran zu erinnern, dass der im vorausgehenden Jahr in Frankfurt am Main gekrönte Kaiser 11 FB Gotha, Chart. A 168, S. 9–11, hier: 9: Brief von Matthias Hoë von Hoënegg an Herzog Johann Ernst, 12. Januar 1620. 12 FB Gotha, Chart. A 168, S. 13–42: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken, Ob M. G. F. und H. [meine Gnädigen Fürst und Herren] dem Keiser, oder den Böhmen beistehen? Oder wie sich S. F. G. [seine Fürstliche Gnaden] sonst verhalten sollen? – Schreiberausfertigung mit eigenhändigen Unterschriften von Johann Himmel als Dekan, Johann Major und Johann Gerhard. 13 FB Gotha, Chart. A 168, S. 15: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 14 FB Gotha, Chart. A 168, S. 17: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 15 Vgl. FB Gotha, Chart. A 168, S. 18: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 16 FB Gotha, Chart. A 168, S. 19: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken.

Die politische Ethik Johann Gerhards

97

streng jesuitisch erzogen und auch in den Erblanden eine streng „papistische“ Religionspolitik betrieben worden sei. Weder in Ober- noch in Niederösterreich habe er jemals den der Augsburgischen Konfession zugewandten Ständen freie Religionsausübung gestattet. So bleibe das Zutrauen übrig, dass er der kaiserlichen Kapitulation in allen Punkten und Klauseln treu bleiben, sich an den Religionsfrieden von 1552/55 halten und „sich weder Bapst noch Jesuiten verleiten laßenn“ werde, wovon allerdings bisher wenig zu spüren gewesen sei.17 Trete dieses dennoch ein, bleibe nur das Vertrauen zu Gott, „er werde, wie er vielmahls gethann, auch […] ferner noch aller bössen Leute anschläge zu nichte machen, das sie treffen die böse sach, vnd fallen in die gröb hinein, die sie machen den Christen fein“.18 Drei weitere Überlegungen (2–4) galten dem Reichsrecht in Verbindung mit der Ständelehre, was den Gehorsam auch der Inferiores Magistratus gegenüber dem Oberhaupt des Reiches bedeute, aber auch vom Oberhaupt erwarte, dass er sich an die Grenze erinnere, die ihm mit dem Jesuswort in Matthäus 22, 21 gesetzt sei. Daneben erinnerten die Jenaer Theologen an das Verhalten Davids. Der übte keine Rache an Saul, der 85 ihm zugetane Priester in Nob mit deren Frauen und Kindern umgebracht hatte (vgl. 1 Samuel 22, 6–22). „Gott pfleget zue allen Zeitten vber der Obrigkeit als seiner Ordnung vnd diener zuhaltten“ und die Übertreter seines Gebots zu strafen. So sei im Konfliktfall für die Untertanen Leiden angesagt.19 Die Theologen spielten in einem weiteren Punkt des Gutachtens (5) hypothetisch den Kaiser gegen Papst und Jesuiten aus, indem sie vermuteten, der Kaiser werde, „dessen sich kein Bapist jemahls versehen“, seine gegenwärtigen Absichten ändern. Habe er doch „den ausgang der Jesuitischen Concilien vnd Spanischen practicen“ nunmehr vor Augen, darum werde er beim Passauer Vertrag von 1552 bleiben, die Evangelischen nicht „vnter die Bapstische Tyranney […] zwingen“ und die Erblande vor Gewalt und Überfall schützen sowie die Reichsverfassung achten.20 Die folgenden Erwägungen des Gutachtens (6–7) dienten der Einbeziehung weiterer politischer Perspektiven, sollte es doch zu Gewaltanwendungen gegen das Reich kommen. Denn: „Ist der baum niedergelegt, so lauft iederman zue vnd wird sich dran holtzes erhofen“. Bestehe doch die Gefahr, dass außer den Türken noch „andere große Vögell“ darauf warten, „ob sie dem Adler […] könten eine feder zihen“, das heißt dem in Auflösung befindlichen Reich Schaden zuzufügen und einige Provinzen abzuspalten. Sollte das böhmische Reich untergehen oder den Türken anheimfallen, wäre das vor der nächsten Generation nicht zu verantworten.21 Sollte jedoch Gott das Reich vor dem Untergang bewahren und damit das Ende der Welt aufhalten, so spricht noch viel mehr dafür, sich an die Seite des 17 FB Gotha, Chart. A 168, S. 20–21: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 18 FB Gotha, Chart. A 168, S. 21–22: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken (mit Verweis auf 2. Samuel 15,6). 19 FB Gotha, Chart. A 168, S. 22–23 mit Zitat S. 23: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 20 FB Gotha, Chart. A 168, S. 24: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. 21 FB Gotha, Chart. A 168, S. 25: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken.

98

Ernst Koch

Kaisers zu stellen, denn Gott wolle ja das Reich nicht ohne sein Haupt erhalten wollen.22 Was jedoch Böhmen und Ungarn betrifft, „vber welche bisher aus der Jesuiter vnd ihrer beyflichter anstifften das vngewitter am meisten gangen“, ist es billig, mit allen dort lebenden ehrlichen frommen Glaubensgenossen nicht nur Mitleid zu haben, sondern ihnen aus der Not heraus zu helfen, damit „sie wieder auf das trockene gebracht werden“.23 Dabei sollte nicht vergessen werden, welche Änderungen die Stände des Königreichs in den letzten 12 Jahren ohne Beratung mit den Kurfürsten und Fürsten durchgesetzt haben. „Dan wer weiß nicht, wie sie ehemals aufgestanden[,] königliche Räthe vnd officiren ab vnd ausgeschaffet, auch wol zum fenster hinaus gestürtzett“, zu den Waffen gegriffen, die Macht an sich gerissen, sich königlicher Residenzen und Schlösser bemächtigt haben.24 Die Frage muss offen bleiben, ob sie nicht auf anderem Wege zur Freiheit in Religion und Politik gekommen wären, ohne den 35jährigen Kaiser Rudolf zu degradieren. Christus breitet sein Reich ja nicht mit Gewalt aus. So wird er auch gegen den römischen Antichristen, den Papst, nicht mit Gewalt vorgehen, sondern nach 2. Thess 2,8 mit dem Geist seines Mundes.25 Es dürfte – so folgern die Theologen – schwer fallen, den Ungarn und Böhmen Unrecht zu geben und gleichzeitig denen Hilfe zu leisten, „die grosse theils vnserer religion vnd confession ja so wiederich vnd aufsetzig als die Bapisten“ sind, obwohl auch sie in den Religionsfrieden eingeschlossen sind. Der jesuitische Geist steckt voller List, Bosheit, Unfriede, Betrug und Falschheit. „Aber wie viel der Calvinische Geist besser sey dan der Jesuitische, laßenn wir itzunter vngesagett“ – es werde sich zeigen, wenn er die Oberhand bekäme. So zitieren die Jenaer den Text von Sprüche Salomos 24,14: „Böse, böse spricht man wan mans hatt, aber wans weg ist, so rohmet [rühmet] man es dan“. So beschließen sie ihre Begründung dafür, weshalb man eher dem Kaiser beistehen sollte.26 Es sei aber, so setzen die Jenaer Theologen fort, umgekehrt auch zu prüfen, ob und weshalb man sich von den Papisten „vnd also auch dan vom Kaiser absondern vnd es mit denen halten solle, welche libertatem patriae et religionis praetendiren“. Diesbezüglich solle man es mit der Haltung des Hauses Sachsen halten. Dort habe man einerseits gewusst, „das sich der Christliche glaube nicht lest mit fleischlichem Arm gegen den Satan vnd seine trewe Eidgenoßenn, die Welt, vertheidigen“, andererseits aber auch die, die um des Glaubens willen geschmäht und zu Abgötterei genötigt werden, nicht ohne Beratung zu lassen, was ja die christliche Liebe gebiete.27 In der konkreten Situation gelte das für die „Armen getruckten vnd vntergetruckten Lutherischen hertzen“, die gleichzeitig von den Rebellen angegriffen werden und Beistand brauchen. Wiederum sei es nicht ratsam, den Päpstlichen Vorschub zu leisten. Gibt es doch auch in den der Union zugehörigen Gebieten „viel Ehrliche Lutheraner, auch Nahverwandte vnd Bluts22 23 24 25 26 27

Vgl. FB Gotha, Chart. A 168, S. 25–26: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 26–27: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 27: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. Vgl. FB Gotha, Chart. A 168, S. 27–28: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 29: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 30–31: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken.

Die politische Ethik Johann Gerhards

99

freundte“, die unter Gewalt zu leiden haben.28 Es wäre töricht zu glauben, man müsse ihnen nicht beistehen, es sei denn man glaubte, „das der Bapst zu Rohm wollte Lutherisch werden“.29 Außerdem lasse sich vermuten, dass die Verfolgung der Evangelischen das Ende des Hauses Österreich beschleunigen werde. Auch sehe es nicht so aus, dass die beiden Königreiche sich nicht wieder an Österreich anschließen würden.30 So bleibe als Fazit dieser alternativen Erwägungen: Kämpfe man gegen die pfälzische Union, so kämpfe man nicht nur gegen die Calvinisten, sondern zugleich auch gegen die Anhänger der Augsburgischen Konfession, „die mit vns in allen puncten der religion gleichstimmig […] vnd macht es fast ebenn, als wan einer mit der Rechten Hand ihme wollte die finger an der lincken abhawen“. Siegen aber die Unierten, so „dorfften leichtlich solche gäste ins Land kommen, die es nicht viel beßer machtenn als die Spanier vnd Welschen machen können“.31 So brachte das Gutachten der Jenaer Theologen drei Ergebnisse: (1) Dem Landesherrn sei zu raten, er solle bis zur bevorstehenden Tagung des Obersächsischen Reichskreises im Februar 1620 abwarten, von der wichtige Kriterien für Entscheidungen zu erhoffen seien, die sich eventuell gegen bestehende Verträge und fundamentale Rechte richteten; (2) man binde sich nicht zu schnell, sondern halte sich an den Kurfürsten von Sachsen als Senior des wettinischen Hauses „vnd also dan für einen man stehe“32; (3) die Wahl des neuen böhmischen Königs gehe die Reichsstände nicht unmittelbar an, darum könne der Landesherr mit weiteren Schritten an sich halten „vnd auf der mittel Strasen [sic!] der Neutralitet verbleiben, welche bishero dem Hochlöblichen Hause Sachsenn zu keinem nachtheil, noch bey Reichs vnd Rechtsverstendigen zum Verweis gereichenn mögen“.33 Auf diesem Wege könnten auch andere, nicht unmittelbar von den aktuellen Ereignissen betroffene Reichsstände gewonnen werden, „damit das bluttvergiesenn sowohl als Verwüstung Land vnd Leut“ vermieden und eine friedliche Lösung erreicht werden, ein Weg, der nicht mehr offen stände, wenn man sich auf die Seite einer der Konfliktparteien schlüge. Auch würde für andere Regionen „ein freyer paß bereytet, der religions friede mächtiger befestigett“ und den Jesuiten und anderen „der weg verzäunet werden“.34 Aus den Quellen ist nicht zu ermitteln, welche Wirkung das Jenaer Gutachten am Weimarer Hof ausgelöst hat. Auch muss offen bleiben, welche der inzwischen in Gang gekommenen Interventionen es waren, die Herzog Johann Ernst zu einem weiteren Schritt bewegten. Jedenfalls erreichte die Wittenberger Fakultät am 20. Januar 1620 ein Brief von Herzog Johann Ernst, in dem er die Delegierung einer Kommission Jenaer Theologen nach Wittenberg zu Gesprächen mit den dortigen Theologen meldete und bat, „Ihr wollet solche vnsern Abgeordtnete nicht 28 29 30 31 32 33 34

FB Gotha, Chart. A 168, S. 32: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 33: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. Vgl. FB Gotha, Chart. A 168, S. 33–34: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 34–35: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 37: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, S. 38: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken. FB Gotha, Chart. A 168, 39–40: Der Theologischen Facultet zu Jena Bedencken.

100

Ernst Koch

allein gutwilligk hören vnndt Ihrem anbringen, gleich vnß, glaüben zu stellen, Sondern auch vmb verhütung mißverstandes vndt vngewißheit willen, Ihnen berurt euer bedencken schriefftlich widerfahren lassen“.35 So trafen die beiden Delegierten, Johann Gerhard und Johann Major, nach äußerst beschwerlicher Reise am 24. Januar in Wittenberg ein36 und legten ein Schreiben des Herzogs mit einem Themen- bzw. Fragenkatalog vor. Interessant ist, dass es wichtige Elemente des Jenaer Gutachtens aufnahm, indem es die Problemlage umschrieb, was zu tun sei, wenn der Kaiser einen Krieg gegen jene beginnt, die nichts anderes suchen als die vertraglich geregelte Religions- und Gewissensfreiheit, die „viel tausend eyveriger vnd guthertziger Evangelische der wahren Lutherischen Religion zugethane Christen“ betrifft. Von ihnen gilt: Sie sind in den Religionsfrieden aufgenommen, zur Rechenschaft bereit und durch Bündnisse miteinander verbunden. Auf der anderen Seite steht das Bündnis des Kaisers „mit dem Bapst/ Spanier/ Welschen vnd euserste(n) Feinden des Evangelij“. Man hilft bei einer Ablehnung von Gegenwehr zur Unterdrückung der Evangelischen und ihrer Ausrottung, trägt aber auch zur Gefährdung der eigenen Lande bei. In solchem Falle wäre es bedenklich, dem Kaiser Assistenz zu leisten, was auch für die gegenwärtige Situation gilt. Gewiss kann ein Theologe keine Entscheidung treffen, dennoch ist der Weimarer Regent interessiert daran, die Argumente nunmehr auch der Wittenberger Theologen zu vernehmen.37 4. DAS WITTENBERG-JENAER GUTACHTEN Das Bedenken der Wittenberger, gemeinsam mit den Jenaer Kollegen als Antwort an den sächsischen Herzog verfasst38 und auf den 25. Januar datiert, betonte, dass man mit den Jenaern auch an den folgenden Tagen den Text „weitleufftig Pro & Contra […] discurriret“ und „einer Antwort […] verglichen“ habe.39 Der Text wollte sich allein der im Titel zitierten Frage widmen unter der Voraussetzung, dass es sich bei den Ständen um solche handele, die unter dem Schutz bestehender und geltender Regelungen „Religions vnnd Gewissen Freyheit suchen / vnd derhalben angefeindet vnd verfolget werden […]. Vnter welchen viel Tausend eyferiger guthertzigen/ der wahren Evangelischen Lutherischen Religion zugethane Christen/ zu deren Vnterdrückung geholffen wird/ wann man Kay[serlicher) Ma35 UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 527r. 36 Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 529r–v. 37 Vgl. Erklärung Dessen am 25. Januarij 1620. Dem Durchläuchtigsten Hochgebornen Fürsten vnd Herren/ Herrn Johann-Ernsten dem Jüngern/ Hertzogen zu Sachsen/ […] Auff S.F.G. gnädiges begehren von den Theologen zu Wittenberg gegebenes Bedenckens (welches hiebey aus dem Original gedruckt zu finden) vber die Frage: Ob ein Lutherischer Stand Röm. Kay. May. Assistenz zu leisten bedencken tragen solle/ wenn von derselben die Lutherischen bekrieget werden sollten? Wittenberg 1620, Bl. A4v–B1r. 38 Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet/ Ob dem Käyser in jetzigem Kriege zu assistiren/ oder nicht […] Herrn Johann Ernsten, Hertzogen zu Sachsen […] ertheilet. [s.l.] 1620. 39 Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 2.

Die politische Ethik Johann Gerhards

101

y(estä)t beystehen will“.40 Damit verwiesen die Wittenberger auf Anfeindungen durch die, „(w)elche in den Religions Frieden auffgenommen“ und „(m)it welchen sonderbare vereinigungen vnnd Verbündnuß auffgerichtet“ seien und von denen verlangt werde, sich dem Aufstand gegen den Kaiser anzuschließen. Schließe man sich jedoch dem Kaiser an, bekomme man es sofort mit „Bapst/ Spanier/ Welschen/ vnd eusersten Feinden deß Evangelij“ zu tun. So bestehe die Sorge, „daß hernach der Bapst durch seine Adhaerenten die vertilgung vnd außrottung des vbrigen theiles/ So wol fortsetzung des Tridentinischen Concilij, eyfrig werde suchen […]. Auch ferner zu befürchten/ daß durch solche würkliche assistentz das eigne Land inn eusserste gefahr gesetzt werden“.41 Ferner bestehe die Gefahr, dass mit dem Durchzug fremder Truppen „wider die capitulation vnd Leges fundamentales Imperii“ gehandelt werde. Damit berufen sich die Wittenberger Theologen zusammen mit ihren Jenaer Kollegen darauf, dass bereits „vom hohen Propheten deß gantzen Deutschen Landes Doct. Luther“ eine Erklärung des Sachverhalts gegeben worden sei, die auch „dem Heiligen geoffenbarthen Wort Gottes/ wegen der allgemeineinen [sic!] billigkeit/ gantz gemeß“ zu sein scheint.42 Darum sei die Angelegenheit „eine hohe wichtige Gewissenssache“ und sei auch ihnen als „conscientiarum informatoribus“ aufgetragen worden, wenn auch ihnen lieber gewesen wäre, wenn sie mit der Beantwortung der ihnen vorgelegten Frage verschont worden wären.43 Bei alledem versichern sie, dass sie gesinnt seien, dafür sorgen zu wollen, dass die Reputation des Kaisers gewahrt bleibe und dass sie weiterhin täglich für ihn beten wollten. Sie verweisen auf die historisch-eschatologische Rolle des Kaisers gemäß den Vorgaben des Danielbuchs, die anzugreifen den Zorn Gottes heraufbeschwören würde.44 Als theologische Fundamente ihrer Argumentation nennen sie die Liebe zu Gott und dem Nächsten nach den beiden Tafeln des Gesetzes Gottes,45 damit aber auch auf die Grenze des Gehorsams gegen die Obrigkeit nach Apg 5,29.46 Ein ausführliches Zitat aus Martin Luthers „Warnung an seine lieben Deutschen“ von 1530 führt zur Bekräftigung der Überzeugung, dass die päpstliche Religion nichts anderes sei „als die verdampte/ vnd nunmehr gefallene Babylon/ der rechte Antichristianismus“.47 Als Einigungsband dienen neben der Heiligen Schrift die unveränderte Augsburgische Konfession und das Konkordienbuch, die eine Taufe und „ein gantz vngestümmeltes Abendmal/ an wahrem Leib vnd wahrem Blut Jesu Christi/ So da derwegen ein Leib mit vns sind/ vnd allesamt Glieder des einen Leibes“.48 Wie sich jeder verständige Mensch davor zu hüten pflegt, den eigenen Leib zu verletzen, so tragen die Wittenberger Bedenken, „den 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 2. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 3. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 4. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 4. Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S, 5. Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 6. Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 9–11. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 9. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 10.

102

Ernst Koch

Leib Jesu Christi/ welcher ist die rechtgläubige wahre Kirche/ entweder in wenigen oder etzlichen jhren kleinen Gliedern/ zu verfolgen vnd zu verletzen“, woran auch das tägliche Gebet des Vaterunsers und des Glaubensbekenntnisses erinnert. Damit und mit weiteren Gesichtspunkten49 betont das Bedenken der Wittenberger die ekklesiologische Dimension ihrer Positionierung, wie die Theologen mit weiteren Zitaten aus Schriften Martin Luthers50 unterstreichen. Aufgabe eines lutherischen Fürsten kann es nicht sein, dem Kaiser, sofern er „von friedhässigen Leuten/ wider die reine Religion zukriegen/ inflammirt wird“, zu Hilfe zu kommen. Vielmehr ist dann der Kaiser „mit intercediren vnd admoniren vn(d) obsecriren vor die bedrengten zu bitten/ vnnd zu handlen alles was menschlicher weise geschehen kann“.51 Das Beischreiben vom 27. Januar zu der handschriftlichen Fassung des Gutachtens war an den Präsidenten und die Mitglieder des kurfürstlichen Geheimen Rats adressiert. Es bat um Nachsicht, dass der Inhalt des Gutachtens dem Geheimen Rat nicht zuvor vorgelegt worden war.52 Die Post wurde Polycarp Leyser am 31. Januar zugestellt.53 Am 14. Februar teilte der Geheime Rat in einem Schreiben an die Theologische Fakultät Wittenberg mit, es sei bisher nicht möglich gewesen, den Text dem Kurfürsten vorzulegen. Eine Übereilung in dieser Sache sei nicht hilfreich, weil sie „das höchste Haupt der Christenheit vnd statum publicum betrifft“ und darüber hinaus an eine Drucklegung zu denken ist.54 Die Fakultät ging am 23. Februar nochmals in einem umfangreichen Schreiben an den Geheimen Rat55 auf die Zusammenhänge der Konferenz mit den Jenaern im Januar ein. Die Wittenberger stellten ihm die Kopie des Memorials des Herzogs Johann Ernst zu, das ihnen die Jenaer am 24. Januar überreicht hatten und das der Weimarer Herzog „quoad thesin vnd gar nicht quoad hypothesin“ beantwortet haben wollte. Die Knappheit der gemeinsamen Antwort an den Herzog begründeten sie damit, dass es ihnen nicht gebührt habe, Anfragen zu beantworten, die ihnen nicht gestellt worden seien. So seien sie lediglich auf zwei und nicht auf alle neun ihnen vorgelegten Punkte eingegangen. Allerdings hätten die Jenaer ihnen eine eigene Stellungnahme mitgebracht, in der ihrem Herzog geraten wird, sich nicht auf die protestantische Union einzulassen, sondern sich der Position des Kurfürsten anzuschließen.56 Sie berichteten zusätzlich, dass die Wittenberger und die Jenaer Theologen bereits das ganze Jahr 1619 hindurch in Kontakt und Beratung gestanden hätten. Daraus sei eine Druckschrift erwachsen, die die Jenaer den Wittenbergern am 29. Dezember überreicht hätten und die nach Wunsch der Jenaer mit einem anderen Titel versehen in Wittenberg nachgedruckt werden und auf der Leipziger Messe verbreitet werden sollte. Diesem Plan jedoch 49 50 51 52 53 54 55 56

Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 10–12. Vgl. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 14–16. Consilium Der Churfürstlichen Wittembergischen Universitet, S. 16f. Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 529r–v. Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 530v. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 531r–v, 536v. Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 532r–536v. Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 532r.

Die politische Ethik Johann Gerhards

103

hätten sie – die Wittenberger – sich nicht anschließen können, weil die darin enthaltenen Luthertexte insofern nicht vollständig zitiert waren, als das Bedenken Luthers von 1539 im Jahre 1546 nochmals unverändert unter dem Namen der Wittenberger Fakultät Kurfürst Johann Friedrich überreicht worden sei.57 Außerdem bat die Fakultät den Geheimen Rat darum, sie derzeit mit dieser Frage zu verschonen. Ihr würden ständig brieflich, aber auch in Disputationen mündlich und sogar „durch Zettel, so auf die Cathedras instante hora lectionis gelegt werden“, neue Fragen gestellt. Über die Antwort auf solche Fragen müsse aber Einigkeit herrschen, um böse Nachrede zu vermeiden.58 „Weil denn nun ex illo ipso more Academico die Theologi Jenenses als Fratres mit großen Vnkosten vnd in sehr bösen wegen zu vns gelanget“ und auf schriftlicher Form der Übereinkunft bestanden haben, wollten das die Wittenberger ihnen nicht abschlagen. Jedoch müsse auch öffentliche Wahrnehmung des Konsensus gesichert werden. Dennoch – so betonten die Wittenberger – ist der Kurfürst letzte Entscheidungsinstanz.59 Dem jedoch diene allzu große Eile nicht. Seien doch die Jenaer, wie sie selbst festgestellt haben, erst am 24. Januar abends in Wittenberg eingetroffen, „Also das wir denselben tag vnter angezündeten licht aus aus vnsernn Colloquio gegangen, den 26 Januar wiederumb weggereiset, vnd am 28 Januar zu Weimar haben ein kommen sollen“. So sprechen die Wittenberger die Hoffnung aus, dass der Text der Übereinkunft vom Geheimen Rat gnädig aufgenommen werde. Sollte etwas missverstanden werden, soll das dem Kurfürsten mitgeteilt werden.60 Die Veröffentlichung des Wittenberger Gutachtens hatte noch weitere Hürden zu überwinden.61 Der zum Druck gebrachte Text fand in der Öffentlichkeit großes Interesse. Allerdings sahen sich seine Verfasser genötigt, zu einem anonymen, ohne Angabe des Druckorts verbreiteten Druck Stellung zu nehmen, den ein ordentlicher Bote am 25. März 1620 aus Leipzig nach Wittenberg mitgebracht hatte. Er gab sich als Text der Wittenberger Fakultät aus und trug den Titel: „Bedencken der Churfürstlichen Sächsischen Theologen zu Wittenberg vber die Frage/ ob ein Standt des Reichs dem Römischen Keyser in diesem Bömischen Krieg beystandt zuleisten nicht billig bedencken tragen soll“. Die Wittenberger teilten die Beobachtung mit, dass dieser Druck an 5 verschiedenen Orten aufgetaucht sei, „zweiffels aus der Calvinisten Druckereyen […] nicht ohne derselben sonderbare Mißdeutung vnd Frolocken“.62 Die Andeutung, dass sich unter den Ausgaben des Wittenberger Consiliums veränderte Drucke aus calvinistischer Feder befänden, lässt sich verifizieren. Zumindest eine der Ausgaben enthält auf dem Titelblatt Porträtstiche von Luther,

57 58 59 60 61 62

Vgl. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 532v. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 533r. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 534r. UAHW, Rep. 1, Nr. 4593, Bl. 534r. Vgl. Müller: Kursachsen, S. 125, Anm. 261. Erklärung Dessen am 25. Januarij 1620, Bl. B 2v.

104

Ernst Koch

Melanchthon und Jan Hus.63 Jan Hus diente um 1620 in der Publizistik der pfälzischen Union als historische Autorität für die Aktionen der Union.64 Ein Textvergleich der Ausgaben kann hier nicht vorgelegt werden und steht noch aus. Im Folgenden soll jedoch das Gutachten zu Wort kommen, das die Jenaer Theologen ihrem Landesherrn zustellten. 5. DAS ZWEITE JENAER GUTACHTEN VOM MÄRZ 1620 UND SEIN HINTERGRUND Die Theologische Fakultät Jena stellte ihr eigenes Bedenken unter dem Datum 27. März 1620 Herzog Johann Ernst d.J. zu.65 Das Datum war insofern bedeutsam, als es zu einem Zeitpunkt im Druck erschien, zu dem endgültig klar geworden war, dass sich der Weimarer Herzog den pfälzischen Aktivitäten angeschlossen hatte.66 Sie hätten sich gewünscht, betonten die Theologen, dass sie mit einer Antwort in „dieser hochwichtigen weitaußsehenden vnd gefehrlichen Frage“ in der gegenwärtigen Situation verschont worden wären. Weil sie jedoch „an jhr selbst generalis & hypothetica, in dem sie keines weges auff einer gewissen Obrigkeit Person in specie vnd insonderheit/ sondern ins gemein dahin auff jedwede Römische Keyser vnd alle Obrigkeit hohes oder niedriges Standes gerichtet“, wollen sie sich ihrer Beantwortung stellen. Mit anderen Worten: Die Jenaer Fakultät verstand den Text als Formulierung einer Grundsatzfrage der politischen Ethik. Damit stellten sie sich auf die Seite ihrer Wittenberger Kollegen und hielten sie „dem Göttlichen Wort vnd Schrifften deß Herrn Lutheri allerdings gemeß“. Sie betonten sogleich: „[…] wenn ein Römischer Keyser wider die auffgerichtete Passawische pacification, so er mit einem hohen thewrem Eyd bekräfftiget/ vnd dieselbe steiff/ fest vnd vnverbrüchlich zu halten sich verpflichtet“, die Anhänger der Augsburgischen Konfession „verfolgen/ ohne rechtmessige Politische Vrsachen Feindlicher weise bekriegen/ vnd der gestalt die gäntzliche außrottung der waren Evangelischen Lutherischen Christen zu werck richten wollte“, einem solchen Kaiser keine Assistenz zu leisten, die gegen die Liebe zu Gott und dem Nächsten verstoßen würde. Ein solcher Beistand stünde gegen Mt 22,21, Röm 13,1 und weitere biblische Texte. Wollte eine Obrigkeit „die Gewissen zur falschen Religion […] zwingen/ in solchem fall soll vn(d) kann man dem Keyser/ das ist/ der Weltlichen Obrigkeit/ den gehorsam billich verweigern“. Die Fakultät stützte diese Argumentation zusätzlich durch Berufung auf die Autorität altkirchlicher 63 Es handelt sich um den Titel: Wittenbergischer Teologen [sic!]/ in Gottes Wort/ vnd deß Herren D. Lutheri Schrifften/ gegründte Informatio, Ob ein Lutherscher Fürst der Kay. May. wider die Böheimben/ als Evangelischer/ Assistentz zu leisten schuldig? [s.l.] 1620. 64 Vgl. Axel Gotthard: Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit. Köln 2014, S. 335f. und S. 343f. 65 Consilium oder Bedencken Der Theologischen Facultet zu Jehna […] Wegen jetziger Böhemischer Vnruhe auff I.G.Gn. gnädigst begehren gestellet vnd vbergeben. [s.l.] 1620. 66 Zum Mühlhäuser Konvent vom 16.–23. März 1620 vgl. Müller: Kursachsen, S. 333–349, bes. 339–349.

Die politische Ethik Johann Gerhards

105

Theologen und zitierte Tertullian, Chrysostomus und Augustinus. In Bezugnahme auf eine breite biblische Überlieferung stellten sie fest, dass Gott solchen Gehorsamen gegen sein Wort lobe und zur Nachfolge empfehle und gegenteiliges Verhalten bestrafe.67 Das Gewissen verletzend sei es jedoch auch, wenn man sich Zwangsmaßnahmen gegenüber Glaubens- und Bundesgenossen beteilige, die „der wahren Religion halben feindlich vberfallen vnd bekrieget“ werden. Denn eine Obrigkeit, die so handelte, verlöre die ihr von Gott verliehene Autorität, was auch für den Hausstand gelte.68 Insoweit sei man mit den Wittenberger Theologen einig. Was die konkrete Frage nach der gegenwärtigen politisch-militärischen Situation betreffe – ob sie nämlich auch für den Krieg gegen die Böhmen zutreffe, der ausschließlich der „außrottung der Evangelischen Religion“ gelte und damit dem kaiserlichen Majestätsbrief widerspreche –, „da wir die Frage gantz in eine(n) andern statum transferirt, vnd kann vnd sol auf dieselbe kein Theologus aus principiis theologicis antworten“.69 Denn sie betrifft dann das Urteil, ob der Kaiser seine politischherrschaftlichen Kompetenzen überschreite, indem es ihm vor allem um eine religiöse Frage gehe, und ob die Böhmen „gnugsame vnd erheblich Vrsachen“ gehabt haben, einen anderen König zu wählen. Diese Frage gehört „keines weges vor die Theologen/ sondern vor die curiae & Proceres Imperij vnd jhre Politische Räthe/ welche hievon in facto gnugsam informiret, daran es aber einem Theologo mangelt“. Man muss in einer politischen Frage beide Parteien hören. Ein Theologe kann nicht wirklich wissen, „Ob nemlich die Böhmen/ wie jnen von vielen zugemessen wird/ ohne gnugsame erheblich Vrsachen diesen auffstand angefangen/ ob sie/ wie jnen gleichsfals schuld gegeben wird/ alle gütliche vnd friedliche Mittel außgeschlagen/ vnd was demselben mehr anhengig“.70 Auch der historischen Erfahrung entspricht es, wie zwiespältig politische Vorgänge und ihre Beurteilung sein können. „Wie kann nun ein Theologus hiervon eigentlich judiciren/ wann er nit die Sache mit allen vmbständen gar genaw innen hat/ vnd der allerheimlichsten consiliorum vnd actorum kündig ist/ daran es aber vns/ so wol als den Herrn Witebergensibus in diesem Punct ermangelt“.71 Hinzu komme, dass ihnen, den Jenaern „dieser Tagen“ ein Schreiben bekannt geworden sei, „welches von der höchsten May(estät) auff Erden herrüret“, nämlich dem Kaiser, und in dem behauptet wird, dass die Böhmen alle friedlichen Mittel ausgeschlagen, sondern einen König gewählt hätten. Die Jenaer sind nicht bereit, das Schreiben für „bloße narrata vnd nichtige fürwenden“ zu halten, solange sie nicht eines anderen berichtet werden. Verspricht doch das Schreiben, dass der Kaiser gesonnen ist, sich an den Passauer Vertrag zu halten. Noch nie hat man vom Kaiser nach seiner Wahl etwas anderes gehört oder erfahren. Auch haben die Jenaer vertraulich von einem Schreiben erfahren, „in einem weit andern Schemate verfasset“, „auff welche gleichfals gereralem vnnd hypotheticam quaestionem die 67 68 69 70 71

Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. A3v–A4v. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. A4v–B1v. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B1v. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B1v–2r. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B2r.

106

Ernst Koch

Leipzischen vnd Tübingischen Theologen respondirt haben sollen“.72 So bleibt es dabei, dass man sich auf den generellen Zugang zu einer Antwort beschränken möchte. Und sollte die Antwort der Wittenberger den hypothetischen Zugang wählen wollen, dass man dem Kaiser in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Böhmen nicht beistehen solle, so bedeutete das ja nicht, dass man den Böhmen Hilfe leisten wolle. Außerdem könnte ja aus der Annullierung der böhmischen Wahl die Achterklärung gegen den neuen König erfolgen, dass die Assistenten des Kaisers im Reich sich als Exekutoren betätigten „vnd also Land vnd Leut in eusserstes verderben gesetzet werden“.73 Im Falle einer Unterstützung des Kaisers gegen die Böhmen könnte „ja so grosse wo nicht grössere Gefahr“ damit erwachsen, dass man „den Türcken das Reich zum Raub vnd zur Beute darstelle“ und sich die Böhmen in eine Koalition mit Bethlen Gabor begäben. Das Bedenken der Jenaer gibt ferner zu erwägen, „daß die Calvinisten in diesem angespunnen Kriege wider Key(serliche) May(estät) wo nit einig vnd allein/ doch gröstes theils die fortpflantzung vnnd außbreitung jhrer Religion suchen/ vnd do sie die Oberhand behalten solten/ vnserer Kirchen ja so auffsetzig sein würden/ als die Päbstischen gewesen/ inmassen denn die Bestallung der vornembsten Ampter im Königreich Böhmen vn(d) der incorporirten Provincien hievon ziemliche nachrichtung gibt“.74 Schließlich sind ja alle Stände des Reiches an die Beschlüsse des Passauer Vertrags gebunden. Es hat selten zu einem erfreulichen Ausgang geführt, wenn die Stände sich gegen das Haupt des Reichs erhoben haben. So lassen es die Jenaer Theologen „(i)n betrachtung dieser vnd anderer Vrsachen“ bei dem Inhalt des Bedenkens bleiben, das sie dem Landesherrn zwei Monate zuvor überreicht haben, „daß es am allersichersten vnd rathsambsten/ daß E.F.G. bey der neutralitet verbleibe/ vnd sonderlich wider die Key(serliche) Mey(estät) offensive nichts tentiren“.75 Inzwischen kommt hinzu, dass sich auch der ganze Obersächsische Kreis in Leipzig auf Neutralität verständigt hat. Wollte der Herzog einen Sonderweg wählen, so käme er mit dem sächsischen Kurfürsten als Kreisobersten und Direktor und mit andern Kreisständen in Konflikt. Ebenso erinnern die Jenaer Theologen an die wettinische Erbverbrüderung, an die Funktion des Herzogs Johann Casimir von Sachsen als Senior domus des Hauses und die von ihm vertretene Neutralität sowie an die Haltung der Landstände, die daran interessiert sind, „daß E.F.Gn. in Ruhe sitzen“, „da denn abermahl E.F.Gn. künfftig im Gewissen einen Krupel machen könnte, wan sie der getrewen Landschafft wolmeinenden Rath gentzlich hindansetzet“.76 Zu den zuletzt genannten Erinnerungen der Theologen gehört der Hinweis: „Vnser Glaubens Bekäntnis sondert vns nicht allein von den Bäpstischen/ sondern auch von Calvinischen Hauffen abe/ derwegen do man bedencken tregt zur Bäpstische(n) Liga sich zubegeben/ sol man gleichsfals bedencken tragen/ neben den Calvinischen wider Key(serliche) May(estät) vmbzutreten […]. Denn da man sich 72 73 74 75 76

Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B2r–v. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B3r. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B3r. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B3v. Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B3v–4r.

Die politische Ethik Johann Gerhards

107

zu einem theil begibt/ hat man vom andern theil anders nicht als feindseligen vberfall zubefahren“. Insofern ist man nach der Lage der Dinge bei dem sächsischen Kurfürsten auf der sicheren Seite. „Wenn man sich auß der neutralitet gesetzet/ so sind ferner keine mittel zur Composition vnd Interposition vorhanden/ sondern muß ein theil das ander mit gäntzlichem Vntergang deß H. Römischen Reiches aufffressen“.77 Als Fazit ergibt sich: Die Jenaer Theologische Fakultät möchte „noch zur zeit“ bei ihrer vorigen Antwort verbleiben. Und da sie zu konkret-praktischen Schritten nicht raten kann, möchte sie „das jenige/ was vns als Theologen eigentlich gebüret vnd oblieget/ vornemen“: Gott um seine Hilfe und um seinen Geist auch für den Landesherrn anrufen. Aus einem Brief Johann Gerhards vom 17. Februar 1620 an Matthias Hoë von Hoënegg78 ist etwas über die Hintergründe der Entstehung des Jenaer Gutachtens vom Januar 1620 zu erfahren. Zu dieser Zeit scheint der Verdacht in Umlauf gewesen zu sein, die Theologische Fakultät habe den Ende 1619 geplanten Anschluss des Herzogs Johann Ernst d.J. an die von calvinistischer Seite betriebene Union wenn nicht mitgeplant, so doch unterstützt. Gerhard teilte dem Oberhofprediger mit, er könne unter Eid bezeugen, dass die Jenaer nichts mit diesen Planungen zu tun gehabt hätten. Allerdings seien die beiden Jenaer Juristen Fomann und Arumäus zu den Beratungen hinzugezogen worden. Auch sie, die Juristen, hätten aber von diese Plänen abgeraten, nur hätten sie den Theologen wiederum nichts von ihrer Position mitgeteilt. Die Jenaer Theologen seien seit drei Jahren, also seit dem Regierungsantritt von Johann Ernst, aus welchem Grund auch immer, aus der Gunst des Landesherrn und dem Gespräch mit ihm ausgeschlossen worden. Johann Gerhard vermutete als Grund für diese Entwicklung seine kritische Stellungnahme zum Ratichianismus, die auch von seinen Kollegen geteilt werde. Vor einem Monat aber, als Herzog Johann Casimir auf der Durchreise nach Dresden am 19. Januar in Begleitung durch Herzog Johann Ernst durch Jena kam, legte er den Theologen die Frage vor, ob angesichts der Gesamtlage dem Kaiser oder den Böhmen und der Union Hilfe zu leisten sei, denn diese Frage sei bei der Zusammenkunft des Obersächsischen Reichskreises sehr umstritten gewesen. Daraufhin habe die Theologische Fakultät gründlich beraten und zugesagt, ihre Antwort, vom Landesherrn dringend verlangt, innerhalb einer Woche vorzulegen. In dieser Antwort, die Hoë in wenigen Tagen zugeleitet werde, haben sie im Anschluss an grundsätzliche Erwägungen im Einzelnen niedergelegt. Die Gründe, die von den Böhmen und der Union für ihre Aktivitäten angeführt würden, hätten die Theologen in ihrer Antwort scharf zurückgewiesen. Schließlich hätten sie den Landesherrn auf die drohenden Gefahren hingewiesen, die mit den Plänen der Union verbunden seien und strikte Neutralität angeraten. In ihren an Herzog Johann Ernst adressierten Ausführungen hätten sie betont, dass sie den Kurfürsten

77 Consilium der Theologischen Facultet zu Jehna, Bl. B4r. 78 Vgl. Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 115, Bl. 410r–411v.

108

Ernst Koch

als Senior der wettinischen Familie und als Direktor des Obersächsischen Kreises verehrten und ohne dessen Rat sich keiner der beiden Seiten anschließen wollten. Diese Antwort scheine jedoch Herzog Johann Ernst d.J. nicht willkommen gewesen zu sein, was den Theologen beiläufig mitgeteilt worden sei. So sähen sie das Problem von anderen der Augsburgischen Konfession verbundenen Theologen in Gesprächen gerne erörtert. Diesem ihrem Wunsch habe sich der Landesherr angeschlossen und sie nach Wittenberg delegiert, wo sie die schriftlich formulierten Fragen des Landesherrn den Wittenberger Theologen vorlegen sollten. Nach langem Zögern seien sie dem Auftrag des Landesherrn gefolgt, und da Johann Himmel angesichts seines Rektorats Jena nicht verlassen konnte, sei die Aufgabe ihm – Johann Gerhard – und Johann Major übertragen worden. Gerhard vermutete, dass Hoë bekannt geworden sei, welche Antwort die kursächsisch-wittenbergischen Theologen ihrerseits Johann Ernst d.J. erteilt hätten, wollten sie diese doch dem Geheimen Rat vorlegen. Nach Jena zurückgekehrt, habe sie – die Jenaer Theologen – der Befehl erreicht, ihre Antwort dem Herzog zu überbringen. An ihr hätten die Mitglieder der Fakultät auf der Grundlage eines Textes gearbeitet, der von Gerhard stammte. Sie stellten fest: Den 10 von den Wittenbergern erarbeiteten Punkten sei mit eigener Argumentation zuzustimmen. So sei die Grundlage der Position der Wittenberger Theologischen Fakultät hinsichtlich der Beantwortung der Frage, ob der Kaiser Krieg gegen die Böhmen führen solle, aus vier Gründen mitzutragen: 1. Das Urteil darüber betreffe nicht die Theologen, sondern das Reichsregiment. 2. Die Grundlagen beider Seiten für die Entscheidung der Frage seien ihnen als Theologen nicht hinreichend bekannt. 3. Eine alternative Antwort auf die gestellte Frage betreffe eine Veränderung des gesamten Rechtsgefüges (variare totum ius).79 4. Nach Polybios sei bei einem Krieg immer Ursache und Vorwand zu unterscheiden, und oft verhülle der Vorhang der Religion die Rebellion, wie auch umgekehrt ein Verbrechen gegen die Religion denen zugeschoben wird, die aus Gründen der Religion verfolgt werden. Johann Gerhard fügte in seinem Brief an den Dresdner Oberhofprediger für sich selbst im vorliegden Falle mit fünffacher Begründung die Antithese hinzu: Es drohe nicht geringere Gefahr, wenn der Landesherr sich mit den Böhmen und der Union verbündet: 1. werde damit der Calvinismus gefördert; 2. sei zu befürchten, dass in diesem Falle der Kaiser den die Böhmen Unterstützenden den Bann androhen werde; 3. existiere im Obersächsischen Kreis der Beschluss, dass keine der beiden Parteien sich mit dem eigenen Bundesgenossen verbünden dürfe; 4. trenne das Bekenntnis der Kirche (ipsa Confessio nostra) seine Bekenner von beiden Parteien; 5. pflege das Haupt und der Senior des wettinischen Hauses bisher die Neutralität. Aus allen diesen Gründen zog Gerhard den Schluss, die Fakultät möge in jeder Hinsicht fest bei ihrer ersten Antwort bleiben und sie ebenso in all ihren Teilen wiederholen und händigte sein Votum der Fakultät schriftlich aus.

79 Vgl. Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 115, Bl. 410v.

Die politische Ethik Johann Gerhards

109

6. FAZIT Aus den dargelegten Beobachtungen ergibt sich eine Reihe von Ergebnissen und Fragen. Zunächst ist festzuhalten, dass im Blick auf die im Jahre 1621 in Gang kommende Zusammenarbeit von Theologen aus dem albertinischen und ernestinischen Herrschaftsbereich in Gestalt von geplanten Konferenzen die bereits 1619 anlaufenden Kontakte zwischen den theologischen Fakultäten von Jena und der Wittenberg als eine wichtige Vorstufe erscheinen. Der Grund der Einschaltung der Theologischen Fakultät Jena in die Beratungen über die ernestinische Politik am Beginn der Dreißigjährigen Krieges ist die stark umstrittene Entscheidung des Weimarer Herzogs Johann Ernst d.J., sich der reformiert dominierten pfälzischen Union als politischem Gegenbündnis zur römisch-katholisch orientierten Liga anzuschließen. Die Fakultät erklärte nach einem durch den Landesherrn ergangenen Auftrag, ein Gutachten zu einer Reihe von aktuellen politischen Fragen zu erstellen, ihre Position bereits vor der offiziellen Kontaktaufnahme mit der Theologischen Fakultät Wittenberg. Die Kontaktaufnahme selbst beruhte auf der Anregung der Jenaer Theologen, in Beratung mit Theologen außerhalb des ernestinischen Herzogtums einzutreten. Die Jenaer Gutachten lassen ein Geflecht von theologischen Überzeugungen, realpolitischen Erwägungen und seelsorgerlich-fürsorgendem Ethos erkennen, die teilweise einander bedingen. Grundlegende Bedeutung hat die Drei-Stände-Lehre, verschränkt mit der Zwei-Regimentenlehre, die zwar nicht als Begriff auftaucht, aber beispielsweise der strikten Unterscheidung zwischen dem Reich Christi und dem Reich der Welt zu Grunde liegt. Diese Unterscheidung bedingt ihrerseits die Unterscheidung zwischen theologischer und realpolitischer Argumentation in der Stellungnahme zum aktuellen Konflikt. Die theologische Argumentation ist einerseits bestimmt durch den geforderten Gehorsam gegenüber der von Gott geordneten Obrigkeit, der andererseits seine Grenze bei Übergriffen obrigkeitlicher Gewalt auf Belange theologischer Wahrheit findet.80 Andererseits spielt in der theologischen Argumentation der Jenaer die Deutung des Reichs, das in der Person des Kaisers verkörpert ist, eine wichtige Rolle: Nach dem Geschichtsbild des biblischen Danielbuchs (Kapitel 2 und 7) stellt das vierte Weltreich das letzte der Weltreiche vor dem Weltende und dem Kommen des auferstandenen Christus zum Gericht dar. Die Jenaer Theologen stimmen der überlieferten Überzeugung zu, dass das vierte Reich Daniels mit dem auf Karl den Großen übertragenen römischen Reich identisch ist. Der gewaltsame Zugriff auf das Reich bzw. den Kaiser würde nach dem Urteil des Paulus in 2. Thess 2,3–8 den Anbruch des endzeitlichen Chaos heraufbeschwören, eine Möglichkeit, vor der die Jenaer Theologen nur warnen können. Diese Gefahr ist für sie in den antikaiserlichen Aktionen und Plänen der pfälzischen Union zum Greifen nahe gekommen. Diese Deutung war keineswegs nur eine Spezialität der Jenaer Theologen. Es verdient beachtet zu werden, dass auch die in die gutachterliche Tätigkeit 80 Gotthard: Der liebe vnd werthe Fried, S. 316 mit Anm. 95, verkürzt die Interpretation der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers.

110

Ernst Koch

einbezogenen Jenaer Juristen dieses Verständnis der kaiserlichen Gewalt vertraten, und sie gaben dieses Verständnis auch den ernestinischen Prinzen in deren Unterweisung weiter.81 Was Johann Gerhard und seine Kollegen betrifft, ist das tiefe Misstrauen gegenüber dem Calvinismus auf diesem Hintergrund zu verstehen. Aber auch das Papsttum und die römisch-katholische Kirche erscheinen in diesem Licht. Dass man im Papst den Antichrist zu identifizieren hat, ist und bleibt die Überzeugung Johann Gerhards und der Jenaer Fakultät.82 Im Gutachten vom 18. Januar 1620 wird sogar erwogen, ob nicht auch die Verfolgung der Lutheraner dazu beitrüge, das Ende des Hauses Österreich zu beschleunigen (was freilich wohl nicht mit Ende des letzten Weltreiches identisch sein müsste). Dieser Aspekt der Jenaer Position verschränkt sich mit dem der Seelsorge und der Fürsorge für die unter Furcht vor Gewalt lebende Bevölkerung. Es ist selbstverständlich, dass die Theologen selbst ihre Gutachten prinzipiell der Bindung an ihr eigenes Gewissen unterstellen. Sie mahnen jedoch bei allen Erwägungen die ekklesiale Dimensionen der anstehenden Entscheidungen ein, indem sie an die lutherischen Glaubensgenossen erinnern, die beispielsweise in Ungarn und Böhmen unter einer anderskonfessionellen Obrigkeit und anderskonfessionellen Mitbürgern leben und mit ihrer Haltung zwischen Skylla und Charybdis geraten sind. Im Blick darauf, dass sie in dieser Bedrängnis nicht zerrieben werden, dürfe man ihre Lage durch eventuellen militärischen Druck auf die Anhänger der pfälzischen Union nicht verschärfen.83 Die Jenaer Theologen weisen auch auf die drohende Verschiebung des konfessionellen Gefüges im Reich im Falle politisch-militärischer Aktionen hin. Zu den dargelegten theologischen und seelsorgerlichen Argumenten gesellen sich in den Erwägungen der Jenaer auch realpolitische Beobachtungen. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Einführung europapolitischer Aspekte in die Argumentation, die sich in der Berücksichtigung des Türkenproblems äußert. Ferner darf gerade im Hinblick auf den zunächst einschränkungslos erscheinenden Appell an die Treue zur Obrigkeit des Reiches nicht übersehen werden, dass die Vertreter der Theologischen Fakultät Jena den Landesherrn darauf hinweisen, dass Kaiser Ferdinand II. eine streng papistische Erziehung genossen und aus dieser Haltung auch als Erzherzog von Österreich keinen Hehl gemacht habe – ein Hinweis, den Herzog Johann Ernst d. J. gern gehört haben mag. Allerdings zeigen 81 Vgl. Dominicus Arumäus: De Jure Publico, in quibus de re monetali, conciliis, arcanis politicis, statuum omnium juribus et privilegiis, aliisque materiis tractatur. Volumen quintum. Jena 1623, hier: discursus secundus, c. I, S. 48r–50r. 82 Vgl. z.B. die 13. Disputation der Disputationsreihe Johann Gerhards Consideratio Phosphori Pontificii (Jena 1629, hier: S. 412–454), und die Disputationsreihe De Papa Romano, in der sich Johann Gerhard zwischen dem 18. Juli 1629 und dem 23. Januar 1631 mit Robert Bellarmin auseinandersetzte, hier die 4. Disputation vom 15. August 1629 (Jena 1629, hier: Bl. A4r–v) und die 5. Disputation vom 22. August 1629 (Jena 1629, Bl. A3v–4v). 83 Von diesen Ausführungen zu meinen, sie erschöpften sich „in ethischen Allgemeinplätzen“ und der Hinweis auf nötigen Beistand für die Glaubensgenossen sei eine „blasse Empfehlung“ (so Gotthard: Der liebe vnd werthe Fried, S. 315), verkennt die theologischen Zusammenhänge der Gutachten.

Die politische Ethik Johann Gerhards

111

sich die Theologen auch hoffnungsvoll, indem sie ihr Zutrauen zum Rechtsbewusstsein des neuen Reichsoberhaupts als Kaiser bekunden, ja sogar einen Wiederanschluss von Ungarn und Böhmen an das Reich für möglich halten. Eine beachtenswertes Argument der Jenaer äußert sich in der Beobachtung, die auch in das mit den Wittenbergern gemeinsam erstellte Gutachten eingegangen ist, das bedeutet: schließlich auch dem kurfürstlich-sächsischen Geheimen Rat und damit auch dem Hof vorgetragen worden ist. Es enthält die Erinnerung daran, dass die Undurchsichtigkeit der Diplomatie zwischen den im Konflikt befindlichen Mächten vor unüberlegten Aktionen warnen lässt – vieles, was auf diesem Feld gelaufen ist und noch läuft, ist nicht bekannt geworden.84 Diese Erinnerung war auch für kursächsische Ohren bestimmt und geriet in Spannung zu der wiederholten Empfehlung an den ernestinischen Landesherrn, sich an den Kurfürsten von Sachsen als Senior des Hauses Sachsen anzulehnen. Dass sich die Gutachter mit ihren realpolitischen Aspekten auch auf fragwürdiges Gelände begeben, verwundert nicht. Der Versuch, den Kaiser gegen Papst und Jesuiten auszuspielen und diesen alle Schuld am gegenwärtigen Elend zuzuschieben, war zum Scheitern verurteilt. Axel Gotthardt hat von einer „Sündenbocktheorie“ gesprochen, „die die kurfürstliche Fiktion vom unparteiischen Kaiser wohl erst ermöglicht hat“.85 So läuft die Gesamttendenz der Stellungnahme der Jenaer auf die dringende Empfehlung strikter Neutralität,86 Achtung des geltenden Reichsrechts und Abstinenz von der Beteiligung an Aktionen der pfälzischen Union hinaus. Dies bedeutet nicht pure Passivität, sondern dient der Vermeidung von Blutvergießen als einem hohen ethischen Wert. Im Kontext der Ereignisse im Umfeld des Jahres 1620 und den bereits realisierten politischen Optionen des Weimarer Hofes zeigt sich die Theologische Fakultät deutlich obrigkeitskritisch. Was dies am Hof bewirkt hat, ist bisher nicht auszumachen, zumal die Entscheidungen des Landesherrn ja bereits gefallen waren. Das Verhältnis Johann Gerhards zum Landesherrn ist immer gespannt geblieben, wie seinem Briefwechsel zu entnehmen ist. Es fällt auf, dass in dem gemeinsamen Gutachten der beiden Fakultäten von Jena und Wittenberg die ekklesiale Dimension der Argumentation deutlich betont ist, auf eine Warnung vor der pfälzischen Union jedoch verzichtet wird. Sicherlich würde eine Untersuchung des zeitgenössischen Kommunikationsnetzes noch weitere Spezifikationen erbringen, was jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht geleistet werden kann. Fest steht jedoch der große Anteil Johann Gerhards selbst an den Verhandlungen, von denen zu berichten war. Ihm sind beispielsweise die Textentwürfe zu den Gutachten zu verdanken. Auch in diesem Falle gilt, was Jo84 Auf das aktuelle diplomatische Spiel zwischen den Konfliktparteien weist Hans Knapp: Hoe von Hoenegg und sein Eingreifen in die Politik und Publizistik des Dreißigjährigen Krieges, Halle 1902, S. 18–21, hin. 85 Axel Gotthard: Konfession und Staatsraison. Die Außenpolitik Württembergs unter Herzog Johann Friedrich (1608–1628). Stuttgart 1992, S. 450. 86 Zum Begriff und seiner Kritik in der Publizistik um 1620 vgl. Gotthard: Der liebe vnd werthe Fried, S. 409–413 und 437–457.

112

Ernst Koch

hann Major später in der Leichenpredigt für seinen jüngeren Kollegen berichtete: „Wenn unsere Uniuersitet bey Fürsten und Herrn, oder sonsten bey vornehmen Leuten was zu suchen und auszurichten hatte/ so muste der fromme, dienstwillige D. Gerhard fort/ und das beste thun.“87

87 Johann Major: Christliche/ Wehemütige Trawer- und Leichpredigt aus der 2. Corinth. 12. v. 9. Laß dir an meiner Gnade genügen/ den(n) meine Krafft ist in den Schwachen mächtig. Bey der Volckreichen/ Trawrigen Leichbestattung des thewren werthen Manns Herrn Johannis Gerhardi […]. Jena 1637, Bl. G4r.

GERHARD (UN)SEEN FROM COPENHAGEN? Danish absolutism and the relation between State and Church Joar Haga 1. INTRODUCTION This study offers some comparative notions to how central theologians in Denmark-Norway and Germany interpreted church-state relations in the 17th Century. It arises from the strange fact that leading theologians and churchmen helped the king of Denmark-Norway to absolute power on the one hand, whereas German colleagues such as Abraham Calov fought against the same development.1 A central element in the development seems to depend on how the office of the church, the ministerium ecclesiasticum, was understood in relation to the magistrate. 2. JOHANN GERHARD’S THEORY OF THE ESTATES Johann Gerhard sought to preserve some sort of ecclesiastical freedom from the power of the prince and developed within the episcopal system in Germany through the idea of the three estates. Gerhard was the first major Lutheran theologian to utilise the concept of the three estates as a constitutional principle for a church jurisdiction. There is no trace of the use of this theory in his immediate predecessors’ widely used compendiums, such as Heerbrand and Hutter.2 Luther’s use of the three estates did not have any direct effect on church order. If it had an effect, it was rather as a call out from the “dualism of a militia Christi, a sacred order opposite the world”.3 1 2 3

Johannes Wallmann: “Abraham Calov – theologischer Widerpart der Religionspolitik des Großen Kurfürsten”, in: Stefan Oehmig (ed.): 700 Jahre Wittenberg: Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, p. 303–11. Martin Honecker: Cura religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968, p. 73. Andreas Stegmann: Luthers Auffassung vom christlichen Leben. Tübingen 2014, p. 380. Stegmann summarises the application of Luther’s idea of the estates to be “die drei Lebenskreise, in die jeder Mensch von Gott gestellt ist” (p. 381). The point is that every person shares in all these Lebenskreise, and serves God through them. Interestingly, however, Stegmann claims that this “egalitarian” view of Christian life did not prevent Luther from considering the estate “which brings about eternal justification”, namely the church, as the most important among them.

114

Joar Haga

Although he did not challenge the prince’s responsibility as the guardian of both tablets of the law, Gerhard secured the ministry of the church as an estate within its own right. In his chapter on ministerium ecclesiasticum, book 6 of his Loci theologici, Gerhard states that God has ordained three orders (status, ordines, hierarchias) with different areas of responsibility. The political order is here reduced to its protective function for the family-order, which has its main raison d’être in producing offspring. The ministry of the church should promote eternal salvation. Gerhard summarises the tasks of the estates in the German words: “Lehr-, Nähr- und Wehrstand.”4 The church has a lofty materiae in qua, namely the divine mystery, which has a finis, namely the salvation of the souls.5 The political order is the fence, wall and defence of the church. Whereas oeconomicus is the seminar of the church, politicus serves the external discipline, administrating justice and assures tranquillity so that God can make a church out of the human beings by the ministry of the Word.6 It is clear from the outset and the subject matter that Gerhard discusses the estates and their mutual relations as a part of the ecclesia particularis. If it had been the ecclesia universalis, it would have elevated the status of the concrete, visible church to an eschatological community.7 For Gerhard, the Greek term diakonia entails on the one hand the fullness of the biblical examples, exposed in detail by numerous examples. On the other hand, however, Gerhard claims that there is a need for a restriction: It is ministerium evangelii, due to the subject matter, and a ministerium ecclesiasticum, due to its “situated nature” in time and space: It is a particular office [munus] in a part of the church, leading a congregation of believers. This concrete office is possible to discern for politicus.8 The ministers should be aware of the difference between regimen politicum, based on the origins of power, and ministerium ecclesiasticum, which is based on care and service.9 The lack of an understanding for this distinction forms the basis 4 5

6 7 8

9

Johann Gerhard: Loci Theologici (ed. Preuss). Tomus sextus. Berlin 1868, lc. XXIII, p. I, nr. 2, p. 1. Although this clear-cut goal finis is a well-known feature of the analytical method, Wallmann argues convincingly for Gerhard as a proponent of a more traditional, synthetic approach. The practical character is not yet dominating, and has not lead to a subjection of the doctrine of God under the doctrine of salvation. Johannes Wallmann: Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt. Tübingen 1961, p. 56–61. Gerhard: Loci theologici VI, nr. 2, p. 2. Jørgen Stenbæk: “Ecclesia particularis – respublica christiana. Dansk kirkeretstænkning i 1600 – tallet og dens europæiske forudsætninger”, in: Kirkehistoriske samlinger 1975, p. 34–60, here: 48–50. Gerhard: Loci theologici VI, c. I, nr. 6, p. 5: “In scriptoribus ecclesiasticis vocabulo διακονίας quaedam addi solent, quibus ad praesentem, de qua agimus, significationem restringitur. Vocatur enim ministerium evangelii, ratione materiae sive obiecti quod tractat; ministerium ecclesiasticum, quia praecipuae muneris hujus partes in ecclesia, id est in congregatione fidelium, peraguntur, atque ut a politico ordine hac denominatione discernatur.” Gerhard: Loci theologici VI, c. I, nr. 7, p. 5: “Ministros quidem 1. ut agnoscant, officium suum non esse regimen politicum ἀρχὴν δεσποτικήν, sed ministerium ecclesiasticum, ἐπιμέλειαν καὶ διακονίαν.”

Gerhard (un)seen from Copenhagen

115

for Gerhard’s critique of the Roman Pontiff and the catholic bishops, namely the privilege to interrogate clergy, to bind consciences with laws and to settle doctrinal questions.10 This did not mean that the church was remote from political power, however. With a reference to Ezechiel 20:8, Gerhard made an interesting sweeping comment about Moses and the temple cult. It was as political leader he was leading the people out from the tyrannical king and its implied idolatry, establishing the Levitic cult in the desert.11 Surely, the Lord had to send prophets to preserve the pure heavenly doctrine.12 Concerning the vocation of the minister, the theory of the estates played an important role.13 Gerhard referred to the pseudopolitici, where the magistrate alone could claim the vocational rights due to the Regalia Magistratus.14 His argument is that the ius summum to call ministers are given to all three estates are parts of the church, and it is therefore impossible to exclude any of them from the act of calling a minister.15 The bishops or presbyters are supposed to be consulted, in accordance with the apostolic mandate and with the examples from Holy Writ, when someone is to be appointed to a ministry. For Gerhard, the bishop’s or elder’s judgement applied both to the candidate’s practical abilities to conduct an office and whether he had a sane doctrine. Gerhard gave a more detailed description of their tasks in the vocatio, however. The bishops/elders should also check whether 10 It was the liturgical sacrifice by the priest, as Bellarmine defended it in his de Controversiis, however, which presented the most substantial challenge to Gerhard’s interpretation of ministerium ecclesiasticum. 11 Gerhard: Loci theologici VI, c. II, nr. 40, p. 26: “Cum vero posteri Jacobi patriarchae in Aegypto multiplicarentur et a rege tyrannice opprimerentur, cumque puritas doctrinae coelestis in populo Dei per idololatriam Aegyptiacam corrupta Ezech. 20. v. 8. ac verbi ministerium fere collapsum esset, excitavit Deus Moysen servum suum, per quem non solum ex Aegyptiaca servitute populum Israëliticum eduxit, sed etiam cultum Leviticum instituit honore summi sacerdotii ad Aaronem delato ac Levitis ad sacra ministeria in tabernaculo obeunda separatis.” 12 Gerhard: Loci theologici VI, c. II, nr. 40, p. 26: “[…] in conservanda doctrinae coelestis puritate […].” 13 Honecker: Cura religionis, p. 75. 14 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54: “Quidam Pseudopolitici vocationem referunt ad regalia magistratus, cuius politicae potestati in solidum eam vendicant […].” 15 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54: “Ad ecclesiam igitur pertinet jus delegatum (ut vocant) idoneos verbi ministros constituendi et ecclesiae opera Deus uti vult in mediata piorum doctorum vocatione.” Gerhard used the distinction between immediata and mediata to highlight the difference between the direct vocation of the apostles and the vocation of ministers through others. In the first church, in the missionary situation, there is an immediate calling. This situation is characterised by the birth of an institution; the church is an ecclesia constituenda. Just as the empire in its birth was labeled imperium constituendum, which chose its leaders from the people, due to its ius naturale. Now, however, there is no immediate calling, it is all given in the hands of human beings. The minister cannot claim a special divine calling for himself, it is vocatio ordinaria. Nevertheless, it is important for Gerhard to underline that the office itself is part of God’s calling. The church has received the keys of heaven.

116

Joar Haga everything is perfectly in order [rectissime] with the future candidates of receiving a vocation, whether they are able to make judgements, whether nobody can say something which may exclude them from being exposed to the vocatio mediata.16

Gerhard’s expressed reverence for the “external” aspect of the ecclesiastical office underlines the attempt to lay down rules for its specific character, and in this way protecting it from being subsumed under the (growing) bureaucracy of the magistrate. The elders are not the whole church, however. Gerhard claimed that they are just a part of it. Therefore, this estate should not seize vocation and exclude the other estates. With a reference to the collective choosing of workers in the Acts of the Apostles, Gerhard set forth a collective ideal where the bishops/elders are servants and inspectors, not lords (domini) of the church.17 Gerhard’s organic vision of a healthy coexistence between different parts might sound constructive, but an important question is how the relation between the estates should be regulated. He sought to define the competence each of the estates represented, by describing the characteristics (propria) in order to prevent a transference. In general, ius vocandi extends to the whole church. At a more specific level, “God is not a God of confusion, but of order”, as it were. Therefore, it is necessary to reach a consensus about how the affair of election and calling of minister is conducted. When Gerhard moved to the casus singulares, he stated that it is hardly possible to prescribe rules, as the iura patronatus vary. Still, he offered a typical model where the presbyters examined, ordained and inaugurated, magistratui christiano nominated, presented and confirmed, populo consented, voted and approved the candidates.18 The theory of the estates was an attempt to provide the institution of the Church some freedom from the prince. When the church was constituted through the concept of the three estates, she mirrored the hierarchy of the angels in heaven.19 In his seminal study Cura Magistratus, Martin Honecker underlined that the representation of a heavenly order had a double function: Firstly, it was designed to supply the prince’s power through his church regiment with theological arguments, reaching back to creation itself. The prince was not merely allowed to conduct his power over the church, but had his right anchored in a cosmological system “as old as creation”. Secondly, the strict theological nature of the argument limited his influence over the church. Gerhard was deeply concerned to reject any form of caesaropapism. Among the concrete limitations of the prince’s ecclesiastical power concern his calling and dismissal of pastors in the church, a theme to 16 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54: “Qui enim jam ante versantur in ministerio et profitentur sanam doctrinam, omnium rectissime de eorum, qui ad docendi munus vocandi sunt, qualitatibus judicare possunt, nemo igitur dixerit, eos a vocatione mediata excludendos esse.” 17 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54f. 18 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 86, p. 55: “[…] presbyterio competit examen, ordinatio et inauguratio; magistratui Christiano nominatio, praesentatio, confirmatio; populo consensus, suffragium, approbatio, vel etiam pro ratione circumstantiarum postulatio.” 19 Manfred Jacobs: Der Kirchenbegriff bei Johann Gerhard. Hamburg 1959, p. 137.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

117

which we will return soon. Instead of the prince, Gerhard will confine the power of vocation solely to the status ecclesiasticus, since that power as potestas ecclesiastica interna it is withdrawn from the secular power of the prince.20 How did the limitation of the prince’s influence over the church apply to practical church life? In the post-apostolic time, God calls servants of his church in a vocatio mediata.21 The pastors of today are to be distinguished from the prophets and apostles whom God called with a vocatio immediata, Gerhard points out, but the vocatio mediata retains the same quality of being ascribed to God.22 One of Gerhard’s examples of the principal similarity between the two forms of calling can be found in his reference to how St. Paul saw the bringing about of the gospel to the Thessalonians: The apostle included both his collaborators Silvanus and Timotheus when he described how “our gospel came unto you”.23 In Gerhard’s view, therefore, the “pseudo-political”, Anabaptist idea of vocation as a part of the Regalia Magistratus counters the fact that vocation pertains only to the triune God.24 Not the angels, but the church has the legitimate power to call ministers, due to her status as the bride of Christ and on the basis of the promise of the keys, given to Peter. It is Gerhard’s insistence on the distinct orders (ordines) within the church that gives his theory its distinct flavour, however. Neither of them have the exclusive possibility of acting alone in the process of vocation.25

20 Honecker: Cura religionis, p. 75f. 21 Vocatio mediata as opposed to vocatio immediata, which the Anabaptists and Enthusiasts still – from Gerhard’s viewpoint, wrongly – consider to be a valid form of calling. See Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. III, nr. 81, p. 51. 22 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 83, p. 52: “Pastores in eo distinguuntur a prophetis et apostolis, quod illi mediate, hi vero immediate vocati sint, jam vero etiam pastorum vocationem Deus sibi asscribit.” There are, however, prerogatives that are solely connected to the prophets and apostles as part of their vocatio immediata, which Gerhard lists as follows: Privileges not to err, powers to teach particularly fruitful, charismatic gifts, etc. See ibid., nr. 84, p. 53f. 23 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 83, 53: “Evangelium sive praedicatio evangelii non solum est in virtute, cum praedicatur a Paulo immediate vocato, sed etiam a Timotheo et Silvano mediate vocatis, 1. Thess. 1. v. 5.” 24 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54. 25 Gerhard: Loci theologici VI, c. III, s. IV, nr. 85, p. 54: “Porro cum in ecclesia sint tres dictincti status sive ordines: ecclesasticus, politicus et oeconomicus, sive presbyterium, magistratus et populus, ex quibus omnibus velut ex membris ecclesia constat, ideo nullus status ecclesiae ab hoc opere est simpliciter excludendus, sed singulis suae partes suaque officia in mediata vocatione ministrorum sunt relinquenda.” Note Gerhard’s willingness to exchange the nomenclature from the classic triad ecclasiasticus – politicus – oeconomicus with the more modern/reformed presbyter – magistratus – populus.

118

Joar Haga

3. LUTHERANISM’S AMBIVALENT DISTINCTION BETWEEN THE SACRED AND THE SECULAR The political framework within which Gerhard’s theory of the organisation of the church developed, was episcopalism in the Holy Roman Empire. To protect ius reformandi from the emperor’s intervention as defensor ecclesiae, the Protestant jurist – at least from Joachim Stephani onwards – argued that the Augsburg peace of 1555 saw a transfer of church authority from the bishop to the Protestant prince.26 However, this was not a clear-cut transfer, due to the difference between the newly established political philosophy of res publica, which people like Melanchthon referred to, and the multitude of rights and legal claims by different groups and individuals.27 As summus episcopus, the prince had to create a consistory to fulfill his duties as a bishop. To my mind, it makes sense to regard Gerhard’s use of the estates as an attempt to legitimise the distinction between the prince’s areas of jurisdiction, between the sacred and the secular.28 An important key to uphold that distinction was formerly done by canon law, and Gerhard’s attempt to structure church governance along the lines of the estates can be seen as a compensation of the decline in interest in canon law in the second generation of Lutheran theologians. Even if Luther himself had a contempt towards law in general and canon law in particular,29 he nevertheless wrote a favourable foreword to Lazarus Spengler’s Auszug aus den päpstlichen Rechten from 1530.30 Melanchthon referred explicitly to canon law in Confessio Augustana and its Apology, as did the other authors of evangelical church orders.31 The canon law which Luther burned 1520 did nevertheless not remain ignored by the evangelical churches, particularly due to its accepted interpretation of Scripture, its reflection of ancient traditions of ecclesiastical law, and its belonging to the empire’s common law.32

26 Mathias Schmoeckel: Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2014, p. 165. 27 Robert von Friedeburg: “Church and State in Lutheran Lands, 1550–1675”, in: Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675. Ed. Robert Kolb. Leiden 2008, p. 361–410, here: 362. 28 One may argue whether the different church consistories de facto formed a separate area of government, but that is another question. 29 John Witte: Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation. Cambridge 2002, p. 54-59. 30 WA 30 II, p. 219 (Vorrede zu Spenglers Auszug aus den päpstlichen Rechten, 1530). Spengler had been asked by Margrave Georg von Brandenburg to present some of the papal legislation that was agreeable to the divine word and doctrine. Cf. the new critical edition of Spengler’s work: Lazarus Spengler: Schriften. Bd. 3. Schriften der Jahre Mai 1529 bis März 1530. Edited by Berndt Hamm, et al. Gütersloh 2010, p. 94–207. 31 Joachim E. Christoph: “Wozu evangelisches Kirchenrecht? Zur Lage dieser theologischen Disziplin in den Ev.-theol. Fakultäten der Bundesrepublik Deutschland”, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 51 (2006), p. 556–588, here: 562–563. 32 Annelies Sprengler-Ruppenthal, “Recht, Kanonisches. II. Geltung in den Kirchen der Reformation”, in: TRE 28 (1997), p. 277–281, here: 277.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

119

Still, it is possible to observe a significant change in the reception of canon law among the second generation of reformers. From being an important source of reference, reformers such as Chemnitz referred to it as an example of failure, not only in its abuses, canon law was rejected in toto.33 In Chemnitz’ opus magnum, the author made an attempt to distinguish between ecclesia and politiarum, but the distinction is hardly usable for more than a concentration of the functions of the church. The church is seen as a spiritual, as lifted out of the political sphere. As a result, Chemnitz described the relation in opposites: In the “imperial world”, there are three necessary things, namely order in succession, glory to prevent unrest and presiding over military forces. In the church, however, there is no order but to serve the head of the church, Christ. This is done by obeying the divine law (iure divino) in everything described by the gospel, and cannot be comprehended as ordinary succession, as when bishops and pastors were defending errors and idolatry. Secondly, the church is under the cross (subiecta cruci), where the wisdom, virtues and miraculous things cannot be acknowledged by the impious. It consists of correct invocation, and the enemy is the devil. Thirdly, the church is not tied to a particular place, as the empire is, but it has an eternal anchoring in the gospel.34 One of the most striking theological problems of defining that distinction lies in the relative nature of the church’s organisation as compared to the constitutive aspect of the ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta, as Melanchthon referred to it in Article 5 of Confessio Augustana.35 When Melanchthon defined the church spiritually, as regnum Christi distinguitur a regno diaboli, in his Apology,36 he rejected the idea that Christ, the prophets and the apostles should have defined the church as a papal kingdom, a regnum pontificium. Even more importantly, the prerogative of the true church, quod ad veram ecclesiam pertinet, should not be understood as transferred to the unerring pillars of the church, namely the popes. When Melanchthon defined the true Church, he pointed to a specific understanding of Holy Writ. “In accordance with the Scriptures, we maintain that the church in the proper sense is the assembly of saints, those who truly believe Christ’s gospel, who have the Holy Spirit.”37 The correct interpretation of the Scriptures was, however, exactly the reason why the bishops and the pope accused the Evangelical party for heresy, according to Melanchthon. He underlined that the whole trial in Augsburg was solely caused by the fact that they 33 Christoph: “Kirchenrecht”, p. 563. See further Chemnitz’ Church Order, printed in: Die evangelischen Kirchenordnungen des sechszehnten Jahrhunderts. Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangelischen Kirche in Deutschland. Edited by Aemilius Ludwig Richter. Weimar 1846, p. 318–324. 34 Martin Chemnitz: Locorum theologicorum pars tertia. Frankfurt 1599, p. 286–287. 35 Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Edited by Hans Lietzmann. Göttingen 1998, p. 58. 36 BSLK (ed. Lietzmann), p. 237. 37 BSLK (ed. Lietzmann), p. 240: “Quare nos iuxta scripturas sentimus ecclesiam proprie dictam esse congregationem sanctorum, qui vere credunt evangelio Christi et habent spiritum sanctum.”

120

Joar Haga

had been “preaching Christ’s favor (beneficium), that we obtain forgiveness of sins through faith in him and not through devotions invented by the pope”.38 In Melanchthon’s anti-donatist argument, the minister represent Christ due to the calling of the church. The promise of Christ from the Gospel of Luke, chapter 10, is applied: “Those who hear you, hear me”. Originally, the criterium for judging doctrine remained with the hearers. Luther had in the early 1520’s claimed that the congregation should have the right to call their pastors to office, again with the sheep recognising the voice of the shepherd.39 However, during the 1520’s, the right to choose candidates were gradually removed from the congregation to the princes and their theological experts. In recent research, it has repeatedly been underlined that it is not for the worldly prince to define the doctrinal content of that preaching.40 Within the conditions set up by the worldly authorities, it is up to the theological teachers to fill that task.41 This is probably correct, at least with respect to the intentions of the reformers. However, the very content of the ministerium ecclesiasticum, which precedes and defines its nature, may interrupt the somewhat lofty theory of the two kingdoms. After all, it was a particular understanding the gospel itself, as justification by faith alone, which had sparked the original conflict with Rome. It was out of the concern for the pure doctrine that prompted Luther to accept worldly force against pastors in the 1528 Visitation articles. His appeal to the emergency situation, the elector as a fellow Christian – not as a temporal government – and the commission as an ecclesiastical body could not hide the obvious: If the pastors refused to accept the measures, the elector would impose conformity on them, just as Constantine forced the council of Nicaea to unite against Arius.42 The logic of Luther

38 BSLK (ed. Lietzmann), p. 240: “Nos soli plectimur, quia praedicamus beneficium Christi, quod fide in Christum consequamur remissionem peccatorum, non cultibus excogitatis a pontifice.” 39 WA 11, p. 408–416 (Daß ein christlich Versammlung oder Gemein Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift, 1523), here: 409,10–23: “Menschen wortt und lere haben gesetzt und verordnet, man solle die lere zu urteylen nur den Bischoffen und gelerten und den Concilien lassen. […] Denn Christus setzt gleich das widderspiel, nympt den Bischoffen, gelerten und Concilien beyde recht und macht, tzu urteylen die lere und gibt sie yderman und allen Christen ynn gemeyn, Da er spricht Johan. x. ‘Meyne schaff kennen meyne stym’.” 40 See Martin Heckel: Art. “Cura religionis”, in: RGG4 2 (1999), p. 505–506, here: 505: “Aber die weltliche Obrigkeit ist dabei auf diese äußere weltliche Schutzaufgabe beschränkt; sie darf sich nicht anmaßen, die Seelen zu regieren und das Predigtamt des wahren Evangeliums zu behindern.” 41 Nicole Kuropka: Philipp Melanchthon. Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526–1532). Tübingen 2002, p. 125: “Eine Entscheidungsgewalt in kirchlichen Lehrfragen spricht Melanchthon dem Fürsten nicht zu, denn in diesem durch staatliche Gewalt geschaffenen Rahmen haben die theologischen Lehrer die Ausbildung inhaltlich zu füllen.” 42 James M. Estes: “The Role of Godly Magistrates in the Church: Melanchthon as Luther’s Interpreter and Collaborator”, in: Church History 67 (1998), p. 463–483, here: 472–473.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

121

is simple: Even though the elector is not called to teach and rule spiritually, he is nevertheless responsible to prevent strife, rioting and rebellion.43 One still may wonder: Why was it necessary to use secular force in the core of the spiritual office? A closer look into the theological argument of the preface, reveals that the flock had not been properly fed with spiritual food, according to Luther. Christians were not supplied with sufficient instruction in matters of faith and life. It should have been the bishop’s office to look after the pastors, according to Luther, but they had failed and fallen into laziness. It caused the ecclesiastical office to degenerate into an Antichrist’s and a devil’s office, with fatal consequences for the souls.44 They had – if Luther should be believed – put the gospel away, and substituted it with human deeds. Such a disproportion between the content, the gospel which God’s unspeakable mercy again had let shine over his people, and the “misery” Luther claims existed in Saxony, called for the intervention of the secular authorities. Although it was clear that Luther did not envision a permanent church structure,45 it was the same rhetorical figure that lurked behind many of the changes of existing church orders. This figure left an uncertainty concerning the relationship between the worldly magistrate and the spiritual minister. As Robert von Friedeburg noted concerning Matthias Flacius and his followers, they “insisted on the unconditional preeminence of theological truth and its implementation through learned discourse and ecclesiastical discipline”.46 To a certain degree, such an unconditional appeal to theological truth blurred the original distinction between secular and spiritual power. Even so, the figure was partly reflected in the church order for Denmark-Norway after the reformation 1537.

43 WA 26, p. 195–240 (Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen, 1528), here: 200,28–34: “Denn ob wol S. K. F. G. zu leren und geistlich zu regirn nicht befolhen ist, So sind sie doch schüldig, als weltliche öberkeit, darob zu halten, das nicht zwitracht, rotten und auffrhur sich unter den unterthanen erheben, wie auch der Keiser Constantinus die Bischove gen Nicea foddert, da er nicht leiden wolt noch solt die zwitracht, so Arrius hatte unter den Christen ym Keiserthum angericht, und hielt sie zu eintrechtiger lere und glauben.” 44 WA 26, p. 196,26–32: “Aber wie man lere, gleube, liebe, wie man Christlich lebe, wie die armen versorgt, wie man die schwachen tröstet, die wilden straffet, und was mehr zu solchem ampt gehöret, ist nie gedacht worden. Eitel iuncker und Brasser sind es worden, die den leuten das yhr verzereten und nichts, ia eitel schaden dafür theten, Und ist also dis ampt gleich wie alle heilige Christliche allte lere und ordnung auch des teuffels und Endechrists spot und gauckelwerck worden, mit grewlichem erschrecklichem verderben der seelen.” 45 Martin Brecht: Martin Luther. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Berlin 1989, p. 261: “Die Visitation war zunächst nur gedacht als einmaliger Akt reformatorischer Neuordnung, von einem permanenten Kirchenregiment war nicht die Rede.” 46 Friedeburg, “Church and State”, p. 382.

122

Joar Haga

4. THE REFORMATION IN DENMARK-NORWAY: AN UNCONDITIONAL TRUTH REVEALED? The Reformation of Denmark-Norway took a different course than in Germany. To understand the peculiar relation between Church and state within the Kingdom of Denmark-Norway, let us take a look on the legal premises underlying the move towards absolutism. When Christian III introduced the reformation as King of Denmark, he had Johann Bugenhagen write the ordinatio ecclesiastica. It was also sent to Martin Luther “through whom God in his clemency in these last days have restored the holy and pure gospel of Christ”.47 It was signed by the king 1537 and contained an interesting preface by the king. The preface can shed some light over how the distinction between the sacred and the secular was understood in the king’s vision for his church. Before we move to the preface, however, one should keep in mind that the Reformation was introduced at the direct order of the king, with the immediate effect that the bishops were put to jail and their offices removed. As all the official declarations later stated, it was not the king’s intention to reform the Catholic bishoprics. Instead, he launched an attack on the bishop’s office as separate from the king’s government. The regiment, comprising sacred and secular, should from now on remain with the royal majesty and his descendants.48 In the preface, the king makes it explicit that he did not solely rely on judgement made by others, he wanted to portray the understanding that God in his goodness had given him of the holy gospel, the king underlines. The ordinance contains two things: God’s ordinance and “our” ordinance. This duplex is interpreted as such: God’s ordinance is “that which belongs to God”, namely the Word of God, law and gospel preached, sacraments distributed, children raised in the Christian faith and welfare for the poor. The crucial point for the king is the same as it was for Melanchthon in his Apology, namely that “those who hear my voice, hears me”.49 Unlike Melanchthon, however, the Danish king did not mention the

47 Ordinatio Ecclesiastica Regnorum Daniae et Norwegiae et Ducatuum/ Sleswicensis/ Holtsatiae etcet. Copenhagen 1537, p. 2r–v: “[…] per quem [sc. Luther] Dei clementia hisce novissimis temporibus nobis restituit sacri Evangelii Christi synceritatem.” 48 Steinar Imsen: Superintendenten: en studie i kirkepolitikk, kirkeadministrasjon og statsutvikling mellom reformasjonen og eneveldet. Oslo 1982, p. 5–6. For Imsen, the King Christian III is first and foremost a secular power who adopted the bishops as instruments for his expansion of political influence. His opponent by his public defense of his doctoral thesis, Ingun Montgomery, appealed to the understanding of the king as a Christian authority (Øvrighet, Obrigkeit). Cf. Ingun Montgomery: “Steinar Imsen, Superintendenten. En studie i kirkepolitikk, kirkeadministrasjon og statsutvikling mellom reformasjonen og eneveldet. Sammendrag av opposisjonsinnlegg ved doktordisputas”, Norsk Historisk Tidsskrift 63 (1984), p. 168–178. 49 Ordinatio Ecclesiastica, p. 3v: “Duplex est hic ordinatio/ Altera divina solum/ ut volumus verbum Dei/ id est/ Legem et Euangelium syncere predicari/ Sacramenta recte tradi/ pueros doceri ut maneant in Christo qui in Christum sunt Baptizati/ curari pro victu ministrorum Ecclesiae et Scholarum & pro pauperibus/ Non est nostra ordinatio/ sed per hoc obsequimur ordinationi Christi domini nostri/ qui ut est unicus salvator noster & certissima salus/ Ita est &

Gerhard (un)seen from Copenhagen

123

hearing of Christ as a part of an ecclesiastical ministry, but rather as a general acceptance of the gospel which was hidden from eternity in God, the gospel which Christ has revealed to the world. After citing St. Paul’s warning to the Galatians to accept any other gospel, the king quotes Christ: “My sheep know no other men’s voices, but flee from them.” There is no need to wait for a council, because “councils or human ordinances can do nothing against the divine ordinance”.50 Our ordinance, on the other hand, is an attempt to arrange the church affairs of this world, such as persons, times, places, ceremonies etc. “We have the true gospel”, the king proclaimed, which proclaims the forgiveness of sins for hunted consciences, because of Jesus Christ, the Son of God, who is given for us. Free from sin, We are counted righteous before God and we are sons of God and heirs to eternal life.51

This simple recount of the content of Scripture was made into a critical principle in the midst of ecclesiastical tradition: Danes and Norwegians have been exposed to the Devil's doctrine, namely deeds for the forgiveness of sins, monastic rules, indulgences, pilgrimages etc. It would be foolish (stultum) to wait for a Church council to adopt decrees in line with such an evident truth. 5. THE CHANGE TO ABSOLUTE RULE In the evening of 8 October 1660, the bishop of Sjælland, Hans Svane (1606–1668), received King Frederick III’s valet (Kammerdiener) in his residence in Copenhagen. The king wanted the bishop to support a suspension of the capitulatio caesarea and the introduction of a Sovereignty Act or the Absolute and Hereditary Monarchy Act. Absolute power would end the coronation charter or handbinding (haandfæstning), upon which the power was transferred from the nobility to the king. The handbinding was an old custom, dating back to the 14th Century, but with roots to the Old Norse thing as the place where the king had to be acknowledged. It has been customary to refer to the old form of government as a diarchy, where the king shared his power with the Council of the State or Privy Council.52 The bishop agreed to the king’s wishes, and as a result, the church’s support was perhaps the most important force in Denmark’s revolution to absolutism. Bishop Svane kept the whole estate of pastors in line, supporting the king’s vision of absolute power, despite continuous effort from the nobility in frightening rural pastors with future economic repercussions. Tax exemptions enjoyed by the ecunicus Doctor & Magister noster/ de quo Pater clamat/ Nunc audite/ Et ipse ait/ Ques [sic!] meae vocem meam audiunt.” 50 Ordinatio Ecclesiastica, p. 4r: “Concilia aut humanae ordinationes hic nihil possunt contra ordinationem divinam.” 51 Ordinatio Ecclesiastica, p. 4v: “Apud nos verum Evangelium est/ quod praedicat afflictis conscientiis gratuitam remissionem peccatorum propter solum Christum filium Dei pro nobis traditum. Ablato peccato reputamur iusti a Deo/ sumus filii Dei & haeredes vitae aeternae […].” 52 Ola Teige: “Arven etter eneveldet”, in: Internasjonal politikk 68 (2010), p. 415–426, here: 416.

124

Joar Haga

clesiastical elites such as bishops, theological professors and cathedral canons, were not extended to common pastors.53 Historians have found different reasons to explain the bishop’s concession to the king’s desires for absolute power.54 One of them was the hope to regain some of the church’s influence prior to the reformation. In the nobility’s absence, so the theory goes, the pastors came closer to the center of power. Moreover, most of the clergy were recruited from the mercantile bourgeois class, whose members sought a more centralised power at that time. The bourgeois had 1658 – for the first time in history – demanded “similar access to officia and honores as the nobility”.55 Denmark was in a state of crisis after war with the Swedes, with lost territories and humiliation as a result. The nobility’s military role was diminished; the war had been largely fought with the help of German mercenary forces. A popular discontent was felt due to the perceived military impotence of the nobility, a discontent which was dangerous for their privileges, because defence was ultimately the raison d’être of their estate within the order of society.56 The most pressing issue was the financial situation after the politics of war since 1657. Indeed, one of the most important underlying reasons for the introduction of absolutistic regime has been claimed to be the growth of the “tax-state”, a development which accelerated from 1630s onwards.57 According to this view, absolutism was not so much an act of political will as the consequence of a change within the make-up of society.58 Last, but not least, bishop Svane gained considerable personal status by the support of the revolution. He was appointed archbishop and became one of the 53 Carl Olaf Bøggild-Andersen: Hannibal Sehested. En dansk Statsmand. Copenhagen 1946, p. 247. 54 For example, Glebe-Møller recently claimed that Hans Svane’s role in the introduction of absolutism was not clear. Jens Glebe-Møller: “Det teologiske Fakultet 1597–1732”, in: Københavns Universitet 1479–1979, Bind V. Ed. Svend Ellehøj. Copenhagen 1980, p. 157. 55 Leon Jespersen: “Den københavnske privilegiesag 1658–61 og magtstatens fremvækst. Nogle udviklingslinjer,” in: Kustbygd och centralmakt 1560–1721. Ed. Niels Erik Villstrand. Helsingfors 1987, p. 157–83, here: 177. 56 The official narrative was stated by the act of sovereignty, January 10, 1661. It was not mentioned that it was Frederick III, the king himself, who had started the war. Rather, the act stated that the subjects themselves had confirmed the king’s claim for absolute power in thankfulness and freely entrusted all their rights to him, their defender and protector of their wellbeing. It was God and his providence who had moved everything in this political direction. Øystein Rian: “Historie i tvangstrøye – kongemakt og historieformidling i Danmark-Norge 1536–1814”, in: Historisk Tidsskrift 1 (2013), p. 63–89, here: 72. The report from the meeting of the estates 1660 tells the same story, namely: “[…] to thank his royal majesty, who, in this city’s occupation and grave danger, did not spare any effort and confronted the danger for his subjects’ sake […] whereby we all are saved, released from the enemy’s yoke […].” In: Aktstykker til de norske stændermøders historie 1548–1661. Ed. Rolf Fladby. Oslo 1974, p. 99–100. 57 Johan Jørgensen: Det københavnske patriciat og staten ved det 17. århundredes midte. Copenhagen 1957. 58 Knud J.V. Jespersen: “Absolute Monarchy in Denmark: Change and Continuity”, The Scandinavian Journal of History 12 (1987), p. 307–316, here: 311–315.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

125

wealthiest men in Copenhagen. However, even though the institution of an archbishop was promised to his successors, too, that lofty see ended with Svane. Hans Wandal (1624–1675), the Copenhagen bishop appointed after Svane, was a mere bishop. Svane was promised to become the president of a planned consilium concistoriale with power to enforce laws regarding schools, academies, hospitals and church discipline. Instead of a consistory, the 1665 lex regia stated that the king alone “should have the highest power over church orders, from the highest to the lowest” (Kongeloven § 6).59 Apparently, the king and his closest advisors did not take the risk. A Church council, a consistory, could have restricted the majestic prerogatives of controlling ecclesiastic affairs. Although there are no official documents which explain why the king did not keep the promises he made to Svane, a church council with far-reaching governing responsibilities would probably question the absolute king’s competence as cura religionis. Seen from the absolute ruler’s point of view, it would have created a sort of political vacuum, filled with churchmen outside the king’s control. In an absolute state, a resistance against the creation of an independent area of competence should not surprise. Svane’s successor, Hans Wandal, on the other hand, sought to qualify the absolute authority of the king as the gathering of both regiments under one person. In this respect his theory resembled continental episcopalism, but compared to Gerhard Wandal had a more functional approach as to how the church should be managed. Wandal did not want to organise the church along the lines of a separate estate apart from the majesty’s rule. In Wandal’s legal theory, the church is part of the state, it is part of the king’s prerogatives. However, the function of the church, its performative aspects, so to speak, must be handled by churchmen. As we will see, although the king is second only to God in civil matters, Wandal argues that the king’s office (munus) does not imply teaching in academies, churches or schools.60 6. WANDAL’S JUS REGIUM Wandal’s opus magnum, the Jus regium, published between 1663–1672, is the most solid defence of the new political order. With 1158 pages and six books, the work resembles Bodin’s Six Livres de Republique, which Wandal perhaps sought to replace or supersede.61 Wandal’s point of departure is the Old Testament where 59 Lex Regia was only known to a few senior officials the first years, before it was read aloud during the crowning of Christian V in 1670. It was not available in print before 1709. In the original edition, § 6 is found on page 11. 60 Johannes Wandal: Juris regii ΑΝΥΠΕΥΘΥΝΟΥ, et solutissimi, cum potestate summa nulli, nisi Deo soli, obnoxia, regibus christianis, e juris Divini pandectis V. & N. Testam., atqve ecclesiae utriusqve, Judaicae juxta ac christianae, praxi & testimoniis, luculenter asserti […] liber I. København 1663, l. I, c. I, p. 6. 61 Paolo Borioni: Suverænitetsbegrebet i Bog IV Af H. Wandals Jus Regium. PhD Afhandling. Copenhagen 2003, p. 67.

126

Joar Haga

the immutability of God’s will which makes the transfer of Old Testament legislation to the present order possible. Wandal does not want to dismiss the concrete precepts, however, particularly those things which are explicitly allowed and conceived as jus divinum, precepts that are not rejected in the New Testament. The work starts with the story of Samuel’s anointment of Saul. The text gave Wandal the opportunity to parallel the divine origin of the monarchy with the people’s role in the introduction of the absolutist rule in Denmark.62 Wandal interprets the Lord’s instruction of Samuel to warn the people against the king not to be a warning against lawful kingship as Milton had argued, but against its tyrannical deviation.63 The central word is mishpat (1 Sam 8), what King James renders as “the manner of the King”. The concept of mishpat itself is therefore free from divine warnings, and suggests the origin of the indivisible sovereignty. It is the axiomatic starting point for Wandal. For Wandal, the concept of lawful kingship can be used as a framework for explaining why the king is legible only to God’s command through his conscience. Hence, the category of monarchical conscience functions as the mediating principle between the authority of moral precepts of Scripture and the authority of reason or natural rights. One pressing question would perhaps be: Why should this conscience be restricted to the king only? It seems to me that Wandal’s interpretation of the king’s imperial prerogatives within his reign – rex est imperator in regno suo – has an edge against the historical claims of the old charter or hand bindings: The king cannot receive the power from a worldly institution, it rests on a transfer from God. In addition, the idea of a historical progress – and not mere development – towards the Roman emperor as the peak of political organisation, is crucial to Wandal. Why, one may ask? The Roman emperor, famous for his pax romana, does not rely on a transfer of power from any earthly institution. Wandal’s attack on the idea that the power is given to the king from the people, is particularly important in book II of his work.64 To secure the transfer from God, Wandal underlines the lofty origin of the prophetic office: Saul’s kingship is ius divinum, and definitely not from the people, as the contract-theory from Hobbes suggested. The secular nature of the historical events did not hinder Wandal from interpreting kingship as a direct transfer of power from God to the king. When sovereignty was given to the king, the theological understanding of God as conferring all powers did not contradict the historical fact that powers were handed over from the estates. In an almost Cartesian

62 Borioni: Suverænitetsbegrebet, p. 68. 63 Wandal: Jus Regium, l. I, c. II, p. 13: “[…] nec quid facere legitime possint Reges, sed quid facturi sint, quo jure, quave injuriam […].” 64 Wandal: Jus Regium, l. II, c. I, p. 109: “Immane vero quantum falluntur Politici & Theologastri nonnulli, qui summam illam potestatem in populo residere contendunt, & populum ejus subjectum proprium esse statuunt, ab eo vero illam in Reges transferri, ubi ei ita visum fuerit.”

Gerhard (un)seen from Copenhagen

127

manner, it is of utmost importance for Wandal to establish an axiomatic point which is secure and indisputable.65 Book IV is the central piece of Wandal’s work, where he explains his understanding of the concept of majesty. His main argument is that the king participates in God’s reign. Wandal makes a long argument about the word majestas in order to find a firm starting point. The genuine Latin word majestas is more accurate than the inferior magistratus of Vulgar Latin, because the latter refers to a minor power.66 Majestas, however, is closely connected to the comparative of magnus, namely majus. Wandal quotes the Hugenot Isaac Casaubon’s opinion that there are no similar words in the Greek language. Unlike the inferior French souverain, too, majestas has a numinous quality, it refers to the highest power thinkable. As the receiver of majesty, the king participates in God’s majesty, because God himself “has communicated his majesty [to the king] with the highest powers.”67 Since God is communicating his majesty to the king, Wandal categorises majesty as a sacred term. It makes the king the highest authority in his kingdom. He strongly disagrees with Casaubon’s suggestion that majestas should not be used for princes. Caligula assumed his power illegally, and that set his human majesty apart from divine majesty. With Bodin, Wandal therefore emphasizes that although majestas is principally put over the laws, the king has God above him, as superior.68 There is a certain strangeness to the legal platform on which absolute monarchy in Denmark-Norway rests, because the king must sustain and defend the religion as defined by the Augsburg confession. This constraint on monarchical freedom is difficult to explain, perhaps the confessional profile seemed self-evident, just as God’s ordinance was evident to the reformation king.

65 The older Danish research, with Knut Fabricius as one of the towering figures, paid only attention to Wandal’s legitimating strategy of the king’s power by expressions from the Bible. This led him to straightforwardly claiming that Wandal proposed a theocracy, even “in its most full-fledged development”. Knut Fabricius: Kongeloven. Dens tilblivelse og plads i samtidens natur- og arveretlige udvikling. En historisk undersøgelse. Med 5 plancher, i fotolitografi eller aetsning, Copenhagen 1920, p. 284. By leaning on this judgement, scholars of late have often considered Wandal as a closed case. For example, the Danish theologian Svend Andersen did not even bother to read Wandal’s work, but took his theocratic model for granted. Cf. Svend Andersen: Macht aus Liebe: Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik. Berlin 2010, p. 89. 66 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. I, p. 495–496: “Vulgus Latine loquentium subjectum tantae potestatis vocat summum Magistratum, sed contra genuinum Latinae vocis usum. Nam Romanis olim Magistratus minorum potestatum nomen fuit. Quod autem jamjam monuimus, bene quoque observavit Casaubonus loco jam allegato: Est vero MAJESTAS unum ex iis vocabulis Latinis, quibus nullum est intota lingua Graeca par, & ex aequo respondens.” 67 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. I, p. 496: “Quia enim ipse Deus suam Majestatem cum summis Principibus ultro communicavit, uti antea probatum dedimus, ideo Majestas his jure competit.” 68 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. I, p. 497–498: “Ea vero Majestas, qvam hoc loco innuimus, non incommode definitur a Bodino lib. I. de Republ. c. 8. summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas, qvam qvi habet, post Deum immortalem seipso majorem videt neminem.”

128

Joar Haga

One of the most important claims or prerogatives of the king, is to be the cura circa religionem & rerum sacrarum.69 Wandal follows Johann Gerhard in the distinction circa sacra and in sacra, but for Wandal, cura religionis is an area of the majesty’s technical rule. It is not, as with Gerhard, organised within a church which mirrors the heavenly order, where the three earthly estates resemble cherubs, seraphs and archangels in a symphony.70 For Gerhard, politicus is an institution under the category of church, and he puts the article magistratus after the articles de ecclesia and ministerio ecclesiastico. I think it is of prime importance to have in mind the point of departure for Gerhard, namely the invisible universal church which unfolds itself in the estate-structure of the particular church. Wandal stands in a more functional tradition, where all traces of an independent law pertaining to the ecclesiastical body is removed. This is part of a development that can be said to characterize the development of State-Church relations in Early Modern Denmark-Norway. Wandal’s teacher, Jesper Rasmussen Brochmand (1585–1652) for example, included the notion of estates in his chapter de ecclesia of his Universæ theologiæ systema from 1633, but the estates did not play an important role in his ecclesiological make-up. Brochmand uses Gerhard’s theory of the estates only to solve concrete ad-hoc challenges, such as the vocation of pastors and disciplinary and doctrinal issues, but he never treats the theory of the estates as such in his ecclesiology. As Gerhard, Brochmand departs from the idea of the universal church, but he frames the regimen ecclesiasticum according to the churchly functions. These functions should be brought about by the political authorities, such as preachers, doctrinal unity and church discipline.71 There is an interesting absence of operative categories for the visible church in the 17th Century. Brochmand underlines that the Church is a monarchy and Christ is the king. When Christ retracts his visible presence from the earth, he does not leave it open to a new monarchy. Christ gives his Church apostles, prophets, pastors and doctors to build the body of Christ. But this list does not entail an institutional protection for the Church from the intervention of the state. Why not organise the Church as a function of the state itself? To distinguish between regimen ecclesiasticum & politicum, Brochmand used the Aristotelian categories of material, formal and final causes. The material cause 69 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. II, p. 503. 70 Gerhard: Loci theologici VI, lc. XXIII, p. 1: “Quemadmodum inter angelos sanctos, qui contra draconem infernalem et ipsius angelos in perpetua acie versantur Apoc. 12. v. 7. certi ordines divinitus constituti sunt, (unde τὰ ἐν τοῖς ὀυρανοῖς ἀόρατα distribuuntur ab apostolo in θρόνους, κυριότητας, ἀρχὰς, ἐξουσίας, δυνάμεις Eph. 1. v. 21. Coloss. 1. v. 16. quo etiam pertinet appellatio cherubim Gen. 3. v. 24. seraphim Esa. 6. v. 2. archangelorum 1. Thess. 4. v. 16.) […].” 71 Jesper Rasmussen Brochmand: Systematis universae theologiae tomus secundus. Ulm 1658, lc. XXVI, c. I, s. III, p. 254, col 2: “Supersunt media, quibus regimen hoc Ecclesiasticum administratur: & sunt tria. Primum Ecclesiastici regiminis medium est verbi divini syncera praedicatio. […] Secundum regiminis Ecclesiastici medium est sacramentorum legitima administratio. […] Tertium regiminis Ecclesiastici medium est rectus usus clavium regni caelorum.” See also Stenbæk: “Kirkeræt”, p. 51–52.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

129

of churchly affairs is the inner and spiritual life, whereas the political concerns the external discipline. The formal cause of the Church is preaching and administration of the sacraments, whereas the political lies in civil law and just use of the sword for external justice. The final cause of the church consists in the spiritual justice, peace of conscience and the eternal salvation of souls, whereas politics is concerned with civil justice, temporal peace and the tranquillity of this life.72 However, it is the political authorities who are responsible for the ecclesiastical areas described, as far as they have the abilities for it. Brochmand lacks the differentiation into three areas of power which emerges from the theory of the three estates. Rather, it is the respublica christiana which justifies Brochmand’s call for the servants of the state to care for the church. If we turn back to Wandal, he bases the cura religionis claim of the absolute monarch on a number of sources. The history of the Old Testament, however, is not only cited as it concerns the Jewish monarchs, but as it reflects the constitutions of the heathen kings, too. For the New Testament, the Roman imperial framework of the first Christians is underlined. In addition, the authority of the Church Fathers, right reason and the tradition among the peoples are mentioned as sources. Wandal regards religion as a fundamental element of human society. He cites Cicero’s famous sentence societatis humanae fundamentum, and sees the danger of bishops degenerating into wolves as more dangerous than too much political power over the Church. It follows the logic of his duty as a keeping oversight over the whole society. The sovereign king has responsibilities for maintaining the stability of the state. But why single out the estate of the pastors as the most dangerous element? A presupposition of Wandal’s tight image of respublica christiana is religion as the key to justice, the basis of all moral life. If there is a breakdown of religion, the whole society will fall apart. The sovereign as a caretaker of the whole of society must watch over the pastors. There are, however, limits to the secular power. Wandal refers to CA XIV and the duty to serve the powers that be, unless they command to act against the Word of God. These limits are of a rather weak character, because Wandal gives examples from the Persian kings who tolerated that the Jews could restore the Temple and right religion.73 Hence, there is no reason for the subjects to revolt against the king if he is not Christian or orthodox. When true religion could be the promulgated even if the king was ignorant, the piety of the king is not a valid test of Christian government. Moreover, Wandal concedes wide interpretative powers to the king, not only by ascribing his right to strengthening the Word of God by legal sanctions. In addition, the king may prescribe and regulate religious practice according to “circumstance”, as Wandal describes it with a reference to 1 Cor 14,40, 72 Brochmand: Systema II, lc. XXVI, c. I, s. III, p. 254, col 2. 73 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. II, p. 606. Beware of the pagination errors in this section by Wandal. It jumps from 508 to 600 and from 607 back to 517. I have strictly followed the prints, although they are a bit chaotic.

130

Joar Haga

decenter et cum ordine. This does not only pertain to time and places, but also to modum celebrandi Sacerdotibus. As examples, Wandal claims that the king has the right to demand an understandable liturgical language, in order that the audience may hear and understand his message. The king can ban private masses and prohibit prayers of the lay people not approved by the bishop.74 Further, Wandal points to the destruction of idolatrous temples and altars by Old Testament rulers. Hence, the idea of king as the custodian of both tablets of the law is taken quite far in regulating religious life in society, but I think this must be seen in light of his responsibility for peace and tranquillity. On the other hand, Wandal underlines that the king has no right to ban what God has commanded, namely to preach the divine word, to administer the sacraments and to honour the parents. He cannot command what God forbids, namely to introduce a new faith, alter divine institutions against God’s revelation on which our salvation depends, or change the content of faith. When Wandal shall explain what circa sacra actually means for the distinction between sacred and secular, he starts by refuting what he labels caesaropapi and papocaesari.75 He describes the papal solution as overlooking that distinction, by their inspection, concern and control over things extra ecclesiam. The spiritual potestas of the sacred office, on the other hand, is concerned solely with three things: Preaching, sacraments and the keys, where Wandal includes the power of excommunication, too. No civil magistrate can interfere, only church ministers who have received this power directly – immediate – from Christ himself.76 However, these powers do not diminish the king’s rights over the church, Wandal claims with a nod to Bellarmine. Wandal refers to Deuteronomy 17,18–19, where the future king of the Jews is portrayed as a man who is given a copy of the Levite code of law, studying it in order to fear the Lord.77 This is perhaps a good place to end, because in Wandal’s vision of lawful kingship, the king is informed by theological expertise. The king must, so to speak, himself learn to distinguish between sacred and secular. Theologians must be heard, but only as advisors, they do not form a separate power structure within the state, or an independent estate of their own. The enlightened ruler is not given the right to reform expressis verbis in the Jus Regium, at least not as far as I have been able to see. However, there are reasons to assume that Wandal implicitly attributes the ius reformandi to the king. Unlike the lex regia, Wandal does not state that the king is bound by Confessio Augustana, he is only bound by ius divinum, naturale et gentium. We can observe 74 Wandal, Jus Regium, l. IV, c. II, p. 607: “Huc spectant leges Imperatoriae variae, ut quae Baptismi ac Sacrae communionis canonem clara voce pronunciari jubent, ut a populo audiatur; quae vetant sacra mysteria in privatis domibus peragi; quae litanias, sive publicas supplicationes a laicis fieri, nisi praesentibus Clericis, prohibent; quae Episcopum non permittunt ordinari […].” 75 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. VI, p. 582. 76 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. II, p. 518. 77 Wandal: Jus Regium, l. IV, c. II, p. 520.

Gerhard (un)seen from Copenhagen

131

the result of Wandal’s theory in his description of the council and its role to secular power: The king decides when and where a national council should be summoned, he decides who is going to meet and chairs the council. Most importantly, the king confirms the decisions of the council. Wandal praises the Danish kings for having brought the church in accordance with the reformation, a fact that is achieved by being informed by theological expertise. Still, there is no legislative basis in Wandal’s theory left for binding the king to a confession, even if it is as theologically correct as Confessio Augustana.78 Theologians must appeal to his divinely inspired will, and this is what they have done – if I may add – in Denmark-Norway until this day. 7. SUMMING UP With the transfer to absolutism in Denmark-Norway as point of departure, some differences between Johann Gerhard’s theory of the three estates and a functional interpretation of two regiments have emerged, particularly with respect to the distinction between church and state. Hans Wandal’s defense of absolutism displays the virtue – and perhaps vice – of the latter, namely that the doctrine of the two regiments can be used almost universally to interpret how sacred and secular should relate. Wandal is part of a longer line of argument, however, one that can be traced back to the reformation of the national state of Denmark-Norway, outside the Roman Empire, that is. The church is only an institution when it performs its function, namely to preach, administer sacraments and using the power of the keys. Otherwise, it is part and parcel of the state.

78 Stenbæk: “Kirkeræt”, p. 58–59.

DIE EKKLESIOLOGISCHE AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN ROBERTO BELLARMIN UND JOHANN GERHARD ANHAND DER LOCI DE ECCLESIA UND DE CONCILIIS Patrizio Foresta 1. EINFÜHRUNG „Also gibt man uns ins Maul, daß wir, wir wollen oder wollen nit, sagen müssen: Das Concilium hat geirret.“1 Mit diesem Satz, der aus einem gemeinsamen Brief von Martin Luther und Andreas Karlstadt an den Kurfürsten Friedrich den Weisen stammt, beschrieb Martin Luther am 18. August 1519 die Defensivlage, in der er sich auf Ecks Drängen im Verlauf der Leipziger Disputation vom Juli 1519 befand. Das Geschehen jener Tage ist allseits bekannt. Außerdem hatte sich Luther bereits vor der Leipziger Disputation in seiner Schrift Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio 1518 zum ersten Mal überhaupt zur Irrtumsfähigkeit der Konzilien geäußert.2 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang aber auch noch, dass Eck Luther zu einer Aussage drängte, die sich als folgenschwer für die reformatorische Kirchenlehre erweisen sollte: Das Konzil könne nicht nur prinzipiell irren, wie Luther anlässlich der Leipziger Disputation einräumte,3 sondern es habe es im Falle Hus’ offenkundig getan, denn es sei gewiss, dass es unter den Lehren von Hus und den Böhmen viele gebe, die man als „sehr christlich und dem Evangelium gemäß“ ansehen könne und welche die allgemeine Kirche eigentlich nicht verdammen dürfe;4 also, ein „Concilium mag irren […] und hat etlich mal geirret“, wie Luther und Karlstadt im Brief an Friedrich den Weisen feststellten.5 In den Resolutiones super propositionibus Lipsiae disputatis heißt es noch, dass „auch Hus’ höchst wahrhaftige Lehren dort [i. e. auf dem Konstanzer Konzil] verdammt wurden“, wobei Luthers Gedankengang eher darauf 1 2

3 4 5

WABr 1, Nr. 192, S. 465–478, hier: 471,218–219. Vgl. WA 1, S. 644–686 (Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio, 1518), hier: 656,32–33: „[…] quia tam Papa quam concilium potest errare, ut habes Panormitanum egregie haec tractantem li. i. de const. [eigentlich: „De electione et electi potestate“] c. significasti [sc. X, 1, 6, 6].“ Hierzu Christopher Spehr: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit. Tübingen 2010, S. 51–68, insbes. 61. WA 2, S. 254–383 (Disputatio Eckii et Lutheri Lipsiae habita, 1519), hier: 288,34: „[…] cum concessum sit, concilia posse errare […].“ WA 2, S. 279,11–13: „Secundo et hoc certum est, inter articulos Iohannis Huß vel Bohemorum multos esse plane Christianissimos et Evangelicos, quos non possit universalis ecclesia damnare […].“ WABr 1, Nr. 192, S. 472,257–259.

134

Patrizio Foresta

hinausläuft, die Katholizität (im Sinne der wohlbekannten Regel aus dem Commonitorium von Vinzenz von Lérins)6 und Unfehlbarkeit der Kirche vor den in seinen Augen offenkundigen Fehlern des Konstanzer Konzils zu schützen, als die Institution Konzil als solche abzuwerten: Er könne keineswegs hinnehmen, so Luther, dass der Großteil der Kirche wegen des Konstanzer Konzils, das offenkundig geirrt habe, häretisch sei. Wenn es also darum geht, das Konstanzer Konzil (und nicht das Konzil als solches!) oder die Rechtgläubigkeit der Kirche zu opfern, fällt Luthers Entscheidung erwartungsgemäß zugunsten der zweiten aus.7 Seitdem gilt dennoch als Binsenweisheit, dass Reformation und Konzil getrennte Wege gegangen sind. Die Frage ist nur: Wie ist dies eigentlich in jenem geschichtlichen Zusammenhang, der sowohl spätmittelalterliche als auch frühneuzeitliche Züge aufweist, zu verstehen? Und weiter: Schließt die Reformation das Konzil aus? Wenn ja, geht die Synodaldimension der Kirche bei den Reformatoren dadurch vollkommen verloren, oder wird sie dogmatisch anders verankert? Man denke nur an das „historische Paradox“, das darin besteht, im Synodalprinzip keine Chance, sondern eine Gefahr für die Verwirklichung des allgemeinen Priestertums zu sehen, da man „zunächst in der [spätmittelalterlichen] Vorstellung der Amtsträgersynode befangen“ blieb (man hatte noch das für die Verfechter einer Kirchenreform erfolglose Beispiel des V. Laterankonzils 1512–1517 vor Augen) und dadurch die Möglichkeit verkannte, „über die Synoden dem allgemeinen Priestertum kirchenverfassungsrechtlich zum Ausdruck zu verhelfen“.8 Diesen Fragen geht eine 2012 an der Fondazione per le scienze religiose Bologna eingereichte Promotionsschrift zu Synoden und Synodalität in der Reformationskirchen nach, worin untersucht wird, wie sich das synodale Element der Kirche nach dem reformatorischen Bruch in institutionellen Gefügen und theologischer Reflexion niederschlug.9 Sie soll als Begleiter zum 6. und 7. Band der Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta (COGD) erscheinen, in dem die

6 7

8

9

Vgl. Vincentius Lerinensis: Commonitorium, in: CCSL 64, S. 145–195, hier: Kap. II, §§ 5–6, S. 149. WA 2, S. 391–435 (Resolutiones Lutherianiae super propositionibus Lipsiae disputatis, 1519), hier: 406, 22–26: „Non enim patiar ulla ratione maiorem partem ecclesiae haereticam fieri propter Constantiense concilium, quod errasse palam est. […] Sunt et multi alii articuli Huss verissimi ibidem damnati […].“ Hierzu Hans-Peter Großhans: „Die Synoden in den lutherischen Kirchen“, in: Cristianesimo nella storia 32 (2011), S. 1037–1054, hier: 1046f. Heinz Ohme: „Die Bedeutung der ökumenischen Konzile in der Sicht Martin Luthers“, in: Annuarium Historiae Conciliorum 40,1 (2008), S. 195–212, hier: 195f. Hermann Josef Sieben: Die katholische Konzilsidee von der Reformation bis zur Aufklärung. Paderborn u.a. 1988, S. 13–51, insbes. 16–18. Zum Thema vgl. auch Spehr: Luther, S. 167–175. Walter Dietz: „Synodalität nach evangelischem Verständnis“, in: Christoph Böttingheimer und Johannes Hofmann (Hg.): Autorität und Synodalität. Eine interdisziplinäre und interkonfessionelle Umschau nach ökumenischen Chancen und ekklesiologischen Desideraten. Frankfurt am Main 2008, S. 191–219, hier: 194–197. Thomas Barth: Elemente und Typen landeskirchlicher Leitung. Tübingen 1995, S. 22. Vgl. Patrizio Foresta: Sinodi e sinodalità nelle chiese della Riforma (1523–1653). Promotionsschrift. Bologna 2012.

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

135

wichtigsten Kirchenversammlungen der Reformationskirchen von den 1520er Jahren bis 2010 herausgegeben werden.10 Was jedoch den Jenaer Theologen Johann Gerhard betrifft, so ist nach der theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung zwischen ihm und Roberto Bellarmin zu fragen, indem Martin Honeckers Aufsatz zur Kirchengliedschaft bei den zwei Theologen aufgegriffen und seine Überlegungen durch die Analyse anderer kirchenpolitisch relevanter loci theologici wie de ecclesia und de conciliis um weitere Elemente ergänzt werden, wenngleich vorab gesagt werden muss, dass in Gerhards Loci theologici eine systematische Darstellung der Konzilien fehlt.11 Gegenstand des vorliegenden Beitrages ist also der locus theologicus „Konzil“ im Rahmen der überkonfessionellen Dogmatik von zwei herausragenden Theologen jenes Zeitalters. 2. KONZILIENGESCHICHTE ALS KAMPFMITTEL KONFESSIONELLER POLEMIK Laut Franco Motta, der 2005 eine umfassende Monographie zu Bellarmins politischer Theologie veröffentlicht hat, stellt der Jesuit die „offensichtlichste Symptomatik“ der Gegenreformation dar: Das sei etwa darin ersichtlich, dass er auf der sichtbaren und hierarchischen Natur der Kirche beharre, oder aber dass er die politische Seite der religiösen Praxis bevorzuge.12 Seine Disputationes de controversiis bilden „mit einigem Abstand das wichtigste Werk der Kontroverstheologie des 17. Jahrhunderts“, da kein dogmatisches Werk so oft gedruckt und übersetzt wurde.13 Johann Gerhard war seinerseits, so das bekannte Diktum Jacques Bénigne Bossuets, der „dritte Mann der Reformation nach Luther und Chemnitz“, ein „Kirchenvater“ und der „gelehrteste und bekannteste Vertreter der lutherischen 10 Bereits erschienen sind Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta. Edidit Istituto per le scienze religiose Bologna. Vol. I: The Oecumenical Councils. From Nicaea I to Nicaea II (325-787). Turnhout 2007. Vol. III: The Oecumenical Councils of the Roman Catholic Church. From Trent to Vatican II (1545-1965). Turnhout 2010. The General Councils of Latin Christendom. Two Tomes. Tom. 1: From Constantinople IV to Pavia Siena (869–1424). Tom. 2: From Basel to Lateran V (1431–1517). Turnhout 2013. 11 Martin Honecker: „Die Kirchengliedschaft bei Johann Gerhard und Robert Bellarmin“, in: ZThK 62 (1965), S. 21–45. Vgl. auch Honeckers Monographie zu Johann Gerhard: Cura religionis magistratus christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts insbesondere bei Johann Gerhard. München 1967. 12 Franco Motta: Bellarmino. Una teologia politica della Controriforma. Brescia 2005, S. 8–9. Ders.: „La voce dell’errore. Eresia e controversia di fede nell’età del conflitto religioso europeo“, in: Storicamente. Laboratorio di storia 1 (2015). URL: www.storicamente.org/1Motta.htm [letzter Zugriff: 18.07.2016]. 13 Wilhelm Schmidt-Biggemann: „Die katholische Tradition: Bellarmins biblische Hermeneutik“, in: Ders.: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Anja Hallacker und Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 53–78, hier: 59. Zu den zahlreichen Auflagen der Disputationes de controversiis siehe Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. 12 Bände. Brüssel und Paris 1890–1932 (Nachdruck Héverlé-Louvain 1960), hier: Bd. I, Nr. 8, Sp. 1156–1180.

136

Patrizio Foresta

Orthodoxie“, so Martin Honecker.14 Er reiht sich unter anderem auch in die kaum überschaubare Anzahl derer ein, die Bellarmins Theologie allenthalben in ganz Europa heftig bekämpften und zu widerlegen versuchten. Umso interessanter kann daher der Versuch sein, einen Dialog zwischen diesen Hauptfiguren der frühneuzeitlichen Theologie über einen zentralen Punkt der christlichen Ekklesiologie wie die Konzilienlehre zu inszenieren. Selbstverständlich wird hier keine vollständige Untersuchung ihres gewaltigen Schaffens angestrebt, sondern man sollte sich auf einen eng umgrenzten, wenngleich bedeutsamen Ausschnitt aus ihren Überlegungen konzentrieren, und dies überwiegend anhand zweier kontroverstheologischer und dogmatischer Werke beider Theologen: die Loci theologici Gerhards und die bereits erwähnten Disputationes de controversiis Bellarmins.15 Ziel dieses Beitrags ist es, ihre Konzilienlehre aus den zwei Werken zu rekonstruieren und zu ersten vorläufigen Ergebnissen zu gelangen. Gerhards spätere Lehre vom Konzil, die er in seiner Confessio catholica dargelegt hat, so wie seine Überlegungen zu einer typisch landesherrlichen Einrichtung wie den Landessynoden können hier leider nicht behandelt werden, obgleich ihre eingehende Analyse an anderer Stelle erfolgen wird.16 Honecker weist in seinem Aufsatz zu Recht darauf hin, dass ein Thema wie die Kirchengliedschaft nicht getrennt von jenem der Kirchenlehre zu behandeln ist, denn wenn die erste „für sich allein betrachtet […] unergiebig und peripher“ ist, so kann sie für die zweite nur insofern „von Bedeutung“ sein, als sie das beiden zugrundeliegende Kirchenverständnis zu erhellen vermag.17 Das konfessionelle Zeitalter bietet sich sozusagen als ein hervorragendes Studienlabor an, um konkurrierende Kirchenauffassungen an zwei historisch-dogmatisch zentralen Punkten wie De ecclesia und De conciliis miteinander zu vergleichen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Kirchenlehre wohl das umfangreichste Thema von Bellarmins Disputationes de controversiis ist. Umso weniger 14 Martin Honecker: Art. „Gerhard, Johann (1582–1637)“, in: TRE 12 (1984), S. 448–453, hier: 448,20–22. Zu Gerhard vgl. Johann Anselm Steiger: „Johann Gerhard. Ein Kirchenvater der lutherischen Orthodoxie“, in: Peter Walter und Martin H. Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Darmstadt 2003, S. 54–69. Ders.: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. 15 Vgl. Johann Gerhard: Loci theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati. 9 Bände. Jena 1610–1622. Zitiert nach der Ausgabe von Eduard Preuss. Berlin 1863–1875, hier: Bd. V, Berlin 1867. Robert Bellarmin: Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos. 3 Bände. Ingolstadt 1586–1593. Der erste Band wird nach der Ausgabe Ingolstadt 1587 zitiert. 16 Johannes Gerhard: Confessionis catholicae, in qua doctrina catholica et evangelica, quam ecclesiae Augustanae confessioni addictae profitentur, ex Romano-catholicorum scriptorum suffragiis confirmatur […] liber I [pars generalis] & libri II [pars specialis prima & secunda]. 2 Bände in vier Teilen. Jena 1634–1637, hier: lib. II, art. IV, De conciliis, S. 965–1058. Dazu demnächst Foresta: Sinodi e sinodalità. Zu Gerhards Synodenlehre vgl. Johann Anselm Steiger: „Kirchenordnung, Visitation und Alltag. Johann Gerhard (1582–1637) als Visitator und kirchenordnender Theologe“, in: ZRGG 55 (2003), S. 227–252. 17 Honecker: „Kirchengliedschaft“, S. 22.

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

137

erstaunt es, festzustellen, wie viel Platz der locus de ecclesia in Gerhards Werk einnimmt, wenn man seine scharfe und scharfsinnige Auseinandersetzung mit Bellarmins Kirchenhermeneutik betrachtet. Unzählig sind die Fragen, die aus den theologisch gewichtigen Druckseiten heraustreten; hier können nur einige davon angesprochen werden, die dem Schwerpunkt dieses Beitrags näher liegen: Soll die Kirche juridisch oder pneumatologisch (etwa im Sinne von Recht contra Geist, Institution contra Charisma, um die Terminologie Rudolph Sohms in diesem Zusammenhang anzuwenden) begriffen werden?18 Welche Gestalt soll sie annehmen, um die wahre Kirche Gottes und somit dem Evangelium treu zu sein? Welche Rollen spielen dabei die Kirchenversammlungen theologisch und kirchengeschichtlich? Und davon abhängig: Ist das Wesen der Kirche von der zum Feiern der Eucharistie versammelten Gemeinde her zu verstehen und, wenn ja, in welcher theologischen und kirchengeschichtlichen Grammatik artikuliert sich dies, etwa im Hinblick auf das synodale Leben der Kirche?19 Wer übt schließlich die höchste Autorität in der Kirche aus, in welcher Form und durch welche Mittel? Hierbei ist allerdings notwendig, der Analyse der heranzuziehenden loci eine kursorische Einführung in die gegenreformatorische Kirchenlehre voranzustellen, zumal sie von wichtigen Mitgliedern des Jesuitenordens entscheidend beeinflusst wurde. Laut Yves Congar, dem bedeutendsten katholischen Ekklesiologen des vergangenen Jahrhunderts, erneuerte die geistige Erfahrung des Ignatius von Loyola „den katholischen Kirchensinn“, indem er die Kräfte der Mystik wieder in den Dienst der streitenden, d. h. sichtbaren und hierarchischen Kirche gestellt habe. Ignatius soll gar den Ausdruck „hierarchische Kirche“ in der ersten seiner Regulae ad sentiendum cum Ecclesia geschaffen haben: Die „rechtgläubige, katholische und hierarchische Kirche“ sei die „wahre Braut Christi“ und „unsere heilige Mutter“, so Ignatius.20 Die berüchtigte 13. Regel geht noch darüber hinaus: Zwischen Christus, dem Bräutigam, und der Kirche, der Braut, besteht der gleiche Geist, der die Christen leitet und zu ihrem Seelenheil lenkt, so wie die Kirche durch den gleichen Geist und den Herrn, der die zehn Gebote gegeben hat, geleitet und gelenkt wird.21 Demzufolge sieht Congar in Ignatius’ Auffassung weder einen Widerspruch noch eine Diskrepanz zwischen dem geistlichen Wesen der Kirche 18 Rudolph Sohm: Kirchenrecht. Unveränderter Nachdruck der 1923 erschienenen 2. Auflage. 2 Bände. Berlin 1970, hier: Bd. I, Die geschichtlichen Grundlagen, S. X: „Aber diese Welt des Geistlichen kann nicht mit juristischen Begriffen erfaßt werden. Noch mehr, ihr Wesen steht zu dem Wesen des Rechtes im Gegensatz. Das geistliche Wesen der Kirche schließt jegliche Rechtsordnung aus. Im Widerspruch mit dem Wesen der Kirche ist es zur Ausbildung von Kirchenrecht gekommen“. Vgl. dazu Yves Congar, „R. Sohm nous interroge encore“, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 57 (1973), S. 263–294. 19 Vgl. Giuseppe Alberigo: „Sinodo come liturgia? “, in: Cristianesimo nella storia 28 (2007), S. 1–40, hier: 38. Peter Hünermann: „Synodalität der Kirche – Grammatik des Glaubens: Reflexionen zur Frage Charismen und gläubige Identität“, in: Cristianesimo nella storia 32 (2011), S. 843–874. 20 Yves Congar: L’Église. De saint Augustin à l’époque moderne. Paris 1997, S. 369. Ignatius von Loyola: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übersetzt von Peter Knauer. Würzburg 1998, hier: Geistliche Übungen (nach dem Vulgatatext), Nr. 353, S. 262f. 21 Vgl. Loyola: Gründungstexte, hier: geistliche Übungen, Nr. 365, S. 265f.

138

Patrizio Foresta

und deren hierarchischer Verfassung. Vielmehr kann man hier, so Hugo Rahner, von einer „Dialektik von Geist und Kirche in der Theologie von Ignatius“ bzw. von der „Dialektik der Wahl in den Exerzitien“ sprechen: auf der einen Seite offen zu stehen für den einen, einmaligen Anruf Gottes, so Rahner, und auf der anderen Seite mit dem gleichem Ohr zu horchen auf die Stimme der hierarchischen Kirche, wobei der Geist der Innerlichkeit und der Geist der hierarchischen Kirche letztlich der gleiche seien.22 Folgt man Congars Gedankengang, so steht die gegenreformatorische Kirchenlehre gewissermaßen im Zeichen des Ignatius und seiner Mitbrüder, denn sie erfährt ihren Höhepunkt genau in Bellarmins Disputationes de controversiis. Das Anliegen des Jesuiten ist laut Congar von der Sorge beherrscht, gegen Pelagius, Novatian, Donatus, John Wyclif, Jan Hus, die Anhänger des Augsburger Bekenntnisses, das er die „häretische Lehre der Glaubensgenossen“ („Quarta [haeretica sententia] est Confessionistarum“) nennt, und Jean Calvin bestimmen zu können,23 wo und welche die wahre und sichtbare Kirche Gottes ist. Es geht bei Bellarmin so weit, dass er Christus nicht so sehr als Gnadenschöpfer betrachtet, sondern als Stifter einer Gesellschaft, an deren Haupt er seinen Vikar gestellt habe, so Congar. Daher die berühmte Definition der Kirche als eine „Versammlung von Menschen, die durch das christliche Glaubensbekenntnis und die Anteilhabe an denselben Sakramenten verbunden ist und unter der Leitung der rechtmäßigen Hirten und vor allem des römischen Pontifex, einziger Vikar Christi auf Erden, steht“.24 Es verwundert also nicht, dass Bellarmin die „sichtbare und betastbare“ Kirche mit dem römischen Volk, dem Königreich Frankreich oder der venezianischen Republik vergleichen konnte.25 Honecker stellt Bellarmins „juridisch-soziologischem Kirchenverständnis“, zu dem seiner Auslegung nach „das forensische Glaubensbekenntnis, die sichtbare Sakramentsgemeinschaft, die juristische Anerkennung des Papstes“ gehören, das Kirchenverständnis Johann Gerhards entgegen. Dieses sei durch eine „grundsätzliche Differenz“ gekennzeichnet, die aus Gerhards Kirchenbegriff selbst hervorgehe, da für ihn die Unterscheidung von ecclesia visibilis, der „äußeren Gesellschaft des Wortes und der Sakramente“ („externa societas verbi et sacramentorum“), und ecclesia invisibilis, der „Gemeinschaft der Heiligen“ („communio sanctorum“), unaufgebbar sei; Bellarmins Kirchenbegriff fehle also die wesenhafte „Dimension des Glaubens“. Gerade hiervon leitet sich die eben angesprochene „grundsätzliche Differenz“ her: Die Kirche sei für Gerhard kein juristisch fassba22 Hugo Rahner: Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe. Freiburg im Breisgau u.a. 1964, S. 376–377. Zuerst veröffentlicht in: ders., „Geist und Kirche. Ein Kapitel aus der Theologie des hl. Ignatius von Loyola“, in: Geist und Leben 31 (1958), S. 117–131. 23 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. III, c. II, S. 181–184, hier: 182,17–20. 24 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. III, c. II, S. 184,11–16: „Nostra autem sententia est, Ecclesiam unam tantum esse, non duas, & illa unam & veram esse coetum hominum eiusdem Christianae fidei professione, & eorundem Sacramentorum communione colligatum, sub regimine legitimorum pastorum, ac praecipue unius Christi in terris Vicarii Romani Pontificis.“ Vgl. hierzu Congar: Église, S. 372. 25 Congar: Église, S. 373.

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

139

rer, soziologisch abzugrenzender Verband, sondern Gegenstand des Glaubens, wobei die divergierenden Kirchenbegriffe letztlich auf den konfessionstrennenden Punkt schlechthin zurückzuführen seien, die Rechtfertigungslehre.26 Es sei dahingestellt, ob Honeckers Auslegung Bellarmins Theologie wirklich gerecht wird, etwa wenn er Gerhard folgend dem Jesuiten den Verzicht auf den Glauben als Bedingung der Kirchenzugehörigkeit zuschreibt,27 nahm doch das Glaubensbekenntnis die erste Stelle in Bellarmins Kirchendefinition ein, wobei es sich nicht so sehr um keine, sondern eher um andere Glaubensinhalte handelte, die sich in verschiedenen Glaubensbekenntnissen der Zeit niederschlugen. Die markante Gegenüberstellung ermöglicht jedoch eine klare Positionierung, die zur Analyse weiterer Streitthemen dienen kann. Aus dem kaum zu bewältigenden Untersuchungsstoff kann daher das Hauptthema dieses Beitrags gewählt werden, der eine erste und vorläufige Antwort auf die aus diesem theologischen Ferndisput resultierenden Fragen sein möchte. Wie wird die Konzilienlehre in den zwei Werken behandelt? Bellarmin nimmt unter anderem deshalb eine hervorragende Stellung in der Kirchengeschichtsschreibung zu den Konzilien ein, weil die heutige katholische Konzilienliste im Wesentlichen auf die Zählung, die er in den Disputationes de controversiis darbietet, zurückzuführen ist.28 Dies legt ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, wie erfolgreich seine Konzilstheorie war. Er fasst die Konzilien als eine der kirchlichen Autoritäten auf, die dem Petrusamt „zur guten Leitung der Kirche“ („ad bonam gubernationem Ecclesiae“) zugeordnet sind, obschon sie nicht als „unbedingt“ („absolute“), sondern „im Allgemeinen“ („omnino“), in der späteren Ausgabe Venedig 1721–1729 dann als „einfach“ bzw. „ohne weitere Qualifikation“ („simpliciter“) notwendig angesehen werden.29 Auf seinen Vergleich zwischen Kirche und Staat zurückgreifend, bestimmt Bellarmin die Aufgabe der Konzilien, indem er die Ähnlichkeiten von societas politica und societas ecclesiastica unterstreicht: Mit dem Wort Konzil meint man in der Kirche das, was man in den Königtümern mit dem Wort Versammlung meint; gleich wie die Fürsten und Magistrate zusammenkommen und beschließen, was zu tun ist, so versammeln sich die Bischöfe, wenn irgendeine Streitfrage zur Religion aufkommt, und, nachdem ihre Meinungen zusammengetragen sind, beschließen sie, was gut ist.30 Diese Position ist aus Bellarmins Sicht durchaus verständlich, da er die Stellung des Tridentinums sowohl gegen die Protestanten als auch gegen den letzten Widerstand des katholischen Konziliarismus zu verteidigen trachtete, indem er dem Konstanzer und dem Basler Konzil, die er in die „teils bestätigten, teils ver26 Honecker: „Kirchengliedschaft“, S. 24–26. Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Lc. XXII, c. VI, Nr. 51, S. 291f., mit direktem Bezug auf CA VII. 27 Vgl. Honecker: „Kirchengliedschaft“, S. 29. 28 Vgl. Alberto Melloni: „Concili, ecumenicità e storia. Note di discussione“, in: Cristianesimo nella storia 28 (2007), S. 509–542. 29 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. XI, S. 48; Ausgabe Venedig 1721–1729, Bd. II., S. 7. Vgl. hierzu Thomas Dietrich: Die Theologie der Kirche bei Robert Bellarmin 1542– 1621. Systematische Voraussetzungen des Kontroverstheologen. Paderborn 1999, S. 347. 30 Vgl. Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. III, S. 22,35–23,4.

140

Patrizio Foresta

worfenen Konzilien“ („concilia partim confirmata, partim reprobata“) einreihte, ihre Gültigkeit bis auf die Beschlüsse, die jeweils von Martin V. und Nikolaus V. gebilligt wurden, aberkannte.31 Dies lässt sich dadurch erklären, dass für Bellarmin der Rekurs auf den Papst in der Kirche nicht nur de facto, sondern auch de iure erfolgen muss; deswegen ist der Jesuit immer bemüht, die besondere Stellung des römischen Bischofs herauszustreichen.32 Bezeichnenderweise reiht Bellarmin das „Wittenberger Konzil, das die Lutheraner allgemein nennen“ („Concilium Wittembergense, quod Lutherani generale vocant“), womit er eigentlich die Wittenberger Konkordie von 1536 meint, in die „allgemeinen Konzilien, die verworfen wurden“ („concilia generalia reprobata“), ein.33 Laut Bellarmin stammt der Begriff ecclesia vom griechischen Verb ἐκκαλέω ab, das evoco, „herausrufen“ heißt; daher sei die Kirche „evocatio, sive coetus vocatorum“, eine Zusammenkunft derjenigen, die sich doch nicht aus eigenem Antrieb versammelten, sondern Gottes vorhergehendem Ruf folgten.34 Thomas Dietrich hat Bellarmins Definition der Kirche als „evocatio Christi“ zusammengefasst: Christus ist Herr der Kirche, deren „Fürst“ („princeps“) und „Anfang“ („principium“), so dass „das Königtum Christi als Wurzel und Ursprung der monarchischen Leitung der Kirche“ immer einbezogen ist.35 Aus diesem christologischen Grundsatz heraus entwickelt Bellarmin sein Verständnis der Kirche als gemäßigter Monarchie, in welcher freilich das monarchische Element deutlich hervortritt, da „die monarchische Verfassung der Kirche […] in aristotelischer Tradition als formgebende Größe der Kirche“ verstanden wird;36 die Leitungsgewalt des Papstes gründet ihrerseits auf die Vollgewalt Christi, der seinem Vikar die irdische Kirche anvertraut hat.37 Was insbesondere die äußerliche Verfassung der Kirche angeht, kann man auf zweierlei Weise erfassen: Zum einen kann sie als „auf den Konzilien versammelt“ („in Conciliis congregata“), zum anderen als „auf der ganzen Welt verbreitet“ („toto orbe terrarum diffusa“) betrachtet werden.38 Dies erklärt auch noch die Reihenfolge der vierten Controversia, die zuerst die Konzilien und dann die Kirche behandelt. Die Controversia zu den Konzilien ist in Bellarmins Auffassung umso dringender, als die „Häretiker dieser Zeit eine neue Konzilienform ersonnen haben, und den Konzilien beinahe keine Autorität zumessen“.39 Wie lautet die Antwort eines prominenten Vertreters der lutherischen Hochorthodoxie auf derartige kontroverstheologische Positionen? Eine systematische 31 Die 18 von Bellarmin als „confirmata“ anerkannten Konzilien sind aufgelistet in Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. V, S. 25–34: Zum Constantiense und Basileense vgl. ebd.: cap. VIII, S. 38f. Siehe dazu Melloni: „Concili, ecumenicità e storia“, S. 516–518. 32 Vgl. Dietrich: Theologie, S. 347. 33 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. VI, S. 36,34–39. 34 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. III, c. I, S. 180,13–18. 35 Dietrich: Theologie, S. 282. 36 Dietrich: Theologie, S. 276 und 282. 37 Dietrich: Theologie, S. 279. 38 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. I, S. 21,12–15. 39 Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. I, S. 21,23–25: „[…] Haeretici enim huius temporis fingunt novam formam Conciliorum, & iis deinde nullam fere tribuunt auctoritatem.“

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

141

Darstellung von Gerhards Lehre zu den Konzilien, geschweige denn zur Kirche, würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen, denn er trägt seine Auseinandersetzung mit Bellarmins Kirchen- und Konzilienlehre so gut wie auf jeder Seite seiner Abhandlung zur Kirche im 22. locus de ecclesia aus, und insbesondere im umfangreichen 11. Kapitel, namens De notis Ecclesiae a Bellarmino assegnatis in specie.40 Deshalb werden hier einige Beispiele herangezogen, die nur einen geringen Teil der Auseinandersetzung widerspiegeln und trotzdem Gerhards durchgehenden Rekurs auf die Disputationes de controversiis deutlich zeigen können. Zusammenfassend kann vorläufig angemerkt werden, dass die meisten Okkurrenzen der Stichwörter synodus bzw. concilium samt ihren flektierten Formen in den folgenden Textabschnitten des locus XXII de ecclesia begegnen: im caput octavum und im caput nonum, jeweils zur Frage, ob die Kirche vom Glauben abfallen oder irren könne („an ecclesia possit deficere, an ecclesia possit errare“, S. 322–345, 345–369); in der sectio sexta zum Einklang bzw. zur Übereinstimung in Fragen der Lehre mit der Alten Kirche („de consensu in doctrina cum ecclesia antiqua“, S. 453–488); in der sectio septima zur Einheit der Glieder untereinander und mit dem Haupt („de unione membrorum inter se et cum capite“, S. 488–509). Die letzten zwei Abschnitte befinden sich im caput undecimum. In Gerhards Ausführungen übernehmen die Konzilien zunächst eine herkömmlich apologetische Funktion, etwa im Falle des Konzils von Nicäa 325, das in der sectio sexta des 11. Kapitels zum „Konsens“ („consensus“) bzw. zur „lehrmäßigen Übereinstimmung mit der Alten Kirche“ („conspiratio in doctrina cum ecclesia antiqua“) zitiert wird. Die sectio sexta der Loci theologici entspricht der nota sexta der Disputationes de controversiis.41 Gerhard behandelt hier Bellarmins Auslegung der nota ecclesiae betreffs der lehrmäßigen Übereinstimmung mit der Alten Kirche. Er verwendet ein historisches Beispiel, das ihm zu zeigen vermag, dass „die evangelischen Kirchen durch die Blutsverwandtschaft in der Lehre mit der Alten Kirche, die dem apostolischen Zeitalter ganz nah war, in Verbindung stehen“,42 und folglich kann er dadurch den Häresievorwurf abwenden. Einen sehr deutlichen Beweis dafür liefert das Augsburger Bekenntnis selbst, und zwar ganz am Anfang, wenn es im ersten Kapitel heißt: „Die Gemeinden lehren bei uns in voller Übereinstimmung, dass der Beschluss des Konzils von Nicäa [zu hypostatischer Union und Trinitätslehre] […] wahr ist und ohne jede Einwendung geglaubt werden muss“.43 An anderer Stelle jedoch zieht Gerhard das Nizänum in

40 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, S. 254–602, insbes. 389–601. 41 Gerhard bezieht sich in Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VI, S. 453–488, auf Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. IV, c. IX, S. 296–310. 42 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VI, S. 460: „Nam ecclesiae evangelicae consanguinitate doctrinae cum veteri ecclesia apostolorum temporibus proxima sint conjunctae“. 43 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VI, S. 465–466: „Respondemus: 1. ab Arianismi crimine liberat nos articulus primus Augustanae confessionis: Ecclesiae magno consensu apud nos docent, decretum synodi Nicaenae de unitate essentiae divinae et humanae et de tribus personis verum et sine ulla dubitatione credendum esse“.

142

Patrizio Foresta

der Eucharistiefrage in Zweifel, da es nicht in der „Zeit der apostolischen Kirche“ („vetustissimum tempus ecclesiae“) stattfand.44 Die Konzilien treten in Gerhards Werk immer wieder als Streitargument auf, wenngleich sie oft nicht unmittelbar, sondern eher mittelbar behandelt werden. Ihm sind offensichtlich die Glaubensinhalte, die historisch auch in Konzilsbeschlüssen überliefert sind, viel wichtiger als die synodale Form, im Rahmen derer ebendiese Beschlüsse gefasst wurden. Wahrscheinlich auch deshalb sieht er keinen expliziten locus de conciliis in seinen Loci theologici vor, sieht man vom 123. Unterkapitel zur ecclesia repraesentativa bzw. zu den auf den Konzilien versammelten Bischöfen („episcopos in conciliis congregatos“) ab,45 obschon die Kirchenversammlungen gehäuft auftreten. Die sectio tertia des 11. Kapitels beschäftigt sich mit Verweis auf Disputationes de controversiis IV, 4, 6, mit der Frage der Fortdauer der Kirche („duratione scilicet diuturna“). Gerhard kontert Bellarmins Position, die Häretiker könnten nicht behaupten, dass es zu den Zeiten Gregors des Großen einen „Religionswechsel in der römischen Kirche“ gegeben habe („factam esse mutationem religionis in Ecclesia romana tempore S. Gregorij“), mit dem Argument, dass es einen solchen Wechsel doch gegeben habe: Dies sei auch daran ersichtlich, was jeder Papst gestiftet habe und welches Dogma von den Konzilien festgelegt worden sei. Damit meint Gerhard wohl die zuerst auf dem IV. Laterankonzil 1215 und dann auf dem Tridentinum 1551 festgeschriebene katholische Transsubstantiationslehre.46 In seiner theologiegeschichtlichen Rekonstruktion sind also die Konzilien ein Zeichen dafür, wie die römische Kirche nach zahlreichen Abänderungen und Erneuerungen zum jetzigen Lehrzustand gelangt sei („ad illum statum post varias mutationes ac innovationes perventum sit“), der jenem der apostolischen Kirche widerspreche.47 Gerhards Aussage wird in der sectio secunda zur antiquitas bzw. Beständigkeit und Unveränderlichkeit der Kirche („de antiquitate ecclesiae“), die sich auf Disputationes de controversiis IV, 4, 5, bezieht, durch ein weiteres Argument bekräftigt: Während die Lehre zu den Zeiten Gregors des Großen noch „rein“ und „unversehrt“ gewesen sei, habe man sich im Laufe der Zeit von der ursprünglichen Ehrlichkeit abgewandt. Bellarmins Einwand, es hätten keine Konzilien gegen die römische Kirche stattgefunden, will Gerhard mit der Bemerkung entschärft haben, dass es doch einige gegeben habe, wie nicht zuletzt das karolingische Frankfurter Konzil 794 gegen die Bilderverehrung.48 Überdies hält Gerhard an dem fest, was später consensus antiquitatis bzw. consensus quinquesaecularis genannt werden wird, da die Alte Kirche während der ersten fünf Jahrhunderte die wahre apostolische Kirche gewesen sei und die apostolische Lehre vertreten habe 44 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXI, c. XVII, S. 193. 45 Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. IX, S. 364–365. Hierzu Honecker: Cura religionis, S. 168–171. 46 Vgl. Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta, Bd. II/1, Constitutio I, S. 163–164, hier: 164. Ebd., Bd. III, Sessio XIII, cap. IV, De transubstantiatione, S. 53. 47 Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. III, S. 413. 48 Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. II, S. 409.

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

143

(„certum quidem est, antiquam ecclesiam primis quingentis annis veram ecclesiam fuisse et apostolicam doctrinam tenuisse“), merkt jedoch auch an, dass der apostolischen Lehre die menschlichen Traditionen und Meinungen allmählich beigemischt wurden.49 Auf der anderen Seite stützt sich Gerhards Aussage, dass viele der „papistischen Glaubensdogmen“ wie etwa die Superiorität des Papstes über das Konzil „dank der Zustimmung der Väter entlarvt wurden“ („multa fidei papisticae dogmata assensu veterum patrum […] destitui“), genau auf den consensus quinquesaecularis.50 Schließlich will er zeigen, dass die Anhänger des Augsburger Bekenntnisses nach der im echten und wahren Sinne verstandenen Glaubensregel keine Häretiker und des Namens „Christen“ würdig seien, denn niemals hätten sie sich von der „heilsamen und apostolischen Lehre“ getrennt, obwohl sie der Definition des Papstes zufolge durchaus Häretiker seien. Die katholische Lehre widersetze sich der Häresie und beinhalte die echte Glaubensregel, die in der Novelle 115 des Corpus Iuris Civilis, § Si quis, als diejenige definiert wird, die die vier heiligen Konzilien (Nizäa I, Konstantinopel I, Ephesus und Chalkedon) umfasst.51 An anderer Stelle hebt Gerhard nur die Schrift als alleinige, unveränderte und angemessene Glaubensregel („unica, immota, et adaequata“) hervor, wonach man die Dogmen annehmen, die ihr entsprechen, und diejenigen verwerfen soll, die ihr nicht entsprechen. Ihre Gültigkeit werde nicht dadurch verringert, dass sich die Häretiker ihr nicht unterwürfen. Da sie sich auch weder dem Papst noch dem Konzil unterwürfen, könnten diese beiden Institutionen keine bessere Glaubensregel als die Heilige Schrift bieten, im Gegenteil: Die Meinung des Papstes, sei sie innerhalb oder außerhalb des Konzils ausgesprochen worden, sei eine ordnungswidrige, ungewisse und falsche Glaubensregel („irregularis, incerta et falsa sit ista regula“).52 Schließlich soll hier ein letzter Passus präsentiert werden, in welchem Gerhard Bellarmins Auslegung der für die Konzilientheorie klassischen Bibelstelle Mt 18, 20 („Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“) aufgreift. Eine solche Zusammenkunft, schreibt Gerhard, ist wahrlich Kirche, denn sie versammelt sich im Namen Christi. Bellarmin hatte in den Disputationes de controversiis diesem Passus entnommen, dass die Konzilien göttlichen Rechts seien, weil sie von Christus gestiftet worden seien. Daraus folgert Bellarmin, dass die Apostel, die laut Apg 15, 1–29 in Jerusalem zusammentrafen und dort das erste Konzil versammelten, es durch die Eingebung des Heiligen Geistes getan hätten. Die Abhaltung eines Konzils leite sich also von der apostolischen Tradition her, die keine menschliche Erfindung sei; dies alles über49 Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VI, S. 454. 50 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VI, S. 459: „Papam esse supra concilium dicimus esse novitatem ante paucos annos in ecclesia primum audita.“ 51 Vgl. Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. I, S. 399: „[Regula fidei incorrupta], quae quatuor sancta concilia, Nicaenum, Constantinopolitatum, Ephesinum primum et Chalcedonense amplectitur.“ Der Passus verweist auf die Stelle des Corpus Iuris Civilis, Nov. 115, 3, 14. Hrsg. von Rudolph Schoell und Wilhelm Kroll. Berlin 1863, S. 541. 52 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. XI, sec. VII, S. 507, mit Verweis auf Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. II, c. XIX.

144

Patrizio Foresta

trage sich dann auf die Nachfolger der Apostel, die Bischöfe. Gerhard hingegen unterstreicht die Gegenwart und Beiwohnung Christi in der Versammlung derjenigen, die auf seine Stimme hören, und in welcher die Stimme Gottes ertönt. Nirgendwo rede der Passus Mt 18, 20, so Gerhard, von der bischöflichen Nachfolge, von deren Notwendigkeit Bellarmin nur träume, damit eine Versammlung im Namen Christi zusammenkomme. Ganz im Gegenteil hätten Konzilien, so Gerhards Erwiderung, von in der ordentlichen Nachfolge stehenden Bischöfen stattgefunden, die gegen Christus und die Wahrheit waren: Diejenigen, die nicht auf die Stimme Christi hörten, könnten sich nicht in Seinem Namen versammeln.53 3. ZUSAMMENFASSUNG Der Anspruch seitens Bellarmins, ein Glied der einzig wahren und apostolischen Kirche zu sein, provozierte selbstverständlich einen heftigen theologischen Widerspruch gerade in einer Frage, die in ekklesiologischer Hinsicht entscheidend war. Gerhards scholastisch aufgebaute und detailliert ausgearbeitete Antwort zeugt anschaulich davon, dass es hierbei um „Wahrheit, Wissen und Lehre“ in einer theologisch herben Auseinandersetzung ging. Gleichwohl setzte diese gewisse „Bedingungen der Möglichkeit theologischen Streitens“ voraus und implizierte „Regeln und Verfahrensformen theologischen Streits und deren Umsetzung in der Kommunikationspraxis der gegenüberstehenden Kontrahenten“, wodurch man erklären kann, nicht nur und prinzipiell worüber, sondern auch „warum man sich streitet, warum man so streitet, wie man streitet, und warum man sich im Streit so geäußert hat, wie man sich geäußert hat“.54 Natürlich geht es hier auch um ein sich durch die theologische und konfessionsgefärbte Auseinandersetzung mit dem Anderen ausbildendes Selbstverständnis. Ohne die persönliche Leistung der zwei mitbeteiligten Gelehrten schmälern zu wollen, muss man allerdings hinzufügen, dass es sich keineswegs um ein individuell freies, sondern um ein typisch-topologisches Agieren handelt, das in das kommunikative Gefüge eingebunden ist. Ebendieses Kommunikationsgefüge umfasst den spezifischen Umgang der Gelehrten miteinander, den spezifischen Umgang mit Wahrheit und Wissen und die nötigen Instrumente hierzu. Man kann also eine „Typik der Kommunikationsverläufe“ und zugleich eine Topik beobachten, also ein topologisches Wissen, das seine „Fragestellungen, Argumente, Schwerpunkte und inneren Gliederungen“ aus dem „Vorratsmagazin“ des menschlichen und in diesem Fall insbesondere des historisch-theologischen Wissens schöpft.55 Wie aus den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden ist, 53 Gerhard: Loci theologici V, Loc. XXII, c. X, S. 373, mit Verweis auf Bellarmin: Disputationes I, contr. IV, l. I, c. III, S. 22f. 54 Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Anfang des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 11. 55 Martin Giel: Pietismus und Aufklärung, S. 14, 17. Zur Topik vgl. Merio Scattola: Krieg des Wissens – Wissen des Krieges. Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen

Die ekklesiologischen Auseinandersetzungen

145

war der locus theologicus „Konzil“ immer noch und trotz oder vielleicht genau wegen Luthers angeblich ablehnender Haltung ein bestreitbares Argument aus dem topologischen frühneuzeitlichen „Vorratsmagazin“ für den theologischen Diskurs zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert.

am Beginn der Frühen Neuzeit. Padua 2006, S. 76–80, hier: 79, und Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1954, S. 89–115, hier: 89.

“A TIME OF SHADOWS AND SIGNS” Johann Gerhard’s Use of the Old Testament in Early Homiletical and Devotional Writings Robert Kolb “All of Scripture concentrates on Christ. He is its focal point.”1 This conviction of Johann Gerhard, set down in this form in 1609, permeated his entire practice of theology throughout his life. According to the preface to his commentary on Genesis, issued in the name of his wife and children, Gerhard taught the Holy Scriptures at the University of Jena “diligently and assiduously for twenty-one years – in his lectures, by participating in instructional disputations, and through his way of life”.2 Although posterity views him first and foremost as a master of dogmatics and a gifted crafter of devotional literature, his exegetical work provided the foundation for both those activities and also formed a significant part of his performance of his calling as university lecturer. His biblical study took special form in his devotional writings, which intended to bring the warning of Scripture against sin and its comfort for the repentant to his readers. 1. FROM OLD TESTAMENT SHADOWS TO NEW TESTAMENT LIGHT Gerhard applied some Old Testament passages directly to the New Testament events and teaching and then to the people of his own time; in other cases, he asserted direct relevance of Old Testament insights to contemporary problems. Both 1 2

Johann Gerhard: De vita Jesu Christi, Homiliis vigintiquinque illustrata, meditationes sacrae. Das ist/ Erklärung etlicher schöner Sprüch und Historien/ göttlicher Schrift von dem Leben Jesu Christi. Frankfurt [am Main] 1609, p. 25. Gerhard: Commentarius super Genesin, in quo textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, & loca in speciem pugnantia conciliantur. Jena 1637, epist. ded., p. A2b: “Etenim, quos Maritus meus charissimus, & Parens noster desideratissimus, per annos hosce viginti & unum, quibus, in Illustrissimarum Vestrarum Celsitudinum Academia, Sacras litteras & legendo, & disputando, & vivendo denique diligenter ac sedulo docuit […].” His monumenta should be known “non soli Thuringiae, sed omni Germaniae” (ibid.). In seventeenth century German Lutheran instruction in theology, exegesis remained, in the spirit of the Wittenberg curriculum reform introduced by Luther and Melanchthon (see Robert Kolb: “The Pastoral Dimension of Melanchthon’s Pedagogical Activities for the Education of Pastors”, in: Irene Dingel et al. (ed.): Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy. Göttingen 2012, p. 29–42), fundamentally a matter of biblical exegesis. Unfortunately, almost no studies of Lutheran exegesis in this period exist.

148

Robert Kolb

uses illustrate how Gerhard viewed God’s faithful and dependable interaction with humanity, fallen into sin and redeemed by Christ. God’s constancy in calling sinners to repentance and giving them new life in Christ through the forgiveness of sins remained through the ever-changing centuries, both before and after he reclaimed his chosen people through Christ’s death and resurrection. Thus, Gerhard regarded the Old Testament as a “time of shadows” (tempus umbratum) (Heb. 10:1, Col. 2:17), in which God had given “signs” which revealed his gracious presence and all his spiritual blessings to the Israelites “as if in a mirror”.3 The Jena professor presumed, with Luther and his other Lutheran predecessors, that God is a God of conversation and community, that God’s communication takes place through human language and through his demonstration of his wrath and his mercy in human history. Gerhard further presumed that God is present in and active through elements of his created order which he has selected to be instruments of his re-creating will. Those elements included the flesh and blood of the incarnate second person of the Trinity; human language used to express his good news in Christ, through oral, written, and sacramental means; and the physical elements of the sacraments as well. Gerhard believed that the Holy Spirit had been the “principle efficient cause” or the “principle author” of the biblical text, who fashioned and inspired the holy men of God who had composed each of the biblical books. He also believed that the words of Scripture continue to be tools of the Holy Spirit, who remained its best and true interpreter.4 The Holy Spirit speaks from the pages of Scripture through the ministers of his Word, those whom Gerhard was preparing at the university for the exercise of this sacred office of preaching. Only through the illumination of the Holy Spirit can believers understand the biblical text, he argued. In Scripture Gerhard found two ways of speaking about God. The first way, the “theoretical,” set forth his essence, his essential characteristics or nature. The second, “practical,” way described his will

3

4

Gerhard: De vita Jesu, pp. 270–271: commenting on the pillar of cloud and fire by night in Exodus 13, Gerhard observed, “(d)ieser eusserlichen Zeichen der Wolcken vnd deß Fewers hat der allmächtige GOtt darumb gebrauchen wollen/ daß er hiedurch seine Gnadengegenwart/ vnd alle geistliche Wolthaten als in einem Spiegel den israeliten abbildete/ dann das alte Testament ist gewesen tempus umbratum.” Gerhard: Commentarius super Posteriorem D. Petri epistolam, in quo textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, & loca in speciem pugnantia conciliantur. Jena 1641, p. 137. Idem: Adnotationes ad posteriorem D. Pauli ad Timotheum epistolam, in quibus textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, & loca in speciem pugnantia quam brevissime conciliantur. Erfurt/Jena 1643, p. 66. Idem: Commentarius super Epistolam ad Hebraeos […]. Jena 1641, p. 1. On Gerhard’s doctrine of the nature of Holy Scripture, see Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Lund 1951. Idem: “Die Theologie des Wortes bei Johann Gerhard”, in: idem, Chemnitz – Gerhard – Arndt – Rudbeckius. Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie. Edited by Alexander Bitzel and Johann Anselm Steiger. Waltrop 2003, p. 77–92. Reinhard Kirste: Das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Schrift. Das testimonium spiritus sancti internum als hermeneutisch-polemischer Zentralbegirff bei Johann Gerhard in der Auseinandersetzung mit Robert Bellarmins Schriftverständnis. Göttingen 1976, p. 44–97.

“A Time of Shadows and Signs”

149

toward his human creatures and what he does for them.5 Gerhard’s devotional writings and published sermons concentrate on the latter, repeating the stories of God’s interaction with his human creatures in the history of Israel and the New Testament church, applying these stories to the lives of his contemporary readers and hearers. 2. GERHARD’S MODI DOCENDI In the preface of his Postil of 1613, composed while he was superintendent in Heldburg – and thus regularly preaching to a congregation –, Gerhard laid out a program for his theory of preaching. These homiletical reflections offer a glimpse of his own practice of proclaiming the biblical message and of his goals for his instruction in the biblical text and its teachings or doctrines when he came to the university. This mini-homiletics textbook also illuminates his practice in his devotional writings as it lays out eleven ways in which preachers present the Word of God to their hearers.6 The modus docendi Grammaticus focuses on plumbing the depths of the Hebrew and Greek “sources or chief languages” to explain clearly what the proper meaning and emphases of the words of a text are. This approach is beneficial so long as the preacher does not bring the foreign languages to the pulpit but simply clarifies the message as it applies to the hearers. The modus docendi Logicus divides and sub-divides the text, giving a clear outline of six or more parts. Such clarity can be helpful, but preachers should avoid chopping up the text so that the simple folk cannot follow what he is saying. Some preachers trot out fancy words, with many “exclamationes, apostrophas” and other rhetorical figures, using the modus docendi Rhetoricus. Eloquence and the ability to articulate effectively are special gifts of God, to be used with thankfulness, but preachers should also not forget that Paul reminded the Corinthians (1. Cor. 2:1) that he came among them not with lofty words or lofty wisdom to proclaim God’s Word. His word and proclamation were not expressed in the rational speech of human wisdom but in the demonstration of the Spirit and of power, so that their faith would not rest on human wisdom but on God’s power.7

5

6

7

Gerhard: De vita Jesu, p. 292. The seventeenth century debate over whether the study of theology requires the Holy Spirit was related to the discussion of the label “religion” for the subject matter of theology, see Kenneth Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004, p. 241–281, and Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006, p. 186–236. Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten Fest-Evangelien/ uber das gantze Jahr. Auch etlicher schöner Sprüche heiliger Schrifft/ vornemlich dahin gerichtet/ daß wir Gottes Liebe und Christi Wolthaten erkennen/ auch am innerlichen menschen seliglich zunehmen mögen. Erster Theil. Jena 1613, p. a2b–a6b. Gerhard: Postilla I, p. a2b–a4a.

150

Robert Kolb

Others use the modus docendi Histronicus, in the manner of the Jesuits, Gerhard reported. They gesture and pose, with special movements of their heads, hands, and entire bodies. This can indeed move the emotions, an important goal for Gerhard, but the common people must be able to tell the difference between a preacher of God’s Word and a comedian or performer. The modus docendi Historicus employed stories of all kinds, often from pagan authors, which offer living examples that aid the hearers so long as they are used appropriately. Funny stories can, however, bring attention to themselves, so that the hearers forget what God’s Word is saying or think less of it. The modus docendi Ecclesiasticus reached back to ancient teachers of the church for explanations of the text. These teachers should be read with diligence, as witness to God’s truth and the proper interpretation of Scripture, but the preacher must take care that the people understand that their faith rests upon God’s Word, not on human opinions, even those of revered church fathers.8 Some preachers read the text and explain it with clear, understandable words, bringing in other passages of Scripture and clarifying the circumstances in which the text was written, drawing from all this edifying instruction for the hearers. This modus docendi Catecheticus most benefits the hearers, bringing them salvation through God’s teaching, comfort, admonition, and warning. With the modus docendi Scholasticus the preacher focuses on one particular goal which the biblical author had in mind, draws specific teachings from the text that support this goal, and fortifies the point with methodical explanation of its significance. Preachers must be careful not to force the text into their own framework, “as sometimes happens,” Gerhard commented.9 The modus docendi Elencticus addresses falsifications of the text that opponents of the gospel may have spread among the people. This is a necessary exercise but must be conducted with appropriate modesty, gentleness, and skill at refuting error. Gerhard urged caution since he recognized this mode was quite fashionable at his time. The modus docendi Mysticus aimed at the edification of the inner person, with suitable allegories and spiritual clarifications which draw together Old Testament and New Testament passages to focus on Christ and on important points of biblical teaching. By doing this this modus strengthens recognition of the inward corruption of human nature, “in order to implant true, living faith in Christ, ardent love for God, contempt for the things of this earth, longing for eternity, humble fear of God, inward tranquility, and similar things in the heart.”10 Gerhard complained that faith was being extinguished and love was growing cold in his day, and so diligence and prayer and meditation on God’s Word were necessary to revitalize the living faith of the people. The final approach to preaching, the modus docendi Heroicus, took a text but often strayed from it to proclaim with rhetorical skill some point of biblical teaching. Luther did that, but it is a method fraught

8 Gerhard: Postilla I, p. 141–151. 9 Gerhard: Postilla I; p. a5a. 10 Gerhard: Postilla I, p. a6a.

“A Time of Shadows and Signs”

151

with dangers, and so most preachers should remain on “the common road,” admiring but not imitating this mode. Gerhard himself, however, also added, “if someone asks which modus docendi or way of teaching we use in this postil, we answer that the modus Catecheticus and modus mysticus joined together are very useful for honoring God and nurturing godliness.”11 In fact, his preached sermons undoubtedly reflected what he regarded as a proper use of them all, but this singling out of the modus docendi catecheticus and the modus docendi mysticus does highlight his intent to instruct his hearers carefully on the basis of biblical texts with teaching that would lead them to live the life of repentance and forgiveness of sins that Luther had posited as the true Christian life. Gerhard’s sermons aim to edify the inner person. To that end he used “suitable allegories and spiritual clarifications,” matching and coordinating Old Testament and New Testament passages to place the focus of his hearers’ and readers’ attention on Christ and on important points of biblical teaching. 3. OLD TESTAMENT EDIFICATION THROUGH DOCTRINE To attain that goal he could use simple statements of the Old Testament. He particularly prized the prayers and praise of the psalmists. In his preface to Johann Arndt’s commentary on the Psalter the Jena professor, ever the master of mixing or matching metaphors, affirmed that just as God had placed the stars in the heavens when he created the universe, so he placed lights before his people in the persons of teachers and preachers, above all the holy prophets and apostles, the brightest shining stars, who displayed even more beautiful colors and a more pleasant aroma and larger blossoms than others among the flowers blooming in the garden of the proclaimers of God’s Word. The psalmists rank among the brightest stars and most beautiful flowers in that garden because they aid in the contemplation of God’s creation and preservation, particularly in the midst of danger, calamity, and fear. They also win the highest respect because they point most clearly “to the person and work of the Messiah, to his true divinity and true humanity, to his birth, teaching, suffering, death, resurrection, ascension, and sitting at God’s right hand, so that previous to [the psalmist] no prophet had delivered such clear prophecies” of Christ. The comfort and warning of the psalmists’ statements about Christ and about human existence offer not only words for Christians to speak but also a pattern for them to live out in daily life.12 11 Gerhard: Postilla I, p. a6b. “Da nun jemand fragen wollte/ was für einen modum docendi oder Art zu lehren wir in dieser Postil gebrauchet/ dem geben wir zur Antwort/ daß modus Catecheticus vnnd mysticus, die siebende vnd zehende Art in der selben conjunctim gebrauchet/ ist etwas nützliches darinnen/ das zur Ehre Gottes/ vnnd zur Erbawung der Gottseligkeit gerichetet […].” On Gerhard’s concern for good pastoral care and his linking it to meditation on God’s Word, see Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, p. 134–143. 12 Johann Arndt: Auslegung des gantzen Psalters Davids des Königlichen Propheten/ Also daß über jeden Psalm gewisse Predigten und Meditationes gestellet seyn/ in welchen sonderliche

152

Robert Kolb

Many psalm verses had become virtually proverbial for medieval Christians, and sixteenth century Lutherans had continued such usage, even when they added or subtracted from the list. Gerhard employed standard and stock phrases from the psalms, particularly in his ars moriendi, the Enchiridion consolatorium of 1611, where he assembled passages from the psalms and many other biblical books.13 Such citations of simple statements of Old Testament writers expressing truths – often explicit expressions of law or gospel – and sketching images abound in other devotional works as well.14 In De vita Jesu Jeremiah’s observation that the human heart is a defiant and despairing thing (Jer. 17:9) provided sufficient Old Testament background for discussing Peter’s denial and repentance.15 Lines from Isaiah 53 also easily provided a typological background for considering Christ’s suffering and death for sinners.16 On occasion, Gerhard interpreted an Old Testament expression, such as “being gathered to his people or fathers” (Gen. 25:8), as

13

14

15 16

Lehr- vnd Trostpuncten gehandelt werden […]. Sampt einer Vorrede Herrn Johann Gerhards/ der heiligen Schrifft Doctorn und Professorn in der Universitet Jehna. Lüneburg 1643, here: Vorrede, p. a4b–a5a. Examples include, among many, with page number from Johann Gerhard: Enchiridion Consolatorium (1611). Lateinisch–deutsch. Edited by Matthias Richter. Stuttgart-Bad Canstatt 2002, p. 168: 1 Sam. 2:6, “He kills and makes alive again”; p. 252: Job 19:25, “I know that my redeemer lives and will awaken me on the last day”; p. 246: Ps. 37:25, “He was young and has grown old, yet I have not seen the righteous forsaken”, p. 156: Ps. 51:5, “I was not only born in sin but conceived by my mother in sin”; p. 246: Ps. 68:6, “Yes, God calls himself the father of orphans”; p. 148: Ps. 90:12, “Lord, teach us to ponder that we must die”; p. 252: Isa. 26:19, “your dead shall live again, and those of you who are assaulted shall rise again”; p. 252: Isa. 40:8, “The Word of the Lord abides forever”; p. 232: Isa. 57:1, “The Godfearing will be brought through death to their rest; they will rest in the sleeping chambers”; p. 167: Isa. 63:3, “He trod the wine press alone, and from the peoples no one was with him”: p. 252: Isa. 66:14, “your bones shall flourish like the grass”; p. 175, 214: Ezek. 18:31/33:11, “As truly as I live, says the Lord, I have no pleasure on the death of the sinner, but rather that he turn and live”; p. 252: Ezek. 37:5, “I will breath living breath into you, the dried-up bones”; p. 156, 250: Hosea 13:14, “He is the poison of our death and the death of our death”. Most of these passages had served as texts for Lutheran funeral sermons for more than a half century, cf. Kolb: “‘… da jr nicht trawrig seid wie die anderen, die keine hoffnung haben’. Der Gebrauch der heiligen Schrift in Leichenpredigten des Wittenberger Kreises, 1560– 1600”, in Eva-Maria Dickhaut (ed.): Leichenpredigten als Medien der Erinnerungskultur im europäischen Kontext. Stuttgart 2014, p. 1–25. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch. Two volumes. Edited by Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Canstatt 2000, here: vol. 2, p. 360 (Job 9:2), p. 362 (Song of Sol. 2:14), p. 363 (Isa 50:6), p. 368 (Isa 59:2, 43:25, Ps. 90:40, Isa. 59:12), p. 560 (Job 15:16), p. 564 (Dan. 12:3). The work is filled with such references but contains far fewer references to narratives. Some do occur without typological significance, e.g. 1 Kings 19:10, where Elijah’s experience in the cave is recalled in order to affirm God’s gentle way of approaching his people (see Meditationes sacrae 2, p. 371); or Gen 22:12, where the fatherly love of God toward Abraham is emphasized (see Meditationes sacrae 2, p. 385). God’s judgment on Sodom was recalled to emphasize his wrath against sexual disobedience, Gen. 19:11 (see Sacrae Meditationes 2, p. 21). Such references do not fit the model of typological interpretation. Gerhard: De vita Jesu, p. 100–101. Gerhard: Enchiridion, p. 158, 179.

“A Time of Shadows and Signs”

153

he spoke of God’s faithfulness in taking his own to himself, both in Abraham’s time and his own.17 From Isaiah 66:14, 2 Samuel 7:12, Isaiah 26:20, and Daniel 12:2 Gerhard assembled a bouquet of Old Testament references regarding the rest, refreshment, and revival of the dead.18 On occasion, the Jena professor confirmed his argument with a reference to a less familiar biblical verse as well.19 Gerhard used Old Testament passages at times simply to explain or expand on the dogmatic significance for the text. John the Baptist came as a preacher of repentance because of the Fall in Genesis 3, where God immediately also called sinners to repentance (Gen. 3:9–19).20 Historical precedents also elucidated New Testament phenomena, such as Pilate’s wife’s dream (Matt. 27:19); to explain that God operates also through dreams Gerhard cited Genesis 20:1–7, Genesis 31:24, and Daniel 2:31–45.21 4. OLD TESTAMENT EDIFICATION THROUGH NARRATIVE INDUCTION However, in his postil sermons and other devotional works fashioned in homiletical form Gerhard imposed upon himself the discipline of linking Old Testament narratives or images to New Testament events, the stuff of which allegories are often made, even beyond the figural and typological use of the Old Testament texts. In doing so he moved beyond what literary scholars label “narrative induction,” which the communications theorist Charlotte Linde defines as “a process of being encouraged or required to hear, understand, and use someone else’s story as one’s own” and as “the process by which people come to take on an existing set of stories as their own story.”22 Linde identifies a “non-participant narrative,” which repeats the experiences of another person or group of people as a “paradigmatic narrative,” which offers the framework for understanding life and interpreting reality apart from the actual presence of that person.23 Such “paradigmatic narratives” propose and impose a view of reality and a practice of daily activities that both explain and define, even determine, the way in which its recipients conduct their lives.24 Christians have always used biblical narratives in this way.25 Luther 17 Gerhard: Enchiridion, p. 232. 18 Gerhard: Enchiridion, p. 234. 19 E.g., Gerhard: Enchiridion, p. 188 (Isa. 54:10), p. 189 (Jer. 3:12), p. 192 (2 Kings 13:21), p. 220 (Isa. 65:2), p. 237 (Ps. 55:23, 102:25). 20 Gerhard: De vita Jesu, p. 188–197. 21 Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers Herrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten (1611). Edited by Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad-Canstatt 2002, p. 257–258. 22 Charlotte Linde: “The Acquisition of a Speaker by a Story: How History Becomes Memory and Identity”, in: Ethos 28 (2000), p. 608–632, here: 608, 613. Cf. Linde: Life Stories: the Creation of Coherence. Oxford 1993. 23 Linde: “Acquisition”, p. 612; 621–623. 24 Linde: “Acquisition”, p. 621. 25 Erich Auerbach: Mimesis. The Representation of Reality in Western Literature. Translated by Willard R. Trask. Princeton 1953, p. 14–18. On the use of Old Testament narrative in Juda-

154

Robert Kolb

used and often elaborated the stories of the patriarchs and the prophets, of Mary and Peter, to provide his hearers and readers with living examples of how God’s Word comes to comfort and warn, to call to repentance and pronounce forgiveness of sins, to embody the godly life and impart patterns for the performance of the tasks of the everyday in a godly manner.26 Like many predecessors among biblical exegetes, medieval and reformational,27 Gerhard did not only simply repeat this device of a paradigmatic narrative. He used narrative induction both to interpret the significance of the biblical story for seventeenth century readers and hearers, and to explain to them how, within the biblical narrative, God had foreshadowed events in the New Testament as well as in their own lives. This amounted to a doubling of the induction from the original activities of God and his people in the Old Testament, a twofold reflection of the paradigm of the Lord’s interaction with his people in Israel. The sermons of his postil, published 1613, and those in his De vita Jesu Christi, a devotional work in homiletical form, published 1609, record the New Testament text for the sermon (in a few examples in the latter work an Old Testament text) and follow it immediately with an Old Testament story or statement that has a sometimes closer, sometimes a looser connection with the sermon’s formal textual basis. The Old Testament prototypes provided an introduction to the sermon and a confirmation of the significance of both the Old Testament promise and the New Testament fulfillment. On the basis of the prototype Gerhard pursued his goal of “awaking godliness, Christian love, and proper devotion in human hearts and edifying the inner person” since “being Christian does not consist of mere knowledge but in the kind of faith which is active by showing love and by demonstrating its living works.”28

ism, see Meir Sternberg: The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading. Bloomington 1985. 26 Kolb: Luther and the Stories of God: Biblical Narratives as a Foundation for Christian Living. Grand Rapids 2012. 27 Gerhard relied above all on Luther’s preaching on Christ’s passion and on that of Martin Chemnitz; cf. the notes in Johann Gerhard: Erklährung der Historien. 28 Gerhard: De vita Jesu, p. 2b: “Es ist wol an deme/ daß man heutiges Tages nicht vnbillich klaget/ daß deß Bücher schreibens kein maß noch ende sey/ gleichwol aber muß solches nicht dahin verstanden werden/ daß hiemit verworffen vnd vnrecht geachtet würde aller fleiß welcher auff Bücher publicirung wirdt angewendet/ sonderlich wenn dieselbe vornemlich dahin gerichtet/ daß die Gottseligkeit/ die Christliche Liebe/ vnnd gute Andacht im Hertzen der Menschen erwecket/ vnnd der innerliche Mensch dardurch erbawet werde. Denn weil nunmehr am gegenwertigen ende der Welt nach Christi propheceyung bey wenigen wahrer rechtschaffener seligmachender Glaube zufinden/ hergegen aber die Liebe verloschen/ vnd die Vngerechtigkeit vberhand genommen/ darumb muß mit allem fleiß von denen welche Gott ins Lehrampt der Kirchen gesetzet/ dahin gearbeitet werden/ daß männiglich vnterrichtet werde/ daß das Christenthumb nicht stehe in blossen Wissen/ sondern in einem solchen Glauben/ (der durch die Liebe thätig ist) vnnd durch die Werck sich lebendig erzeiget.”

“A Time of Shadows and Signs”

155

5. OLD TESTAMENT EDIFICATION THROUGH TYPES, FIGURES, AND ALLEGORIES The Jena professor labeled the relationship between the testaments in several ways. Johann Anselm Steiger places him solidly in line with earlier Lutheran commentators and preachers, who found in Old Testament types and figures historical precedents for and connections to New Testament persons and events but who also continued to use allegory – though intending to do so only in submission to the rule of faith. Steiger identifies two levels of typology in Luther and his successors; the first relates the type directly to the antitype, Christ and some specific aspect of his person or work, while the second provides an example of God’s merciful conduct toward his people or of his expectations for godly living that were transferable into the church’s life in his own time as an example for his people.29 At this level the types functioned as instruments of Luther’s two-fold proclamation of sacramentum et exemplum, or of promise or consolation and of admonition or warning. Scholars sometimes distinguish “allegory”, “typology,” and “figural interpretation” sharply, but others recognize that the lines dividing them were not always clear to early modern authors.30 In his Loci theologici Gerhard did distinguish “types” from “allegories” in a manner similar to Steiger’s two levels of typology. Types present something or someone in the Old Testament that signifies or foreshadows what would take place in the New Testament. Allegories explain something in the Old Testament in a new sense, applying the Old Testament person or event to some spiritual teaching or instruction for living. Types consist of comparisons of what actually has taken place in history with some later development. Allegories are not concerned with the historical happening as such but rather with delivery of the significance of the message so that useful and recondite teaching may be deduced from it. Types are applied to specific fixed topics, on Christ, on the church, etc. Allegories can be interpreted very broadly and treat a wide range of themes.31 The rule of faith governs the use of both; clear passages of Scripture enable readers and interpreters to ascertain the connections from one historical period to the other or to elaborate on the inherent symbolism in a text in order to bring home a potential deeper meaning. Gerhard regarded the sermon as a place for the embellishment of the text through allegorical parallels.32 However, in his “rhetorical tips” for pastors in his postil, placed in marginal notes in Latin, he did not use the label “allegoria,” nor 29 Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Leiden 2002, p. 175–176. 30 Steiger: Zentralthemen, p. 145–216. Sabine Hiebsch: Figura ecclesiae: Lea und Rachel in Martin Luthers Genesispredigten, Münster 2002, sees in Luther a sharper distinction between types and figures than does Erik Herrmann: ‘Why then the Law?’ Salvation History and the Law in Martin Luther’s Interpretation of Galatians 1513–1522. Saint Louis 2005. 31 Johann Gerhard: Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose, solide & copiose explicatorum tomus primus […]. Jena 1610, p. 152, cf. p. 151–162. See also Steiger: Zentralthemen, p. 194–196. 32 Steiger: Zentralthemen, S. 195–196.

156

Robert Kolb

did he bestow the label “figurae” on persons or events in the manner that he used in De vita Jesu.33 Only occasionally does the Postilla identify a “praefiguratio,” sometimes even coming after the event or object itself, as when the meal of fish in John 21 served as a “praefiguratio” of Christ’s being roasted in his “burning love” as he suffered on the cross.34 Jesus’ being lost three days in the temple “prefigured” his three days in the grave.35 Gerhard also categorized a parallel between the testaments as a comparison, “collatio” or “comparatio,”36 technical rhetorical terms for an analogy. The exposition of these parallels could be dubbed an “applicatio,”37 an “enarratio,”38 or an “explicatio.”39 In German, for the most part, these terms found their equivalent in the single term “Vorbild.” Vorbild also rendered the most frequent designation of these parallels in Latin, “typus” – in various forms of the word, “typos,” “typica,” or “typice.”40 As noted above, the Jena professor also deemed the pillar of cloud and pillar of fire (Ex. 13:21–22) as “outward signs” (“eusserliche zeichen”) that had “mirrored” (“als in einem Spiegel […] abbildete”) God’s goodness in the time of shadows, that is, before Christ, the “light of the world,” brought the full illumination of God’s revelation to earth, as prophesied in the Old Testament and proclaimed in the New (Ps. 119:105, Isa. 9:1, 2 Pet. 1:19, Ps. 36:10, Prov. 6:23). These outward signs reminded Gerhard’s readers that God illuminates them inwardly through his Word and the Holy Spirit. With a light allegorical touch Gerhard viewed the pillar of cloud as a signal that God will preserve them in the face of the heat of all spiritual opposition and struggle.41 Gerhard employed types to wrap the whole of salvation history together with a reference to Genesis 3 by focusing on the cherubim placed at the gate of Eden as he told of Jesus’ birth in Luke 2:8–16. The fall of Adam and Eve into sin caused the dilemma, bringing the cherubim to the gate of Paradise. The angels were sent 33 34 35 36 37 38 39 40

41

Gerhard: De vita Jesu, S. 73. Gerhard: Postilla I, p. 535: “Est comestionis praefiguratio […].” Gerhard: Postilla I, p. 244. E.g., Gerhard: Postilla I, p. 156–157: a comparatio of the kingdom of Christ and the kingdom of David; ibid. I, p. 555–556: a collatio of Christ’s resurrection and the believer’s daily resurrection in repentance. Gerhard: Postilla II, p. 66: the application of the Ark of the Covenant to Christ. Gerhard: Postilla III, p. 2–3: „Typorum Apostolos significantium enarratio“ found in Old Testament examples of twelves, e.g., the sons of Israel, Gen. 35. Gerhard: Postilla II, p. 100–102: Jesus’ expulsion of the money-changers from the temple as a type of his expulsion uncleanness from human hearts, Malachi 3:1. This terminology was used, among many examples, in Gerhard: Postilla I, p. 382, for Samson’s assault on the lion and the bear (Judg. 14) as a type of Christ’s assault on the devil, and David’s saving the sheep from the mouths of the “hellish lion and bear,” (1 Sam. 17:34–35); Postilla I, p. 424, for the overshadowing of the tabernacle (Ex. 40) and Solomon’s temple (1 Kings 8) as types of the overshadowing of the power of the Highest overshadowing Mary (Luke 1:35); Postilla I, p. 469, for the priests’ washing of hands and feet before sacrificing (Ex. 30:18-20) and Malachi’s reference to the cleansing by the soap of the washer women (Mal. 3:2) for Jesus’ washing the feet of the disciples (John 13:1–15), or Postilla I, p. 538, with several examples of lambs and especially their sacrifice for Jesus’ being sacrificed as the Lamb of God (John 1:29). Gerhard: De vita Jesu, p. 270–274.

“A Time of Shadows and Signs”

157

on Christmas night to announce the solution, which accomplished the goal of Christ’s reconciling heaven and earth (Col. 1:20).42 Likewise, the women who came to the tomb reversed the image of Eve in the garden. In Eden three persons came together, the devil, who persuaded Eve to sin; the woman, who proclaimed Satan’s message to Adam; and the man who ate and corrupted human nature. At the tomb three persons met, the rising Christ, the angel who proclaimed his resurrection, and the women, who carried the good news to others.43 Throughout, in Gerhard’s mind, the Old Testament pointed toward the incarnation. Treating Luke 2, Gerhard turned first to Exodus 3. God’s appearance in the “outward signs of fiery flames” pointed to Christ’s birth as a human being.44 Treating the passion account in De vita Jesu, Gerhard informed the readers that “such holy suffering is pictured by many figures in the Old Testament.”45 Joseph was sold by his brother, as Christ was betrayed for money (Gen. 19:28, Matt. 26:14).46 Christ was mocked as Noah suffered the mockery of his son (Gen. 3:20-25, Matt. 27:29). Job was spat upon as was Jesus (Job 16:10, Matt. 27:30). As the Levitical priests were assaulted, so was Christ. As Samson was bound, so also Christ (Judg. 16:21, Matt. 27:2).47 Christ had to carry the wood of the cross on his own back as Isaac had carried the wood on which he was to die as a sacrifice (Gen. 22:6, John 19:17).48 The iron snake in the wilderness presented a Vorbild of Christ (Num. 21:8–9, John 3:14–15). Christ’s side was torn open by the spear, even as Adam’s side was opened (Gen. 2:21–22, John 19:34), and as Adam slept in Eden and Christ fell asleep in death on the cross, the parallel is seen in the creation of Eve and of the church, for the water and blood flowing from Christ’s side on the cross, pointing to the sacraments, create the church. Abel’s death at the hands of his brother (Gen. 4:8) presents a Vorbild of Christ’s being slain by his own people.49 The scapegoat sent into the desert bearing Israel’s guilt (Lev. 16:5–10) served as another such type.50 The wood which Moses threw into the water to make it cease being bitter (Ex. 15:22–25) pointed toward the wood of Christ’s cross, a figure which required much more of Gerhard’s imagination. The Ark of the Covenant and Joshua were among many other Vorbilder which Gerhard appropriated.51 Gerhard’s accounts of Christ’s resurrection naturally took Jonah’s three days and nights in the belly of the fish as Old Testament background, building on Matt. 12:39–40. Similarly, Gideon, “the brave hero and deliverer of the Israelite 42 43 44 45 46 47 48

Gerhard: De vita Jesu, p. 15–16. Gerhard: De vita Jesu, p. 163–164. Gerhard: De vita Jesu, p. 2. Gerhard: Enchiridion, p. 235–236. On Luther’s seeing in Joseph a type of Christ, see Steiger: Zentralthemen, p. 174–178. In Gerhard: Erklährung der Historien, p. 138–153, this parallel was developed in great detail. Gerhard developed Isaac in Genesis 22 more fully as a type of Christ in Erklährung der Historien, p. 311–317. 49 Gerhard: De vita Jesu, p. 74–75. 50 Gerhard: Enchiridion, p. 179. 51 Gerhard: De vita Jesu, p. 26–31, 39, cf. 74–75.

158

Robert Kolb

people,” served as a Vorbild of Christ in his conquering all enemies by rising from the dead.52 Two years after the publication of the De vita Christi, Gerhard’s Erklärung der Historien des Leidens und Sterbens unsers Herrn Christi Jesu appeared.53 It enhanced the passion accounts with Old Testament typological augmentation. The passion accounts invited more narrative comparisons, offering opportunities to draw typological parallels from the lives of the patriarchs and their families as well as Israel’s subsequent history. Gerhard set the scene for use of the book by citing Luther’s exposition of Song of Solomon 7:5, “the hair on your head is like the purple of the king, bound in clasps,” in order to explain that true Christians continually meditate upon the salvific suffering of their king and bridegroom Christ.54 The volume follows Gerhard’s plan to present Christ’s passion as a drama in five acts, set in the Garden of Gethsemane, before the priests, before Pilate, on the cross, and in the tomb: a comedy reciting a “wonderful and marvelous” series of events, climaxing in a “glorious eruption, a blessed and joyous conclusion in the resurrection and ascension”.55 As in the much briefer treatment of the passion of Christ in De vita Christi, Gerhard here marshaled simple statements by Old Testament writers that he regarded as foreshadowings or prophecies of Christ’s suffering and death. In his preface he reminded readers of the “Protoevangel” of Gen. 3:15 to explain the devil’s “bruising the Messiah’s heal” in the passion. Gerhard repeated the Messiah’s promise that he would suffer for his people in Ps. 16, following Acts 2:25–28 and 13:35. Ps. 22:9, 41:10, 55:4 and 12, and 69:22 foretold elements of Jesus’ suffering. The same introduction repeated the parallels between Joseph’s being sold by his brothers, Samson’s being bound, and Isaac’s carrying the wood for the altar where he was to be sacrificed on his own back as Gerhard wove the narratives of the Old Testament people of God into Christ’s story.56 The depiction of the suffering of God’s servant in Isaiah 53 again served the Jena professor throughout this work.57 In it typological prophecies predominate although Gerhard did turn to allegory on occasion. Jacob’s prediction that the Messiah, Shiloh, will wash his garments in wine and his cloak in the blood of grapes should be understood as a reference to the “noble humanity, his assumed flesh” of Jesus, which will be washed in blood, which then would become a sweet wine, that is, the powerful comfort of the gospel, as referred to in Revelation 1:5 and 7:9–14.58 Potiphar’s wife’s temptation of Joseph (Gen. 39:11–15) represented for Gerhard the 52 53 54 55

Gerhard: De vita Jesu, p. 159–162. Gerhard: Erklährung der Historien. Gerhard: Erklährung der Historien, p. 14. Gerhard: Erklährung der Historien, p. 17. This pattern had often been employed by Gerhard’s Lutheran predecessors, see Robert Kolb: “Passionsmeditation. Luthers und Melanchthons Schüler predigen und beten die Passion”, in: Michael Beyer and Günther Wartenberg (ed.): Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. Leipzig 1996, p. 267–293. 56 Gerhard: Erklährung der Historien, p. 23. 57 E.g. Gerhard: Erklährung der Historien, p. 26–27. 58 Gerhard: Erklährung der Historien, p. 85.

“A Time of Shadows and Signs”

159

attempts of the godless world, as the devil’s whore, to lure Christians into idolatry, false teaching, and shameful sins. The same story underscored Christ’s integrity in resisting temptation as he stood before Pilate and could have spread false teaching there.59 More frequently, Gerhard also integrated into his meditations references from Paul’s writings into the Old Testament models and patterns which cast silhouettes across God’s unfolding action to save his people.60 Gerhard’s understanding of God’s mode of accomplishing his saving will assimilated his historical activities with his on-going conversation with his people through the prophets. Typological and allegorical interpretation served Gerhard’s goals not only in presenting Christ’s passion and resurrection but also in addressing various aspects of the individual Christian’s life and the life of the church. Baptism creates an eternal covenant between God and his people just as circumcision had.61 The image of the suffering servant, Jesus, given in Isaiah 52 and 53, aided Gerhard in bringing comfort to his readers who were suffering hostility and persecution, which he discussed on the basis of the text, Matt. 5:11–12.62 Pursuing the goal of encouraging abandonment of reliance on temporal blessings, with Matt. 8:20, as his basis, Gerhard took the example of Jacob’s following God’s command to return to his fatherland. Jacob also served, however, as a type of Christ, who had a bounteous inheritance from his father.63 Closer to allegory are occasional references such as that in his Meditationes sacrae to Jacob’s limping and his healthy foot, representing the love human beings generate themselves and that which God generates.64 Gerhard also gleaned images of the church and its life from the Old Testament, often associating God’s Word in the means of grace with the church, which that Word brings into being. The story of the wise men elicited a cloudburst of narrative transfer from Gerhard’s pen, both into the Old Testament events of the past and into the contemporary situations of seventeenth century Thuringia. Their traveling he associated with the exodus from Egypt. The failure of the high priests and scribes to recognize what the prophecy of Christ in Micah 4 meant reminded Gerhard of the rejection of God’s Word by popes, cardinals, and powerful rulers. The faith of the wise men in God’s Word was a “fine image” of the light in believers’ hearts produced by the recognition of Christ when they follow the light of God’s Word. It brought them to Christ and Mary, just as it was bringing his contemporaries to Christ and their spiritual mother, the true church.65 “The manger (Luke 2:7) is the Christian church, which feeds with God’s Word; in it is Christ,

59 60 61 62 63 64 65

Gerhard: Erklährung der Historien, p. 136, 213. Gerhard: Erklährung der Historien, p. 27–33. Gerhard: Enchiridion, p. 187. Gerhard: De vita Jesu, p. 196–198. Gerhard: De vita Jesu, p. 221–226. Gerhard: Sacrae Meditationes II, p. 492. Gerhard: De vita Jesu, p. 48–62.

160

Robert Kolb

in it alone is salvation.”66 As the manger looked pathetic, so does the church even though in God’s eyes she is glorious. “Christ’s diaper is Holy Scripture; it is a paper diaper, in which he has wrapped himself. For all of Scripture concentrates on Christ. He is its focal point.”67 Human reason cannot grasp that this pathetic piece of cloth or paper contains Christ. The application: when Gerhard’s hearers, like the shepherds, find the baby wrapped in the diaper, their understanding will be illuminated, and they will rejoice.68 Like Jacob, who left the legacy Isaac had given him to depart into a foreign land, Christ left his heavenly place to come as a foreigner into this world in order to seek a spiritual bride, the church. His church embraces the victorious church in heaven and the struggling and embattled church on earth. The latter experiences what Christ experienced, a life without the dens foxes have, the nests that birds have.69 6. OLD TESTAMENT EDIFICATION FOR THE END The Old Testament also foreshadowed the experience of believers in the End Times, in which Gerhard believed he and his contemporaries were living. The gospel lesson for the second Sunday in Advent, Luke 21:25–36, placed before the hearers Jesus’ description of the “signs and wonders” that would reveal the arrival of the End Times. Gerhard prefaced his “explanation” of the text with an extended reference to the “signs and wonders” that God sent upon Egypt as plea and warning paving the way for Israel’s exodus (Ex. 7–11), woven together with the prophecies of the book of Revelation or other Scripture passages. He labeled the Egyptian plagues a Vorbild – a type – and a “comparatio,” prefiguring the believers’ experiences at the End. The waters transformed into blood predicted the bloody wars that will break out when the heathen tribes flood the land (Rev. 17:15–18). The frogs revealed the many false teachers who would plague the church at the end (Rev. 16:13–14). The lice which chewed on and bit the Egyptians portrayed the worm that will chew on the heart and conscience as the End nears (Isa. 66:24). The parasites that perverted the Egyptians’ trees and plants pointed to the offense which will occur as unrighteousness gains the upper hand, spoiling many pious hearts as they follow bad examples instead of blossoming as fruitful trees in God’s garden (Ps. 92:13–14). The epidemic that struck down the Egyptians’ animals foreshadowed the earthquakes and epidemics that would happen at the End. The small-pox outbreak pointed to the wounded, burning con66 Gerhard: De vita Jesu, p. 25: “Die Krippen ist die Christliche Kirche/ welche vns mit Gottes Wort speiset/ in derselbigen ist Christus/ in derselbigen ist alleine Heyl. Wie diese Krippen von aussen einen geringen schein hat/ also gehets auch mit der Christlichen Kirchen/ in Gottes Augen ist sie herrlich / aber in menschlichen Augen gering vnd veracht.” 67 Gerhard: De vita Jesu, p. 25: “Die windeln CHristi ist die heilige Schrifft/ welche ist die Papierne Windel/ darinn er sich verwickelt hat. Denn die gantze Schrifft gehet auff Christum/ derselbige ist der Kern der Schrifft.” 68 Gerhard: De vita Jesu, p. 25–26. 69 Gerhard: De vita Jesu, p. 221–226.

“A Time of Shadows and Signs”

161

sciences that will come as faith and love grow cold (1 Tim. 4:2, Luke 18:8, Matt. 24:9–14). Hail and fire will fall in the End Times as they did on Egypt (Rev. 16:18–21). Grasshoppers in Exodus 10 prefigured the seductive spirits, with their hypocritical lies, who like scorpions will poison the faithful with their false teaching (Rev. 9:10, 1 Tim. 4:1–3). The deaths of Egypt’s firstborn presaged the murderous persecution of God’s people at the End. The godless ignore the signs, crying, “peace, no danger, the destruction will pass quickly” (1 Thes. 5:3–8). The godly, like the ancient Israelites, will not be afraid, for they know that their deliverance is near.70 The Old Testament also presaged the terrors of the damned. Jesus’ word of warning in Matthew 13:41–42 served as the text for Gerhard’s admonition to repent, but the story of the earth’s swallowing up Korah, Dathan, Abiram, and two hundred fifty more (Num. 16) demonstrated how the wrath of God descends upon those who rebel against him and his appointed leaders, introducing a vivid description of the sufferings of the damned.71 As part of his preparing his hearers for death, on the basis of Philippians 1:21, Gerhard explained Christ’s way of operating with his people in a sinful world. Retelling the journey of Joseph’s brothers to Egypt in Genesis 45, Gerhard saw in Joseph a picture of Christ’s sending the wagon of death to transport his people to his heavenly glory, admonishing them not to hang onto their earthly possessions. Against this background Gerhard used Paul’s encouragement to the Philippians to counsel facing death with a life like Christ’s, a life of love, humility, gentleness, and patience since Christians are to abandon sin because their baptisms have brought them into death with Christ (Rom. 6:4).72 Other deaths in the Old Testament aided giving comfort Gerhard’s readers comfort in the face of their own death (Gen. 4:10, 25:8, 35:29, 49:53).73 7. CONCLUSION Gerhard viewed the entire Bible as an unfolding of the paradigmatic narrative which sets forth God’s action as Creator and Re-creator of his human creatures. In the persons and events of the Old Testament, Gerhard concluded, the Holy Spirit presented figures and types that conveyed God’s promise of salvation in Christ. Both such prefigurations and Gerhard’s allegorical catechesis drawn from the entire fund of Old Testament reports on God’s working in history aided seventeenth century believers in understanding and assimilating the promise and in trusting and following the Promiser. In Isaac and Gideon and countless others, in the Exodus and Israel’s rhythm of apostasy and repentance, God had pointed to the climax of his salvific activity in behalf of sinners in the incarnation, death, and resurrection of Christ. The doubling of the use of the Old Testament’s paradigmatic 70 71 72 73

Gerhard: Postilla I, p. 9–23. Gerhard: De vita Jesu, p. 231–240. Gerhard: De vita Jesu, p. 250–259. Gerhard: Enchiridion, p. 252.

162

Robert Kolb

narratives in application to their own lives by seventeenth century believers cultivated meditation on these stories, stories of God and of his human creatures. Such meditation served the Holy Spirit in Gerhard’s own time as a tool for cultivating and nurturing trust in Christ and the life of good works that such faith produces.

JOHANN GERHARDS ANTEIL AM ERNESTINISCHEN BIBELWERK Stefan Michel 1. DAS ERNESTINISCHE BIBELWERK Gestern ist es acht Tage/ daß er des Morgens nach 8. Vhren zu mir kam (welchs ich gar vngewohnet/ daß er die Früestunden seinen ordinariis commentationibus & meditationibus entziehen sollte […]) damit er sich der Gedancken/so ihme im Köpfflein herumb giengen/ entschlagen möchte/ nam er zur Hand im Biblischenwerck etwas beneben meiner Wenigkeit zu revidiren, vnd was im Buch der Richter meine considerationes weren/ zu ponderiren, verharrete auch in solcher vnser collation bis auff eilff/ gehet also von mir anheim/ befindet sich vber Tisch etwas vbel.1

Dies berichtete der Jenaer Theologieprofessor und Superintendent Johann Major (1564–1654) am 20. August 1637 in seiner Leichenpredigt auf seinen Kollegen Johann Gerhard, der am 17. August verstorben war. Gerhards letzte Mühe galt demzufolge der Revision des Ernestinischen Bibelwerks. Sogar noch bis kurz vor seinem Tod beschäftigte ihn die korrekte Kommentierung der Heiligen Schrift.2 Da Gerhard dieser Arbeit offenbar so große Bedeutung zumaß und sie sein opus ultimum darstellt, das erst nach seinem Tod gedruckt wurde, ist eine Beschäftigung mit dieser monumentalen Bibelausgabe durchaus gerechtfertigt. Während es über das Ernestinische Bibelwerk, das auch als Weimarer Kurfürstenbibel oder Endter-Bibel bezeichnet wird, einige Literatur gibt,3 ist die Rolle 1

2

3

Johann Major: Christliche/ Wehemütige Trawer- vnd Leichpredigt aus der 2. Corinth. 12. v. 9. Laß dir an meiner Gnade genügen/ denn meine Krafft ist in den Schwachen mächtig. Bey der Volckreichen/ Trawrigen Leichbestattung Des thewren werthen Manns Herrn Johannis Gerhardi, Weitberühmten vnd Hochverdienten Theologiae Doctoris vnd Professoris auff der Fürstl. Sächsischen Universitet Jena/ Gehalten in der Pfarrkirchen den 20. Augusti 1637. Jena 1637, Bl. Hv (VD17 23:244894Z). Die Leichenpredigt hat Friedrich Hortleder gehört, der genau über diese Stelle in einem Brief vom 5. September 1637 an Emanuel Fendt berichtet. Vgl. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha [zukünftig: LATh – StA Gotha], Geheimes Archiv [zukünftig: GA], XX. VI. 3, Bl. 145r–146v. Vgl. Major: Christliche Trawer- und Leichpredigt, S. Giiiv–Givr: „Seine letzte Arbeit war das teutsche Biblische Werck/ das er jhme zu Tag vnd Nacht ließ mit durchlesen/ collationiren, corrigiren, nachsinnen/ nachschlagen/ collegialischen conferiren zum hefftigsten angelegen seyn/ und hat jhme die ultima revisio, mit welcher er als ein vnverdrossener arbeitsamer Mann/ neben andern Gehülffen sich belegen lassen/ solche Mühe und Sorge gemacht/ daß wie er offtermals prognosticirete, er hierüber letzlichen seinen Geist auffgegeben.“ Vgl. August Beck: Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts, Bd. 1. Weimar 1865, S. 660–670. Rolf-Dieter Jahn: Die Weimarer Ernestinische Kurfürstenbibel und Dilherr-Bibel des Endterverlags

164

Stefan Michel

Johann Gerhards an der Entstehung dieses 1641 erstmals im Format Großfolio aufgelegten Buches kaum erforscht. Beim Ernestinischen Bibelwerk handelt es sich um eine kommentierte Bibel, der Martin Luthers Übersetzung in der Fassung von 1545 zu Grunde gelegt wurde. Die Kommentare sind als Glossen durch Klammern in den Text integriert. Seinen Namen hat das Bibelwerk als ein ernestinisches aufgrund der ganzseitigen Portraitkupferstiche, die die ernestinischen Herzöge seit Friedrich dem Weisen zeigen. Dadurch wird das Selbstverständnis der Ernestiner unterstrichen, als erste Fürsten im Reich die Reformation beschützt und gefördert zu haben. Der vollständige Titel dieses Bibelkompendiums lautet: Biblia, Das ist: Die gantze H. Schrifft/ Altes vnd Newes Testaments Teutsch/ D. Martin Luthers: Auff gnädige Verordnung des Durchleuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Ernsts/ Hertzogen zu Sachsen/ Jülich/ Cleve und Berg/ etc. Von etlichen seinen Theologen dem eigentlichen Wort-Verstand nach erkläret. Wie hievon weiter in der Vorrede gehandelt wird. Darbey auch über die sonst gewönliche/ jetzt aber von newem corrigirte und wol verbesserte Biblische Register unter andern zu finden ein Bericht von Vergleichung der Jüdischen und Biblischen Monden/ Maß/ Gewicht und Müntz/ mit den Unserigen: Sowol auch eine Beschreibung der Stadt Jerusalem/ sambt unterschiedlichen Landtafeln und andern schönen Kupfferfiguren und derselben Beschreibung: Welches alles den Christlichen Leser nicht allein belustigen/ sondern auch demselben zu mehrern Verstand der Schrifft gute Anleitung geben kan. Ist auch zu End neben den Christlichen Haubt-Symbolis mit beygedruckt worden ein kurtzer und schöner Bericht von der Augspurgischen Confession/ sambt den Artickeln der Confession selbsten/ wie sie in dem rechten Original, so im Jahr 1530. Kaiser Karl dem Fünfften uberantwortet worden/ begriffen sind.4

Eine Untersuchung des Anteils des Jenaer Theologieprofessors Johann Gerhard am Entstehen des Ernestinischen Bibelwerks kann auf reiches Quellenmaterial zurückgreifen, das sich in der Forschungsbibliothek Gotha und im Thüringischen Staatsarchiv Gotha5 erhalten hat. Zweifellos lag dieses Material auch Ernst Salo-

4 5

Nürnberg 1641–1788. Versuch einer vollständigen Chronologie und Bibliographie. [Odenthal] 1986. Herbert von Hintzenstern: „Die ,Weymarische Bibel‘. Ein riesiges Kommentarwerk Thüringer Theologen aus den Jahren 1636 bis 1640“, in: Herbergen der Christenheit 8 (1971), S. 175–183. Erneut abgedruckt in: Laudate Dominum. Achtzehn Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte – Festgabe zum 70. Geburtstag von Landesbischof Ingo Braecklein. Berlin 1976, S. 151–159. Jürgen Quack: Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung. Gütersloh 1975, S. 182–198. Johann Anselm Steiger und Franziska May: „Herzog Ernst der Fromme und die sog. Kurfürstenbibel (1641). Höfische Repräsentation und Kommunikation des Wortes Gottes“, in: Axel E. Walter (Hg.): Medien höfischer Kommunikation. Formen, Funktionen und Wandlungen am Beispiel des Gothaer Hofes (= Daphnis 42). Leiden u.a. 2013, S. 331–378. Vgl. die vollständige bibliographische Beschreibung in: Deutsche Bibeldrucke 1601–1800. Bd. 1: 1601–1700, bearbeitet von Stefan Strohm. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 126–129. Das hier erhaltene Material ist so umfangreich, dass es im Rahmen dieses Beitrags nicht vollständig ausgewertet werden kann, weil es den Umfang und die Fragestellung sprengen würde. Nicht verwendet wurden deshalb folgende Akten (alle aus dem LATh – StA Gotha): GA, XX VI 8: Briefe mit Wolfgang Endter von Nürnberg wegen des Bibelwerls, dass es zu Lüneburg will nachgedruckt werden. 1636–1647; GA, XX. VI. 31: Abrechnungen vom Verkauf und Freiexemplare des Bibelwerks, 1641–1661; GA, XX. VI. 102: Berechnungen für das Bibelwerk. Vor allem mit Sekretär Fenden in Weimar, 1649–1651; GA, XX. VI. 58: Brief an Christoph Endter wegen etlicher exemplarien der neu aufgelegten Bibel, dieselbe der Biblio-

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

165

mon Cyprian (1673–1745) und Caspar Binder (1691–1756) vor. Cyprian nutzte es in seinem Compendium Historiae Ecclesiastiae (1735) sowie für seine Vorrede in der Ausgabe des Ernestinischen Bibelwerks von 1736,6 Binder für seinen umfangreichen Artikel in den Acta historico-ecclesiastica 1741/42.7 Dieser Artikel Binders war Quelle für zahlreiche weitere Darstellungen der Geschichte des Bibelwerks. 2. HINTERGRÜNDE FÜR DIE ENTSTEHUNG DES BIBELWERKS Der entscheidende Anstoß zur Entstehung des Ernestinischen Bibelwerks kam von Ernst dem Frommen, Herzog von Sachsen-Gotha (1601–1675),8 der wiederum von Sigismund Evenius (1585–1639) dazu angeregt worden war.9 Der Pädagoge Evenius stand in Weimar seit 1634 als Kirchen- und Schulrat in Diensten Herzog Ernsts und beriet ihn maßgeblich bei einer Reform des Schulwesens. 1636 erschien seine Christliche gottselige Catechismusschule und 1637 seine Christliche gottselige Bilderschule, die die Katechismuskenntnisse in den christlichen Gemeinden heben wollten.10 Die Reformanliegen des Evenius deckten sich mit jenen Ernsts des Frommen, der eine „Reform des Lebens“ in den ernestinischen Territorium anstrebte, die er zu diesem Zeitpunkt noch gemeinsam mit seinen Brüdern Wilhelm (1598–1662), Albrecht (1599–1644) und Bernhard (1604–1639) regierte. Für sein Reformprojekt ließ der Herzog eine Reihe von Publikationen thek zu verehren, 1670; GA, XX. VI. 59: Briefe von Christoph Endters, 1670; GA, XX. VI. 62: Nürnberger Bibelexemplare, 1674f.; GA, XX. VI. 118: Weimarisches Bibelwerk, 1736; GA, XX. VI. 169: Neuauflage des Bibelwerks. 6 Vgl. Jahn: Die Weimarer Ernestinische Kurfürstenbibel, S. 86–90. 7 Caspar Binder: Sendschreiben an den Verfasser der Actorum historico-ecclesiastica, darinnen das einhundertjährige Gedächtniß der weimarischen Bibel vorgestellet, und zugleich eine gründliche Nachricht von gedachter Bibel, in einem Auszug aus dessen in M[anusscripto] liegender vollständigen Historie, mitgetheilet wird, in: Acta historico-ecclesiastica, oder gesammlete Nachrichten von den neuesten Kirchen-Geschichten […] 5 (1741), S. 963–1014; 6 (1742), S. 27–70, 165–201. Auf Binders Artikel basiert der Artikel in Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste (zukünftig: Zedler) 55 (1748), 1337–1407, sowie Georg Wolfgang Panzer: Geschichte der Nürnbergischen Ausgaben der Bibel von Erfindung des Buchdrucks an bis auf unsere Zeiten. Nürnberg 1778 (Nachdruck Leipzig 1971), S. 189–198. 8 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002, S. 462–465. Ernst Koch: Das ernestinische Bibelwerk, in: Roswitha Jacobson und Hans-Jörg Ruge (Hg.): Ernst der Fromme (1601–1675) – Staatsmann und Reformer. Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung. Bucha 2002, S. 53–58. Jahn: Die Weimarer Ernestinische Kurfürstenbibel, S. 14–17. 9 Über ihn vgl. Ludolf Bremer: Sigismund Evenius (1585/89–1639). Ein Pädagoge des 17. Jahrhunderts. Köln u.a. 2001, bes. S. 108–111. 10 Vgl. Johannes Wallmann: „Vom Katechismuschristentum zum Bibelchristentum. Zum Bibelverständnis im Pietismus“, in: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008, S. 228–257.

166

Stefan Michel

erstellen, die zur religiösen oder ethischen Unterweisung seiner Untertanen dienen sollten. In jedem Fall sollte durch die Herausgabe einer groß angelegten kommentierten Lutherbibel die Frömmigkeit gehoben werden, und dies bedeutete im Verständnis der Zeit die Führung eines rechtschaffenen Lebens nach den Geboten Gottes.11 Eine kommentierte Bibel sollte das Verständnis der biblischen Texte erleichtern, die so das Leben stärker beeinflussen konnten.12 Durch illustrierende Kupferstiche und Landkarten, durch Hinweise zu Namen, Maßen und Gewichten sowie eine einführende Vorrede, die eine hermeneutische Grundlage zum Bibellesen bot,13 und ausführliche Register sollte das geplante Bibelwerk ein umfassendes biblisch-theologisches Nachschlagewerk sein. Die Kommentierung in Deutsch richtete sich wohl vornehmlich an Laien als Leser. Als Herzog Ernst und Evenius den Plan zur Erstellung eines Bibelwerks fassten, gab es auf dem Buchmarkt bereits mindestens zwei vergleichbare Werke, von denen das erste zur Anregung herangezogen wurde. Zum einen war zwischen 1600 und 1610 in Stuttgart ein deutsches Bibelwerk in 7 Bänden erschienen,14 das auf der lateinischen Vorlage von Lucas Osiander (1534–1604) beruhte und von David Förster (1562–1608), Prinzenerzieher am württembergischen Hof, übersetzt worden war.15 Allerdings waren der Umfang dieses Hilfsbuches zum Bibelstudium zu breit angelegt und als Zielgruppe eher Gelehrte anvisiert. Zum anderen hatte in den Jahren 1619/20 der Stettiner Generalsuperintendent Daniel Cramer (1568–1637) seine Ausarbeitungen in zwei Bänden zum Druck gebracht.16 Sein Anliegen war es, den Lesern die Hauptlehren der Heiligen Schrift, die in Lehre, Trost, Besserung und Warnung bestanden, näherzubringen. Doch offenbar über11 Vgl. die umfassende Darstellung dieses Programms bei Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, bes. S. 509–514. Vgl. auch Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, S. 124. 12 Vgl. zur Verwendung des Ernestinischen Bibelwerks zur Unterweisung: Hartmut Hövelmann: Kernstellen der Lutherbibel. Eine Anleitung zum Schriftverständnis. Bielefeld 1989, S. 130–135. 13 Vgl. die Edition dieser Vorrede von Salomon Glassius bei: Johann Anselm Steiger: Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Neukirchen-Vluyn 2011, S. 157–226. 14 Biblia, das ist: Die ganze heilige Schrifft, mit einer kurtzen, aber doch gründlichen Erklerung des Texts, und Andeutung der fürnembsten Lehrpuncten. Stuttgart 1600–1610. Zwei Nachdrucke des Werks erschienen in Lüneburg 1650 und 1665. 15 Biblia sacra juxta veterem seu vulgatam translationem, emendate et illustrate. 9 Bände. Tübingen 1574–1586. Zu Förster vgl. Eberhard Zwink und Stefan Strohm: Die Bibel in Württemberg. Die Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek. Stuttgart 2009, S. 118. 16 Biblia, Das ist die gantze H. Schrift Nach der Dolmetschung, Vorreden und Marginalien D. M. Lutheri mit mehreren Concordantien. Gesambt neuer Summarischer Auslegung, darin nicht allein jeders Buch, und Capitel richtig verfasst und getheilt, sondern auch darauff der nutz der Lehr: Besserung: Trost: Warnung kurzlich und dannoch reichlich das es anstat eines zimlichen Kommentarii sein kann gezeuget, und mit Zeugnüssen und Exempeln H. Schrifft bewähret, und also Schrift mit Schrift erklärt wird. 2 Bände. Straßburg 1619/20 (VD17 39:127675N). Bereits 1625 wurde dieses Bibelwerk in Straßburg erneut aufgelegt (VD17 3:006798R).

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

167

zeugten diese beiden Arbeiten Herzog Ernst nicht, der vor allem ein handlicheres Bibelwerk wünschte. 3. PLANUNG UND GRUNDSÄTZE DER ERARBEITUNG DES BIBELWERKS Die Diskussionen um die Entstehung des Bibelwerks sind bereits seit Ende 1635 in verschiedenen Korrespondenzen zu greifen. Kurz zuvor muss der Plan erstmals besprochen worden sein.17 Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die Arbeiten im Mai 1636 schon so weit vorangekommen waren, dass erste Kommentierungen bei Gerhard, dem führenden Kopf für die Inhalte des Unternehmens eintrafen. Es ist also anzunehmen, dass schon Ende 1635 ein Konzept erstellt und erste Bearbeiter gewonnen worden waren. Neben Ernst dem Frommen und Sigismund Evenius müssen zumindest die Professoren der Theologischen Fakultät in Jena frühzeitig über das Vorhaben informiert gewesen sein. Wahrscheinlich fertigte Gerhard als Muster für alle zukünftigen Kommentierungen seine Bearbeitung der Johannesoffenbarung an, deren erste Seiten er im Januar 1636 an Herzog Ernst übersendete.18 Sie muss dann zügig beendet worden sein, so dass der Herzog im Mai 1636 Gerhard seinen Kommentar zur Johannesoffenbarung zurücksenden konnte, der ihm sehr gefallen habe.19 Spätestens im Februar 1636 wurden die Grundsätze für die Bearbeitung des Bibelwerks an alle Mitarbeiter übersendet.20 Während Herzog Ernst diese durch seine landesherrliche Autorität vertrat, dürften sie durch Gerhard und Evenius inhaltlich aufgestellt worden sein. Demnach sollte – wie seit 1581 üblich21 – die Lutherbibel in der Ausgabe von 1545 der Ausarbeitung zu Grunde gelegt werden, um das Verständnis des Bibeltexts zu erleichtern. Durch kurze in Klammern in den Text eingefügte Erklärungen sollte die Wortbedeutung erhellt werden. Da der Luthertext nicht verändert werden durfte, sollten in diesen Kommentaren der hebräische und griechische Grundtext der Bibel berücksichtigt werden.22 Schließlich sollten die Erklärungen dem lutherischen Bekenntnis nicht entgegenstehen. Den

17 Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 123r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 30. Dezember 1635: soll nun die Offenbarung bearbeiten. FB Gotha, Chart. A 600, 124r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 9. Januar 1635: übersendet aus Osianders glossierter Bibel den Teil zur Apokalypse; ebd., 130r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 18. Januar 1636: dankt für die erste Probe „vber das erste Capitel der Offenbahrung“. 18 Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 124r–v, Brief vom 9. Januar 1635; ebd., 130r–v, Brief vom 18. Januar 1636. 19 Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 113r–v, Brief vom 11. Mai 1636. 20 Vgl. Binder: Sendschreiben (1742), S. 45–48. 21 Vgl. Stefan Michel: Die Kanonisierung der Werke Martin Luthers im 16. Jahrhundert. Tübingen 2016, S. 75–91. 22 Über die Bedeutung und „Unfehlbarkeit“ der Lutherbibel äußert sich Gerhard in seinen Loci. Vgl. Gerhard: Locorum theologicorum tomus primus (ed. Preuss). Berlin 1863, lc. I, sec. VI, S. 234–237.

168

Stefan Michel

Bearbeitern schärfte Gerhard diese Prinzipien wiederholt ein, um schließlich eine einheitliche Gestalt des Kommentars zu erhalten.23 Als Hilfsmittel neben der Lutherbibel von 1545 wurden folgende Titel von Herzog Ernst festgelegt:24 Aus Johannes Sauberts (1592–1646) Nürnberger Bibelausgabe von 1629 sollten die Summarien übernommen werden.25 Als grundlegende Orientierung für die Kommentierung sollte das Bibelwerk Lucas Osianders herangezogen werden. Diese Entscheidung hatte sicher zur Folge, dass das ganze Projekt so rasch vorankommen konnte. Außerdem sollten zum Vergleich die Bibelausgabe des Heidelberger reformierten Theologen Paul Tossanus (1572– 1634)26 sowie der Kommentar des spanischen Jesuiten Manuel de Sá (1530–1596) benutzt werden.27 Durch den Vergleich der eigenen Kommentierung mit diesen Werken wurde sichergestellt, dass auch die Auslegungen der konfessionellen Gegner berücksichtigt und partiell widerlegt wurden. Zudem benutzte man diese Literatur, um in dem entstehenden Kommentar den Wahrheitsgehalt der biblischen Aussagen so gut wie möglich zu verdeutlichen. Der Gehalt der Bibel sollte keinesfalls verdunkelt, sondern erhellt werden, war doch in der lutherischen Hermeneutik die Heilige Schrift zugleich Wort Gottes.28 Aus dem engeren Umfeld Herzog Ernsts wurde nicht nur Sigismund Evenius für die Arbeiten an der Erstellung des Bibelwerks herangezogen, sondern auch der Weimarer Hofrat und Historiker Friedrich Hortleder (1579–1640)29 und der Sekretär Emanuel Fendt (1591–1673). Bereits kurz nach Beginn der Arbeiten am Ernestinischen Bibelwerk beauftragte Ernst der Fromme seinen Hofrat damit, Johann Gerhard zwei erfahrene Schreiber zu besorgen und nach Jena zu schicken.30 Auch in den nächsten Monaten wurde Hortleder regelmäßig über den Fortgang der Arbeiten in Jena informiert. Offenbar war Gerhard mit der Geschwindigkeit

23 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 25r–27v: Brief von Gerhard an Emanuel Fendt, 16. August 1636. FB Gotha, Chart. B 854, Vorsatz. Bl. 375v. FB Gotha, Chart. B 855, Bl. 408v, 475v und 626v. 24 So Herzog Ernst in seinem Schreiben von Ende Februar 1636, vgl. Binder: Sendschreiben (1742), S. 47. 25 Vgl. Biblia, daß ist/ Die gantze H. Schrift Deutsch. D. Marth. Luther. mit solchen Summarien/ darinn ein jedes Capitel in die Hauptstück abgetheilt. Daß sie dem Leser der Schrifft sehr dienlich sein können sampt den gebetlein Habermans und gesangbuch […]. Nürnberg 1629 (VD17 23:675618Q). 26 Vgl. Biblia: Das ist/ Die gantze H. Schrifft / Durch D. Martin Luther Verteutscht […]. Frankfurt am Main, Heidelberg 1617 (VD17 23:674326L). 27 Vgl. Notationes in totam scripturam sacram, quibus omnia fere loca difficilia brevissime explicantur […]. Köln 1620. 28 Vgl. zum Gesamtzusammenhang Volker Jung: Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov. Stuttgart 1999. 29 Über ihn vgl. Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013, passim. 30 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (zukünftig: LATh – HStA Weimar), Familiennachlass Hortleder / Prueschenk Nr. 48, Bl. 9r–v: Brief von Herzog Ernst an Hortleder, Weimar, 27. Juli 1636.

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

169

der Schreiber unzufrieden. Er wünschte, dass die Arbeiten zügiger vorangingen.31 Während Hortleder die fertigen Kommentare sammelte, sorgte Fendt seinerseits für die reibungslose Abwicklung der Korrespondenzen mit den Kommentatoren und dem Verlag. 4. GERHARDS ANTEIL AM ERNESTINISCHEN BIBELWERK Es gab um 1636 wahrscheinlich keinen geeigneteren Theologen zur Umsetzung des Anliegens von Herzog Ernst dem Frommen als den Jenaer Theologen Johann Gerhard. In all seinen Veröffentlichungen spielte die Bibel eine herausragende Rolle. Sie war ihm nicht nur Quelle für die Dogmatik, sondern vor allem auch Richtschnur für den Weg zur Seligkeit, die durch ein gottwohlgefälliges Leben zu erreichen war.32 In seiner Schola pietatis, die erstmals 1622 erschien, schrieb er beispielsweise: Es hat der vielgetreue/ liebreiche Gott […] aus lauter überschwenglicher Güte/ in seinem Wort/ dem menschlichen Geschlecht sich unter andern Ursachen auch darum geoffenbaret/ und dasselbe seiner Kirchen anvertrauet/ daß/ durch Anhörung und Lesung desselben/ die Gottseligkeit in den Hertzen der Menschen/ angezündet/ erwecket/ gepflantzet/ erhalten und vermehret würde.33

Deshalb sollte jeder entsprechend des Auftrags Gottes, des Vorbilds der Heiligen, der Beschaffenheit des Wortes Gottes und zur Abwehr falscher Lehrmeinungen fleißig in der Bibel lesen.34 Das Lesen oder Hören der Heiligen Schrift soll aber so geschehen, „daß es uns zur Gottseligkeit beförderlich seyn möge“. Deshalb sollte 31 Vgl. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Hortleder / Prueschenk Nr. 48, Bl. 10r–v: Brief von Johannes Adamus an Hortleder, Jena, 1. August 1636: Amandus soll ab heute das zweite Buch Mose umschreiben. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Hortleder / Prueschenk Nr. 48, Bl. 11r–v: Brief von Herzog Ernst an Hortleder, Harra, 19. August 1636: Gerhard berichtet, dass das Umschreiben langsamer vorangeht, als gedacht; soll mit Gerhard reden, ob er noch einen Schreiber braucht. LATh – HStA Weimar, Familiennachlass Hortleder / Prueschenk Nr. 48, Bl. 12r–v: Brief von Herzog Ernst an Hortleder, Weimar, 11. Mai 1637: Gerhard habe sich über das Tempo der Schreiber beschwert, der Römerbrief sei immer noch nicht fertig, er solle die Schreiber antreiben. 32 Vgl. zu den theologiegeschichtlichen Hintergründen: Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. Lund 1951. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Bd. 4: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. München 2001, S. 21–30. Reiches Material zur Bedeutung der Heiligen Schrift in der Lutherischen Orthodoxie bietet die Ausgabe von Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung. Teil I. Gütersloh 1964, S. 71–137. Für Gerhards ausgesprochen praxisnahe Exegese ist nicht nur auf seine dogmatischen Überlegungen, sondern auch auf seine Schola pietatis zu verweisen, die zwischen 1622 und 1736 mindestens zwölf Auflagen erlebte. Darin entfaltete er die Relevanz der Bibellektüre für alle Christen. 33 Johann Gerhard: Schola pietatis. Das ist: Christliche und Heilsame Unterrichtung, Was Für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher Gestalt er sich an derselben üben soll […]. Nürnberg 1719, S. 233. 34 Vgl. Gerhard: Schola pietatis, S. 233–237.

170

Stefan Michel

die Bibel „oft und täglich“, „aufmercksam und fleissig“, „mit Gebet und andächtig“, „demüthig und ehrerbietig“ sowie „gehorsamlich“ gelesen werden.35 Wie viele Theologen des Barockzeitalters36 vertrat auch Johann Gerhard die Theologie in einem nahezu enzyklopädischen Sinne,37 so dass er sich in seinen Arbeiten nicht nur auf ein Spezialthema konzentrierte. Für die Erarbeitung des Ernestinischen Bibelwerks prädestinierte ihn beispielsweise die Vollendung des von Martin Chemnitz (1522–1586) begonnenen und von Polycarp Leyser (1552–1610) fortgesetzten Kommentars zur Evangelienharmonie in den Jahren 1626 und 1627.38 Gerhard war demnach ein dogmatisch geschulter Exeget,39 wie dies auch seine Kommentierung im Ernestinischen Bibelwerk bezeugt. Johann Gerhard muss schon recht früh von Evenius und Herzog Ernst in die Pläne zur Erstellung eines Bibelwerks einbezogen gewesen sein. Darauf deuten die vielfältigen Aktivitäten zur Förderung des Bibelwerks durch den Theologen hin, die nur erklärbar sind, wenn man davon ausgeht, dass er zu den Initiatoren des Unternehmens zählte. So schrieb er bereits am 3. Mai 1636 im Namen der Theologischen Fakultät Jena an den Herzog,40 dass das Register der Namen im Bibelwerk nach dem Register der Wittenberger Bibel von 1600 erstellt werden sollte.41 Bereits zu diesem Zeitpunkt setzte er sich für den Verlag Stern in Lüneburg als Partner dieses anspruchsvollen Projekts ein, weil dieses Unternehmen aufgrund seiner Erfahrungen in der Herstellung von Bibeln den Druck seiner Meinung nach am besten ausführen könnte.42 Mit den Verlegern sei das zu verwendende Papier und Format des Buches festzulegen. Aus der vom Verlag Stern gedruckten Bibel könnten vielleicht sogar die Bilder übernommen werden. Schließlich regte Gerhard an, dass Magister Zacharias Sommer das Register über die Orte anfertigen könne. Sommer half wenig später auch bei der Kommentierung des Buches Josua im Ernestinischen Bibelwerk.43 Die Beteiligung an der Suche nach einem geeigneten Verlag illustriert, dass die äußere Organisation des Bibelwerks ebenfalls zu Gerhards Aufgaben zählte. 35 Vgl. Gerhard: Schola pietatis, S. 237–242. 36 Vgl. zu dieser offenen Begrifflichkeit, die Ausdrücke wie „Lutherische Orthodoxie“ oder „Konfessionelles Zeitalter“ bewusst umgeht: Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Tübingen 1995, S. V. 37 Vgl. Johannes Wallmann: Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt. Tübingen 1961. 38 Vgl. Johann Gerhard: Harmoniae Evangelistarum Chemnitio-Lyserianae a Johanne Gerhardo D. continuatae & iusto commentario illustratae. 2 Bände. Jena 1626/27 (VD17 23:246150P). Weitere Auflagen folgten 1645 in Genf, 1652 in Frankurt am Main und Hamburg (VD17 23:244887R) sowie 1704 in Hamburg. 39 Vgl. Steiger: Philologia Sacra. 40 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3: Acta das Ernestinische glossierte Bibelwerk, wie solches gewißen Personen zuverfertigen ausgetheilet, von der Theologischen Facultät zu Jena revidiret, und durch Wolff Endtern zum Druck befördert worden, betr. 1636–1643, Bl. 1r–2v. 41 Vgl. Biblia, Das ist die gantze Heilige Schrifft Deutsch. Martin Luther. Wittenberg 1600 (VD16 B 2838). 42 Vgl. zu diesem Verlagshaus: Hans Dumrese und Carl Schilling: Lüneburg und die Offizin der Sterne. Lüneburg 1956. 43 Vgl. Zedler 55 (1748), S. 1353.

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

171

Freilich behielt sich Herzog Ernst die endgültige Entscheidung in zentralen Fragen vor. Gerhard hatte also nur die Qualität der eingereichten Probedrucke zu beurteilen. Deshalb wurde er über alle diesbezüglichen Schritte informiert und hatte die in Frage kommenden Verlage Wolfgang Endters (1593–1659) in Nürnberg,44 Ernst Steinmanns († 1645) in Jena und der Brüder Hans (1582–1656) und Heinrich Stern (1592–1665) in Lüneburg mit Material zu versorgen, so dass sie Probebögen vorlegen konnten. Schließlich machte der Verlag Endter in Nürnberg das Rennen, sicher nicht zuletzt, weil Johannes Saubert in der Reichsstadt wirkte, der vor Ort eine saubere Herstellung überwachen konnte.45 Insgesamt überzeugte die von Endter eingereichte Satzprobe alle Verantwortlichen am meisten. Den Abschluss des Vertrages im Januar 1638 erlebte Gerhard allerdings nicht mehr.46 Zur Organisation der Arbeitsabläufe zählte auch die inhaltliche Koordination der zahlreichen Mitarbeiter. Zu den eigentlichen Bearbeitern kommen die Korrektoren – zunächst Gerhard und seine beiden Kollegen Johann Major und Johann Himmel (1581–1642),47 später vor allem Salomon Glassius (1593–1656),48 seit 1625 Superintendent in Sondershausen und 1638 Nachfolger seines Lehrers Gerhard in Jena, und Johann Michael Dilherr (1604–1669), seit 1634 Professor für Geschichte und Poesie in Jena – sowie die Schreiber in Weimar hinzu. Die Bearbeiter waren neben Gerhard (Genesis, Daniel, Johannesoffenbarung) wahrscheinlich Archidiakon Paul Ilscher († 1654) aus Sondershausen (Exodus), Professor Bartholomäus Elsner (1596–1662) aus Erfurt (Leviticus und Numeri), Hofprediger Johann Wagner (1592–1648) aus Eisenach (Deuteronomium), Johann Himmel (Josua, Richter, Ruth, 1./2. Samuel, Römerbrief, 1./2. Korintherbrief), Superintendent Hippolyt Hubmaier († 1637) in Heldburg (1./2. Könige), Professor Paul Slevogt (1596–1655) in Jena (Esra, Nehemia, Esther, 3./4. Esra), Johann Michael Dilherr (Hiob), Salomon Glassius (Psalter, Sprüche, Prediger, Hoheslied),49 Superintendent Johann Weber (1583–1645) in Ohrdruf (Jesaja), Professor Georg Großhain (1601–1638) in Erfurt (Jeremia und Klagelieder), Superintendent An44 Vgl. Friedrich Oldenbourg: Die Endter. Eine Nürnberger Buchhändlerfamilie (1590–1740). München 1911. 45 Das Material dieser Verhandlungen ist gesammelt in: LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3. 46 Vgl. die Edition (nach LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 8) in Beck: Ernst der Fromme, Bd. 2. Weimar 1865, S. 120f., Nr. 24. 47 Vgl. zur „johanneischen Trias“ – Gerhard, Major, Himmel – Karl Heussi: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena. Weimar 1954, S. 114–135. 48 Vgl. Christoph Bultmann und Lutz Danneberg (Hg.): Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik. Die „Philologia Sacra“ im frühneuzeitlichen Bibelstudium. Berlin u.a. 2011. 49 Glassius musste offenbar alle Bücher bearbeiten, die von den anderen Bearbeitern nicht fertiggestellt wurden, vgl. Brief von Balthasar Thamm an Herzog Ernst, 14. Mai 1637: LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 76r–77v. Den Psalter hatte der Gothaer Superintendent Balthasar Walther begonnen zu kommentieren, wurde aber nach Braunschweig berufen und gab deshalb seine Materialien ab, vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 112r–114v. Nach Beck: Ernst der Fromme, Bd. 1, S. 661, haben sich auch die Pfarrer Daniel Seiler (1598–1678) aus Schwerstedt und Friedrich Timotheus Nicolai († 1649) aus Döbritschen an der Bearbeitung des Psalters beteiligt. Die Quellengrundlage dafür bieten die Briefe in LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 7r–v, Bl. 22r–v, Bl. 34r–v.

172

Stefan Michel

dreas Keßler (1595–1643) in Coburg (Ezechiel), Professor Nikolaus Zapf (1600– 1672) in Erfurt (Hosea, Joel, Amos), Pfarrer Valentin Wallenberger (1582–1639) in Erfurt (Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja), Pfarrer Michael Walther aus Erfurt (Maleachi), Pfarrer Sebastian Schröter († 1650) aus Erfurt (Judith, Weisheit, Tobit), Superintendent Arnold Mengering (1596– 1647) in Altenburg (Jesus Sirach), Pfarrer Johann Ritter († 1697) in Berka (Baruch, Makkabäerbücher), Hofprediger Hieronymus Prätorius (1595–1651) in Weimar (Matthäus, Markus), Pfarrer Jakob Brand(is) in Großbrembach (Lukas, gemeinsam mit Hieronymus Prätorius), Johann Michael Dilherr50 oder Salomon Glassius (Johannes), Johann Major (Apostelgeschichte, Johannesbriefe), Superintendent Nikodemus Lappe (1582–1663) in Arnstadt (Galater-, Epheser-, Philipper-, Kolosser-, 1./2. Thessalonicher-, 1./2. Timotheus-, Titus-, Philemonbrief),51 Pfarrer David Scharf in Grunstedt (1./2. Petrus-, Jakobus-, Judasbrief) und Pfarrer Caspar Neander († 1636) in Löbstedt (Hebräerbrief).52 Die Kriterien für die Auswahl der Bearbeiter sind nicht mehr zu ermitteln. Es ist aber anzunehmen, dass sie in einer engeren Beziehung zu Gerhard standen. So könnte er den Heldburger Superintendenten Hubmaier aus seiner Zeit in Coburg gekannt haben. Johann Weber hatte 1622 in Jena eine theologische Disputation gehalten, der Gerhard beigewohnt haben könnte.53 Arnold Mengering studierte 1619 bei Gerhard. Nikolaus Zapf steuerte zur Ausgabe von Gerhards Schola pietatis von 1659 einen Wegweiser aus den Summarien der Sonn- und Festtagsevangelien bei.54 Weitere Beziehungsgeflechte könnten sicher durch prosopographische Studien aufgedeckt werden.55 Gerhard achtete weiterhin darauf, dass die Arbeitsabläufe korrekt eingehalten wurden, um zügig voranzukommen. Nach der Einsendung der Kommentierungen wurden diese einer Revision unterzogen. Zum größten Teil übernahm Gerhard diese entsagungsvolle Aufgabe allein, wobei er häufig große Abschnitte zu ändern hatte.56 Offenbar wurde beispielsweise der Psalter versuchsweise von Pfarrer Friedrich Timotheus Nicolai aus Döbritschen bearbeitet. Als es sich aber herausstellte, dass er dieser Aufgabe nicht gewachsen war, musste ein anderer Bearbeiter 50 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 88r–89v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 4. Juni 1637. Die Kommentierung von Superintendent Anton Mylius (1593–1655) in Cranichfeld wurde nicht benutzt; vielmehr wurde eine neue verfasst. 51 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 57r–58v (14. März 1637). 52 Die Namen der Bearbeiter werden im Ernestinischen Bibelwerk in der Ausgabe von 1641 nicht genannt. Erst später gab es verschiedene Versuche der Identifikation, die sich teilweise widersprechen, vgl. Georg Michael Pfefferkorn: Merkwürdige und auserlesene Geschichte von der berümten Landgrafschaft Thüringen. [s.l.] 1685, S. 104–106. Unschuldige Nachrichten 1704, S. 398–404. Unschuldige Nachrichten 1708, S. 105–107 (nach Pfefferkorn). Unschuldige Nachrichten 1714, S. 553–556. Zedler 55 (1748), S. 1351–1359. Vgl. Beck: Ernst der Fromme, Bd. 1, S. 660–663. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 463f. 53 Vgl. Disputatio Theologica De Sanctificatione Fidelium […]. Jena 1622 (VD17 39:128857E). 54 Vgl. Gerhard: Schola pietatis, [)()(iv]r-):( ):( ):(r. 55 Erste Anhaltspunkte dafür liefert Beck: Ernst der Fromme, Bd. 2. S. 3–82. 56 Dies berichteten Major, Himmel und Dilherr am 15. Juli 1637 an Herzog Ernst, vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 135r–136v.

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

173

gefunden werden.57 Solche Probleme wurden von Gerhard zunächst festgesellt und dann zügig behoben. Erst nachdem im Juni 1637 alle Manuskripte vorlagen58 unterstützten ihn seine Kollegen Major und Himmel regelmäßiger bei der Revision.59 Dabei wurde der eingereichte Text mit der Lutherbibel in der Ausgabe von 1545 genau verglichen, weil keine Fehler stehen bleiben durften.60 Die in Gerhards Nachlass in Gotha erhaltenen Vorarbeiten zum Bibelwerk, belegen sein Engagement für den anvisierten Bibelkommentar.61 Erst nach einer gründlichen Revision wurden die eigereichten Texte in Weimar abgeschrieben, um nochmals durchgesehen zu werden bzw. um sie als Vorlage für den Drucker zu verwenden. So lagen im September 1636 in Weimar gerade die Bücher Daniel und Jeremia zum Abschreiben. Bald sollte auch der Prophet Jesaja folgen.62 Doch Gerhard war nicht nur der Organisator des Bibelwerks. Er bearbeitete auch selbst drei zentrale biblische Bücher, die Genesis, den Propheten Daniel und die Johannesoffenbarung. Als ersten Text nahm er sich die Apokalypse vor, deren vollständige Auslegung er bereits Ende Januar 1636 nach Weimar senden konnte. Im August 1636 war er mit der Kommentierung der Genesis fertig, so dass er auch diese Abschnitte nach Weimar schickte.63 Angesichts seiner großen Arbeitsbelastung wollte er die Kommentierung des Danielbuches zunächst nicht übernehmen. Da sich aber kein anderer Bearbeiter fand, willigte er schließlich doch in die Kommentierung ein.64 In den in der Forschungsbibliothek Gotha überlieferten Handschriften aus dem Nachlass Gerhards befinden sich auch Vorarbeiten zu Gerhards Kommentaren zur Genesis und zur Apokalypse,65 die im Umfeld des

57 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 7r–v. Wahrscheinlich arbeitete auch Pfarrer Daniel Seiler in Schwerstedt am Psalter, ohne ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 22r–v, Bl. 34r–v, Brief vom 31. Juli 1636. 58 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 88r–89v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 4. Juni 1637. Abgedruckt in Binder: Sendschreiben [1742], S. 30: „Ich habe nunmehr durch Gottes Gnade und Beystand in der ersten Revision alle Bücher a. und n. Test. (ausgenommen die Sprüche Salomonis und das Evangelium Johannis, welche mir von den Herren Elaboranten als Herrn M. Dilhern und Hrn. M. Mylio, noch nicht zukommen) absolviret und zu Ende gebracht.“ 59 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 182r–184v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 2. Juli 1637. 60 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Johann Gerhard seine Lutherbibel aus dem Jahr 1541 für diese Arbeiten mit heranzog. Vgl. http://projekte.thulb.uni-jena.de/gerhard/lutherbibel.html [letzter Zugriff: 16.08.2016]. 61 Vgl. FB Gotha, Chart. B 854 (Vorarbeiten zum Alten Testament) und Chart. B 855 (Vorarbeiten zum Neuen Testament). 62 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 49r–v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 26. September 1636. 63 Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 122r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 30. August 1636. 64 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 3r–4v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 1. Juli 1636. 65 Vgl. FB Gotha, Chart. B 446, Bl. 1r–192v (Genesis); Chart. B 459, Bl. 359r–401v (Apokalypse).

174

Stefan Michel

Ernestinischen Bibelwerks erschienen.66 Sie zeugen davon, dass der Jenaer Theologe sich intensiv mit diesen beiden Büchern der Bibel beschäftigte. Er ging also nicht unvorbereitet an die Kommentierung. Aus den Vorarbeiten, die wahrscheinlich Vorlesungsskripte darstellen, geht hervor, dass er sich beispielsweise intensiv mit Luthers Genesisvorlesung, aber auch – wie damals üblich – mit Auslegungen der Kirchenväter auseinandersetzte. Für die Auslegung der Apokalypse unterzog er – wie in anderen seiner Schriften – die Theologie des Jesuiten Robert Bellarmin (1542–1621) einer kritischen Analyse.67 Dass Gerhard eine dogmatisch-philologische Exegese betrieb, ist an allen drei durch ihn besorgten Kommentierungen im Ernestinischen Bibelwerk nachzuvollziehen. Die Stelle Gen 1,26 legte er beispielsweise trinitarisch aus: „Und Gott (der Vater) sprach (zum Sohn und zum H. Geist): Last uns Menschen machen […].“ Die Auslegung unterstrich die Ewigkeit der Trinität, die schon vor der Schöpfung Bestand hatte. Auch Dan 7,13 las Gerhard konsequent christologisch: Ich sahe in diesem Gesichte deß Nachts/ und sihe/ es kam einer in deß Himmels Wolcken/ wie eines Menschen Sohn/ biß zu dem Alten/ und ward für denselbigen gebracht. (Durch diesen Menschensohn wird verstanden Christus Jesus/ Gottes und Marien Sohn/ als welcher in der Fülle der Zeit waarer Mensch geboren/ in seiner angenommenen menschlichen Natur das Werck der Erlösung verrichtet/ nach seinem Leiden/ Sterben und Aufferstehen/ gen Himmel gefahren/ und sich zur Rechten seines himmlischen Vatters gesetzet.)

Als glänzend – vor allem in seelsorgerlicher Perspektive – muss Gerhards Auslegung der Johannesoffenbarung bezeichnet werden, die ganz auf den Trost des Lesers abzielte. Insofern zeigte sich auch darin seine „therapeutische Theologie“,68 die keine Angst vor dem Jüngsten Gericht machen wollte. Gleichwohl kann an Apc 21,21 gezeigt werden, wie auch dogmatische Grundüberzeugungen in die Kommentierung einflossen: Und die zwölff Thor waren zwölff Perlen/ und ein jeglich Thor war von einer Perlen/ (die Thor von Perlen bedeuten das Predigambt auff Erden/ Mat.13.v.46. Denn wie man durch die Thor in die Stadt gehet/ also führet uns das Predigambt in dieses himmlische Jerusalem) […].

Gerhard legte diese Stelle nicht wörtlich, sondern allegorisch aus. Angesichts dieser Anstrengungen um das Ernestinische Bibelwerk ist es kaum verwunderlich, dass Gerhard über die hohe Arbeitsbelastung klagte. Er hatte ja nicht nur die redaktionellen Arbeiten zu erledigen, sondern auch vier Vorlesungen anzubieten, mit Studenten Disputationen durchzuführen und regelmäßig Gottes66 Vgl. Gerhard: Commentarius super Genesin, in quo textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, et loca in speciem pugnantia conciliantur. Jena 1637 (VD17 3:300085D). Ders.: Adnotationes in Apocalypsin D. Johannis Theologi, in quibus textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, et loca in speciem pugnantia quam brevissime conciliantur. Erfurt 1643 (VD17 23:244594H). 67 Vgl. z.B. FB Gotha, Chart. B 459, Bl. 364v. Zu Bellarmins Bibelexegese vgl. Thomas Dietrich: „Schriftverständnis und Schriftauslegung bei Robert Bellarmin (1542–1621)“, in: Bultmann (Hg.): Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik, S. 341–356. 68 Vgl. Ernst Koch: „Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606)“, in: PuN 13 (1987), S. 25–46.

Gerhards Anteil am Ernestinischen Bibelwerk

175

dienste zu halten.69 Hinzu kamen seine Beratertätigkeiten in anderen theologischen Fragen. Außerdem müssen die Rahmenbedingungen für die Entstehung des Ernestinischen Bibelwerks bedacht werden: Im September 1636 zog sich Gerhard nach Kahla zurück, um einer in Jena grassiereden Seuche zu entgehen. Schwedische Truppen verwüsteten im November 1636 Gerhards Landgut in Roßla. Im Februar 1637 fielen kaiserliche Truppen in Jena ein und plünderten auch in Gerhards Haus. Aufgrund all dieser Beschwernisse schlug Herzog Ernst eine teilweise Freistellung des Jenaer Theologieprofessors vor.70 Offenbar hatte Gerhard dieses Angebot aber nicht angenommen, so dass ihn die intensive Arbeit am Ernestinischen Bibelwerk schließlich alle Kräfte kostete. 5. AUSBLICK Das Ernestinische Bibelwerk kam erst mit der Auslieferung der gedruckten Bände am Jahresende 1641 zu seinem endgültigen Abschluss, nachdem die letzten Bogen Ende 1640 gedruckt worden waren. Nachdem Gerhard gestorben war, konnten die redaktionellen Arbeiten nur sehr schleppend fortgesetzt werden. Dieser Umstand unterstreicht, dass Gerhards Anteil am Zustandekommen dieses Unternehmens sehr groß gewesen sein muss. In seiner Hand lagen die meisten Arbeiten, die weit über die Koordination, die Revision und die eigene Kommentierung hinausgingen. Erschwerend kam hinzu, dass seine Nachfolger erst im Januar 1638 von Gerhards Witwe, Maria, alle Korrekturen ihres Mannes erhielten.71 Gerhards theologische Nachwuchsförderung zahlte sich dadurch aus, dass das Ernestinische Bibelwerk in seinem Sinne durch seine Schüler Salomo Glassius und Johann Michael Dilherr72 zu Ende gebracht wurde. Sie sorgten mit den beiden anderen Jenaer Theologieprofessoren dafür, dass die Kommentierung der einzelnen Bücher einheitlich erschien. Zweifellos trugen Glassius und Dilherr die Hauptlast der Endredaktion, da Major und Himmel die zusätzliche Arbeitslast aufgrund ihres Alters kaum bewältigen konnten. Schließlich kann die Wirkung des Ernestinischen Bibelwerks beim derzeitigen Forschungsstand nur angenommen werden. Jedoch ist davon auszugehen, dass, als 1768 die letzte Auflage – immerhin die 14. – erschien, das Buch in zahlreichen Pfarrbibliotheken in Mittel- und Norddeutschland vorhanden war.73 Noch 1736 wurde darüber diskutiert, ob das Buch nicht von allen Pfarrämtern in den Herzogtümern Sachsen-Gotha und Sachsen-Altenburg angeschafft werden soll69 Vgl. beispielsweise LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 3, Bl. 3r–4v: Brief von Gerhard an Herzog Ernst, 1. Juli 1636. 70 Vgl. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 105r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 7. Dezember 1636. 71 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 160r–161v. 72 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX.VI. 3, Bl. 119r–v: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 25. Juni 1637. 73 Vgl. Ernst Koch: „Dorfpfarrer als Leser. Beobachtungen an Visitationsakten des 18. Jahrhunderts im Herzogtum Sachsen-Gotha“, in: PuN 21 (1995), S. 274–298, hier: 287.

176

Stefan Michel

te.74 Das Ernestinische Bibelwerk prägte somit die lutherische Bibelauslegung in Predigt und Unterweisung in unvergleichlicher Weise über einen langen Zeitraum. Dadurch wurden zweifellos auch theologische Auslegungen Gerhards popularisiert.

74 Vgl. LATh – StA Gotha, GA, XX. VI. 18.

GELEHRTENKULTUR UND REFORMATIONSGEDENKEN 1617 AM BEISPIEL DER ERNESTINISCHEN HERZOGTÜMER Formen, Kontexte und dynamische Prozesse Daniel Gehrt 1. EINLEITUNG1 Im Frühsommer 1616 folgte der Coburger Generalsuperintendent Johann Gerhard mit 33 Jahren einer Berufung an die Universität Jena, wo er zehn Jahre zuvor am 13. November 1606 promoviert worden war.2 Die Akademie an der Saale gewann mit diesem neuen Theologieprofessor einen brillanten und hochproduktiven Gelehrten mit einem Renommee, das in protestantischen Kreisen von Mitteleuropa bis nach England Gültigkeit besaß. Bezeichnend für sein hohes Ansehen ist sowohl die Vielzahl der Rufe, die er bereits an zahlreiche Orte erhalten hatte,3 als auch die ebenso rasche wie weite Verbreitung seiner Schriften. Gerhard war sich seiner intellektuellen Größe durchaus bewusst.4 Das Publikationsprofil, das sich anhand seiner bis zum Amtsantritt in Jena erschienenen Schriften nachzeichnen lässt, zeigt deutliche Konturen der selbstgewählten Lebensaufgabe, ein umfassendes und den zeitgenössischen wissenschaftlichen Ansprüchen angemessenes Fundament der lutherischen Theologie zu schaffen. Seine Antworten auf aktuelle 1 2

3

4

Für die vielfältige Unterstützung bei der Entstehung dieses Beitrags danke ich herzlich Philipp Knüpffer. Zu seinem Wirken an der Universität Jena vgl. Jörg Baur: „Johann Gerhard“, in: Martin Greschat (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart u.a. 1993, S. 99–119. Ders.: „Die Leuchte Thüringens, Johann Gerhard (1582–1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges“, in: Lutherische Theologie und Kirche 12 (1988), S. 89–110. Neuabdruck in ders.: Luther und seine klassischen Erben. Tübingen 1993, S. 335–356. Erdmann Rudolph Fischer: Vita Ioannis Gerhardi […]. Leipzig 1723, bes. S. 95–111 (seit 2001 auch in englischer Übersetzung von Richard J. Dinda und Elmer Hohle). Karl Heussi: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena. Weimar 1954, S. 116–131. Max Steinmetz (Hg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58 bis 1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Bd. 1. Jena 1958, S. 80–84. Zwischen 1608 und 1616 hatte Gerhard Berufungen nach Magdeburg, Hamburg, Weimar, Gießen, Celle, Prag, Linz, Hernals bei Wien, Mansfeld, Altdorf, Eisleben, Schleusingen, Quedlinburg, Wittenberg und Stadthagen abgelehnt. Vgl. Fischer: Vita, S. 184–250. Briefe und Akten zu den verschiedenen Berufungen befinden sich in: FB Gotha, Chart. A 408. Bezeichnend dafür ist Gerhards Angewohnheit, lobende Urteile von anderen Gelehrten über seine Werke in Privatexemplare seiner Werke einzutragen. Überliefert sind die entsprechenden Auszüge für seine Evangelienharmonie und die Confessio Catholica in: FB Gotha, Chart. B 469, Bl. Ia und Iv sowie FB Gotha, Theol 4° 132/1 (1–2).

178

Daniel Gehrt

Kontroversen – sei es auf innerkonfessioneller Ebene wie etwa bezüglich der umstrittenen theologischen Ansichten von Johann Arndt, Hermann Rathmann, der Tübinger Theologen und von Georg Calixt oder in Abgrenzung zu Katholiken, Reformierten und Sozinianern – fanden in diesen Werken Aufnahme und manifestierten sich nicht etwa in polemischen Flugschriften. Seine zahlreichen Beiträge zur Theologie und Frömmigkeitskultur erschienen in einem breit gefächerten Spektrum von Genres. Seine frühen Andachtsbücher mit Titeln wie Meditationes sacrae5 und Exercitium pietatis quotidianum quadripartitum6 erreichten eine große Leserschaft. Beide Werke wurden unmittelbar ins Deutsche und danach in andere europäische Sprachen übersetzt. Über die folgenden Jahrhunderte erreichten die Meditationes eine Auflagenzahl ohnegleichen. Seine homiletische Deutung der Passionsgeschichte7 und die Auslegungen sämtlicher Sonn- und Festtagsevangelien8 dienten gleichzeitig als erbauliche Literatur für Laien und als Arbeitsgrundlage für die Predigttätigkeit der Pfarrer. Sein 1610 erschienener Traktat De Legitima Scripturae Sacrae Interpretatione gilt als eine der bedeutendsten Publikationen zur lutherischen Bibelhermeneutik seit der von Matthias Flacius 1567

5

6 7

8

Vgl. Johann Gerhard: Quinquaginta Meditationes Sacrae ad veram pietatem excitandam & interioris hominis profectum promovendum accomodatae […]. Jena 1607 (VD17 547:679965H; 23:245961S). Die eigenhändige, um das Jahr 1603 entstandene Urfassung in FB Gotha, Chart. B 894. Neudruck dieser Ausgabe: Meditationes Sacrae (1603/4). Kritisch herausgegeben und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. Noch frühere Fassungen einzelner Meditationen in: FB Gotha, Chart. B 915, Bl. 96r–101v, 103r–105r. Zum Werk vgl. Ernst Koch: „Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606)“, in: Pietismus und Neuzeit 13 (1987), S. 25–46. Zur überarbeiteten Auflage vgl. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7). Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Teilbände. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. Das Werk erschien bereits 1611 in englischer, 1614 in dänischer, 1615 in tschechischer und 1616 in ungarischer Sprache. Die einzelnen Ausgaben und Auflagen auch für andere Werke von Gerhard sind verzeichnet in: Bibliographia Gerhardina 1601–2002. Verzeichnis der Druckschriften Johann Gerhards (1582–1637) sowie ihrer Neuausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen. Bearbeitet und herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Peter Fiers. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Vgl. Johann Gerhard: Exercitium Pietatis Quotidianum Quadripartitum. Coburg 1612 (VD17 23:245960K). Neudruck dieser Ausgabe: Exercitium pietatis quotidianum quadripartitum (1612). Herausgegeben von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2008. Vgl. Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens unnd Sterbens unsers Herrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten/ Also angestellt/ daß wir dadurch zur Erkentnis der Liebe Christi erwecket werden/ unnd am innerlichen Menschen seliglich zunehmen mögen. Jena 1611 (VD17 3:301459R). Neudruck dieser Ausgabe: Erklährung der Historien des Leidens vnnd Sterbens vnsers Herrn Christi Jesu nach den vier Evangelisten (1611). Herausgegeben von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. Johann Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen und fürnehmesten FestEuangelien/ uber das gantze Jahr. 3 Teile. Jena 1613 (VD17 23:246177E; 23:246178N; 23:246180H; 23:246182Y). Neudruck dieser Ausgabe: Postilla (1613). 2 Teile. Herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Franziska May. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013/15.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

179

veröffentlichten Clavis Scripturae Sacrae.9 Im gleichen Jahr publizierte er ein dogmatisches Werk zu den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls10 und den ersten der insgesamt neun Bände seiner Loci theologici.11 Mit letzterem setzte Gerhard einen Meilenstein der systematischen Darlegung lutherischer Theologie, in der er mit Hilfe aristotelischer Kategorien des Seienden eine kommunikative Ebene zwischen philosophischen und theologischen „Wahrheiten“ herstellte.12 Kennzeichnend für diese verstärkte Hinwendung zur neuaristotelischen Wissenschaftslehre im Luthertum ist die erneute Einführung der einst von Luther diskreditierten Metaphysik in den Lehrbetrieb der protestantischen Universitäten Anfang des 17. Jahrhunderts.13 Zu den Vorreitern dieses Wandels zählte auch Gerhard.14 Gerhard lehrte und publizierte in Jena weiterhin programmatisch.15 Vor diesem Horizont ist auch seine am 20. Januar 1617 begonnene methodische Vorlesung zu den theologischen Studien zu betrachten, die anschließend als umfangrei9

10

11

12 13

14

15

Vgl. Johann Gerhard: Tractatus De Legitima Scripturae Sacrae Interpretatione. Jena 1610 (VD17 23:246218D). Neudruck dieser Ausgabe: Tractatus de legitima Scripturae Sacrae interpretatione (1610). Lateinisch – deutsch. Herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Vanessa von der Lieth. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007. Zur Einschätzung der Bedeutung vgl. ebd., S. 488f. Vgl. Johann Gerhard: Ausführliche Schrifftmessige Erklerung der beyden Artickel Von der heiligen Tauffe und Von dem heiligen Abendmahl/ Solcher massen angestellet/ daß jegliche Puncten derselben mit allen und jeden dahin gehörigen Zeugnissen der heiligen Schrifft beweisen und die darwider streitend scheinende örter erkleret werden. Jena 1610 (VD17 23:246224E). Vgl. Johann Gerhard: Locorum Theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose, solide & copiose explicatorum tomus primus [–nonus]. Jena 1610–1622 (VD17 12:112662H). Druckmanuskript für den dritten Band in: FB Gotha, Chart. A 619. Druckmanuskript für den vierten Band in: SUB Hamburg, Theol. 1241. Vgl. dazu Johann Anselm Steiger: „Johann Gerhards biblische Exzerptbücher. Zwei Autographen-Funde und die Suche nach mehr“, in: ZKG 110 (1999), S. 247–250, hier: 248, Anm. 12. Einzelne Bände des Werks werden seit 2007 in englischer Übersetzung von Richard J. Dinda und mit Kommentaren von Heath R. Curtis und Benjamin T.G. Mayes in St. Louis, Missouri, veröffentlicht. Grundlegend dazu: Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. Lund 1951. Vgl. auch Baur: „Leuchte“, bes. S. 342–344. Ders.: „Gerhard“, S. 102 und 109f. Zusammenfassend zur Aufnahme der neuaristotelischen Logik an den lutherischen Universitäten: Kenneth G. Appold: „Academic Life and Teaching in Post-Reformation Lutheranism“, in: Robert Kolb (Hg.): Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675. Leiden u.a. 2008, S. 65–115, hier: 95–99. Gerhard hielt in den Jahren 1603 und 1604 eine Privatvorlesung in Jena über die Metaphysik. Das eigenhändige Manuskript befindet sich in: FB Gotha, Chart. B 281, Bl. 137r–216r. Vgl. dazu Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, und den Beitrag von Sascha Salatowsky im vorliegenden Sammelband. Eine dem inzwischen verschollenen Diarium Gerhards entnommene chronologische Liste der Vorlesungen, die er zwischen 1617 und 1637 an der Universität Jena hielt, findet sich bei: Fischer: Vita, S. 100–103.

180

Daniel Gehrt

ches Kompendium publiziert wurde.16 Diese frühe Anweisung zum Theologiestudium im Luthertum, die wissenschaftstheoretische Grundfragen erörtert und methodische Grundlagen vermittelt, entstand in Konkurrenz zum breit rezipierten Methodus studii theologici des reformierten Theologieprofessors Johann Heinrich Alsted von 1616.17 1617 brachte Gerhard seine auf der Grundlage von Synopsen der vier Bücher der Evangelisten erstellte und kommentierte Darlegung des Lebens Jesu von der Passion bis zur Himmelfahrt in zwei Bänden zum Druck.18 Sie bildeten den Kern seiner zehn Jahre später vollendeten Evangelienharmonie.19 Hatte Martin Chemnitz als erster Lutheraner ein solches Vorhaben konzipiert und begonnen und Polycarp Leyser es fortgesetzt, fand das epochale Werk bei Gerhard seinen Abschluss.20 In Anbetracht dieser beeindruckenden Leistungen gilt Gerhard als eine intellektuelle Lichtgestalt der lutherischen Konfessionskultur in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Diese Prominenz genoss er bereits bei seinen Zeitgenossen. Der Dresdner Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg drückte seine Bewunderung für Gerhard mit Epitheta wie etwa „archi-theologus meritissimus ac dignissimus“, „theologorum antesignanus“ und „theologus nostri seculi primarius“ aus.21 In seiner Leichenpredigt auf Gerhard verwendete der Jenaer Theologieprofessor Johannes Major die biblische Bezeichnung „außerwehletes Rüstzeug Christi Jesu“ (Apg 9,15), um seinen verstorbenen Kollegen in eine Reihe mit so zentra16 Vgl. Johann Gerhard: Methodus Studii Theologici publicis praelectionibus in Academia Ienensi Anno 1617 exposita. Jena 1620 (VD17 23:245131D). Vgl. dazu Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006, bes. S. 188. Johann Anselm Steiger: „Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u.a.) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplans von Glassius und einer Bibliographie der von ihm konzipierten Studienbibliothek“, in: Christiane Caemmerer u.a. (Hg.): Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997 (= Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 33). Amsterdam u.a. 2000, S. 191–252, hier: 197–201. Eigenhändiges Manuskript in: FB Gotha, Chart. A 618, Bl. 52r–180v. Abdruck der in elegischen Distichen verfassten Ankündigung der Vorlesung vom 19. Januar 1617 in Johann Gerhard: Methodus Studii Theologici publicis praelectionibus in Academia Ienensi Anno 1617. exposita. Leipzig und Jena 1654 (VD17 3:008380L), Bl. a8v. 17 Zur geistesgeschichtlichen Einordnung dieses Werkes vgl. Nieden: Erfindung, S. 160–236. 18 Vgl. Johann Gerhard: In Harmoniam Historiae Evangelicae De Passione, Crucifixione, Morte Et Sepultura Christi Salvatoris nostri, ex quatuor Evangelistis contextam, commentarius conscriptus. 2 Teilbände. Jena 1617 (VD17 3:010263H; 3:010265Y). Privatexemplar von Gerhard mit eigenhändigen Unterstreichungen und Marginalien sowie mit Abschriften der Stellungnahmen von 13 Gelehrten zum Werk aus dem Zeitraum zwischen dem 29. Dezember 1617 und September 1621 in FB Gotha, Theol 4° 132/1 (1–2). 19 Vgl. Johann Gerhard: Harmoniae Evangelistarum Chemnitio-Lyserianae a Johanne Gerhardo D. continuatae & justo commentario illustratae pars prima [–tertia]. Jena 1626/27 (VD17 23:246152D; 23:246154U; 23:246156K). Vorarbeiten zu diesem Werk in: FB Gotha, Chart. B 457 und Chart. B 461. 20 Vgl. Baur: „Gerhard“, S. 115. Dietrich Wünsch: Art. „Evangelienharmonie“, in: TRE 10 (1982), S. 626–636, hier: bes. 633f. 21 Zitiert nach Fischer: Vita, S. 356.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

181

len Figuren der christlichen bzw. protestantischen Heilsgeschichte wie Moses, Paulus und Luther zu stellen.22 Zu Gerhards zahlreichen Werken schrieb Major: Aber keines hat er zweymal vmb oder abgeschrieben/ noch schreiben lassen/ sondern so geschwind die cogitata vnd der Kopff/ so geschwind die Faust/ kein Brunn quillet so reichlich/ als es bey Jhme flosse/ wenn er die Feder ansetzte. Es hieß dictum factum; So arbeitsam vnd expedit in allen Sachen/ ist mir kein Mann vorkommen/ Jch achte auch nicht/ daß jemand vnter euch dergleichen gesehen/ als dieser Mann gewesen.23

Nicht minder hoch schätzten die anderen Jenaer Professoren ihren Kollegen. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt in der Saalestadt wurde Gerhard gleichzeitig zum Rektor der Universität und zum Dekan der Theologischen Fakultät gewählt.24 Somit wurde ihm die Ehre zuteil, die Salana und ihre ranghöchste Fakultät zum 100. Jubiläum der Reformation 1617 zu leiten und zu lenken. Setzten die Jenaer Professoren mit dieser Doppelwahl bewusst ein Zeichen dafür, dass ein wichtiger Erneuerer des Luthertums nunmehr in der Saalestadt lebte und wirkte? Gehörte dieser außergewöhnliche Akt zu den subtilen symbolischen Formen der Gesamtinszenierung des Reformationsgedenkens an der Salana? Heutzutage gilt es als selbstverständlich, eines folgenreichen historischen Ereignisses, das sich zum 100. Mal jährt, in festlichem Rahmen zu gedenken und über seine Relevanz für die Gegenwart zu reflektieren; doch die frühesten bekannten historischen Säkularfeiern stammen erst aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Keimzellen dieses Phänomens waren die protestantischen Universitäten. Auf ihr ein- bzw. zweihundertjähriges Bestehen zurückblickend richteten Tübingen 1578, Heidelberg 1587 und Wittenberg 1602 akademische Feiern aus.25 Vor diesem Hintergrund lag es 1617 nahe, der im akademischen Kontext entstandenen Wittenberger Reformation, die 1517 in 95 Disputationsthesen ihre Initialzündung gefunden hatte, in ähnlicher Weise zu gedenken. Diese Säkularfeier erreichte jedoch völlig neue Dimensionen. Pläne, des Gründungsmythos des Protestantismus im zeremoniellen Rahmen zu gedenken, wurden rasch zum Politikum angesichts der Konflikte, die am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zwischen den Kon22 Johannes Major: Christliche/ Wehemütige Trawer- vnd Leichpredigt […] Des thewren werthen Manns Herrn Johannis Gerhardi […]. [Jena] 1637 (VD17 23:244894Z). Zitiert nach dem Neudruck in Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard. Herausgegeben von Johann Anselm Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner und Alexander Bitzel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 251–315, hier: 294. 23 Major: Leichpredigt, S. 305. 24 Mitteilung der Wahl zum Rektorat am 7. Juli 1617 in FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 231r–232v. Anlässlich des Amtsantritts am 14. August 1617 verfassten mehrere Kollegen und Freunde Gedichte, die in einem Sammelband in Jena abgedruckt wurden (VD17 125:011022T). 25 Vgl. Winfried Müller: „Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 79–102. Ders.: „Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion“, in: Ders. (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, S. 1–75, hier: bes. 20–24. Thomas Kaufmann: „Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zum 16. bis 18. Jahrhundert“, in: ZThK 107 (2010), S. 285–324, hier: 285–287.

182

Daniel Gehrt

fessionen herrschten. Zum einen gingen mit der idealisierten Erinnerung an die eigene Vergangenheit erneut Abgrenzungsmomente gegenüber der römischkatholischen Kirche und den politischen Akteuren dieser konfessionellen Ausprägung hervor. Dahingegen nahmen die Protestanten die Proklamation eines außerordentlichen Jubeljahrs durch Papst Paul V. am 12. Juni 1617 als Affront wahr, wobei die Frage noch offen bleiben muss, ob dieser Akt tatsächlich als Provokation intendiert war.26 Zum anderen forderte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die evangelischen Stände aufgrund der Differenzen innerhalb der Protestantischen Union und der latenten Tendenzen, die Reformierten aus dem Reichsreligionsfrieden auszuschließen, auf, am Sonntag, dem 2. November 1617 des gemeinsamen historischen Ursprungs der beiden Konfessionen zu gedenken, um die grassierende innerprotestantische Polemik zu unterdrücken und Geschlossenheit gegenüber der römisch-katholischen Kirche und ihren Vertretern unter den Reichsständen zu demonstrieren.27 Dabei artikulierte der reformierte Kurfürst Hegemonialansprüche gegenüber Kursachsen in der Union. Der Vorschlag wurde am 23. April 1617 auf dem Heilbronner Unionstag verabschiedet. Parallel dazu hatte die Theologische Fakultät Wittenberg Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen bereits am 27. März Vorschläge für eine lokale Memorialfeier unterbreitet.28 Der Kurfürst griff auf Anraten des Dresdner Oberkonsistoriums diese Idee auf und ordnete am 12. August ein dreitägiges, vom 31. Oktober bis zum 2. November landesweit zu begehendes Kirchenfest an. Nicht nur die flächendeckende Ausdehnung innerhalb des eigenen Territoriums, sondern auch die Überregionalität der Jubelfeier stellte ein frühneuzeitliches Novum im Alten Reich dar.29 Zahlreiche protestantische Städte und Territorien veranstalteten entsprechende Festlichkeiten, häufig nach pfälzischem oder sächsischem Vorbild.30 In vielen Städten mit Universitäten und hochschulähnlichen Bildungseinrichtungen kamen akademische Feierlichkeiten hinzu. Legten die Fürsten den Verlauf und die Inhalte der kirchlichen Festlichkeiten im Voraus detailliert fest, verfügten die Universitäten entsprechend ihren Autonomieansprüchen über den Freiraum, um die akademische Festwoche weitgehend nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gelehrte bedienten sich verschiedener thematischer Inhalte und Gattungen, die von Deklamationen über Disputationen, Gedichte und Chronogramme bis hin zu Chroniken reichten. Solche mit der Gelehrtenkultur in Verbindung stehenden Aspekte des Reformationsgedenkens 1617 sind im Vergleich zu den Predig26 Vgl. Iris Loosen: „Die ,universalen Jubiläen‘ unter Papst Paul V.“, in: Winfried Müller (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, S. 117–137. 27 Vgl. Hans-Jürgen Schönstadt: Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläums 1617. Wiesbaden 1978, S. 13–15. 28 Vgl. Wolfgang Flügel: Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830. Leipzig 2005, S. 29. Die Universität reichte diese Vorschläge am 24. April beim Kurfürsten erneut ein. 29 Vgl. Kaufmann: „Reformationsgedenken“, S. 285–296. 30 Vgl. Schönstädt: Antichrist, S. 20–85.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

183

ten und liturgischen Gestaltungen der Festgottesdienste sowie zu der antipäpstlich bzw. -jesuitisch akzentuierten publizistischen Kampagne der Protestanten in Wort und Bild in der Forschung bisher kaum berücksichtigt worden. Diese Schieflage ist durchaus berechtigt, denn es ist in erster Linie die überregional gleichzeitige und -artige feierliche Begehung eines identitätsstiftenden historischen Ereignisses, die das evangelische Jubiläum von 1617 beispiellos machte. Zudem entfalteten die massenmedialen Formen der Feierlichkeiten im Gegensatz zu den exklusiv für Gelehrte konzipierten Formen eine gewisse Breitenwirkung. So berücksichtigte Hans-Jürgen Schönstädt in seiner grundlegenden, im Jahr 1978 erschienenen Monographie zum ersten Säkularjubiläum der Reformation zwar auch die Universitäten bei der Rekonstruktion der Feierlichkeiten in den einzelnen protestantischen Städten und Territorien des Reiches, schloss aber Deklamationen und Disputationen weitgehend aus.31 Vielmehr schöpfte er primär aus einem breit angelegten Corpus von gedruckten deutschen Predigten für seine geistesgeschichtliche Untersuchung zum kollektiven protestantischen Bild von der römischen Kirche, der Reformation und von Luther Anfang des 17. Jahrhunderts.32 Im Wesentlichen beschreibt Schönstädt eine in ihrem Verlauf und Charakter einheitliche Feier. Diese relativierenden Tendenzen haben die nachfolgende Forschung geprägt.33 So fokussieren neuere Studien zum Reformationsjubiläum 1617 auf die enorme Breitenwirkung des Jubiläums, insbesondere auf kommunikative und mediale Aspekte, auf die kirchliche Ausgestaltung, auf die politische Instrumentalisierung und zunehmend auch auf die Bedeutung der Erinnerungskultur.34 Innerhalb dieser 31 Vgl. Schönstädt: Antichrist. Er fasst die Ergebnisse dieser Studie zusammen und bereichert sie durch Archivmaterial aus Coburg und Hannover in seinem Beitrag „Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung“, in: ZKG 93 (1982), S. 5–57. Schönstädts Darlegung der Genese und Gestaltung des Gedenkens in Wittenberg beruht stark auf der von Friedrich Loofs im Jubiläumsjahr 1917 verfassten Studie: „Die Jahrhundertfeiern der Reformation an den Universitäten Wittenberg und Halle, 1617, 1717 und 1817“, in: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 14 (1917), S. 1–80, hier: bes. 3–19. 32 Auch Robert Kolb widmet sich der Publizistik in Verbindung mit dem Jubiläum, um das damals vorherrschende Lutherbild der Zeit herauszuarbeiten: Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero. Images of the Reformer, 1520–1620. Grand Rapids/Michigan 1999, bes. S. 126–134. 33 Auch Volker Leppin beanstandet diese Tendenz in seinem Beitrag „Das Reformationsjubiläum 1617“, in: Ders., Reformatorische Gestaltungen. Theologie und Kirchenpolitik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2016, S. 331–353, hier: 353. 34 Ruth Kastner untersucht die Jubelfeier als Kommunikationsprozess vorwiegend anhand von illustrierten Flugblättern, Medaillen, Dramen und Predigten: Geistlicher Rauffhandel. Illustrierte Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617. Frankfurt am Main 1982. Helga Robinson-Hammerstein erweitert den Blick auf die mediale Bandbreite, derer die Protestanten sich bedienten, durch eine Studie mit einem Schwerpunkt auf der Musik bei der liturgischen Inszenierung des Festes: „Sächsische Jubelfreude“, in: Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988. Gütersloh 1992, S. 460–494. Harry Oelke nimmt in seiner Monographie die illustrierten Flugblätter anlässlich des Reformationsjubiläums in den Blick: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin u.a. 1992, S. 415–429. Thomas Kaufmann, der ebenfalls hauptsächlich mediale Aspekte des Jubi-

184

Daniel Gehrt

Bandbreite von Forschungsansätzen befindet sich jedoch keine Studie, die sich exklusiv den akademischen Feierlichkeiten widmet. Vielmehr wird dieser facettenreiche Teil des Gesamtphänomens, wenn überhaupt, meist nur marginal behandelt. Sowohl in der Überblicksdarstellung von Schönstädt als auch in den vielen lokal ausgerichteten Studien fehlen auch Vergleiche zwischen den verschiedenen Bildungsstätten. Wurden bisher anhand von gedruckten Schriften Abläufe rekonstruiert und Inhalte von Predigten und Reden sowie von einzelnen Gedichten und Thesenreihen zum Teil ausgewertet, bleibt nach wie vor ein kühner Sturz in die Tiefe der vorhandenen Quellen aus, die auch Einblatt- und Kleindrucke – das klassische Format universitärer Programmata35 und Gelegenheitsschriften – sowie Nachlässe, Korrespondenzen und andere handschriftliche Überlieferungen umfassen. Wurde Gelehrtenkultur im Zusammenhang mit der Säkularfeier 1617 zwar bisher nie gezielt untersucht, erörtern dennoch einige Studien auch akademische Kontexte. Ein kurzer Überblick über die diesbezügliche Forschungslage lässt einige Gemeinsamkeiten zwischen den Bildungseinrichtungen, aber auch Eigenheiten konstatieren. In seiner grundlegenden, auf gedrucktem wie handschriftlichem Material beruhenden Studie zu Wittenberg aus dem Jahr 1917 berücksichtigte Friedrich Loofs die kirchlichen und akademischen Festtage in Wittenberg gleichermaßen detailliert, wobei er nur geringfügig auf die Inhalte der Predigten, Reden und Disputationen, die zwischen dem 31. Oktober und dem 8. November gehalten läums beleuchtet, geht wie Kastner verstärkt der Massenwirkung nach: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998, S. 10–23. Vgl. auch ders.: „Reformationsgedenken“. Wolfgang Flügel verfolgt die in Sachsen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert erfolgte institutionelle Verselbständigung der im Jahrhundert- oder Halbjahrhundertrhythmus begangenen Feier zum Gedenken der Veröffentlichung der 95 Thesen Luthers 1517, der Überreichung der Confessio Augustana an Kaiser Karl V. 1530, des Augsburger Religionsfriedens 1555 und der Vollendung der Konkordienformel und des Konkordienbuches 1576/77 bzw. 1580 in: Konfession und Jubiläum, hier: bes. S. 25–84. Vgl. auch Flügels Aufsatz: „Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum“, in: Müller (Hg.): Das historische Jubiläum, S. 77–99. Das Gesamtphänomen des historischen Jubiläums, bei dessen Genese das Reformationsjubiläum von 1617 einen entscheidenden Kulminationspunkt darstellt, untersucht Winfried Müller unter anderem anhand von Forschungsansätzen zur Erinnerungskultur in: Das historische Jubiläum. Volker Leppin behandelt zum einen das für die lutherische Konfessionskultur identitätsstiftende und in den Jubiläumspredigten immer wieder vorkommende Motiv des Papstamts als Antichrist und zum anderen die unterschiedlichen integrativen und abgrenzenden Ansätze der Theologen in der Kurpfalz, Württemberg und Kursachsen bei der Konstruktion konfessioneller Identität vor dem Hintergrund der Unionspolitik in: „‚... das der Römische Antichrist offenbaret und das helle Liecht des Heiligen Evangelii wiederumb angezündet’. Memoria und Aggression im Reformationsjubiläum 1617“, in: Heinz Schilling (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. München 2007, S. 115–131. Ders.: „Das Reformationsjubiläum 1617“. 35 Zu dieser Gattung vgl. Christiane Domtera-Schleichardt: „Paul Ebers Beiträge in den gedruckten Wittenberger ‚Scripta publice proposita‘“, in: Daniel Gehrt und Volker Leppin (Hg.): Paul Eber (1511–1569). Humanist und Theologe der zweiten Generation der Wittenberger Reformation. Leipzig 2014, S. 565–586; sowie demnächst ihre Dissertation und jene von Philipp Knüpffer zu Bekanntmachungen an der Universität Jena in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

185

wurden, einging.36 In späteren Studien wurden diejenigen Teile der von Loofs dargelegten Abläufe nicht rezipiert, die verdeutlichen, über welche Möglichkeiten die Universität Wittenberg als historische Wirkungsstätte Luthers verfügte, um ihre Festlichkeiten besonders symbolreich zu inszenieren. Der Lehrkörper und zahlreiche Studenten hatten sich am 31. Oktober zur frühen Morgenstunde im Augustinerkloster bei Luthers Studierstube – dem physisch wahrnehmbaren Entstehungsort zahlreicher Schriften, die Kirche, Bildungswesen und Gesellschaft tiefgreifend verändert hatten – versammelt, um gemeinsam Psalmen und geistliche Lieder zu singen.37 Anschließend liefen sie in Prozession durch die Stadt zur Schlosskirche, dem Ort des Thesenanschlags, der sich im protestantischen kulturellen Gedächtnis früh zum „Urereignis“ der Wittenberger Reformation herausgebildet hatte und an dessen Historizität damals niemand zweifelte.38 Der Wittenberger Theologieprofessor Wolfang Franz hatte dieses historische Moment wenige Tage zuvor neu inszeniert, indem er Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel in einer kommentierten Neuauflage veröffentlicht und auf deren Grundlage am 24. Oktober im Rahmen einer Doppelpromotion eine Disputation an der Theologischen Fakultät geleitet hatte.39 Eine entscheidende Ergänzung zu Loofs grundlegender Arbeit bietet Annina Ligniez durch ihre Monographie über frühneuzeitliche Jubelpredigten in Wittenberg und durch ihren komplementären Aufsatz zu den drei Festreden, die 1617 an der dortigen Universität gehalten wurden.40 Im Mittelpunkt ihrer Forschungen steht die zeitgenössische Konstruktion einer lokalspezifischen Heilsgeschichte. Verliefen die Feierlichkeiten an der älteren albertinischen Universität in Leipzig im gleichen Zeitraum wie in Wittenberg, so nahm doch das Programm eigene Gestalt und andere inhaltliche Schwerpunkte an.41 Im Unterschied zu den Veranstal36 Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 3–19. Schönstädt gibt lediglich den Ablauf in verkürzter Form wieder: Antichrist, S. 23f. Wolfgang Flügel und Annina Ligniez untersuchen nicht die akademischen Feierlichkeiten in ihren Monographien zu Jubiläen in Kursachsen bzw. Wittenberg. Vgl. Flügel: Konfession und Jubiläum. Ligniez: Das Wittenbergische Zion. Konstruktion von Heilsgeschichte in frühneuzeitlichen Jubelpredigten. Leipzig 2013. Ligniez wertet aber die drei akademischen Festreden zum Teil aus in ihrem Beitrag „Legitimation durch Geschichte. Das erste Reformationsjubiläum 1617 in Wittenberg“, in: Klaus Tanner (Hg.): Konstruktion von Geschichte. Jubelrede – Predigt – protestantische Historiographie. Leipzig 2012, S. 53–66. 37 Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 15f. 38 Zur aktuellen Diskussion über die Historizität des Ereignisses vgl. Joachim Ott und Martin Treu (Hg.): Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion. Leipzig 2008. 39 Vgl. Wolfgang Franz: De Indulgentiis Pontificiis disputatio Theologica Jubilaea in qua sunt I. propositiones, quas anno Christi 1517. ad diem XXXI. Octobris, post horam meridianam duodecimam, ad Valvas templi arcis Wittebergensis affixit, adeoq[ue] primas contra Papatum Romanum solennissime promulgavit vir Dei D. Martinus Lutherus […]. Wittenberg 1617 (VD17 23:245844W). Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 17. 40 Vgl. Ligniez: Das Wittenbergische Zion. Dies.: „Legitimation durch Geschichte“. 41 Schönstädt legt das Programm dar in: Antichrist, S. 23–25. Als Ausblick zu seiner Studie über das Selbstverständnis der Universität Leipzig im Rahmen deren Säkularfeier 1609 macht Sebastian Kusche einen flüchtigen Vergleich zum Reformationsgedenken 1617 in der Stadt, ohne jedoch direkt auf den Ablauf oder die Inhalte der Predigten und Reden einzugehen:

186

Daniel Gehrt

tungen in Wittenberg, die lediglich Mitglieder der Theologischen und Philosophischen Fakultät organisierten, ist für Leipzig die direkte Beteiligung aller vier Fakultäten nachzuweisen. Während an beiden Universitäten die Doktorwürde jeweils an drei Theologen verliehen wurde, fanden in Leipzig Promotionen auch an der Juristischen und Medizinischen Fakultät statt. In Heidelberg gehörten Promotionen nicht zum Festprogramm. Der alleinige Kirchenfesttag, der 2. November, war dennoch nicht minder dicht von akademischen Veranstaltungen umrahmt, wie Gustav Adolf Benrath in seiner Monographie zur frühen Tradition der Kirchengeschichtsschreibung in der Universitätsund Residenzstadt gezeigt hat.42 Benrath ging inhaltlich auf die Disputation vom 1. November unter dem Vorsitz des Theologieprofessors David Pareus, die am 3. und 4. November gehaltenen Deklamationen und ein abschließendes, am 5. November vorgetragenes Gedicht ein. Die Heidelberger Professoren hatten das Fest bewusst mit einer Disputation eröffnet, da dies die ursprünglich von Luther gewählte Form war, um seine Kritik an Missständen in der Kirche zu artikulieren.43 Die gleichen Beweggründe veranlassten die Tübinger Professoren, am 31. Oktober eine Disputation über den Ablassstreit abzuhalten. Sie machten den sich zum 100. Mal jährenden Tag des Thesenanschlags durch eine Doppelpromotion an der Theologischen und an der Juristenfakultät zum Höhenpunkt ihrer Feierlichkeiten. In diesem Rahmen wurde ebenfalls eine Rede zum kanonischen Recht gehalten. Insgesamt acht Reden fanden bis zum 10. November anlässlich des Jubiläums in Tübingen statt.44 Einzigartig darunter im interuniversitären Vergleich ist eine Rede auf Griechisch.45 Martin Rümelin knüpfte dabei an eine von

42

43 44

45

„‚Erinnerung‘ im Spannungsfeld von Mythologisierung und akademischer Festkultur. Die Zweihundertjahrfeier der Universität Leipzig 1609“, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 74/75 (2003/04), S. 99–131, hier: 125–131. Zum Reformationsjubiläum fasst Manfred Rudersdorf lediglich die Ergebnisse von Kusche zusammen. Vgl. seinen Beitrag „Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539–1648/1660“, in: Enno Bünz, Manfred Rudersdorf und Detlef Döring (Hg.): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31. Leipzig 2009, S. 331–515, hier: 457f. Vgl. Gustav Adolf Benrath: Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Universität Heidelberg im 16. und 17. Jahrhundert. Speyer 1963, S. 39–46. Schönstädt fasst Benraths Darstellung zusammen: Antichrist, S. 36–38. Volker Leppin interpretiert einzelne Teile der akademischen Schriften vor einem konfessionspolitischen Horizont: „Das Reformationsjubiläum 1617“, S. 341–345. Vgl. Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 40–42. Sie wurden zusammengedruckt in: Jubilaeum Academiae Tubingensis […] in Memoriam admirandae liberationis e regno Babylonis mystico; restaurataeque in Germania, opera B. Lutheri, purioris doctrinae Evangelicae […] Anno Seculari M DC XVII. Prid. Cal. Novembr. et Dieb. aliquot seqq. Tübingen 1617 (VD17 23:624175H). Schönstädt listet die einzelne Verfasser, Themen und Daten auf: Antichrist, S. 44f. Leppin interpretiert einzelne Teile der akademischen Schriften vor einem konfessionspolitischen Horizont: „Das Reformationsjubiläum 1617“, S. 345–350. Vgl. Schönstädt: Antichrist, S. 45.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

187

Martin Crusius etablierte Lehrtradition zur Kultivierung dieser antiken Sprache auch in ihrer gesprochenen Form an.46 Um politische Eigenständigkeit gegenüber der Kurpfalz und Kursachsen zu demonstrieren, bestimmte Herzog Friedrich Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel nicht den 2., sondern den 9. November als zentralen Festtag des Jubiläums in seinem Territorium. Die Professoren der Universität Helmstedt organisierten Disputationen und Deklamationen vom 13. September bis zum 10. November.47 Die vehemente Kritik, die Johann Angelius von Werdenhagen in seinen acht Jubiläumsreden an dem zunehmenden Einfluss des Neuaristotelismus auf die lutherische Theologie äußerte, löste einen brisanten universitätsinternen Streit aus, der im folgenden Jahr zu seiner Entlassung führte. In den mecklenburgischen Herzogtümern fanden ohne herzogliche Anordnung Festveranstaltungen statt. Für die Universität Rostock sind im Zeitraum zwischen dem 1. November und dem 10. Dezember zwei Deklamationen, eine Disputation und – im interuniversitären Vergleich singulär – der Beginn einer Vorlesung zum evangelischen Jubiläum nachzuweisen.48 Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten an den protestantischen Universitäten Greifswald, Frankfurt an der Oder, Marburg, Königsberg, Jena und Gießen ist bisher wenig geforscht worden.49 Das quantitativ wie zeitlich umfangreichste akademische Programm zum Reformationsjubiläum 1617 mit nachweislich zehn Reden und zwölf Disputationen im Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 24. Dezember fand interessanterweise nicht an einer Universität, sondern an der Straßburger Akademie statt, die erst 1621 die kaiserlichen Privilegien mit Promotionsrecht erhalten sollte. Seit der jüngst erschienenen, auf den Darstellungen von Bünger und Schönstädt aufbauenden Studie von Silvio Reichelt gilt die Reichsstadt Straßburg neben Wittenberg und Heidelberg in Bezug auf das Reformationsjubiläum 1617 als am besten er46 Vgl. Walther Ludwig: Hellas in Deutschland. Darstellungen der Gräzistik im deutschsprachigen Raum aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1998, S. 28–82. Vgl. auch demnächst die im Entstehen begriffene Dissertation von Paul Neuendorf: „Daraus kündten auch die graeci lärnen“. Martin Crusius (1526–1607), akademischer Lehrer und Verbreiter des Luthertums im Orient. 47 Inge Mager wertet einige akademische Reden zum Teil in ihrer Studie zum frühen Selbstverständnis der Universität aus: „Reformatorische Theologie und Reformationsverständnis an der Universität Helmstedt im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 74 (1976), S. 11–33, bes. 22–25. Schönstädt fasst im Wesentlichen die Ergebnisse von Mager zusammen: Antichrist, S. 78f. Ders.: „Geschichtliche Herkunft“, S. 18. 48 Vgl. Johann Affelmann: Programma in praelectiones publicas […] De Jubilaeo Evangelico. Initium lectionum fiet […] die perendino, qui erit 4. Novemb., hora a meridie prima, in auditorio magno. Rostock 1617 (VD17 14:077983K). Vgl. hierzu auch Schönstädt: Antichrist, S. 81–83. Ders.: „Geschichtliche Herkunft“, S. 19. Thomas Kaufmann berücksichtigt die akademischen Feierlichkeiten nicht in seiner Monographie: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Betrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675. Gütersloh 1997, S. 587. 49 Vgl. Schönstädt: Antichrist, S. 26f. (Jena), 33 (Greifswald), 35f. (Marburg und Gießen) und 39 (Frankfurt an der Oder und Königsberg).

188

Daniel Gehrt

forschte Stadt.50 Reichelt verband die Rekonstruktion des Festprogramms mit einer Erörterung ausgewählter Motive der Predigten und Reden sowie mit einer konfessionspolitischen Kontextualisierung, die die dynamisierende Konkurrenz mit dem 1617 zur Universität erhobenen Jesuitenkollegen in der benachbarten Stadt Molsheim analysiert. Straßburg gilt somit als Paradebeispiel dafür, dass neben Volluniversitäten auch Bildungseinrichtungen mit hochschulähnlichem Charakter Feierlichkeiten im Rahmen des Reformationsjubiläums organisierten. Dass zum Teil auch Fürsten- und prominente Lateinschulen bzw. Gymnasien ebenfalls dieser Bildungsebene zuzuordnen sind, verdeutlicht die Anordnung Herzog Philipps II. von Pommern-Stettin für das Jubiläumsfest, in der er den Rektor, den Konrektor und einige ausgewählte Schüler des Fürstlichen Pädagogiums in Stettin sowie Lateinschulen und Gelehrte im Allgemeinen aufforderte, Deklamationen zu halten.51 Dennoch sind Beispiele von Feierlichkeiten an solchen Schulen in der Forschung bisher nur am Rande vermerkt worden.52 Die vorliegende Studie will am Beispiel der ernestinischen Territorien die verschiedenen Formen der memorialkulturellen Praxis der Gelehrten auf instituti50 Vgl. im Einzelnen Carl Bünger: Matthias Bernegger, ein Bild aus dem geistigen Lebens Straßburgs zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges. Straßburg 1893, S. 143–162. Silvio Reichelt: „Die Universität als Instrument der Konfessionalisierung. Die akademische Reformationsjubelfeier in Straßburg 1617“, in: Tanner (Hg.): Konstruktion von Geschichte, S. 67–87. Schönstädt: Antichrist, S. 49–57. Ders.: „Geschichtliche Herkunft“, S. 14. 51 Vgl. Daniel Cramer: Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon …, 4. Buch. Stettin 1628 (VD17 23:232933W), S. 210–213. Ferner Schönstädt: Antichrist, S. 31–33. Zu den bisher wenig erforschten curricularen Schnittstellen zwischen Lateinschulen und Universitäten vgl. beispielswiese Joachim Castan: Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illustre des Fürstentums Anhalt in Zerbst, 1582–1652. Halle/Saale 1999, S. 13–18. Daniel Gehrt: „Die Harmonie der Theologie mit den studia humanitatis. Zur Rezeption der Wittenberger Bildungskonzeptionen in Jena am Beispiel der Pfarrerausbildung“, in: Matthais Asche u.a. (Hg.): Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthons. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Leipzig 2015, S. 263–312, hier: bes. 280–284. Ders.: „Die Anfänge des protestantischen Bildungssystems in Gotha“, in: Sascha Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Katalog zur Ausstellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Gotha 2013, S. 10–18, hier: 16. Marek Weywoda: „Die Artistenfakultät als Lateinschule? Institutionen, Träger, Akteure und Inhalte elementarer Bildung in Leipzig im 15. und frühen 16. Jahrhundert“, in: Christoph Fasbender und Gesine Mierke (Hg.): Lateinschulen im mitteldeutschen Raum. Würzburg 2014, S. 37–58. 52 Leppin, Ludwig, Rau und Schönstädt erwähnen beispielsweise Reden, die 1617 an der als Collegium Illustre bezeichneten Adelshochschule in Tübingen, am gräflichen Gymnasium in Eisleben, an den reichsstädtischen Lateinschulen in Ulm und Nördlingen sowie am Gymnasium in Hamburg gehalten wurden, ohne jedoch das Phänomen der akademischen Feierlichkeiten an solchen Bildungseinrichtungen zu thematisieren. Vgl. Leppin: „Das Reformationsjubiläum 1617“, S. 349. Gernot Ludwig: „Zur Geschichte der Fürstlichen Schule, des ‚Gymnasium illustre‘ in Lauingen, IX. Teil, in: Jahresbericht 1972 Albertus-Gymnasium LauingenDonau, S. 35–56, hier: 43f. Susanne Rau: Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln. Hamburg u.a. 2002, S. 95 und 483f. Schönstädt: Antichrist, S. 27 und 66f.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

189

oneller und individueller Ebene in Verbindung mit dem Reformationsgedenken 1617 untersuchen. Nicht nur der Fokus auf die Gelehrtenkultur, sondern auch der gewählte geopolitische Raum verspricht einen besonders hohen Erkenntnisgewinn. Zum einen haben die damals in vier Herzogtümer geteilte Herrschaft der Ernestiner mit Hauptresidenzen in Weimar, Altenburg, Coburg und Eisenach sowie ihre gemeinsame Landesuniversität in Jena in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden.53 Zum anderen gewähren Funde, die die jüngsten Projekte an der Forschungsbibliothek Gotha zur Katalogisierung der Nachlässe Johann Gerhards und des renommierten Kirchenhistorikers der lutherischen Spätorthodoxie, Ernst Salomon Cyprian, zutage gefördert haben, tiefe Einsichten in die Vielfalt, Dynamik und Wirkung von gelehrten Formen der Memorialpraxis im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 1617.54 Zunächst sollen anhand der komplexen Überlieferung die Feierlichkeiten an der Universität Jena anlässlich des Jubiläums rekonstruiert werden. Dabei stellt sich die Frage nach den Initiatoren, Gestaltern und anderen Akteuren des Festes sowie nach den Formen, Inhalten und zeitlichen Dimensionen der Feierlichkeiten. Eingehender zu betrachten sind die Entstehung und die Funktion der biblischen und historischen Weissagungen auf Luthers Person und Werk, die Gerhard im Frühjahr 1617 in seinen Loci theologici veröffentlichte, ferner seine Disputation am 30. Oktober aufgrund ihres weitreichenden Einflusses auf das protestantische Lutherbild sowie seine Deklamation zur Doppelverleihung der theologischen Doktorwürde am 9. Dezember als Schlüssel zum Verständnis der Gesamtinszenierung des Reformationsgedenkens an der Salana. Im zweiten Teil sollen auf der Grundlage von zeitgenössischen Publikationen die Aktivitäten an den Gymnasien in Altenburg, Coburg, Gotha und Weimar verfolgt werden. Einleitend wird dabei 53 Während Schönstädt die Gestaltung des Reformationsgedenkens an Universitäten wie Wittenberg, Leipzig, Heidelberg, Tübingen und Helmstedt ausführlicher beschreibt, erwähnt er die Aktivitäten an der Salana nur mit einem Satz: Antichrist, S. 26f. Das Jubiläum wird auch nicht in der gängigen Literatur zur Universität Jena und zur dortigen Theologischen Fakultät erwähnt, vgl. im Einzelnen Joachim Bauer: Universitätsgeschichte und Mythos. Erinnerung, Selbstvergewisserung und Selbstverständnis Jenaer Akademiker 1548–1858. Stuttgart 2012. Karl Heussi: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena. Weimar 1954. Max Steinmetz (Hg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. 2 Bände. Jena 1958. Lediglich Gerhards Disputation De vocatio Lutheri hat bisher größere Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Vgl. Ernst Walter Zeeden: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. 2 Bände. Freiburg 1952, hier: Bd. 1, S. 85–96; Bd. 2, S. 70–98 (Teiledition mit deutscher Übersetzung). Schönstädt: Antichrist, S. 287. Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg, S. 22f. Für die ernestinischen Lateinschulen ist bisher lediglich die Rede des Gothaer Gymnasialdirektors Andreas Wilke zum Jubiläum zusammengefasst in Christoph Köhler: „Andreas Wilke und Gottfried Vockerodt – zwei namhafte Rektoren des Gothaer Gymnasiums. Ihre schulreformerischen Bestrebungen im Spiegel deklamatorischer Reden“, in: Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule, S. 20–30, hier: 23. 54 Erschließungsergebnisse zu Gerhards Nachlass in der HANS-Datenbank der Forschungsbibliothek Gotha (https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/fb/hans/) und zu Cyprians Nachlass sind in der Kalliope-Datenbank der Staatbibliothek Berlin (http://kalliope.staatsbibliothekberlin.de/de/index.html) online recherchierbar.

190

Daniel Gehrt

ein Blick auf die ernestinische Bildungslandschaft geworfen und abschließend ein Vergleich zwischen den Gymnasien und den Universitäten bezüglich der Gattungen, derer sie sich im Rahmen des Jubiläums bedienten, gezogen. Im dritten Teil werden historiographische Werke, die individuelle Gelehrte aus eigenem Antrieb anlässlich des Jubiläums verfassten, erörtert. Die Studie will durch ihre neuen Perspektiven dazu beitragen, den Forschungshorizont zum ersten Reformationsjubiläum zu erweitern. Sie stellt in dreierlei Hinsicht einen Ausgleich zu Schönstädts so grundlegender wie prägender Monographie dar. Zum einen sollen nicht die Kirchenfesttage, sondern die akademischen Formen der Feierlichkeiten im Mittelpunkt stehen. Zum anderen wird weniger eine geistesgeschichtliche Momentaufnahme als eine Darlegung dynamischer Prozesse bei der Entstehung und Rezeptionen von Ideen angestrebt. Schließlich wird anstelle der Gemeinsamkeiten das Augenmerk primär auf die Vielfalt und das Unikale gerichtet.55 So soll ein lebendiges und differenziertes Bild des Reformationsgedenkens 1617 gezeichnet werden. 2. DIE UNIVERSITÄT JENA In den gedruckten Anordnungen der ernestinischen Fürsten zur feierlichen Begehung des Reformationsjubiläums 1617 findet sich kein einziges Wort zu ihrer gemeinsamen Universität in Jena.56 Die Herzöge wählten zwar das Medium des Drucks für die landesweite Verbreitung der detaillierten Vorgaben für die drei Festtage in den Kirchengemeinden. Für die Mitteilung von Anweisungen an einen einzigen Adressaten war jedoch das Schreiben per Hand effizienter. In zwei verschiedenen handschriftlichen Reskripten erhielten die Jenaer Professoren von ihren vier fürstlichen Nutritoren die Aufforderung, ein sechstägiges Fest mit Disputationen, Deklamationen und Promotionen in allen vier Fakultäten vom 3. bis zum 7. November zu organisieren.57 Die ordinierten Theologieprofessoren waren aber

55 So stellt Schönstädt zum Schluss seines detailreichen Überblicks über die Gestaltung des Jubiläums in verschiedenen Städten und Territorien des Reichs fest, dass „man im großen und ganzen von einer Gleichheit der Motivation des Festes und der Festinhalte sprechen kann“ (Antichrist, S. 85). 56 Vgl. Johann Casimir, Herzog von Sachsen-Coburg: Instruction, Und Ordnung/ Wie es […] bey denen […] jetzo vorstehenden Evangelischen JubelFests/ so auff den herbeynahenden 31. Octobris/ und darauff folgende 1. und 2. Tag deß Monats Novembris/ diß 1617. Jahrs/ Feyerlich zubegehen […] solle. Coburg 1617 (VD17 39:129779G). Johann Ernst, Herzog von Sachsen-Weimar: Information Und Anleitung/ Welcher gestalt […] es mit Singen/ Predigen und andern Christlichen Ceremonien bey dem angeordentem Evangelischen Jubelfest gehalten werden soll. Jena 1617 (VD17 39:124101W, auch: 23:325675H). Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen: Instrvction Vnd Ordnung/ Wie es bey jetzo vorstehenden Evangelischen JubelFest […] Jn […] Altenburgischer Linien/ Fürstenumb Vff den 31. Octobris und folgende tage dieses 1617. Jahrs angestellet […] werden sole. Altenburg 1617 (VD17 547:653202A). 57 Abschriften des Schreibens von Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen am 5. September als Vormund der Prinzen von Sachsen-Altenburg und des Schreibens von Herzog Johann Ernst

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

191

auch in die kirchlichen Feierlichkeiten vom 31. Oktober bis zum 2. November eng einbezogen. Sie hielten an jedem Tag jeweils eine der beiden Predigten vor den Bürgern und Universitätsmitgliedern in der Michaeliskirche. Eine solch enge Integration von Kirche, Stadt und Universität lässt sich auch bei den Jubiläumfeierlichkeiten in Wittenberg, Tübingen und anderen akademischen Stätten feststellen58 und manifestierte sich in der Saalestadt traditionell in der Vereinigung der Ämter des Stadtpfarrers und des Superintendenten sowie einer Professur für Theologie in einer Person.59 Zur Zeit der Säkularfeier hatte der 1611 nach Jena berufene Johannes Major diese drei Ämter inne. Aufgrund seines geistlichen Rangs erhielt er die Ehre, das Fest zu eröffnen. Die Predigten von Major und seinen beiden Fakultätskollegen, Johann Gerhard und Johann Himmel, sind in einer 1618 gemeinsam herausgegebenen Sammlung überliefert.60 Generell ist festzuhalten, dass sie die landesherrlichen Vorgaben für die Predigtinhalte kaum berücksichtigten61 und dass sie sich auch nicht an den Musterpredigten orientierten, die der Dresdner Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg einen Monat vor dem Fest veröffentlicht hatte.62 Solche allgemeinen Orientierungen und Hilfsmittel für die einfachen Pfarrer besaßen für die Bildungselite keine Geltung. Die Professoren genossen große Gestaltungsfreiheit sowohl für die akademischen als auch für die Kirchenfesttage. Ausgehend von Lev 25,1–25 zum Gesetz über das Sabbat- und Erlassjahr befasste sich Johannes Major in seiner Predigt am 31. Oktober zunächst mit dem Phänomen des Reformationsjubiläums als Neuerung: „Denn es [ist] vnleugbar/

58 59

60

61 62

von Sachsen-Weimar im Namen aller Nutritoren am 6. September in Universitätsarchiv Jena, A 1255, Bl. 1r–2v. Vgl. dazu Bauer: Universitätsgeschichte und Mythos, S. 148. Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 13. Reichelt: „Reformationsjubelfeier in Straßburg“, S. 74. Zu diesem Phänomen in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Salana vgl. Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011, bes. S. 39, 247 und 316. Johannes Major, Johann Gerhard und Johann Himmel: Drey Christliche Frewden- Lehr und Lobpredigten/ Jn den angestellten Feyertagen des gehaltenen Jubelfests/ daran die Kirchen/ so von dem Römischen Bapstumb/ […] durch trewen Dienst […] Doctoris Martini Lutheri zu der Apostolischen Klarheit vnd Warheit des heiligen Evangelij kommen seynd/ jhre Danckopffer dem Könige aller Könige gebracht haben. Gehalten in der Pfarkirchen zu Jehna […]. Jena 1618 (VD17 23:245870L). Alle drei Predigten haben eine eigene Paginierung. Lediglich bei Gerhard stimmen Tag und Bibelvers miteinander überein. Vgl. Matthias Hoë von Hoënegg: Parasceve ad Solennitatem Jubilaeam Evangelicam. Das ist: Christliche vnd aus Gottes Wort genommene Anleitung/ wie das instehende Evangelische Jubelfest/ recht vnd nützlich solle begangen/ insonderheit aber/ das vor hundert Jahren/ von dem Allerhöchste[n] durch Herrn D. Mart. Luther seligen/ angefangene/ vnd hernach glücklich vollbrachte Reformationwerck/ heilsamlich betrachtet werden […]. Leipzig 1617 (VD17 3:312278T; zwei weitere Auflagen: VD17 23:261897R, 32:698278B). Für den vorgegebenen Predigttext Apk 14,6f. verweist von Hoënegg auf seine zehn erstmals 1610 erschienenen Lutherpredigten (VD17 23:270716Z), die zum Jubiläumsjahr neu aufgelegt wurden: Sanctus Thavmasiander Et Triumphator Lutherus. Das ist: Bericht von dem heiligen Wundermanne/ vnd wieder das Bapsthumb/ auch andere Rotten vnd Secten/ Triumphierenden Rüstzeug Gottes/ Herren D. Martino Luthero […]. Leipzig 1617 (VD17 23:327755K). Zu beiden Predigtsammlungen vgl. Ligniez: Das Wittenbergische Zion, S. 74–83.

192

Daniel Gehrt

daß diß Jubelfest vorhin niemals weder hier noch anderswo in vnd von der Kirchen gefeyret/ vnnd auch künfftig vielleicht nicht so bald möchte gefeiret werden“.63 Er spannte anschließend einen Bogen vom alttestamentarischen Jobelfest der Juden über das durch Papst Bonifatius VIII. erstmals 1300 proklamierte römische Jubeljahr bis zu Luthers Auseinandersetzung mit Johann Tetzel über den Ablasshandel.64 Die Predigt enthält zwei Hauptmotive, die außerhalb von Schönstädts Blickfeld liegen: das überregionale Reformationsgedenken als Novum der lutherischen Konfessionskultur und die historischen Wurzeln des Jubiläums.65 Johann Gerhard hielt seine Predigt am 1. November zur Apk 14,6f.: „Und ich sah einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium, zu verkündigen.“66 Diese Bibelverse galten gemeinhin in lutherischen Kreisen als neutestamentarische Weissagung auf Luther.67 Am dritten und letzten Tag des Kirchenfestes stieg der jüngst von Weimar nach Jena berufene Theologieprofessor Johann Himmel auf die Kanzel.68 Als Predigttext wählte Himmel 2. Petr 1,19: „Und wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“ Anhand des metaphorischen Gegensatzpaares von Dunkelheit und Licht stellte Himmel Luthers Reformen den vermeintlichen Missständen der römisch-katholischen Kirche gegenüber. Sowohl dieses diametrale Bild als auch Himmels Vergleich der Reformation mit dem Auszug des versklavten Volkes Israel aus Ägypten waren beliebte Motive der protestantischen Jubiläumpredigten. Die Überlieferung zu den Veranstaltungen in der akademischen Festwoche von Montag, dem 3. bis zu Freitag, dem 7. November ist bruchstückhaft. Neben Majors Thesenreihe für eine theologische Disputation, die im Vorfeld als eigenständiger Druck erschienen war, gaben die Jenaer Theologieprofessoren und der zur Zeit der Säkularfeier amtierende Dekan der Philosophischen Fakultät Wolfgang Heider 1618 eine Auswahl der Reden und anderer zentraler Gelegenheits-

63 Major/Gerhard/Himmel: Drey Lobpredigten, Bl. A2r–F4v (erste Predigt Major), hier: A4v. 64 Die von Major dargelegten Züge der Entstehung und Entwicklung des Phänomens des Jubiläums entsprechen weitgehend dem heutigen Kenntnisstand. Vgl. Müller: „Das historische Jubiläum“, S. 9–15. 65 Dennoch gab es mehrere historische Abrisse des römischen Jubeljahres, unter anderem vom Rostocker Theologieprofessor Johann Affelmann, vom Rektor der Lateinschule in Nördlingen Simon Retter und von einem anonymen Autor in der Einleitung zu einem Bericht über die Feierlichkeiten in der Markgrafschaft Baden-Durlach. Vgl. im Einzelnen Johann Affelmann: Programma in praelectiones publicas […] De Jubilaeo Evangelico. Simon Retter: Oratio De Anno Jubilaeo Evangelico primo habita […] Pridie Nonar. Novembr: Anno […] MDCXVII. Nürnberg 1618. Vgl. dazu Ludwig: „Zur Geschichte der Fürstlichen Schule“, S. 35–56, hier: 43f. Schönstädt: Antichrist, S. 46f. und 82. 66 Major/Gerhard/Himmel: Drey Lobpredigten, Bl. A2r–D4r (zweite Predigt Gerhard). 67 Vgl. Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Heidelberg 1999, S. 106f. 68 Major/Gerhard/Himmel: Drey Lobpredigten, Bl. D4v–J4v (dritte Predigt Himmel).

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

193

schriften heraus.69 Dass sie diesen Druck nicht den Nutritoren der Universität, sondern dem böhmischen Adligen Joachim Andreas von Schlick, Graf von Passaun und Weißkirchen, widmeten, weist darauf hin, dass sie die Schriften in Eigeninitiative verbreiteten. Von Schlick, Alumnus der Salana,70 zählte zu den Führungskräften der protestantischen Stände in Böhmen und leitete nach dem Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 die provisorische Regierung in der königlichen Residenzstadt. Zur Rekonstruktion der Festwoche in Jena enthält der Druck jeweils eine Deklamation von Major und Gerhard, eine Ankündigung der feierlichen Verleihung der Magisterwürde an 30 Studenten sowie ein neulateinisches Gedicht. Die beiden letzteren stammten aus Heiders Feder. In Ergänzung dazu sind die als Einblattdrucke verbreiteten Universitätsbekanntmachungen, eine Thesenreihe zu einer Promotion an der Juristenfakultät, Examensfragen an der Medizinischen Fakultät sowie Gelegenheitsschriften zu Ehren der jüngst kreierten Magister und Doktoren überliefert. Als Senior der ranghöchsten Fakultät der Universität hielt Major am 3. November die Eröffnungsrede zur akademischen Festwoche.71 Er befasste sich ebenso wie in seiner Predigt am 31. Oktober insbesondere mit dem Phänomen der Jubiläen von alttestamentarischen Zeiten bis zur Gegenwart und allgemein mit dem Reformwerk Luthers. Die Rede stand gleichzeitig im Rahmen der Verleihung der theologischen Doktorwürde an den vor kurzem vom Diakon zum Pfarrer der Domkirche in Magdeburg aufgestiegenen Geistlichen Reinhard Bake.72 Obgleich Bake bereits am 24. Mai unter Major das Promotionsverfahren abschlossen hatte,73 reiste er eigens Anfang November für diese für die Gesamtinszenierung des Jubiläums an der Salana wichtige Zeremonie nach Jena. Für den 4. November stellte Major Thesen für die feierliche theologische Disputation De crassiore et evidentiore regni pontificii idololatria auf.74 Einen ähnlich polemischen Tonfall zeichnet die Rede aus, die Gerhard am gleichen Tag zu den Entwicklungen im

69 Vgl. Johannes Major, Johann Gerhard, Johann Himmel und Wolfgang Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas celebrata. Orationibus quinque, quae partim in solennibus promotionum actibus, partim in aliis conventibus, anno a restituta Evangelii luce seculari publice […] habitae sunt […]. Jena 1618 (VD17 23:245865S). 70 Er hatte sich am 6. August 1589 an der Universität Jena immatrikuliert. Vgl. Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 1: 1548 bis 1652. Herausgegeben von Georg Mentz und Reinhold Jauernig. Jena 1944, S. 286. 71 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. A1r–C3r. 72 Einblattdrucke, in denen Gerhard die Kandidaten vorstellte (VD17 547:713888V) und die Universitätsmitglieder zur feierlichen Verleihung des Doktorgrads einlud (VD17 29:723612W), sind überliefert. Zu Bake vgl. Karl Janicke: „Bake, Reinhard“, in: ADB 1 (1875), S. 777. 73 Vgl. das eigenhändig von Johann Ernst Gerhard erstellte Verzeichnis der Promotionen an der Theologischen Fakultät Jena zwischen 1614 und 1656 in FB Gotha, Chart. B 44, Bl. 388v– 389r, hier: 388v. Als Präses der Promotionsdisputation fungierte Himmel. 74 Vgl. Johannes Major: Disputatio Theologica de crassiore et evidentiore regni pontificii idololatria. […] Proposita in festivitate seculari, qua […] academia & ecclesia Salana […] solenniter persolvit. Habenda publice die Novembris hor. matut. Jena 1617 (VD17 23:245842F).

194

Daniel Gehrt

Bildungs- und Kirchenwesen vor und nach der Reformation hielt.75 Doktortitel wurden am 5. November an die Juristen Adolph Markes76 und Andreas Balcke77 sowie am folgenden Tag an den Mediziner David Meisius78 feierlich verliehen. Die akademische Festwoche fand ihren Abschluss am 7. November mit der Verleihung des Magistergrads an 30 Studenten und einem von interreligiösen und -konfessionellen Abgrenzungsmomenten geprägten neulateinischen Gedicht, in dem Wolfgang Heider ausgehend von einem vermeintlich im Islam und in der römischen Kirche verkörperten „duplex Antichristus“ Luther an die Spitze einer Reihe von heroisierten Romkritikern stellte, die auch die Waldenser und die Hussiten einschloss.79 Somit wurden entsprechend den allgemeinen Vorgaben der Nutritoren der Salana akademische Grade in allen vier Fakultäten in der Reihenfolge der inneruniversitären Hierarchie verliehen. Ungewiss bleibt, ob, wie angeordnet, auch einige Studenten im Laufe der Festwoche den Grad des Bakkalaureus erhielten. Wie in Straßburg und Rostock wurden auch an der Salana weitere Veranstaltungen in direkter Verbindung mit dem Jubiläum noch Wochen nach den Kirchenfesttagen organisiert.80 Dazu gehört die Verleihung der theologischen Doktorwürde an den Superintendenten von Eilenburg Friedrich Leyser81 und an den Oberpfarrer an der Martinskirche in Halberstadt Tobias Herold82 am 9. Dezember 1617.

75 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. C3v–F4v. Gerhards Einladung am 2. November zur Rede ist als Einblattdruck überliefert (VD17 547:688844F). 76 Ein Exemplar von Oswald Hilligers am 19. Oktober 1617 ausgehender Einladung zu Marckes Examen am 20. Oktober findet sich in FB Gotha, Phil 2° 268/2 (36). Überliefert ist zudem eine gedruckte Sammlung von Gratulationsgedichten (VD17 125:007988Z). 77 Vgl. Dominicus Arumäus: Disputatio de Jurisdictione […] publice in auditorio Jureconsultorum discutiendam proponit Andreas Balckius Wismariensis Megapol. Mense Augusto die XXIII. Horis consuetis Anno M. DC XVII. Jena 1617 (VD17 14:022817A). Überliefert ist zudem eine Sammlung von Gratulationsgedichten (VD17 125:011053V). 78 Ein Exemplar des Einblattdrucks mit Fragen des öffentlichen Examens unter dem Medizinprofessor Anton Varus am 30. Oktober 1617 findet sich in FB Gotha, Phil 2° 268/2 (195). 79 Abdruck der Ankündigung am 2. November durch Heider in: Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. R3v–R4v. Abdruck seines Gedichts in: ebd., Bl. N1r–R3v. Überliefert sind zudem gedruckte Sammlungen von Gratulationsgedichten für Martin Brandenberg (VD17 547:697293X), Wilhelm Eggeling (VD17 547:648485E), Salomon Glass (VD17 125:011070L), Georg Pfefferkorn (VD17 125:011059R), Kaspar Reinel und Christoph Renner (VD17 125:011055L). 80 Vgl. Schönstädt: Antichrist, S. 52–57, 81–83. 81 Das Examen hatte am 11. April unter Major und die Disputation am 30. Mai 1617 unter Gerhard stattgefunden. Vgl. FB Gotha, Chart. B 44, Bl. 388v–389r, hier: 388v. Druck der Thesenreihe Johann Gerhard: Explicatio dicti Apostolici Rom. 4 v. 22. 23. 24. […] pro consequendo summo in Theologia gradu ad disputandum publice proposita a M. Friderico Lysero, Ilenburgensium designato Pastore & Superintendente. Ad diem 30. Maji horis pro- & pomeridianis. Jena 1617 (VD17 23:245021S). Die Argumente der Opponenten sind überliefert in FB Gotha, Chart. B 448, Bl. 428r–430v. Eine Sammlung von Gratulationsgedichten zu Ehren Leysers wurde gedruckt (VD17 125:011028P). 82 Das Examen hatte am 13. November unter Gerhard stattgefunden. Vgl. FB Gotha, Chart. B 44, Bl. 388v. Gerhards Einladung am 16. November 1617 zur Promotion ist als Einblatt-

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

195

Die lediglich handschriftlich überlieferte Rede, die Gerhard bei diesem Festakt hielt,83 verdeutlicht, dass die Zahl der Promotionen an der Theologischen und Philosophischen Fakultät im Rahmen der Säkularfeier bewusst mit dem Leben Jesu korrespondieren sollte. Standen die 30 Promotionen an der Philosophischen Fakultät symbolhaft für die ersten 30 Jahre des Lebens Jesu, repräsentierten die drei Promotionen an der Theologischen Fakultät seine dreijährige Predigttätigkeit. Während beispielsweise in Wittenberg die theologische Doktorwürde ebenfalls dreimal im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten verliehen wurde, ist die Salana die einzige bekannte Universität, an der eine so hohe Anzahl von Studenten den Magistergrad erhielt. Im Allgemeinen waren es die ranghöchste und -niedrigste Fakultät an den Universitäten, die das Jubiläum initiierten und ausrichteten. So eine enge Zusammenarbeit spiegelte sich seit den Bildungsreformen von Luther und insbesondere von Melanchthon im Grundstudium wider, in dem sämtliche Studenten eine gewisse theologische Grundausbildung erhielten.84 Nach diesem Modell wurden auch zahllose angehende Pfarrer, die nie den Magistergrad erworben hatten, mit ausreichenden Kenntnissen für ihre Predigt- und Seelsorgetätigkeit ausgestattet. Zu dieser engen Verzahnung beider Fakultäten gehörte ebenfalls der Rückgriff der Theologie auf eine Großzahl komplementärer Disziplinen in der Philosophischen Fakultät. So war es den Zeitgenossen selbstverständlich, dass die intendierte Zahlensymbolik die Promotionen an der Juristischen und Medizinischen Fakultät in Jena nicht einschloss. Die Übertragung der Zahlen auf die zwei Lebensphasen Jesu lag für den Bibelkundigen auf der Hand. Gerhard thematisierte diese Symbolik nicht explizit in seiner Rede. Die Anspielungen sind jedoch deutlich. In Anlehnung an das mosaische Jobeljahr, das jeweils auf einen 49jährigen Zyklus von sieben Sabbatjahren folgte, setzte Gerhard die einzelnen 33½ Lebensjahre Jesu im typologischen Vergleich jeweils mit einer 49jährigen Zeitspanne der Heilsgeschichte gleich, beginnend mit dem öffentlichen Wirken von Johannes dem Täufer im Jahr 29 n. Chr. Nach diesem hermeneutischen Ansatz korrespondierte das erste Jahr des Lebens Jesu mit der apostolischen Zeit von 29 bis 77 n. Chr. und die Flucht nach Ägypten mit den frühchristlichen Verfolgungen. Die Gespräche des zwölfjährigen Jesu mit den Schriftgelehrten im Tempel von Jerusalem entsprachen den Jahren von 617 bis 665, einer Zeit, die Gerhard als von einem gravierenden Verfall der christlichen Religion geprägt deutete, der durch Mohammed und den Papst bedingt gewesen sei. Das öffentliche Auftreten Jesu im Alter von 30 Jahren präfigurierte nach diesen Berechnungen die Zeit der Reformation, in der Luther, so Gerhard, das Papstamt als den Antichrist offenbarte und das verdunkelte Evangelium wieder ans Licht brachte. Die Säkularfeier der Reformation 1617 ereignete sich in der 33. Phase des Zyklus. druck überliefert (VD17 547:688989A). Eine Sammlung von Gratulationsgedichten zu Ehren Herolds wurde gedruckt (VD17 125:011016S). 83 Vgl. FB Gotha, Chart. B 456, S. 257–352: [Johann Gerhard:] Teile von Reden zu Jubiläen der Kirche Christi im Neuen Testament, [1615–1617]. 84 Vgl. grundlegend dazu Gehrt: „Harmonie“.

196

Daniel Gehrt

Dieser hermeneutische Ansatz weist der Reformation eine besondere heilsgeschichtliche wie eschatologische Bedeutung zu.85 Die Zeit vom Beginn der Predigttätigkeit Jesu bis zur Himmelfahrt korrespondierte nach Gerhards Berechnungen mit den Jahren 1499 bis 1670, die für den Jenaer Professor die Eckdaten für den Vorabend der Reformation und den Anbruch des Jüngsten Tages bildeten.86 Gerhard zog mehrere Parallelen zwischen den Zuständen und Ereignissen im 31. Lebensjahr Jesu und dem heilgeschichtlichen Geschehen der Reformation bis 1547. Um die Kirche vor dem Auftreten Luthers zu diskreditieren, setzte Gerhard die drei zu Lebzeiten Jesu herrschenden und vor allem von Flavius Josephus charakterisierten philosophischen Schulen im antiken Judentum – die Essener, Sadduzäer und Pharisäer – jeweils mit einer tragenden Säule der römischkatholischen Kirche in Verbindung. In den Essenern, die strenge bzw. asketische Lebensregeln befolgten, glaubte Gerhard mehrere Parallelen zu den Ordensgemeinschaften erkennen zu können. Die Päpste setzte Gerhard mit den Sadduzäern gleich, doch wirkt der Vergleich etwas zäh, da er anhand von Beispielen gezogen wurde, in denen einige Päpste ebenso wie diese antike Gruppierung die Immortalität der Seele verleugnet haben sollen. Schließlich galten für Gerhard die Pharisäer, die die Evangelisten als den Inbegriff der Heuchelei darstellen, als die typologischen Vorläufer der römischen Kurie. Im nächsten Abschnitt seiner Rede befasste sich Gerhard exkursartig mit der heiklen Frage nach den historischen Wurzeln des Protestantismus, die eine Kontinuitätslinie von der apostolischen Zeit bis 1517 verlangte, um sich des Einwands der römisch-katholischen Kontroverstheologen, das Luthertum sei als neue Sekte zu werten, zu erwehren. Entsprechend Luthers Ekklesiologie, die zwischen der sichtbaren und der „wahren“ Kirche differenziert und die in den von Matthias Flacius konzipierten Magdeburger Zenturien ihre erste umfassende historische Fundierung fand, argumentierte Gerhard, dass die göttliche Wahrheit ihr Fortbestehen in der Vermittlungsrolle von Individuen seit der apostolischen Zeit fand, darunter auch einige, die die Kirche verurteilt hatte.87 Für Gerhard fand die Weissagung in Apk 14,6, wie er in seiner Jubiläumspredigt umfassend dargelegt hatte, ihre Erfüllung in Luther. Ähnlich sah er im „ministerium Christi“ mehrfach Präfigurierungen des „ministerium Lutheri“.88 Nach einem allgemeinen Vergleich zwischen der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern und der Reinigung der vermeintlich verfälschten Lehre unter dem Papsttum durch Luther führte Gerhard konkretere Beispiele an. Während Christus zunächst vorwiegend als Bußprediger auftrat, begann die Reformation mit 95 gegen 85 Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurde die Reformation als Zeichen der Endzeit verstanden. Vgl. grundsätzlich dazu Leppin: Antichrist. 86 Vgl. FB Gotha, Chart. B 456, bes. S. 301–312. 87 Vgl. zuletzt und umfassend dazu: Harald Bollbuck: Wahrheitszeugnis, Gottes Auftrag und Zeitkritik. Die Kirchengeschichte der Magdeburger Zenturien und ihre Arbeitstechniken. Wiesbaden 2014. 88 Solche direkten Vergleiche zwischen Luther und Jesus sind auch zur Zeit des Reformationsjubiläums 1717 selten. Vgl. Harm Cordes: Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten. Göttingen 2006, S. 219.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

197

Missstände der Bußpraxis gerichteten Thesen. Wie Jesus sich anfangs in die Wüste zurückgezogen hatte, verweilte Luther monatelang in den frühen Jahren der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche in Abgeschiedenheit auf der Wartburg. Beide waren dabei schweren Versuchungen bzw. Anfechtungen des Teufels ausgesetzt. Wie Christus die Händler im Tempel von Jerusalem austrieb, forderte Luther die Abschaffung des Ablasshandels, der Simonie und der kurialen Dispensationsgeschäfte. Verkündete Johannes der Täufer Jesus als den Messias, entwickelte Luther eine christozentrische Theologie. Wie Jesus beim Laubhüttenfest in Jerusalem die breite und dauerhafte Wirkung seiner Lehre voraussagte, erlangte die Confessio Augustana als fundamentales Bekenntnis des evangelischen Glaubens eine ebenso rasche wie langanhaltende Geltung in größeren Teilen in- und außerhalb des Reiches. Die 32. Phase der Kirchengeschichte umfasste den Zeitraum zwischen 1548 und 1597. Die Parallelisierungen befassten sich mit dem Fortbestehen des evangelischen Glaubens nach dem Tod Luthers und dem Schmalkaldischen Krieg. Wie Johannes der Täufer in der Gefangenschaft seine Integrität als Bußprediger dem Tetrarchen von Galiläa Herodes gegenüber aufrechterhielt, so blieb auch Johann Friedrich I. von Sachsen nach seiner Inhaftierung infolge des Krieges beständig in seinem Bekenntnis. Die Beschlüsse des Hohen Rates zur Tötung Jesu präfigurierten für Gerhard die Dekrete des Trienter Konzils, die er plakativ als „Iesuitaru[m] origo, caedes Lutheriana“ interpretierte. In der 33. Phase, die die Jahre von 1598 bis 1645 umfasste, lebte Gerhard selbst. Die angeführten biblischen Ereignisse aus diesem Jahr – die Enthauptung Johannes des Täufers, die Pläne von Herodes zur Ermordung Jesu, der Befehl, Jesus in Gewahrsam zu nehmen, und der Zorn der Juden, die Steine aufhoben, um sie auf Jesus zu werfen – deutete Gerhard im Allgemeinen als aktuelle Erschwernisse für die Bekenner des Evangeliums. Das 34. Jubiläum, das nicht 49 Jahre, sondern nur die 25 Jahre von 1646 bis 1670 umfassen sollte, stand für die Endzeit. Das gemeinschaftliche Agieren von Pilatus und Herodes gegen Jesus sowie die Passionsgeschichte, Tod und Auferstehung korrespondierten, so Gerhard, mit dem Untergang der Welt und dem Jüngsten Gericht. Diese heilgeschichtlichen Berechnungen und Deutungen fanden keinen Niederschlag im eingangs dargelegten programmatischen Gesamtschaffen des Jenaer Theologieprofessors, sondern Gerhard kommunizierte sie lediglich mündlich einem akademischen Publikum in Jena und, wie die verschiedenen handschriftlich überlieferten Einleitungen zu dieser Rede erkennen lassen, bereits in früheren Jahren am Casimirianum in Coburg.89 Gerhard hatte zwar nachweislich 1612 in einer Predigt vor seiner Kirchengemeinde in Heldburg die Ansicht vertreten, dass bis auf das Jahr 1670 alle in der Heiligen Schrift offenbarten Zeiten zu Ende gehen würden, jedoch ohne diese Naherwartung ausführlicher zu erläutern.90 Diese rela89 Die folgenden Teile der handschriftlichen Überlieferung mit Bezügen auf Herzog Johann Casimir weisen darauf hin, dass Gerhard die Rede auch in Coburg hielt: FB Gotha, Chart. B 456, S. 327f., 333f. und 345f. 90 Gerhard sprach seine apokalyptische Endzeiterwartung um 1670 in seiner Predigt zum Jüngsten Tag am zweiten Adventssonntag 1612 aus. Vgl. Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontägli-

198

Daniel Gehrt

tiv reservierte Haltung lag vermutlich an der spekulativen Natur der Materie. Gerhard klassifizierte selbst seine grundlegenden Argumente zu dieser Thematik nicht als Thesen, sondern als Hypothesen. Zudem erwiesen sich einige Vergleiche als sehr zäh, wie etwa jener zwischen den Päpsten, die die Immortalität der Seele verleugnet haben sollten, und den Sadduzäern, sowie einige historische Zusammenhänge als sehr vage, wie zum Beispiel die Verortung der Ursprünge des Jesuitenordens im Trienter Konzil. Gerhards Deklamation stellt somit Aspekte des Diskurses in protestantischen Gelehrtenkreisen über die Heilsgeschichte und die Endzeitberechnung auf einer eher mündlichen als schriftlichen Interaktionsebene dar. Zentrale Gedanken der Rede weisen Ähnlichkeiten mit dem dritten Kapitel der 1544 erschienenen Schrift des Nürnberger Theologen Andreas Osiander mit dem Titel Coniecturae de ultimis temporibus ac de fine mundi,91 obgleich Gerhard dieses bereits frühzeitig selten gewordene Buch nicht zu kennen scheint. Er erwähnte es weder in seiner Rede noch in seinen Loci theologici. Die Grundideen von Osiander und Gerhard sind zwar miteinander verwandt, die einzelnen Ausführungen entwickelten sich jedoch unabhängig voneinander. Gerhards Berechnungen weichen beispielsweise nur minimal von denen Osianders ab. Letzterer zählte das Sabbatjahr mit, so dass ein Jubiläum der Kirchengeschichte nicht 49, sondern 50 Jahre umfasste. Zudem glaubte Osiander den Beginn des ersten Jubiläums entweder mit der Geburt oder Auferstehung Christi und nicht mit dem Auftreten von Johannes dem Täufer 29 n. Chr. ansetzen zu müssen. Während beide Theologen Vergleiche zwischen Begebenheiten im Leben Jesu und historischen Ereignissen des Christentums zogen, überlappen sich die Deutungen kaum. Osiander führte lediglich elf allgemeine Parallelen an, darunter fünf mit Bezug auf die Reformation. Im Unterschied zu Gerhard hielt er diese so allgemein, dass sich keine explizit auf Luther bezieht. Einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung ihrer spezifischen, auf das Leben Jesu rekurrierenden heilsgeschichtlicheschatologischen Überlegungen stellt sicherlich die jeweils gleichzeitige Arbeit an einer Evangelienharmonie dar.92

chen vnd fürnehmesten Fest-Euangelien/ vber das gantze Jahr, Teil 1, S. 27: „[…] Jst derowegen anders nichts zu gewarten/ als daß wir bald sehen werden des Menschen Sohn kommen in den Wolcken des Himmels/ mit grosser Krafft vnd Herrlichgkeit/ Wie den[n] alle Weissagung der Schrifft weiter nicht/ als etwa biß noch auff funfftzig Jahr nach diesem sechzehen hundert vnd zwölfften Jahr gehen, der sechste Millenarius der Welt eilet zum Ende/ vnd sollen doch dieselben Zeiten verkürtzet werden/ dauon anderswo weiter“. 91 Andreas Osiander: Coniecturae de ultimis temporibus ac de fine mundi. Nürnberg 1544 (VD 16 O 995–997). Im folgenden Jahr gab Osiander eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Schrift in deutscher Übersetzung heraus (VD16 O 998–999). Edition beider Fassungen in: Andreas Osiander d.Ä.: Gesamtausgabe, Bd. 8: Schriften und Briefe April 1543 bis Ende 1548. Herausgegeben von Gerhard Müller und Gottfried Seebaß. Gütersloh 1990, Nr. 306/315, S. 150–271, hier: 178–195. Zu den heilsgeschichtlichen Berechnungen mit Parallelisierungen zum Leben Jesu, die sich auf Osiander stützen, vgl. Leppin: Antichrist, S. 72–74. 92 Vgl. Osiander: Gesamtausgabe, Bd. 8, S. 152.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

199

Gerhards Lektüre, die ihn bei der Entstehung seiner Rede mit beeinflusst haben dürfte, lässt sich im Abschnitt „De extremo judicio“ des neunten Bandes seiner Loci theologici rekonstruieren. Dort führte Gerhard eine Vielzahl verschiedener Endzeitberechnungen seit dem Frühchristentum an. Etwas ausführlicher ging er auf das Meletema chronologicum des Greifswalder Professors Andreas Heldwig von 1607 ein,93 wo Parallelisierungen zwischen dem Leben Jesu und der Heilsgeschichte zu finden sind.94 In Verbindung dazu erörterte Gerhard das vierte Kapitel der 1614 erschienenen Schrift des Stettiner Generalsuperintendenten Daniel Cramer De regno Jesu Christi95 sowie das achte Kapitel des zweiten Buches der weit rezipierten und ähnlich betitelten Schrift, die der Pfarrer der Hansestadt Unna Philipp Nicolai 1597 veröffentlicht hatte.96 Gerhards Berechnungen stimmen mit denen von Nicolai völlig überein. Im Unterschied zu Nicolai untermauerte Gerhard aber diese mit einem theoretischen Fundament in fünf Hypothesen.97 Unklar bleibt, inwiefern das in der Rede enthaltende Gedankengut direkt von Gerhard stammt. Hatte er einiges, was sich nicht in den veröffentlichten Werken früherer Autoren findet, von anderen Gelehrten im Laufe seines Lebens mündlich erfahren und dann weiter tradiert, so wie er 1617 Lehrenden und Lernenden in der Saalestadt seine Erörterungen mündlich vermittelte und somit über dieses mobile soziale Milieu weiter verbreiten ließ? 93 Vgl. Andreas Helwig: Meletema chronologicum in supputandis annis inde a condito saeculo usque ad praesentem hunc annum Christi 1607 ex sacrarum tetstimonis literarum historiarumque fide ductum. Unde apparet, illam Universi periodum non excessuram sexmillesimum, ad 5884 annos jam processisse […]. Greifswald 1607. 94 Vgl. Gerhard: Locorum theologicorum […] tomus nonus. Jena 1622 (VD17 3:608876Q), lc. XXXI, § 78–79, S. 181–190. 95 Vgl. Daniel Cramer: De Regno Jesu Christi […]. Stettin 1614 (VD17 23:642236T). 96 Vgl. Philipp Nicolai: Commentariorum de regno Christi, vaticiniis Propheticis et Apostolicis accommodatorum, libri duo […]. Frankfurt am Main 1597 [Liber I: VD16 ZV 28250, Liber II: VD16 N 1481]. Diese Endzeitberechnung wurde insbesondere durch die deutsche Übersetzung 1610 breit rezipiert. Philipp Nicolai: Historia deß Reichs Christi […]. Darmstadt 1610 (VD17 12:115999L). Vgl. dazu Thomas Kaufmann: „1600 – Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum“, in: Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 73–128, hier: 86. Ders.: Dreißigjähriger Krieg, S. 68 und 70f. Die Berechnungen Nicolais, die Gerhard aufnahm, finden sich vor allem im ersten Kapitel des zweiten Buches (S. 134–146 der deutschen Übersetzung) mit der Überschrift: „Von der Zeit der Kirchen Christi im Neuwen Testament/ nemlich tausent sechshundert zwey vnd viertzig weniger ein halb Jahr/ wie dieselbe dem H. Apostel Johanni in einem besondern Gesicht vnd Geheimniß geoffenbaret worden/ Welche Zeit im Jahr Christi 29. mit dem Predigampt Johannis deß Täuffers angangen/ vnd künfftig im Jahr Christi 1670. jhre endschafft erreichen wird“. Vgl. auch die Zeittabelle im Anhang (ebd., S. 311–326). 97 Vgl. FB Gotha, Chart. B 456, S. 337: „Primo recte omnino collatione[m] inter annos vitae Christi et tempora Ecclesiae N.T. institui, [secun]do Chr[istu]m in his terris annos triginta tres cu[m] demidio exegisse; [ter]tio cuilibet anno vitae Christi respondere iubilaeum Ecclesiae, quartò iubilaeum complecti septe[m] hebdomadas annoru[m] hoc est annos 49. quinto initiu[m] iubilaeoru[m] Ecclesiae faciendu[m] a p[rae]dicatione et Baptismo Iohannis, hoc est ab a nativitate Chr[ist]i 29. sic ergo finis iubilaeor[um] Eccl[esi]ae incidet in annu[m] Chr[ist]i 1670 in fines o[mn]i[u]m temporu[m] in Scripturis revelator[um] incidunt […].“

200

Daniel Gehrt

Neben der Doppelpromotion am 9. Dezember sprengten weitere Veranstaltungen in Jena den Rahmen der akademischen Festwoche oder fanden zu früheren Zeitpunkten statt. Dazu gehört eine Rede von Johann Himmel, die er mit einem perspektivreichen Vergleich der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel mit der vorreformatorischen Vorherrschaft der römischen Kirche im Christentum einleitete, um sich dann mit einzelnen Päpsten von der apostolischen Zeit bis zum Auftreten Luthers zu beschäftigen.98 Steht diese Deklamation zwar an dritter Stelle in der genannten Sammlung der gedruckten Jubiläumsreden, ist sie doch die früheste, die für Jena bekannt ist. Dem Text ist zu entnehmen, dass Himmel sie am 18. Februar 1617 anlässlich von Luthers Todestag hielt. Der erst seit kurzem in Jena lehrende Theologieprofessor erklärte, dass er über die vergangenen zehn Jahre an diesem Gedenktag nach Gelegenheit kirchenhistorische Reden an seinen Wirkungsstätten – früher Durlach und Speyer – gehalten hatte.99 Er begann diese Vortragsreihe mit einer Auseinandersetzung mit der als Fälschung entlarvten Konstantinischen Schenkung. Mit seiner Rede knüpfte Himmel einerseits an eine alte, unter Predigern und anderen Gelehrten vielerorts verbreitete Tradition an, des Wittenberger Reformators insbesondere an seinem Geburts-, Tauf- oder Sterbetag zu gedenken.100 Andererseits setzte er sie in Verbindung mit dem 100. Jubiläum des Thesenanschlags. In seinen wiederholten Bezügen auf den Anfang der Reformation vor genau einhundert Jahren sprach er beispielsweise vom „ersten Jahrhundert nach der Befreiung [von der Babylonischen Gefangenschaft]“ („seculum hoc primum post liberationem illam“) und von „diesem ersten lutherischen Jahrhundert“ („seculum hoc primum Lutheranum“).101 Aufgrund der zweifachen Memorialbezüge betrachtete Himmel die Deklamation als eine Gedenk- und Säkularrede („oratio parentalis et secularis“).102 Auch im Jahr 1618 hielt Himmel am 18. Februar eine kirchenhistorische Rede antirömischen Tenors mit dieser Doppelbezeichung. Nach Himmels Verständnis seiner beiden Reden bildeten sie die Parameter für ein reformatorisches Gedenkjahr in Jena, das an Luthers Sterbetag 1617 begann und genau ein Jahr später endete. Im Unterschied dazu stand die am 30. Juli 1617 gehaltene Rede des Professors für Ethik und Politik Wolfgang Heider zum Leben und Wirken Luthers mit einem längeren Exkurs über die Frage der Rechtshoheit des Papstes nicht in Verbindung mit irgendeiner Tradition der lutherischen Memorialkultur, sondern galt lediglich als Vorgriff auf den sich zum 100. Mal jährenden Thesenanschlag und als frühe Vorankündigung von Festlichkeiten an der Salana im Gedenken an diesen.103 Dementsprechend lautet die Überschrift zur Rede im Druck „prodromus ad 98 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. G1r–I1r. 99 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. G2v. 100 Zu diesen Gedenktagen vgl. Kaufmann: „Reformationsgedenken“, S. 287–292. Hartmut Lehmann: „Martin Luther und der 31. Oktober 1517“, in: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 45–60, hier: 18f. Schönstädt: Antichrist, S. 10–13. Ders.: „Geschichtliche Herkunft“, S. 5f. 101 Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. G2r und G3r. 102 Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. G2v. 103 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. L1v–M4v.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

201

celebrationem anni jubilaei“ und im Text weist Himmel darauf hin, dass die Theologen das Jubiläum „dubio procul suo tempore“ feierlich begehen werden.104 Demzufolge ging in Jena ein wesentlicher Impuls für das akademische Festprogramm zum Jubiläum von der Philosophischen Fakultät aus. Die Gewichtigkeit ihrer Rolle wird dadurch unterstrichen, dass der Dekan Johannes Zöllner ursprünglich als Redner und somit als „Ausrufer“ des Festes vorgesehen war. Aufgrund von Augenbeschwerden war Zöllner jedoch verhindert. Zugleich bezeugt die Rede, dass bereits Monate vor den Anordnungen der Fürsten und somit völlig unabhängig von ihnen nicht nur in Wittenberg, sondern auch in Jena Initiativen zur Veranstaltung von lokalen Festlichkeiten ergriffen wurden. Dieser frühen Planung ist es zu verdanken, dass die Fakultät die feierliche Verleihung der Magisterwürde an eine so große Anzahl von Studenten Anfang November, am letzten Tag der akademischen Festwoche, erfolgreich koordinieren konnte. Die Reden von Himmel und Heider sind nur zwei von mehreren Zeugnissen für ein in protestantischen Kreisen früh ausgeprägtes, auf den Thesenanschlag bezogenes Jahrhundertbewusstsein. Unterbreitete die Theologische Fakultät Wittenberg am 27. März 1617 Vorschläge zum Jubiläumsfest, hatten verschiedene Gelehrte schon lange vorher auf das bevorstehende Jubiläum hingewiesen. Das in der Forschung meist angeführte Beispiel dafür ist die Neujahrspredigt, die der Heidelberger Hofprediger Abraham Scultetus 1617 in Antizipation des sich nähernden Gedenktages hielt.105 Übersehen worden sind hingegen die beiden Deklamationen zum bevorstehenden Jubiläum, die der damals amtierende Dekan der Philosophischen Fakultät Wittenberg, Erasmus Schmidt, am 25. November 1616 zu den Catharinalia – der alljährlichen Feier zu Ehren der Patronin der dortigen Artistenfakultät, der Heiligen Katharina106 – und am 8. April 1617 bei der feierlichen Verleihung der Magisterwürde an 36 Studenten hielt. Ähnlich wie sein Kollege Heider in Jena verstand Schmidt seine Reden als „prodromus jubilaei ecclesiastici lutherani“.107 Er äußerte bereits im November 1616 die Ansicht, dass es keinem Kenner der Kirchenangelegenheiten verborgen bleiben könnte, dass sich das für die Reform der Kirche und der Universität Wittenberg grundlegende Ereignis im folgenden Jahr zum 100. Mal jähren würde.108 In Jena fanden auch im unmittelbaren Vorfeld und während der Kirchenfesttage kleinere akademische Veranstaltungen mit Bezug auf das Jubiläum statt, wie etwa die am 23. Oktober unter dem Vorsitz des Professors für griechische und 104 Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. L3r. 105 Vgl. Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 37–39. 106 Vgl. Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817. Köln u.a. 2002, S. 4, 31, 133 und 166. 107 Erasmus Schmidt: Prodromus iubilaei ecclesiastici Lutherani seu oratiunculae duae. Una in festivitate Catharinali, anno Christiano M. DC. XVI. et ita a Reformatione Divi Lutheri centessimo currente a. d. 25. Novembris. Altera in promotione XXXVI. Magistrorum, anno 1617. a. d. 8. Aprilis, Witebergae habitae […]. Wittenberg 1617 (VD17 1:072612T). Am Ende der ersten Rede schreibt er: „Et dixi hac de re in Prodromo Jubilae Academici“ (ebd., Bl. E3v). 108 Vgl. Schmidt: Prodromus, bes. Bl. A3r.

202

Daniel Gehrt

hebräische Sprache Balthasar Walther109 abgehaltene Disputation über das römische Jubeljahr110 und die Rezitation eines Gedichts am 2. November durch den Pfarrer von Ermsleben im Harz und Alumnus der Salana Erasmus Reinhold111 auf der Durchreise in seine Heimatstadt Saalfeld.112 Aus eigener Initiative nahm sich Gerhard eine Disputation De vocatione Lutheri für den 30. Oktober vor.113 Auch wenn die Thesenreihe grundlegende Argumente zu einem zentralen Thema in Predigten und Reden der Säkularfeier enthält, wurde dieser Disputation nicht derselben hohen Stellenwert zugewiesen, den beispielsweise öffentliche Disputationen bei Promotionen in der Theologie besaßen, bei denen üblicherweise Professoren auch aus anderen Fakultäten mitdiskutierten. Vielmehr geht aus den von Gerhard eigenhändig protokollierten Argumenten der Opponenten hervor, dass lediglich sein aktueller Kreis von Theologiestudenten an dieser aus dem Rahmen der laufenden Themenreihen fallenden Disputation beteiligt war.114 Ausgerechnet diese Nebenveranstaltung entfaltete im Vergleich zu allen anderen Formen der Feierlichkeiten an der Salana im Jahr 1617 die größte Wirkung. Mit dieser Disputation antwortete Gerhard tiefgründiger und geschickter als jeder andere protestantische Gelehrte der Zeit auf Einwände römisch-katholischer Theologen, die die Autorität und Legitimität Luthers infrage stellten, eine fundamentale Reform der Kirche anstoßen zu können, und somit schlechtweg der lutherischen Konfession jede Existenzberechtigung absprachen.115 Mit seinen zwischen 1586 und 1593 erschienenen Disputationes de controversiis christianae fidei, adversus huius temporis haereticos hatte Kardinal Robert Bellarmin, Jesuit in Rom, eine neue Phase der römisch-katholischen Auseinandersetzung mit der evangelischen Theologie eingeläutet.116 Bei seiner Erörterung der konstituierenden Merkmale der Kirche stellte Bellarmin die These auf, dass jeder, der zum Predigen gesendet werde, entweder mittelbar durch die ordentliche Kirchengewalt oder un109 Zu seiner Person vgl. Paul Tschackert: Art. „Walther, Balthasar“, in: ADB 41 (1896), S. 96f. 110 Vgl. Balthasar Walther: Exercitationum ad repetitionem historiae ecclesiasticae institutarum prima; De iubilaeo Romano Laelio Zechio Theologo Pontificio & I.U.D. opposita […]. Respondente Bartholomaeo Majero Regissehen. Turingo, Ad diem 23. Octobr. Jena 1617 (VD17 23:328676D). 111 Reinhold wurde 1592 in Jena immatrikuliert und erlangte dort 1600 den Magistergrad. Vgl. Mentz/Jauernig: Matrikel der Universität Jena. Bd. 1, S. 253. 112 Die Einladung Wolfgang Heiders am 1. November zur Rezitation des Gedichts ist überlierfert (VD17 547:716742F), das Gedicht selbst jedoch nicht. 113 Vgl. Johann Gerhard: Beati Lutheri ad ministerium & reformationem legitima vocatio vindicata […] publice tuebitur M. Wilhelmus Lyserus Prid. faustissimum Reformationis diem Anni a gratia per Christum parta LVtherI ope Verbo spLenDor reDDItVs à luce per Lutherum restituta centesimi & jubilaei. Jena 1617 (VD17 23:245834Q). Teilabdruck der Thesenreihe mit deutscher Übersetzung in Zeeden: Luther. Bd. 2, S. 70–86. Vgl. dazu Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg, S. 22f. Schönstädt: Antichrist, S. 286–303. Zeeden: Luther. Bd. 1, S. 85–96. 114 Vgl. FB Gotha, Chart. B 448, Bl. 486r–488r. 115 Vgl. Cordes: Hilaria, S. 208, Anm. 438. 116 Vgl. Bengt Hägglund: Chemnitz – Gerhard – Arndt – Rudbeckius. Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie. Herausgegeben von Alexander Bitzel und Johann Anselm Steiger. Waltrop 2003, S. 242f.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

203

mittelbar von Gott berufen werde.117 Letzterer Fall bestätige sich zwingend durch Wunder. Bellarmin stritt dabei die Berechtigung Luthers zur Initiierung einer Kirchenreform völlig ab. Der Jesuit Martin Becanus griff 1616 diese Argumentation für seine Disputation De vocatione ministrorum im Rahmen einer Promotion an der Theologischen Fakultät in Wien auf. Durch die Verbreitung der Thesenreihe gewann der Streit um Luthers Amt und Berufung schlagartig an Brisanz.118 Die Streitfrage fand Aufnahme in zahlreiche protestantische Predigten und Reden aus dem Jahr 1617. Auch die Jenaer Professoren Major und Heider antworteten auf diese existenzielle Kritik, indem sie die legitimierende Funktion von Luthers Priesterweihe, seiner akademischen Qualifikationen und der Berufung an die Universität Wittenberg unterstrichen.119 Gerhard setzte sich in seiner Predigt eingehender mit der Streitfrage auseinander und formulierte seine Positionierung in diesem Diskurs für die örtliche Kirchen- und akademische Gemeinde in prägnanter Weise folgendermaßen: Ja/ sprechen die Papisten ferner/ wenn Lutherus durch diesen Engel120 zu verstehen were/ so müste er einen ordentlichen Beruff zum Predigampt vnnd zu dieser reformation gehabt haben/ denn wie kann er ein Engel oder Legat seyn ohne Beruffung/ nun will sich aber solcher Beruff nit finden/ weil Lutherus keine Wunder gethan/ damit sein Beruff were bestetigtet worden? Antwort/ es hat Lutherus niemals auff einen vnmittelbahren Beruff sich beruffen/ dz deßwegen eusserliche grosse Wunderwerck von jm zu fordern weren/ […] sondern er hat jederzeit seinen Widersachern entgege[n] gesetzet seinen ordentlichen rechtmessigen Beruff zum Predigampt vnd zur öffentlichen Profession auff der hohen Schule zu Wittenberg/ welcher Beruff in seinem Doctorat bestetiget vn[d] bekrefftiget worden/ vermöge solches seines Beruffs ist er schuldig gewesen die eingerissene Mißbreuch vn[d] Jrrthumb aus Gottes Wort zu straffen/ so hat jm auch Gott der Herr mit sonderbahren Gaben vor vielen tausenten außgerüstet/ wider das grimmig Wüten vnd Toben seiner mechtigen Feinde beschützet, vnnd zu dem Werck der reformation gedeylichen Succes verliehen/ welches nit vnbillich für ein grosses Wunder zu achte[n].121

Demnach liegt Luthers Legitimität als Kirchenreformer nicht in einer unmittelbaren Berufung durch Gott begründet, sondern in seinen von den bestehenden Kirchen- und Bildungsinstanzen bekräftigten Amtskompetenzen. Ebenfalls im Unterschied zu den Propheten und Aposteln habe Luther keine direkte göttliche Offenbarung empfangen. Gott habe Luther unmittelbar allein außerordentliche Gnadengaben und der evangelischen Bewegung eine Wirkmächtigkeit verliehen, die einem Wunder gleich sei. Für Gerhard manifestierten sich die Auserwähltheit und die gottgegebene Autorität Luthers in diesen Zeichen. Zudem bildeten für den Jenaer Theologen biblische und historische Weissagungen, die seiner Ansicht nach auf Luthers Wirken hin zu deuten waren, eine weitere Beweisgrundlage da117 Vgl. Roberto Bellarmin: Disputationes de controversiis christianae fidei. Rom 1587, hier: t. II, controversia quarta, lib. IV, cap. XIII–XIV. 118 Vgl. Martin Becanus: Assertiones theologicae de vocatione ministrorum ecclesiae Novi ac Veteris Testamenti […]. Wien 1616 (VD17 12:171628T). 119 Vgl. Major/Gerhard/Himmel: Drey Lobpredigten, Bl. E3v (erste Predigt Major). Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. K2v (Heider). 120 Bezug auf den Engel in Apk 14,6. 121 Major/Gerhard/Himmel: Drey Lobpredigten, Bl. C1r–v (zweite Predigt Gerhard).

204

Daniel Gehrt

für, dass die Wittenberger Reformation dem Willen Gottes entspreche und Teil des göttlichen Heilplans sei. Bei diesem Diskurs nahm Gerhard unter den lutherischen Predigern seiner Zeit eine Sonderstellung ein, da er Luther keine unmittelbare göttliche Sendung zuschrieb. Wurden die besonderen Gaben Luthers in protestantischen Kreisen längst als gottgegeben gedeutet, so ist zumindest Gerhards Verwendung dieses Allgemeinplatzes für die Legitimierung der Berufung des Wittenberger Reformators originell.122 Somit verteidigte Gerhard die Existenzberechtigung des Luthertums gegenüber den Einwänden der Jesuiten nicht wie die Mehrheit der lutherischen Theologen seiner Zeit mittels einer schwer aufrechtzuerhaltenden Antithese, die Luther auf eine Stufe mit den göttlich inspirierten Männern der Bibel stellte,123 sondern durch eine zukunftsweisende Neuformulierung des lutherischen Standpunkts. Gerhards Sonderposition konnte sich in den folgenden Jahrzehnten in der lutherisch-orthodoxen Theologie etablieren.124 Verwendeten protestantische Gelehrte nach wie vor Zuschreibungen wie „Prophet“, „Apostel“ und „Evangelist“ in Verbindung mit Luther, formulierten sie jetzt ihre Erklärungen dazu vorsichtiger und differenzierter. Erste Zeichen dieses Deutungswandels sind auf lokaler Ebene zu beobachten. Während Wolfgang Heider Ende Juli 1617 behauptete, dass Luther nicht weniger zu seinem Reformwerk als Mose zur Erziehung des Volkes Israel berufen worden sei,125 machten Gerhards Kollegen in ihren Predigten und Reden in den Tagen nach der Disputation keine Andeutungen auf eine unmittelbare Berufung Luthers. Gerhards Ansicht fand breite Rezeption vor allem durch die Aufnahme in seine Loci theologici.126 Die Disputationsthesen bildeten, wie er explizit erläutert, die Vorarbeit für seine Ausführungen zu dieser Thematik im 26. Locus „De ministerio ecclesiastico“ in dem 1619 veröffentlichen sechsten Band dieser grundlegenden Dogmatik. Die Virulenz des Streites in zeitgleicher Verbindung mit dem evangelischen Jubiläum bildete für Gerhard den Anlass, seine Argumente für diesen später geplanten Teil des Werkes frühzeitig auszuformulieren. Einige Monate vor der Eröffnung der reformatorischen Kirchenfesttage erschien der fünfte Band der Dogmatik.127 Er enthält unter anderem biblische und historische Weissagungen, die Gerhard als argumentative Stützpfeiler für die Rechtfertigung von Luthers radikalem Eingriff in die Fundamente der seinerzeit vorherrschenden Theologie und in die bestehenden Kirchenverhältnisse sowohl für seine Disputation am 30. Oktober als auch für seine Predigt und Rede in den folgenden Tagen verwendete. Der Gebrauch dieser apologetisch motivierten Argumentationsfiguren für die Legitimierung der lutherischen Konfession hatte sei122 Vgl. Zeeden: Luther. Bd. 1, S. 89. 123 So vertrat auch Matthias Hoë von Hoënegg diese Mehrheitsposition in der zweiten seiner fünf Lutherpredigten zu Apk 14: Sanctus Thaumasiander et Triumphator Lutherus […]. Leipzig 1610 (VD17 23:270716Z), bes. S. 152–154. 124 Vgl. Cordes: Hilaria, S. 204–212, 217–220; Zeeden: Luther, Bd. 1, S. 78. 125 Vgl. Major/Gerhard/Himmel/Heider: Jubilaea academiae Jenensis festivitas, Bl. K2v. 126 Vgl. Gerhard: Locorum theologicorum […] tomus sextus. Jena 1619 (VD17 3:608870U), lc. XXVI, s. VIII, § 118–129, S. 200–221. 127 Das Vorwort ist auf den 1. April 1617 datiert.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

205

nen Anfang bereits zu Luthers Lebzeiten genommen und etablierte sich in der protestantischen Memorialkultur vor allem durch die Aufnahme einer Weissagung des Eisenacher Franziskaners Johann Hilten in die Apologie der Confessio Augustana und durch die Leichenpredigten von Bugenhagen, Jonas und Melanchthon auf Luther.128 Die verschiedenen biblischen wie historischen Überlieferungen, die seit der Reformation retrospektiv als Weissagungen auf Luther und die Reformation interpretiert wurden, trug Gerhard im fünften Band seiner Loci theologici zusammen.129 In Paragraph 291 der zwölften Sektion des 25. Locus „De ecclesia“ erörterte er einleitend im Allgemeinen die Weissagungen von Luther selbst und jene auf seine Person und sein Werk sowie im Hauptteil die einzelnen Verse im Alten und Neuen Testament, die sich im Laufe der Jahrzehnte zum Kanon der Lutherallegorese herausgebildet hatten.130 Derartige Bibelstellen machten den Großteil der von den Fürsten angeordneten Predigttexte für das Jubiläum aus. Gerhards Quellenverweisen ist zu entnehmen, dass es Autoren der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie etwa Andreas Osiander, Johannes Mathesius, Cyriakus Spangenberg, David Chyträus, Johann Wigand, Johann Funck, Ägidius Hunnius, Salomon Gesner und Thomas Brightman waren, die durch ihre Predigten, Bibelkommentare und anderen Schriften diese exegetische Tradition entscheidend geprägt hatten. In Paragraph 292 führte Gerhard die zentralen historischen Weissagungen an, die der Selbstverständigung der lutherischen Konfession dienten. Die zeitliche wie gattungsmäßige Bandbreite der Weissagungen reichen im ersten Teil vom einem Vers des frühchristlichen Hymnus „Te Deum laudamus“, der ein Chronogramm für das Jahr 1517 bildete („TIbI CherVbIn et seraphIn InCessabILI VoCe proCLaMant“), über die Legende eines steinernen Bildnisses mit der Inschrift „LVTHERVS“, das Kaiser Friedrich Barbarossa bei der Erbauung einer Kirche in Kärnten um 1152 gefunden haben soll, bis hin zu den prophetisch anmutenden Sprüchen des als Vorgänger Luthers verstandenen böhmischen Reformators Jan Hus. In zunehmender Dichte werden im zweiten Teil Zeichen und Weissagungen zu Lebzeiten Luthers angeführt, beginnend mit der Hinrichtung des Reformers der Florentiner Republik Girolamo Savanarola, die irrtümlich auf das Jahr 1483131 datiert wurde und somit in Verbindung mit dem Geburtsjahr Luthers gebracht werden konnte, und abschließend mit dem Ausruf eines ungenannten Manns, dem Luther 1521 auf dem Weg zum Wormser Reichstag begegnet war. Entscheidende Impulse für die Entwicklung dieser Elemente einer lutherischen Historiographie gaben wiederum protestantische Theologen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Unter den zitierten Werken sind der Catalogus testium veritatis und die Magdeburger Zenturien von Matthias Flacius,132 die biographisch ausgerichteten Deklamationen und Predigtreihen über Luther 128 Vgl. Cordes: Hilaria, S. 212. Leppin: Antichrist, bes. S. 103–107. 129 Gerhard: Locorum theologicorum […] tomus quintus. Jena 1617 (VD17 23:327894H), lc. XXV, s. XII, § 291–292, S. 1281–1290. 130 Dazu zählen Jer 51,48; Dan 8,25; Dan 11,44; Mal 4,5–6; II Thess 2,8; Apk 14,6–10 und 18,1–2. 131 Eigentlich am 23. Mai 1498. 132 Vgl. dazu Bollbuck: Wahrheitszeugnis.

206

Daniel Gehrt

von Melanchthon und Conrad Porta bzw. von Johannes Mathesius und Cyriakus Spangenberg,133 die protestantische Martyrologie von Ludwig Rabus134 sowie Werke der lutherischen Geschichtsschreiber Abraham Buchholzer, Matthäus Dresser, Jakob Schopper, Lukas Osiander und Johann Wolff hervorzuheben. Die Vielzahl der Verweise auf verschiedene Quellen deutet darauf hin, dass Gerhards systematische Zusammentragung der Weissagungen auf Luther und die Reformation publizistisch beispiellos war. Solche kompilatorischen Arbeiten stellen eine wesentliche Leistung des Jenaer Theologen dar, die die Loci theologici zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für protestantische Gelehrte seiner Zeit und in folgenden Generationen machten. Die Anwendung der aus der antiken Rhetorik stammenden Loci-Methode, Gedanken, Argumente und Zitate für die spätere Konsultation unter Oberbegriffen zu ordnen, hatte durch die Humanisten Rudolf Agricola und Erasmus von Rotterdam eine neue Blüte erlebt. Seit Melanchthons Übertragung dieser Methode auf die Bibelexegese für seine 1521 erschienene Loci communes rerum theologicarum seu Hypotyposes theologicae verbreitete sich unter protestantischen Gelehrten rasch die Praxis, eigene Sammlungen anzulegen, um auch theologische Inhalte unter Schlüsselbegriffen zu erfassen.135 Die handschriftliche Loci-Sammlung, die als Grundlage für die Erstellung der beiden Abschnitte über die Weissagungen in den Loci theologici diente, ist in Gotha überliefert.136 Die zwei dicht beschrifteten Blätter sind Teil einer von Gerhard eigenhändig angelegten und über einen längeren Zeitraum fortgeführten Sammlung von Argumenten zu diversen, zwischen den Konfessionen umstrittenen theologischen und kirchenrechtlichen Themen und Fragen, die häufig gegen die römischkatholische Kirche, das Papstamt und die Jesuiten gerichtet waren.137 Die verschiedenen Tintenfarben und leichte Änderungen im Duktus der Schrift deuten darauf hin, dass Gerhard für die Aufzeichnungen zu der darin befindlichen Rubrik „Lutheri merita Papæ p[rae]stita“ zehnmal die Feder in die Hand genommen hatte. Am Anfang stehen vorwiegend Urteile über die Verdienste Luthers. Anschließend fügte Gerhard biblische und historische Weissagungen hinzu. Dieser Handschriftenband bildete nicht nur die Grundlage für die entsprechenden Abschnitte der Loci theologici, sondern offenbar auch für Teile der Predigt, die Gerhard am Tag Allerheiligen, dem 1. November 1615 als Pfarrer und Generalsuperintendent in Coburg hielt. Von dieser Predigt sind das Exordium in Form einer Disposition und zwei Bögen mit kurzen Aufzeichnungen überliefert, 133 Vgl. dazu Eike Wolgast: „Biographie als Autoritätsstiftung. Die ersten evangelischen Lutherbiographien“, in: Walther Berschin (Hg.): Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwölf Studien. Heidelberg 1993, S. 41–71, hier: 62–70. 134 Vgl. dazu Robert Kolb: For all the Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Satinthood in the Lutheran Reformation, Macon/Georgia 1987, S. 41–83. 135 Zum Werk vgl. beispielswiese Helmar Junghans: „Philipp Melanchthons Loci theologici und ihre Rezeption in deutschen Universitäten und Schulen“, in: Günther Wartenberg (Hg.): Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Tagung anlässlich seines 500. Geburtstages an der Universität Leipzig. Leipzig 1999, S. 9–30. 136 Vgl. FB Gotha, Chart. B 918. 137 Vgl. FB Gotha, Chart. B 918, Bl. 124r–125v.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

207

die unter den Überschriften „De D. Martino Luthero, Vaticinia Scripturae“ und „De D. Martino Luthero“ geordnet sind und das Grundgerüst des Hauptteils bildeten.138 Der erste Bogen mit biblischen Weissagungen besteht aus andersartigem Papier. Der Unterschied in der Materialität lässt vermuten, dass dieser Teil älter als die übrigen ist und ursprünglich für eine andere Rede erstellt wurde. Als separater Bogen konnten die Aufzeichnungen mit Leichtigkeit künftig auch in anderen Kontexten verwendet werden. Die Zusammenstellung der Bibelverse für die Predigt ist anders aufgebaut als die in der handschriftlichen Loci-Sammlung. Sie stellt eine Neukompilation aus verschiedenen Quellen dar, um Luther als den dritten Elias zu deuten, der den Antichrist in der Endzeit offenbart habe. Eine Bibelstelle, die zur Untermauerung dieses geläufigen Motivs der lutherischen Auslegungskultur139 angeführt wurde, aber nicht zu den zentralen Weissagungen auf Luther gehörte, ist Apk 11,3f.: „Und ich will meinen zwei Zeugen Macht geben, und sie sollen weissagen taussendzweihundertundsechzig Tage lang, angethan mit Trauerkleidern. Diese sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen“. In seinen Aufzeichnungen deutete Gerhard Luther und Melanchthon als die beiden Zeugen. Eine biblische Stelle als Weissagung auf Melanchthon zu interpretieren, war außergewöhnlich, denn das Verhältnis zum zweiten Wittenberger Reformator war in der protestantischen Memorialkultur eher zwiespältig. Während zum Beispiel die Professoren an der Universität Heidelberg aufgrund der verzweigten Bezüge der konfessionellen Identität des reformierten Glaubens 1617 nicht nur die Verdienste Luthers für die reformatorische Bewegung, sondern auch jene Zwinglis, Oekolampads, Farels, Virets, Calvins und schließlich auch Melanchthons würdigten,140 blendeten die lutherisch-orthodoxen Theologen in Wittenberg und Jena Melanchthon in ihren Jubiläumspredigten und -reden scheinbar bewusst aus.141 Hatte Melanchthon die Studien an beiden letzteren Universitäten über mehrere Generationen hinweg entscheidend geprägt, fielen seine theologischen Lehrbücher Anfang des 17. Jahrhunderts aus dem Curriculum der Universitäten heraus, gerade auch wegen seiner vermeintlichen theologischen Nähe zu den Reformierten.142 Die biblische Weissagung auf Melanchthon hielt Gerhard lediglich handschriftlich fest; eventuell wurde sie in seiner Predigt an Allerheiligen 1615 mündlich tradiert. Sie fand jedoch keine nachhaltige Rezeption. Während Gerhard zum Beispiel in seinen Anmerkungen zur Johannesoffenbarung für die vorwiegend unter seiner Federführung entstandene kommentierte deutsche Bibelausgabe, 138 Vgl. FB Gotha, Chart. B 446, Bl. 369r–384v. 139 Vgl. Cordes: Hilaria, S. 212–214. Kolb: Luther as Prophet, S. 130f. Schönstädt: Antichrist, S. 265–267. 140 Vgl. Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 40–44. Leppin: „Das Reformationsjubiläum 1617“, S. 343f. 141 Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 14, 16 und 18f. 142 Vgl. Theodor Mahlmann: „Die Bezeichnung Melanchthons als Praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft. Auch ein Beitrag zum Melanchthon-Jahr“, in: Udo Sträter (Hg.): Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Wittenberg 1999, S. 135–222, hier: 152.

208

Daniel Gehrt

das sogenannte „Ernestinische Bibelwerk“, Luther explizit mit dem durch den Himmel fliegenden und ein ewiges Evangelium verkündigenden Engel in Apk 14,16 gleichsetzte, wird Melanchthon in seinen Erläuterungen zu Apk 11,3 nicht namentlich erwähnt.143 Gerhards Predigt vom 1. November 1615 weist mehrere inhaltliche Ähnlichkeiten zu der Predigt auf, die er genau zwei Jahre später zum 100. Reformationsjubiläum hielt. Er hatte demzufolge diesen im Protestantismus abgeschafften Kirchenfesttag zum Anlass genommen, um des Thesenanschlages Luthers vor 98 Jahren – durch dessen Angabe sich die Predigt datieren lässt – zu gedenken und davon ausgehend Luther und die Reformation zu thematisieren. Diese Überlieferung ist ein Indiz dafür, dass noch vor der Säkularfeier viel häufiger der 31. Oktober bzw. der 1. November den Anlass für die Erinnerung an Luther und die Reformation bildeten als die Forschung bisher angenommen hat,144 und dass lange vor dem Beginn des Jahres 1617 das Bewusstsein dafür vorhanden war, dass ein Tag von besonders identitätsstiftender Bedeutung für den Protestantismus bevorstehe. 3. DIE ERNESTINISCHEN GYMNASIEN Die Universität Jena war 1617 nicht der einzige Schauplatz akademischen Reformationsgedenkens in den ernestinischen Territorien. In der Forschungsliteratur und in den gängigen elektronischen Bibliothekskatalogen145 finden sich Zeugnisse von Feierlichkeiten auch an den Gymnasien in Altenburg, Coburg, Gotha und Weimar. Dieser Befund spiegelt die Topographie der damaligen Bildungslandschaft wider: Um die zentral gelegene Landesuniversität Jena gab es in den vier größeren, durch politische und natürliche Grenzen geteilten ernestinischen Landesgebieten jeweils eine führende schulische Einrichtung.146

143 Vgl. Biblia, Das ist: Die gantze Schrifft Altes vnd Newes Testaments Teutsch/ D. Martin Luthers: Auff gnädige Verordnung deß Durchleuchtigen/ Hochgebornen Fürsten vnd Herrn/ Herrn Ernsts/ Hertzogen zu Sachsen/ Jülich/ Cleve vnd Berg/ etc. Von etlichen reinen Theologen, dem eigentlichen Wort-Verstand nacherkläret […] Die Episteln […] Nebenst der Offenbarung Johannis Teutsch. Nürnberg 1641, S. 368 und 373. Zum Werk vgl. Ernst Koch: „Das ernestinische Bibelwerk“, in: Roswitha Jacobsen und Hans-Jörg Ruge (Hg.): Ernst der Fromme (1601–1675) Staatsmann und Reformer. Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bucha bei Jena 2002, S. 53–57, und den Beitrag von Stefan Michel im vorliegenden Sammelband. 144 Zur geringen Bedeutung dieses Tages in der frühen protestantischen Erinnerungskultur vgl. Lehmann: „Luther und der 31. Oktober 1517“, S. 18f. Leppin: „Memoria und Aggression“, S. 115. Schönstädt: Antichrist, S. 10–13. Ders., „Geschichtliche Herkunft“, S. 5f. 145 Überprüft wurden die Druckorte Altenburg, Coburg, Erfurt, Jena, Leipzig und Weimar für die Jahre 1617 und 1618 im VD17, GVK und KVK. 146 Diese hier erstmals aufgestellte These erfordert eine Überprüfung durch weitere Forschungen. Es fehlen vor allem übergreifende Studien, die Vergleiche zwischen mehreren Lateinschulen ziehen, sowie Studien über die Beziehungen der Lateinschulen zu den Universitäten.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

209

Der Aufbau dieses Bildungssystems hatte seine Anfänge in der Reformation genommen. Durch die tiefgreifenden, mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Änderungen gewannen die Fürsten zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, das Bildungswesen im eigenen Land zu gestalten und als Mittel einer Politik der Herrschaftskonsolidierung einzusetzen.147 Ein wichtiges Ziel bestand dabei darin, begabte Landeskinder für künftige Stellen innerhalb des Territoriums in Schule, Kirche, Verwaltung und Regierung zu rekrutieren und auszubilden. Blieb zwar die konkrete Gestaltung des Unterrichts nach wie vor in den Händen der Rektoren, Lehrer und Geistlichen vor Ort, nahmen die Fürsten doch immerhin durch die gezielte Förderung einzelner Einrichtungen, durch die Überprüfung der Schulverhältnisse mittels Visitationskommissionen und die zuständigen Superintendenten, durch die Mitbestimmung des Lehrpersonals sowie durch die Vergabe von Stipendien einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Bildungswesens. Auf diese unterschiedlichen Arten wurden innerhalb von wenigen Jahrzehnten schulische Zentren mit einem größeren Einzugsgebiet aufgebaut, die fortgeschrittene Schüler auch aus anderen Orten ausbildeten und dann anschließend an die Landesuniversität vermittelten. Ihr Curriculum überschnitt sich zum Teil mit dem Lehrstoff des Grundstudiums an den Universitäten, das Fächer des Lehrkanons der Philosophischen Fakultät mit theologischen und auch einzelnen juristischen und medizinischen Vorlesungen verband.148 Neben Latein wurden ebenfalls wie an den Universitäten die Sprachen Griechisch und Hebräisch unterrichtetet, Deklamationen und Disputationen veranstaltet und in einigen Fällen auch Vorlesungen angeboten. Eine solche Aufwertung erfuhren die Lateinschulen in Gotha, Altenburg, Coburg und Weimar im 16. Jahrhundert und Anfang des 17. Jahrhunderts. Bereits in den ersten Jahrzehnten der Reformation hatten die sächsischen Kurfürsten Johann und Johann Friedrich I. die Lateinschule in Gotha entschieden gefördert, so dass sie in den 1540er Jahren auch mit den elitären Fürstenschulen im albertinischen Sachsen konkurrieren konnte.149 Die Lateinschule in Altenburg besaß bereits vor der Jahrhundertwende sieben Klassen – ein Zeichen für einen differenzierten und anspruchsvollen Lehrplan – und hatte zur Zeit des Reformationsjubiläums annähernd 600 Schüler.150 Mit der ursprünglichen Intention, eine Universität im eigenen Territorium einzurichten, gründete Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg 1605 in seiner Residenzstadt das Gymnasium Casimirianum mit

147 Vgl. exemplarisch zu diesem Phänomen: Julia Sobotta: Das Schulwesen der Pflege Coburg im 15. und 16. Jahrhundert. Bildungsgeschichtliche Auswirkungen der Reformation. Coburg 2005. Vgl. demnächst die Dissertation von Andreas Dietmann zum Einfluss der Reformation auf das Schulwesen in thüringischen Städten. 148 Vgl. Gehrt: „Harmonie“, bes. S. 283–287. 149 Vgl. Gehrt: „Anfänge des protestantischen Bildungssystems“. 150 Vgl. Otto Küttler: „Das Friedrichs-Gymnasium zu Altenburg“, in: Gymnasien Thüringens. Troisdorf 1972, S. 307–328, hier: 308. Christian Heinrich Lorenz: Geschichte des Gymnasii und der Schule in der uralten Fürstlich Sächsischen Residenzstadt Altenburg. Altenburg 1789, S. 81.

210

Daniel Gehrt

einem hochschulähnlichen Curriculum in der obersten Klasse.151 In Weimar verlief die Entwicklung der Lateinschule zunächst verzögert. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dann zunehmend Anfang des 17. Jahrhunderts erlebte sie einen Aufschwung, so dass sie 1617 sechs Klassen unterhielt.152 Als Teil dieses gezielten Aufbaus verlegte der Jenaer Buchdrucker Johann Weidner 1618 einen Teil seiner Offizin nach Weimar, um dort Schulschriften zu publizieren.153 Die Überlieferung zu den Feierlichkeiten an den einzelnen ernestinischen Gymnasien anlässlich des Reformationsgedenkens 1617 ist unterschiedlich und bruchstückhaft. Für Gotha, Altenburg und Weimar ist lediglich die jeweilige Rede des Rektors erhalten. Während die in Altenburg und Weimar gehaltenen Deklamationen 1618 in kleinen Offizinen veröffentlicht wurden,154 erschien die Rede des Gothaer Rektors Andreas Wilke erst postum in einer Gesamtausgabe seiner Gymnasialreden.155 Diese Reden stellen wahrscheinlich nur einen Teil der Festveranstaltungen an diesen drei ernestinischen Gymnasien dar. Im Gegensatz dazu lässt sich das gesamte, aus vier Disputationen, sechs Deklamationen und einem Gedicht bestehende Programm für die akademische Festwoche in Coburg vom 3. bis zum 8. November anhand einer gedruckten Ankündigung vollständig rekonstruieren.156 Anders als die Städte Gotha und Weimar, in denen es im Jahr 1617 keine Druckerei gab, und Altenburg, wo lediglich eine kleine Offizin in Betrieb war, standen dem Casimirianum für die rasche Publikation von aktuellen Bekanntmachungen, Thesenreihen und anderen Gelegenheitsschriften vor Ort sowohl die fürstliche Druckerei unter der Leitung von Justus Hauck als auch die 151 Zur frühen Geschichte des Casimirianums vgl. insbesondere Heinrich Beck: Festschrift für die Feier des dreihundertjährigen Bestehens des Gymnasium Casimirianum in Coburg 1605– 1905. Coburg [1905]. Festschrift zum 350jährigen Bestehen des Gymnasium Casimirianum Coburg. Coburg 1955. Musarum Sedes 1605–2005. Festschrift zum 400-jährigen Bestehen des Gymnasiums Casimirianum Coburg. Coburg 2005. 152 Vgl. Otto Francke: Geschichte des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums in Weimar. Weimar 1916, bes. S. 3–16. 153 Vgl. Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 1963, S. 447. 154 Joseph Clauder: Oratio Secularis, de inculta et horrida superioris pontificiae; excultaqve & florida nostrae Lutheranae aetatis latinitate: Recitata in schola Altenburgensi prid. Non. Novemb. Anno Christi MDCXVII. […]. Altenburg 1617 (VD17 39:154575D, Zweitauflage 1618: VD17 12:139734W). Die Rede wurde auch im Rahmen des 200. Reformationsjubiläums abgedruckt in: Iubila Altenburgensia, anni Iubil. II. Evangel. Luth. Eccles. MDCCXVII. collecta a M. Christiano Frid. Wilsch […]. Altenburg 1718 (VD18 10355324). Samuel Schwanengel: Oratio πανηγυριχή, qua memoriam theosdoti illius viri, Dn. D. Martini Lutheri, doctrinae Evangelicae instauratoris auspicatismi, anno Jubilaeo recoluit […]. Weimar 1618 (VD17 1:072614H). 155 Andreas Wilke: „Oratio secularis de Iubilaeo Lutherano“, in: Ders.: Suada Gothana latialis: […] Orationes seculares, solennes & scholasticae nonnullae posthumae […]. Frankfurt am Main 1657 (VD17 39:141551U), Nr. XXXII, S. 865–898. Vgl. dazu Köhler: „Wilke“, S. 23. 156 Intimatio Iubilaei, in inclyto Casimiriano Saxo-Coburgiaco celebrandi die ultimo Octobris, primo & secundo Novembris, totaq[ue] septimana sequente. Coburg [herzogliche Offizin], 27. Oktober 1617 (VD17 70:668566M).

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

211

Offizin von Kaspar Bertsch zur Verfügung.157 Deshalb sind die Thesenreihen aller angekündigten Disputationen für die akademische Woche in Coburg als Drucke überliefert.158 Dagegen wurden die sechs Deklamationen nicht veröffentlicht. Die Publikation dieser Gattung erfolgte im Unterschied zu Thesenreihen, die zwecks der Diskussionsvorbereitung im Vorfeld verbreitet werden sollten, eher selten. Die Reden erfüllten ihre primäre pädagogische Funktion in der Rezitation. Publiziert wurden Deklamationen beispielsweise aufgrund ihrer Bedeutung für die Memorialkultur, die institutionelle Profilierung, die Vermittlung von Bildungswerten oder aufgrund ihres Vorbildcharakters. Die gedruckte Anordnung Herzog Johann Casimirs für das Reformationsfest enthält im Unterschied zu denen des Weimarer Herzogs und der kursächsischen Vormundschaftsregierung in Altenburg auch Bestimmungen für die beiden Bildungseinrichtungen in seinem Territorium. Analog zu dem Schreiben an die Universität Jena forderte er die Lehrer in Coburg und Gotha auf, Deklamationen und Disputationen zu veranstalten.159 Das Programm in Coburg übertraf in seiner Fülle das Vorhaben mancher Volluniversitäten und veranschaulicht die enge örtliche Verflechtung zwischen Gymnasium, Kirche und Hof. Der Generalsuperintendent von Coburg Kaspar Fink eröffnete die akademische Festwoche mit einer Disputation Decalogus Romanus.160 Ihm galt diese Ehre aufgrund der herkömmlich mit seinem hohen Kirchenamt verbundenen schulischen Oberaufsichtsfunktion. Somit fungierte er gleichzeitig als Scholarch und Professor primarius des Gymnasiums. An nächster Stelle hielt der Gymnasialdirektor Zacharias Scheffter am 6. November eine Disputation De studio Religionis in Republica ab.161 Die Festwoche endete am 8. November mit Disputationen der Professoren Johannes Matthäus Meyfart162 und Andreas Frommann über die Ablässe der römischen Kirche163 bzw. über vielfältige Fragen, die im Laufe der Festwoche ansonsten nicht direkt 157 Vgl. Benzing: Buchdrucker, S. 69. 158 Siehe unten. 159 Vgl. Johann Casimir, Herzog von Sachsen-Coburg: Instruction, Und Ordnung/ Wie es […] bey denen […] jetzo vorstehenden Evangelischen JubelFests/ so auff den herbeynahenden 31. Octobris/ und darauff folgende 1. und 2. Tag deß Monats Novembris/ diß 1617. Jahrs/ Feyerlich zubegehen […] solle. Coburg 1617 (VD17 39:129779G), Bl. B1v. 160 Kaspar Finck: Decalogus Romanus, in jubilaeo Lutherano Saxo-Coburgiaco propositus […], ut de eo, die 3. Novembris, in auditorio Theologico, rationem redderet […]. Coburg [1617] (VD17 70:673717D). 161 Zacharias Scheffter: Exercitatio Politica, de studio verae religionis in republica, in qua D. A. in illustri Gymnasio Casimiriano Saxonico Coburgensi, […] publice respondebit Johannes Gottfridus von Hutten/ Eques Fran. VI. Novembris. in auditorio majori horis antemeridianis. Coburg 1617 (VD17 70:669024X). 162 Zu seiner Biographie vgl. Hermann Schleder: „Johann Matthäus Meyfart, Professor und Direktor des akademischen Gymnasiums in Coburg, und sein Jubelgesang ‚Jerusalem, du hochgebaute Stadt’“, in: Festschrift zum 350jährigen Bestehen des Gymnasium Casimirianum Coburg, Coburg 1955, S. 17–44, bes. S. 21–28. 163 Johannes Matthäus Meyfart: Exactiones AEgyptiacae, sive Indulgentiae Romanae, Ab AntiChristo presso Dei populo per fraudes & imposturas impudentissimè imperatae, Quarum occasione, D. Lutherus Ecclesiam è servitude AEgyptiaca educere, & admirandum Reformationis negotium, Deo sic volente, exorsus est. […]. Coburg 1617 (VD17 70:669172V).

212

Daniel Gehrt

behandelt worden waren.164 Entsprechend der Zahl der Tage der akademischen Festwoche in Coburg wurden insgesamt sechs Deklamationen angekündigt. Der Generalsuperintendent Finck behandelte die oben erörterte Streitfrage „De vocatione Lutheri“. Der Ankündigung der Rede und einer Thesenreihe zum gleichen Thema ist zu entnehmen, dass Fink nicht wie Gerhard eine mittelbare, sondern ebenfalls wie die Mehrheit der damaligen protestantischen Theologen eine unmittelbare göttliche Berufung Luthers zum Reformwerk verteidigte.165 Die enge Verbindung des Casimirianum zum Hof fand ihre Bekräftigung in der Auswahl der Redner und Themen. So hielt auch der Hofprediger Nikolaus Hugo eine Deklamation über Luther als den „dritten Elias“. Ihm folgte der Hofgerichtsadvokat und Rechtsprofessor am Gymnasium Stephan Hörner, der sich mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Erwägung der spanischen Truppen, nach der Einnahme Wittenbergs 1547 im Schmalkaldischen Krieg den Leichnam Luthers in der Schlosskirche auszugraben bzw. zu vernichten, auseinandersetzte. Fand die entscheidende Schutz- und Förderpolitik der Ernestiner für die Reformation in den Deklamationen an anderen Orten in den sächsischen Herzogtümern kaum Erwähnung, widmete sich der Direktor des Casimirianum in seiner Rede einem entsprechenden Fürstenlob.166 Schließlich hielten Meyfart und Frommann Deklamationen über das Reformwerk bzw. das Leben Luthers. Abschließend rezitierte der Professor Philipp Eschenbach ein selbstverfasstes Jubiläumsgedicht. Das Reformationsgedenken an den ernestinischen Gymnasien erweist in dieser Zusammenschau mehrere Ähnlichkeiten mit den Feierlichkeiten an den Universitäten auf. Zu unterstreichen ist, dass sich beide Typen institutionalisierter Bildung als Medien der Inszenierung vor allem der Deklamationen und Disputationen bedienten, was teils einen indirekten, teils einen unmittelbaren Rekurs auf die Reformation darstellte. Beide Gattungen gehörten zu den akademischen Übungen, denen Melanchthon bei seinen grundlegenden Bildungsreformen in Wittenberg neues Leben eingehaucht hatte.167 Solche Exerzitien waren an Univer164 Andreas Frommann: Disputatio Philosophica quaestionum miscellanearum Ad Praesens Festum Jubilaeum Anni Currentis M.DCXVII. Quo Ante Centum annos Megalander Lutherus p.m. errores, haereses, idololatriam, abusus & superstitiones Pontificiorum, taxare, refutare, abrogare, & ad orcum damnare coepit, accomodata; & ocularibus quibusdam erroribus, quos ijdem in controversiis Theologicis defendere conantur, opposita. Quam […] publice defendendam suscipiet Johannes Glaserus Coburg. Franc. Sexto Idus Novembris in auditorio majori horis promeridianis. Coburg 1617 (VD17 70:659528B). 165 Vgl. Kaspar Finck: Intimatio Iubilaei, in inclyto Casimiriano Saxo-Coburgiaco, Bl. A3r. Kaspar Fink: Disputatio theologica, De legitima ministrorum ecclesiae […]. In illustriß. Casimiriano Coburgensi proposita publicoq[ue] examini subjecta, a M. Wolffgango Latermanno, Verbi Divini in Ecclesia Gellershusana, Dioeceseos Heldburg. Ministro. […]. Coburg 1617 (VD17 23:629294R). 166 Bezüge auf die Ernestiner im Zusammenhang mit der Reformation finden sich lediglich in dem von Heider am 7. November 1617 vorgetragenen Gedicht und in der von Gerhard am 9. Dezember 1617 gehaltene Deklamation. 167 Vgl. Nieden: Erfindung, S. 53–59. Heinz Scheible: „Melanchthons Bildungsprogramm“, in: Hartmut Boockmann u.a. (Hg.): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie. Göttingen 1989, S. 233–248, hier: 242f.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

213

sitäten und Lateinschulen mit höherem Bildungsangebot geschätzte Mittel, um Logik, das kritische Urteilsvermögen und die Redegewandtheit zu schulen. Die Lernenden bildeten somit nicht nur den primären Rezipientenkreis solcher Veranstaltungen, sondern einzelne Schüler und Studenten beteiligten sich im Rahmen der Säkularfeier 1617 direkt als Disputanten oder, wie beispielsweise für das Fürstliche Pädagogium in Stettin und die Universität Heidelberg nachzuweisen ist, als Redner.168 Disputationen besaßen einen besonders hohen symbolischen Wert beim Reformationsgedenken, da Luther mittels dieser herkömmlichen Form der akademischen Streitkultur seine frühe Kritik am Ablasshandel artikuliert hatte. Daher ließen die Wittenberger Luthers 95 Thesen neu auflegen und disputieren.169 Ebenfalls als performative Inszenierung des historischen Gedenkens gedacht, eröffneten auch die Heidelberger ihre Festlichkeiten mit einer Disputation.170 Hervorzuheben ist auch die Bedeutung der neulateinischen Dichtung bei den Schulund Universitätsfesten. Sowohl für die Universitäten Heidelberg, Leipzig, Wittenberg und Jena als auch für die Gymnasien Straßburg und Coburg sind elaborierte Gedichte als Teile der Jubiliäumsfeierlichkeiten bekannt.171 Melanchthon hatte wesentlich dazu beigetragen, diese von den Humanisten hochgeachtete Kunst zum integralen Bestandteil der Grundausbildung und Gelegenheitsgedichte zur bedeutenden Kommunikationsform der Gelehrtenkultur zu machen. Aus seiner Sicht schulte das Schmieden von Versen nicht nur die Eloquenz, die Beurteilung sprachlicher Ästhetik und andere rhetorische Kompetenzen, sondern verschärfte auch das Urteilsvermögen und bildete den Menschen in moralischer Hinsicht.172 In akademischen Gelegenheitsschriften wie auch in Gelehrtenbriefen kamen auch häufig Spielarten der Poesie wie Chronogramme vor. Diese literarische Kunstform, in der die Summe der im Text vorkommenden Majuskeln als römischen Ziffern gedeutet wird und die Jahreszahl des beschriebenen Anlasses ergibt, hatte im Gedenkjahr 1617 Hochkonjunktur.173 So datierte Johann Gerhard den Druck seiner Thesenreihe über die Berufung Luthers mit dem Chronogramm „LVtherI ope Verbo spLenDor reDDItVs”174 und Johann Himmel kündigte seine Jubiläumsrede am 18. Februar 1618 anlässlich des Sterbedatums Luthers unter Verwendung des Chronogramms „MartInVs pergIt spLenDere LVtherVs In Orbe“ an.175 Der Altenburger Rektor Joseph Clauder versah das Titelblatt seiner Re168 169 170 171 172 173

174 175

Vgl. Schönstädt: Antichrist, S. 31–33 (Stettin) und 37f. (Heidelberg). Vgl. Loofs: „Jahrhundertfeier“, S. 17. Vgl. Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 40. Vgl. Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 45. Reichelt: „Reformationsjubelfeier in Straßburg“, S. 75. Schönstädt: Antichrist, S. 24f. Vgl. Thorsten Fuchs: Philipp Melanchthon als neulateinischer Dichter in der Zeit der Reformation. Tübingen 2008, bes. S. 23–34. Zur Gattung vgl. Veronika Marschall: Das Chronogramm. Eine Studie zu Formen und Funktionen einer literarischen Kunstform. Dargestellt am Beispiel von Gelegenheitsgedichten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus den Beständen der Staatsbibliothek Bamberg. Frankfurt am Main 1997. Vgl. die Schlüsselseiten in VD17 23:245834Q. Vgl. das Volldigitalisat in VD17 547:716802L.

214

Daniel Gehrt

de mit drei Chronogrammen.176 Zum einen gab er den Vers Ps 100,1, der den Ausgangspunkt seiner Rede bildete, in leicht abgewandelter Form wieder: „IVbILate oMnIs terra! serVIte Deo In LætItIa!“ Dabei hatte er das Wort „Deo“ mit neutralem Zahlenwert aus dem ersten Teil des biblischen Textes herausgelöst und in den zweiten Teil an die Stelle von „Domino“ gesetzt, damit die Summe der römischen Zahlen 1617 und nicht wie die biblische Vorlage 3118 ergab. Zum anderen führte Clauder den ersten Vers eines beliebten Kampfliedes Luthers gegen die „Türken“ und „Papisten“ in der lateinischen und deutschen Fassung an: „ConserVa nos, DoMIne, In Verbo tVo!“ und „ErhaLt Vns HERR aLeIn bey DeIneM VVortt!“ Im deutschen Vers verzichtete er auf die übliche Orthographie des Worts „allein“ mit Doppel-l, um die gewünschte Auflösung zu erzeugen.177 Der Coburger Generalsuperintendent Kaspar Fink datierte den Druck seiner Thesenreihe über die Berufung Luthers mit zwei Chronogrammen.178 Das erste, „Anno Recurrentis Centenarij Reformatæ Ecclesiæ, Quo FaCtVM est IstVD a IehoVah“, ist eine Anspielung auf den Lobpreis Gottes in Ps 118,23. Zum Schluss griff er zudem auf das beliebte Chronogramm für das 100. Reformationsjubiläum „MartinVs LVtherVs TheoLogIæ D.“ zurück.179 In seinem kurzen, antirömisch ausgerichteten und sehr wortspielerischen „Jubilus propheticus et poeticus“, den Fink an der Doppeltür des Casimirianum angeschlagen hatte, dehnte er dieses Chronogramm für die folgenden vier Jahrhunderte Wort für Wort aus, so dass für 2017 das entsprechende Chronogramm „MartinVs LVtherVs TheoLogIae saCrosanCtae DoCtor aC Pastor“ lautet.180 Auf dem Titelblatt der Schrift steht ferner der Vers aus dem frühchristlichen Hymnus „Te Deum laudamus“ mit den Worten „TIbI CherVbIn aC seraphIn InCessabILI VoCe proCLaMant“. Fink hatte dabei das Wort „et“ durch „ac“ ersetzt, so dass der Vers mit 1617 und nicht mit 1517 aufzulösen ist. Die angeführten Beispiele zeigen, dass Gelehrte bei dieser Praxis nicht nur passende und teilweise aussagekräftige Phrasen mit Bezügen auf den gefeierten Anlass erfanden, sondern auch Zitate aus der Bibel und dem Kulturgut der Kirche unauffällig umwandelten sowie sublime Botschaften prognostischer Natur in bereits bestehenden Phrasen in diesen Quellen zu entdecken glaubten. Ähneln sich die Formen der akademischen Feierlichkeiten zum Reformationsgedenken 1617 an den Universitäten und Gymnasien größtenteils stark, gab es doch auch einrichtungsspezifische Bereiche. Während allein die Universitäten über die Privilegien verfügten, Promotionen zu vollziehen, gehörten die performativen Künste Gesang und Theater ausschließlich dem Curriculum der Schulen

176 177 178 179

Vgl. die Schlüsselseiten in VD17 39:154575D. Abdruck des Liedes in: WA 35, Nr. 32, S. 467f. Vgl. die Schlüsselseiten in VD17 23:629294R. Zum häufigen Gebrauch dieses Chronogramms im Jahr 1717 mit dem ausgeschriebenen Titel „DoCtor“ vgl. Cordes: Hilaria, S. 222, Anm. 513. 180 Kaspar Finck: Jubilus propheticus et poeticus […] in ipso Iubilaeo Valvis inclyti Casimiriani affixus, Anno TIbI CherVbIn aC SeraphIn VoCe InCessabILI proCLaMant Cum Licentia superiorum. Coburg 1617 (VD17 35:730227K; Zweitauflage in Jena bei Tobias Steinmann: VD17 23:245990D), Bl. A2r.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

215

an.181 So waren es Schüler, die in den Festgottesdiensten mehrstimmige Musik aufführten.182 Zudem ist an mehreren Orten die Aufführung von schulinternen und öffentlichen Dramen und Komödien über Luther, meist in Auseinandersetzung mit dem Ablassprediger Johann Tetzel, nachzuweisen.183 Für beide traditionell schulischen Übungsformen sind jedoch bisher keine aufschlussreichen Belege in der Überlieferung zu den ernestinischen Territorien bekannt. 4. HISTORIOGRAPHISCHE WERKE Im Unterschied zu den Deklamationen an der Universität Jena und an anderen ernestinischen Gymnasien zeichnet sich die Rede des Gothaer Rektors Andreas Wilke dadurch aus, dass er an lokale Akteure der Reformation erinnerte. Dies liegt vor allem an der hervorragenden Bedeutung des Gothaer Pfarrers und Superintendenten Friedrich Myconius für die Reformation in einem Großteil des thüringischen Raums184 und an der frühen Verankerung dieser Verdienste im kulturellen Gedächtnis. Myconius gestaltete und förderte maßgeblich die dauerhafte Erinnerung an sein Wirken, indem er Anfang der 1540er Jahre eine Darstellung der Reformation in deutscher Sprache verfasste, die anschließend in handschriftlicher Form im Pfarramt vor Ort aufbewahrt wurde.185 Myconius beschränkte sich nicht auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit lokalen Ereignissen, sondern nahm auch die Wirkung von Humanisten, Theologen, Fürsten und Städten in- und außerhalb des Alten Reichs in den Blick. Für die Kultivierung des kulturellen Gedächtnisses waren auch die Veröffentlichung von Briefen aus dem Nachlass von Myconius in den frühen 1590er Jahren186 und die neulateinische Rede zu Ehren

181 Vgl. grundsätzlich dazu Christel Meier: „Lehren ‚in lebendigen Bildern‘: zum pädagogischen Impetus des frühneuzeitlichen Theaters“, in: Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Tübingen 2012, S. 227–248. Thomas Töpfer: „Schule und musikalische ‚Dienstleistungen‘. Ihre Bedeutung für die Visualisierung und Performanz der ‚Guten Ordnung‘ in der Frühen Neuzeit. Konturen eines vernachlässigten interdisziplinären Forschungsfeldes zwischen Musik- und Bildungsgeschichte“, in: Erik Dremel und Ute Poetzsch (Hg.): Choral, Cantor, Cantus firmus. Die Bedeutung des lutherischen Kirchenliedes für die Schul- und Sozialgeschichte. Halle 2015, S. 73–92. 182 Vgl. Robinson-Hammerstein: „Sächsische Jubelfreude“, bes. S. 490f. 183 Vgl. Kastner: Rauffhandel, S. 151–158. 184 Vgl. Paul Scherffig: Friedrich Mekum von Lichtenfels. Ein Lebensbild aus dem Reformationszeitalter nach den Quellen dargestellt. Leipzig 1900, bes. S. 80–83; und demnächst Daniel Gehrt: „Unsichtbare Strukturen. Friedrich Myconius, Justus Menius und Nikolaus von Amsdorf als kirchliche Oberaufseher der provincia Thuringiae“, in: Harald Schultze und Thomas Seidel (Hg.): Nikolaus von Amsdorf (1483–1565), Reformator in Mitteldeutschland – Luthers Bischof in Naumburg (in Vorbereitung). 185 FB Gotha, Chart. A 339, Bl. 1r–47v. Edition in: Friedrich Myconius: Geschichte der Reformation. Herausgegeben von Otto Clemen. Fotomechanischer Neudruck der Originalausgabe Leipzig 1914, mit einem Nachwort von Helmut Claus. Gotha 1990. 186 XVI. Selectiores vereque theologiae clarorum virorum […] ad D. Fridericum Myconium […] conscriptae quondam Epistolae. Schmalkalden 1593 (VD16 ZV 13966). Philipp Melanch-

216

Daniel Gehrt

des Gothaer Reformators, die der Weimarer Pfarrer und Superintendent Anton Probus anlässlich des 50. Todesjahrs von Luther und Myconius 1596 gehalten hatte, entscheidend.187 So zitierte Wilke den Titel der letztgenannten Schrift, indem er Myconius als „primus Thuringiae huius nostrae Lutheranus Evangelista“ ehrte.188 Solche konkreten Bezüge auf lokale Akteure und Ereignisse der Reformation waren in den Jubiläumspredigten und -reden von 1617 bisher lediglich für Wittenberg bekannt. Auch in Altenburg, wo heute die Bedeutung des vor 500 Jahren wirkenden Reformators Georg Spalatin stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist,189 fand Spalatin neben Reuchlin, Oekolampad, Erasmus, Zwingli, Melanchthon, Bugenhagen, Jonas und Cruciger in der Deklamation des 1617 amtierenden Rektors des Gymnasiums Joseph Clauder keine namentliche Erwähnung.190 Die Säkularfeier von 1617 erweckte grundsätzlich das historische Bewusstsein für die vergangenen einhundert Jahre, die für Protestanten eine in sich geschlossene Epoche bildeten und die häufig als das „erste lutherische“ bzw. „evangelische Jahrhundert“ bezeichnet wurden.191 Die Sensibilisierung für diese historische Zeitspanne manifestierte sich in einer Reihe von verschiedenen Chroniken und anderen historiographischen Werken mit identitätsstiftender und selbstvergewissernder Deutung der eigenen Konfession. Diese entstanden nicht innerhalb des Rahmens institutionalisierter Bildung wie die anderen bisher erläuterten Formen des Reformationsgedenkens, sondern aus Eigeninitiative einzelner Gelehrter. Bekannt sind vor allem die lateinisch verfassten Annalen des Heidelberger Hofpredigers Abraham Scultetus, der das Geschehen in Europa Dekade für Dekade aus reformierter Sicht darstellen wollte.192 Lediglich die ersten beiden Bände für die

187

188 189

190

191 192

thon: LXVI. Selectiores … ad D. Fridericum Myconium […] conscriptae quondam Epistolae. Jena 1596 (VD16 M 4238, S 10309). Anton Probus: Oratio de Friderico Myconio Theologo constantissimo, & primo Thuringorum Euangelista, &c. […]. Schmalkalden 1597 (VD16 ZV 12802). Vgl. demnächst dazu den Beitrag von Daniel Gehrt: „Melanchthon in Gotha. Eine Sammlungs- und Forschungsgeschichte“, im gleichnamigen Buch herausgegeben von dems. und Kathrin Paasch. Wilke: „Oratio secularis de Iubilaeo Lutherano“, S. 883. Bezeichnend dafür ist die aktuelle Ausstellung in Altenburg zu Spalatin. Vgl. dazu Hans Joachim Kessler und Jutta Penndorf (Hg.): Spalatin in Altenburg. Eine Stadt plant ihre Ausstellung. Halle 2012. Armin Kohnle u.a. (Hg.): Georg Spalatin – Steuermann der Reformation. Halle 2014. Vgl. Clauder: Oratio secularis, Bl. E2v. Dies liegt zum Teil daran, dass Spalatins volle Wirkung relativ früh in Vergessenheit geraten war und dass die intensivere historiographische Beschäftigung mit ihm erst Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts begann. Zu diesem Phänomen vgl. Daniel Gehrt: „Georg Spalatin als Historiograph der Reformation“, in: Kohnle (Hg.): Georg Spalatin, S. 126–136, hier: 133f. Siehe beispielsweise die Rede von Johann Himmel am 18. Februar 1617 oben und die Annalen von Paul Wolf unten. Vgl. Abraham Scultetus: Annalium Evangelii passim per Europam decimo quinto salutis partae seculo renovati. Prima, ab anno M.D.XVI. ad annum M.D.XXVI. [Frankfurt am Main] 1618 (VD17 23:248305P). Decas Secunda: ab anno M D XXVI. ad annum M D XXXVI. [Frankfurt am Main] 1620 (VD17 23:248307D). Beide Bände wurden von Reinhard Wolff ins Deutsche übersetzt: Historischer Bericht Wie die Kirchenreformation in Teutschlandt vor

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

217

Jahre von 1516 bis 1535 gelangten zum Druck, denn das Manuskript fiel 1620 auf der Flucht aus Prag mit Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, dem sogenannten „Winterkönig“, nach der Schlacht am Weißen Berg in die Hände seiner Gegner. Andere vom Jubiläumsgedanken geleitete historische Darstellungen liegen im Dunkeln, da sie häufig nur handschriftlich überliefert sind oder bisher nicht als solche identifiziert worden sind oder aber die Jahrhunderte nicht überstanden haben. Aus dem ernestinischen Gebiet sind zwei historiographische Arbeiten dieser Art hervorzuheben. Die erste verfasste der Eischlebener Pfarrer Paul Wolf zur Geschichte der Stadt Weimar in deutscher Sprache unter dem Titel Annales seculi Lutherani Vinarienses, oder Jahr verzeichnuß, was innerhalb 100 Jharen, seid Lutheri s[eligen] g[edächtnisses] Reformacion, sich sonderlich denckwurdiges zu Weimar zugetragen.193 Dabei führte Wolf links auf jeder Seite in zwei schmalen Spalten eine doppelte Jahreszählung unter den Überschriften „Annus Christi“ und „Annus Reformat[ionis] Euangeliae per Lutherum“. Die erstere mit den Jahreszahlen 1517 bis 1617 hat die Geburt Christi als Referenzpunkt und letztere mit den Zahlen 1 bis 101 die Geburtsstunde der Reformation. Die Annalen geben zunächst über Friedrich Myconius, der 1517 Franziskaner in Weimar war, und über seine Auseinandersetzung mit Johann Tetzel und dem Ablasshandel in früheren Jahren Auskunft.194 Die Annalen enden mit dem Tod der verwitweten Herzogin Dorothea Maria von Sachsen-Weimar am 18. Juli 1617. Dazu schreibt Wolf: „Sie ist gestorben in dem Jahr da das erste Lutherische Jubelfest von Jrer Fürstlichen Gnaden Herrn Sohn in Weimarischen Furstenthumb Löblich angeordnet; vnd begehet sie ihr recht Ewiges erlaß vnd JubelJahr im Himmel“.195 Wolf vollendete die Annalen nach eigener Angabe am 5. Mai 1620 und wollte über das Jahr 1617 hinaus auch die tragische Niederbrennung des Schlosses Hornstein im Sommer 1618 nicht unerwähnt lassen. Zwischen den Eckjahren führte Wolf verschiedene historische Informationen zu Schul-, Kirchen- und politischen Verhältnissen, zu lokalen und regionalen Ereignissen sowie zu Naturphänomenen an. Hinzu kommen einzelne Ereignisse von überregionaler Tragweite wie der Bilderstreit infolge der Einführung des reformierten Glaubens in das Fürstentum Anhalt Ende des 16. Jahrhunderts sowie die Gewährung von Religionsfreiheit für die protestantischen Stände im Königreich Böhmen 1609 durch Kaiser Rudolf II. Wolf verwies häufig auf seine Quellen, zu denen auch die genannte Chronik von Myconius zählt. Der persönliche Bezug des Eischlebener Pfarrers zu Weimar kommt in einer abschließenden Benediktion zum Ausdruck, in der er die Stadt als sein „liebes Vaterland“ bezeichnet. Dort, wo er um 1569 geboren war, wirkte sein Vater Johannes Wolf jahrelang als Rektor der Lateinschule. Dieser hatte 1569/70 unter hundert jahren angangen […]. Frankfurt am Main 1618. Ander Theil/ Deß Historischen Berichts/ wie die Kirchen-Reformation in Deutschland vor hundert Jahren angangen […]. Hanau 1624 (VD17 12:117184F). Vgl. dazu Benrath: Kirchengeschichtsschreibung, S. 27–37. 193 Vgl. FB Gotha, Chart. A 666, Bl. 311r–330v. 194 Zum Streit zwischen Myconius und Tetzel vgl. Scherffig: Mekum, S. 4–17. 195 FB Gotha, Chart. A 666, Bl. 330r.

218

Daniel Gehrt

dem Titel Von der alten Bepstischen Religion vnd Messen im Babsthumb zu Weymar gebreuchlich gewesen eine nach Kirchen, Kapellen, Klöstern und Spitälern gegliederte Darstellung der vor- und frühreformatorischen Kirchenverhältnisse in Weimar bis ins Jahr 1530 hinein verfasst.196 Auch ein auf das Jahr des Thesenanschlags bezogenes Jubiläumsbewusstsein scheint ein wichtiger Beweggrund für die Entstehung der Schrift gewesen zu sein, denn der Schulrektor verstand sein Werk als Dank an Gott „fur sein vnaußsprechliche gute vnd wolthat, die er vns, vnsern lieben eltern vnd vorfaren durch sein heiliges Euangelion auß lauter gnaden, one alle vnser verdinst, nhun vber die funffzig jhar erzeiget vnd gegunnet hat“.197 Das Publikum, das Johannes Wolf bei der Abfassung des Dokuments vor Augen hatte, lässt sich dem Text nicht entnehmen. Ebenso unklar ist, für welche potentiellen Leser der Sohn Paul seine Annalen 50 Jahre später schrieb. Dass er im Text den Namen des Vaters nie ausschrieb, sondern lediglich mit den Initialen „I. W.“ angab, deutet auf eine primär persönliche Verwendung hin. Parallel zu Wolf arbeitete der Pfarrer und Generalsuperintendent von Eisenach Nicolaus Rebhan an einer mehr als 700 Folioseiten umfassenden Kirchengeschichte seines damaligen Wirkungsorts von der Gründung der Stadt im frühen Mittelalter bis in das Jahr 1616 hinein.198 Ist das Reformationsjubiläum von 1617 auch nicht explizit erwähnt, liegt dieses jedoch aufgrund des gewählten Abschlussjahres als Anlass des Vorhabens nahe. Dem auf den 1. August 1621 datierten Vorwort ist zu entnehmen, dass Rebhan seine historische Darstellung in lateinischer Sprache ebenso wie Myconius ein Dreivierteljahrhundert zuvor für die Konsultation durch aktuell amtierende und künftige Geistlicher in der Stadt verfasste, so dass ein Exemplar sicherlich zum Inventar des lokalen Pfarramts gehörte. Rebhan nahm eine dreiteilige Gliederung vor. Der erste Teil befasst sich mit der frühesten Zeit bis zum „seculum Reformationis Evanglicae“. Dabei nimmt der Abschnitt über die Landgräfin Elisabeth von Thüringen nahezu die Hälfte der 126 Seiten in Anspruch. Durch diese und andere Werke protestantischer Geschichts196 Vgl. FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 107r–116v (Erstfassung von 1569), Bl. 59r–66v (Zweitfassung von 1570). Edition in Ernst Müller: „Magister Johannes Wolfs Niederschrift von 1569/70 über die kirchlichen Verhältnisse in Weimar vor der Reformation“, in: Michael Gockel und Volker Wahl (Hg.): Thüringische Forschungen. Festschrift für Hans Eberhardt zum 85. Geburtstag. Weimar u.a. 1993, S. 131–156. 197 FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 60r. 198 Zum Werk vgl. A. Oesterhald: „Beitrag zu einer Bibliotheca Isenacensis“, in: Jahresbericht über das Karl-Friedrichs-Gymnasium zu Eisenach von Ostern 1878 bis Ostern 1879. Eisenach 1879, S. 1–20, hier: 14–17 (mit Abdruck des Vorworts). Das Privatexemplar von Rebhan mit eigenhändigen Bearbeitungen und Ergänzungen in: ThStA Gotha, Geheimes Archiv E XVI Nr. 8. Zu einem weiteren Exemplar im Stadtarchiv Eisenach vgl. Franziska Luther: „Die Klöster und Kirchen Eisenachs (1500–1530). Prologe zur Reformation und wie die Geistlichkeit ‚vermeynen die Zinse aus etzlichenn armenn zu kelterenn‘“, in: Joachim Emig u.a. (Hg.): Vor- und Frühreformation in Thüringischen Städten (1470–1525/30). Köln u.a. 2013, S. 403–435, hier: 409. Auszüge aus der Chronik finden sich in: FB Gotha, Chart. B 210, Bl. 1r–260cv. Vgl. dazu Daniel Gehrt: „Strategien zur Konsensbildung im innerlutherischen Streit um die Willensfreiheit. Edition der Declaratio Victorini und der ernestinischen Visitationsinstruktion von 1562“, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 63 (2009), S. 143–190, hier: 163 und 175.

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

219

schreibung wurde diese Heilige zum Vorbild lutherischer Frömmigkeitsvorstellungen umgedeutet.199 Der zweite und mit 544 Seiten umfangreichste Teil von Rebhans Geschichte beginnt mit der Reformation und endet mit der Jahrhundertwende. Vorangestellt sind genealogische Recherchen zu Luthers Verwandtschaft in dem südlich von Eisenach liegenden Dorf Möhra. In den narrativen Text sind Abschriften von zahlreichen Briefen und Dokumenten eingearbeitet. Der 38 Seiten umfassende dritte Teil befasst sich mit den ersten 16 Jahren des 17. Jahrhunderts. Da die historische Darstellung der Reformation von Myconius der Geistlichkeit in Gotha längt zur Verfügung stand, fehlte dort 1617 im Unterschied zu Weimar und Eisenach das Bedürfnis, eine Chronik zu schreiben. Stattdessen wurde eine andere, subtilere Form der historiographischen Memorialpraxis angewendet. Auf den Vorsatzblättern des von Myconius handschriftlich erstellten Buchs mit den Einkünften der geistlichen Einrichtungen in und um Gotha, in welches auch seine Chronik ursprünglich eingebunden war, wurden von einer bisher nicht identifizierten Hand die Namen aller Pfarrer und Diakone in der Stadt Gotha seit der Reformation eingetragen.200 Der an letzter Stelle genannte Geistliche trat 1616 sein Amt in Gotha an. Dieses um 1617 entstandene Verzeichnis stellte eine Art Genealogie dar, welche das identitätsstiftende reformatorische Ereignis durch eine ununterbrochene Kette von Predigern mit der Gegenwart verband. 5. SCHLUSSBETRACHTUNG Hat sich die Forschung zum Reformationsjubiläum 1617 bisher auf die Bedeutung der Obrigkeiten für die flächendeckende, überregionale feierliche Begehung des Festes in den protestantischen Städten und Territorien des Reichs, auf die Predigten und die liturgische Gestaltung der Gottesdienste sowie auf die publizistische Propaganda konzentriert, zeigen die unter dem Gesichtspunkt der Gelehrtenkultur erörterten Beispiele memorialkultureller Praxis die Vielfalt und Komplexität des Reformationsgedenkens und eröffnen neue Forschungsperspektiven. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Bildungselite herkömmlicher Formen der akademischen Festkultur bediente, allen voran Deklamationen, Disputationen und Gedichten in neulateinischer und zum Teil auch in altgriechischer Sprache. Die verschie199 Vgl. Daniel Gehrt: „Die Anfänge einer konfessionell bestimmten Identität in Thüringen und den ernestinischen Landen“, in: Irene Dingel und Günther Wartenberg (Hg.): Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Territorien. Leipzig 2009, S. 53–68, hier: 66f. 200 Vgl. FB Gotha, Chart. A 1932, Bl. VIIr–IXr. Zu den Handschriften vgl. Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft, beschr. von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2015, S. 635 (Chart. A 339) und 850f. (Chart. A 1932). Vgl. auch den Überblick über die Geistlichen in Gotha in: Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 1: Herzogtum Gotha, hrsg. von der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte, bearb. von Bernhard Möller u.a. Neustadt an der Aisch 1995, S. 39–42.

220

Daniel Gehrt

denen symbolischen Inszenierungen im Rahmen der Säkularfeier, wie zum Beispiel die Einbeziehung der vorhandenen historischen Kulissen in der Stadt Wittenberg, die performative Veranstaltung von Disputationen als Erinnerung an Luthers Verwendung dieser traditionellen Form der akademischen Streitkultur, um seine Kritik an Missbräuchen des Ablasshandels 1517 zu artikulieren, sowie die bewusst mit den Zahlen der beiden Lebensphasen Jesu abgestimmten zeremoniellen Verleihungen akademischer Würden an der Philosophischen und Theologischen Fakultät in Jena stellen weitere Medien der Memorialpraxis dar. Hinzu kommen leicht zu übersehende Formen des Reformationsgedenkens wie etwa die am „Schwarzen Brett“ und durch den Druck vervielfältigten universitären Ankündigungen und Bekanntmachungen, die häufig Aspekte des Jubiläums aufgriffen und mit Chronogrammen versehen waren. Die Predigten, die Professoren vor Universitätsmitgliedern und der Stadtbevölkerung hielten, bewegten sich an der Grenze zwischen Gelehrten- und Breitenkultur. Das Reformationsgedenken unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Gelehrtenkultur zu betrachten, öffnet den Blick für die Bandbreite der Formen, Inhalte und Kontexte sowie für die zeitlichen Dimensionen. Einige Universitäten organisierten lange im Vorfeld der Kirchenfesttage oder auch in den folgenden Monaten Veranstaltungen in Verbindung mit dem sich am 31. Oktober 1617 zum 100. Mal jährenden Thesenanschlag. Anlass dafür bildeten zum Teil ältere akademische Traditionen wie etwa der Brauch, bei Promotionen, an Luthers Todestag, dem 18. Februar, oder – spezifisch für die Leucorea – zu den Catharinalia am 25. November öffentliche Reden zu halten. So wurden bereits am 25. November 1616 und am 8. April 1617 in Wittenberg sowie am 18. Februar und am 30. Juli 1617 in Jena Deklamationen in Vorgriff auf das Jubiläum gehalten. An mehreren Bildungsstätten dehnten sich die Veranstaltungsreihen bis Ende des Kalenderjahres 1617 aus. Der Jenaer Theologieprofessor Johann Himmel verstand auch die Rede, die er am 18. Februar 1618 hielt, als Beitrag zum 100. Reformationsjubiläum. Kontextuell beschränkt sich Gelehrtenkultur nicht auf den institutionellen Rahmen von Universitäten, sondern manifestiert sich unter anderem auch in Lateinschulen, insbesondere in jenen mit hochschulähnlichem Charakter, sowie in den verschiedensten Praktiken und Arbeiten individueller Gelehrter. So sind Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum auch in den territorialen Bildungszentren in den ernestinischen Residenzstädten nachzuweisen. Die Gymnasien Straßburg und Coburg hatten – insofern die bisher bekannte Quellenlage eine Rekonstruktion zulässt – sogar veranstaltungsreichere Programme als manche vollprivilegierten Universitäten. Die Formen der Feierlichkeiten an den Universitäten und Gymnasien überlappten sich größtenteils. Institutionsspezifisch waren jedoch die Promotionen als Teil der Zeremonien an den Universitäten. Dahingegen gehörten die performativen Künste des mehrstimmigen Gesangs und des Schauspielens exklusiv zum Curriculum der Schulen, so dass diese Einrichtungen die lokalen Feste mit Kirchenmusik und Theateraufführungen bereicherten. Außerhalb des Rahmens institutionalisierter Bildung leisteten einzelne Gelehrte, insbesondere Prediger, wichtige memorialkulturelle Beiträge unter anderem in Form von historiographischen Arbeiten. Allein für das ernestinische Gebiet

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

221

entstanden in diesem Zusammenhang Annalen der Stadt Weimar für die Jahre von 1517 bis 1617, eine chronikartige Darstellung der Geschichte Eisenachs von der Gründung der Stadt bis zum Jahr 1616 sowie eine Art Genealogie der evangelischen Geistlichen in der Stadt Gotha bis zum Jubiläumsjahr, die sich mit der von Friedrich Myconius in den frühen 1540er Jahren verfassten Geschichte der Reformation in Verbindung setzen ließ. Das Phänomen war sicherlich weit verbreitet, handelt es sich doch bei diesen Beispielen um seltene handschriftliche Überlieferungen, deren Entstehung sich zum Teil nur anhand von subtilen Indizien auf das Bewusstsein für das „erste evangelische Jahrhundert“ zurückführen lässt. Die Akteure in diesen verschiedenen Kontexten waren vorwiegend Theologen. An den Universitäten und Gymnasien ist aber gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit mit Mitgliedern der Philosophischen Fakultät und mit Lehrern entsprechender Disziplinen festzustellen. So spielten Erasmus Schmidt als Dekan in Wittenberg und Wolfgang Heider als Vertreter des Dekans in Jena durch ihre frühen Reden mit Hinweisen auf das bevorstehende Jubiläum prominente Vorreiterrollen. Bezeichnend für diesen Schulterschluss ist die Zahlensymbolik der Promotionen an den beiden Fakultäten in Jena. Diese enge Kooperation im Zusammenhang mit dem Jubiläum spiegelte die curriculare Verzahnung der ranghöchsten und -niedrigsten Fakultät miteinander – insbesondere bei der Ausbildung künftiger Pfarrer – wider. Zudem nahmen die protestantischen Gelehrten die Geschichtsschreibung, einen wichtigen, an der Philosophischen Fakultät angesiedelten Bestandteil der studia humanitatis, beim Reformationsgedenken 1617 auf besondere Weise in Anspruch, denn die römisch-katholische Kritik an der Existenzberechtigung der evangelischen Glaubensrichtungen forderte die Protestanten heraus, von dem gefeierten historischen Ereignis eine doppelte Brücke zu den Ursprüngen der christlichen Kirche und zur Gegenwart zu schlagen. An mehreren Universitäten waren auch die Juristischen und Medizinischen Fakultäten in die Feierlichkeiten einbezogen. Während die Reformation kaum Wirkungen auf die Medizin hatte, sorgte sie für tiefgreifende Änderungen im Kirchenrecht und somit auch in den juristischen Studien an den protestantischen Universitäten. Demzufolge wurden auch kirchenrechtliche Fragen in den Jubiläumsreden häufig thematisiert. Unabhängig davon galt es grundsätzlich als Brauch, dass sich alle Fakultäten an festlichen Ereignissen an den Universitäten wie zum Beispiel an Promotionen in der Theologie beteiligten. Abgesehen von institutionsintern Abstimmungen bei der Koordination der akademischen Festwochen agierten Gelehrte weitgehend autonom bei der Gestaltung des Jubiläums. So hielten sich die Jenaer Professoren bei ihren Predigten kaum an die inhaltlichen Vorgaben der landesherrlichen Anordnung. Aufgrund dieser Gestaltungsfreiheit sind an den einzelnen Orten häufig thematische Akzentuierungen oder besondere Ausdrucksformen des Reformationsgedenkens zu beobachten. Im Unterschied zu den publizierten Predigten und illustrierten Flugschriften waren die akademischen Formen der Feierlichkeiten in Verbindung mit dem Jubiläum meist für einen exklusiven Rezipientenkreis gedacht. Allein die Verwendung der Gelehrtensprachen Neulatein oder Altgriechisch schränkte das potentielle

222

Daniel Gehrt

Publikum erheblich ein. Der Großteil der Feierlichkeiten und der historiographischen Arbeiten war primär für Gebildete bzw. Schüler und Studenten vor Ort gedacht. Auch wenn beispielsweise universitäre bzw. gymnasiale Ankündigungen und Einladungen zu Veranstaltungen sowie Thesenreihen im Rahmen des Jubiläums in Offizinen vervielfältigt wurden, war dies gemeinhin üblich für diese akademischen Gattungen. Die Drucke waren in erster Linie für den einmaligen lokalen Gebrauch intendiert. Dies gilt auch für Gerhards Thesen zur Berufung Luthers, die später in ihrer überarbeiteten Form in den Loci theologici große Wirkung entfalteten. Vor allem die ausschließlich handschriftlich überlieferten Zeugnisse des Jubiläums wie etwa Gerhards eschatologisch-heilsgeschichtliche Rede oder beispielsweise die Tatsache, dass zahllose Jubiläumspredigten, die in den Städten und Dörfern gehalten wurden, heute nicht erhalten sind, verdeutlichen, dass lediglich ein geringer Anteil der verfassten Schriften für die überregionale Verbreitung ausgewählt wurde. Hatte der Heidelberger Hofprediger Abraham Scultetus von vornherein die protestantische Gelehrtenrepublik Europas als Publikum für seine umfassenden Annalen der Reformation vor Augen, standen die verschiedenen für die ernestinischen Gebiete nachgewiesenen Formen der reformatorischen Geschichtsschreibung primär im Dienst der konfessionellen Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung vor Ort. Diese Funktion konnte durch ein einziges handschriftliches Exemplar eines entsprechenden Werkes erfüllt werden, wenn es an einem Ort, wie im Pfarramt, aufbewahrt wurde, wo potentiellen Trägern des kulturellen Gedächtnisses der Zugang gewährleistet wurde. Mit Blick auf diese Erkenntnisse ist die gängige These, dass Protestanten das Reformationsjubiläum 1617 zum Anlass für eine gezielte publizistische Kampagne gegen die römischkatholische Kirche genommen hätten, zumindest für den akademischen Bereich zu relativieren. Konfessionelle Abgrenzungsmomente dieser Werke dienten viel häufiger einer nach innen gerichteten Identitätsstiftung und -stärkung. Zwischenkonfessionelle Rivalität stellt nur einen Beweggrund unter anderen für die Vielfalt und hohe Intensität des evangelischen Jubiläums 1617 dar. Im Fall von Gerhard kamen ein früh ausgeprägtes reformatorisches Jahrhundertbewusstsein, eine eschatologische Erwartung und persönliche wissenschaftliche Ambitionen hinzu. Eine Verortung der verschiedenen Aspekte von Gerhards Disputation, Predigt und Deklamationen im Rahmen des Jubiläums im Gesamtschaffen des Jenaer Theologen zeigt, dass seine Tätigkeiten als Prediger, akademischer Lehrer und Publizist miteinander verquickt waren. Als wichtiges Kommunikationsmedium zwischen diesen verschiedenen Arbeitsbereichen dienten Loci-Sammlungen. Diese dynamischen Wechselbeziehungen sowie die Rezeption von älterem Gedankengut und die Neuformulierung lutherischer Theologie lassen sich in Gerhards Dogmatik nachvollziehen. Die Loci theologici bilden ebenfalls einen wichtigen Referenzpunkt für Gerhards differenzierten Umgang mit seinen eigenen geistigen Erzeugnissen. Während er die breite Rezeption grundlegender Gedanken durch die Aufnahme in opera magna wie seine Dogmatik oder das Ernestinische Bibelwerk sicherte, schränkte er die Verbreitung von Ideen und Kommentaren, die eher spekulativ oder weniger fundiert waren, durch eine exklusiv mündliche Vermittlung ein. Stand Gerhard bei dem Jubiläumsprogramm in der Stadt Jena

Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken 1617

223

aufgrund von sozialen Konventionen jeweils an zweiter Stelle nach dem dienstältesten Theologen Johannes Major, nahm er doch eine hervorragende Stellung unter anderem auch durch die Veranstaltungen, die er außerhalb der Festwoche organisierte, und durch die breite Wirkung seiner Beiträge ein. Gerhard hatte im Allgemeinen einen prägenden Einfluss auf die lutherische Theologie seiner Zeit, dessen Anfänge bereits auf Jahre vor seinem Amtsantritt 1616 als Theologieprofessor in Jena zurückreichten. So war die außergewöhnliche Doppelwahl zum Rektor der Universität Jena und zum Dekan der Theologischen Fakultät in dem Semester, im dem sich Luthers Thesenanschlag zum 100. Mal jährte, ein symbolischer Akt, der diese zeitgenössisch wahrgenommene Sonderrolle besonders deutlich zum Ausdruck brachte.

BEOBACHTUNGEN ZUR PUBLIZISTIK VON JOHANN GERHARD Ulman Weiß Als der greise Johann Major im August 1637 in der Leichenpredigt auf den viel jüngeren Kollegen Johann Gerhard, die ihm so schwer wurde wie keine, die er in mehr als dreißig Jahren gehalten hatte, über das Leben des ihm freundschaftlich verbundenen Toten sprach, war ihm wichtig, in einem besondern Passus seiner vielen Schriften zu gedenken; die erste, sagte er, waren die „Meditationes“, die, da überaus „willkommen“, alsbald nicht nur in die deutsche, sondern auch in andre Sprachen, selbst in die griechische, übersetzt wurden; dann kamen die neun „Tomi Locorum“, in denen ein „vollkommener Begriff der gantzen reinen Lehr“ der Augsburgischen Konfession zu finden war, dazu die „Exegesis“ und die „Disputationes“, die alle zusammen für einen solch „teuren werthen Schatz“ zu halten waren, wie er „bißher noch nie ans Licht“ gekommen war; doch nicht genug damit, standen ihnen die „continuatio harmoniae Evangelicae“, die „aphorisimi theoretici & practici“, der „Bellarminus orthodoxus“ und vor allem die späte „Confessio catholica“, dieses so vortreffliche Werk, in dem „mit der Päbstischen scribenten eigenem Zeugnis“ die evangelische Lehre als wahr erwiesen wurde, keineswegs nach; andrer Art waren die „Schola pietatis teutsch“, die „Postillen teutsch vnd lateinisch“ sowie die mancherlei „Trost/ Gebet/ Catechismus vnd andere Büchlein mehr“, zu schweigen der vielen Disputationen, Reden und Gedichte; sein Kommentar über das Buch Genesis, sagte Major, war gerade unter der Presse, die Kommentare zu den andern biblischen Büchern, die er noch hatte beenden können, würden folgen; unbeendet, sagte Major, war das große Bibelwerk geblieben, mit dem er aber bis zuletzt befasst gewesen war; „Tag vnd Nacht“ hatte er zugebracht mit „collationiren/ corrigiren“, mit „collegialischen conferiren“ und hatte darüber, wie er es selbst vorausgesagt, „seinen Geist auffgegeben“. Major hob hervor, dass es samt und sonders „stattliche und nützliche bücher“ waren, die Gerhard verfasst hatte, und dass keines „zweymal umb oder abgeschrieben“ worden war.1 „Keyn Brunn“, sagte Major, „quillet so reichlich/ als es bey Jhme flos1

Vgl. hierzu Johann Gerhard: Erklährung der Historien des Leidens unnd Sterbens unsers Herrn Christi Jesu nach den vier Evangelien (1611). Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 480 (Übernahme von Predigten aus De vita Jesu Christi in Erklährung „in nur leicht überarbeiteter Weise“). Johann Gerhard: Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione (1610). Lateinisch–deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachweis versehen von Johann Anselm Steiger in Verbindung mit Vanessa von der Lieth. Stuttgart-Bad

226

Ulman Weiß

se/ wenn er die Feder ansetzte“.2 Besser ließ sich die beeindruckende Produktivität des toten Freundes gewiss nicht beschreiben. Diese Johann Gerhard wohl erstmals als Publizisten würdigenden Worte benennen ein Thema, das später nicht mehr aufgegriffen wurde. Insofern sind meine Bemerkungen nicht mehr als ein paar Beobachtungen. 1. STATISTIK Zunächst Zahlen.3 Sie beziehen sich sowohl auf Gerhards selbständige Werke als auf Werke anderer, an denen er mit größern oder kleinern Beiträgen beteiligt war, nicht aber auf die vielen amtlichen Verlautbarungen, auf die Vorlesungsankündigungen und ähnliche Schriftstücke, die gewöhnlich als Einblattdrucke erschienen. Die frühen Veröffentlichungen waren natürlich Dissertationen; der ersten des neunzehnjährigen Wittenberger Studenten im Jahre 1601 folgten weitere in den Jahren 1604 und 1606; in diesem Jahr 1606 erschienen aber auch die von Major als überaus „willkommen“ gepriesenen Meditationes sacrae. Seither verging kaum ein Jahr, ohne dass nicht wenigstens eine Schrift von Gerhard in den Buchladen gelangte, zumeist waren es zwei oder drei Schriften, nicht selten drei oder vier, in den Jahren 1611 und 1614 waren es fünf, sechs im Jahre 1610 und gar acht in den Jahren 1613 und 1634. Und es waren, wie zu betonen ist, durchaus umfangreiche Schriften, wie beispielsweise die 1.800 Seiten zählenden vier Teile der Postilla des Jahres 1613 oder der 1.700 Seiten zählende, im selben Jahr herausgekommene dritte Band Locorum theologicorum; auch die Homiliae und die Confessio catholica (Teil eins und zwei) hatten mit 3.500 bzw. 2.200 Seiten ebenfalls einen gewaltigen Umfang; selbst die beiden im Jahr des Todes gedruckten Werke, die Confessio catholica (Teil vier) und der Genesis-Kommentar umfassten 1.000 bzw. 900 Seiten. Gewiss waren die Bücher reich gespeist worden mit der seit dem Studium gewachsenen Zitatsammlung, überdies waren sie im Oktavformat erschienen, aber ihre Vielzahl beeindruckte bereits die Zeitgenossen. Noch reicher als die selbständigen Werke war im übrigen Gerhards sogenannte Beitrags-Publizistik. Lediglich in den zwei lebensgeschichtlich schwierigen Jahren 1602 und 1609 publizierte er überhaupt nicht. Längere Zeit blieb diese BeitragsPublizistik mit jährlich etwa vier Texten bescheiden, dann aber, nach dem Jahre 1616, nicht zufällig im zeitlichen Zusammenhang der Berufung an die Universität

2

3

Cannstatt 2007, S. 489 (Verwendung des 1610 erschienenen Tractatus im selben Jahr als 2. locus in Locorum theologicorum t. 1). Johann Major: Leichenpredigt auf Johann Gerhard, in: Johann Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten. Kritisch herausgegeben und kommentiert von Johann Anselm Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner und Alexander Bitzel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 294– 315, hier: 305f., 307. Die folgenden Angaben fußen auf der Bibliographia Gerhardina, 1601–2002. Verzeichnis der Druckschriften Johann Gerhards (1582–1637) sowie ihrer Neuausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen. Bearbeitet und herausgegeben von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Peter Fiers. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

227

nach Jena, sprang sie auf über siebzehn und hielt sich auf dieser Höhe, um noch im Todesjahr mit sechs Beiträgen, zumeist Trostbriefen in Predigten auf Verstorbene, zu Buche zu schlagen. Freilich verdeckt das Spitzenjahr 1623, in dem der Thesaurus consiliorum von Georg Dedeken veröffentlicht wurde, dass es sich bei den mehr als einhundert von Gerhard gedruckten Gutachten um Arbeiten früherer Jahre handelte, von denen etliche auch sehr kurz waren. Soviel zu Zahlen, die das Ausmass der Publizistik andeuten. 2. ÜBERSETZUNGEN Nimmt man die Werke näher in Augenschein, zeigt sich sofort das sicher nicht überraschende Übergewicht der lateinischen. Deutsch verfasste und veröffentlichte Gerhard nur die Passionserklärung und die beiden großen, von Major in der Leichenpredigt herausgestellten Postillenwerke sowie die wenigen, von Dritten für den Druck erbetenen Kasualpredigten. Lateinisch schrieb er auch die frühen, zuerst zur Erbauung der eignen Seele gedachten Schriften, die doch, wie von vornherein anzunehmen war, mehr lateinunkundige als lateinkundige Leser finden würden. Heißt dies, dass Gerhard, ging es um Religiöses, die lateinische Sprache die vertrautere war? Wenn dem so war, musste er doch, wollte er diese Schriften sich nicht selbst überlassen, in der von ihm gewünschten Weise ihrer Wirkung voranhelfen, indem er die Meditationes sacrae, das Enchiridion consolatorium und das Exercitium pietatis entweder selbst übersetzte oder von einer Person übersetzen ließ, die er als befähigt ansah, den Geist der lateinischen Fassung auch in der deutschen wehen zu lassen. Die Meditationes, wusste er bereits im Herbst 1606, würden „in kurtzen“ auch in deutscher Sprache gedruckt werden.4 Es spricht viel dafür, dass er die in Erfurt verlegten Funfftzig Gottseliger Christlicher Gedancken meinte, die allerdings erst zum Ostermarkt 1608 erschienen.5 Denn von einer frühern, in Magdeburg herausgekommenen Übersetzung wusste er zunächst nichts und ihr Übersetzer, Pfarrer Sommer im anhaltischen Osterweddingen, war ihm unbekannt.6 Den Erfurter 4

5 6

Brief Johann Gerhards an Herzogin Christine, 21. September 1606, abgedruckt in: Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 246–253, hier: S. 253. Unzutreffend ist der S. 274, Anm. 111 gegebene Hinweis auf die Übersetzung von Johann Sommer. Catalogus universalis, hier: Leipziger Ostermarkt 1608, S. Eiir. Online-Ausgabe: http://www.olmsonline.de. Die Osterweddingen 1607 datierte Vorrede motiviert die Übersetzung, die Gerhard offensichtlich nicht besaß, mit dem Wunsch von „eiuerigen Christen“ (Johann Gerhard: Meditationes sacrae (1606/7). Lateinisch–deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. Teilband 2, S. 347f.). Die Drucke verzeichnet Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 42, 56. Zu Johann Sommer (1559–1622) und zur Übersetzung Ralf Georg Bogner: „Übersetzung als EntDistanzierung. Johann Gerhards Erbauungsbuch Meditationes sacrae in der deutschen Version von Johann Sommer (Olorinus Variscus)“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 29

228

Ulman Weiß

Übersetzer hingegen kannte er, sicher auch den Verleger Heinrich Birnstiel, der seinen Verlag in beiden Städten, in Erfurt und in Jena, hatte, überdies durch seine Heirat in ein verwandtschaftliches Verhältnis mit den Jenaer Juristen Johannes Mylius und Basilius Monner getreten war. Birnstiels verlegerisches Programm prägte zu einem guten Teil religiöse, weithin erbauliche Literatur in deutscher Sprache.7 Birnstiel könnte daher die Übersetzung angeregt haben, aber auch vom Übersetzer angesprochen worden sein, sie in Verlag zu nehmen. Wenigstens wirkten beide, Übersetzer und Verleger, zusammen, und Gerhard wusste es; beide hatten sich im Spätjahr 1607 an ihn gewandt, auf dass er das Buch mit einer Vorrede versehe. Sie verrät nur soviel, dass die Meditationes von einem „gar vornehmen und gelehrten Man“ dem Sohn gegeben wurden, sie „ins Deutsche“ zu „transferiren“8 – offensichtlich zur Vervollkommnung sprachlicher Fertigkeiten und zur Festigung der Frömmigkeitshaltung. Ungewöhnlich war das nicht. Gerhard mochte, als er es erfuhr, an eigne Übungen gedacht haben, namentlich an die Passionsgeschichte, die er als Vierzehnjähriger in griechische Verse gefasst hatte.9 Etwas andres aber war, solche Übungen unter dem eignen Namen in offenen Druck zu geben. Der vornehme und gelehrte Mann, der das für seinen Sohn nicht wollte, war vermutlich der Erfurter Universitätsprofessor und Senior des Evangelischen Ministeriums Modestinus Weitman; sein einziger noch lebender Sohn Hieronymus, in den er hohe Hoffnungen setzte, wurde im Herbst 1608, als die Auflage fast verkauft war, an der Universität immatrikuliert. Birnstiel sorgte rasch für eine neue Auflage, die dritte aber, die er zwei Jahre später herausbrachte, ließ er von Gerhard, „vom Auctore selbst ubersehen“; auch sie schien so gut verkauft worden zu sein, dass der Erfurter Verleger Johann Birckner, der nach Birnstiels Tod dessen Verlag erworben hatte, im Jahre 1614 eine neue, die vierte Auflage veranstaltete.10 (1997), S. 59–75. Sommer übersetzte zu dieser Zeit auch die im selben Jahr ebenfalls von Jacob Heyder in Magdeburg gedruckte, von Sommer selbst verlegte Edle und bewerte Sterbenßkunst von Joachim von Beust mit einer an den Magdeburger Verleger Johann Francke gerichteten Widmungsvorrede (VD 17 75:649556C und 23:329933A). 7 Zu Heinrich Birnstiel († 1610) Ulman Weiß: „Johann Birckner. Verleger und Ratsherr in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges“, in: Ders. (Hg.): Buchwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Helmut Claus zum 75. Geburtstag. Epfendorf 2008, S. 357–385. 8 Johann Gerhard: Funfftzig Gottseliger Christlicher gedancken dadurch man sich zur Gottesfurcht erwecken und am innerlichen Menschen kan selig zu nehmen. Erfurt 1608, S. 2a–3a. Die Vorrede ist datiert Heldburg, 1. Dezember 1607 (VD 17 39:135183W und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 54). Gerhard: Meditationes sacrae, Tbd. 2, S. 693f. 9 Major: Leichenpredigt, S. 296. 10 Zu diesen Ausgaben VD 17 12:102764A (ohne Jahr) und 547:694966A sowie Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 1233, 76. Die undatierte Ausgabe dürfte 1609 erschienen sein. Zu Magister Modestinus Weitman (1562–1625) Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt/A. 1992, S. 327. Martin Bauer: Erfurter Personalschriften 1540–1800. Beiträge zur Familien- und Landesgeschichte Mitteldeutschlands. Neustadt/A. 1998, S. 491f. Zur Birckner-Ausgabe von 1614 Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 120 sowie Catalogus universalis (Leipziger Ostermarkt 1614), S. F1r (Erffurdt bey Johann Birckner in 12.).

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

229

Vorher, im Jahre 1610, erschien in Jena, gedruckt von Christoph Lippold, eine weitere, die dritte Übersetzung des lateinischen Bestsellers. An ihr hatte Gerhard einen ungleich größern Anteil als an der von Birnstiel verlegten. Gerhard kannte den Übersetzer, doch schon bevor er ihn kennengelernt hatte, hatte Fabian Vogel, von Adligen gedrängt, das Buch zu übersetzen begonnen, die Arbeit aber, da er von Absichten andrer erfahren, zur Seite gelegt. Zufall war es wohl nicht, dass er sie wieder vornahm, nachdem er im Januar 1607 Respondent in einer von Gerhard geleiteten Disputation in Coburg gewesen war und im Dezember 1608 in Gerhards Superintendentur Heldburg eine Pfarrstelle bekommen hatte. Nunmehr, „auff gutachten“ Gerhards und in Absprache mit ihm, vollendete er die Übersetzung, die Gerhard noch „censiret und „andern Communiciret“, ehe sie endlich erschien.11 Diese, die Vogelsche Übersetzung wird mithin als die zu gelten haben, die Gerhards Intentionen am klarsten zeigte. Ihr Verhältnis zur lateinischen Vorlage und zur Magdeburger und Erfurter Übersetzung könnte Gegenstand einer eignen Untersuchung sein. Auch das Enchiridion consolatorium, obschon seit längerm geplant, schrieb Gerhard zunächst sich selbst zum Trost, als ihn der Tod des gerade geborenen Sohnes im Januar 1611 und die schwere, zum Tode führende Krankheit der Ehefrau erschütterten.12 Wie vorher die Meditationes musste das Enchiridion vor allem das Interesse lateinunkundiger, aber des Trostes bedürftiger Christen finden, so dass die Übersetzung, nachdem die lateinische Ausgabe erschienen war, nicht lange ausbleiben konnte. Wieder war es nicht Gerhard, der sie besorgte, sondern der in Medizin und in beiden Rechten promovierte Assessor Johann Friedrich Schröter in Jena. Aus seiner Jenaer Zeit kannten Gerhard und Schröter einander so gut, dass sie die vertrauliche Anrede „Schwager“ pflegten.13 Doch ohne sich mit seinem jüngern „Schwager“ besprochen zu haben, übertrug Schröter das Enchiridion ins Deutsche, den Angehörigen und allen „frommen Christen zu sonderlichem Nutz“ und in der Gewissheit, „dem Autori kein mißgefallen“ getan zu haben.14 Das mochte so gewesen sein, doch Fortune hatte das Buch, das, anders als die Vogelsche Verdeutschung, nur eine Auflage erlebte, nicht. Viele Jahre später nahm Gerhard selbst das Enchiridion zur Hand und übersetzte es, den Text frei11 Gerhard: Meditationes sacrae, Tbd. 2, S. 692f., ergänzend Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 6. Neustadt/A. 2013, Nr. 2145. Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 37 (Druck der Coburger Disputatio theologica. De praedestinatione). Zu den Drucken der Vogel-Übersetzung Nr. 75, 85, 173, 251 und 268 sowie 108 und 334. 12 Johann Gerhard: Enchiridion consolatorium (1611). Lateinisch–deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Matthias Richter. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, hier: Tbd. 1 (Enchiridion), S. 13: „in privatum tantum meum usum conscripserim“; sowie Tbd. 2 (Handbüchlein/ zu Trost gestellet denen/ so mit dem Tode ringen/ und in Anfechtung des Todes Zuspruchs und gottseliges Zuredens von Nöthen haben), S. 150: „mir selbst zum besten“. 13 Gerhard: Enchiridion, Tbd. 2, S. 146: „mein günstiger Schwager“. Vgl. aber Deutsches Wörterbuch. Bd. 9. Leipzig 1899, Sp. 2177: Schwager „im verblaszten sinne einer vertraulichen anrede“. Unzutreffend sind daher die Bemerkungen über die „verwandtschaftlichen Beziehungen“ (in: Gerhard: Enchiridion, Tbd. 2, S. 358, Anm. 320). 14 Gerhard: Enchiridion, Tbd. 2, S. 146, 147. Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 89.

230

Ulman Weiß

lich erweiternd, ins Deutsche, aber auch seine Übersetzung wurde zu seinen Lebzeiten nur noch einmal aufgelegt.15 Eventuell war es den Erfahrungen mit Übersetzungen von fremder Hand zuzuschreiben, dass Gerhard das erstmals im Jahre 1612 erschienene Examen pietatis, die dritte selbstseelsorgerliche, wieder durch „vielfältige widerwertigkeiten“ veranlasste Schrift, zeitgleich mit der lateinischen Fassung auch in einer von ihm selbst verfassten deutschen vorlegte.16 Doch scheint jene, wie die Ausgaben nahelegen, stärker nachgefragt gewesen zu sein als diese. Etwas andres als Erbauliches in deutscher Sprache zu verbreiten erwog Gerhard nie. Insofern dürfte ihn die Übersetzung seines hermeneutischen Tractatus de legitima scripturae sacrae interpretatione in hohem Maße überrascht haben. Der Übersetzer gab sich nicht zu erkennen, wohl aber der Verleger, dem wichtig war, in einer eignen Vorrede darzulegen, dass die Bibel als „unaußschöpfflicher Brunnen“ der Auslegung im Einklang mit Gottes Wort bedurfte und dass diese Auslegung („und wie man zu derselben kommen möge“) einer breiten Leserschaft mitgeteilt werden musste.17 Deshalb hatte er, Johann Berner, das Tractätlein in Verlag genommen. Indes blieb das Interesse der Leserschaft sehr gering; einen weiteren Druck erlebten das Tractätlein nicht. 3. WIDMUNGEN Gerhard pflegte den von nicht wenigen Zeitgenossen bloß mit abschätzigen Bemerkungen bedachten Brauch, seine Schriften Personen von Stand zuzuschreiben: hohen und niedern Adligen, Beamten, Ratsherrn. Betrachtet man die Bewidmeten, fallen Verwandte, Freunde und Funktionsträger auf. Mitunter waren Funktionsträger auch Freunde, eigentlich ist aber zu erkennen, ob die Widmungsworte diesem oder jenem galten. Die erste Veröffentlichung, eine Disputation, eignete Gerhard dem Wittenberger Jura-Professor Andreas Rauchbar zu, auf dessen, seines ältern Vetters „Rath vnd Gutachten“ er zunächst Medizin studiert hatte, und dem er nun, mit der ersten akademischen Arbeit, dankbar sich erweisen wollte.18 Weiteren Verwandten, wie beispielsweise dem Bruder Andreas, widmete Gerhard nie eine Schrift. Gern hingegen widmete er sie Personen, mit denen er bekannt, dann auch vertraut wurde aufgrund einer gemeinsam geteilten, ein wenig verinnerlichten 15 Johann Gerhard: Handbüchlein krefftigen Trostes/ welchen man dem Tode und den Anfechtungen in der Todesnoth kann entgegen setzen. Jena 1626, 21630, sowie Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 409 (1626) und 504 (1630). 16 Johann Gerhard: Exercitium pietatis quotidianum quadripartitum (1612). Lateinisch-deutsch. Kritisch herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, S. 25 und 489, sowie Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 99 und 101. 17 Gerhard: Tractatus, S. 19–25, 24 f., zur Übersetzung S. 486–488. 18 Major: Leichenpredigt S. 297 mit Anm. 226, sowie Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 1 und 3 (Beiträger in der Funeralschrift).

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

231

Frömmigkeit, der viel an Erbauung lag. Zu solchen Personen zählten bürgerliche und adlige Witwen, wie beispielsweise die kinderlose, als überaus mildtätige „Studenten Mutter“ geachtete Magdalena Cöler, die nach dem Tode ihres Mannes, des Jenaer Jura-Professors Matthias Cöler, schon zwanzig Jahre in einem schweren Witwenstand lebte, als sie im Frühjahr 1606 Gerhards zu Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten gehaltenen Predigten beiwohnte und „neben vielen andern instendig“ um deren Drucklegung bat,19 oder die Freiin Agnes Schenk zu Tautenberg, der Gerhard im Jahre 1618 (nachdem er ihr vorher schon ein andres Buch geschenkt hatte) Zwey kleine trostreiche Tractätlein widmete.20 Zu andern adligen Witwen, die, wie die die brandenburg-ansbachische Markgräfin Sophie, die albertinische Fürstin Hedwig oder die welfische Fürstin Elisabeth, zu den Bewidmeten zählten, hatte Gerhard keine besondern persönlichen Beziehungen.21 Sie gab es auch nur zu wenigen adligen Damen aus ernestinischem und schwarzburgischem Hause, denen Gerhard vorzugsweise seine Schriften zuschrieb, beispielsweise zur schwarzburgischen Gräfin Anna Sophia und zur ernestinischen Herzogin Christine, denen er im Frühjahr 1623 das fünfte Buch der Schola pietatis widmete; während Gerhard zur überaus gebildeten Gräfin, die als „Getreue“ in der von ihr mit19 Johann Gerhard: Betrachtung von der Geistlichen Aufferstehung und Himmelfahrt der wahren Christen/ auch von den Wirckungen deß H. Geistes in denselben/ gerichtet auff die drey vornehme Festage der Christenheit/ Ostern/ Himmelfahrt und Pfingsten. Jena 1607 (VD 17 23:323694E und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 33), S. A1v (Vorrede, datiert 20. November 1606): „Meiner in Ehren großgünstigen Freundin“. Zu Magdalena Cöler (1543–1611) die biographischen Angaben von Nicolaus Placcius: Einfältige und christliche Ehrn und Leichpredigt/ Uber den […] Abgang der […] Fraw Magdalena Cölerin/ […]. Jena 1611 (VD 17 39:114159M), S. D2v–D4v. 20 Johann Gerhard: Zwey kleine trostreiche Tractätlein. Deren eins in sich begreifft Geistliche Gespräche Gottes des Herrn/ und einer gläubigen Seelen. Das ander helt in sich Göttlichen Trost/ insonderheit auff zwölfferley Noth gerichtet. Jena 1622 (Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 324), S. 3 (Vorrede, datiert 1. Mai 1617): „Der Wolgebornen […] Fraw Agnesen […] Freyhin Schenckin zu Tautenburg […] Wittiben“. Die erste Ausgabe erschien 1618 (Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 216). Aufschlussreich für die Beziehung Gerhards zu Agnes Schenk zu Tautenburg (1576–1636) ist ein Schreiben vom 17. Juli 1617, in dem sie den Dank für ein zugesandtes Buch mit der Bitte um eine vertrauliche Unterredung verbindet (FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 190r). Gerhard dürfte mit David Tancke († 1633), der im Frühjahr 1619 Respondent einer von ihm geleiteten Disputation war (Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 227.1; vgl. auch Nr. 229.20), die Übersetzung der Tractätlein ins Französische besprochen haben (Nr. 223 und VD 17 28:721102D). 21 Johann Gerhard: De Vita Jesu Christi, Homiliis vigintiquinque illustrata, Meditationes Sacrae Das ist/ Erklärung etlicher schöner Sprüch und Historien/ Göttlicher Schrifft von dem Leben Jesu Christi. Frankfurt/Main und Darmstadt 1609 (VD 17 23:246130A und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 60). Johann Gerhard: Scholae Pietatis Liber I. Das ist/ Christlicher und heilsamer Unterrichtung/ was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher gestalt er sich an derselben uben soll. Jena 1622 (VD 17 3:301136P und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 323.1), S. A1v und B5vf.: Anrede als „Witwen“ und „sonderbare Liebhaberinnen der Gottseligkeit“ in der Ostern 1622 datierten Vorrede. Vgl. aber das u. a. eine personalpolitische Entscheidung betreffende Schreiben Elisabeths von Braunschweig-Wolfenbüttel (1573–1626) an Gerhard vom 27. Mai 1622 in FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 170r.

232

Ulman Weiß

begründeten „Tugendlichen Gesellschaft“ sich einen Namen gemacht hatte, erst in der spätern Jenaer Zeit eine gute Korrespondenz hatte, war er mit der als „Freigebige“ gleichfalls der „Tugendlichen Gesellschaft“ angehörenden Herzogin schon in der Heldburger Zeit in ein sehr vertrauensvolles, von Entfremdung freilich nicht völlig freies Verhältnis gekommen. Bereits im Herbst 1606 ließ er sie wissen, dass die Meditationes sacrae, die sie kannte, „in kurtzen“ einen deutschen Druck erlebten; diesen, die in Erfurt verlegten Funfftzig Gottseliger Gedancken, hatte er ihr nicht nur (wie andre erbauliche Bücher) zuschicken, sondern auch zuschreiben wollen, anfangs aber gemeint, es „werde sich nicht schicken“, da er die lateinische Fassung dem Rat in Halberstadt zugeeignet hatte, schlussendlich es doch getan, weil es ihm der „gar vornehme und gelehrte Man“, dessen Sohn mit der Übersetzung eine eigne Schrift geschaffen, zugelassen hatte.22 Unter den Freunden als Widmungsträger ragten die Amtsbrüder Johann Aldenburg, Martin Gnüge und Johann Schröder heraus. Während Schröder in Schweinfurt, nachmals in Nürnberg wirkte, hatte Gerhard als Superintendent mit Aldenburg und Gnüge, die als Pfarrer und als Hofprediger seine „trewen Mitgehülffen in der Kirchen zu Coburg“ waren, einen kollegialen Umgang, aus dem eine feste Freundschaft wuchs. Ihr Unterpfand war, wie es scheint, die wechselseitige Verlässlichkeit in den verschiedensten Verhängnissen, von denen jeder mitunter stark angefochten wurde. So mochte Gerhard hoffen, dass den Freunden, die, wie er selbst, Grund genug hatten, „Todes Gedancken“ nachzugehen, das Enchiridion consolatorium, das er ihnen im Mai 1611 zueignete, willkommen war.23 Aldenburg war Gnüges Beichtvater, Gerhard dessen Prediger am Sarg.24 Anders war es um die Bewidmeten Georg Hack, Sigismund Heusner und Volkmar Scherer bestellt, denen Gerhard im Juni 1612 das Exercitium pietatis zuschrieb, um öffentlich zu bekunden, dass sie neben ihrem angesehenen, aber anstrengenden Amt nicht weniger der „Gottseligkeit“ sich befleißigten. Auch sie durfte Gerhard „Freundt“ oder „Gevatter“ nennen, doch dies waren sie in ihrer Eigenschaft als Landesrentmeister, als Kammersekretär und als Kanzler am Coburger Hofe, und ihnen, den politischen Beamten, denen für „sonderbare Gunst vnd vielfältige Wohlthaten“ er zu danken Grund genug hatte, galt die Widmung: der Kanzler zumal war es, der seine Promotion in Jena befördert und dem Druck der theologischen Disputation vorangeholfen hatte.25 Von den persönlichen Beziehungen, die es zu ihnen gab, sprachen andere Publikationen, beispielsweise Gerhards Trostspruch auf den Tod der Ehefrau des Landesrentmeisters, seine 22 Steiger: Gerhard, S. 253 (Brief Gerhards an Fürstin Christina). 23 Gerhard: Enchiridion, Tbd. 1, S. 14; Tbd. 2, S. 151. Zu Johann Schröder (1572–1621) Pfarrerbuch der Reichsstädte Dinkelsbühl, Schweinfurt, Weißenburg i. Bay. und Windsheim sowie der Reichsdörfer Gochsheim und Sennefeld. Hrsg. v. Matthias Simon. Nürnberg 1962, S. 42f. 24 Zu Johann Aldenburg (1565–1621) und Martin Gnüge (1568–1613) Gerhard: Enchiridion, Tbd. 1, S. 11. Gerhard: Leichenpredigten, S. 71–88. Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 3. Neustadt/A. 2000, Nr. 289 (Martin Gnüge). 25 Gerhard: Exercitium, S. 25. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 35r–37v: Volkmar Scherer an Gerhard, 8. Oktober 1606.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

233

Auslegung des Bibelwortes, das der Landesrentmeister für die Leichenpredigt sich gewählt hatte, oder die Parentatio auf den Tod des Kanzlers, und noch anders sprachen von den persönlichen Beziehungen die Briefe, in denen Gerhard so freimütig sein durfte, dass er es einmal für geraten hielt, den Brief nach dem Lesen zu verbrennen.26 Zu andern Beamten gab es solche Beziehungen nicht, auch nicht zu Valentin von Selwitz, dem Präsidenten des Coburger Hofgerichts, dem er im Jahre 1610 den Tractatus über die Auslegung der heiligen Schrift widmete, erst recht nicht zu Caspar von Schönberg, dem Präsidenten des Dresdener Appellationsgerichts, dem er im Jahre 1616 die Aphorismi zuschrieb, oder zu Esajas von Brandenstein, dem Präsidenten des kurfürstlichen Hofgerichts in Leipzig, dem er im Jahre 1620 den Methodus Studii Theologici zueignete und drei Jahre später, als er gestorben war, in einem langen Gedicht verherrlichte; sie scheint es aber zu Johann Friedrich von Brandt gegeben zu haben, der in Jena studiert und sich über ein Epigramm Gerhards in seiner Dissertation hatte freuen dürfen, bevor Gerhard ihm später, als er Rat Herzog Johann Philipps geworden war, den Bellarminus dedizierte.27 Sie, die politischen Spitzenbeamten, erkor sich Gerhard zu Schutzherrn unterschiedlicher dogmatischer Werke. Für die grundlegenden indes, die seit dem Jahre 1610 erscheinenden Loci-Bände und späterhin die Confessio catholica, wählte er, mit wenigen Ausnahmen, die albertinischen und ernestinischen Fürsten, allen voran Kurfürst Christian II. Zu den Ausnahmen zählten die zwei sehr politisch eingebundenen Widmungen an die lutherischen Stände in Böhmen und an die Protestanten in Österreich zu einem Zeitpunkt, da der sächsische Kurfürst nachgerade als Schutzherr der Protestanten erschien – in Böhmen zumal, wo er ihnen, nachdem der Kaiser den Majestätsbrief bewilligt hatte, auf verschiedene Weise voranzuhelfen suchte gegenüber den Reformierten und den Böhmischen Brüdern.28 26 Gerhard: Leichenpredigten, S. 89–109, 111–128. FB Gotha, Chart. A 408, Bl. 32r–33v: Gerhard an Georg Hack, 14. September 1611. Von einem vertraulichen Verhältnis zum ernestinischen Amtmann Johann Lattermann (1575–1655) zeugt Gerhards Vorrede zu der von Lattermann erbetenen erklehrung nach dem Tode seiner Frau (Gerhard: Leichenpredigten, S. 162f.). Von einem weniger vertraulichen Verhältnis zum Heldburger Amtsschösser Nikolaus Leipold (1561–1618) zeugt hingegen die Widmungsvorrede zur Leichenpredigt auf dessen Frau Margareta (ebd., S. 9–30, besonders S. 10f.). 27 Zu den Titeln Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 79 (Tractatus), 144 (Aphorismi), 260 (Methodus), 114.1 (Postilla; Caspar von Schönberg [1570–1629] als Bewidmeter neben den kursächsischen Beamten Markus Gerstenberger [1583–1634] und Ludwig Wilhelm Moser [1556–1635]) und Nr. 562, S. 172 (Bellarminus) mit Abb. 17. Johann Gerhard: Thrēnōdia in obitum generosi, magnifici, strenui, splendore generis, eruditione, virtute & magnis in Remplublicam meritis eminentißimi Viri, Dn. Esaiae a Brandenstein […]. Jena 1623 (VD 17 547:648403N). Oswald Hilliger: Vindiciae Mauritianae, favente numine ac lumine divino, oppositae erroribus crassis, lividisque commentis Bodini, de expeditione serenissimi quondam, celsissimique principis ac Domini. Dn. Mauritii Electoris Saxoniae […] anno 1552. suscepta. […] Jena 1617, hier: S. )o( 2a (Epigramm von Gerhard) (VD 17 1:015714G). 28 Gerhard: Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate, per theses nervose, solide & copiose explicatorum tomus primus (1610), Widmungsempfänger: Kurfürst Christian II. (1601–1611). Gerhard: Loci theologici II (1611), Widmungsempfänger: Johann Ernst I. (1605–1626), Johann Casimir (1572–1633).

234

Ulman Weiß

Dies sagt viel über die Gerhard leitenden Beweggründe; denn wem er welches Werk widmete, bedachte er stets sehr genau. Hinsichtlich der dogmatischen wollte er zuvörderst die Fürsten vergewissern in ihrem Selbstverständnis als custodes utriusque tabulae, als die sie auch über die lutherische Lehre zu wachen und sie zu verteidigen hatten gegen Verfälschung und Verleumdung; hinsichtlich der erbaulichen wollte er die Christen, denen an „streit undt hohen disputieren“, wie beispielsweise der Herzogin Christine,29 ohnehin nicht gelegen war, eine Wegleitung geben durch die Wechselfälle des Lebens. – Gleich, ob die Schrift kleinern oder, wie zumeist, großen Umfangs war, sie gab sich als eine „opella“, ein „munusculum“, ein „geringes Werklein“, eine „geringschätzige Arbeit“, die er mitunter, wie das Exercitium pietatis, zunächst sich selbst „zum besten“ verfasst hatte.30 Dass Gerhard sie in Druck gehen ließ und einer Person von Stand zuschrieb, geschah gelegentlich „auff anderer Begehren“, wenn er hoffen durfte, sie werde „den Einfeltigen zum besten“ sein und „Nutz und Frucht“ bringen. In dieser Hoffnung willigte er in den Druck seiner Predigten, aber auch in den Druck seiner „Antwort“ auf eine weit verbreitete, das Luthertum verunglimpfende Schrift ein, deren Verfasser sich verborgen hielt.31 Ob von andern begehrt oder nicht, die Werke bedurften eines Schutzherrn, nur einmal beteuerte er diesem, dass er eines größern Werkes würdig gewesen wäre, dass aber von seiner, Gerhards „Wenigkeit, nichts grössers herkommen“ könne.32 Das ist so formelhaft wie es die vielen, durch die Jahre wörtlich wiederkehrenden Wendungen sind, die die eigne Schrift als eine „geringschätzige/ aber doch verhoffentlich nicht allerdings unnöthige oder unnützliche Arbeit“ bezeichnen;33 das spricht nicht von vornherein gegen ihre Wahrheit, zu fragen ist aber, ob es nicht auch eine Wahrheit ist, die Gerhard selbst verneinte: dass er nämlich „nicht auff eigene/ sondern Gottes Ehre“ sah, wenn er eine „geringe Arbeit“, wie beispielsweise die immerhin in drei Bänden erschienene Postille, zu Papier brachte.34

29 30 31

32 33

34

Gerhard: Loci theologici IV (1614): Widmungsempfänger: Christian Wilhelm (1598–1631). Gerhard: Loci theologici V (1617), Widmungsempfänger: Räte der Städte Lübeck, Hamburg, Magdeburg, Braunschweig und Lüneburg; Erklärung der Artikel von der Taufe und von dem Abendmahl (1610): Den Hoch vnd Wolgebornen Herren […]. Gerhard: Loci theologici III (1613): „trium ordinum Proceribus in ArchiDucatu Austriaco Augustanae Confessioni“. Steiger: Gerhard, S. 253 (Brief Gerhards an Herzogin Christine). Gerhard: Tractatus, S. 16, 17. Gerhard: Loci V, S. 5r. Gerhard: Meditationes sacrae, Tb. 1, S. 24. Gerhard: Exercitium, S. 26, 27. Gerhard: Gedancken, S. 2r. Johann Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten FestEuangelien/ vber das gantze Jahr […]. Erster Theil. Jena 1613, S. a4r. Ders.d: Betrachtung, S. A1r. Gerhard: Gründliche und Bescheidentliche Antwort auff das Päbstische Büchlein/ dessen Titul: Morgenstern/ Dardurch ein jeder Guthertziger zur Erkentniß des hellen Tages der Warheit bald und leichtlich kommen kan. Jena 1628, S. a5v. Gerhard: Postilla. Erster Theil, S. a4v. Gerhard: Scholae pietatis, l. 1, S. b5v. Ähnlich schon 1612: Gerhard: Exercitium S. 25: „geringschetzige/ und doch verhoffentlich nicht unnützliche arbeyt“. Auch Gerhard: Scholae pietatis, l. 2, S. b7v: „zwar geringschätzige/ aber doch verhoffentlich nicht unnöthige und unnützliche Arbeit“, und l. 5, S. b1c: „das geringschätzige/ aber doch verhoffentlich/ nicht unnützliche Büchlein“. Gerhard: Postilla. Erster Theil, S. a4r.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

235

Die Bewidmeten waren samt und sonders Gerhards „mächtige Patroni, fautores, Gönner“, denen er für „sonderbare Gunst und vielfältige Wolthaten“ öffentlich seinen Dank bekunden wollte.35 Mit diesem Dank und dem Wunsch für Wohlergehen schloss er die Vorrede, in der ihm zum Thema des Buches passende, oft seitenlange theologische Darlegungen aus der Feder flossen. Tatsächlich erfuhr Gerhard nicht nur einmal „sonderbare Gunst“, die in gewünschter Weise zu erwirken indes Zweck und Ziel einer Widmung war, wenn er beispielsweise für den Bruder Andreas eine Stelle erbat oder für sich selbst einen Lehrstuhl in Jena und dann in Wittenberg: Der zeitliche Zusammenhang zwischen seiner Hoffnung, berufen zu werden, und seinen Anstalten, sowohl dem sächsischen Kurfürsten als den vielvermögenden Spitzenbeamten mit einer Widmung unter die Augen zu treten, wird kaum ein Zufall zu nennen sein.36 Das Widmungsexemplar, gewöhnlich einem Begleitbrief beigelegt, schickte Gerhard nicht roh, wie er es vom Drucker bekommen hatte, vielmehr versehen mit einem nach seinen Maßgaben vom Buchbinder angefertigten Einband.37 Dass der zum Bewidmeten zu passen hatte, verstand sich von selbst: Als er Herzog Johann Ernst im Jahre 1622 ein Exemplar des ersten Buchs Scholae pietatis sandte, schützte es ein brauner, mit gold unterlegten Stempeln geschmückter Einband aus Kalbsleder, dessen Bänder ihn geschlossen halten sollten, überdies war es auf dem eingefärbten Buchschnitt floral und ornamental gepunzt.38 Auch das PostillaExemplar, das er Herzogin Dorothea Maria sandte, war in braunes Kalbsleder eingebunden, mit Schnüren versehen und auf dem Schnitt gepunzt, vorn zierte den Einband das herzogliche Wappen.39 Das zeigten gleicherweise die Confessio catholica-Exemplare, die Gerhard, beginnend mit dem ersten Teil, Herzog Friedrich Wilhelm schickte, während das Erbauungsbuch für Markgräfin Sophie mit dem goldgeprägten brandenburg-ansbachischen Wappen verziert worden war; hier wie sonst hatte Gerhard nicht unterlassen, auf dem Vorsatz links neben der Titelseite einzutragen, wem er „in unterthenigkeit diß Büchlein“ überschickte.40 Demgegen35 Gerhard: Postilla. Erster Theil, S. a4v. Gerhard: Exercitium, S. 25. Gerhard: Bellarminus, S. a4r: „Domino & fautori suo magno“. 36 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 51r-v: Brief der Herzogin Dorothea Maria an Johann Gerhard, 29. Dezember 1607. Zu den Bemühungen um eine Berufung die Korrespondenz Chart. A 408, Bl. 258r, 269r, 283r–288r. 37 Hierzu FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 348r: Dank für die „gebundenen“ und dem Leipziger Rat „zugeschriebenenn exemplarien einer in druck gegebenenn Disputationen“, 29. Dezember 1624). Chart. A 600 Bl. 26r: „Postilla Salomonea“-Exemplar „in zweien eingebundenen Tomis“, 27. Juli 1631. 38 Exemplar: FB Gotha, Theol 8° 876/6 (1), handschriftliche Widmung auf dem Vorsatz gegenüber der Titelseite: „herrn Johann Ernsten dem eltern […] Seinem Gnädigen Fürsten undt herrn uberschicket auß unterthänigem gemüet Joh. Gerhard“; unten links die Devise „Gotseligkeit die höchste weißheit“. 39 Exemplar: FB Gotha, Theol 4° 861/4 (1). Zitat der handschriftlichen Widmung auf dem Vorsatz gegenüber der Titelseite in Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 114.1 und Abb. 9. 40 Exemplare: FB Gotha, Th 8° 109 (1–3). Zitat der handschriftlichen Widmung auf dem Vorsatz gegenüber der Titelseite in Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 608.1. Der vierte, Graf Ludwig Günter von Schwarzburg-Hohnstein (1581–1646) gewidmete Teil zeigt das

236

Ulman Weiß

über die Bücher, die er den herzoglichen Amtsträgern und andern Personen schickte: sie zierte ein dunkel gepunzter Schnitt und ein bescheidener, sparsam mit schwarz unterlegten Stempeln geprägter Pergamenteinband, wie beispielsweise das Postilla Salomonea-Exemplar für Georg Kaupert, den Oberrentschreiber Herzog Johann Casimirs, dem er für die „vielfeltige bemühung“, die er ihm wiederholt wegen seiner Besoldung bereitet hatte, dankbar sich erweisen wollte.41 Der Ton der Dankschreiben reichte von kältender Kürze bis zu warmer Wortfülle. Markgräfin Sophie schätzte den besondern Fleiß und Eifer, die aus dem ihr gewidmeten Buch bereits beim ersten Durchblättern sprachen, Gräfin Anna verspürte mit wachsendem Wohlgefallen den „erquickenden trost“, den das „Handbüchlein“ erweckte, so dass sie beschloss, künftig mit ihm ihre „andacht“ zu üben auf Reisen oder wo immer sie sein würde;42 Herzogin Christine lobte den anhaltenden „gegen kirchen undt Schulen angewanthen treuen fleiß“; Herzog Johann Casimir sah als Landesherr zuerst auf die Erbauung der Kirche und Schule im Herzogtum und auf die Seligkeit der in ihm lebenden Menschen, denen die Bücher Gerhards dienten;43 Graf Ludwig Günther bewunderte in Gerhard einen der wenigen gottseligen Männer, die der bedrängten christlichen Kirche großen Nutzen schafften und daher „in altero saeculo“ eine „gläntzende stelle“ haben werden, die Halberstädter Ratsherrn rühmten Gerhard als „werckzeug“ Gottes, dessen Bücher, die zu Recht „pro norma Doctrinae salvificae“ gehalten werden, in ihrem Werte gar nicht hoch genug zu würdigen waren, und die Gothaer Ratsherrn priesen den heiligen Geist, der Gerhards Arbeit treibe;44 hingegen schrieben die Ratsherrn in Straßburg, Nürnberg, Ulm und Rothenburg an der Tauber, denen Gerhard den letzten Loci-Band zugeeignet hatte, nur dürre Dankworte, lediglich die Straßburger vermerkten noch freundlich, dass sie Gerhards „judicium“ über

41

42 43 44

schwarzburgische Wappen: FB Gotha, Th 8° 109 (4). HAB 471.6 Theol.: mit braunem Leder bezogene, vorn und hinten gleich verzierte Pappen, Bindeschnüre, gold gefärbter, gepunzter Schnitt; auf der Rückseite des ersten Vorsatzblattes Motto unter dem Monogramm des verstorbenen Gemahls, Besitzeintrag und datierter Lektürevermerk, hierzu Jill Bepler: „Die fürstliche Witwe als Büchersammlerin: Spuren weiblicher Lektüre in der Frühen Neuzeit“, in: Detlef Helfmaier (Hg.): Der wissenschaftliche Bibliothekar. Festschrift für Werner Arnold. Wiesbaden u.a. 2009, S. 31, 38f., Abb. 2 und 3. Exemplare: FB Gotha Theol 8° 569/1 (handschriftliche Widmung „Domino et pastoro suo magno“ auf dem Vorsatz gegenüber der Titelseite), und LB Coburg Mo 272 (freundliche Auskunft von Isolde Kalter, Coburg). Zitat des Begleitschreibens in Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 520.2. Anders aber sah das Widmungsexemplar für Johann Friedrich von Brandt (1596–1657) aus: brauner, stempelverzierter Ledereinband mit dem Familienwappen vorn und hinten und gold gefärbtem, floral gepunztem Schnitt. FB Gotha Th 8° 2728. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 83r–v: Markgräfin Sophie an Gerhard, 5. Juni 1609. Chart. A 601, Bl. 296r-v: Gräfin Anna an Gerhard, 23. Januar 1626. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 424r: Herzogin Christine an Gerhard, 14. Juli 1633. Chart. A 601, Bl. 104r–v: Herzog Johann Casimir an Gerhard, 7. Januar 1612 sowie Chart. A 600, Bl. 18r–v: Herzog Johann Casimir an Gerhard 26. Juni 1631. FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 219r–v: Graf Ludwig Günther an Gerhard, 3. Juli 1637. Chart. A 601, Bl. 352r–v: Rat Halberstadt an Gerhard, 10. Juni 1625. Chart. A 601, Bl. 239r–v: Rat Gotha an Gerhard, 1. Februar 1619.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

237

ihr Kirchen- und Schulwesen sehr wohl vernommen hätten.45 Mehr als höflichen Dank wussten auch die Räte mancher andern Städte nicht, wenn Gerhard ihnen ein Werk verehrte. Verwunderlich ist das nicht, wurden sie doch geradezu überhäuft mit unerbetenen Bücherpräsenten. 4. VORREDEN Das publizistische Bekannt- und Berühmtwerden Gerhards weckte bei einigen Verfassern den Wunsch, das eigene Werk mit einer Vorrede des namhaften Mannes aufzuschmücken. Stets waren es Geistliche, die Gerhard schon lange kannten, wie der Kommilitone Georg Praetorius, oder ihn erst als Kollegen kennenlernten, wie Pfarrer Johann Faber in Lindenau, oder ihn allein aus seinen Schriften kannten, wie der Naumburger Prediger Markus Hoffmann. Stets hatten sie Gerhard um die Vorrede gebeten, und stets hatte er, da das Werk nützlich war, der Bitte sich nicht versagt, stets kurz und knapp etwas Empfehlendes geschrieben und zuweilen wohl auch den Weg unter die Presse geebnet. Doch hatte jede Vorrede ihren eignen Grund. Johann Caesar wünschte im Jahre 1610 die Vorrede des ihm aus der Jenaer Zeit bekannten Gerhard für seinen Traktat über die Marienverehrung in der katholischen Kirche. Als Pfarrer im fränkischen Amt Königsberg wusste er um die „päpstischen“ Praktiken im angrenzenden Bistum Bamberg, die nicht wenige Pfarrkinder betörten. Sie mussten daher unterrichtet werden über den Unterschied zwischen rechter und unrechter Verehrung. Das leistete seine Mariolatria, die er vom Königsberger Superintendenten Paul Wolff und von andern Theologen examinieren, korrigieren und schließlich approbieren ließ, ehe er Gerhard um eine Vorrede ersuchte. Der schrieb bündig, dass der „Herr Autor“, mit dem er offenbar keinen nähern Umgang pflegte, alles aus Gottes Wort klar dargelegt hatte, so dass das „nützliche Tractätlein“ durchaus empfohlen werden konnte.46 Der Coburger

45 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 253r: Rat Straßburg an Gerhard, 7. September 1622. Chart. A 601, Bl. 251r: Rat Rothenburg/Tauber an Gerhard, 16. Februar 1622. Chart. A 601, Bl. 249r: Rat Ulm an Gerhard, 27. April 1622. Schreiben des Nürnberger Rates sind nicht überliefert. 46 Johannes Caesar: Mariolatria, Das ist: Christlicher und heylsamer Unterricht/ von der Abgöttischen/ Abergläubischen/ Und auch rechten Gott wolgefelligen verehrung/ so beydes in Päpstischen und Lutherischen Kirchen mit der heiligen Jungfrawen Marien gehalten/ getrieben/ und noch ernstlich verthädigt wird […] Mit einer Vorrede D. Johannis Gerhardi, und anderer Gelehrten commendation Schrifften. Coburg 1611 (VD 17 39:145089Q), S. a7v. Die Vorrede ist datiert Heldburg, 17. Juni 1610, die Widmungsvorrede von Caesar an Herzogin Dorothea Maria und ihre Söhne 22. Dezember 1610. Mit der von Caesar genannten gifftigen Scharteck Sebastian Flaschs dürfte der Ingolstädter Druck der Bekehrung gemeint sein (VD 17 12:112780M). Die beiden Erfurter Ausgaben 1613 und 1618 verzeichnet das VD 17 23:245047A, VD 17 3:600796N. Johann Caesar, Sohn des Pfarrers Petrus Cäsar († 1621) (Bauer: Theologen S. 103), immatrikulierte sich im Frühjahr 1600 an der Universität Jena, erhielt ein fürstliches Stipendium (Die Matrikel der Universität Jena. Bd. 1. Bearb. Georg Mentz in Verbindung mit Reinhold Jauernig. Jena 1944, S. 43. Caesar: Mariolatria, S. a7r),

238

Ulman Weiß

Drucker Kaspar Bertsch versäumte nicht, als verkaufsfördernden Vermerk auf die Titelseite zu setzen, dass das Buch „Mit einer Vorrede D. Johannis Gerhardi“ versehen war. Dieser Vermerk fehlte selten, so auch nicht auf der Titelseite des nächsten Buches, zu dem Gerhard eine Vorrede verfasste. Mit ihm hatte es eine besondre Bewandtnis: Die evangelischen Stände in Österreich waren mit der Bitte an Gerhard herangetreten, er möge eine handschriftlich umlaufende scartecke voller Lügen über Luther und das Luthertum aus der Schrift widerlegen. Da Gerhard, nunmehr Generalsuperintendent, mit Geschäften überhäuft war, trug er Magister Faber die Widerlegung auf, nicht ohne nahezu täglich mit ihm sich zu besprechen und das Wachsen des kleinen Werkes zu verfolgen. Als es beendet war, schrieben beide, Faber und Gerhard, am selben Tage, Neujahr 1615, die Vorrede: Faber an Herzog Johann Casimir und Herzog Johann Ernst, Gerhard an den Leser. Summarisch schrieb Gerhard von den Verdiensten Luthers, um dann Faber, seinem „sonderbahren lieben Herrn“, zu danken, dass er die Widerlegung, die auf Begehren der evangelischen Stände im Druck ausging, auf sich genommen hatte; weder der Verfasser noch das Werk bedurfte seines Lobes, weil das Werk den Meister, der es nicht zu eigner, sondern zu Gottes Ehre geschrieben hatte, selbst lobte.47 Gerhard und Faber kannten einander gut, fanden aber, obwohl gleichalt, nicht zu einem vertrauensvollen Verhältnis. Als der alte Hofprediger Gnüge gestorben war, hatte Gerhard mit Herzog Johann Casimir über Faber, den er im Jahre 1609 ordiniert, als Nachfolger gesprochen und ihn dann in sein Amt eingeführt.48 Daher mochte die Confutation auch als ein Zeichen der Erkenntlichkeit gegenüber dem Herzog und dem Generalsuperintendenten geschrieben worden sein. Wenig später verfasste Gerhard eine Vorrede zu dem Bericht von offentlicher KirchenBusse seines Eisenacher Kollegen, des Generalsuperintendenten Nikolaus Rebhan. Er hatte weitläufig, aus der Bibel und aus zahlreichen Schriften älterer und neuer Kirchenlehrer, Stellen herausgezogen, die den Umgang der Kirche mit bußbereiten Sündern betrafen, um, im Gleichklang mit einer von ihm geleiteten Synode, für die Praxis des öffentlichen Bußbekenntnisses sich auszusprechen. Die beiden Fürsten Johann Casimir und Johann Ernst, denen er den Bericht widmete, war 1613–1619 Pfarrer in Riethnordhausen und seit November 1619 in Oldisleben (VD 17 39:154030N). 47 Johann Faber: Gründliche und ausführliche Confutation eines Papistischen Bedencken/ welches unlangst ein unbenandter Papist in Osterreich wider einen Lutherischen Prediger hat ausgesprengt/ und für ein unwiderlegliches Schreiben ausgekündiget […]. Mit einer Vorrede Herrn D. Johannis Gerhardi/ GeneralSuperintendenten im Fürstenthumb Coburg. Jena 1615 (VD 17 39:131249D), S. c1v–d1v. Hierzu die Schreiben von Paul Jacob von Starhemberg an Gerhard vom 5. März und 12. Juni 1612: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 106r–107v und 108r– 109v. 48 Briefe von Herzog Johann Casimir an Gerhard, 25. Oktober 1613 und 4. November 1613: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 122r–v und 135a–v. Charakteristisch für die Beziehung zu Gerhard ist Fabers handschriftliche Widmung im Exemplar der SLUB Dresden (Sign.: 3.A.7574): Patrono suo pl. honorando, jure & pro meritis dono dat hoc exemplar autor. Zu Magister Johann Faber (1582–1617) Albert Greiner: Pfarrerbuch der Pflege Coburg. Tübingen 1944, Nr. 251 (Typoskript LB Coburg). Freundliche Mitteilung von Isolde Kalter, Coburg.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

239

erinnerte er an die Verantwortung, die sie als Regenten für die Religion trugen. Bevor er das Buch in Druck gab, ließ er es von seinem Coburger Kollegen, dem Generalsuperintendenten Gerhard, beurteilen. Der schrieb ihm, dass er den Traktat nicht ohne Freude gelesen habe, da alles in ihm fromm und gelehrt sei – und so, als lateinische epistola, stellte Rebhan die Vorrede, die als eine solche nicht verfasst worden war, seinem deutschen Bericht voran.49 Anderer Art waren die Vorreden, die Gerhard um diese Zeit für Schriften verfasste, die ihm der väterliche Freund Johann Arndt mit der Bitte, sie unter die Presse zu bringen, zugesandt hatte. Es waren Predigtwerke großen Umfangs: die Auslegung der Evangelientexte auf die Sonn- und Feiertage, die Auslegung des Katechismus und die Auslegung des Psalters. Arndt, unter den Theologen nicht unumstritten, wollte sie drucken lassen, nachdem er vielfach, auch von Fürst Christian, dem Bischof von Minden, und dessen Brüdern, darum ersucht worden war. Wie seine bereits erschienenen Werke, namentlich die Vier Bücher von wahrem Christenthumb, unterwiesen sie in der von den Heiligen Bernhard und Augustinus so sehr geschätzten Betrachtung der himmlischen Dinge; mit dieser Bemerkung ließ es Arndt in seiner Vorrede bewenden.50 Gerhard hingegen nutzte seine Vorrede zur Verteidung des väterlichen Freundes. Der „modus docendi mysticus“, schrieb er, also die auf die Erbauung des innerlichen Menschen gerichtete Art zu lehren, sei heute, da der Glaube nahezu erloschen, besonders nötig; er selbst habe diese Art zu lehren in seiner Postilla angewandt und daher auch seinen „geistlichen Vater“ gebeten, die der gleichen Lehrart verpflichtete Postilla drucken zu lassen; denn was er lehre, sei nicht nur schriftgemäß, es sei auch im Einklang mit den Libris Symbolicis; freilich ergehe es Arndt mit der Lehre vom wahren Christentum wie Luther mit der Lehre von der Rechtfertigung des Gläubigen: Verfälschung blieb nicht aus; um so mehr war Gott zu bitten, dass er seine Gnade und seinen Geist gab, damit die „herrliche und geistreiche Arbeit“, die Arndt mit zeitlichem und ewigem Segen vergolten werden möge, zum Seelenheil der Leser gebraucht werde.51 Das war so klar, dass darauf in der Vorrede zur PsalterAuslegung nicht mehr zurückzukommen war, so klar auch, dass viel später, im Jahre 1706, die Apologetica Arndiana nicht darauf verzichtete, einen Passus dieses Bekenntnisses erneut abzudrucken.52 49 Nicolaus Rebhan: Bericht von offentlicher KirchenBusse/ oder/ Wiederauffnehmung gefallener/ ärgerlicher/ doch wiederkehrender busfertiger Sünder/ und ihrer Versühnung mit der geärgerten Kirchen […]. Jena 1615 (VD 17 39: 145199B), S. A1v. Das Gothaer Exemplar aus Gerhards Besitz mit handschriftlicher Widmung des Verfassers auf der Titelseite: FB Gotha, Theol 8° 321a/6 (1). Zu Magistrat Nikolaus Rebhan (1571–1626) Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 3, Nr. 827. 50 Johann Arndt: Postilla: Das ist: Außlegung und Erklärung der Evangelischen Texte/ so durchs gantze Jahr an den Sontagen und vornehmen Festen/ auch der ApostelTage gepredigt werden […] Sampt einer Vorrede Herrn Johan Gerhardts […]. Jena 1616 (VD 17 23:244865N), S. a3r–b3v. 51 Gerhard in Arndt: Postilla, S. a2r–v. Gerhards Vorrede ist datiert Coburg, 17. September 1615, Arndts Vorrede Celle, 24. Juni 1614. 52 Johann Arndt: Ausslegung des gantzen Psalters Davids des Königlichen Propheten: Also daß uber jeden Psalm gewisse Predigten und Meditationes gestellet seyn […]. Sampt einer Vorre-

240

Ulman Weiß

Als Moritz Moltzer, Gerhards „vielgeliebter Freund/ auch in Christo Bruder“, um eine Empfehlung für das „Gesangbuch“ bat, das er von Johann Weidner in Jena drucken lassen wollte, schrieb er wenige Zeilen über Luthers Gabe, die wichtigsten Lehr- und Trostsätze der Bibel in deutsche Lieder zu fassen, worin ihm andere und nun auch Moltzer nachgefolgt seien; sein „Freund“ und „Bruder“ habe die Evangelien und Epistel der Sonntage in „bequeme deutsche Rhytmos“ gebracht und ihnen bekannte Melodien unterlegt, so dass die „Einfeltigen“ sie leicht einüben und merken könnten.53 Moltzer, einer im Rat vertretenen Familie aus Neustadt an der Orla entstammend, hatte in Jena studiert, hier vielleicht auch Gerhard kennengelernt, ehe er eine Zeitlang als Prediger in Michelstetten im Lande unter der Enns wirkte. Die nächste Vorrede, die Gerhard im Jahre 1621 verfasste, war veranlasst durch den Wunsch des Verfassers, für sein Werk, eine Meditationes sacrae betitelte Sammlung von 34 Predigten über Person und Amt Christi, die „censuram“ der theologischen Fakultät, namentlich von Gerhard, zu erlangen. Magister Bermelius stammte aus der schwarzburgischen Residenz Arnstadt, wo er zur Schule gegangen und wohin er, nach dem Studium in Wittenberg und in Jena, zurückgekehrt und als Lehrer und Pfarrer tätig war. Die Predigten hatte er schon vor einigen Jahren gehalten, nun aber, da ihn die Herrschaft zum Superintendenten berufen, für den Druck überarbeitet. Gerhard fand, dass die Arbeit, die sein „besonders lieber Herr und Freund“ geleistet hatte, „ewiges Lobs und Ruhms“ wert war und von Gott mit zeitlichem und ewigem Segen vergolten werde.54 So formelhaft das

de Herrn Johan Gerhards […]. Jena 1617 (VD 17 3:307990B), S. a2r–v. Gerhards Vorrede ist datiert Jena, 1. April 1617, Arndts Vorrede Celle, 1. Januar 1617. Die Katechismus-Predigten, da Fortsetzung der Postilla, erschienen ohne Vorrede von Gerhard. Johann Arndt: Apologetica Arndiana, das ist, Schutz-Briefe, zur Christlichen Ehren-Rettung des geistreichen Theologi, Herrn Johann Arndts. Leipzig 1706, S. 155–157. 53 Mauritius Moltzer: Christlich Gesangbuch Uber alle Son- und Feyertägliche heilige Evangelia und Episteln/ welche man durchs gantze Jahr bey der Christlichen Kirchen zu lehren pfleget/ auff die Melodeyen Lutheri, seliger und anderer fürnehmer Lehrer/ Lieder […] gerichtet. Jena 1619 (VD 17 1:040574Y), S. 2v. Gerhards Vorrede ist datiert Jena, 1. September 1619, Moltzers Widmungsvorrede Michelstetten, Michaelis 1619. Moltzer immatrikulierte sich im Herbst 1598 an der Universität Jena (Mentz/Jauernig: Matrikel S. 211). Er wird 1612 und 1619 als Prediger in der den Herren von Gera gehörenden Herrschaft Michelstetten erwähnt (VD 17 23:647798W und VD 17 7:688609G sowie Gustav Reingrabner: Adel und Reformation. Beiträge zur Geschichte des protestantischen Adels im Lande unter der Enns während des 16. und 17. Jahrhunderts. Wien 1976, S. 15, 17, 83, Anm. 60). 54 Bartholomaeus Bermel: Jesu […] Meditationes Sacrae XXXIV.: Jesus der großmechtige/ durchleuchtige/ wundersüsse/ holdselige/ hochtröstliche/ hülff- und freudenreiche/ lob- und ehrwürdigste Krafftname/ ein Name uber alle Namen. […] Sampt einer Vorrede Herrn Johan Gerhards […]. Jena 1621 (VD 17 39:135437L) S. a2r–a3r (Vorrede Gerhards, Jena, 13. März 1621), S. a3v–c4r (Vorrede von Bermel, 25. Januar 1621). Das Gothaer Exemplar stammt aus Gerhards Besitz: FB Gotha, Theol 4° 848/7 (1). Zu Bermel (1579–1625) Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 2. Neustadt/A. 1997, S. 86f.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

241

klang, es stand doch nicht in jeder Vorrede. In diesem Fall scheint Gerhard auch Druck und Verlag in Jena vermittelt zu haben.55 Das tat Gerhard zwei Jahre später auch mit dem gnadenspiegel, den Pfarrer Georg Praetorius, sein „besonders lieber Herr und alter Schulfreund“, als eine „im Leben und Sterben“ zu gebrauchende sehr erbauliche Darstellung von Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi unter dem Titel Jesus Christus candidus geschrieben hatte. Gerhard gefiel das ihm zugeschickte Manuskript „zum besten“, weil alles „fein deutlich und verstendlich“ ausgedrückt war, und trug daher kein Bedenken, das Buch dem „Christlichen Leser“, an den sich, wie gewöhnlich, die Vorrede richtete, zu empfehlen.56 Praetorius stammte aus Stendal, in Wittenberg war er Gerhards Kommilitone gewesen, hatte dann als Rektor im kurbrandenburgischen Wriezen gewirkt und war nun, nachdem er schon verschiedentlich mit Veröffentlichungen hervorgetreten war, Pfarrer in Aulosen und Bömenzien, unweit seiner Heimatstadt. Von dort hatte er sich an Gerhard in der Gewissheit gewandt, er werde für den gnadenspiegel den Drucker finden, den er in der Altmark vermisste. Magister Wolfgang Seber, der Superintendent in Schleusingen, mochte sich an Gerhard gewandt haben, weil die Leipziger Buchhändler Zacharias Schürer und Matthias Götze, denen der Autor nicht unbekannt war, es ihm geraten hatten; vermutlich wollten sie sein Buch Hortulus Biblicus nur in Verlag nehmen, wenn es auf der Titelseite die verkaufsfördernde Vorrede eines namhaften Theologen auswies; drucken wollte das Buch Hieronymus Steinmann, der eben erst die Offizin in Schleusingen eingerichtet und daher noch nicht die Mittel hatte, die Kosten allein zu tragen. Da sein Vater in Jena die Werke Gerhards druckte, konnte er vielleicht vermitteln, dass der vielbeschäftigte Professor sich die Arbeit ansah und sie dann empfahl. Und das tat Gerhard. Ihm gefiel über die Maßen, dass Seber, sein „günstiger lieber Herr und in Christo Bruder“, zahlreiche Schriftstellen zusammengetragen hatte, die ganz klar alle Grundsätze des christlichen Glaubens nannten und sehr geeignet waren, wahre Frömmigkeit einzuüben, weshalb Eltern und Lehrer die Kinder und Schüler an den täglichen Umgang mit diesem „Handbüchlein“ gewöhnen sollten; er wünschte, Seber werde die Mühe „mit zeitlichem und ewigem Segen“ vergolten, er werde bei langer Gesundheit erhalten und einst ins Himmelreich aufgenommen. Der Hortulus Biblicus erschien zur Michaelismesse 1624,57 indes ist nicht ein einziges Exemplar dieser ersten und der späteren 55 Die ebenfalls 1621 gedruckte Christliche Busse und Vermahnungspredigt erschien im näher gelegenen Erfurt (VD 17 39:114184T). 56 Georg Prätorius: Jesus Christus candidus […]. Der allerschönster gnadenspiegel/ des Leidens/ Sterbens/ Aufferstehung/ unnd Auffahrt des einigen ewigen Sohns Gottes Jesu Christi/ Christlichen im Leben und Sterben zugebrauchen […]. Mit einer Vorrede Herrn Doctoris Johannis Gerhardi […]. Jena 1623 (VD 17 39:142619P), S. A7v–B7v. Das Gothaer Exemplar stammt aus Gerhards Besitz: FB Gotha, Theol 8° 106/2 (2). Zu Georg Praetorius († nach 1628) die biographischen Aufschlüsse aus seinen Veröffentlichungen, ferner Otto Hartwig (Hg.): Album Academiae Vitebergensis. Bd. 2. Halle/S. 1894, S. 487 (6. Februar 1601 Immatrikulation). 57 Catalogus universalis, hier: Leipziger Michaelismarkt 1624, S. D1v: „Hortulus Biblicus oder Biblisch Lustgärtlein/ […] verfertigt durch M. Woffgang Sebron Superintendenten zu Schleu-

242

Ulman Weiß

zweiten Ausgabe erhalten, erst aus dem Jahre 1636, als das Buch (nunmehr von Steinmanns Erben) „Zum dritten mal gedruckt“ wurde, sind Exemplare überliefert. Auch dieser und den folgenden Ausgaben fehlte Gerhards auf der Titelseite angekündigte Vorrede nicht; dem Verleger Götze schien sie selbst dann für den Verkauf vorteilhaft zu sein, als das Buch im Jahre 1648 „vermehrt und verbessert“ erschien, worum er Pfarrer Fusius in Frohburg gebeten hatte.58 Gleich nach der ersten deutschen Ausgabe hatte Seber eine lateinische herausgebracht, die für Lateinschüler, zunächst die des Schleusinger Gymnasiums, und für Studenten der Theologie gedacht war, und deshalb Gerhards Vorrede nicht enthalten konnte; eine neue, die dieser Leserschaft das Buch, das wert war, auswendig gelernt zu werden, ans Herz gelegt hätte, schrieb er nicht, statt dessen ein lateinisches Gedicht, das Werk und Verfasser lobte. Aber die Titelseite wies aus, dass der Hortulus Biblicus im Vorjahr „cum praefatione“ Gerhards auf deutsch erschienen war.59 Das taten auch die spätern lateinischen Ausgaben mit gutem Grund: nach einem Buch, das Gerhard, der Studenten und Predigern als Verfasser vielgerühmter Lehrbücher ein Begriff war, mit einer Vorrede ausgezeichnet hatte, mochten sie eher als nach einem andern greifen. Seber war bis dahin als Philologe mit einer Vorliebe für die griechische Literatur bekannt geworden; zuletzt, im Jahre 1620, hatten Schürers Erben in Leipzig seine Sentenzensammlung des Theognis verlegt.60 Nun wurde er als Theologe bekannt. Im Jahre 1630 erreichte Gerhard die Bitte um eine Vorrede zum ersten Mal aus einem Ort weit außerhalb seines Wirkungskreises: Magister Johann Jacob Cramer in Danzig, mit dem er unlängst wegen des Rahtmannschen Streites korsingen.“ Leipzig bey Thomas Schürers seligen Erben in 8. Online-Ausgabe: http://www.olmsonline.de. 58 Wolfgang Seber: Hortulus Biblicus, oder biblisch Lust-Gärtlein: Darinnen die Häupt-Artickel Göttlicher Lehre in kurtze und wenige aphorismos […]. Samt einer Vorrede Herrn Johan Gerhards […] Anitzo aber an vielen Orten vermehret und verbessert/ durch M. Adamum Fusium […]. Leipzig 1648 (VD 17 39:119709H), S. a1r–a3v (Gerhards Vorrede An den Christlichen Leser, Jena, 1. Mai 1624); S. 2v–5v (Vorrede von Adam Fusius). Zu Magister Adam Fuchs (Fusius) (1580–1648) Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens (1539–1939). Bearb. Reinhold Grünberg. Bd. 1. Freiberg/Sa. 1940, S. 214. Zur 3. Ausgabe VD 17 23:245786G; Gerhards Vorrede noch im Druck von 1679 (VD 17 39:145841W). 59 Wolffgang Seber: Hortulus Biblicus, sive loci theologici, certis, iisque paucis aphorismis […] pro iuvando exercitio pietatis […] cum praefatione […] Johannis Gerhardi […]. Schleusingen 1625 (VD 17 23:245778R), S. 8r (Gerhards Gedicht). Das Gothaer Exemplar stammt aus Gerhards Besitz: FB Gotha, Theol 8° 723/7. Zur Ausrichtung der lateinischen Ausgabe auf Studenten der Theologie mit Bezug zu Gerhard die Vorrede von Fusius in Seber: Hortulus Biblicus, S. 2v. Zur Verwendung des Buchs im Gymnasium Gustav Weicker: Abriss der Geschichte des Gymnasiums, in: Königlich-Preussisches Hennebergsches Gymnasium. Festschrift zur Feier des dreihundertjährigen Jubiläums. Meiningen 1877, S. 38. 60 Wolfgang Seber: Theognidis Megarensis Sententiae Graecolatinae. Leipzig 1620 (VD 17 23:270598F). Zu Magister Seber (1573–1634) Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 8. Leipzig 2008, S. 185. Bernhard Fabian (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 21 herausgegeben von Friedhilde Krause, bearbeitet von Felicitzas Marwinski. Hildesheim u.a. 1999, S. 32. Ausführlich in Weicker: Abriss, S. 37f., 45–50.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

243

respondiert, vielleicht auch für den Druck von Cramers Liber apologeticus gesorgt hatte, schickte ihm eine in den Wirren des Krieges entstandene, in fünf Bücher gegliederte Schrift über die Eitelkeiten des menschlichen und des christlichen Lebens. Gerhard entsprach der Bitte, er musste es wohl auch, da der „fautor, amicus & in Christo frater“ während der Auseinandersetzung um die Wirkung des Wortes mit Gerhard eines Sinnes gewesen war; jetzt, die Väter Chrysostomos und Gregor von Nazianz zitierend, schrieb er kurz über die Eitelkeit und Falschheit der Welt und bekräftigte die Tendenz des Buches.61 Gerhards Vorrede für Christoph Vischers KinderPostill ist die einzige, die nicht vom Verfasser des Werks gewünscht wurde; denn der war schon im Jahre 1597 gestorben. Vischer gehörte zu der jungen, mitten in den Wirren der Reformation groß gewordenen und von ihr geprägten Generation; er hatte mit Luther und Melanchthon Umgang gehabt, war, von Melanchthon empfohlen, Pfarrer und Superintendent im hennebergischen Schmalkalden, später Oberpfarrer in Halberstadt und zuletzt Superintendent im braunschweigischen Celle gewesen. Von seinen vielen Schriften, die er unermüdlich verfasst hatte, waren einige in zwei, drei Ausgaben erschienen, unter ihnen auch die KinderPostill, deren Erstdruck wohl verschollen ist. Zum zweiten Mal, „auffs newe mit vleis ubersehen“, war sie im Jahre 1571, zwei Jahre später zum dritten Mal gedruckt worden. In der Widmung an die aus dem hennebergischen Hause stammenden Gräfin Walpurga von Gleichen hatte Vischer erklärt, was ihn bewogen, die Evangelientexte der Sonn- und Feiertage „in kurtze Fragstücklein“ zu bringen. Die Kinder, für die das Buch zuerst gedacht war, sollten viererlei verstehen: was die Summe des Textes war, worin seine Lehre bestand, welchen Trost er spendete und wie Lehre und Trost in einem Gebet bekräftigt werden konnten; doch mochten auch manche Pfarrer, die es nicht besser wussten, aus ihm sich belehren lassen.62 Schließlich, im Jahre 1594, hatte Vischer auch den Ander Teil der Kinderpostill, in dem er die Episteltexte in „Fragstücklein“ gefasst, herausgebracht.63 Der Wunsch, dieses vielverwendete, verdienstliche Werk nach so langen Jahrzehnten erneut auflegen zu lassen, kam nicht von Gerhard, sondern von einer „hohen Fürstlichen Person“: von Herzog Ernst in Weimar. Vielleicht hatte das Buch einst zu seiner und seiner Brü61 Johann Jacob Cramer: Ecclesiastes Christianus. Sive de vanitatibus humanae & Christianae vitae libri quinque. Straßburg 1631 (VD 17 23:298630C), S. 8r–9r (Vorrede Gerhards, 20. August 1630). Zur Korrespondenz FB Gotha, Chart. A 88, Bl. 232r–235v. Der Liber apologeticus war cum censura & approbatione der Jenaer theologischen Fakultät erschienen (VD 17 3:021269M). Zu Dr. Johann Jacob Cramer (1599–1659) Deutsches Biographisches Archiv 205/359. 62 Christoph Vischer: Kinder Postill. Darinnen alle Sontegliche und der furnemesten Feste Evangelia/ mit vier kurtzen Fragstücken/ auff eine form/ einfeltig erkleret werden. Schmalkalden 1571 (VD 16 E 4602), S. A2r–A7v (Vischers Vorrede datiert Schmalkalden, 25. Juli 1565). Ausgabe Schmalkalden 1573: VD 16 E 4604. Zu Magister Christoph Vischer (1519– 1597) ADB 7 (1877) S. 51f. und ADB 40 (1896) S. 30f. 63 Vischer: Ander Theil der Kinderpostill/ darinnen aller Sontage und fürnembster Feste Episteln/ in vier kurtzen Fragstücklein summarischer weise erkleret werden. Schmalkalden 1594 (VD 16 E 4479). Ausgabe Schmalkalden 1595: VD 16 E 4608 (und auffs new durchaus gemehret).

244

Ulman Weiß

der religiösen Unterweisung gehört, wenigstens schätzte er es sehr; Gerhard trug er auf, die Druckvorlage durchzusehen und eine Vorrede zu verfassen. In der schrieb Gerhard nur kurz von der Nützlichkeit des Werkes sowohl für Kinder als für solche, die „Kinder am Verständniß“ waren, denen also alles leicht fasslich vorgetragen werden musste; Vischer, der „fürtreffliche wolverdiente Kirchenlehrer“, hatte das getan, doch war kein Exemplar der „KinderPostill“ mehr zu erlangen, daher der Neudruck, den Reisende und Kriegsleute als ein „Handbüchlein mit und bey sich führen“ und den die Hausväter ihren Kindern und ihrem Gesinde vorlesen lassen sollten; Gerhard verschwieg nicht, dass die hohe fürstliche Person, die den Druck gewünscht, auch eine „mildreiche Beystewr“ gegeben hatte. Im Dezember 1631, als die Bücher verschickt wurden, bedankte sich der Herzog für Gerhards „mühewaltung“.64 Zum letzten Mal verfasste Gerhard im Sommer 1633, vier Jahre vor seinem Tod, eine Vorrede. Der ihm unbekannte Naumburger Prediger Markus Hoffmann hatte aus vielen Bibelsprüchen kleine Gedichte geformt, die er als „Geistliches Stambüchlein“ in Druck bringen wollte. Er war lange genug Lehrer an der Domschule gewesen, um zu wissen, dass Wichtiges, was gelernt werden sollte, in Versform sich leichter einprägen ließ, und war lange genug Prediger, um zu wissen, dass in dieser „gantz kümmerlichen und gantz trübseligen Zeit“ viele Menschen begierig waren nach gereimten Gebeten, die das Leid erleichterten. Allerdings wollte er sich versichern, dass er mit der Form auch dem Inhalt genügt hatte und bat die theologische Fakultät in Jena um Approbation und danach Gerhard um Commendation. Der schätzte solche der Erbauung dienenden Gebetbücher seit jeher und begrüßte daher Hoffmanns Anliegen um so mehr, als die von ihm geschaffenen „bequeme und deutsche Reime“ sich nicht nur leicht lesen, sondern auch leicht merken ließen. Doch verschwieg er nicht, dass er die „verhoffentlich nützliche Arbeit“ nur auf des Autors „ersuchen“ mit einer empfehlenden Vorrede versehen hatte.65 Vermutlich wurden im Verlauf der Jahre viel mehr Vorreden gewünscht, vermutlich versagte sich Gerhard manchen Wünschen, weil er die Arbeit nicht für empfehlenswert hielt oder weil ihm wegen der vielen Verpflichtungen die Zeit fehlte – weniger für die stets rasch auf ein Blatt geschriebenen Zeilen als für das 64 Vischer: KinderPostill […] Jetzo auff Begeren einer hohen Fürstlichen Persson in diese geschmeidige Form gebracht […]. Mit einer Vorrede Herrn D. Johannis Gerhardi. Lüneburg 1631, S. 1r–2v (Gerhards Vorrede datiert Jena, 1. August 1631). Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 16. Dezember 1631: FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 141r–v. 1627 war Fischers Kinderpostill unter leicht verändertem Titel sampt einer Vorred der Tübingischen Theologen bei Eberhard Wild in Tübingen erschienen (VD 17 23:649758D). 65 Marcus Hoffmann: Geistliches Stambüchlein: Darinnen etliche Hertzerquickende Gebete begriffen; Allen Krancken/ mit Sünden beladenen/ zerschlagenen/ zerknirschten und bußfertigen Hertzen/ in dieser kümmerlichen und gantz trübseligen Zeit nützlich zugebrauchen […]. Mit einer Vorrede/ Herrn D. Johannis Gerhardi […]. Weimar 1634 (VD 17 1:636405R), S. A1v-A2r (Gerhards Vorrede, Jena, 1. August 1633). Zu dem publizistisch nicht weiter hervorgetretenen Markus Hoffmann (1583–1639) Bruno Kaiser: Die Lehrer der Naumburger Domschule von 1542–1800. Mit einem Anhang: Die Scholastici und Subinspectores der Domschule. Naumburg/Saale 1925, S. 22.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

245

vorausgehende Überlesen der mitunter einige hundert Seiten umfassenden Manuskripte. 5. „AUFTRAGSWERKE“ Was Gerhard aus der Feder floß und unter die Presse kam, entsprang seiner Verantwortung als Seelsorger und als Professor der Theologie, die ihm sagte, welche Themen auf welche Weise zu traktieren nötig waren. Zweimal allerdings wurden ihm das Thema und die Weise, es zu behandeln, vorgeschrieben. Das erste Mal von Herzogin Christine, als er im Spätsommer 1606 vor ihr Predigten hielt und in tiefgehende Gespräche gezogen wurde. Am Kasseler Hof war sie im lutherischen Glauben aufgewachsen und von dem Marburger Theologen Johann Winckelmann über bestimmte Punkte, denen sie nachgefragt, genauer unterrichtet worden, ehe der Kasseler Hofprediger Gregor Schönfeld, der im Einvernehmen mit ihrem Vater die Landgrafschaft calvinisierte, auch sie zu indoktrinieren begonnen hatte. Glaubenskonflikte waren nicht ausgeblieben, überdies misstraute ihrer Konfessionsgewissheit der Eisenacher Hofprediger Nicolaus Rebhan, und Herzog Johann Casimir, der Bruder ihres Gemahls, verbot dem Heldburger Superintendenten Gerhard sogar den Umgang mit ihr. Dass der sich daran nicht hielt, vielmehr sich seelsorgerlich ihr zuwandte, flößte ihr Vertrauen ein; ihr war nicht zweifelhaft, Gerhard werde sie in der Wahrheit unterweisen, wie einst Kornelius von Petrus unterwiesen (vgl. Apg 10,21ff.) worden war.66 Zunächst wünschte sie eine Unterweisung hinsichtlich der Taufe, des Abendmahls und der Gnadenwahl. Im Grunde wünschte sie aber nichts weniger als eine Unterweisung in allen zur Seligkeit notwendigen Glaubensartikeln, sie wünschte ein Buch in deutscher Sprache, in dem diese Artikel erst kurz genannt und dann mit allen Bibelbelegen, beginnend mit dem ersten Buch Mose und endend mit der Offenbarung, ausführlich dargelegt, auch die gegeneinander stehenden Artikel „verglichen“ werden – dies alles „ohne meldung einiges menschen schrifft oder meinung“, sondern allein nach Gerhards „eigen gewissen“. Wenn ihm das Amt Zeit ließ für solch ein Buch, wie sie es seit vier, fünf Jahren schon wünschte, wäre es ihr hochwillkommen.67 Gerhard bedachte sich und erklärte sich bereit, ein Buch zu verfassen, in dem „alle artikell Göttlicher warheitt allein auß Gottes wort“ bewiesen und auch die scheinbar einander widersprechenden Sprüche „allein auß Gottes wortt“ erläutert werden, mit dem Artikel von der Gnadenwahl wollte er beginnen und, wenn er

66 Instruktion von Herzogin Christine an Gerhard, undat. [vor 21. September 1606], abgedruckt in Steiger: Gerhard, S. 238. Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 10. Oktober 1606: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 31r–32r. 67 Instruktion von Herzogin Christine an Gerhard, abgedruckt in Steiger: Gerhard, S. 237. Brief von Herzogin Christine an Gerhard, undat. [vor 28. September 1606]: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 20r.

246

Ulman Weiß

das Gefallen der Herzogin fand, mit den andern fortfahren.68 Da es sich verzog, sah sich Gerhard beständig an das „begerte buch“ und an die Bedingung, die „einige richtschnuer“ der Bibel, erinnert. Er erhielt ein „verzeichnis“ genanntes Schema, nach dem er das Buch wohl strukturieren sollte, das hieß, alle zur Seligkeit notwendigen Artikel in „locos“ teilen und ordnen, die Summe eines jeden Artikels an die Spitze setzen und dann die betreffenden Belege aus allen biblischen Büchern beibringen sowie in einem besondern Teil die widerstreitenden Artikel harmonisieren: „ohne Meldung Einiger Rotten, Secten, oder menschen schrifft und Meinung“. Gerhard behielt das „verzeichnis“; er war auch einverstanden, als die Herzogin erklärte, die Kosten tragen, aber weder widmungsweise noch anderweitig in dem Buch genannt werden zu wollen.69 Als ein ceterum censeo kehrte, wann immer ihre Briefe das „begerte buch“ berührten, dies wieder: die einige richtschnuer der Bibel, die Übernahme der Kosten, das Verschweigen ihres Namens. Die Briefe sprachen von dem Verlangen nach dem Buch, das der Erbauung aller Christen dienen würde, und von dem Vertrauen, Gerhard werde sich nur vom Gewissen und von Gottes Wort, gleich ob es Luther, Calvin oder wer auch immer gelehrt habe, leiten lassen und sich nicht nach der „lutherischen sondern biblischen lehre“ richten.70 Erst im Spätwinter 1608 begann Gerhard das „begerte buch“, und im Frühjahr schickte er der Herzogin, was er bis dahin zu Papier gebracht hatte. Sie dankte höflich und schrieb, dass ihr das Zugesandte gefalle, obwohl es nicht, wie sie begehrt hatte, verfasst war; sie stellte ihm daher frei, ob er mit dem Werk, auf das er schon so viel Mühe gewandt hatte, fortfahren wollte, die Mühe, „so viel muglich“, wollte sie belohnen, die Unkosten erstatten.71 Gerhard blieb an der Arbeit, wie er sie verstand, und die Herzogin nahm an ihr Anteil, aber sie trieb sie nicht mehr an, da sie nicht mehr ihren Erwartungen entsprach; wichtiger war ihr jetzt eine Anleitung zum Bibellesen: in welcher Ordnung die biblischen Bücher nach- oder miteinander gelesen und wie die einander widersprechenden Stellen in „Vergleichung“ gebracht werden sollten; Gerhard säumte nicht, die Anleitung zu Papier zu bringen und ihr zuzuschicken, das „begerte buch“ indes, das im übrigen bloß die beiden Artikel von Taufe und Abendmahl umfasste, ließ er ihr, ehe er es unter die Presse gab, erst im Sommer 1610 zukommen und musste nun erfahren, dass es ihrem „geringen verstandt gar zu hoch“ war; zwar hatte es als „richtschnuer“ die Bibel und war auch nicht gefüllt 68 Brief von Gerhard an Herzogin Christine, 21. September 1606, abgedruckt in Steiger: Gerhard, S. 249. 69 Brief von Herzogin Christine an Gerhard, undatiert [vor 28. September 1606]: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 20r. Brief von Gerhard an Herzogin Christine, 28. September 1606: Chart. A 601, Bl. 22r. Brief von Gerhard an Herzogin Christine, 3. November 1606: Chart. A 601, Bl. 45v. 70 Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 16. März oder Mai 1607: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 49r. 71 Brief von Gerhard an Herzogin Christine, 29. Januar 1608: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 53r. Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 25. Mai 1608: Chart. A 601, Bl. 58r. Hierzu auch die beiden Briefe Gerhards zum Bibellesen Chart. A 601, Bl. 68r und 69r–70v.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

247

mit „menschen schrifft und Meinung“, es zu lesen war der Herzogin aber unmöglich, Hauptweh plagte sie, die Augen und das Gedächtnis machten ihr zu schaffen; daher wollte sie Gerhard nicht weiter bemühen, zumal über die beiden Artikel schon viel geschrieben und gedruckt worden war, und ihr nur mit einem Werk, wie sie es gewünscht hatte, gedient gewesen wäre.72 Die Herzogin war nicht nur ernüchtert, sie war enttäuscht. In Gerhards Predigten und Schriften waren es vor allem das Christusgerichtete und das Erbauliche gewesen, das sie anfangs angezogen hatten. Dass „Streit undt hohes disputieren“ fehlte, hatte sie genau gemerkt, es unterschied ihn, wie sie meinte, von den Theologen in Kassel und in Eisenach, denen die Religion zuvörderst zum Traktieren der Dogmatik diente. Doch musste sie sich irren, wenn sie gemeint hatte, der Superintendent und Doktor, der so beharrlich betrieb, dass er auf einen Lehrstuhl berufen wurde, konnte unter seinem Namen ein Buch ausgehen lassen, das als „einige richtschnuer“ die Bibel hatte, sich aber nicht als orthodox ausgab und nicht die Konformität mit der Konkordienformel herausstellte, auch wenn er nicht eigens auf diese verwies und es sogar unterließ, „aller oder etlicher reiner lehrer bedenckens oder meinung mitt anzuziehen“, wenn ihm dies „nötig oder notwendig zusein“ schien; denn das hatte ihm die Instruktion für den Hofmeister, die ihn im Spätsommer 1606 über den Wunsch von Herzogin Christine ins Bild gesetzt hatte, sehr wohl zugestanden.73 Statt andre Autoritäten heranzuziehen, hielt er sich an die von der Herzogin unablässig erinnerte „einige richtschnuer“ der Bibel. Insofern stand sie, wiewohl enttäuscht, zu ihrem Wort und gab das zugesagte Geld; das mehr als 500 Seiten umfassende Buch allerdings, die nunmehr den evangelischen Ständen in Böhmen gewidmete Ausführliche Schrifftmessige Erklerung der beyden Artickel von der heiligen Tauffe und von dem heiligen Abendmahl, ließ sie, als sie es im Herbst 1610 von Gerhard bekam, lange liegen – nicht allein, weil sie ihr für die Gespräche mit Rebhan, der ihren Fall forciert hatte, nicht nützlich zu sein schien, vielmehr weil sie dieser Gespräche, dieses Pochens auf der Dogmatik, überdrüssig zu werden begann.74 Ganz anders gestaltete sich Jahre später die zweite „Auftragsarbeit“. Deren Thema und die Weise, es zu behandeln, war wieder vorgeschrieben, wieder von einer fürstlichen Person, von Herzog Wilhelm IV. in Weimar. Er hatte im Mai 1625 Eleonore Dorothea, die Tochter des reformierten Fürsten Georg von Anhalt, geheiratet und war nun, bei aller Achtung des Glaubens der Gemahlin, sehr darauf bedacht, die heranwachsenden Söhne im Geiste der unverfälschten Augsburgi72 Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 1. Juli 1610: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 89r. 73 Instruktion von Herzogin Christine für Johann Gerhard, undatiert [vor 21. September 1606], abgedruckt in Steiger: Gerhard, S. 237. 74 Johann Gerhard: Ausführliche Schrifftmessige Erklerung der beyden Artickel Von der heiligen Tauffe und Von dem heiligen Abendmahl […]. Jena 1610 (VD 17 23:246224E und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina Nr. 67). Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 18. Januar 1611: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 94r–v. Das Schreiben bestätigt die Vermutung von Steiger: Gerhard, S. 244f., Anm. 64. Rebhans Bericht über die Auseinandersetzungen mit Herzogin Christine muss bald nach dem Tod von Gerhards Frau im Frühsommer 1611 verfasst worden sein: FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 114r–117r, zur Datierung Bl. 116v.

248

Ulman Weiß

schen Konfession erziehen zu lassen. Doch sollten Lehre und Leben im Einklang sein. Er selbst tat dazu, indem er beispielsweise Lesefrüchte aus der Bibel und andern christlichen Büchern sowie Hörfrüchte aus Predigten in ein eigens zu diesem Zweck angelegtes Buch eintrug: „zur nachachtung“, wie er sich vorsetzte.75 Zur Nachachtung der Söhne aber sollte ein Buch dienen, das auszuarbeiten er Gerhard im Jahre 1633, in einer für Thüringen und das Eichsfeld (wo er als schwedischer Statthalter amtierte) bedrohlichen Situation, auftrug. Dem Herzog schwebte ein zur Meditation geeignetes Erbauungsbuch vor, das den Söhnen und andern Lesern half, ein wahrhaft christliches Leben zu beginnen und durchzustehen, aus Namenschristen also Tatchristen zu werden, wie es in dem unlängst erschienenen Gülden Kleinodt von Emanuel Sonthomb, das der Herzog besaß, sehr anschaulich beschrieben war. Eventuell war ihm nicht entgangen, dass der dritte Teil des Gülden Kleinodt Gedanken barg, die auch Gerhards Schola pietatis enthielt, die er ebenfalls besaß.76 Auf jeden Fall fand er Gerhard geeignet, ein Werk zu verfassen, das er als sehr wünschenswert erachtete. Neben den zu traktierenden Themen bestimmte der Herzog, wie Gerhard bekannte, auch deren „Form und Model“.77 Das könnte gesprächsweise im Weimarer Schloß geschehen sein. Nach Maßgabe des Herzogs verfertigte Gerhard vier „Tractätlein“; das erste fasste den Katechismus in „außerlesene Sprüche“, damit der Kern des Glaubens leichter ins Gedächtnis ging; das zweite gab sich als geistliches Gespräch zwischen Gott und einem Gläubigen, um dessen Herz warm werden zu lassen wie vorzeiten den Jüngern in ihrem Gespräch mit Christus auf dem Wege nach Emmaus; das dritte versammelte treffliche Trostsprüche und Trostgründe, damit sie in schweren Zeiten als „Seelencur“ gebraucht werden konnten; das vierte erklärte die Litanei des Gottesdienstes, auf dass die Andacht inniger wurde. Angefügt waren etliche Psalmen und, als „Summa“, ein Gebet. Dies alles, von Gerhard „zusammengetragen“, sollte, wie der Titel verhieß, als „Frommer hertzen Geistliches Kleinod“ wertgeschätzt werden. Die zuletzt, im September 1634, verfaßte Widmungsvorrede, auch sie vom Herzog angeordnet, richtete Gerhard an die vier Söhne, deren jüngster, Johann Georg, gerade zwei Monate alt war.78 Gerhard schrieb von den „Christlichen und Fürstlichen Tugenden“, in denen die Prinzen auferzogen wurden, um später ihrem obrigkeitlichen Amt gerecht werden zu können; ein Exempel hatten sie an ihren Vorvätern und an ihrem Vater, der in Gebet 75 ThHStA Weimar, Hausarchiv A VII, Nr. 4, Bl. 2r. Zum Profil des Herzogs Georg Mentz: Weimarische Staats- und Regentengeschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Carl Augusts. Jena 1936, S. 5–9. 76 Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 70–73. Zu den Büchern in Herzog Wilhelms Bibliothec ThHStA Weimar, Fürstenhaus A 2047, Bl. 244r und 238v. Das Inventarium verzeichnet allerdings nur den Titel, nicht die Ausgabe des „Sonthomb“. 77 Gerhard: Frommer Hertzen Geistliches Kleinod/ Das ist: Vier unterschiedene Tractätlein […]. Lüneburg 1634 (VD 17 12:102215Y und Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 597), S. ijr–ixv (Vorrede, datiert 10. September 1634). 78 Johann Ernst (II.) *11. September 1627, Johann Wilhelm *1630, Adolph Wilhelm *15. Mai 1632, Johann Georg (I.) *12. Juli 1634.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

249

und Ritterschaft sich gleichermaßen übte und dereinst die Krone des Lebens erlangen würde. Der Kupfertitel setzte das ins Bild: links der knieende Beter, rechts der gerüstete Krieger, dessen Gesicht die Züge des Herzogs erkennen ließ, darüber die aus den Wolken ragende, die Krone haltende Hand. Hatte der Herzog auch dies angeordnet? Wenigstens kannte Johann Dürr die Vorrede, ehe er den Titel stach. Dürr war erst vor wenigen Jahren nach Weimar gekommen und hatte sich sofort einen Namen gemacht als Zeichner und überaus qualitätvoll arbeitender Stecher.79 Da Gerhard und Dürr einander kannten, könnte dieser von jenem mit dem Stich beauftragt worden sein, sofern nicht der Herzog selbst, der das Buch mit einem Kupfertitel ausgestattet sehen wollte, den Auftrag erteilt hatte. Der Herzog hatte auch angeordnet, dass der Druck von den Brüdern Stern in Lüneburg übernommen wurde. Seitdem sie unlängst Vischers KinderPostill so sorgfältig und auf gutem Papier gedruckt hatten, war die Offizin in Lüneburg eine der ersten Adressen für Druckwerke, die Herzog Wilhelm oder sein Bruder Ernst veranlassten. Spätestens im Dezember hielt Gerhard das kleine, im portablen Duodez gedruckte, mehr als 260 Seiten umfassende Buch in der Hand. Ein eingebundnes Exemplar schickte er mit seiner auf dem Vorsatz neben dem Kupfertitel plazierten Widmung dem Herzog, der nicht versäumte, ihm Geld zur Begleichung der Kosten zukommen zu lassen und für die „mühewaltung“ zu danken.80 Ähnlich wie Sonthombs Kleinodt wurde auch Gerhards Kleinod ein Bestseller, der durch die Jahre immer wieder, auch in Auszügen, aufgelegt und in andre Sprachen übersetzt wurde.81 Es erwies sich, dass des Herzogs Verlangen nach einer Anleitung zu einem tätigen, im Lebensvollzug sich bewährenden Christentum das Verlangen vieler Menschen war. Er selbst nahm das Buch, in das Gerhard die Widmung geschrieben hatte, regelmäßig zur Hand; als er spürte, wie die Sehkraft nachließ und der Tod sich näherte, wünschte er, wiederum von den Brüdern Stern, einen Druck „mit etwas größerer schrifft“, dem ein neuer, ein letzter Teil, die Christselige SterbeKunst, angefügt werde. Die zu schreiben konnte er Gerhard, der schon lange tot war, nicht beauftragen, er wandte sich daher an dessen Schwiegersohn, den Jenaer Superintendenten Christian Chemnitius. Im Mai

79 Zu Johann Dürr (um 1600–1663) Frank Boblenz: „Johann Dürr. Zum 330. Todestag eines bedeutenden Weimarer und mitteldeutschen Kupferstechers der Barockzeit“, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 20 (1993), S. 79–87 sowie ders.: „Auf Spurensuche in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek – zum 350. Todestag des Weimarer Kupferstechers Johann Dürr (um 1600–1663)“, in: SupraLibros 14 (2013), S. 22–23. Die das Wappen flankierenden Buchstaben bedeuten D[ei] G[ratia] W[ilhelmus] D[ux] S[axoniae] I[uliae] E[t] M[ontium]. Die Porträthaftigkeit des Geharnischten auf dem Kupfertitel erweist der Vergleich mit ebenfalls von Dürr geschaffenen Kupferstichen Herzog Wilhelms. 80 Exemplar: FB Gotha Theol. 8° 371/4. Brief von Herzog Wilhelm an Gerhard, 19. Dezember 1634: FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 90r. 81 Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 714, 760, 777, 791, 736 (holländische Fassung), 768 (dänische Fassung) und 1059 (schwedische Fassung). Von dem 1652 erschienenen, durch Johann Ernst Gerhard herausgegebenen extract aus dem Kleinod (ThHStA Weimar, Hausarchiv A VII, Nr. 318, Bl. 3r) scheint kein Exemplar erhalten zu sein.

250

Ulman Weiß

1659 bekam er das zur Ostermesse herausgebrachte Buch, dessen letzter Teil ihm der wichtigste gewesen sein dürfte, ehe er im Mai 1662 verstarb.82 6. DRUCKER UND VERLEGER Bereits ein flüchtiger Blick auf die Publikationen zeigt, dass Gerhard nicht zu den Autoren zählte, deren Manuskripte der Drucker mit spitzen Fingern entgegennahm und die unter die Presse zu bringen er sich allenfalls herbeiließ, wenn er die Kosten nicht allein tragen musste. Im Gegenteil. In der Jenaer Zeit knüpfte der mittzwanziger Gerhard Kontakte zu Christoph Lippold, die er auch in der Heldburger und in der Coburger Zeit pflegte. Wohl lag nahe, dass die Jenaer Disputatio theologica in einer Jenaer Druckerei unter die Presse kam, nicht aber, dass hier auch die Meditationes sacrae gedruckt wurden. Sie hätte Gerhard durchaus in die Offizin des Hofbuchdruckers Justus Hauck oder des Druckers Kaspar Bertsch in Coburg geben können, zumal sie zum Gefallen des Hofes seit dem Jahre 1607 zahlreiche theologische Disputationen zu drucken begannen, die unter seiner Leitung im Gymnasium stattfanden.83 Sehr zeitig dachte Gerhard daran, alle Disputationen in einem oder in mehrern Bänden drucken zu lassen. Auch sonst bewegten ihn in dieser frühen Coburger Zeit publizistische Pläne. Einen bedenklichen Plan trug im Januar 1608 der väterliche Freund Johann Arndt an ihn heran, nachdem er ihn im Vorjahr gebeten hatte, mit Jenaer Druckern den Druck der Bücher von wahrem Christenthumb zu besprechen; nun wünschte er, dass es Gerhard sei, der die „Bücher“ herausgab; er gab sie unter seine Gewalt, ihm zu eigen; zudem regte er an, für sie und seine, Gerhards eigne, Bücher um ein Privileg sich zu bemühen.84 Der Anregung hätte es wohl nicht bedurft. Die Meditationes waren bereits in zweiter Auflage erschienen, in Kürze würde die deutsche Übersetzung folgen; für solche Werke, die sich gut verkaufen ließen, gab es einen Markt. Davon ange82 Brief von Johann Ernst Gerhard an Herzog Wilhelm, 28. Dezember 1658. ThHStA Weimar, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen A 7723, Bl. 1r und 2–5: probe der Schrifft und des Formats. Brief von Christian Chemnitius an Herzog Wilhelm, 3. Mai 1659. A.a.O., Bl. 9r. Brief von Herzog Wilhelm an Christian Chemnitius, 6. Mai 1659. A.a.O., Bl. 8r. Gerhard: Frommer Hertzen Geistliches Kleinod […] vermehret/ mit einem fünfften Tractätlein/ von der SterbeKunst/ Durch Christianum Chemnitium […]. Lüneburg 1659 (VD 17 32:674059M. Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 811). Dem von den Brüdern Stern ausgehenden und von Johann Ernst Gerhard unterstützten Vorschlag, das Kleinod in den Schulen des Fürstentums einzuführen, verwarf Herzog Wilhelm (ThHStA Weimar, Kunst und Wissenschaft – Hofwesen A 7723, Bl. 8r–v, 12r). 83 Zum Interesse des Hofes Volkmar Scherers Brief an Gerhard vom 16. Jan. 1607 in: Epistolae virorum eruditorum ad Johannem Gerhardum Magni Nominis Theologum. Hrsg. von Georg Martin Raidel. Nürnberg 1740, S. 69. 84 Hierzu Arndts Briefe an Gerhard vom 19. Februar 1607, 29. Januar und 7. Juni 1608: „utinam privilegium libellorum utriusque nostrum impetrare queas“ (zitiert nach Raidel: Epistolae, S. 78, 133, 162). Ausführlich Wilhelm Koepp: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Berlin 1912, S. 60f.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

251

spornt, plante er ein neues Buch, dessen Titel viel früher als der Text formuliert war: Exercitium pietatis quotidianum. So stand er im Juni 1608, unmittelbar nach Arndts Anregung, in einem Schreiben an den sächsischen Kurfürsten Christian II., den er „supplicando“ um ein Privileg für diesen und drei andre Titel ersuchte: die Coburger theologischen Disputationen, die Meditationes lateinisch und deutsch sowie die Bücher von Arndt. Er wünschte ein Privileg für sich und seine Erben, damit die Drucker und Verleger, denen die Titel verhandelt werden sollten, keinen Schaden erlitten. Der Kurfürst willfahrte, weil in den Büchern nichts stand, was Gottes Wort zuwider war; doch verlangte er, dass sie vor dem Druck von der theologischen Fakultät zensiert wurden, dass für den Druck gutes Papier genommen wurde und dass nach dem Druck 25 Exemplare ins Oberkonsistorium nach Dresden geliefert wurden.85 Gerhard, um das Privileg sich bemühend, hatte sehr gewinngerichtet kalkuliert: Mit gutem Grunde glaubte er, die Manuskripte günstiger verkaufen zu können, wenn an ihnen die Gewähr haftete, dass sie innerhalb von acht Jahren nicht nachgedruckt werden durften oder nur mit seiner oder seiner Erben Erlaubnis. Aufs Ganze gesehen ging die Kalkulation auf. Im einzelnen ist indes nur zu erkennen, dass die lateinischsprachigen Meditationes sacrae bei Lippold (mit dem Gerhard sich wohl schon im Jahre 1606 fest vereinbart hatte) und nach dessen Tode weiterhin bei den Nachfolgern Heinrich Rauchmaul und Johann Beithmann erschienen, bei denen auch die deutschsprachigen Meditationes in der von Gerhard „censireten“ Übersetzung Vogels gedruckt wurden – stets mit dem von Gerhard erwirkten „Churf. Sächß: Privilegio“.86 Aber das Exercitium pietatis blieb zugunsten anderer, für den akademischen Weg wichtigerer Werke ein immer wieder beiseite geschobenes Projekt, dem Gerhard sich erst in der Trauerzeit nach dem Tode des Sohnes und der Frau zuwandte, um es endlich, im Sommer 1612, in einer lateinischen und in einer deutschen Fassung zu beenden und an Hauck in Coburg zu veräußern.87 Mit den beabsichtigten Disputationum Theologicarum 85 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10757 vol. 1 (1610–1613), Bl. 471r–472v (Brief von Kurfürst Christian II. an Gerhard, 25. August 1608): „Disputationum Theologicarum in Gymnasio Coburgensi habitarum, Tomi quatuor, Jtem Meditationes Sacrae ad veram pietatem excitandam comparatae et Latinae et Germanicae, Jtem Exercitium pietatis quotidianum, Jtem Libri quatuor de vero Christianismo conscripti a Johanne Arndti Ecclesiae Brunsviciensis ad D. Martinum Pastore.“ Gerhards Schreiben ist nicht überliefert, doch bezog sich Polycarp Leyser in seinem an Gerhard gerichteten Schreiben vom 19. Juni auf das „privilegium, libellis quibusdam tuis Theologicis“ (Raidel: Epistolae, S. 166). Gerhard könnte daher schon vor Erhalt des am 7. Juni geschriebenen Briefes von Arndt das Privileg beantragt haben. 86 Gerhard: Ein und funffzig Geistliche Andachten wahre Gottseligkeit zuerwecken/ und daß zunemen deß inwendigen Menschen zufördern. Jena 1610 (VD 17 23:699572B). Während die lateinische Ausgabe von 1607 wieder den Vermerk „Impensis & typis Christophori Lippoldi“ zeigt, ergänzt ihn die Ausgabe von 1611 „Cum Privilegio Elect. Sax.“ (VD 17 23:245961S; 1:000022H). Zur Ausgabe Rauchmauls 1614 und Beithmanns 1616: 23:289514R und 7:688391Z. Für die im Frühjahr 1608 vorliegende, von Gerhard mit Vorrede versehene deutschsprachige Ausgabe hatte der Erfurter Verleger Birnstiel selbst das kur- und fürstlichsächsische Privileg erworben. 87 Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 99 und 101. Vgl. die aus Unkenntnis des Privilegs andere Darstellung von Steiger in Gerhard: Exercitium pietatis, S. 491.

252

Ulman Weiß

libri quatuor gelang ihm das zu keiner Zeit. Zwar erschienen bis zu seiner Berufung an die Universität in Jena im Jahre 1616 Disputationen in ziemlicher Zahl, doch sie dann gesammelt in mehreren Bänden vorzulegen, wie das mancher Professor mit den von ihm präsidierten Disputationen gelegentlich tat, war ihm nicht möglich. Und was Arndts Bücher von wahrem Christenthumb anlangt, kam er, wie es scheint, nur mühsam ins Geschäft. Für Arndt war Nürnberg ein nobler Verlagsort, falls in Jena sich kein Verleger finden sollte; immerhin hatte er einen von ihnen, Leonhard Wipprecht, mit der Übermittlung der Manuskripte betraut und einen andern, Tobias Steinmann, als ganz geeignet angesehen.88 Doch Gerhard, sollte er es versucht haben, erreichte nichts, vielleicht wegen Einwänden von Petrus Piscator, der bereits das erste der vier Bücher bemängelte (im übrigen auch seiner, Gerhards Promotion zum Doktor widerstrebt hatte), vielleicht wegen der Vorsicht der Verleger, die Schwierigkeiten fürchteten. Freilich vermochte er sich mit dem Verleger Johann Francke in Magdeburg zu verständigen, auf den er aufmerksam geworden sein dürfte als Finanzier der Sommerschen Übersetzung seines Meditationes-Bestsellers: Erbauungsliteratur schien Francke zu schätzen. Tatsächlich verlegte er im Jahre 1610 alle vier Bücher von wahrem Christenthumb, das erste freilich „auffs newe ubersehen vnd gebessert“.89 Damit hatte Gerhard dem väterlichen Freund gehorcht, der, sich selbst vor Schmähung schützend, ihm aufgetragen hatte, die Bücher herauszugeben – allerdings mit einem beigefügten Brief, in dem die Zusendung des Manuskripts als persönliches Geschenk bezeichnet wurde, das auf keinen Fall veröffentlicht werden sollte, weil Arndt, wie er vorgab, das Urteil anderer, die bereits das erste Buch beanstandet hatten, viel zu sehr achtete, als dass er erneut ihr Missfallen wecken wollte. Was er dann lang und breit über die Bestimmung der vier Bücher ausführte, musste daher nur für den jungen, väterlich von ihm geliebten Freund bestimmt sein.90 Dem hatte Arndt anstandslos erlaubt, in dem Widmungsbrief nach Gutdünken zu streichen, indes nicht, ihn zu unterschlagen. Ebendies tat Gerhard. So blieb 88 Hierzu die Briefe Arndts an Gerhard vom 7. Juni, sowie vom 25. April, 23. Oktober und 20. April 1608 in Raidel: Epistolae, S. 162, 149f., 179, 151f. Mit Wiprost und Wiperto ist Leonhard Wipprecht (1547–1635) gemeint. Zu ihm Josef Benzing: „Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), Sp. 1302. 89 VD 17 23:646367T (1. Teil), 1:039798P (2. Teil), 1:039801G (3. Teil) und 1:039805N (4. Teil). In einem neuen, auf dem von Gerhard erworbenen Privileg sich beziehenden Antrag an Kurfürst Johann Georg I. erklärte Francke, „vor etzlichen Jahren“ (SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10757, vol. 2 (1616–1628), Bl. 201r–v, 1. Mai 1620) das Manuskript der Bücher von wahren Christenthumb mitsamt Privileg von Gerhard erhalten zu haben. 90 Johann Arndt an Gerhard: Epistola dedicatoria, 29. Januar 1608, abgedruckt in: Apologetica Arndiana, Das ist, Schutz-Briefe, zur Christlichen Ehren-Rettung des geistreichen Theologi, Herrn Johann Arndts, Aus seinen hinterlassenen Briefen, Urkunden, eigenen Antworten wie auch Testament, etlichen Censuren und Testimoniis ehemals zusammen getragen […]. Leipzig 1706, S. 22f.: „ad te in privatum saltem usum mitto. […] Ita autem eos dono utsin domestici & privati, nec in publicum progrediantur […].“ Hierzu ausführlich Koepp: Johann Arndt, S. 61–63.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

253

lange verborgen, dass Gerhard der Herausgeber war des zweiten, dritten und vierten Buchs und des ersten Buchs in der verbesserten Fassung. Still hatte er auf der Druckvorlage des Titelblatts den Autor in seinem neuen Amt als „Diener der Kirchen zu S. Andreae in Eißleben“ genannt und den Vermerk „Mit Churf. Sächsischer Freyheit“ eingefügt. Arndt aber war von dem Druck der Bücher, die Francke mehrfach neu auflegen ließ, so angetan, dass er nachmals, nun als Generalsuperintendent in Celle, seinerseits an Francke herantrat und mit ihm über den Verlag des als fünftes Buch gedachten Paradiesgärtlein verhandelte. Und Francke wiederum bemühte sich um ein Privileg für dieses fünfte Buch und um die Erneuerung des Privilegs für die ersten vier Bücher von wahrem Christenthumb, das er vor einigen Jahren zusammen mit dem Manuskript von Gerhard erhalten hatte.91 Der fuhr fort, Werke, die es wert waren, sich privilegieren zu lassen: nicht die von Dritten zum Druck erbetenen Predigten, wohl aber die Erklerung der beyden Artickel von der heiligen Tauffe und von dem heiligen Abendmahl und den ersten Band Loci Theologici, dem die andern Bände sich beigesellten, ebenso die Aphorismi succincti et selecti und das Enchiridion consolatorium lateinisch und deutsch. Mit den Manuskripten und dem kurfürstlichen Privileg ging der coburgische Superintendent nicht zum coburgischen Hofbuchdrucker, sondern nach Jena, doch nicht zu Lippold, sondern zu Tobias Steinmann. Dieser hatte jenen immer verschattet, und er verschattete auch, als Lippold im Sommer 1611 starb, die Nachfolger Heinrich Rauchmaul und Johann Beithmann.92 Steinmann, einer etablierten Leipziger Druckerfamilie entstammend, war in verschiedenen Druckereien in verschiedenen Städten Geselle gewesen, ehe er nach Jena gekommen und die Tochter des Buchdruckers Thomas Rebart geheiratet hatte. Wenig später hatte er auch den von seinem Schwiegervater für 10.440 Gulden erworbenen Druck und Handel der Schriften Luthers wieder aufgenommen, sich gegen Konkurrenten gewehrt und sich sogar gegen den Kurfürsten gewandt, als das vormals von Rebart „erkauft gut“ in eine befristete Privilegierung verdreht werden sollte.93 Steinmann war der Stardrucker in der Stadt mit einem weit über sie hinausreichenden Ruf, sein Impressum sollte Gerhards Schriften zieren, und Steinmann wollte Gerhard, der, wie die Schriften zeigten, eine flinke und gefällige Feder zu führen verstand, als Autor. Zunächst, noch zu Lebzeiten 91 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10757, vol. 2 (1616–1628), Bl. 201r–v, 1. Mai 1620. Erteilung des Privilegs im Sinne des Antrags für Formate in 4°, 8°, 12°, 18° und 24° mit Verpflichtung zur Lieferung von je 18 Exemplaren von jeder Ausgabe am 24. Mai 1620 (Bl. 200r–v, 209r). 92 Zu den Druckern Christoph Lippold (1575–1611), Kaspar Bertsch († 1633), Justus Hauck († 1618), Heinrich Rauchmaul (1584–1615), Johann Beithmann († 1626) und Tobias Steinmann (1556–1631) Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet: Auf Grundlage des gleichnamigen Werkes von Joseph Benzing. Wiesbaden 2007, S. 403, 140f., 404, 403. 93 Friedrich Lütge: Geschichte des Jenaer Buchhandels einschließlich der Buchdruckereien. Jena 1929, S. 34–37, 58 (unzutreffende Angabe über den Preis für ein Privileg). Vgl. den Brief von Tobias Steinmann an Kurfürst Christian II., 6. Dezember 1606 (ThHStA Weimar, Fürstenhaus B, Nr. 6141, Bl. 27a–28b) sowie den Brief von Rektor und Senat der Universität Jena an Kurfürst Christian II., 10. März 1606 (ebd., Bl. 18a–19b).

254

Ulman Weiß

von Lippold, nahm Steinmann den Tractatus über die Auslegung der heiligen Schrift und Band eins der Loci Theologici in Verlag, im nächsten Jahr, als Lippold, bevor er starb, noch einmal den Meditationes-Bestseller druckte, folgten Band zwei der Loci Theologici, die Aphorismi succincti et selecti und das Enchiridion consolatorium lateinisch und deutsch. Steinmann war es dann, der, „an stat herrn D. Gerhardi“, von jedem Druck die verlangten 25 Pflichtexemplare ans Oberkonsistorium nach Dresden schickte.94 Wahrscheinlich war er es auch, der Gerhard im Frühsommer 1613 den Verlag aller künftigen und der bisher erschienenen Schriften vorschlug; zu welchen Konditionen, ist nicht klar. Doch ging Gerhard auf sie ein; denn im Juni beantragte Steinmann bei Kurfürst Johann Georg ein Privileg sowohl über die Gerhard im Sommer 1608 privilegierten Schriften als über andere seither erschienene, deren Verlag Steinmann samt und sonders gerade an sich gebracht hatte: zehn Jahre lang sollte kein Titel im Kurfüstentum und im Herzogtum nachgedruckt, hier auch kein auswärts gedrucktes Exemplar verkauft werden bei 200 Gulden Strafe und Beschlagnahmung aller Bücher, die je zur Hälfte an die kurfürstliche Rentkammer und an Steinmann gegeben werden sollten; Steinmann erlangte nicht nur, dass ihm das Privileg für die Schriften, wie sie „specificiret“ waren, mit der üblichen Pflicht, 25 Exemplare ins Oberkonsistorium zu liefern, bewilligt wurde, sondern zu Michaelis 1614 auch, dass allen zur Messe in Leipzig weilenden Buchhändlern dieses Privileg und Steinmanns Inverlagnahme der Gerhardschen Schriften bekanntgegeben wurde.95 In Coburg gab Gerhard nur kleine, nach Coburg gehörende Gelegenheitsschriften unter die Presse, beispielsweise die Hochzeitspredigt auf den coburgischen Kammersekretär Heußner, die Erklärung für den coburgischen Landrentmeister Hack oder die Leichenpredigt auf den Tod des coburgischen Kanzlers Scherer.96 Nur mit Rücksicht auf diese Männer, denen er freundschaftlich verbunden war, hatte er zuvor schon das ihnen gewidmete Exercitium pietatis dem coburgischen Hofbuchdrucker verkauft. Gerhard hatte gleich so gute geschäftliche Kontakte zu Steinmann, dass dieser ihn ohne weiteres bitten konnte, sich in seinen, des Buchdruckers Belangen zu bemühen. Als beispielsweise die Fortsetzung eines Frankfurter Nachdrucks verhindert werden sollte, war es Gerhard, der darüber mit dem „freund“ und „Schwager“, dem kursächsischen Kammersekretär Ludwig Wilhelm Moser, in Dresden sprach, und der sicherte zu, Steinmanns Supplikation dem Kurfürsten vorzutra94 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10757, vol. 2 (1616–1628), Bl. 51a: Recognitionen des Oberkonsistoriums über eingelieferte Bücher, 21. Oktober 1610, 30. Januar 1613. 95 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10757, vol. 1 (1610–1613), Bl. 476a–479b (Tobias Steinmann an Kurfürst Johann Georg I., 30. Juni 1613), 475af., 480af. (Privileg, 16. August 1613). Da unter den Titeln auch die Meditationes sacrae, lateinisch und deutsch standen, die allerdings nie von Steinmann, sondern nur von Lippolds Nachfolgern Rauchmaul und Beithmann gedruckt wurden (Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 125, 162, 186, 238, 262, 320–322 sowie 85, 173, 251, 252, 268), müssen diese gegenüber jenem ein älteres Recht geltend gemacht und durchgesetzt haben. Albrecht Kirchhoff: „Zur älteren Geschichte der kursächsischen Privilegien gegen Nachdruck“, in: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels 7 (1882), S. 146–162, hier: S. 149. 96 Steiger/Fiers: Bibliographia Gerhardina, Nr. 121, 117, 113, 116, 131, 132.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

255

gen.97 Doch wurde Steinmann am Hofe verdacht, dass er die Bücher nicht, wie verlangt, in voller Zahl und sie auch nicht von jeder Ausgabe lieferte. Es erwies sich erst, als er im Oktober 1615 die zwischenzeitlich von Gerhard verfassten und ihm verhandelten Schriften zu privilegieren beantragte; zwar hatte er dem Schreiben drei „Recognitionen“ des Oberkonsistoriums beigelegt, aber auf denen stand die Postilla Teil eins, indes nicht Teil zwei bis vier, auch anderes, was im Sommer 1613 privilegiert worden war, fehlte. Daher wurde das beantragte Privileg nicht erteilt. Da aber Steinmann das Postillenwerk von Arndt mit der Vorrede von Gerhard ebenso wie eine neue Ausgabe von Gerhards eignem Postillenwerk bereits unter der Presse hatte, erhielt er im Januar 1616, vielleicht nach Vermittlung von Gerhard, für die beiden Titel eine Genehmigung, allerdings unter der Bedingung, dass er die ausstehenden Bücher bis zur nächsten Messe einsandte, und auch von den neu privilegierten, die zur Messe erscheinen sollten, 18 Exemplare lieferte.98 Aber das tat er nicht; Ende April schickte er von Arndts Postillenwerk nur 12 Exemplare und von Gerhards nur 10, darauf verweisend, dass das „werck sehr groß und theuer“ ist und einen großen Verlag verlangte. Doch das Oberkonsistorium bestand auf 18 Exemplaren, wenn Steinmann das Privileg über die anderen benannten Bücher haben wollte.99 Eine Zeitlang muss noch deliberiert worden sein; denn erst im Mai 1617 bekam Steinmann das begehrte Privileg für acht Jahre; gegenüber dem vorherigen war das Strafgeld auf 300 Gulden heraufgesetzt, die Zahl der Pflichtexemplare auf 18 herabgesetzt worden.100 Als dann die Prolongierung und Aktualisierung anstand, hielt es der Buchdrucker, eingedenk seiner Erfahrungen, für geraten, seinen am Hofe so angesehenen Autor zu bitten, das Schriftstück aufzusetzen. Gerhard erinnerte die Räte an das vor einigen Jahren für den Druck seiner „bücherlein“ gegebene Privileg, für das er und Steinmann sehr dankbar seien; da das Privileg bald auslaufe und er neue „bücherlein“ drucken lassen wolle, bitte er an Steinmanns statt, das Privileg zu renoviren und ihm die im folgenden verzeichneten „bücherlein“ zu „inseriren“. Bereits nach vier Wochen war das Privileg über alle im „Vorzeichnuß“ genannten Bücher bewilligt.101 97 SächsHStA Dresden, Geheimer Rat Loc 10024/7, Bl. 21a–22b (Tobias Steinmann an Ludwig Wilhelm Moser, 29. April 1612). Dem VD 17 ist der Nachdruck unbekannt. Gerhards Beziehungen zu Moser, dem die Postilla, Teil 1, zusammen mit Markus Gerstenberger und Caspar von Schönburg gewidmet war (oben, Anm. 27), erhellen insbesondere dessen Briefe vom 20. März und 8. Juni 1613 (FB Gotha, Chart. A 408, Bl. 258a und 286a). 98 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10575, vol. 2 (1616–1628), Bl. 49a–54b (Brief von Tobias Steinmann an Kurfürst Johann Georg I., 23. Oktober 1615, mit Beilagen) und 46a (4. Januar 1616). 99 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10575, vol. 2 (1616–1628), Bl. 47af., 55a (Brief von Tobias Steinmann an den kursächsischen Sekretär, 25. April 1616), 56a (Aktenvermerk, 8. Mai 1616). Steinmann könnte von dem letztendlich vergeblichen Protest der Leipziger Drucker und Verleger gegen die von drei auf 18 erhöhte Zahl der Exemplare gewusst haben (hierzu Kirchhoff: Geschichte, S. 154, 159). 100 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10575, vol. 2 (1616–1628), Bl. 45af., 58af. (19. Mai 1617). 101 SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10575, vol. 2 (1616–1628), Bl. 300a–301b: Brief von Gerhard an das Oberkonsistorium, 8. April 1622), 299af., 303a (Privileg, 8. Mai 1622),

256

Ulman Weiß

Einige wie die Aphorismi in Genesin Mosaicam. in 8 oder die Scholae pietatis libri 1. & 2 deudsch in 8. erschienen noch im selben Jahr und im angegebenen Format, andere aber wie das Enchiridion consolatorium in 8. erschienen in einem anderen Format, und wieder andere wie der Traktat Von der Tauff undt h. Abendmahl deudsch in 4. erschienen weder in diesem noch in einem spätern Jahr; hier blieb es bei der Druckabsicht.102 Gerhard hatte in seinem Schreiben versichert, dass Steinmann die Exemplare einschicken und die Gebühr für das Privileg bezahlen werde. Deren Höhe ist ebensowenig bekannt, wie es andere Kosten sind. Keiner der bei Steinmann unter der Presse gewesenen Drucke gibt zu erkennen, wieviel das Papier, wieviel der Satz gekostet hatte, auch nicht, wie hoch die Auflage war und wie hoch die Anzahl der Freistücke, die der Autor erhielt. Nur in der frühen Zeit wird Gerhard zum Druck der Disputationen Geld beigesteuert haben müssen, doch schon die Disputatio Theologica aus dem Jahre 1606 wurde nicht von ihm, sondern von Herzog Casimir, dem der Druck gewidmet war, finanziert; Scherer hatte es vermittelt.103 Seither trug Gerhard nie die Kosten; stets waren es die Drucker Lippold und seine Nachfolger sowie Steinmann; deren Impressum weist es aus: „Impensis & typis Christophori Lippoldi“ oder „Typis & sumtibus Tobiae Steinmanni“. Den Hinweis, dass die Werke nur „mit großen costen“ in Verlag genommen wurden, vergaß Steinmann nicht, wenn er ein Privileg beantragte.104 Mit den Kosten hatten er, wie vorher Lippold und seine Nachfolger, auch den Gewinn. Mehr ist kaum zu sagen; denn Einzelheiten sind selten zu sehen. Sicher ist, dass Gerhard die für den Satz fertige Vorlage selbst erstellte105 und in die Druckerei gab. Verfertigte er indes ein „Auftragswerk“, besorgte die Schönschrift ein Schreiber, dem Gerhard den „schreiblohn“ gab, den er im Falle der Erklerung der beyden Artickel von der heiligen Tauffe und von dem heiligen Abendmahl von Herzogin Christine, die alle, das „begerte buch“ betreffende Ausgaben trug, im voraus erhalten hatte.106 Als dann das buch anders als gewünscht ausgeführt worden war, verzichtete die Her-

102

103 104 105

106

302a (Vorzeichnuß der Bücher daruber h Steinmann ein Churfürstl. Sächß. Privilegium untherthänigst bitet, eigenh(ändig?)). Gerhard: Aphorismi theologici: Quibus controversiae tum textuales, tum doctrinales in Genesi Mosaica occurentes, summatim continentur […]. Jena 1622 (VD 17 14:701627A). Ders.: Scholae pietatis liber … Das ist/ Christlicher und heilsamer Unterrichtung/ was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher gestalt er sich an derselben uben soll […]. Jena 1622 (VD 17 3:301136P). Ders.: Scholae pietatis liber II. […]. Jena 1622 (VD 17 3:301138D). Ders: Enchiridion consolatorium morti ac tentationibus in agone mortis opponendum. Jena 1622 (VD 17 23:245883Q). FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 37af.: Brief von Volkmar Scherer an Gerhard, 8. Oktober 1606. SächsHStA Dresden, Oberkonsistorium Loc 10575, vol. 2 (1616–1628), Bl. 49b, ferner Geheimer Rat Loc 10024/7, Bl. 21a. Sehr anschaulich ist ein Druckmanuskript mit dem von zwei Setzern markierten Seitenwechsel in der jeweiligen Zeile, den eingetragenen Bogensignaturen und daraufhin durchgestrichenen, von Gerhard stammenden Blattzahlen und dessen sparsamen, auf den Rand geschriebenen Einfügungen: FB Gotha, Chart. B 465. FB Gotha Chart. A 601 Bl. 89a: Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 1. Juli 1610. Zur Begleichung von Schreibgebühren auch ebd., Bl. 164af.: Brief von Herzog Johann Casimir an Gerhard, 1. Dezember 1622).

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

257

zogin auf die Rückzahlung, weil sie nicht, wie sie erklärte, das Geld gegeben hatte, um „den geringsten pfennig“ zurückerstattet haben zu wollen, vielmehr sollte es Gerhard zu einer andern „gar gutten gelegenheit“, was hieß, für den Druck eines von ihr begrüßten theologischen Titels verwenden oder aber, im Falle ihres Todes, Armen reichen.107 Beim Kleinod, dem andern „Auftragswerk“, beglich Gerhard zunächst, was zu begleichen war, er bekam aber, nachdem er Herzog Wilhelm die Abrechnung der Brüder Stern (zusammen mit dem Widmungsexemplar) hatte zukommen lassen, das zugesagte Geld: 50 Reichstaler „druckerlohn“; schon vorher, in der Vorrede, hatte Gerhard herausgestellt, dass vom Herzog „ein rümliches“ für den Druck beigesteuert worden war.108 Undeutlich ist manchmal ein zeitlicher Zusammenhang mit dem Messetermin zu sehen, wenn beispielsweise die epistola dedicatoria für Herzog Friedrich Wilhelm II. erst am 1. Februar 1636 geschrieben wurde, aber schon am 20. März, dem Sonntag Oculi, die gedruckte Confessio catholica mit einer handschriftlichen Widmung versehen werden konnte.109 Überhaupt scheint es, als sei der Druck, hatte Gerhard das Manuskript eingeliefert, oft in kurzer Zeit vonstatten gegangen: Für das zweite Buch Scholae pietatis, dessen Vorrede er am 17. Oktober 1622 verfasst hatte, konnte die bewidmete Dorothea Sophie, die Äbtissin des Quedlinburger Stifts, bereits am 12. Dezember 1622 danken; ein paar Tage später, am 21. Dezember, schrieb Gerhard die Vorrede für das dritte Buch Scholae pietatis, das er ebenfalls Dorothea Sophie sowie ihrer Mutter, Herzogin Elisabeth, als ein „geringes Newjahrs Präsentlein“ widmete – sie dürften das Buch noch im Januar 1623 bekommen haben.110 Das Dankschreiben schickte die Äbtissin zusammen mit einem „vergüldt trinckgeschirr“. Die Halberstädter Ratsherrn bekräftigten ihren Dank an Gerhard als „werckzeug“ Gottes mit einem vergoldeten Pokal, die Ratsherrn in Straßburg, Ulm und Rothenburg taten das mit Münzen. Die kamen auch aus andern Städten, manchmal zwei ungarische Dukaten, wie aus Gotha, manchmal 16 Gulden, wie aus Lüneburg. Mit einem „vergültenn geschirr“ dankten die Leipziger Ratsherrn für mehrere Exemplare eines Disputationendrucks, die Erfurter Ratsherrn mit einem vergoldeten Becher: Das waren die von den Schweden im November 1636 geraubten, auf etliche tausend Gulden geschätzten „pretiosa an gülden und silbern Geschirr“, von denen Johann Major in der Leichenpredigt sprach111 – lauter Ehrengeschenke, die, wie ein „vergüldetes Becherlein“ von Herzog Johann Casimir oder Dukaten von Herzog Wilhelm, zu „gnediger ergetzunge“, zur „recompens“

107 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 95af.: Brief von Herzogin Christine an Gerhard, 1. April 1611. 108 FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 90a: Brief von Herzog Wilhelm IV. an Gerhard, 19. Dezember 1634). Gerhard: Kleinod, S. ixb. 109 Gerhard: Confessionis catholicae … libri II. Specialis Pars Secunda. Jena 1636. Handschriftliche Widmung auf Vorblatt des Exemplars FB Gotha, Th 80 109/3. 110 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 172a: Brief von Herzogin Dorothea Sophie an Gerhard, 12. Dezember 1622. Gerhard: Scholae pietatis liber III. […]. Jena 1623, S. b1a–b2a. 111 Major: Leichenpredigt, S. 311.

258

Ulman Weiß

gedacht waren.112 Diese Ehrengeschenke wollten in jedem Fall nichts andres sein als eine materialisierte Anerkennung, eine „würckliche bezeigung“ des Dankes, wie Herzogin Christine schrieb, sowohl für Gerhards Zugewandtheit zur bewidmeten Person als für sein fruchtbares Wirken zum Nutzen des Landes.113 Etwas andres als ein „honorarium“, ein Ehrengeschenk, war auch nicht üblich, bei theologischen Titeln zumal. Wenn dies doch geschah, konnte es in den Geruch der Simonie mit den Gaben des heiligen Geistes geraten.114 Etwas Theologisches zu Papier zu bringen galt nach wie vor nicht als eine Handwerksarbeit mit rechtlichem Anspruch auf Bezahlung.115 Selbst die „Auftragswerke“ für Herzogin Christine und Herzog Wilhelm wurden nicht im eigentlichen Sinne bezahlt, wohl aber mit einem als „recompens“ gedachten Geldbetrag gewürdigt.116 Der Vorwurf der Simonie war freilich nicht mehr als ein abgestandenes, schal gewordenes Argument. Gerhard selbst stellte es unter Beweis. Sehr früh hatte er die Gaben des Geistes, um es so zu sagen, nicht vergraben, vielmehr mit ihnen zu wuchern gewusst. Deshalb war der vermögende Steinmann sein Wunschverleger, und dieser hinwiederum wusste, was er an seinem Wunschautor hatte. Er wird Gerhard je nach Titel ein unterschiedlich hohes Bogenhonorar, auf jeden Fall aber Freistücke gegeben haben, und zwar, wie die vielen verschickten Exemplare zeigen, sehr reichlich. An ihnen dürfte Gerhard sehr gelegen gewesen sein, garantierten sie doch sowohl Gegengeschenke von Kollegen, mit denen er seine Bibliothek bestückte, als Ehrengeschenke von Obrigkeiten, die den Geldbetrag, den Steinmann ihm gegeben hatte (oder hätte geben können) mitunter deutlich überstiegen: beispielsweise das große Stück Wild, das ihm Graf Günther aus Arnstadt schickte nach dem Erscheinen des letzten Loci-Bandes.117 So war, was Gerhard aus der Publizistik zufloss, gewiss nicht wenig – auch im Vergleich mit den 175 Gulden jährlicher Besoldung als Professor118 oder den Einkünften aus dem Gut in Roßla mit den Feldern, Wiesen, Scheunen und Ställen. 112 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 172a: Herzogin Dorothea Sophie an Gerhard, 12. Dezember 1622. Chart A. 600 Bl. 352af.: Rat Halberstadt an Gerhard, 10. Juni 1625. Chart. A 601, Bl. 253a: Rat Straßburg an Gerhard, 7. September 1622; Bl. 249a: Rat Ulm an Gerhard, 27. April 1622; Bl. 251a: Rat Rothenburg/T. an Gerhard, 19. Februar 1622; Bl. 239af.: Rat Gotha an Gerhard, 1. Februar 1619; Bl. 235af.: Rat Lüneburg an Gerhard, 9. Juli 1617; Bl. 348a: Rat Leipzig an Gerhard, 29. Dezember 1624; Bl. 247a: Rat Erfurt an Gerhard, 27. April 1622; Bl. 164af.: Herzog Johann Casimir an Gerhard, 1. Dezember 1622. 113 FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 425a: Brief der Herzogin Christine an Gerhard, 27. Juli 1631, gleichsinnig Bl. 219af.: Graf Ludwig Günther an Gerhard, 3. Juli 1637. 114 Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 1. Leipzig 1886 (Nachdruck Leipzig 1970), S. 316 mit Anm. 69. 115 Prononciert noch Ahasver Fritsch: Abhandlungen von denen Buchdruckern, Buchhändlern, Papiermachern und Buchbindern. Regensburg 1750 (Nachdruck München 1981), S. 38: „Bücher=Schreiben kein Handwerck“. 116 FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 90a: Brief von Herzog Wilhelm IV. an Gerhard, 19. Dezember 1634. Von den zugesandten 60 Dukaten sollte Gerhard den „druckerlohn“ (50 Rt) bezahlen „unndt das ubrige pro labore zue einer recompens uffnehmen“. 117 FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 182af.: Brief von Graf Günther XLII. an Gerhard, 21. Februar 1621. 118 FB Gotha, Chart. A 600, Bl. 42a–43a.

Beobachtungen zur Publizistik Gerhards

259

Die Gnadenerweise, die die Bewirtschaftung begünstigten, galten immer dem Publizisten Gerhard, sei es, dass Herzogin Margarete in Meiningen ein Kalb aus der Schweiz für die Viehzucht verehrte, sei es, dass Herzog Ernst in Weimar sechs zweispännige Fuhren stellen ließ, um das Getreide vom Gut abzuführen.119 Gerhard war so vermögend, dass er 1.000 Reichstaler verborgen konnte – nicht zu reden von den Armen, die nie, ohne etwas bekommen zu haben, von seinem Haus Zum güldnen Stern in der Johannisgasse fortgingen.120 Zu diesem Wohlstand hatte die Publizistik erheblich beigetragen. Sie war derart an den Namen Steinmann gebunden, dass die Zeitgenossen, um ihn zu charakterisieren, davon sprechen konnten, er habe die „Tomos Lutheri“ und „sonsten die Schrifften D. Joh. Gerhards“ gedruckt.121 Gerhards bemerkenswerte Publizistik ging mit seinem Publikationsbewusstsein Hand in Hand. Geformt hatte es zu einem guten Teil der beizeiten prägnante Publikationswillen, der von Anfang an auf das Dogmatische und auf das Pastorale gerichtet war, mithin auf Breite und Tiefe. Was diesen Willen behinderte, war Gerhard zu beseitigen bemüht. Ebendeshalb, weil er in Coburg nicht täglich „mit gelerten leuten“ von theologischen Dingen „conferiren“ und seine Schriften, voran die Loci Theologici, nicht „continuiren“ konnte, strebte er aus der Residenz weg zur Universität.122 Sein Publikationsbewusstsein trachtete nie danach, einer Schrift durch die empfehlende Vorrede einer Zelebrität höhere Aufmerksamkeit zu verschaffen, oder ihr, als er selbst zur Zelebrität geworden war, als Frontispiz das von Johann Dürr in Kupfer gestochene Porträt beizugeben – es verbot sich. Hingegen entsprach es durchaus seinem Verständnis von Publizistik, in einer Reihe mit andern Autoren zu stehen, wenn ihn Themen wie die „Historia Christi“ beschäftigten; dann war das allgemeine Argument parat, dass die „höhern Gaben des Geistes bey und in andern Interpretibus desto besser erkennet und höher gehalten werden“.123 Aber er wußte auch um das Besondere seiner Publizistik, mit der er Position bezog zu den Problemen der Zeit, und dies so eindrucksvoll, dass er zu einer überragenden, wirkungsmächtigen Person im Luthertum wurde.

119 Major: Leichenpredigt, S. 311. FB Gotha, Chart. A 601, Bl. 346a: Brief von Herzogin Margarete an Gerhard, 23. April 1625. Chart. A 600, Bl. 97a: Brief von Herzog Ernst an Gerhard, 10. Mai 1636. 120 FB Gotha, Chart. A 480, Bl. 202b und 204b. Major: Leichenpredigt, S. 309. Haus und Hof Zum güldnen Stern mit dazugehörigem Weinwachs, Wiesen und Garten waren 1583 mit 621 Schock Groschen veranschlagt worden (StA Jena, Bücher Abt II, Nr. 23 (Steuer=Anschlag Anno 1659), Bl. 18a). 121 Johannes Major: Leichpredigt Tobiae Steinmanns/ Bürgers/ Rathsherrn/ Buchdruckers und Buchhändelers zu Jehna […]. Jena 1632, S. F3. Adrian Beyer: Architectus Jenensis. Hrsg. v. Herbert Koch. Jena 1936, S. 80. 122 Hierzu Punkt 7 und 12 der eigenhändig notierten Argumente gegen die Coburgische vocation (FB Gotha, Chart A 408, Bl. 289b, 290a). 123 Gerhard: Erklährung, S. 12.

RÜCKKEHR EINER VERFEMTEN DISZIPLIN Gerhards Privatvorlesung zur Metaphysik aus dem Jahre 1603/4 Sascha Salatowsky Die Geschichte der Metaphysik ist mit vielen Umbrüchen verbunden. Von Theophrast unter Zusammenführung einer losen Sammlung von Texten des Aristoteles begrifflich begründet, durchlief sie in Antike und Mittelalter zahlreiche Transformationen. Hierbei war sie stets dem Vorwurf ausgesetzt, eine überflüssige – weil ohne konkrete Gegenstandsbestimmung – oder gar gefährliche – weil auf vorchristlichen Grundlagen beruhende – Disziplin zu sein. Auch in den Anfängen der Reformation war ihr kein Glück beschieden. In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von den christlichen Standes Besserung von 1520 verbannte Martin Luther die aristotelischen Schriften zur Metaphysik, Physik, Psychologie und Ethik von den Gymnasien und Universitäten mit der Begründung, dass sie ein nichtiges, weil heidnisches Wissen von der Welt lehrten.1 Er sah die Redeweise des Apostels und die Weise des metaphysischen bzw. moralischen Redens als entgegengesetzt stehend an.2 In seiner berühmten Disputatio contra scholasticam theologiam von 1518 heißt es daher: „Es ist ein Irrtum, zu sagen: Ohne Aristoteles wird keiner ein Theologe. Vielmehr gilt: Keiner wird ein Theologe, wenn er es nicht ohne Aristoteles wird.“3 Philipp Melanchthon rechtfertigte diese Verwerfung der genannten aristotelischen Disziplinen ausdrücklich in seiner 1521 unter einem Pseudonym veröffentlichten Oratio Didymi Faventini adversus Thomam Placentinum, pro Martino 1

2 3

Vgl. WA 6, S. 457,35–458,2: „Hie were nu mein rad, das die bucher Aristoteles, Phisicorum, Metaphysice, de Anima, Ethicorum, wilchs biszher die besten gehalten, gantz wurden abthan mit allen andern, die von naturlichen dingen sich rumen, so doch nichts drynnen mag geleret werden, widder von naturlichen noch geistlichen dingen, datzu seine meynung niemant biszher vorstanden, und mit unnutzer erbeit, studiern und kost szoviel edler zeyt und seelen umb sonst beladen geweszen sein.“ Ausgenommen von dieser Verwerfung der aristotelischen Philosophie blieb nur der Bereich der Logik: „Das mocht ich gerne leyden, das Aristoteles bucher von der Logica, Rhetorica, Poetica behalten, odder sie in ein andere kurtz form bracht nutzlich geleszen wurden, junge leut zuuben, wol reden und predigen […].“ (Ebd., S. 458,26–28) Zu Luthers Verhältnis zu Aristoteles vgl. Theodor Dieter: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie. Berlin 2001. Vgl. WA 56, S. 334,14f. (Römerbrief-Vorl. 1515/6): „Modus loquendi Apostoli et modus metaphysicus seu moralis sunt contrarii.“ WA 1, S. 226,14f.: „Error est dicere sine Aristotele non fit theologus. Immo theologus non fit nisi id fiat sine Aristotele.“

262

Sascha Salatowsky

Luthero.4 Er begründete dies damit, dass die Metaphysik, die von Gott und seinen Eigenschaften, von der Einheit und Einfachheit, vom Intellekt und Willen spreche, zur Bildung der Christen nichts beitrage, sondern sich mit bloßen Worthülsen befasse. Aus all diesen Debatten seien die scholastischen Parteien der Thomisten, Skotisten und Occamisten hervorgegangen gleichsam aus einem demogorgonischen Chaos. Melanchthon ging in diesem Zusammenhang sogar soweit, Aristoteles als einen Atheisten zu bezeichnen, unter dessen Führerschaft die Scholastiker dem christlichen Himmel widerstreiten würden.5 Selbst als Melanchthon – mit Luthers Zustimmung – später große Teile der aristotelischen Philosophie rehabilitierte, ließ er die Metaphysik vom Kanon der philosophischen Disziplinen ausgeschlossen. Umso überraschender ist auf den ersten Blick die Rückkehr der Metaphysik am Ende des 16. Jahrhunderts. Für Walter Sparn kennzeichnet dieses Ereignis sogar „einen der erstaunlichsten Vorgänge in der Geschichte der protestantischen Universitäten“.6 Was war der Grund für die Renaissance dieser verfemten Disziplin? Wie kam es dazu, dass der lutherische Philosoph und Theologe Jacob Martini (1570–1649) ausgerechnet an der Wittenberger Universität 1603/4 über die Metaphysik disputierte und die Disputationsreihe sogleich veröffentlichte?7 Und Martini war nicht einmal der einzige und erste. An anderen protestantischen Universitäten geschah ähnliches. Bereits 1598 gab der reformierte Marburger Philosoph Rudolph Goclenius d.Ä. (1547–1628) seine Isagoge in Peripateticorum et Scholasticorum primam philosophiam8 heraus. Noch ein Jahr früher hielt der lutherische Philosoph Cornelius Martini (1568–1621) in Helmstedt seine Vorlesung zur Metaphysik, die allerdings erst 1605 unter dem Titel Metaphysica commentatio von einem Schüler veröffentlicht wurde.9 1604 erschien in Steinfurt die vielbeachtete Schrift Metaphysicae systema methodicum10 des reformierten Philosophen Clemens Timpler (1563/4–1624). 4

Vgl. CR 1, S. 301: „Damnat [sc. Lutherus] autem, si ignoras, eam philosophiae partem, quae de rerum principiis, ventorum ac pluviarum causis prodigiosas nugas comminiscitur, adeoque quidquid id est, quod Aristoteles vocat, φύσικα ἀκροάματα καὶ μετὰ τὰ φύσικα, damnat, quidquid de moribus a philosophis proditum est.“ 5 Vgl. CR 1, S. 76: „Ἄθεος est et vester [scholastici] ille, hirce, Aristoteles, quo duce, o Titanicam audaciam, coelum oppugnatis.“ 6 Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, S. 5. 7 Vgl. Jacob Martini: Theorematum Metaphysicorum exercitationes quatuordecim, continentes universam Metaphysicam in formam scientiae compendiose redactam, in duas partes tributam, veris praeceptis & Theorematibus compraehensam, acutissimis etiam quaestionibus, tam reliquarum facultatum; quam Philosophiae studiosis lectu, scituque & necessarijs & jucundis, explicatam. Wittenberg 1604. 8 Vgl. Rudolph Goclenius: Isagoge in peripateticorum et scholasticorum primam philosophiam, quae dici consuevit Metaphysica. Accesserunt disputationes huius generis aliquot. Frankfurt/Main 1598 (Nachdruck Hildesheim 1976). 9 Vgl. Cornelius Martini: Metaphysica commentatio compendiose, succincte, et perspicue, comprehendens universam Metaphysices doctrinam. Wittenberg 1605. 10 Vgl. Clemens Timpler: Metaphysicae systema methodicum, libris quinque comprehensum. In quo non tantum praecepta de rebus ad hanc disciplinam pertinentibus breviter & perspicue

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

263

Was war also der Grund für die Renaissance dieser umstrittenen Wissenschaft im Protestantismus? In den letzten hundert Jahren ist immer wieder über dieses Phänomen geschrieben worden.11 Schaut man sich die entsprechenden Vorreden in den Metaphysiken der Protestanten an, so wird deutlich, dass philosophische und zugleich theologische Motive für diese Renaissance verantwortlich waren. So wunderte sich Cornelius Martini, dass es überhaupt Gelehrte geben könne, die die Metaphysik als selbständige Disziplin verneinen und sie mit der Logik verwechseln könnten.12 Dies war ein deutlicher Seitenhieb gegen Petrus Ramus (1515– 1572) und seine Anhänger, die die Metaphysik wie Luther für überflüssig gehalten hatten. Martini betonte dagegen die Notwendigkeit einer philosophischen Realwissenschaft, die das betrachte, was die übrigen Wissenschaften als gesetzt voraussetzen würden: das ens qua ens, das Seiende als Seiendes. Zur Begründung verwies er auf die unhintergehbare Tatsache, dass das ens das primum cognitum, das Ersterkannte sei, von dem jedes Erkennen des Menschen, sei es auch noch so unbestimmt, seinen Ausgang nehme.13 Das theologische Motiv für die Wiederaufnahme der Metaphysik benannte Jacob Martini in seinen Exercitationes metaphysicae libri duo von 1608: Es ging um die Wiederlegung der Gegner, mit denen man in den Disputationen begrifflich die Klinge kreuzen müsse.14 Martini sprach hier aufgrund der ernüchternden Er-

11

12 13 14

traduntur; sed etiam ad confirmanda et illustranda praecepta, quaestiones controversae in utramque partem disputantur & deciduntur. Steinfurt 1604. Vgl. im Einzelnen Hans Emil Weber: Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie. Leipzig 1907. Peter Petersen: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921. Ernst Lewalter: Spanischjesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der iberisch-deutschen Kulturbeziehungen und zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus. Hamburg 1935 (Nachdruck Darmstadt 1967). Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939 (Nachdruck Hildesheim 1992). Sparn: Wiederkehr. Richard Schröder: Johann Gerhards lutherische Christologie und die aristotelische Metaphysik. Tübingen 1983. Ulrich Gottfried Leinsle: Das Ding und die Methode. Methodische Konstitution und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik. Zwei Bände. Augsburg 1985. Vgl. Cornelius Martini: Commentatio metaphysica, S. 5: „ut mirandum merito videatur, posse homines inveniri, qui nomen suum inter doctos profiteri ausint, & nihilominus negare Metaphysicam, aut eam cum Logica confundere […].“ Zur Metaphysik des Cornelius Martini vgl. Wundt: Schulmetaphysik, S. 98–103 und passim. Leinsle: Ding, S. 214–221. Vgl. Jacob Martini: Exercitationum metaphysicarum libri duo. Wittenberg 1608, praef., S. b4r: „Quandoquidem contra adversarios vel parum vel omnino nihil efficies sine terminorum Metaphysicorum cognitione & intellectu: quibus quidem in templo & pro concione ad vulgus non indiges, in scholis vero & disputationibus cum adversarijs minime illis carere poteris.“ Martini zitierte in seiner Vorrede einen Passus vom Wittenberger Theologen Salomon Gesner (1559–1605), in dem dieser die philosophische und theologische Notwendigkeit der Metaphysik begründet hatte: „Si nihil aliud esset in hoc libro Metaphysico, quam vocum illa & rerum ambigue varieque sumptarum expositio, ambabus, quod dicitur, manibus acceptandus foret. Quam turpiter enim multi labantur aut haerant, quoties […] de principijs […], de causis […] deque similibus, vel in Theologia, vel in alijs scientijs & artibus disserendum est, quotidie cum dolore experimur.“ (Ebd., S. b4r–v) Vgl. hierzu Wundt: Schulmetaphysik,

264

Sascha Salatowsky

fahrungen, die die Lutheraner bei einigen Religionsgesprächen mit den Katholiken, insbesondere den Jesuiten, machen mussten. Ernüchternd insofern, als sie selbst über keine ausgeprägte philosophische Begrifflichkeit verfügten, mit denen sie ihren Gegnern hätten Paroli bieten können. Das wurde ihnen spätestens 1597 klar, als die beiden voluminösen Foliobände der Disputationes Metaphysicae15 des Jesuiten Francisco Suárez (1548–1617) in Mainz veröffentlicht wurden. In dieser systematischen, das aristotelische Werk vereinheitlichenden Abhandlung zur Metaphysik fand sich die notwendige Klärung der auch theologisch relevanten Begriffe wie substantia, accidens, persona, actus, potentia und forma. So benötigte man für einige christliche Dogmen, wie die Trinitätslehre oder die ZweiNaturen-Lehre Christi, ein ganzes Arsenal philosophischer Begriffe, um ihnen ein Höchstmaß an Plausibilität und Nachvollziehbarkeit zu geben. Die theologisch inspirierte Metaphysik wurde auf diese Weise nach dem Mittelalter ein zweites Mal zur Königsdisziplin aller philosophischen Wissenschaften. Mit Recht kann man daher das 17. Jahrhundert das Jahrhundert der Metaphysik nennen. In dieser geistigen Atmosphäre des philosophisch-theologischen Streits, aber auch Umbruchs wuchs der junge Johann Gerhard (1582–1637) heran. 1599 begann er das Philosophiestudium in Wittenberg. Er hörte unter anderem Vorlesungen bei Wolfgang Franz (1564–1628) zur Ethik, bei Antonius Euonymus (gest. 1601) zur Dialektik und schließlich bei Johann Meelführer (1570–1640) zur Physik.16 Die Physik betraf auch Gerhards erste nachweisbare öffentliche Disputation, die er 1601 in Wittenberg bei Jakob Cocus (gest. 1638) im Rahmen einer Reihe Pro disputatione Physice, de motu, de infinito, de vacuo durchführte.17 Wie in der nachfolgenden Disputation bei Tobias Tandler (1571–1617) De facultatibus animae aus demselben Jahr18 bewies Gerhard bereits hier eine fundierte Kenntnis der philosophischen Tradition, die vor allem den Aristotelismus seiner Zeit umfasste. Sehr wahrscheinlich hat Gerhard in Wittenberg ferner die ersten Anfänge der erneuten Rezeption von Aristoteles’ Metaphysik an den lutherischen Universitäten

15

16

17 18

S. 52f. Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817. Köln u.a. 2002, S. 208f. Vgl. Francisco Suárez: Metaphysicorum Disputationum, in quibus et universa naturalis Theologica ordinate traditur, et quaestiones ad omnes duodecim Aristotelis pertinentes, accurate disputatur, tomi duo. Mainz 1630. Neudruck der Ausgabe in: Ders.: Opera omnia. Editio Nova ed. C. Berton. Tom. XXV & XXVI. Paris 1866. Im Folgenden zitiert nach dem Nachdruck Hildesheim u.a. 1965. Zu dieser Schrift vgl. Rolf Darge: Suárez’ transzendetale Seinsauslegung und die Metaphysiktradition. Leiden u.a. 2004. Vgl. ferner die verschiedenen Aufästze in dem Sammelband Victor M. Salas und Robert L. Fastiggi (Hg.): A Companion to Francisco Suárez. Leiden u.a. 2014. Zum Studium vgl. Erdmann Rudolph Fischer: Vita Joannis Gerhardi quam e fidis monumentis, magna ex parte nondum antea editis, atque ex instructissima serenissimi ducis gothani bibliotheca. Leipzig 1723, S. 18. – Der Verfasser bereitet gerade eine genauere Darstellung des Studiums von Gerhard in Wittenberg vor. Sie wird im Ausstellungskatalog „,Im Kampf um die Seelen‘ – Glauben im Thüringen der Frühen Neuzeit“ (Gotha 2017) erscheinen. Vgl. Jacob Cocus (Präs.) und Johann Gerhard (Resp.): Pro disputatione Physice, de motu, de infinito, de vacuo. Wittenberg 1601. Vgl. Tobias Tandler (Präs.) und Johann Gerhard (Resp.): Disputatio VII. De facultatibus animae in genere. Wittenberg 1601.

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

265

mitbekommen. Bekanntlich hat Zacharias Sommer 1596 Johann Versors Quaestiones in primam Aristotelis philosophiam19 neu herausgegeben und damit früh ein erstes Zeichen für die Notwendigkeit einer ersten Philosophie bzw. Metaphysik im Protestantismus gesetzt. Ehe ich dies näher ausführe, will ich kurz auf eine weitere Disputation eingehen, die Gerhard – diesmal als Präses – in Jena durchgeführt hat. Sie ermöglicht uns einen detaillierteren Einblick in seine philosophischen Kenntnisse sowie die Beantwortung der Frage, wie er selbst die Philosophie verstand und wie er ihr Verhältnis zur Theologie bestimmte. Diese Disputation kann als direkte Vorstufe seiner Vorlesung zur Metaphysik, die hier im Mittelpunkt des Interesses steht, verstanden werden. Es handelt sich um die bisher von der Forschung nicht beachtete Disputation De philosophiae constitutione vom 13. August 1603. Gerhard und sein Respondent Johann Friedrich Stromer, wohl ein Sohn des bekannten Juristen Johann Stromer (1526–1607), begannen ihre Disputation mit der bekannten Unterscheidung zwischen dem liber scripturae als der von Gott gegebenen Offenbarung und dem liber naturae als der von Gott gegebenen Schöpfung.20 Die Betrachtung der Natur, wie sie im Rahmen der Philosophie erfolgt, ist auf diese Weise ,schon immer‘ theologisch gerechtfertigt, dient sie doch der Gotteserkenntnis. Auch die Beschreibung der Philosophie als medicina animae hält sich vollkommen in den Bahnen der aristotelischen Tradition, die Gerhard in diesem Zusammenhang von Thomas von Aquin über Duns Scotus bis hin zu den Jesuiten zitierte. Letztlich verstand er die Philosophie ganz klassisch als einen habitus animae, der nicht angeboren sei, sondern erworben werden müsse. Bei der Frage nach der Einteilung der Philosophie in ihre theoretischen und praktischen Disziplinen kam Gerhard auf den von dem Jesuiten Benedictus Pererius (1536–1610) formulierten bahnbrechenden Vorschlag zu sprechen, die Erste Philosophie, welche die Transzendentien betrachtet, von der Metaphysik bzw. natürlichen Theologie, welche Gott und die Intelligentien zum Gegenstand hat,21 zu trennen. Gerhard stimmte dieser Ansicht vollkommen bei, mögen auch viele ältere und jüngere Autoren dem widersprochen haben.22 Gerhard war ferner damit einverstanden, diese natürliche Theologie als ein Anhängsel der Ersten Philosophie mitaufzunehmen, da es nur „weni19 Vgl. Johann Versor: Quaestiones in primam Aristotelis philosophiam. Wittenberg 1596. 20 Vgl. Johann Gerhard (Präs.) und Johann Friedrich Stromer (Resp.): Theoremata de philosophiae constitutione. Jena 1603, S. A2r: „Quamvis enim naturalis illa notitia admodum tenuis & respectu revelatae sunt fere nulla: tamen cum divina veritas τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ in creaturis elucere asserat: non dubitemus magnum illum Naturae librum […] evolvere, ac discipuli simus non solum Prophetiae sed & naturae.“ 21 Vgl. Benedictus Pererius: De communibus omnium rerum naturalium principijs & affectionibus libri quindecim. Köln 1595, l. I, c. VII, S. 23: „Necesse est esse duas scientias distinctas inter se; Unam, quae agat de transcendentibus, & universalissimis rebus: Altera, quae de intelligentijs. Illa dicitur prima Philosophia & scientia universalis; haec vocabitur proprie Metaphysica, Theologia, Sapientia, Divina scientia.“ Hierzu Elisabeth Rompe: Die Trennung von Ontologie und Metaphysik: Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts. Bonn 1967. 22 Vgl. Gerhard/Stromer: Theoremata, S. B1r: „Perer[ius] lib. 1. Phys. c. 6 p. 22 abunde probat: quamvis plerique & veteres & recentiores Interpretes dissentiant.“

266

Sascha Salatowsky

ges“ sei, was wir auf natürlichem Wege von Gott und den Intelligentien erkennen könnten.23 Ausführlicher setzte sich Gerhard am Ende der Disputation mit der Frage auseinander, wie die Philosophie in ihrem Verhältnis zum Glauben zu bewerten sei. Klar war für ihn, dass die Differenz zwischen beiden zu bewahren sei. Denn aus der Erkenntnis der Philosophie erwachse nicht eine solche zu erhoffende Vollkommenheit, die den Menschen per se Gott gefällig bzw. der ewigen Gückseligkeit teilhaftig mache. Daraus dürfe man jedoch keinesfalls die Folgerung ziehen, dass sie vollkommen nutzlos sei. Es sei zwar richtig, dass aus den Philosophenschulen immer wieder Verteidiger der Häretiker gleichsam wie aus dem trojanischen Pferd hervorgegangen seien, „aber die Mängel der Künstler darf man nicht den Künsten selbst zuschreiben“.24 Gerhard gebrauchte hier die im Aristotelismus übliche Unterscheidung zwischen usus & abusus, um den angemessenen Gebrauch der Philosophie auch in den theologischen Sachen zu rechtfertigen. Hierzu gehörte vor allem der Hinweis auf das Metabasis-Verbot, also das Verbot, die Prinzipien der einen Disziplin auf eine andere zu übertragen.25 Gerhard konnte daher sagen: Die Philosophie muss in ihrem Bereich und Kreis gehalten werden, wie Herr Luther sehr richtig mahnt, und Hagar darf sich nicht die Herrschaft von Sara anmaßen. Wie nämlich der Natur die Gnade, der Magd die Herrin, dem Schüler die Lehrerin, der Zeit die Ewigkeit, dem Sichtbaren das Unsichtbare [übergeordnet ist], so ist die Theologie der Philosophie übergeordnet, die sie nicht verwirft, sondern in den Gehorsam gefangen nimmt.26

Auch mit dieser Ansicht vertrat Gerhard eine Position, die im Luthertum ganz geläufig war. Diese Zuordnung von Philosophie und Theologie sollte vor allem einen einheitlichen Wahrheitsbegriff sicherstellen, in dem das philosophisch Wahre mit dem theologisch Wahren übereinstimmt.27 Eine Grenze findet sich dort, wo 23 Vgl. Gerhard/Stromer: Theoremata, S. B1v: „Quia vero perpauca sunt quae de summo illo Entis & formis abstractis naturali rationis lumine cognoscimus, quia Dies principij causantis & Naturae naturantis rationem obtinet, sicut caetera generalia in Metaphysicis rationem principij ad cognoscendum: quia denique haec nobilior subiecti pars, ideo παραφυάδος instar haec tractatio generali Metaphysicae adiungitur.“ Unter erneutem Hinweis auf Pererius. 24 Gerhard/Stromer: Theoremata, S. B4r: „Sane nullo colore negari potest, plures olim ex Philosophorum Scholis prodiisse haereticorum patronos quam ex equo Troiano milites; sed artificum vitia, artibus imputanda non esse norunt etiam illi qui nondum aere lavantur.“ 25 Zu diesem ganzen Zusammenhang im Luthertum vgl. Sascha Salatowsky: Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung. Stuttgart-Bad Canstatt 2015, S. 116–124. 26 Gerhard/Stromer: Theoremata, S. C1r: „Relinquenda est in sua Sphaera & cyclo Philosophia ut rectissime D. Luther monet, neque Agar imperium in Saram sibi sumat; ut enim Naturam gratia ut ancillam Domina, discipulam Magistra, tempus aeternitas, visibilia ea quae non videntur, sic Theologia Philosophiam superat, quam non abijcit, sed in obsequium sumit.“ 27 Zu den Debatten im Luthertum vgl. im Einzelnen mit weiterer Literatur: Sparn: Wiederkehr, S. 164–169. Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004, S. 281–288. Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 104–115.

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

267

etwas supra & contra rationem nostram steht, d.h. vor allem bei den christlichen Mysterien, die vor dem Zugriff der menschlichen Vernunft geschützt werden müssen. Gerhards Disputation endete daher mit einem ausgeprägten Fideismus, wenn es heißt: Wenn du Vernunft in diesen Geheimnissen suchst, dann antworte ich nicht: Gott hat dies gesagt, sein Wort ist die höchste Vernunft. Mir genügt zur Glaubwürdigkeit allein die Person, die es sagt. Warum sollte ich nämlich untersuchen, auf welche Weise wahr ist, was Gott sagt, da ich nicht bezweifeln darf, dass es wahr ist, weil Gott es sagt.28

Was Gerhard in dieser Disputation nur am Rand streifte, nämlich die Frage, was genau der Gegenstand der Metaphysik sei, scheint einige Freunde und Bekannte stärker interessiert zu haben. So jedenfalls ließe sich bequem erklären, warum Gerhard am 11. November 1603, wie es sein Biograph Erdmann Rudolph Fischer vermerkt, mit seiner Privatvorlesung zur Metaphysik des Aristoteles und ihrer Auslegung durch ausgewählte Interpreten begann. Gerhard war damit der erste, der diese Disziplin in Jena öffentlich gelehrt hat.29 Der genaue Titel der Vorlesung, dessen Manuskript sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet, lautet: „Einführung in die Metaphysik. Ausgearbeitet in Jena im Jahre 1603/4 und ebendort privat vorgetragen.“30 Fischer äußerte in diesem Zusammenhang die Vermutung, dass sich Gerhard bei seiner Vorlesung an Cornelius Martinis Einführung zur Metaphysik orientiert habe, die dieser von November 1597 bis zum Oktober 1599 in Helmstedt gehalten hatte. Er verwies hierfür auf eine Abschrift, die sich noch heute in Gerhards Nachlass befindet.31 Wie Gerhard an diese Abschrift von Martinis Manuskript gekommen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Die Handschrift schien damals jedoch weit verbreitet gewesen zu sein. Sicher ist dagegen, dass Fischer mit seinem Hinweis auf Martini die Forschung bis jetzt davon abgehalten hat, Gerhards Manuskript selbst in die Hand zu nehmen. Max Wundt, Bengt Hägglund und Richard Schröder begnügten sich in ihren entsprechenden Studien jeweils damit, auf Fischers Aussage zu ver-

28 Gerhard/Stromer: Theoremata, S. C1v: „Concludamus cum Cassiano: si rationem in hisce mysticis quaeris, non reddo: Deus hoc dixit, Verbum illius summa ratio est: sola mihi ad credulitatem sufficit persona dicentis. Quid enim quaererem quomodo verum sit quod Deus dixit, cum dubitare non debeam quin verum sit, quia Deus dixit.“ 29 Vgl. Fischer: Vita, S. 27f.: „Precibus deinceps amicorum quorundam adductus die XI. Novembris [sc. 1603] Metaphysicam, Aristoteli eiusque selectioribus interpretibus conformem, tradere coepit. Quam disciplinam ante eum in Academia Salana neminem unquam docuisse memoriae prodiderunt.“ 30 Vgl. Gerhard: Isagoge Metaphysicae. Eleborata Jena Annis [1]603.604. ibidemque privatim praelecta. FB Gotha, Chart. B 281, Bl. 137r–216r. 31 Vgl. Fischer: Vita, 28: „Credo, eum in tradenda illa in Cornelium Martini secutum, quippe cuius Compendium Metaphysicae, ex Aristotele et eius interpretibus in Academia Iulia anno 1597 & sequenti propositum, inter Collegia Gerhardi manu descripta inveni.“ Hierbei handelt es sich um das folgende Manuskript: Compendium Metaphysices ex Aristotele eiusque interpretibus traditum in incluta Julii a clarissimo viro M. Cornelio Martini Logices ibidem Professore anno [15]97 et 98. FB Gotha, Chart. B 452, Bl. 4r–64v.

268

Sascha Salatowsky

weisen, ohne die Inhalte von Gerhards Metaphysik am Manuskript selbst zu überprüfen.32 Damit ist das Ziel des vorliegenden Beitrags umrissen. Nachfolgend sollen die wesentlichen Inhalte von Gerhards Metaphysik skizziert werden. Hierbei soll geprüft werden, inwieweit wir es mit einem eigenständigen Werk zu tun haben bzw. ob es sich um eine bloße Variante von Martinis Metaphysik-Konzept handelt. Um diese Frage beantworten zu können, sollen in einem ersten Schritt kurz die wesentlichen Inhalte von Martinis Metaphysik rekapituliert werden. In einem zweiten Schritt folgt dann die Darstellung von Gerhards Metaphysik mit einem Schwerpunkt bei der Seins- und Gotteslehre. Es sei gleich einleitend darauf hingewiesen, dass es sich um eine Einführung in die Metaphysik für Studenten handelt, die entsprechend knapp ausfällt. Gerhards Fokus war klar auf die Vermittlung der wesentlichen Inhalte dieser neuen Disziplin gerichtet, nicht auf die Diskussion umstrittener Thesen. Selten findet sich eine Beschreibung der eigenen Position. Alles Polemische ist getilgt, auch Differenzen zu den anderen Konfessionen werden nicht deutlich gemacht. Gerhard diskutierte nicht einmal das Für und Wider dieser spekulativen Disziplin, die nun an den protestantischen Hochschulen ihre Wiederkehr feierte. Er verfasste seine Vorlesung so, als ob die Metaphysik schon immer ein Teil des Curriculums gewesen wäre. Zu bedenken bleibt schließlich, dass es sich um die Vorlesung eines 21jährigen Magisters der philosophischen Fakultät handelt, der eine Disziplin darzustellen hatte, die im Protestantismus gerade im Entstehen begriffen war. Man darf also nicht zu viel erwarten. 1. DIE METAPHYSIK-VORLESUNG VON CORNELIUS MARTINI Cornelius Martini gilt als „der eigentliche Neubegründer der Metaphysik auf protestantischem Boden“.33 Dafür lassen sich zwei Gründe benennen: Wahrscheinlich hielt er als erster überhaupt eine Vorlesung zur Metaphysik an einer protestantischen Universität. Ferner legte er die erste systematische Abhandlung zur Metaphysik vor, die nicht mehr kommentierend verfährt, sondern den ganzen Stoff in jene Ordnung bringt, die vom Allgemeineren und zuerst Gewussten zum Spezielleren fortschreitet. Diese Systematisierung erfolgte bei Martini ganz unabhängig von Suárez’ Disputationes Metaphysicae, die er erst später kennengelernt hat. Nach einer knappen Einführung, Prolegomena genannt, beschrieb er im ersten Abschnitt das Seiende mit seinen Eigenschaften, ehe er im zweiten, deutlich schmaleren Abschnitt die verschiedenen Arten des Seienden, nämlich Gott und die Intelligentien, anhand des Substanzbegriffs erläuterte.34 Genauer nimmt die 32 Vgl. Wundt: Schulmetaphysik, S. 126. Bengt Hägglund: Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. Lund 1951, S. 9. Schröder: Gerhard, S. 14. 33 Wundt: Schulmetaphysik, S. 35. 34 Nachfolgend eine Inhaltsübersicht mit Seitenangaben von Martinis Commentatio: [1] Prolegomena in Metaphysicam Aristotelis. [12] De subiecto scientiae Metaphysicae. [20]

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

269

Darstellung ihren Ausgang von der Bestimmung des Seienden, das Martini als erstes Transzendenz verstand. Da dieses verschiedene Grade von Vollkommenheit haben kann, werden zuerst das Begriffspaar Akt und Potenz verhandelt. Da es verursacht sein muss, folgen die Ursachenlehre und anschließend die Unterscheidung von Notwendigkeit und Kontingenz. Erst dann folgen die Transzendentalien unum, bonum & verum, die bei Suárez ganz am Anfang der Behandlung stehen. Auffällig ist auch, wie stark Martini die erkenntnistheoretische Dimension der Metaphysik im Sinne der vita contemplativa betonte: Die Vollkommenheit des Menschen bestehe darin, zu erkennen. Die Objektivität der Erkenntnis wird für Martini dadurch sichergestellt, dass unser Wissen von den Gegenständen als ihr Maß gemessen wird und nicht umgekehrt.35 Die Unterschiede dieser Objekte sorgen dabei dafür, dass es nicht eine Disziplin für alle Dinge geben kann. Sehr wohl muss es aber eine Disziplin geben, die anders als die übrigen Wissenschaften nicht einen bestimmten Teil des Seienden zum Gegenstand hat, sondern das Seiende als solches: Hierbei handelt es sich eben um die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes in den Blick nimmt.36 Auch wenn Martini diesen Begriff noch nicht verwendete, so ist diese Universalwissenschaft bei ihm nichts anderes als eine Ontologie, die auf das abstrakte Wesen des Seienden abzielt, nicht auf die konkrete Existenz.37 Martini war sich dabei dessen bewusst, dass der spezielle Teil der Metaphysik, der sich mit den Intelligentien und Gott als dem primum ens beschäftigt, im eigentlichen Sinne einer anderen Disziplin zugehören müsste. Er bezweifelte nicht, dass es neben den materiellen Substanzen auch geistige Substanzen gibt, für die es gemäß dem Grundsatz: „Wo ein Subjekt, dort eine Wissenschaft“, ebenfalls eine spezifische Wissenschaft geben muss. Aristoteles habe sie, so Martini, nur deswegen in die allgemeine Metaphysik als einen besonderen Teil integriert, da es nur weniges sei, was unser Intellekt von den Intelligentien und Gott erkennen könne.38 Martini referierte nachfolgend die aristotelische Position, nicht ohne hier und da kleine Vorbehalte anzumerken. So hielt er es für gottlos, alle Intelligentien

35 36 37 38

Argumenta librorum Metaphysicorum Aristotelis. [28] De ente. [38] Transcendentis primi entis explicatio. [43] De potentia et actu. [46] De potentia. [51] De potentia activa. [67] De potentia passiva. [78] De actu. [100] De causis. [118] De efficiente causa. [126] De causa formali. [136] De materia. [142] De causa finali. [148] De necessitate et contingentia. [171] De contingente. [175] De uno. [214] De finito et infinito. [222] De perfectione et imperfectione. [232] De priore et posteriore. [250] De vero. [260] De bono. [269] Res. [272] Aliquid. [274] De speciebus entis. [288] De substantia. [309] De intelligentiis. [322] De primo ente. Vgl. Martini: Commentatio, S. 2: „Porro cum scientia nostra sit uti mensuratum aliquod, quod ab obiectis suis tanquam mensura mensuretur […].“ Vgl. Martini: Commentatio, S. 3. Vgl. Martini: Commentatio, S. 32. Vgl. Martini: Commentatio, S. 308f.: „Ita quoque haec de intelligentijs, & de prima omnium & suprema causa, videlicet Deo Opt. Max. peculiaris requirebatur tractatio, in qua talis res illae considerarentur, quatenus tales […]. Sed cum ad illas res ita caliget intellectus noster ut parum admodum sit, quod de ijs intelligimus naturaliter, non potuit tam exiguae cognitioni una peculiaris scientia destinari.“

270

Sascha Salatowsky

für ewig zu halten, obgleich er ihre Funktion als die ersten Beweger des Himmels verteidigte. Die oberste Intelligenz bzw. das primum ens sah er als die erste und höchste Ursache von allem an, die er mit dem höchsten und besten Gott gleichsetzte. Eine nähere Beschreibung dieses primum ens gab er jedoch nicht. Er benannte abschließend nur kurz drei Beweise vom Dasein Gottes, die aus der Bewegung, der Abhängigkeit und der Unterordnung der Dinge resultierten.39 Jeder könne also erkennen, dass ein Gott sei, ein Gott, der ewig, unermesslich, im höchsten Grade gut und vollkommen sei. 2. AUFBAU UND STRUKTUR VON GERHARDS METAPHYSIK Vergleicht man Gerhards Metaphysik-Vorlesung mit jener von Martini, so fällt ein ähnlicher, aber nicht identischer Aufbau auf. Auch er begann seine Metaphysik mit einer knappen Einführung in die Disziplin, die er den damaligen Gepflogenheiten der Zeit entsprechend „Praecognita“40 nannte. Innerhalb dieser Einführung – eines notwendigen Basiswissens, worum es bei dieser Disziplin geht – wird ihr Begriff und ihre Gattungszugehörigkeit im System der Wissenschaften erklärt sowie ihr Gegenstand, Ziel und ihre Definition bestimmt. Wie Martini, so kannte auch Gerhard die damaligen Standardwerke der Aristoteliker zur Metaphysik, Logik und Naturphilosophie sehr genau und wusste ihre Bedeutung einzuschätzen. Er zitierte gleich auf der ersten Seite seiner Vorlesung den Begründer des berühmten Collegium Conimbricence, Pedro Fonseca (1528–1599), nachfolgend auch Pererius und Suárez, allesamt Jesuiten, die damals, wie bereits ausgeführt, das Maß aller Dinge in der Philosophie waren. Fonseca hat den wohl umfangreichsten Kommentar zu Aristoteles’ Metaphysik verfasst.41 In seiner Vorrede begründete er ausführlich, warum man im Christentum der aristotelischen Weise des Philosophierens den Vorzug vor allen anderen philosophischen Schulen geben müsse: Sie habe bisher nur wenige oder beinahe keine Häretiker hervorgebracht.42 Wie bereits erwähnt, unterbreitete Pererius den Vorschlag einer Trennung von Erster Philosophie als Ontologie und Metaphysik als natürlicher Theologie43 – ein Vorschlag, den Gerhard, wie wir gleich sehen werden, auch in seiner Metaphysik-Vorlesung befürwortete. Wenn er daneben noch die italienischen Peripatetiker Giacomo Zabarella (1532–1589)44 und 39 Vgl. Martini: Commentatio, S. 324f. 40 Vgl. Gerhard: Isagoge, praec., c. I, Bl. 140v. Vor die praecognita setzte Gerhard die Einteilung der Philosophie in einen theoretischen und praktischen Teil, um die Metaphysik im Wissenschaftssystem zu verorten. Vgl. ebd., S. 138r–139r. Die nachfolgenden Seiten (139v–140r) sind von Gerhard komplett durchgestrichen worden. Hieran erkennt man, dass er nicht von Anfang an das ganze Programm der Metaphysik vor Augen hatte, sondern noch nach dem besten Zugriff suchte. Hierbei war Martinis Vorlage nur eine Möglichkeit unter vielen. 41 Vgl. Pedro Fonseca: Commentariorum in libros Metaphysicorum Aristotelis Stagiritae tomi quatuor [1577–1612]. Köln 1615 (Nachdruck Hildesheim 1964). 42 Vgl. Fonseca: Commentarius, t. I, l. I, Proœm., c. V, Sp. 27D–E. 43 Vgl. Anm. 21. 44 Vgl. Giacomo Zabarella: Opera logica. Köln 31597 (Nachdruck Hildesheim 1966).

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

271

Julius Cäsar Scaliger (1484–1558)45 sowie den mittelalterlichen Kommentator Averroes (1126–1198) zu Wort kommen ließ, so ändert dies nichts an der Dominanz der Jesuiten: Sie waren es, mit denen sich jeder protestantische Metaphysiker auseinanderzusetzen hatte, sei es positiv durch die Übernahme ihrer Systematik, Struktur, Begrifflichkeit und Inhalte, sei es negativ durch die Betonung der Differenzen. Die gemeinsame Grundlage war und blieb dabei die ratio philosophandi Aristotelis.46 Sie war als Schulphilosophie im besten Sinne eine Philosophie für alle, keine Philosophie für Insider mit einer eigenen Begrifflichkeit, wie es später üblich wurde. In diesem Rahmen bewegte sich auch Gerhard bei der Benennung der metaphysischen Vorkenntnisse. Als Genusbestimmung der Metaphysik benannte er die Weisheit (sapientia),47 die er ganz im Sinne von Aristoteles als eine geistige Haltung (habitus mentis) definierte, die sich zusammensetzt aus den beiden geistigen Haltungen Wissen (scientia) und intuitiver Verstand (intellectus): Wissen bezeichnet eine Haltung, in der ich über das Gewusste verfüge, also Gründe benennen kann, warum sich etwas – und zwar notwendigerweise – so verhält, wie es sich verhält. Der intellectus kennzeichnet dagegen eine Haltung, in der ich intuitiv über die obersten Prinzipien verfüge, zu denen z.B. der Satz vom Widerspruch gehört. Weisheit ist daher die vollkommenste Form der Erkenntnis. Sie kennzeichnet den höchsten theoretischen Habitus, den der Mensch erwerben kann. Die Metaphysik als sapientia zielt dabei auf die schwierigsten, weil von den Sinnen am weitesten entfernten Dinge ab. Zugleich ist ihre Erkenntnis die sicherste, weil sie alles aus den Prinzipien ableitet. Als ihren eigentlichen Gegenstand benannte Gerhard nachfolgend ganz im Sinne von Aristoteles und seinen Schülern „das Seiende, insofern es seiend ist“.48 Er erklärte diese auf dem ersten Blick merkwürdige Formel unter Berufung auf Averroes ganz klassisch wie folgt: Das erste Seiende bezeichnet den Gegenstand dieser Disziplin (res considerata), das zweite kennzeichnet die Art und Weise, wie das Seiende betrachtet wird (modus considerandi), nämlich als Seiendes. Die Metaphysik zielt folglich auf die Beschreibung jenes Gegenstandes ab, der alles umfasst, was überhaupt ist. Es geht um die Antwort auf die Frage: Was ist das Wesen des Seienden mit seinen Eigenschaften, losgelöst von den Bedingungen des Hier und Jetzt? Die Metaphysik ist damit eine abstrakte Disziplin, die jenes in

45 Vgl. Julius Cäsar Scaliger: Exotericarum exercitationum liber XV. de subtilitate ad Hieronymum Cardanum. Paris 1557. 46 Vgl. hierzu Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 70–76. Hierbei dürfen die bestehenden Differenzen innerhalb des Aristotelismus natürlich nicht übersehen werden, vgl. ebd., S. 76–90. 47 Vgl. Gerhard: Isagoge, praec., c. II, Bl. 141r: „habitus autem animi quinario numero comprehendit Philosophus: 6. Ethic. c. 3. et seqq. [EN VI 3, 1139b16f.] quodnam ex his proprium Metaphysices genus sit, disquiritur; nos pro sapientia concludimus […].“ 48 Vgl. Gerhard: Isagoge, praec., c. III, Bl. 142r: „Tale [sc. subiectum demonstrationis] in Metaphysica esse dicimus Ens in quantum Ens.“ Vgl. Aristoteles: Met. IV I, 1003a21f. Ebenso Suárez: Disp. I, sect. I, nr. 26, S. 11a. Cornelius Martini: Metaphysica, S. 6.

272

Sascha Salatowsky

den Blick nimmt, was die anderen Wissenschaften als unhinterfragt voraussetzen. Sie fragt nach der Struktur dessen, was ist. Wie soeben bei Pererius angedeutet, blieb es eine stets umstrittene Frage, auf welche Weise Gott, die Engel und die Intelligentien (einschließlich der anima separata) als Seiende von besonderer Qualität Gegenstand einer solchen Metaphysik sein können. Sofern nämlich die Metaphysik eine allgemeine Wissenschaft vom Seienden ist, steigt sie nicht zu dem besonderen Seienden hinab, das sich nicht bzw. nicht ohne weiteres unter das allgemein bestimmte Seiende subsumieren lässt. Dies galt natürlich insbesondere für das höchste Seiende: Gott. Gerhard schloss sich in diesem Zusammenhang wie erwähnt dem Vorschlag von Pererius an, die Lehre vom Seienden – die seit Goclenius so genannte Ontologie49 – von der Lehre über die Intelligentien – die später von Valentin Fromme (1601-1679) so genannte Pneumatologie50 – zu trennen. Weil es aber überhaupt nur wenig sei, so Gerhard, was das natürliche Licht ohne das Licht der Gnade von den Intelligentien und Gott erkennen könne, könne es gleichsam nebenher vom Philosophen im Rahmen der allgemeinen Metaphysik mitbehandelt werden.51 Für Gerhard bestand die Metaphysik folglich aus drei Abschnitten. Der erste handelt vom Seienden im Allgemeinen, der zweite vom höchsten Seienden und der dritte von den Intelligentien und Gott.52 Was hier – wie im Übrigen auch bei 49 Vgl. Rudolph Goclenius: Lexicon philosophicum quo tanquam clave Philosophiae fores aperiuntur. Frankfurt/Main 1613 (Nachdruck Hildesheim 1964), hier: S. 16a: „ὁντολογία & philosophia de ente“. 50 Vgl. Valentin Fromme: Gnostologia, Hoc est, doctrina generalia totius philosophiae fundamenta methodice per praecepta, praeceptorum exegesin, exempla & consectaria exhibens. Wittenberg 1631, hier: Appendix, S. 159: „Quod si doctrina de spiritibus, Pneumatologiae, de homine Anthropologiae nomine recte insignitur […].“ 51 Vgl. Gerhard: Isagoge, praec., c. V, Bl. 143r: „Dicimus cum Pererio: Si exacte res ponderetur, non absurde quinque distinctas Theoreticae partes constitui posse: Physicam, Mathematicam, Theologiam naturalem, Doctrinam Intelligentiam et Metaphysicam generalem: quibus etiam sextam viz. ψυχολογίαν non absurde adiungi putamus. Quia vero paucula sunt, quae lumen naturae lumine gratiae destitutum de Intelligentiis et Deo perspicit, ideo παρεισαν malis et complementi loco Theologia naturalis et disciplina [?] Intelligentiarum, Metaphysicae generali a Philosopho subiuncta est.“ 52 Nachfolgend die Inhaltsübersicht von Gerhards Metaphysik: [138r] Divisio philosophiae. [140v] Praecognita. [140v] Caput I. Quae huius disciplinae nomina sint? [141r] Caput II. De vero Metaphysices genere tractat. [141v] Caput III. Quodam obiectum sive subiectum Metaphysices sit, inquirit. [142v] Caput IV. Finem Metaphysices determinat. [142v] Caput V. Definitionem eius ex superioribus constituit. [143v] Caput VI. Metaphysices partes distinguit. [143v] Caput VII. Summam librorum Aristotelicorum continet. [149r] Tractatus primus. De Ente in genere (Metaphysica generalis). [149r] Sectio I. De Entis naturalis divisionibus. [149r] Caput I. De divisione entis in ens per se & per accidens. [149v] Caput II. Divisionem entis complexi et incomplexi declarat. [150r] Caput III. Entis realis et rationalis explicationem continet. [150v] Caput IV. In entis rationis pleniorem σκέψιν continet. [151r] Caput V. Quid de non ente observandum. [152r] Caput VI. Non entis aequivocationis declarat. [152v] Caput VII. in veritatem quod ens sit primo cognitum, inquit. [153v] Caput VIII. axiomata quoddam utilissima de ente proponit. [154r] Sectio II. De entis affectionibus in genere. [154r] Caput I. Utrum ens veras et proprias passiones habeat? [154v] Caput II. Differentiam harum passionum declarat. [155r] Caput III. Sintne Transcendentia sufficienter

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

273

Cornelius Martini – noch in einer Metaphysik, wenn auch unterteilt in eine Metaphysica generalis & specialis, vereint ist, wird erst bei Abraham Calov (16121686) strikt voneinander getrennt: Bei ihm wird die Metaphysik als reine Ontologie konzipiert, ohne Gottes- und Engelslehre.53 Gerhard steht hier sichtlich am Anfang einer Entwicklung im Protestantismus, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu einer klaren Trennung der Metaphysik in eine Erkenntnistheorie (Noologie und Gnostologie), Seinslehre (Ontologie) und Lehre von den Intelligentien (Pneumatologie) durchgedrungen ist. Die Schwierigkeit liegt im Seinsbegriff selbst begründet, der das materielle und immaterielle Seiende umfassen soll. Dies wird weiter unten deutlicher werden. 3. DIE SEINSLEHRE Der Abschnitt De Ente in genere umfasst über zwei Drittel von Gerhards Einführung in die Metaphysik. In ihm werden die Prinzipien des Seienden, seine Einteilungen sowie einfachen und disjunkten Zustände bzw. Eigenschaften erläutert. Anders als Cornelius Martini erörterte Gerhard zunächst die zu den einfachen affectiones gehörenden Transzendentalien unum, bonum et verum, ehe er in knapper Form die disjunkten Eigenschaften actus et potentia, causa et causatum, necessitas et contigentia usw. besprach. Von besonderer Bedeutung ist bei Gerhard der zweite Teil des ersten Abschnitts über die Einteilung des Seienden in Substanz und Akzidens. Hier wird deutlich, inwiefern der Substanz- und damit der Seinsbegriff insgesamt äquivok ausfallen. Da die Substanz der immateriellen Wesen von gänzlich anderer Art ist als die der materiellen Wesen, führt dies zu einer äußersten Beanspruchung der philosophischen Begrifflichkeit, was weiter unten am Gottesbegriff verdeutlicht werden soll. Zunächst gilt es, Gerhards Seinslehre genauer in den Blick zu nehmen. enumerata? [155v] Caput IV. Sintne res et aliquid vera transcendentia? [156r] Sectio III. De affectionibus entis unitis seu simplicibus. [156r] Caput I. De uno. [159v] Caput II. De vero. [164r] Caput III. De bono. [168v] Caput IV. De re. [169r] Caput V. Quid sit aliquid. [169v] Sectio IV. De affectionibus entis disiunctis. [169v] Caput I. De actu et potentia. [179v] Caput II. De causis et causato. [190r] Caput III. De necessitate et contingentia. [193r] Caput IV. De toto et partibus. [194v] Caput V. De eodem et diverso. [196v] Caput VI. De finito et infinito. [198v] Caput VII. De priore et posteriore. [199v] Caput VIII. De Universali et particulari. [201r] Pars altera huius primi tractatus de speciebus entis. [205r] Tractatus II. Metaphysices de intelligtentijs. [210r] Tractatus III. Metaphysices de Deo. 53 Vgl. Abraham Calov: Scripta Philosophica. I. Gnostologia. II. Noologia, seu habitus intelligentiae. III. Metaphysicae divinae pars generalis. IV. Metaphysicae divinae pars specialis. V. Encyclopaedia mathematica. VI. Methodologia vel tractatus de methodo docendi et disputandi. VII. Ideae encyclopaedias disciplinarum realium, philosophiam universam, facultates superiores, ut et logicam repraesentantes. Lübeck 1651, hier: Metaphysica divina, Proleg., S. 102: „Scientia de ente Metaphysica appellatur communiter a rerum ordine, ὁντολογία rectius ab objecto proprio.“ Ebd., S. 114f.: „Hallucinantur proinde, qui vel Deum, vel substantiam immaterialem Objectum Metaphysicae constituunt indolem Sapientiae plane ignorantes.“

274

Sascha Salatowsky

Eine Eigentümlichkeit des Begriffs ens besteht bekanntlich darin, dass er nicht definiert werden kann. Von ihm kann keine Gattungsbestimmung benannt werden, da er unter nichts subsumiert werden kann. Nichts ist allgemeiner als das Seiende. Es ist der erste Begriff, das erste Gedachte (primum cognitum), das, wenn auch unbestimmt und unbewusst, im Geist positiv geprägt wird. Alles, auch das Nicht-Seiende, wird als seiend angesprochen, wie Gerhard unter Berufung auf Goclenius betonte.54 Hierbei handelt es sich nicht etwa um ein sprachliches Problem, das man durch eine andere Grammatik lösen könnte. Sondern es ist unsere Denkstruktur, die sich selbst ein bloß vorgestelltes Wesen nur als seiend vorstellen kann. Wichtig ist hierbei, so Gerhard, dass man aus dem Satz: „Der Zerberus ist ein Nicht-Seiendes“, nicht folgert: „Der Zerberus ist“. Hierbei ist nämlich zu bedenken, dass das ens reale nicht nur partizipial zu verstehen ist, als das, was gerade existiert, sondern auch nominal als das Wesen (essentia) unabhängig von der Frage, ob es jetzt gerade aktuell existiert. Von einer Rose zur Winterzeit gilt nicht: sie ist nicht, sondern sie ist möglich, auch wenn sie aktuell nicht existiert. Damit bewegt sich die Metaphysik, wie Schröder betonte, auch „im Bereich des Möglichen“55. Möglich ist danach alles, was keinen Widerspruch in sich schließt. Diese Unterscheidung zwischen dem, was ist bzw. möglich ist, und dem, was man sich bloß vorstellt, führte in der Scholastik zur Unterscheidung zwischen einem wirklichen Seienden (ens reale) und einem Gedankending (ens rationis). Gerhard übernahm diese Einteilung. Er definierte das ens reale als ein solches Seiendes, das unabhängig davon existiert, ob es gerade gedacht wird oder nicht.56 Dazu zählte Gerhard nicht nur die eigentlichen entia realia wie Pferd und Löwe, sondern auch durch die species intelligibiles vermittelte Willensakte. Ein ens rationis bezeichne dagegen ein solches Seiendes, das nur im Denken existiere, wie die sogenannten Begriffe zweiter Ordnung (notiones secundae) Gattung und Art, die im Blick auf Existierendes gebildet würden.57 Zum ens rationis werde aber auch bloß Vorgestelltes wie eine Chimäre gerechnet, der keinerlei Realität in der uns bekannten Welt zukomme. Eine vieldiskutierte Frage war nun, inwieweit das non ens Gegenstand der Metaphysik sein könne. Bekanntlich hat Timpler in seiner Metaphysik das omne intelligibile zum Gegenstand dieser Disziplin benannt, und zu diesem omne intelligibile rechnete er nicht nur das Seiende (ens, aliquid, res), sondern auch das Nicht-Seiende (non ens, nihil), da auch ihm ein esse in intellectu zukomme.58 54 Vgl. Gerhard: Isagoge, tract. I., s. I, c. II, Bl. 150r: „Ratione huius ut recte colligit Goclenius Metaph. 1. cap. tanta est vis essendi ut etiam non Ens esse Non Ens dicitur.“ 55 Schröder: Gerhard, S. 20. 56 Vgl. Gerhard: Isagoge, tract. I., s. I, c. III, Bl. 150r–v: „Plenius ergo et perfectius Ens reale definiendum, quod habet esse extra Intellectum ut producitur a ratione effectiva reali et est in aliquo subiective.“ 57 Vgl. Gerhard: Isagoge, tract. I., s. I, c. IV, Bl. 151r: „Hoc demum Ens rationis progignit descriptionem si expertis dicere potes Ens rationis est quod in nullo esse subiective, sed consequetur rem ut ea est obiective in intellectu; ut genus, species, syllogismus.“ 58 Vgl. Timpler: Metaphysica, l. I, c. I, S. 1: „Metaphysica est ars contemplativa, quae tractat de omni intelligibili, quatenus ab homine naturali rationis lumine sine ullo materiae conceptu

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

275

Gerhard lehnte eine solche Erweiterung des Gegenstandbereiches der Metaphysik ab. Er verstand unter dem ens in der Formel ens qua ens genauer ein ens reale. In der Nachfolge von Suárez konzipierte Gerhard damit die Metaphysik als eine Realwissenschaft, die alles wirklich Existierende zum Gegenstand hat, Existierendes, das nicht erst durch das Denken ist oder wird, sondern ihm voraus liegt und aus sich selbst heraus ist. Gleichwohl diskutierte er ausführlich das Wesen des ens rationis, an dem eine ontologische und erkenntnistheoretische Dimension zu unterscheiden sei. Es gebe ein ens rationis, das objektiv auf ein ens reale zurückführbar sei bzw. der Natur einer Sache entspreche, wie z.B. die Gattung oder Art, die als Sache in der Natur zwar nicht vorkämen, aber vom Intellekt im Blick auf wirklich Existierendes gebildet würden. Davon zu unterscheiden seien jene Gedankendinge, denen in der Wirklichkeit nichts entspreche, wie eben die Chimären oder andere Fabelwesen. Im Blick auf die Erkenntnisfähigkeit bestand für Gerhard ein klarer Unterschied zwischen dem ens reale und dem ens rationis: Nur was ist, kann klar erkannt werden. Umgekehrt gilt: Was nicht ist, kann aufgrund seiner höchsten Unvollkommenheit kaum oder gar nicht erkannt werden. Doch auch beim ens reale gebe es unterschiedliche Grade des Erkennens, je nachdem, ob es unserem Denken leicht oder schwer zugänglich sei. So könne Gott als summum ens aufgrund seiner höchsten Vollkommenheit von uns nicht umfassend erkannt werden. Nachfolgend fasste Gerhard das Wissen um das Seiende in insgesamt 16 Axiomata zusammen, die wesentliche Züge seiner Ontologie verdeutlichen: 1. Das Seiendsein kommt allen Dingen zu, da es von allen ausgesagt wird (nach Savonarola). 2. Dem ens entspricht keine Gattung und keine Differenz (nach Savonarola). Es kann daher nicht definiert werden. 3. Das Nichts entzieht sich dem ens rationis. Es hat daher schlechthin keinen Seinsgrund. 4. Was durch die Teilhabe ein Seiendes ist, ist ein Seiendes verursacht von einem anderen (nach Thomas von Aquin). 5. Das Einzelne ist im eigentlichen Sinne (nach Javellus). 6. Was wird, ist nicht (nach Scaliger). 7. Nichts ist, das nicht sein Wesen hat (nach Zabarella). 8. Das Wesen unterscheidet sich der Sache nach nicht von dem, dessen Wesen es ist (nach Goclenius). D.h. Wesen und Existenz sind identisch. 9. Was nur immer ist, ist ein reales oder intentionales Ding (nach Fonseca). 10. Das Gedankending hat kein Sein, wenn es nicht erkennbar ist (nach Scaliger). 11. Das Nicht-Seiende hat keine Qualitäten, keine Gründe und kein Wesen (nach Scaliger). 12. Jedes Seiende ist durch ein anderes Seiendes oder durch Gott (nach Scaliger). 13. Das Nicht-Seiende hat keine Akzidentien, keine Wirklichkeiten (nach Goclenius). est intelligibile.“ Zur Erläuterung heißt es ebd., c. I, q. V, S. 7: „Metaphysicus enim non tantum contempletur ens, sed etiam non ens, adeoque essentiam & privationem entis […].“

276

Sascha Salatowsky

14. Das Nicht-Seiende wird allein durch die Beraubung des Seins erkannt. 15. Wie ein jedes ist, so ist es auch tätig. 16. Das allgemeinste Axiom lautet: Etwas ist oder ist nicht.59 Dieses zuletzt genannte Axiom bildete als Satz vom Widerspruch das Grundprinzip der ganzen Metaphysik: Etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein (vgl. Met. IV 3, 1005b19–25). Wie bedeutsam dieses Prinzip auch für die theologische Arbeit sein konnte, wird daran ersichtlich, dass die Sozinianer mit ihm die Lehre von der Trinität und den zwei Naturen Christi aus den Angeln hoben. Leider diskutierte Gerhard derartige philosophisch-theologische Zusammenhänge in seiner Metaphysik-Vorlesung nicht. Erst in den Loci theologici – seinem theologischen Hauptwerk, das er zwischen 1610 und 1622 verfasste60 – sowie in der Schrift Methodus studii theologici von 162061 setzte er sich ausführlicher mit dem Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. Vernunft und Glauben auseinander, was hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht.62 Vielmehr gilt es, den Begriff der Substanz in den Blick zu nehmen, der uns zum Grunddilemma einer christlichen Metaphysik führt. Der Begriff der Substanz wird bei Gerhard im zweiten Teil des ersten Traktats unter der Überschrift De speciebus entis zusammen mit dem Begriff des Akzidens verhandelt, da beide Komplementärbegriffe seien. Wie Martini63, so definierte auch Gerhard die Substanz gemäß der aristotelischen Vorlage als ein Seiendes, das weder in einem Zugrundeliegenden ist noch von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird.64 Sie ist in anderen Worten ein ens per se subsistens, ein Seiendes, das durch sich selbst besteht und keines anderen bedarf, um weiter bestehen zu können. So sind der Apostel Paulus, dieser Baum dort, dieser Tisch hier jeweils eine Substanz, da sie weder in einem Zugrundeliegenden sind noch von ihm ausgesagt werden. Die Substanz ist dasjenige, was sich in allem Wandel durchhält. Sie macht das Seiende zu einer Einheit. An einem Tisch sind viele Akzidentien beschreibbar, doch erst die Sammlung in einer Substanz macht den Tisch zu einem Tisch. Die schwierige Frage lautet nun: Kann Gott als Substanz bestimmt 59 Vgl. Gerhard: Isagoge, tract. I., s. I, c. VIII, Bl. 153v: „1. Ens est omnium communissimum, cum de omnisbus praedicatur. 2. Ens nec sit genus nec differentias. 3. Nihil subterfugit rationem Entis. 4. Quod per participationem est Ens causatur ab alio est Ens. 5. Singularium proprie est Esse. 6. Quod fit, non est. 7. Nihil est quin habeat suam essentiam. 8. Essentia non distinguitur re ab eo cuius est essentia. 9. Quicquid est est reale aut intentionale. 10. Intentionale non sit esse nisi esse cognitum. 11. Non entis nullae qualitates, nullae rationes, nulla essentia. 12. Omne ens propter aliud, propter Deum. 13. Non entis nulla accendentia, nulla ἐνεργείαι. 14. Non Ens sola privatione Entis intelligitur. 15. Unumquidque quidem est, ita operatur. 16. Generalissimum est axioma: Quodlibet est aut non est.“ 60 Vgl. Gerhard: Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose, solide et copiose explicatorum tomus primus. Jena 1610. Die weiteren neun Bände erschienen in Jena 1611–1622. Es wird nach der Edition von Preuss (Berlin 1863–1875) zitiert. 61 Vgl. Gerhard: Methodus studii theologici. Jena 1654, S. 89–131. 62 Vgl. hierzu Schröder: Gerhard, S. 26–35. 63 Vgl. Martini: Commentatio, S. 288. 64 Vgl. Gerhard: Isagoge, Bl. 201v: „Est autem substantia Ens quod non esse in subiecto […].“

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

277

werden? Gerhard antwortete wie viele christliche Philosophen vor und nach ihm: Der Begriff der Substanz trifft auf Gott nur in analoger Weise zu, denn er ist im eigentlichen Sinne keine Substanz, sondern als Urheber und Fundament aller Substanzen ist er mehr als eine Substanz, also gewissermaßen supra substantiam.65 Aufgrund unserer Geistesschwäche könnten wir diese Beschreibung allerdings nicht verstehen. Mit dieser absoluten Sonderstellung Gottes wollte Gerhard wie vor und nach nach ihm viele Gelehrte (so auch Jacob Martini66) den Abstand zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung gewahrt wissen: Gott ist, was die Welt nicht ist. Gleichwohl muss Gott natürlich beschreibbar und in gewisser Weise auch erkennbar sein. In welcher Weise das zu geschehen hat, ist Gegenstand der Metaphysica specialis, die den letzten Abschnitt von Gerhards Vorlesung bildet. 4. DIE GOTTESLEHRE Die Metaphysica specialis ist an sich kein unnatürliches Anhängsel der allgemeinen Seinslehre. Sie hat ihren Ort bereits in der Metaphysik des Aristoteles. Die Metaphysik ist insofern die erste Philosophie oder auch Theologie, wie Aristoteles selbst betonte, als sie über das Bewegte, Veränderliche und Werdende hinaus zu einem Seienden vorstößt, das das ontologische Ideal eines ewigen und unbewegten Bewegers erfüllt.67 Hierbei handelt es sich um den göttlichen Nous, der im zwölften Buch der Metaphysik als actus purus, als reines Wirken ohne Passivität und ohne Materie68 sowie als „Denken des Denkens“69 bestimmt wird. Er hat keine Größe, ist unzerlegbar, unaffizierbar und unwandelbar. Kurzum: Gott ist ein „lebendiges, ewiges und bestes Wesen“.70 Nun gab es einige Aristoteliker, die mit dieser heidnischen Beschreibung vollends zufrieden waren und sich nicht weiter über den christlichen Gott äußern wollten. Ich verweise hier nur auf Pietro Pomponazzi (1462–1525), Andrea Cesalpino (1519–1603) und Cesare Cremonini (1550–1631), die dem radikalen Flügel des Aristotelismus angehörten. Doch das war die seltene Ausnahme. Die meisten Aristoteliker bemühten sich, den Gottesbegriff der Metaphysik mit dem christlichen Schöpfergott zu harmonisieren. Wie gesehen, ist auch Cornelius Martini zu diesen Vertretern zu zählen, auch wenn er sich damit begnügte, den Gottesbegriff rein innerphilosophisch zu entwickeln. Noch einen Schritt weiter ging der Helmstedter Georg Calixt (1586–1656), der die natürliche Gotteserkenntnis ganz der christlichen Philosophie überantwortete und sie aus der Theologie vollkommen ausschloss. Dass Gott sei, dass er einer sei, unendlich, vollkommen, weise, mächtig, sich selbst genü65 Vgl. Gerhard: Isagoge, Bl. 202r: „An Deus in substantia praedicamento? Respondeo analogice […] ad ordinem praedicamentalem referri Deum: licet enim sit supra substantiam, substantiarum omnium autor et fundamentum […].“ 66 Vgl. Jacob Martini: Exercitationes, l. II, exerc. IV, S. 649f. und 655. 67 Vgl. Aristoteles: Met. XII 6, 1071b3f. 68 Vgl. Aristoteles: Met. XII 6, 1071b19–21. 69 Aristoteles: Met. XII 9, 1074b34. 70 Aristoteles: Met. XII 7, 1072b28f.

278

Sascha Salatowsky

gend – das alles seien Erkenntnisse, die nicht in das Gebiet der Theologie, sondern in das der Philosophie, genauer in das der Metaphysica specialis fallen.71 Allein das Übernatürliche, dasjenige, was mit dem Licht der Vernunft nicht aus den natürlichen Prinzipien gefolgert werden könne, sondern aus der Hl. Schrift entnommen werden müsse, sei von der Theologie zu verhandeln. Diese konsequente Haltung Calixts lag Gerhard fern, und er beschränkte sich anders als Cornelius Martini auch nicht darauf, nur den aristotelischen Gottesbegriff zu beschreiben. Vielmehr stellte er von Anfang an in seiner Metaphysica specialis den christlichen Schöpfergott in den Vordergrund, den er unter Rückgriff auf bestimmte aristotelische Attribute des unbewegten Bewegers beschrieb. Dabei verschwieg er die Differenzen zwischen beiden Gottesvorstellungen nicht. Dies sei abschließend kurz gezeigt. Gerhard setzte im dritten Traktat seiner Metaphysik-Vorlesung als erstes Theorem den Satz: „Gott wird in gewisser Weise aus der Schöpfung erkannt.“72 Diese natürliche Gotteserkenntnis könne gemäß der Lehre des (Pseudo-) Dionysius Areopagita auf dreifache Weise geschehen: als via eminentiae, negationis & causalitatis.73 So kann aus den Wirkungen auf den göttlichen Verursacher gefolgert werden – wie beim menschlichen Körper, aus dessen vollkommener Anordnung wir in Gott die Weisheit, Güte und Macht erkennen. Gerhard ging sogar so weit, in Anknüpfung an Augustinus von (wenn auch dunklen) Spuren der Trinität in der Schöpfung zu sprechen, die in der Dreiheit mens, notitia & amor zum Vorschein kämen.74 Zugleich betonte er, dass Gott einer sei, der als einziges Seiendes durch sich selbst sei. Durch ihn sei alles andere. Als Schöpfer von allem sei er allmächtig. Daher sei er in der Lage, alles aus dem Nichts zu erschaffen.75 Diese Lehre vom Schöpfergott markiert gewiss den größten Abstand zum aristotelischen Nous, der nur sich selbst denkt. Diesem Gegensatz entspricht die Differenz zwischen der theologischen Lehre von der creatio ex nihilo und jener philosophischen Ansicht von der aeternitas mundi, wie sie Aristoteles vertrat. Im selben Zusammenhang wird jedoch deutlich, wie viel Aristotelisches im christlichen Gottesbegriff Gerhards steckt. Das belegt das folgende Zitat: „Da aber alles in Gott Tätigkeit ist wegen der höchsten Einfachheit, Gott aber ewig ist, ist es notwendig, dass jener [göttliche] Intellekt von Ewigkeit her in Tätigkeit ist. Da der Intellekt wiederum immanente Tätigkeit ist und von Ewigkeit her ist, stand 71 Vgl. Georg Calixt: „Epitome theologiae“ (Goslar 1619), in: Ders.: Werke in Auswahl. Bd. 2. Hrsg. von Inge Mager. Göttingen 1982, S. 67: „De Deo itaque quoniam lumine rationis e rebus factis (Rom. 1, v.19) colligit et concludit Philosophia, quod sit, quod unus sit, infinite, perfectus, bonus, sapiens, potens , sibi sufficiens etc. huiusmodi missa facit Theologus, sive ut rectius loquar, praesupponit, tanquam in inferioribus disciplinis tractata et demonstrata, et tantum ex propriis sibique peculiaribus principiis, nimirum divina literis, ea persequitur, quae alioquin ingenio humano incognita forent et inpervia.“ 72 Gerhard: Isagoge, Bl. 210r: „Ex creaturis Deus quodammodo cognoscitur.“ 73 Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita: De mystica theologia, c. 2, in: PG 3, 1025A. Ders.: De divinis nominibus, c. 7, § 3, in: PG 3, 879–871. 74 Vgl. Gerhard: Isagoge, Bl. 210v–211r: „Vestigium tamen Trinitatis in creaturis.“ Vgl. Augustinus: De Trinitate IX 2,2–5,8. 75 Vgl. Gerhard: Isagoge, Bl. 213v: „Potuit Deus omnia ex nihilo creare.“

Rückkehr einer verfemten Dizsiplin

279

Gott nur der eigene Intellekt entgegen. Daher erkannte er sich selbst im selben Akt, und das vollkommen, da es in Gott nichts Unvollkommenes gibt.“76 Diese Äußerungen hätten auch im zwölften Buch der Metaphysik stehen können. Trotz aller Betonung der Differenz zwischen dem aristotelischen Nous und dem christlichen Gott zeigt sich hier bei Gerhard die große Gefahr, in der sich diese christliche Metaphysik stets bewegte: Hier konnte die Metaphysik eine, wie Schröder es nannte, „verdeckte Zensur ausüben, indem ihr Seinsideal und ihre Theologie zur Richtschnur dessen wurde, was der christlichen Theologie zu sagen und zu denken erlaubt war“.77 Auch Gerhards weitere Bestimmungen – Gott ist unsterblich, weise, gut, ewig, absolut einfach und unkörperlich – lassen sich auf ähnliche Weise bei Aristoteles finden. Gegen den naheliegenden Einwand, der von den Philosophieverächtern rund um Daniel Hofmann78 auch vorgebrachte wurde, wem diese philosophische Gotteslehre nütze, da man sie doch vollkommener, einfacher und mit weniger Gefahr aus der Schrift selbst entnehmen könne, verwies Gerhard auf den doppelten Nutzen dieser metaphysischen Lehre: Zum einen könne aus ihr erkannt werden, dass ein Gott sei, zum andern könne man durch sie Ungläubige oder noch Unwissende an die Bibel heranführen.79 Es ließe sich leicht zeigen, dass wir eine ähnliche natürliche Gotteslehre in den Loci theologici finden.80 Ich begnüge mich an dieser Stelle mit einem Zitat von Richard Schröder, der in seinem Buch zu Gerhards Christologie zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gekommen ist: „Mit der Schrift beweist Gerhard noch einmal, dass es Gott gibt, dass er unkörperlich, unsichtbar, einfach, ewig, unveränderlich, unsterblich, unendlich ist und wie die anderen göttlichen Eigenschaften heißen, die die gleichzeitige Schulphilosophie in philosophischer Verantwortung lehrt. Gerhard beweist sie alle aus der Schrift und aus der Vernunft oder auch zuerst oder gar nur aus der Vernunft.“81 Letztlich stoßen wir hier auf das bereits erwähnte Grundproblem einer christlichen Metaphysik bzw. einer metaphysischen Dogmatik: Es kommt nolens volens – trotz aller Bemühungen, Philosophie und Theologie nicht miteinander zu vermischen – zu einer erneuten Verschleifung der beiden Disziplinen. Die Angst vor einer doppelten Wahrheit war in diesem Falle größer als jene, in die scholastische Haltung zurückzufallen. Dass der Aristotelis76 Gerhard: Isagoge, Bl. 211r: „Cum autem omnia in Deo actus propter summam simplicitatem, et vero Deus aeternus sit, intellectum illum ab aeterno in actu necesse est; intellectus vicissim cum sit actus immanens, et ab aeterno, Deo nihil obvium fuerit nisi ipse, igitur seipsum eo actu intelligebat, idque perfecte, nihil enim in Deo imperfectum.“ 77 Schröder: Gerhard, S. 2. 78 Vgl. hierzu Friedrich: Grenzen der Vernunft. 79 Vgl. Gerhard: Isagoge, Bl. 215v. 80 Vgl. Gerhard: Loci theologici, t. I, lc. II, c. VIII, S. 299a: „Ut ergo ordine attributa divina explicemus, sequemur eorum divisionem sexto loco propositam et distinctas eorum classes constituemus: Primae classis attributa sunt, quod Deus sit: 1. essentia spiritualis, incorporea, invisibilis. 2. summe simplex. 3. aeterna, immutabilis, immortalis. 4. infinita, ubique praesens. Sit ergo.“ Vgl. die nachfolgenden Beschreibungen ebd., S. 299–331. 81 Schröder: Gerhards lutherische Christologie, 35.

280

Sascha Salatowsky

mus und die orthodoxe Dogmatik zur selben Zeit ihre Bedeutung verloren, verdeutlicht, wie innig diese Verbindung gewesen ist. Gerhards Metaphysik-Vorlesung von 1603/4 – das sollte mit dieser knappen Beschreibung und Einordnung in den zeitgenössischen Kontext gezeigt werden – steht ganz am Anfang einer Entwicklung, die die umfassende Systematisierung des Stoffes und vor allem die Bestimmung der Metaphysik als reine Ontologie, aber auch die schweren Krisen ihrer Anfeindungen noch vor sich hatte. Auch wenn die lutherischen Philosophen und Theologen stets die Nähe zu Luthers Theologie betonten, so orientierten sie sich dabei doch nicht an seinen ganz frühen Äußerungen, die so etwas wie eine „Ontologie der Zukunft“ entwarfen. So heißt es ganz programmatisch in seiner Römerbrief-Vorlesung von 1515/16: Anders philosophiert und denkt der Apostel über die Dinge als die Philosophen und Metaphysiker. Weil die Philosophen das Auge so sehr in die Gegenwart der Dinge versenken, dass allein deren Wesenheiten und Qualitäten betrachtet werden; der Apostel aber wendet unsere Augen weg von der Betrachtung der Dinge, wie sie gegenwärtig sind, von deren Wesen und Akzidentien und lenkt sie auf das hin, was sie zukünftig sind. Er sagt nämlich nicht ,Wesen‘, ,Tätigkeit‘ des Geschöpfes, ,Handlung‘, ,Erleiden‘ oder ,Bewegung‘, sondern er sagt mit einem neuen und bewundernswerten theologischen Wort ,Erwartung des Geschöpfes‘ […]. So werdet auch ihr die besten Philosophen und Erforscher sein, wenn ihr vom Apostel lernt, das Geschöpf als eines anzusehen, das wartet, seufzt und sich ängstet, das heißt das verschmäht, was es jetzt ist, und nach dem verlangt, was es zukünftig sein wird.82

Eine solche dezidiert lutherische Metaphysik, die im Sinne des Wittenberger Reformators mit einer neuen, nämlich apostolisch bestimmten Sprache eine „Ontologie des Wartens“ liefert, in der die Kreaturen im Seufzen vereint wären, hat das Luthertum nicht geliefert. Die Frage danach, ob es über die Christologie hinaus Propria einer solchen lutherischen Metaphysik gibt, muss daher einstweilen weiter unbeantwortet bleiben.

82 WA 56, 371,2–31 (Divi Pauli apostoli ad Romanos Epistola, 1515/16; Scholien zu Röm 8,19): „Aliter Apostolus de rebus philosophatur et sapit quam philosophi et metaphysici. Quia philosophi oculum ita in presentiam rerum immergunt, ut solum quidditates et qualitates earum speculentur, Apostolus autem oculos nostros revovat ab intuitu rerum praesentium, ab essentia et accidentibus earum, et dirigit in eas, secundum quod futurae sunt. Non enim dicit ‚essentia‘ vel ,operatio‘ creaturae seu ,actio‘ et ,passio‘ et ,motus‘, sed novo et miro vocabulo et theologico dicit ,expectatio creaturae‘ […] Igitur optimi philosophi, optimi rerum speculatores fueritis, si ex Apostolo didiceritis creaturam intueri expectantem, gementem, parturientem i.e. fastidientem id, quod est, et cupientem id, quod futura nondum est.“

Johann Gerhard ist einer der bedeutendsten lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts. Bekannt ist er vor allem aufgrund seines dogmatischen Hauptwerks Loci theologici, das eine umfangreiche Rezeption im Protestantismus, aber auch im Katholizismus erlebt hat. Darüber hinaus verfasste er zahlreiche Erbauungsbücher, die hohe Auflagen erzielten. Neben seiner Funktion als Professor der Theologie in Jena, die er von 1616 bis zu seinem Tod 1637 inne hatte, wirkte er viele Jahre als Prediger, Seelsorger sowie als Berater von Fürstinnen und Fürsten. Dieser Band bietet die erste zusammenfassende Darstellung des Gelehrten aus

interdisziplinärer Sicht. Dabei stehen insbesondere die bei Gerhard festzustellenden Interdependenzen zwischen Theologie, Politik und Gelehrtenkultur, ihre Verortung innerhalb der zeitgenössischen konfessionell-politischen Situation sowie der reichs- und territorial(-politischen) Rahmenbedingungen im Mittelpunkt des Interesses. Viele Beiträge greifen für ihre Darstellungen auf den in der Forschung bisher weitestgehend unberücksichtigten Gerhard-Nachlass in der Forschungsbibliothek Gotha zurück und erschließen so neue Zusammenhänge im Leben und Werk des Gelehrten.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11605-3