Kompendium pädiatrische Diabetologie 3540400591, 9783540400592

Padiatrische Diabetologie fur die Praxis. Die Arbeitszeit wird immer knapper die Anforderungen im Medizinbetrieb steigen

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English Pages 485 [492] Year 2006

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Kompendium pädiatrische Diabetologie
 3540400591, 9783540400592

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Hürter Kordonouri

1

Hürter Kordonouri Lange Danne

Kompendium pädiatrische Diabetologie

฀ 1฀3

Peter Hürter Olga Kordonouri Karin Lange Thomas Danne Kompendium pädiatrische Diabetologie

Peter Hürter • Olga Kordonouri Karin Lange • Thomas Danne

Kompendium pädiatrische Diabetologie Mit 90 Abbildungen und 45 Tabellen

13

Professor Dr. Peter Hürter PD Dr. Olga Kordonouri Professor Dr. Thomas Danne Kinderkrankenhaus auf der Bult Janusz-Korczak-Allee 12 30173 Hannover

PD Dr. Karin Lange Medizinische Hochschule Hannover Medizinische Psychologie Zentrum für Öffentliche Gesundheitspflege OE 5430 30623 Hannover

ISBN-10 3-540-40059-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-40059-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Meike Seeker SPIN 11495758 Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: medionet AG, Berlin Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier

2126 – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort

In Ergänzung des etablierten Lehrbuchs möchte das Diabetesteam des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover ein praktisch orientiertes Kliniktaschenbuch auf dem neuesten Stand der pädiatrischen Diabetologie vorlegen. Es richtet sich an medizinische und nicht-medizinische Diabetes-Profis und enthält alle wichtigen Informationen zur Beratung, Behandlung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes und ihrer Familien. Auf grundlagenwissenschaftliche Details und detaillierte Literaturhinweise wurde verzichtet. Wir verweisen auf das Lehrbuch „Diabetes bei Kindern und Jugendlichen“, das in der 6. Auflage vorliegt und alle Referenzen enthält. Wir hoffen, dass dieses Kompendium angesichts der knappen Arbeitszeit und der gestiegenen Anforderungen im Medizinbetrieb eine rasche Orientierung für die Umsetzung moderner Therapiestrategien in der pädiatrischen Diabetologie erlaubt. Hannover, Juli 2006

Peter Hürter Olga Kordonouri Karin Lange Thomas Danne

VII

Inhaltsverzeichnis

1

Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.1

Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3

Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologische Typen des Diabetes mellitus .

. . . .

1 2 2 4

2

Epidemiologie des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. . . .

13

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Häufigkeit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen Prävalenz und Inzidenz weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz und Inzidenz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

13 13 14 16

2.2 2.2.1 2.2.2

Häufigkeit des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . Prävalenz weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 18 19

2.3

Häufigkeit des Diabetes bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . .

20

3

Ätiopathogenese des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Genetik . . . Erbmodus . . Erbrisiko. . . HLA-System

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23 24 24 27

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virusinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilldauer und Ernährungsfaktoren . . . . . . . . . . . Perinatale Faktoren, Alter und Sozialstatus der Eltern . Manifestationsfördernde Faktoren . . . . . . . . . . . .

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31 32 34 36 37

3.3

Hypothesen zur Entstehung des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . .

38

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VIII

Inhaltsverzeichnis

4

Prädiktion und Prävention des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . .

43

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5

Prädiktion des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . Humorale Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zelluläre Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kombination der Früherkennungsuntersuchungen . . . . . Zeitlicher Ablauf der Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . Prädiktion eines Typ-1-Diabetes in der Gesamtbevölkerung

. . . . . .

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43 44 46 47 48 50

4.2 4.2.2 4.2.2 4.2.3 4.2.4

Prävention des Typ-1-Diabetes . Tertiäre Präventionsstudien . . . Sekundäre Präventionsstudien . Primäre Präventionsstudien . . Zukünftige Präventionsstudien .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

50 51 52 52 53

5

Normale und pathologische Physiologie des Inselzellsystems . .

57

5.1

Morphologie der Inselzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6

Insulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Struktur des Insulins . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosynthese und Sekretion des Insulins . . . . . . . . . . . . . Clearance und Degradation des Insulins . . . . . . . . . . . . Wirkung des Insulins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinrezeptor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung der Insulinkonzentration, Sekretion und Sensitivität

. . . . . . .

58 60 60 64 66 75 78

5.3

Glukagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6

Hormonelle Steuerung der Glukosehomöostase . . . . Glukosehomöostase unter Ruhebedingungen . . . . . Glukosehomöostase bei körperlicher Tätigkeit . . . . . Glukosehomöostase nach Nahrungsaufnahme . . . . . Glukosehomöostase bei fehlender Nahrungsaufnahme Glukosehomöostase bei Stress . . . . . . . . . . . . . . Glukosehomöostase bei Hypoglykämie . . . . . . . . .

. . . . . . .

82 83 84 85 86 87 88

6

Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes . . . . . .

91

6.1

Grundsätzliches zur Prognose des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

6.2

Vorstellungen zur Ätiopathogenese der diabetischen Folgeerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

6.3 6.3.1

Diabetische Retinopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . .

94 95

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IX

Inhaltsverzeichnis

6.3.2 6.3.3

Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5

Diabetische Nephropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik der Nephropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik der arteriellen Hypertonie . . . . . . . . . . . . . Therapie der Nephropathie und der arteriellen Hypertonie .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

99 100 100 102 104 108

6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4

Diabetische Neuropathie . . . . . . . . . . Pathologische Anatomie und Physiologie . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensomotorische diabetische Neuropathie Autonome diabetische Neuropathie . . . .

. . . . .

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. . . . .

109 109 110 110 115

6.6 6.6.1 6.6.2

Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der Prognose des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . Die DCCT-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 120 124

7

Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

7.1

Herstellung von Humaninsulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

7.2

Standardisierung von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . .

129

7.3

Konzentration von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . .

130

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. . . . .

96 97

7.4

Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert . . . . . . . . . . . . .

131

7.5

Aufbewahrung von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . .

132

7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3

Absorption des injizierten Insulins . . . . . . . . . . . . . . Transportwege und Halbwertszeiten des Insulins . . . . . . Die Subkutis als Ort der Insulininjektion . . . . . . . . . . . Assoziationszustand der Insulinmoleküle (Mono-, Di- und Hexamere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

132 133 133

. . .

134

Typisierung der Insulinpräparate Normalinsulin . . . . . . . . . . . Verzögerungsinsulin . . . . . . . . Kombinations- bzw. Mischinsulin Insulin-Analoga . . . . . . . . . .

. . . . .

136 137 138 139 140

7.7 7.7.1 7.7.2 7.7.3 7.7.4

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7.8

Mischbarkeit von Insulinpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

7.9

Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate . . . . . .

144

X

Inhaltsverzeichnis

8

Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

8.1

Berechnung der Grundnährstoffe (Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß)

149

8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3

Energie- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen . . Richtwerte für die Energiezufuhr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtwerte für die Zufuhr von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß Richtwerte für die Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richtwerte für die Zufuhr von Flüssigkeit . . . . . . . . . . . . .

151 152 153

8.3

Ratschläge für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen . .

157

8.4

Wechselbeziehung zwischen Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postprandiale Stoffwechselsituation beim Stoffwechselgesunden Postprandiale Stoffwechselsituation bei Typ-1-Diabetes . . . . .

160 160 161

8.2.4

8.4.1 8.4.2 8.5

156 157

8.5.2 8.5.3 8.5.4

Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel für die Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Quantifizierung der Kohlenhydrate und ihres Austausches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrataustauschtabellen . . . . . . . . . . . . . . . Zuckerersatzstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle »Diabetikerlebensmittel« . . . . . . . . . . . . . .

8.6

Glykämischer Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

8.7. 8.7.1

Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie . . . . . . . . . Verteilung der Nahrungsmittel bei konventioneller Insulintherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

8.8

Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung . . . . . .

176

9

Methoden der Stoffwechselkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7

Stoffwechselselbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutglukose-Einzelwertmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuierliche und nichtinvasive Blutglukosemessung . . . . Uringlukosemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ketonkörpernachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit der Stoffwechselselbstkontrolle . . . . . . . . . . . . Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle Beurteilung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle . .

. . . . . . . .

179 181 184 191 191 192 194 196

9.2 9.2.1 9.2.2

Methoden der Stoffwechselkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . Glykohämoglobin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fruktosamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 197 200

8.5.1

. . . .

162

. . . .

163 164 169 170

. . . .

. . . .

. . . .

175

XI

Inhaltsverzeichnis

9.2.3

Beziehungen zwischen HbA1c, Fruktosamin und mittlerem Blutglukosewert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

10

Stationäre Behandlung nach Manifestation und während des weiteren Diabetesverlaufs . . . . . . . . . . . . . . . .

205

10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4

Symptome bei Manifestation des Typ-1-Diabetes Leichte Manifestationsform . . . . . . . . . . . . Mittelgradige Manifestationsform . . . . . . . . . Ausgeprägte Manifestationsform . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen in Zweifelsfällen . . . . . .

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205 205 207 207 207

10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3

Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes Initialphase . . . . . . . . . . . . . . Remissionsphase . . . . . . . . . . . Postremissionsphase . . . . . . . . .

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208 208 209 209

10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4

Stationäre Behandlung nach Manifestation des Typ-1-Diabetes Erste Maßnahmen nach Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräche mit dem Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Initialtherapie ohne Infusionsbehandlung . . . . . . . . . . . . Initialtherapie mit Infusionsbehandlung . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

210 211 212 214 216

10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4

Stationäre Behandlung während des weiteren Verlaufs des Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akute nicht Diabetes-assoziierte Erkrankungen . . . . Chronische Diabetes-assoziierte Erkrankungen . . . . Chirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

219 220 221 229 230

11

Ambulante Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

11.1

Ziele der ambulanten Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . .

233

11.2

Durchführung der Insulininjektion . . . . . . . . . . . . . . . . .

234

11.3

Berechnung der Insulindosis und Wahl des Insulinpräparates . .

237

11.4

Wahl der Insulinsubstitutionsmethode . . . . . . . . . . . . . . .

240

11.5

Durchführung der konventionellen Insulintherapie . . . . . . . .

248

11.6

Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

11.7 Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII) . . . . . . . . . 11.7.1 Praxis der Insulinpumpentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261 269

11.8

292

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . . .

Didaktische Hilfen für die Umsetzung der ICT im Alltag . . . . .

XII

Inhaltsverzeichnis

11.9 11.9.1 11.9.2 11.9.3

Lokale Nebenwirkungen der Insulintherapie Insulinallergie und Insulinresistenz . . . . . Veränderungen der Haut und Subkutis . . . Veränderungen der Gelenke . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

314 314 317 319

12

Diabetische Ketoazidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

12.1 Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels . . . . . 12.1.1 Hyperglykämie und Hyperketonämie . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts .

323 323 325

12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3

Klinik der diabetischen Ketoazidose . . Häufigkeit der Ketoazidose . . . . . . . . Klinische Befunde bei Ketoazidose. . . . Biochemische Befunde bei Ketoazidose .

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328 328 330 330

12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3

Zerebrale Krise bei Ketoazidose . . . . . . Pathophysiologie der zerebralen Krise . . Risikofaktoren für eine zerebrale Krise . . Vorgehen bei Verdacht auf zerebrale Krise

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331 331 332 333

12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5 12.4.6

Therapie der Ketoazidose . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehydratation und Ausgleich der Elektrolytverluste . . Insulinsubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Azidosebehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kalorienzufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel einer Ketoazidosebehandlung . . . . . . . . . Diagnostische Maßnahmen während der Behandlung

. . . . . . .

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. . . . . . .

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334 335 338 340 340 341 342

13

Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

13.1

Definition einer Hypoglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

13.2

Klassifikation von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . .

346

13.3

Symptomatologie von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . .

346

13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5

Physiologie der Glukoseregulation . . . . . . . Sistieren der Insulinsekretion . . . . . . . . . . Glukagonsekretion . . . . . . . . . . . . . . . . Adrenalinsekretion . . . . . . . . . . . . . . . . Sekretion von Kortisol und Wachstumshormon Glukoseregulation während der Nacht . . . . .

350 351 351 352 353 353

13.5

Hypoglykämiewahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

354

13.6 Ursachen von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Verstärkte Insulinwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

356 356

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XIII

Inhaltsverzeichnis

13.6.2 Verminderte Nahrungszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.3 Intensive körperliche Aktivität (Sport) . . . . . . . . . . . . . . .

356 357

13.7 13.7.1 13.7.2 13.7.3

Behandlung von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . Therapie bei Auftreten autonomer Symptome . . . . . . Therapie bei Auftreten neuroglykopenischer Symptome Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

358 358 359

13.8 13.8.1 13.8.2 13.8.3

Häufigkeit von Hypoglykämien . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz von asymptomatischen Hypoglykämien . . . . . Inzidenz von leichten bis mittelgradigen Hypoglykämien Inzidenz von schweren Hypoglykämien . . . . . . . . . . .

. . . .

361 362 362 363

13.9

Hypoglykämien und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

13.10

Hypoglykämieangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

366

14

Andere Diabetesformen bei Kindern und Jugendlichen und deren Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

14.1 Typ-2-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Früherkennung und Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Therapie bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . .

371 371 374

14.2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . .

360

14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6 14.2.7 14.2.8

Diabetes bei genetischen Defekten und anderen Grundkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maturity-Onset Diabetes of the Young (MODY) . DIDMOAD-Syndrom (Wolfram-Syndrom) . . . Mitochondrialer Diabetes . . . . . . . . . . . . . . Neonataler Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes bei zystischer Fibrose (CF) . . . . . . . . Diabetes bei Hämosiderose . . . . . . . . . . . . . Medikamentös induzierter Diabetes . . . . . . . . Stresshyperglykämie . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

377 377 381 382 383 385 388 388 390

15

Medizinische Behandlung und soziale Beratung . . . . . . . . . . .

393

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

15.1 Medizinische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Qualitätsstandards der stationären Behandlung in Kinderkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.2 Disease-Management-Programm Typ-1-Diabetes . . 15.1.3 Wirtschaftliche Grundlagen der ambulanten Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.4 Qualitätsrichtlinien für die stationäre und ambulante Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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393

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394 394

. . . . . . .

395

. . . . . . .

396

XIV

Inhaltsverzeichnis

15.1.5 Vorstellungen in der Diabetesambulanz . . . . . . . . . . . . . .

400

15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.2.7

Sozialmedizinische Beratung . . . . . Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsausbildung . . . . . . . . . . . Fahrtauglichkeit und Führerscheine . Ferien und Urlaub . . . . . . . . . . . Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Hilfen . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

405 405 406 408 410 412 416 418

16

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. . . . . . . .

Grundlagen und Durchführung der Diabetesschulung . . . . . . .

425

16.1 Relevanz und Ziele der Diabetesschulung . . . . . . . . . . . . . 16.1.1 Gliederung der Diabetesschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425 426 427

16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4

Entwicklungspsychologische und didaktische Grundlagen Säuglinge und Kleinkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindergarten- und Vorschulkinder . . . . . . . . . . . . . Grundschulkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

427 427 428 431 433

16.3

Grundlagen des Selbstmanagement in der Diabetestherapie . . .

435

16.4 16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4 16.4.5

Initiale Diabetesschulung nach der Manifestation Diagnoseeröffnung und Initialgespräch . . . . . . Initialschulung für Eltern . . . . . . . . . . . . . . Initialschulung für Klein- und Vorschulkinder . . Initialschulung für Schulkinder . . . . . . . . . . Initialschulung für Jugendliche . . . . . . . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

437 437 439 445 445 446

16.5 16.5.1 16.5.2 16.5.3

Schulungen während der Langzeitbetreuung Folgeschulung für Eltern . . . . . . . . . . . Folgeschulung für Schulkinder . . . . . . . . Folgeschulung für Jugendliche . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . .

. . . .

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. . . .

448 449 450 450

17

Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern . . . . . . . . . . . . .

453

. . . .

. . . .

. . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

17.1 Psychosoziale Faktoren in der Ätiologie des Diabetes . . . . . . . 17.1.1 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-1-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.2 Psychosoziale Faktoren und Manifestation eines Typ-2-Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453 453 455

Inhaltsverzeichnis

XV

17.2

Psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.1 Belastungen durch den Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2 Kognitive Entwicklung und Schulerfolg . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Einflüsse auf die Qualität der Stoffwechseleinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 Psychischer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.2 Individuelle Risikokonstellationen bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . 17.3.3 Familiäre und gesellschaftliche Risikokonstellationen

456 458 462

17.3

. . . . . . . . . . . . . .

464 464

. . . . . . . . . . . . . .

466 467

Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.1 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.2 Selbstschädigendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

469 470 472

17.4

17.5

Psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.5.1 Psychotherapeutische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

473 475

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

1

1

Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern und Jugendlichen )) Bei Kindern und Jugendlichen tritt als Krankheitsentität des Syndroms Diabetes mellitus fast immer ein Typ-1-Diabetes auf. Da Kinder und Jugendliche immer häufiger Übergewicht oder Adipositas aufweisen, nimmt bei ihnen, besonders in bestimmten ethnischen Gruppen, der Typ-2-Diabetes deutlich zu. Zahlreiche andere Diabetestypen wurden in den letzten Jahren identifiziert.

1.1

Definition

Der Begriff »Diabetes mellitus« beschreibt eine Stoffwechselstörung unterschiedlicher Ätiologie, die durch das Leitsymptom Hyperglykämie charakterisiert ist. Defekte der Insulinsekretion, der Insulinwirkung oder beides verursachen v. a. Störungen des Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsels. Langfristig können Schädigungen, Dysfunktion und Versagen verschiedener Organe auftreten. Betroffen sind einerseits kleine Blutgefäße (Mikroangiopathie) mit Erkrankungen der Augen (Retinopathie), der Nieren (Nephropathie) und der Nerven (Neuropathie). Andererseits können Prozesse an den großen Gefäßen im Sinne einer Arteriosklerose durch Diabetes beschleunigt werden (Makroangiopathie). 1.2

Klassifikation

The Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus publizierte 1997 neue Empfehlungen zur Klassifikation des Diabetes. Ihnen folgte 1998 ein vorläufiger und 1999 der endgültige Bericht der Expertengruppe der WHO. Diese bisher aktuellste Klassifikation berücksichtigt sowohl klinische Stadien wie ätiologische Typen des Diabetes mellitus und anderer Kategorien von Hyperglykämie.

2

1

Kapitel 1 · Definition und Klassifikation des Diabetes bei Kindern

1.2.1

Terminologie

13

Die WHO (1999) empfiehlt, die Begriffe IDDM und NIDDM nicht mehr zu benutzen. Diese beiden Begriffe hatten dazu geführt, die Patienten nach der Behandlungsart und nicht nach der Pathogenese des Diabetes zu klassifizieren. Dagegen wurden die Termini »Typ-1-Diabetes« und »Typ-2-Diabetes« wieder in die Klassifikation aufgenommen. Ein Typ-1-Diabetes liegt vor, wenn der Diabetes durch Zerstörung der E-Zellen mit Ketoazidoseneigung charakterisiert ist. Die E-Zellzerstörung ist meist Folge eines Autoimmunprozesses, der durch das Vorhandensein von diabetesspezifischen Autoantikörpern im Serum der Patienten begleitet wird. In einigen Patienten (90%

In den meisten Ländern 5 Jahren empfohlen. Ein Sonderfall stellt die Schwangerschaft dar. Wenn möglich sollte eine Augenuntersuchung vor der geplanten Konzeption erfolgen oder aber sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft. Folgeuntersuchungen sind präpartal alle 3 Monate indiziert, bei schon bestehender diabetesbedingter Retinopathie jedoch monatlich. ! Erst fortgeschrittene Netzhautveränderungen verursachen Symptome.

Trotz Laserkoagulation haben sie eine signifikant schlechtere Prognose als die Frühstadien der Retinopathie.

98

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

. Abb. 6.2 a Beispiel einer milden nichtproliferativen Retinopathie mittels Fluoreszenzangiographie. Die Beispiele eines punktförmigen Mikroaneursymas und eines Austritts von Kontrastmittel (Leakage) sind markiert b Beispiel einer proliferativen Retinopathie mit Laserbehandlung, Glaskörperblutung

6.4 · Diabetische Nephropathie

99

6

Die Laserkoagulation hat sich als erfolgreiche visuserhaltende Methode durchgesetzt. Sie kann jedoch nur das Fortschreiten des Visusverlustes mindern und keine Visusverbesserung herbeiführen. Eine Laserkoagulation wird bei Makulaödem und ab dem Stadium der schweren nichtproliferativen Retinopathie erwogen, insbesondere bei Risikopatienten mit schlechter Stoffwechseleinstellung, beginnender Katarakt mit erschwertem Funduseinblick oder beim Vorliegen anderer risikobelasteter Allgemeinkrankheiten (speziell: arterielle Hypertonie) und Schwangerschaft. Besonders bei der panretinalen Lasertherapie, bei der bis zu einem Drittel der Netzhaut koaguliert wird, können Nebenwirkungen wie z. B. eine Einschränkung des Gesichtsfeldes und Störungen des Sehens in Dunkelheit und Dämmerung auftreten. Diese Nebenwirkungen lassen sich meist nicht vermeiden. Man sollte aber bedenken, dass durch die panretinale Laserkoagulation eine drohende Erblindung verhindert werden kann. Bei Glaskörperblutungen und traktionsbedingter Netzhautablösung wird die Vitrektomie als zusätzliche chirurgische Therapiemöglichkeit angewendet. Dabei werden Glaskörperblutungen und fibrovaskuläre Proliferationen entfernt, die evtl. abgehobene Netzhaut wieder angelegt und mit dem »Endo-Laser« eine panretinale Laserkoagulation durchgeführt. Gute Visusergebnisse lassen sich nur bei frühzeitiger Operation mit guter Vorbehandlung durch ausgiebige Laserkoagulation erreichen. 6.4

Diabetische Nephropathie

)) Obwohl fast alle Patienten mit Typ-1-Diabetes histologisch nachweisbare renale Läsionen entwickeln, tritt nur bei höchstens 40–50% von ihnen eine Nephropathie mit terminalem Nierenversagen auf.

Während es zu einer kontinuierlichen Zunahme der retinalen Veränderungen bei Patienten mit Typ-1-Diabetes kommt, wird das Auftreten einer diabetesbedingten Nephropathie nach 20-jähriger Diabetesdauer nur noch selten gefunden. Besondere Bedeutung erhält die diabetesbedingte Nephropathie nicht nur durch ihre Assoziation mit anderen mikroangiopathischen Veränderungen, sondern auch mit den Folgen der Makroangiopathie wie z. B. Schlaganfall und anderen peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten. Das Auftreten einer Nephropathie ist daher eng mit einer vorzeitigen Mortalität von Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes korreliert. Bereits im Jugendalter kann eine Mikroalbuminurie als Ausdruck einer beginnenden Mikroangiopathie der Niere bzw. Vorstufe der diabetesbedingten

100

2 2 3 4 5 6

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Nephropathie auftreten. Der prädiktive Wert der Mikroalbuminurie, d. h. einer Albuminexkretionsrate von 20–200 µg/min, ist sowohl für die Entwicklung einer Nephropathie wie die einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität bei Erwachsenen belegt worden. Obwohl nach 11-jähriger Diabetesdauer eine kumulative Inzidenz der Mikroalbuminurie von bis zu 40% beschrieben wird, ist häufig eine Regression zur Normalbuminurie besonders nach der Pubertät festzustellen, deren prognostische Bedeutung gegenwärtig noch unklar ist. Eine Regression der Mikroalbuminurie zeigte sich vor allem bei Patienten mit kurzdauernder Mikroalbuminurie, d. h. beginnender Nephropathie, mit einem niedrigeren HbA1c-Wert, einem niedrigeren systolischen Blutdruck und besseren Triglyzerid- und Cholesterinwerten. Diese Beobachtungen sollten aber nicht dazu führen, eine Mikroalbuminurie als unsicheren Prädiktor einer sich entwickelnden Nephropathie anzusehen. Zusammenfassung

7 8

Eine beginnende Nephropathie sollte möglichst frühzeitig diagnostiziert und intensiv behandelt werden, da durchaus die Chance zur Reversibilität mikroangiopathischer Veränderungen in der Niere besteht.

9

6.4.1

Pathologische Anatomie und Physiologie

10 11 12 13 14 15 16 17

Ursächlich spielen für die Entstehung der diabetischen Nephropathie Veränderungen der Hämodynamik durch Erhöhung des intraglomerulären Drucks und Glykosylierungen, die zur Verdickung und Erhöhung der Permeabilität der Basalmembran führen, die wichtigste Rolle. Hinzu kommt eine Proliferation der Mesangialzellen und die zunehmende Sklerosierung der mesangialen Matrix bis hin zur klassischen interkapillären Glomerulosklerose wie sie Kimmelstiel und Wilson schon 1936 beschrieben haben. Neben dieser nodulären Form der Glomerulosklerose findet man noch häufiger eine nicht nur bei Menschen mit Diabetes auftretende diffuse Glomerulosklerose. Die Entwicklung der Nephropathie wird nicht nur durch die diabetesbedingte Hyperglykämie gefördert, sondern auch durch eine Erhöhung des systemarteriellen Blutdrucks. Das Auftreten einer diabetischen Nephropathie wird zudem noch durch Nikotinabusus, erhöhte Eiweißzufuhr und genetische Faktoren beschleunigt (DDG 2000). 6.4.2

Stadieneinteilung

Während der Entwicklung einer Nephropathie treten typische Veränderungen der Nierenfunktion auf (. Abb. 6.3). Nach Manifestation des Typ-1-Diabetes zunächst zu einer passageren renalen Hypertrophie mit Überfunktion. Als dro-

6.4 · Diabetische Nephropathie

101

6

. Abb. 6.3 Entwicklung der diabetischen Nephropathie. (Nach Mogensen 1988)

hende Nephropathie wird ein diagnostisch fassbares Stadium bezeichnet, das durch eine persistierende Mikroalbuminurie (30–300 mg/24 h), eine Verminderung der glomerulären Filtrationsrate und die Entwicklung einer arteriellen Hypertension charakterisiert ist. Dem schließen sich Stadien der manifesten Nephropathie mit konstanter Proteinurie (Albuminausscheidung von mehr als 300 mg/24 h), Niereninsuffizienz und schließlich finalem Nierenversagen an.

102

2

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

. Tabelle 6.1 Stadieneinteilung der diabetischen Nephropathie (Nach Mogensen 1988) Nephropathiestadium

Albuminsausscheidung

Serumkreatinin

GFR / RPF

I. Stadium der Hyperfunktion

Erhöht

Normal

Erhöht

3 4

II. Stadium der klinischen Latenz

Normal

Normal

Normal bis erhöht

III. Beginnende Nephropathie Mikroalbuminurie

Persistierend

Normal

Normal bis erhöht

Makroalbuminurie

Im Normbereich ansteigend

Abnehmend

7

IV. Klinischmanifeste Nephropathie V. Niereninsuffizienz

Makroalbuminurie

Erhöht

Erniedrigt

8

2

5 6

9 10 11

In . Tabelle 6.1 ist der typische Ablauf der diabetischen Nephropathie in 5 Stadien nach Mogensen (1988) aufgeführt. 6.4.3

Diagnostik der Nephropathie

12 13 14 15 16 17

Die erhöhte glomeruläre Filtrationsrate drückt sich sonographisch durch ein vergrößertes Nierenvolumen aus (Stadium der Hyperfunktion). Während des Latenzstadiums versagen diagnostische Methoden. Für das Stadium der beginnenden Nephropathie ist die konstante bzw. persistierende Mikroalbuminurie charakteristisch. Unter physiologischen Bedingungen wird Albumin in geringen Mengen glomerulär filtriert und tubulär weitesgehend wieder rückresorbiert. Eine geringfügige Erhöhung der Albuminausscheidung, die nicht mit den üblichen Eiweißteststreifen nachweisbar ist, wird als Mikroalbuminurie bezeichnet. Sie ist je nach Urinsammelmethode und Bezugsgröße unterschiedlich definiert. Als Goldstandard gilt die zeitbezogene Bestimmung der Albuminexkretionsrate. Eine Erhöhung der Albuminausscheidung kann außer durch die Schädigung renaler Strukturen auch durch verschiedene extrarenale Einflussfaktoren bedingt sein, dazu gehören 5 körperliche Aktivität, 5 Harnwegsinfekt,

6.4 · Diabetische Nephropathie

5 5 5 5 5

103

6

dekompensierter Diabetes, Blutdruckanstieg, klinisch manifeste Herzinsuffizienz, akute febrile Infektion und operative Eingriffe.

Wenn nach Ausschluss dieser Ursachen die Albuminurie verschwindet, handelt es sich lediglich um eine transitorische Albuminurie ohne sicheren Krankheitswert. Der sicherste Nachweis für das Vorliegen einer Mikroalbinurie gelingt mit quantitativen Messmethoden (Radioimmunoassay, ELISA, Nephelometrie oder Turbimetrie). Für den semiquantitativen Nachweis einer Mikroalbuminurie gibt es Teststreifen auf immunologischer Grundlage (z. B. Micraltest II), die sich jedoch bei einer pädiatrischen Multizenterstudie nicht bewährt haben. Die Mikroalbuminurie kann mit den üblichen Eiweißteststreifen (Albustix, Combur usw.) nicht nachgewiesen werden. Sie können nur zum Ausschluss einer Makroalbuminurie verwendet werden. Die Definition des Mikroalbuminbereichs hängt von der Urinsammelmethode und der Bezugsgröße ab. Drei verschiedene Untersuchungsmethoden finden heute Verwendung. Konzentrationsmessung im Spontanurin ! Von einer Mikroalbuminurie spricht man, wenn die Albuminwerte zwischen 20 mg/l und 200 mg/l liegen.

Bei Kindern sollte ein Bezug auf 1,73 m2 Körperoberfläche erfolgen. Verbessert wird die Wertigkeit dieser Methode durch die gleichzeitige Bestimmung des Urinkreatinins. Wegen des Einflusses der Muskelmasse auf die Kreatininausscheidung müssen geschlechtsbezogene Normwerte verwendet werden. Eine Mikroalbuminurie liegt bei Frauen und Mädchen vor, wenn der Albumin-Kreatinin-Quotient zwischen 3,5 und 35 mg/mmol U-Krea bzw. 30 und 300 mg/g U-Krea liegt, bei Jungen und Männern, wenn der Quotient zwischen 20 und 200 mg/g U-Krea bzw. 2,5 und 25 mg/mmol U-Krea beträgt (. Tabelle 6.2). Untersuchung der Urinalbuminausscheidung im 24-h-Urin Pathologisch im Sinne einer Mikroalbuminurie sind Werte zwischen 30 und 300 mg/24 h/1,73 m2. Problematisch sind hierbei mögliche Einflüsse körperlicher Aktivität und Sammelfehler. Untersuchung der Urinalbuminexkretionsrate im Nachturin Pathologisch sind Werte über 20 µg/min/1,73m2. Die Patienten messen den Zeitraum zwischen der letzten Miktion vor dem Schlafen und der ersten Mikti-

104

2

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

. Tabelle 6.2 Grenzwerte für die Diagnose einer Mikro- bzw. Makroalbuminurie Mikroalbuminurie

2 3

20–200

>200

mg/l

Nächtliche Sekretionsrate

20–200

>200

mg/min/1,73m2 KOF

24-h-Sammelurin

30–300

>300

mg/min/1,73m2 KOF

20–200

>200

mg/g Kreatinin

2,5–25

>25

mg/mmol Kreatinin

30–300

>300

mg/g Kreatinin

3,5–35

>35

mg/mmol Kreatinin

Albumin-/ Kreatininverhältnis

5

Jungen/Männer

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Einheiten

Konzentrationsmessung

4

6

Makroalbuminurie

Mädchen/Frauen

KOF Körperoberfläche.

on am Morgen. Der gesamte Morgenurin wird untersucht. Diese Methode gilt als die sicherste zum Nachweis einer Mikroalbuminurie. ! Zur Diagnose einer diabetischen Nephropathie wird der Nachweis von mindesten 2 Albuminausscheidungsraten im Mikroalbuminuriebereich gefordert, die im Abstand von 2–4 Wochen gemessen werden sollten. Man spricht in diesem Falle von einer persistierenden Mikroalbuminurie (DDG 2000).

Bei der manifesten Nephropathie ist die Proteinurie so ausgeprägt, dass sie mit konventionellen Messmethoden nachgewiesen werden kann. Die Albuminausscheidung im 24-h-Urin liegt über 300 mg/1,73 m2. Als Folge der Nephropathie entwickelt sich meist eine arterielle Hypertension. Im Stadium der Niereninsuffizienz steigen Harnstoff und Kreatinin im Serum an, die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) sinkt ab, das Nierenvolumen wird sonographisch nachweisbar geringer. Ein terminales Nierenversagen kann auftreten.

16

6.4.4

17

Wegen der ätiopathogenetischen Bedeutung des arteriellen Bluthochdrucks für die diabetische Nephropathie ist die regelmäßige Blutdruckmessung auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes dringend notwendig. Zur Abgrenzung einer Hypertension bei Kindern und Jugendlichen eignen sich die europäischen Normalwerte für die Gelegenheitsmessung des Blutdrucks (. Tabelle 6.3).

Diagnostik der arteriellen Hypertonie

104

96

97

99

99

101

103

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72

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68

68

68

67

66

66

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81

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71

71

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65

65

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90.

Jungen diastolisch

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81

81

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78

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74

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73

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70

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100

98

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96

95

50.

136

127

126

124

124

121

119

116

114

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109

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104

104

75.

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132

132

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114

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111

111

111

90.

Mädchen systolisch

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136

136

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53

51

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61

59

75.

87

77

77

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74

74

73

73

73

72

72

71

69

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66

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90.

Mädchen diastolisch

88

82

80

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78

76

76

76

75

75

75

74

73

72

71

70

70

6

95.

105

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111

110

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108

107

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105

75.

Jungen systolisch

50.

Perzentile

cm

. Tabelle 6.3 Normwerte für die Gelegenheitsblutdruckmessung bei Kindern und Jugendlichen. (Nach de Man et al. 1991)

6.4 · Diabetische Nephropathie

6

106

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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Empfehlungen für die Untersuchungstechnik 5 Die Messung erfolgt nach 5 min Ruhe im Sitzen. 5 Der Arm liegt entspannt in Herzhöhe auf. 5 Die Blutdruckmanschette muss hinsichtlich ihrer Größe für den Patienten geeignet sein. 5 Bei Benutzung eines Sphygmomanometers wird während des Aufpumpens der Manschette der Puls der A. radialis palpiert. Das Aufpumpen erfolgt zügig bis zu einer Druckhöhe von ca. 30 mmHg oberhalb des Verschwindens des Radialispulses 5 Die Korotkoff-Phasen I (erstmaliges Auftreten der Korotkoff-Töne) und V (vollständiges Verschwinden der Korotkoff-Töne der Phase IV) markieren den systolischen bzw. diastolischen Blutdruck. Wenn die Korotkoff-Töne bis in sehr niedrige diastolische Bereiche zu hören sind, markiert der Beginn der Korotkoff-Phase IV den diastolischen Blutdruck. 5 Das Ablesen des Drucks auf der Manometerskala erfolgt auf 2 mmHg genau. Dafür muss der Manschettendruck mit einer

Geschwindigkeit von etwa 2 mmHg pro Sekunde reduziert werden. Höhere Ablassgeschwindigkeiten führen vor allem bei Patienten mit niedrigeren Pulsfrequenzen zu einer wesentlichen Unterschätzung des systolischen und Überschätzung des diastolischen Blutdrucks. 5 Die Auskultation der KorotkoffTöne mit der Glocke des Stethoskops erleichtert die Wahrnehmung vor allem der niederfrequenten Töne der Phase IV, was eine Voraussetzung für die korrekte Ermittlung des diastolischen Blutdrucks ist. 5 Der Vorgang der Blutdruckmessung steigert kurzfristig den Blutdruck. Daher wird der Blutdruck zweimal gemessen. Das Ergebnis der ersten Messung wird verworfen. Zwischen zwei Messungen ist eine Pause von mindestens 60 s erforderlich. 5 Bei dem ersten Patientenkontakt erfolgen die Messungen an beiden Armen. Bei unterschiedlichen Messwerten ist der höhere Wert relevant. Spätere Messungen werden an diesem Arm durchgeführt.

Wenn mit der konventionellen Einzelblutdruckmessung mehrfach pathologisch erhöhte Werte gemessen werden, sollte die Sicherung der Diagnose »arterielle Hypertension« mit Hilfe einer vollautomatischen 24-h-Blutdruckmessung erfolgen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes liegt häufig eine sog. »Weißkittel-Hypertonie« vor, die sich durch eine zirkadiane Messung nicht bestätigen lässt (Normalwerte . Tabelle 6.4).

6

107

6.4 · Diabetische Nephropathie

. Tabelle 6.4 Oszillometrisch gemessene ambulante 24-h-Blutdruckmessungs-(ABDM)Mittelwerte für gesunde Kinder (in mmHg; Soergel et al. 1997). Auch für den längenunabhängigen nächtlichen Blutdruckabfall (Dip) wurden in dieser Studie Normwerte angegeben. Beurteilungskriterium für einen aufgehobenen nächtlichen Dip war die 5. Perzentile. Die 5. Perzentile des nächtlichen Dips gesunder Kinder und Jugendlicher lag für Jungen und Mädchen gemeinsam systolisch bei 3% und diastolisch bei 7% Perzentilen für die 24-h-Periode

Tageswerte

P50

P95

P50

P95

P50

P95

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113/72

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123/85

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130

105/65

117/75

113/73

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96/55

107/65

140

107/65

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114/73

127/85

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118/73

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102/56

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135/85

104/56

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124/73

137/85

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97/55

109/66

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120/76

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110/66

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124/76

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131/84

100/55

113/66

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131/84

101/55

113/66

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113/66

124/76

120/74

131/84

103/55

114/66

Länge (cm)

Nachtwerte

Jungen

Mädchen

P Perzentile

Eine besondere Form der Hypertonie ist das Fehlen der nächtlichen Blutdrucksenkung bei aufgehobenem zirkadianen Blutdruckrhythmus. Bei Erwachsenen mit Diabetes wird dieses Phänomen als Hinweis auf existente oder entstehende Endorganschäden gewertet. Eine 24-h-Blutdruckmessung sollte immer dann durchgeführt werden, wenn Gelegenheitsblutdruckmessungen systolisch oder diastolisch oberhalb der 95. Perzentile liegen oder eine Retinopathie bzw. Mikroalbuminurie vorliegt.

108

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

6.4.5

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Therapie der Nephropathie und der arteriellen Hypertonie

Der Nachweis einer arteriellen Hypertension bei Jugendlichen mit Diabetes ist so wichtig, weil unverzüglich mit der Therapie begonnen werden muss, um ein weiteres Fortschreiten des mikroangiopathischen Prozesses zu minimieren bzw. zu unterbinden. Große Bedeutung kommt dabei einer adäquaten Hypertonieschulung der Patienten zu. Sie beinhaltet die 5 Einweisung in Blutdruckselbstmessung, 5 Erkennung und Therapie von orthostatischen Blutdruckerhöhungen und 5 Aufklärung über potentielle Nebenwirkungen. Schwieriger ist das therapeutische Vorgehen bei normotensiven Jugendlichen mit Mikroalbuminurie. Neben einer bestmöglichen glykämischen Einstellung werden verschiedene weitere präventive Maßnahmen z. T. kontrovers diskutiert. Von besonderer Bedeutung für die Pädiatrie ist der Nikotinkonsum, da das Rauchen ein nachgewiesener unabhängiger Progressionsfaktor sowohl für die Retinopathie und Nephropathie als auch für die Makroangiopathie ist. Eine weitere Maßnahme zur Prävention bzw. Behandlung der diabetischen Nephropathie ist die Reduktion der täglichen Eiweißaufnahme. (ca. 10% der Gesamtkalorienzufuhr). Wegen der hohen Rate einer transienten bzw. intermittierenden Mikroalbuminurie bei Jugendlichen und den fehlenden Langzeitstudien, muss, im Hinblick auf die Notwendigkeit einer lebenslangen Therapie, nach dem gegenwärtigen Stand die Entscheidung über den Einsatz der ACE-Hemmer Medikamente im Einzelfall getroffen werden. Für eine prophylaktische Gabe von ACE-Hemmern oder Rheologika an Jugendliche mit Diabetes ohne Frühzeichen von Sekundärveränderungen gibt es gegenwärtig keine wissenschaftliche Basis. Bei Vorliegen einer persistierenden Mikroalbuminurie sollten 5 langfristige Stoffwechsellage, 5 Diabetesdauer, 5 24-h-Blutdruckprofile, 5 Vorhandensein retinaler Veränderungen und 5 anderer Risikofaktoren die Basis für die Entscheidung über den Beginn einer ACE-Hemmertherapie liefern. Wegen seiner relativ langen Halbwertzeit hat sich Enalapril (Xanef, Pres; täglich eine Dosis) bewährt. Bei ungünstigem Verlauf und drohendem Nierenversagen ergeben sich Indikationen zum Einsatz der Dialyse und Nierentransplantation. Da die Hämodialyse bei Diabetikern mit häufigen Komplikationen behaftet ist, sollte frühzeitig (bei Kreatininwerten über 5 mg/dl = 45 mmol/l) die Transplantation geplant werden.

6.5 · Diabetische Neuropathie

109

6

Neuere Berichte zeigen, dass die Transplantationserfolge bei Diabetikern nicht viel schlechter sind als bei Nichtdiabetikern. Daneben gibt es zunehmend günstige Ergebnisse bei simultaner Transplantation von Niere und Pankreas. Zusammenfassung Die wirksamste Maßnahme zur Verhinderung einer diabetischen Nephropathie bleibt die Vermeidung langfristiger ausgeprägter Hyperglykämien. HbA1c-Werte unter 7,5% und Blutdruckwerte unter 135/85 mmHg sind die einzigen therapeutischen Möglichkeiten, um eine beginnende Nephropathie in ihrem Verlauf günstig zu beeinflussen.

6.5

Diabetische Neuropathie

Diabetische Spätschäden des Nervensystems sind polymorph in Bezug auf Pathogenese und klinische Symptomatologie. Daher sind die epidemiologischen Daten über die Prävalenz der diabetischen Neuropathie sehr unterschiedlich. Obwohl bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes vereinzelt pathologische Befunde erhoben werden können, sind diese in der longitudinalen Beobachtung mit den heute verfügbaren Nachweismethoden meist ohne klinische Relevanz, sodass die Erfassung einer Neuropathie für die pädiatrische Diabetologie im Vergleich zur Retinopathie und Nephropathie bislang von untergeordneter Bedeutung ist. Grundsätzlich unterscheidet man eine sensomotorische und eine autonome Neuropathie. 6.5.1

Pathologische Anatomie und Physiologie

Bei der diabetischen Neuropathie ist kein einheitliches histologisches Bild der Schädigung des peripheren Nerven nachweisbar. Es werden nebeneinander axonale und demyelinisierende Schädigungszeichen beobachtet. Die Variabilität der pathologisch-anatomischen Befunde entspricht den sehr unterschiedlichen klinischen Manifestationsformen. Charakteristisch ist, dass es bleibende, morphologisch fassbare Veränderungen am Nerven gibt, daneben aber auch reversible Störungen der Nervenfunktion, die z. B. nach besserer Stoffwechseleinstellung des Patienten wieder verschwinden. Pathogenetisch werden im Wesentlichen vaskuläre Ursachen mit konsekutiver Ischämie bzw. Hypoxie und metabolische Faktoren (z. B. nichtenzymatische Glykierung, Polyolstoffwechsel) angenommen. Mikroangiopathische Veränderungen der Vasa nervorum, die die peripheren Nerven versorgen, könnten z. B. eine ischämische Neuropathie verursachen. Ausmaß und Schwere der diabe-

110

2 2 3 4 5

tischen Neuropathie korreliert eindeutig mit der Qualität der Stoffwechseleinstellung. Weiterhin spielt die arterielle Hypertonie bei der Entwicklung der Neuropathie eine wichtige Rolle. Alkohol und Nikotin sind zusätzlich diskutierte Risikofaktoren. 6.5.2

Klassifikation der Neuropathien 5 Symmetrische Polyneuropathie

– Sensible oder sensomotorische Polyneuropathie – Autonome Neuropathie – Symmetrische proximale Neuropathie der unteren Extremitäten 5 Fokale und multifokale Neuropathien

– Kraniale Neuropathie – Mononeuropathie des Stammes und der Extremitäten – Asymmetrische proximale Neuropathie der unteren Extremitäten

8 9

Klassifikation

In der folgenden Übersicht ist die in den Leitlinien der DDG dargestellte Klassifikation der Neuropathien zitiert:.

6 7

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

5 Mischformen

10 11 12 13 14 15 16 17

6.5.3

Sensomotorische diabetische Neuropathie

Eine der häufigsten Formen der sensomotorischen diabetischen Neuropathie ist die vom symmetrisch-proximalen Typ. Sie beginnt an den Beinen, später sind auch die Arme betroffen. Die Beschwerden bleiben beinbetont. Kribbeln, Brennen, Ameisenlaufen, Hyperästhesie, Schmerzmissempfindung und Temperturmissempfindung sind die wichtigsten sensiblen Symptome, Lähmungen, Eigenreflexabschwächung, Faszikulieren und Muskelkrämpfe die häufigsten motorischen. Beim asymmetrisch-proximalen Typ der Neuropathie sind einseitige Schmerzen von bohrendem, wühlenden oder brennenden Charakter an Hüfte und Oberschenkel, die in Ruhe, z. B. während der Nacht, zunehmen, charakteristisch. Eine möglich Lähmung betrifft meist das Heben des Oberschenkels und die Streckung des Unterschenkels. Sehr viel seltener sind diabetische Mononeuropathien, z. B. im Bereich des N. oculomotorius, des Plexus lumbosacralis und des Plexus brachialis. Auch die sog. Engpasssyndrome wie das Karpaltunnelsyndrom werden den Mononeuropathien zugeordnet.

6.5 · Diabetische Neuropathie

111

6

Diagnostik Die wichtigste Maßnahme zur Identifikation einer diabetischen Neuropathie ist die sorgfältige Erhebung der Anamnese, d. h. besonders der von Patienten geklagten Beschwerden. Hierfür eignet sich der sog. Young-Score, der in einen neurologischen Symptomen- und einen neurologischen Defizit-Score unterteilt ist (. Abb. 6.4 und 6.5). Hilfreich ist weiterhin die Gegenüberstellung der verschiedenen Verlaufsphasen der sensomotorischen diabetischen Neuropathien mit den entsprechenden Diagnosekriterien (. Tabelle 6.5). Die apparative Diagnostik hat nur einen geringen Stellenwert. Auf eine Elektroneuro- oder Elektromyographie kann bei der sensomotorischen diabetischen Neuropathie meist verzichtet werden. Die Messung der Leitgeschwindigkeit erfasst z.B. nur die Funktion der schnelleitenden Nervenfasern. Die für die Wahrnehmung des Schmerzes und die autonomen Funktionsstörungen wichtigen dünnen, unbemarkten Fasern werden nicht erfasst. Wichtig für die Diagnose einer sensomotorischen diabetischen Neuropathie sind dagegen neurologische Untersuchungmethoden, die mit Hilfe einfacher Geräte (z. B. Stimmgabel, Reflexhammer, Monofilament) durchgeführt werden können. Die Schmerzempfindung wird mit einem Zahnstocher, einer Einmalnadel oder einem Neurotip geprüft (Frage: »Ist es schmerzhaft?«), die Berührungsempfindung (Oberflächensensibilität) mit einem Wattebausch, die Vibrationsempfindung mit einer 128-Hz-Stimmgabel (zunächst am Großzehengrundgelenk, wenn negativ am Malleolus medialis). Wichtig ist weiterhin die Auslösung der Muskeleigenreflexe (Achilles- und Patellarsehnenreflex). Die Temperaturempfindung wird mit Hilfe einer kalten Stimmgabel, eines eiswassergekühlten Reagenzglases oder eines Tip Therm geprüft, die Druckempfindung mit einem 10-g-Monofilament auf der Plantarseite des Metatarsale II im Bereich des Zehenballens. Therapie Eine signifikante Verbesserung objektiver und subjektiver Parameter der sensomotorischen Neuropathie nur durch eine langfristig nahe-normoglykämische Stoffwechseleinstellung möglich ist. Neben dieser kausalen Therapie gibt es nur symptomatische Maßnahmen zur Reduzierung der Symptome und Beschwerden der diabetischen Neuropathie. Dazu gehören die Normalisierung des Blutdrucks, die Fußpflege, die Prophylaxe von Fußläsionen und Krankengymnastik. Bei Schmerzen können einfache Analgetika, aber auch Antiepileptika (Carbamazepin, Gabapentin), selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (Citalopran, Paroxetin), trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin) und Tramadol eingesetzt werden (DDG-Leitlinie 2002).

112

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

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. Abb. 6.4 Neurologischer Symptomen-Score (NSS, Young-Score). (Nach DDG 2002)

6.5 · Diabetische Neuropathie

113

. Abb. 6.5 Neurologischer Defizit-Score (NDS, Young-Score). (Nach DDG 2002)

6

114

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

2

. Tabelle 6.5 Verlaufsformen und Diagnosekriterien der sensomotorischen diabetischen Neuropathie. (Nach DDG 2002)

2

Verlaufsformen der Neuropathie

Diagnosekriterien

3

Subklinische Neuropathie

Pathologische quantitative neurophysiologische Tests (Vibratometrie, quantitative Thermästhesie, Elektroneurographie), weder Beschwerden noch klinische Befunde

Chronisch-schmerzhafte Neuropathie (häufig)

Schmerzhafte Symptomatik in Ruhe (symmetrisch und nachts zunehmend): Brennen, einschließende oder stechende Schmerzen, unangenehmes Kribbeln Sensibilitätsverlust unterschiedlicher Qualität und/oder beidseitig reduzierte Muskeleigenreflexe

Akut-schmerzhafte Neuropathie (eher selten)

Symmetrische Schmerzen an den unteren Extremitäten und eventuell auch im Stammbereich stehen im Vordergrund Eventuell zusätzlich Hyperästhesie Kann mit Beginn bzw. Intensivierung einer Insulintherapie assoziiert sein (Insulinneuritis) Geringe Sensibilitätsstörungen an den unteren Extremitäten oder normaler neurologischer Untersuchungsbefund

Schmerzlose Neuropathie

Fehlende Symptome bzw. Taubheitsgefühl und/oder Parästhesien Reduzierte oder fehlende Sensibilität bei fehlenden Muskeleigenreflexen (insbesondere ASR)

Diabetische Amyotrophie

Progredienter, zumeist asymetrischer Befall der proximalen Oberschenkel- und Beckenmuskulatur mit Schmerzen und Paresen

Langzeitkomplikationen der distal-symmetrischen Polyneuropathie mit unterschiedlichem Penetrationsgrad

Neuropathische Fußläsionen, z. B. Fußulzera Diabetische Osteoarthropathie (Charcot-Fuß) Nichttraumatische Amputation

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

6.5 · Diabetische Neuropathie

6.5.4

115

6

Autonome diabetische Neuropathie

Autonome Neuropathien treten selten isoliert auf, sie betreffen meist mehrere Organsysteme. Die folgenschwerste ist die kardiovaskuläre Neuropathie, weil sie zum »stummen Infarkt« führen kann. Symptome der kardiovaskulären Neuropathie sind Blutdruckabfall, Schwäche, Schwindel und Ohnmacht. Die gastrointestinale Neuropathie kann mit Störungen der Ösophagusfunktion und der Magen- oder Darmentleerung einhergehen. Bei ösophagealer Beteiligung treten dysphagische Beschwerden, Sodbrennen, Übelkeit und Erbrechen auf, bei der sehr viel häufigeren Magenbeteiligung Übelkeit, Erbrechen, Völlegefühl, Blähungen, Aufstoßen und abdominelle Schmerzen. Führendes Symptom bei der Neuropathie des Dünndarms ist die Diarrhö, bei der des Dickdarms die Obstipation. Die urogenitale Neuropathie tritt ausschließlich bei erwachsenen Patienten auf und ist durch diabetische Zystopathie und erektile Dysfunktion charakterisiert. Bei der endokrinen Dysfunktion ist die Hypoglykämiewahrnehmung gestört und es fehlt die hormonelle Gegenregulation. Sehr selten ist die Neuropathie der Pupille, bei der die Pupillenmotorik gestört ist. Sie verursacht geringe Beschwerden (Störungen der Hell-Dunkel-Adaptation mit Blendungsgefühl). Störungen der Sudomotorik (gustatorisches Schwitzen, »trockene Füße«) und der Trophik (Hyperkeratose, Rhagaden, neurotrophisches Ulkus, Osteopathie, Osteoarthropathie, Ödem) sind Manifestationen der autonomen diabetischen Neuropathie, zu der schließlich auch noch die respiratorische Neuropathie mit einer Fehlregulation der Atmung gehört (Schlafapnoe, Atemstillstand). Diagnostik Auch bei der Diagnose der autonomen diabetischen Neuropathie spielt die Erhebung der Anamnese eine zentrale Rolle. Bei Beschwerden, die auf eine autonome Neuropathie hinweisen, sind verschiedene spezielle Untersuchungen notwendig. In . Tabelle 6.6 sind die klinisch wichtigen Manifestationen und die zugeordnete Diagnostik der autonomen Neuropathie einander gegenübergestellt (DDG 2002). Therapie Eine ganze Reihe spezieller Therapien der verschiedenen Formen der autonomen diabetischen Neuropathie stehen heute zur Verfügung. In der folgenden Übersicht sind diese Behandlungsmöglichkeiten zusammengestellt (DDG 2002), obwohl sie für den Pädiater, der Kinder und Jugendliche mit Diabetes betreut, kaum eine praktische Bedeutung haben.

116

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

2

. Tabelle 6.6 Formen der autonomen diabetischen Neuropathie und zugeordnete Diagnostik

2

Organe und Funktionen

3 4 5 6 7 8

Kardiovaskuläres System Ruhetachykardie Herzfrequenzstarre Belastungsintoleranz Verminderte bzw. fehlende Wahrnehmung von Myokardischämien Perioperative Instabilität Posturale Hypotonie Präkapilläre arteriovenöse Shunts Gastrointestinales System Dysfunktion: Ösophagus, Magen, Darm, Gallenblase Anorektale Dysfunktion (Stuhlinkontinenz)

9 10

Urogenitales System Diabetische Zystopathie Erektile Dysfunktion

11 12 13

Endokrine Dysfunktion Gestörte Hypoglykämiewahrnehmung und (oder) Fehlen einer hormonellen Gegenregulation Pupillomotorik Miosis

14 15 16 17

Gestörte Pupillenreflexe Verminderte Dunkeladaptation Sudomotorik Dyshidrose (gustatorisches Schwitzen, »trockene Füße«) Trophik Hyperkeratosen, Rhagaden Neurotrophisches Ulkus

Untersuchungsmethoden

Tests zur Herzfrequenzvarianten Orthosthasetest, Kipptischtest

Magenentleerung (nuklearmedizinisch, sonographisch) Gastrokolische Transitzeit (röntgenologisch, H2-Exhalationstest, nuklearmedizinisch) Gallenblasenkontraktion (sonographisch) Ösophagogastrointestinale Manometrie

Max. Nacht-Morgen-Urinvolumen Sonographie Urologische Funktionstests Standardisierter Fragebogen Engmaschige Blutglukosekontrollen (insbesondere Selbstkontrollen) besonders auch nachts

Infrarotpupillometrie (Mydriasegeschwindigkeit, Latenzzeit des Pupillenreflexes)

Schweißtest

Fußinspektion Klinisch-neurologische und -angiologische Untersuchung

6

117

6.5 · Diabetische Neuropathie

. Tabelle 6.6 Formen der autonomen diabetischen Neuropathie und zugeordnete Diagnostik Organe und Funktionen

Untersuchungsmethoden

Osteopathie Osteoarthropathie (Charcot-Fuß) Ödem

Röntgen, ggf. CT, NMR Pedographie (zur Qualitätskontrolle orthopädieschuh technischer Maßnahmen und Ermittlung der Druckbelastung unter den Fußsohlen)

Respiratorisches System Zentrale Fehlregulation der Atmung mit herabgesetztem Atemantrieb gegenüber Hyperkapnie bzw. Hypoxämie Schlafapnoe Atemstillstand

Ggf. Schlaflabor

CT Computertomographie, NMR »nuclear magnetic resonance«.

Therapiemöglichkeiten verschiedener Formen der autonomen diabetischen Neuropathie 5 Herz-Kreislauf-System – Kardiovaskuläre Neuropathie:

Im Allgemeinen keine spezielle Behandlung notwendig (wichtig: Diagnose und Therapie von koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz) – Orthostasesyndrom: Allgemeine Maßnahmen: liberalisierte Kochsalzzufuhr, körperliches Training, Schlafen mit erhöhtem Kopfteil (Verminderung der Diurese), Kompressionsstrümpfe, Beachtung hypoton wirkender Pharmaka

Fludrokortison (beginnend mit niedriger Dosierung bei Beachtung von Nebenwirkungen) Blutdrucksteigernd wirksame Medikamente mit kurzer Halbwertszeit (z. B. Midodrin) 5 Gastrointestinales System – Gastroparese:

Pharmakotherapie: Metoclopramid, Domperidon, Erythromycin Jejunostomie/Ernährungssonde (nur in Ausnahmefällen) – Diarrhoe: Synthetische Opioide (Loperamid) 6

118

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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Clonidin (a-2-Rezeptor-Agonist) Antibiotika: z. B. Gyrasehemmer, Amoxizillin, Doxyzyklin Andere Substanzen (nach spezieller Ätiologie der Diarrhoe): Pankreasenzyme, Kolestyramin, Psylliumsamen, Kaolin und Pektin, Oktreotid (Somatostatinanalogon) – Obstipation: Volumenfördernde Maßnahmen: reichlich Flüssigkeit Ballaststoffe (Psylliumsamen) Bewegung Osmotisch wirksame Laxantien: Laktulose, Makrogol Mobilitäts- und sekretionswirksame Laxantien: Bisakodyl, Antrachinome Salinische Abführmittel: Magnesiumsulfat, Natriumsulfat Versuch mit Prokinetika: Metoklopramid, Domperidon – Stuhlinkontinenz: Antidiarrhoika Biofeedback-Techniken 5 Endokrines System – Neuroendokrine Dysfunktion:

Häufige Blutzuckerkontrollen und ärztliche Kontrollen, Vermeidung von symptomatischen und asymptomatischen (oftmals nächtlichen) Hypoglykämien Therapie mit kurz wirksamen Normalinsulinen oder Insulinanaloga

5 Urogenitales System – Diabetische Zystopathie: Selbstkatheterisation Parasympathikomimetika (z.B. Carbachol, Distigmin) Diagnose und Therapie einer Prostatahyperplasie (»bladderoutlet-obstruction«): konservative (z. B. Hyperthermie, a-1A-Rezeptorenblocker) oder operative urologische Maßnahmen (Prostataresektion) Gegebenenfalls antibiotische Therapie – Erektile Dysfunktion:

Vermeidung medikamentöser Nebenwirkungen (bedingt durch Antihypertonika, Tranquilizer, Antidepressiva) 5-Phosphodiesterasehemmer (Sildenafil, Vardenafil, Tadalafil) Erektionshilfesysteme (Vakuumpumpe) Intraurethrale Applikation von Alprostadil (MUSE) Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) Schwellkörperimplantat 5 Trophik 5 Neuropathischer Fuß – Neuropathisches Ulkus, Neuroarthropathie und -osteopathie:

Fußpflege (Schulung) Druckentlastung (Vorfußentlastungsschuh, orthopädische Einlagen-und Schuhversorgung) Infektionsbekämpfung (Antibiotika, Desinfektion) Lokale chirurgische Maßnahmen (Abtragen von Nekrosen, 6

6.5 · Diabetische Neuropathie

Kallus und Granulationsgewebe; Strahlresektion, Endgliedamputation); konservative oder operative Therapie einer arteriellen Verschlusskrankheit – Neuropathisches Ödem: Saluretika – Sudomotorische Dysfunktion (diabetische Anhidrose, gustatorisches Schwitzen):

Prophylaxe bei identifizierter Ursache des Schwitzens

119

(Nahrungsbestandteile), Anticholinergika, Clonidin (niedrige Dosis) Vermeidung starker Hitzeexposition Fett- oder harnstoffhaltige Externa, Fußpflege 5 Pupillomotorisches System – Hinweis für den Patienten auf verminderte Dunkeladaption und Gefährdung bei Nachtblindheit – Glaukomgefährdung (Kontrolle

des Augendrucks)

Zusammenfassung Wie bei der sensomotorischen Neuropathie treten Dysfunktionen und Beschwerden der autonomen Neuropathie frühestens nach 10-, meist jedoch erst nach 15- bis 20-jähriger Diabetesdauer auf, d. h. frühestens bei älteren Jugendlichen, nie jedoch bei Kindern mit Typ-1-Diabetes. Für den Kinder- und Jugendarzt ist es daher wichtig, bei seinen Patienten durch eine möglichst gute, d. h. nahenormoglykämische Stoffwechseleinstellung das Auftreten einer diabetischen Neuropathie herauszuschieben oder ganz zu verhindern. Eine wichtige Aufgabe besteht aber auch darin, bei Eltern und vor allem bei Jugendlichen die Ängste vor neuropathischen Folgeerkrankungen, z. B. der erektilen Dysfunktion oder dem diabetischen Fuß, zu zerstreuen. Dazu gehören nicht nur der Hinweis, dass sie, wenn überhaupt, erst nach langer Diabetesdauer im Erwachsenenalter auftreten, sondern auch die Tatsache, dass schon jetzt wirksame Therapiemöglichkeiten verfügbar sind, die in den nächsten Jahren weiter verbessert werden.

6

120

2

6.6

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen und der Verbesserung der Prognose des Typ-1-Diabetes

2

))

3

Vor Beginn der Insulinära war die Prognose des insulinabhängigen Diabetes schlecht. Die Patienten starben häufig 2 bis 4 Monate nach Manifestation der Erkrankung. Todesursache war immer eine diabetische Ketoazidose mit Koma. Nach Einführung des Insulins in die Therapie hoffte man, dass Patienten mit Typ-1-Diabetes ein fast normales Leben zu erwarten hätten. Im Laufe der 40er Jahre stellte sich diese Annahme als Irrtum heraus. Durch die Entwicklung diabetischer Spätkomplikationen, die heute als Folgerkrankungen bezeichnet werden, ist die Lebenserwartung von Kindern und Jugendlichen weiterhin verkürzt, die Lebensqualität vermindert.

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Man muss heute noch davon ausgehen, dass nach 20 Jahren Diabetesdauer 40% der Patienten eine Nephropathie und 80% eine Retinopathie aufweisen. Ein Drittel aller Nierentransplantationen betrifft Diabetiker, ein Drittel der an terminaler Niereninsuffizienz sterbenden Patienten sind Diabetiker. Die diabetische Makroangiopathie tritt zwar selten bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes auf, im Erwachsenenalter erkranken und sterben jedoch Typ-1-Diabetiker früher und häufiger an einer Arteriosklerose. 6.6.1

Die DCCT-Studie

Der Kausalzusammenhang zwischen Hyperglykämie und Mikroangiopathie wurde endgültig und mit großer Breitenwirkung durch die Publikation der Ergebnisse des DCCT im September 1993 im New England Journal of Medicine bewiesen. Die 1.441 Patienten wurden randomisiert entweder mit konventioneller Insulintherapie (CT: 2 Injektionen pro Tag) weiterbehandelt oder auf eine intensivierte Insulintherapie (ICT: 4 Injektionen pro Tag, mehrheitlich CSII) umgestellt. An der Studie nahmen auch 195 Jugendliche mit Typ-1-Diabetes teil. Die Studiendauer betrug im Mittel 6,5 Jahre. Der mittlere HbA1c-Wert lag bei der intensiviert behandelten Gruppe während der Studie bei 7,12%, bei der konventionell behandelten Gruppe bei 9,02%. Die mittlere Blutglukosekonzentration betrug bei der intensiviert behandelten Gruppe 155±30 mg/dl, bei der konventionellen Gruppe 231±55 mg/dl. Das Neuauftreten der diabetischen Retinopathie (primäre Prävention) ließ sich bei der intensiviert behandelten Gruppe um 76% reduzieren (. Abb. 6.6), das der Nephropathie um 44% (. Abb. 6.7) und das der Neuropathie um 70%. Bei den Patienten, die bereits bei Studienbeginn mikroangiopathische und neuropathische Veränderungen aufwiesen, konnte die Verschlechterung der

6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen

121

6

. Abb. 6.6 Kumulative Inzidenz der Retinopathie bei Patienten, die im Rahmen des DCCT eine konventionelle bzw. intensivierte Insulintherapie erhielten

. Abb.6.7 Kumulative Inzidenz der Nephropathie bei Patienten, die im Rahmen des DCCT eine konventionelle bzw. intensivierte Insulintherapie erhielten

Befunde signifikant verzögert werden (sekundäre Prävention). Die Rate neuaufgetretener Veränderungen an den Augen verminderte sich um 54%, an den Nieren um 56%, an den Nerven um 57%. Der exponentielle Zusammenhang zwischen Langzeit-HbA1c und Folgeerkrankungen, wie er in der DCCT-Studie beschrieben wurde, findet sich in gleichem Maße für die Kinder, die in der Berliner Retinopathiestudie verfolgt wurden (. Abb. 6.8).

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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

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. Abb. 6.8 Exponentieller Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer fluoreszenzangiographisch nachgewiesenen milden, nichtproliferativen (Background)Retinopathie und dem Mittelwert der Jahresmittelwerte des HbA1c-Wertes bis zu diesem Ereignis. Ergebnis der Berliner Retinopathie-Studie

Auch eine Nachuntersuchung von knapp 90% der adoleszenten Patienten der ursprünglichen DCCT-Studiengruppe (»Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications«/EDIC) belegte die langfristige Bedeutung der guten Stoffwechseleinstellung von Anfang an. Sowohl die Patienten des ursprünglich konventionell wie die des intensiviert behandelten Studienarms wiesen in den vier Jahren nach Studienende im Mittel vergleichbare HbA1c-Werte (8,38 vs. 8,45%) auf. Die Retinopathieprävalenz war jedoch signifikant um über 70% in der Adoleszentengruppe reduziert, die ursprünglich intensiviert behandelt wurde und initial bessere Stoffwechselergebnisse aufwies (DCCT/EDIC 2001). Ein ähnlicher langfristiger Effekt der besseren Stoffwechseleinstellung auf die Entwicklung einer Mikroangiopathie ist auch für die Gesamtstudiengruppe gefunden worden, sogar über die Phase besserer glykämischer Kontrolle hinaus (DCCT/EDIC 2002). Eine gute Einstellung zu Beginn der Erkrankung hat also eine große langfristige Bedeutung für die Vermeidung diabetischer Folgeerkrankungen. Eindrucksvoll belegt die DCCT-Studie auch den über den HbA1c-Wert hinausgehenden positiven Einfluss intensivierter Therapieverfahren auf die Retinopathieentwicklung. Bei gleichem durchschnittlichen HbA1c-Wert entwickelten die Patienten in der intensivierten Gruppe deutlich seltener Folgeer-

6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen

123

6

. Abb. 6.9 Ergebnisse der DCCT-Studie. Trotz gleichen HbA1c-Wertes entwickelten die mit intensivierter Therapie behandelte Patienten seltener eine Retinopathie als die mit konventioneller Therapie behandelten (__ intensive Behandlung, … konventionelle Behandlung)

krankungen als konventionell behandelte (. Abb. 6.9). Man kann die Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass der HbA1c-Wert immer nur einen Mittelwert darstellt, der die Blutzuckerschwankungen nicht erfasst. ! Das heute unstrittige metabolische Ziel der Langzeitbehandlung des Typ1-Diabetes ist, ein Stoffwechselgleichgewicht mit möglichst normalen Blutglukosewerten zwischen 60 und 180 mg/dl zu erzielen.

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Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

6.6.2

Die Rolle der Pubertät

)) Im Jahre 1989 wurden Daten der kinderdiabetologischen Arbeitsgruppe aus Pittsburgh veröffentlicht, die dahingehend interpretiert wurden, dass die Zeit vor der Pubertät für die Entwicklung von Folgeerkrankungen nicht bedeutsam sei. Diese Ergebnisse wurden inzwischen eindeutig widerlegt, sodass ein therapeutischer Nihilismus in keiner Weise gerechtfertigt ist

1989 veröffentlichten Kostraba et al. Daten, aus denen hervorzugehen schien, dass die präpubertäre Diabetesdauer geringen Einfluss auf die Prävalenz mikrovaskulärer Komplikationen habe. Obwohl die Autoren betonen, dass es viele Interpretationsmöglichkeiten dieser Daten gebe und sie im klinischen Zusammenhang mit Vorsicht behandelt werden sollten, wird auch heute immer noch von einigen pädiatrischen Diabetologen der Schluss gezogen, dass nicht nur die Dauer, sondern auch die Qualität der Stoffwechseleinstellung bei Klein- und Schulkindern von geringer Bedeutung für das Auftreten von diabetischen Folgeerkrankungen sei. Dieser Auffassung muss energisch entgegengetreten werden, da inzwischen Publikationen vorliegen, die folgendes beweisen: ! F Mikrovaskuläre Komplikationen können bereits präpubertär auftreten: jüngster Patient mit Retinopathie 9,6 Jahre, mit Mikroalbuminurie 11,5 Jahre. Die präpubertäre Diabetesdauer beeinflusst nachweislich die Inzidenz diabetischer Spätkomplikationen. F Eine schlechte Qualität der Stoffwechselkontrolle hat auch schon vor der Pubertät vom Beginn des Diabetes an erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung diabetischer Folgeerkrankungen.

F

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Benutzt man statistische Methoden, um die mittleren HbA1c-Werte der präpubertären und postpubertäten Diabetesdauer für die Entwicklung einer Retinopathie getrennt zu betrachten, so scheinen die hormonellen Umstellungen in der Pubertät sogar eine Beschleunigung der Retinopathieentwicklung zu bedingen. Eine lang andauernde Hyperglykämie vor der Pubertät trägt also genau so wie die Zeit während und nach der Pubertät zum Risiko für Folgeerkrankungen bei. Dabei ist zu berücksichtigen, dass genau in dieser Phase besonders viele Jugendliche sowohl nach eigenen wie nach internationalen Erfahrungen eine gute Stoffwechseleinstellung häufig nicht erreichen können. Mut machen die Daten einer Gruppe pädiatrischer und internistischer Diabetologen aus Mittelschweden, die zeigen, dass die kumulative Inzidenz der

6.6 · Möglichkeiten der Prävention von Folgeerkrankungen

125

6

. Abb. 6.10 Rückgang der Inzidenz der diabetesbedingten Nephropathie bei schwedischen Kindern mit Typ-1-Diabetes

persistierenden Mikroalbuminurie bei einer homogenen, genetisch gleichbelasteten Population von 28,0% in den Jahren 1961–1965 auf 5,8% in den Jahren 1976–1980 durch Verbesserung der Stoffwechselkontrolle reduziert werden konnte (. Abb. 6.10). Einer langfristig bestmöglichen nahe-normoglykämischen Stoffwechseleinstellung kommt also eine herausragende Bedeutung für die Prävention von Sekundärkomplikationen und damit der Prognose des Typ-1-Diabetes im Kindesalter zu. Beim Vergleich der Werte verschiedener Diabeteszentren ergaben sich hochsignifikante Unterschiede im durchschnittlichen HbA1c-Wert. Auffällig war, dass in Zentren mit einem überdurchschnittlich guten mittleren HbA1c-Wert dieser sehr wohl bei Patienten mit kurzer als auch langer Diabetesdauer nachweisbar ist. Das spricht für die außerordentliche Bedeutung bereits des 1. Jahres nach Manifestation, in dem ein möglichst guter Umgang mit der Krankheit gelernt und etabliert wird. In der DCCT-Studie führte eine intensive Insulintherapie während der ersten 5 Diabetesjahre langfristig zu besseren HbA1c-Werten und niedrigerer Mikroangiopathierate. Auch in der Berliner Retinopathiestudie waren Patienten, die einen guten HbA1c-Wert im ersten Diabetesjahr aufwiesen, signifikant später von Augenhintergrundsveränderungen betroffen.

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2 2 3 4 5 6

Kapitel 6 · Folgeerkrankungen und Prognose des Typ-1-Diabetes

Zusammenfassung Auch wenn andere Risikofaktoren (Hypertonie, Rauchen, erhöhte Eiweißzufuhr) und die genetische Prädispositon für die Entstehung von diabetischen Folgeerkrankungen mitverantwortlich sind, ist die zentrale pathogenetische Bedeutung der glukosetoxischen Wirkung einer unzureichenden Stoffwechselkontrolle heute unbestritten. Die einzige als gesichert anzusehende Maßnahme zur Prävention von Folgeerkrankungen und zur Reduktion der Mortalität bei Typ-1-Diabetes ist die Optimierung der Stoffwechseleinstellung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Zur Prävention von diabetischen Folgeerkrankungen müssen daher alle Pädiater dafür Sorge tragen, dass möglichst alle Kinder mit Diabetes bereits ab Manifestation eine kompetente pädiatrisch-diabetologische Betreuung erhalten und ihren Eltern und Betreuern durch entsprechende Schulung die Kompetenz für die sachgerechte Behandlung ihrer Kinder im Alltag von Anfang an vermittelt wird.

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129

7

Insulintherapie )) Bis etwa 1980 wurde Insulin ausschließlich aus den Bauchspeicheldrüsen von Schlachttieren, insbesondere von Rindern und Schweinen, gewonnen. Inzwischen ist diese Art der Herstellung fast vollständig durch unterschiedliche Methoden der Gewinnung von Humaninsulin abgelöst worden. Als Ergänzung der Humaninsuline sind in den letzten Jahren modifizierte Insuline, die Insulin-Analoga, entwickelt und erprobt worden.

7.1

Herstellung von Humaninsulin

Die industrielle Herstellung von Humaninsulin erfolgt heute ausschließlich biosynthetisch durch gentechnologische Verfahren. Eli Lilly stellte als erste Firma gentechnologisch produzierte Humaninsuline her. Verwendet wird heute ein menschliches Genom, über das in Escherichia coli Proinsulin hergestellt wird. Durch enzymatische Abspaltung des C-Peptids entsteht Humaninsulin. Fa. Novo-Nordisk produzierte zunächst semisynthetisches Humaninsulin. Heute benutzt die Firma synthetische DNS zur Herstellung von Mini-Proinsulin in Hefen zur Herstellung von biosynthetischem Humaninsulin. Die Fa. SanofiAventis (ehemals Hoechst) stellte zunächst ebenfalls semisynthetisches Humaninsulin her. Inzwischen verwendet die Firma für die Produktion von biosynthetischem Humaninsulin das Genom der Affenart Macaca fascicularis. Nach Insertion in Escherichia coli wird humanes Proinsulin synthetisiert. Als letzter Syntheseschritt erfolgt ebenfalls die enzymatische Abspaltung von C-Peptid. Durch die industrielle Herstellung von Humaninsulin hat sich der Insulinmarkt von der begrenzten Verfügbarkeit von Rinder- und Schweinepankreas unabhängig gemacht. 7.2

Standardisierung von Insulinpräparaten

Die biologische bzw. blutzuckersenkende Aktivität des Insulins wird in internationalen Einheiten pro Milliliter (I.E./ml bzw. U/ml) angegeben. Nach dem 1. Internationalen Standard für reines Humaninsulin entspricht eine internationale Einheit 38,5 µg Reinsubstanz (=26 I.E./ml). Jede Fabrikationsmenge musste bisher biologisch getestet werden. Das erfolgte nach international festgelegten Richtlinien im In-vivo-Bioassay. Nach der Definition des »Public Health Com-

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Kapitel 7 · Insulintherapie

mittee of the League of Nations« entspricht eine internationale Einheit Insulin der Menge an Substanz, die notwendig ist, um den Blutzucker eines 2,0–2,5 kg schweren Kaninchens, das 24 h lang gefastet hat, vom Normalwert (118 mg/dl) auf 50 mg/dl in 1 h bzw. auf 40 mg/dl in 2 h zu senken. Die Messung des hypoglykämisierenden Effekts zur Bestimmung der Wirkungsstärke von Insulin ist heute durch die quantitative Bestimmung des Insulingehalts der Insulinzubereitung (z.B. durch HPLC) ersetzt worden. 7.3

Konzentration von Insulinpräparaten

In der Bundesrepublik Deutschland enthalten die Insulinpräparate (in Flaschen zum Aufziehen in Spritzen) sowohl 40 I.E. Insulin/ml (U40-Insulin) als auch 100 I.E. Insulin/ml (U100-Insulin). Das steht im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, in denen ausschließlich U100-Insulin verwendet wird. Herstellung von Insulinverdünnungen Selten muss der Pädiater Säuglinge oder Kleinkinder mit Diabetes behandeln, die einen sehr niedrigen Insulinbedarf aufweisen. Bei Einzeldosen z. B. unter 1 oder 2 I.E. Insulin kann man mit Hilfe eines insulinfreien Mediums, das über die Pharmafirmen zu beziehen ist, vom Apotheker eine niedrigkonzentrierte U20-, U10- oder U4-Insulinzubereitung aus konventionellen Humaninsulinen herstellen lassen. Ein ähnliches Problem gilt für die Insulin-Analoga, die nur in der Konzentration U100 erhältlich sind. Die Fa. Lilly bietet zur Verdünnung von U100-Humalog (Lispro) eine Verdünnungslösung mit der Bezeichnung »Sterile Diluent ND-800« an, die Fa. NovoNordisk eine Verdünnungslösung für NPH-Insulin „Diluting Medium for Protamin Cont. Insulin Injection“ sowie für lösliches Insulin „Diluting medium for soluble insulin injection“ mit deren Hilfe z. B. eine U40-Präparation hergestellt werden kann. »Sterile Diluent« ist in den USA zur Verdünnung von Humalog zugelassen und in 10-ml-Flaschen erhältlich. Die Verdünnungslösung enthält antimikrobielle Zusätze sowie einen Puffer. Die Stabilität der Humalog-Verdünnungen in den Konzentrationen U10 und U50 wurde im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung in den Lilly-Forschungslabors in Indianapolis untersucht. Hierbei zeigte sich, dass die Humalog-Verdünnung bei einer Lagerungstemperatur von 5°C über 28 Tage und bei 30°C über 14 Tage stabil ist. Bei Bedarf kann »Sterile Diluent ND-800« in 10ml-Flaschen gemäß § 73 Abs. 3 AMG unter Angabe des verordnenden Arztes bzw. Vorlage einer Verordnung bei der Kundenbetreuung der Fa. Lilly bestellt werden. Die Stabilität einer Insulinaspartmischung (U 100) mit „Diluting Medium for Protamin Cont. Insulin Injection“ in den Konzentrationen U10 und U50 wurde für eine simulierte kontinuierliche Infusionstherapie für 7 Tage bei 37°C

7.4 · Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert

131

7

mit Insulinpumpen untersucht. Dabei behielten beide Insulinkonzentrationen eine Wirkstärke von über 97% in beiden Konzentrationen nach 7 Tagen bei. Es kam zu keiner nennenswerten Degradation von Insulinaspart oder Katheterverschlüssen. Dieses Verdünnungsmedium ist jedoch noch nicht für die Verdünnung von NovoRapid (Insulinaspart) zugelassen worden. Sowohl der betreuende Arzt als auch der Apotheker können für den Patienten eine entsprechende Insulinverdünnung herstellen. Benötigt werden hierzu sterile 10-ml-Leerflaschen, die über den Apothekenbedarf bezogen werden können, sowie Humalog U100 in 10-ml-Flaschen und die »Sterile-Diluent-ND-800Verdünnungslösung«, die ebenfalls in 10-ml-Flaschen angeboten wird. Nach Desinfektion der Gummimembranen der 3 Flaschen mit 70%igem Alkohol wird zunächst Humalog mit einer sterilen Einmalspritze in die Leerflasche umgefüllt und danach die restliche Menge Verdünnungslösung bis auf 10 ml ebenfalls mit einer sterilen Einmalspritze in die Leerkartusche gespritzt. Vor dem Befüllen der Leerkartusche sollte hier ein entsprechendes Vakuum durch Abziehen der Luft mit Hilfe einer sterilen Einmalspritze erzeugt werden. Um so beispielsweise 10 ml einer U40-Insulinlösung herzustellen, werden zunächst 4 ml Humalog U100 in die Leerflasche gefüllt und anschließend 6ml des »Sterile Diluent ND-800«. Auf genaue Dosierung ist hier besonders zu achten, da ansonsten eine falsche Insulinkonzentration entsteht. Um Verwechslungen zu vermeiden, ist es wichtig, dass derjenige, der die verdünnte Insulinlösung herstellt, die Verdünnung entsprechend beschriftet. 7.4

Zusätze zu Insulinzubereitungen/pH-Wert

Allen Insulinzubereitungen sind antibakteriell wirksame Substanzen zugesetzt. Die meisten Präparate enthalten m-Kresol und Phenol bzw. beides in geringen Konzentrationen als Konservierungsmittel. Bei Zink-Insulinen darf kein Phenol verwendet werden, da die physikalischen Eigenschaften der Insulinpartikel verändert würden. Daher enthalten diese Präparate Methylparaben (PHBEster = Para-Hydroxy-Benzoesäuremethylester) als antimikrobiellen Zusatz. Durch die Desinfizienzien wird eine bakterielle Kontamination beim mehrfachen Durchstechen des Verschlusses der Insulinflaschen vermieden. Zur Kristallisierung enthalten Zink-Insulin-Suspensionen NaCl, NPH-Insulin dagegen Glyzerol. Manche Insulinzubereitungen enthalten einen Phosphatpuffer. Sie dürfen nicht mit Zink-Insulin-Suspensionen gemischt werden, da Zinkphosphat ausfallen und damit die Verzögerungswirkung beeinträchtigt würde. Insulin ist bei einem sauren pH-Wert von 2–3 klar löslich. Am isoelektrischen Punkt, d. h. bei einem pH von 5,4, besitzt Insulin sein Fällungsmaximum. Bei weiterem Anstieg des pH geht Insulin wieder in Lösung. Daher sind die meis-

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2

Kapitel 7 · Insulintherapie

ten der heute angebotenen Insulinzubereitungen neutral. Ihr pH-Wert liegt zwischen 7,0 und 7,3. Nur Surfen-Insulinlösungen liegen im sauren Bereich bei einem pH-Wert von 3,5 vor.

2 7.5

Aufbewahrung von Insulinpräparaten

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Die Stabilität der Insulinpräparationen hängt von der Lagerungstemperatur ab. Insulinpräparate sollten während der Zeit der Bevorratung sorgfältig bei einer Temperatur zwischen +2 und +8°C aufbewahrt werden, damit ihre Wirksamkeit voll erhalten bleibt. Am besten geschieht das im Kühlschrank, nicht jedoch im Tiefkühlfach, denn durch Einfrieren treten ähnliche Denaturierungen wie bei hohen Temperaturen auf. Bei Temperaturen um 30°C kommt es bei kurzwirkenden Insulinpräparaten zu Fibrillenbildung. Das Insulin wird biologisch inaktiv. Bei länger wirksamen Insulinzubereitungen treten Insulinkoagulationen auf. Während der Zeit des Gebrauchs, z. B. im Pen oder in der Insulinpumpe, können Insulinpräparate jedoch zeitlich begrenzt bei Zimmertemperatur aufbewahrt werden. Auf das Verfallsdatum der Insulinpräparation ist streng zu achten. Wenn Insulinlösungen oder Suspensionen ihre Farbe oder ihr Aussehen verändern, sollten sie entsorgt werden. Intensive Sonnenbestrahlung verändert ebenfalls die Qualität des Insulinpräparats. Bei kurzen Reisen kann auf die Kühlung verzichtet werden. Bei längeren Reisen sollte das Insulinpräparat allerdings in einer Kühltasche transportiert werden, v. a. im Sommer und im Auto. Bei Kindern mit sehr niedrigem Insulintagesbedarf sollte der Inhalt eines Insulinfläschchens bei Zimmertemperatur nur 4 Wochen Verwendung finden; im Kühlschrank bei 2–8°C hält er bis zu 3 Monaten (ISPAD 2000). Nach Ablauf dieser Frist sollte der unbenutzte Rest des Insulins entsorgt werden.

13 14

7.6

15

))

16

Die Applikation von Insulin in das Interstitium des subkutanen Fettgewebes, wie sie bei Patienten mit Diabetes durchgeführt wird, ist im Vergleich zur Insulinsekretion ins Pfortadersystem bei Stoffwechselgesunden a priori unphysiologisch. Transportwege und Halbwertszeiten des endogenen und exogenen Insulins sind sehr unterschiedlich. Die Absorption des exogenen Insulins hängt von der Kapillardichte und vom Blutfluss im subkutanen Fettgewebe ab. Auch der Assoziationsgrad des Insulins in Mono-, Dibzw. Hexamere beeinflusst die Absorption.

17

Absorption des injizierten Insulins

7.6 · Absorption des injizierten Insulins

7.6.1

133

7

Transportwege und Halbwertszeiten des Insulins

Bei Stoffwechselgesunden gelangt das von den E-Zellen sezernierte Insulin direkt über den Pfortaderkreislauf in die Leber und erst von dort in den peripheren Blutkreislauf. Die Basalinsulinkonzentration liegt daher in der Pfortader um ein Dreifaches, die Postprandialinsulinkonzentration um das Doppelte höher als in der Peripherie. Mehr als 50% des in den Pfortaderkreislauf sezernierten Insulins werden von der Leber extrahiert. Um eine den normalen Verhältnissen entsprechende Insulinkonzentration in der Leber zu erreichen, müssen daher bei Patienten, die Insulin in das subkutane Fettgewebe spritzen, unphysiologisch hohe Insulinspiegel hingenommen werden. Die biologische Halbwertszeit von sezerniertem Insulin beträgt beim Stoffwechselgesunden 4 bis 6 min . Sie hängt fast ausschließlich von der v. a. in Leber und Niere erfolgenden Degradation und Elimination des Insulins ab. Im Vergleich dazu ist die Halbwertszeit subkutan injizierten Normalinsulins etwa um das Zehnfache verlängert. Die Halbwertszeit der verschiedenen Verzögerungsinsuline ist noch viel länger. Sie kann in Abhängigkeit von der Insulinpräparation mehr als 12 h betragen. Im Gegensatz zum intravasal sezernierten Insulin hängt die biologische Halbwertszeit der subkutan injizierten Insulinpräparate daher in erster Linie von ihrem unterschiedlich lang dauernden Absorptionsprozess ab, erst in zweiter Linie von ihrer Degradation und Elimination. 7.6.2

Die Subkutis als Ort der Insulininjektion

! Das Interstitium des subkutanen Gewebes wird von lockerem Bindegewebe und Fettgewebe gebildet, das über zahlreiche Kapillaren mit Blut versorgt wird. Der Übertritt von Insulin aus dem extravasalen in den intravasalen Raum erfolgt ausschließlich über die Kapillarwände. Die Absorption von Insulin hängt entscheidend vom Blutfluss im Injektionsgebiet ab. Nur ein Teil der Kapillaren ist ständig durchblutet. Durch Erhöhung der Anzahl der offenen Gefäße kann die Mikrozirkulation beträchtlich verbessert werden. Faktoren, die den Blutfluss in den Kapillaren beeinflussen, haben eine starke Wirkung auf die Insulinabsorption in der Subkutis.

Die Kenntnis der Faktoren, die die Absorption fördern, ist von großer praktischer Bedeutung für die Insulintherapie. Vor allem die unterschiedliche Kapillardichte des Fettgewebes an der Injektionsstelle muss berücksichtigt werden. Die Absorptionsgeschwindigkeit im subkutanen Fettgewebe der Bauchregion ist sehr viel größer als die aus der Subkutis des Oberschenkels. Die Injektionsstellen an Oberarm und Gesäß weisen eine mittlere Absorptionsgeschwindigkeit auf. Die Injektionsstellen sollten wegen ihrer unterschiedlichen Kapillardichte

134

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Kapitel 7 · Insulintherapie

mit entsprechend variabler Absorptionsgeschwindigkeit im Hinblick auf die gewünschte Insulinwirkung ausgewählt werden (z. B. Normalinsulin vor einer Mahlzeit in die Bauchhaut, Verzögerungsinsulin spät abends in den Oberschenkel). Die Insulinabsorption ist bei Lipodystrophien (Lipome, Lipoatrophien) durch Verminderung der Mikrozirkulation herabgesetzt. Injektionsareale, die Lipodystrophien aufweisen, sind daher für die Insulinapplikation ungeeignet. Die Absorptionsgeschwindigkeit wird bei Erwärmen der Injektionsstelle durch Verbesserung der Durchblutung beschleunigt. Das ist z. B. bei Reisen in den Süden zu beachten. Aber auch ein heißes Bad oder eine Wärmflasche auf der Injektionsstelle beschleunigen die Absorption. Intensive Sonneneinstrahlung kann z. B. bei Kindern, die am Strand spielen, die Insulinabsorption so sehr beschleunigen, dass eine Hypoglykämie auftritt. Muskelarbeit führt zur Mehrdurchblutung der Injektionsstelle und damit ebenfalls zu einer Beschleunigung der Insulinabsorption. Bei Kleinkindern und schlanken Schulkindern ist das subkutane Fettgewebe oft dünner als 8 mm. Die Injektionskanülen der Spritzen und Pens sind manchmal länger. Daher besteht die Möglichkeit der intramuskulären Injektion, die bei sehr dünnen Kanülen nicht schmerzhaft sein muss. Wegen der im Vergleich zur Subkutis deutlich vermehrten Blutversorgung der Muskulatur ist die Resorptionsgeschwindigkeit bei intramuskulär appliziertem Insulin erheblich größer als bei subkutan injiziertem Insulin. Ausgeprägte Blutglukoseschwankungen mit Hypoglykämien können auftreten. 7.6.3

Assoziationszustand der Insulinmoleküle (Mono-, Di- und Hexamere)

12 13 14 15 16 17

! Der Assoziationszustand des Insulins beeinflusst die Absorptionsrate im subkutanen Fettgewebe. Da nur Mono- und Dimere, nicht jedoch Hexamere durch die Kapillarmembran diffundieren können, hängt die Absorption davon ab, in welchem Mengenverhältnis die Insulinmoleküle in der Präparation als Monomere, Dimere oder Hexamere vorliegen.

Die Kapillaren der Subkutis weisen eine Schicht aus Endothelzellen auf, die einer Basalmembran anliegt. Der Kapillarraum ist mit dem Interstitium über zahlreiche Endothelkanäle mit einem Radius von 4,0–4,5 nm verbunden. Durch diese transmuralen Poren kann Insulin nur diffundieren, wenn es in monomerer oder dimerer Form vorliegt. Die Diffusion ist deutlich behindert, wenn die Insulinmoleküle zu Hexameren assoziiert sind. Nach Injektion des Insulinpräparats werden die Hexamere durch Diffusion zu den Kapillaren transportiert. Durch Entzug von Zinkionen dissoziieren

7.6 · Absorption des injizierten Insulins

135

7

sie zu Dimeren und Monomeren. Dabei spielt die Verdünnung des durch die Injektion gesetzten Insulindepots eine wichtige Rolle. In kommerziellen Insulinmischungen liegt Insulin in einem Gemisch aus Monomeren, Dimeren und Hexameren vor. In zinkhaltigen Mischungen beträgt der Anteil an Hexameren mehr als 75%. Das Verhältnis der Assoziationsformen zueinander ändert sich in Abhängigkeit von der Insulinkonzentration, des pH-Wertes, der Zinkionenkonzentration und den Salzbeimischungen (NaCl). Bei niedrigen Insulinkonzentrationen in neutralen Lösungen liegt Insulin weitgehend als Monomer vor, bei höheren Konzentrationen und in Anwesenheit von Zinkionen überwiegen die Hexamere. In . Abb. 7.1 ist dargestellt, wie durch Verminderung der molaren Konzentration von Insulin im Interstitium die zunächst als Hexamere vorliegenden Insulinmoleküle über Dimere in Monomere dissoziieren, sodass sie zunehmend durch die Poren der Kapillarwände in den intravasalen Raum eintreten können. Durch Behinderung bzw. Verstärkung der Assoziation der Insulinmoleküle zu Di- und Hexameren kann die Resorption beschleunigt bzw. verlangsamt werden. Die intermolekularen Bindungskräfte können dadurch verändert werden, dass eine oder mehrere der für die Assoziation der Insulinmoleküle verantwort-

. Abb. 7.1 Schematische Darstellung der Absorptionsvorgänge nach Injektion von Normalinsulin in die Subkutis. Die Insulinmoleküle liegen in U40- und U100-Insulinpräparationen vorwiegend als Hexamere vor, die durch Verdünnung in Dimere und Monomere zerfallen. Sie können umso besser durch die Poren der Kapillarmembran hindurchtreten, je geringer ihre räumliche Ausdehnung ist. (Nach Brange et al. 1990)

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2 2 3 4

Kapitel 7 · Insulintherapie

lichen Aminosäuren der B-Kette ausgetauscht bzw. angehängt oder ihre Sequenz verändert werden. Nach diesem Prinzip wurden die rasch oder lang wirkenden Insulin-Analoga entwickelt. Im Hinblick auf die Insulinwirkung ist es wichtig, dass die Modifikationen der Aminosäurefrequenz der B-Kette weit entfernt von den Bereichen des Insulinmoleküls liegen, die an der Insulinrezeptorbindung beteiligt sind. Bei den Verzögerungsinsulinen wird die Absorption durch den Zusatz von Verzögerungssubstanzen beeinflusst. Die physikochemischen Grundlagen der Absorptionsvorgänge von Verzögerungsinsulinen konnten bisher nicht aufgeklärt werden.

5 7.7

Typisierung der Insulinpräparate

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)) Nach ihrem Wirkungsprofil werden grundsätzlich zwei Gruppen von Insulinpräparaten unterschieden: 5 Normalinsuline mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer und 5 Verzögerungsinsuline mit langsamem Wirkungseintritt und langer Wirkungsdauer. Als dritte Gruppe kommen konstante Mischungen aus Normal- und Verzögerungsinsulin hinzu, die Kombinationsinsuline. Seit einigen Jahren ist eine vierte Gruppe von Insulinpräparaten therapeutisch verfügbar, die Insulin-Analoga. Dabei handelt es sich um modifizierte Insuline, die einerseits raschere, andererseits langsamere Absorptionsraten als die konventionellen Normal- und Verzögerungsinsuline aufweisen.

Der wichtigste pharmakodynamische Effekt des subkutan injizierten Insulins ist seine blutglukosesenkende Wirkung. Das Wirkungsprofil der verschiedenen Insulinpräparationen wird daher mit Hilfe der euglykämischen Glukose-ClampTechnik bestimmt. Nach subkutaner Injektion von Insulin wird bei kontinuierlicher Blutglukosemessung die Flussrate der Glukoseinfusion ermittelt, die notwendig ist, um die Abweichungen von einem definierten Blutglukosewert (z. B. 4,5 mmol/l) möglichst gering zu halten. Die über den Zeitraum der Insulinwirkung infundierte notwendige Glukosemenge gibt das Wirkungsprofil der getesteten Insulinpräparation wieder. Das während des Glukose-Clamp-Versuchs gleichzeitig gemessene Konzentrationsprofil des Seruminsulins ist zeitlich verschoben, da zwischen dem Plasmaraum und dem Interstitium, das die insulinsensitiven Zellen umgibt, Verzögerungen und Konzentrationsabnahmen auftreten. Ein geringer Teil des subkutan injizierten Insulins wird bereits an der Injektionsstelle enzymatisch degradiert. Der Anteil ist individuell sehr unterschiedlich

7.7 · Typisierung der Insulinpräparate

137

7

und variiert in Abhängigkeit vom Insulinpräparat und Injektionsort. Die lokale Abbaurate kann bis zu 20% der injizierten Insulindosis betragen und ist nicht selten Ursache von Problemen bei der Stoffwechseleinstellung. Zusammenfassung Der Anstieg der Seruminsulinkonzentration hängt in erster Linie von der Absorptionsrate ab, das Absinken dagegen von der Elimination des Insulins, d. h. der vorwiegend in Leber und Niere erfolgenden Insulindegradation. Die Wirkungsdauer injizierten Insulins ist durch eine relativ langsame Resorption bei schneller Elimination gekennzeichnet. Das unterscheidet Insulin von vielen Medikamenten, die meist schnell resorbiert, aber langsam eliminiert werden.

7.7.1

Normalinsulin

Der Wirkungsablauf der verschiedenen Normalinsuline unterscheidet sich kaum voneinander. Der Wirkungseintritt erfolgt etwa 15–30 min nach subkutaner Injektion. Das Wirkungsmaximum tritt nach 120–150 min auf. Die Wirkungsdauer beträgt nach Angaben der meisten Firmen 6–8 h. Zur Substitution des physiologischen Insulinbedarfs muss Normalinsulin daher mindestens 4mal pro Tag injiziert werden. Das Maximum der Wirkung weist in Abhängigkeit von der Insulindosis dagegen erhebliche Unterschiede auf. Bei niedrigen Dosen (0,05 I.E./kg KG) liegt es zwischen 1,5 und 3 h, bei mittleren Dosen (0,2 I.E./kg KG) zwischen 2 und 5 h, bei hohen Dosen (0,4 I.E./kg KG) zwischen 2,5 und 7 h. Auch die Wirkungsdauer nimmt mit steigender Insulindosis zu. In . Abb. 7.2 sind die Glukose-

. Abb. 7.2 Glukoseinfusionsraten nach subkutaner Injektion unterschiedlicher Dosierungen von Normalinsulin bei stoffwechselgesunden Probanden. Höhe und Zeitpunkt des Wirkungsmaximums und der Wirkungsdauer variieren in Abhängigkeit von der Insulindosis. (Nach Heinemann u. Woodworth 1998)

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Kapitel 7 · Insulintherapie

infusionsraten nach Injektion unterschiedlicher Normalinsulindosen (0,05 I. E./ kg–0,4 I.E./kg) dargestellt. Normalinsulin ist die einzige Insulinpräparation, die auch i.v. appliziert werden kann. Bei intravenöser Anwendung ist der blutzuckersenkende Effekt bereits 15 min nach Injektion nachweisbar. Die Maximalwirkung ist nach 30 min erreicht, die Wirkungsdauer beträgt etwa 2 h. Normalinsulin kann intravenös verwendet werden. Dies ist der Fall bei Stoffwechselentgleisungen (diabetische Ketoazidose), bei Operationen. Wir verwenden eine intravenöse Normalinsulininfusion während der Initialtherapie nach Typ-1 Diabetes-Manifestation zur Stoffwechselnormalisierung und Bestimmung des Insulinbedarfs. Die subkutane Applikation von Normalinsulin hat seit Einführung der intensivierten Insulintherapie große Bedeutung erlangt. Als Prandialinsulin wird Normalinsulin bei der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) mit Spritzen, bei der CSII mit Pumpen subkutan appliziert. Außerdem wird es für die freie Mischung von Normal- und Verzögerungsinsulin unmittelbar vor der Injektion in der Spritze verwendet. Zusammenfassung Der Wirkungsverlauf des subkutan applizierten Normalinsulins unterscheidet sich erheblich von dem des endogen sezernierten Insulins. Die Halbwertszeit des aus den subkutanen Fettdepots absorbierten Insulins ist um etwa das 10fache verlängert. Das Absinken der Seruminsulinkonzentration auf den Basalwert erfordert Stunden. Nach Sistieren der physiologischen Insulinsekretion sinkt die Insulinkonzentration dagegen schon nach wenigen Minuten auf Basalwerte. Für die Prandialinsulinsubstitution bei intensivierter Insulintherapie ist das Wirkungsprofil von Normalinsulin daher nicht besonders gut geeignet. Aus diesem Grunde wurden Insulin-Analoga mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer entwickelt.

7.7.2

Verzögerungsinsulin

Um dem Patienten die täglichen schmerzhaften Insulininjektionen zu ersparen, wurden immer wieder Versuche unternommen, oral wirksame Insulinzubereitungen zu entwickeln, d. h. Insulinpräparate in Tabletten- oder Tropfenform. Alle diese Bemühungen mussten scheitern, da Insulin als Protein im Magen durch HCl und im Darm durch Enzyme abgebaut wird, bevor es wirksam werden kann. Dagegen gelang es während der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, die Zahl der täglichen Insulininjektionen durch die Herstellung von Verzögerungsinsulinen, die auch als Intermediär- oder Depotinsuline bezeichnet wurden, zu

7.7 · Typisierung der Insulinpräparate

139

7

verringern. Depotstoffe wurden entwickelt, mit deren Hilfe die Absorption von subkutan injiziertem Insulin verzögert werden konnte. In den Verzögerungsinsulinpräparaten liegt das Insulin in präzipitierter Form, d. h. als Suspension, vor. Es muss daher vor Gebrauch sorgfältig durchmischt werden. ! Verzögerungsinsuline werden heutzutage eingesetzt, um den Basisinsulinbedarf des Körpers abzudecken (7 Kap. 10).

NPH-Insulin ! Das NPH-Insulin ist heute das wichtigste und am häufigsten verwendete Verzögerungsinsulin.

Der Wirkungseintritt der NPH-Insuline wird mit 1–1,5 h, das Wirkungsmaximum mit 4–5 h, die Wirkungsdauer mit 16–22 h angegeben. Wie beim Normalinsulin verschieben sich Wirkungsmaximum und Wirkungsdauer mit zunehmender Insulindosis. NPH-Insulin kann mit Normalinsulin in jedem Verhältnis stabil gemischt werden. Daher wird eine reiche Palette von Insulinpräparationen angeboten, die NPH- und Normalinsulin in konstanten Mischungen enthalten. Weit verbreitet ist die freie Mischung von NPH- und Normalinsulin in der Spritze unmittelbar vor der Injektion. Die NPH-Insuline haben sich auch als Basalinsulin für die intensivierte Insulintherapie bewährt. Wegen ihrer breiten Anwendungsmöglichkeit werden NPH-Insuline daher heute von allen insulinherstellenden Firmen angeboten. 7.7.3

Kombinations- bzw. Mischinsulin

! Kombinations- bzw. Mischinsuline sind konstante Mischungen aus Normal- und Verzögerungsinsulin.

Heute werden von den Firmen präformierte Mischinsuline vertrieben, die aus Mischungen von Normal- und NPH-Insulin in verschiedenen Verhältnissen bestehen (. Tabelle 7.1). Außerdem gibt es inzwischen auch Kombinationsinsuline aus NPH- und schnell wirkenden Insulin-Analoga. Bei der Behandlung des Typ-1-Diabetes von Kindern und Jugendlichen finden die Kombinationsinsuline kaum noch Anwendung. Auch bei einer konventionellen Therapie mit 2 Insulininjektionen pro Tag werden fast ausschließlich freie Mischungen von Normal- und NPH-Insulin verwendet.

140

2 2 3 4

Kapitel 7 · Insulintherapie

Zusammenfassung Das subkutan injizierte Normalinsulin weist einen zu langsamen Wirkungseintritt und eine zu lange Wirkungsdauer auf. Das als Verzögerungsinsulin verwendete NPH-Insulin zeigt ein sehr ausgeprägtes Wirkungsmaximum noch nach 6 h, besitzt aber eine zu kurze blutglukosesenkende Wirkung, wenn es nur einmal täglich injiziert wird. Daher wurden in den letzten Jahren Insulinpräparationen mit schnellerem Wirkungsbeginn und kürzerer Wirkungsdauer für die Prandialinsulinsubstitution sowie Verzögerungsinsuline mit konstant langer Wirkungsdauer für die Basalinsulinsubstitution entwickelt, d. h. die Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt und die mit langer Wirkungsdauer.

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

7.7.4

Insulin-Analoga

! Die Absorption des subkutan injizierten Insulins wird u. a. durch die Selbstassoziation der Insulinmoleküle von Monomeren zu Dimeren und Hexameren beeinflusst. Mono- und Dimere durchdringen die Kapillarmembran, während der Durchtritt der Hexamere behindert ist. Durch Modifikationen der Aminosäuresequenz des Insulins kann die Bindungsfestigkeit der Moleküle untereinander sowohl vermindert wie verstärkt werden. Nach diesem Prinzip wurden Insulin-Analoga mit beschleunigter und verlangsamter Absorption entwickelt. Bei den Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt (Lispro, Aspart und Glulisine) ist die Selbstassoziation behindert, sodass das Insulin vorwiegend als Mono- und Dimer vorliegt und daher schnell absorbiert wird. Bei dem Insulin-Analogon Glargin mit langer Wirkungsdauer ist der Zusammenhalt der Moleküle als Hexamere verstärkt, sodass die Absorption verzögert ist. Bei dem mittellangwirkenden Insulin-Analogon Detemir wird die Verzögerungswirkung durch eine Assoziation des Insulinmoleküls an Serumalbumin erzielt.

Insulin-Analoga mit schnellem Wirkungseintritt ! Eine raschere Absorption des Insulins kann erreicht werden, wenn die

15 16 17

Selbstassoziation der Insulinmoleküle zu Hexameren vermindert wird und die Moleküle im subkutanen Fettgewebe vorwiegend als Mono- oder Dimere vorliegen. Drei rasch wirkende Insulin-Analoga stehen heute zur Verfügung: seit 1996 das Lispro (Humalog) der Fa. Lilly, seit 2000 das Aspart (NovoRapid) der Fa. NovoNordisk und seit 2004 das Glulisine (Apidra) der Fa. Sanofi-Aventis.

Die intermolekularen Bindungskräfte, die zur Selbstassoziation der Insulinmonomere zu Dimeren und Hexameren führen, können verringert werden, wenn

7.7 · Typisierung der Insulinpräparate

141

7

einzelne Aminosäuren ausgetauscht werden oder deren Reihenfolge verändert wird. Es handelt sich dabei v. a. um Aminosäuren der B-Kette. Mit Hilfe gentechnologischer Methoden wurde eine ganze Reihe von Insulin-Analoga mit unterschiedlicher Aminosäuresequenz hergestellt. Mehrere der zunächst in Tierversuchen getesteten Insulin-Analoga zeigten nicht nur eine deutliche Verminderung der Selbstassoziation zu Hexameren in den pharmakologischen Insulinzubereitungen, sondern auch einen beschleunigten Zerfall der Hexamere nach Injektion ins subkutane Fettgewebe. Da diese Insulin-Analoga fast ausschließlich als Monomer und Dimer vorlagen, war die Absorption aus dem subkutanen Fettgewebe um das 2- bis 3fache gegenüber humanem Normalinsulin beschleunigt. Zusammenfassung Wegen ihres schnellen Wirkungseintritts haben die rasch wirkenden Insulin-Analoga nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes heute eine weite Verbreitung gefunden. Bei der intensivierten Insulintherapie werden sie als Prandialinsulin sowohl mit Injektionsspritzen wie mit Insulinpumpen appliziert.

Insulin-Analoga mit langer Wirkungsdauer ! Zur Verbesserung der Basalinsulinsubstitution bei der intensivierten Insulintherapie wurde ein Insulin-Analogon mit einem flachen, gleichmäßigen und langdauernden Wirkungsprofil entwickelt, das Insulin Glargin der Fa. SanofiAventis. Nach klinischer Prüfung und Zulassung ist es seit 2001 als Lantus auf dem Markt. Ein zweites Insulin-Analogon mit mittellanger Wirkungsdauer wurde von der Fa. Novo-Nordisk entwickelt. Die Zulassung des Insulin-Analogons Detemir erfolgte 2004 unter dem Namen Levemir.

Durch Verschiebung des isoelektrischen Punktes, d. h. des pH-Wertes, bei dem das Insulin am wenigsten löslich ist, von 5,4 zum neutralen pH-Wert, können die pharmakokinetischen Eigenschaften der Insulin-Analoga dahingehend modifiziert werden, dass sie langsamere Absorptionsraten aufweisen als Humaninsulin. Die Fa. Sanofi-Aventis entwickelte ein solches, als klar gelöste Insulinzubereitung vorliegendes Insulin-Analogon, das Diarginin(B31, B32)-Insulin Glargin. Durch Austausch von Asparagin in Position 21 der A-Kette gegen Glycin wurden die Bindungskräfte der Insulinmoleküle innerhalb der Hexamere noch verstärkt. Dadurch konnte die Absorption noch mehr verzögert und der DepotEffekt potenziert werden.

142

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Kapitel 7 · Insulintherapie

Das Glycin(A21)-Diarginin (B31, B32)-Insulin wurde als Glargin klinisch geprüft und befindet sich seit 2001 als Lantus im Handel. Glargin weist in den Glukose-Clamp-Versuchen nach einmaliger Injektion ein gleichmäßigeres und längeres Wirkungsprofil auf als das NPH-Insulin. Damit deckt es den Basalinsulinbedarf bis zu 24 h ab und somit länger als andere Verzögerungsinsuline. Einen anderen Weg bei der Entwicklung eines Insulin-Analogons mit längerer Wirkungsdauer beschritt die Fa. Novo-Nordisk. Beim Detemir wurde eine Fettsäure an das Ende der B-Kette (Position 28) angekoppelt. Der Verzögerungseffekt entsteht dadurch, dass das lösliche Insulin-Analogon nach relativ schneller Absorption im Blut über die Fettsäure an Albumin gebunden wird. Erst nach verzögerter Freisetzung aus der Albuminbindung kann das Analogon über den Insulinrezeptor wirken. Damit ist man mit diesem Verzögerungsprinzip erstmals unabhängig von der Absorption aus der Subkutis. Nach klinischer Prüfung wurde das Detemir 2004 ab 6 Jahren zugelassen. Insulin Detemir hat eine geringere interindividuelle Varianz als NPH-Insulin und kann altersunabhängig bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach ähnlichen Titrationsregeln dosiert werden. Bei der Umstellung muss ein individuell sehr unterschiedliches Ansprechen berücksichtigt werden. Nach unserer Erfahrung werden sowohl eine dosisgleiche Umstellung aber auch eine Verdopplung der Einheiten gegenüber der vorhergehenden Basalinsulindosis bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Die beiden Insulin-Analoga mit mittellanger und langer Wirkungsdauer werden bei Patienten mit Typ-1-Diabetes in erster Linie als Basalinsulin bei intensivierter Insulintherapie eingesetzt. Sicherheit der Insulin-Analoga Weil es sich bei den Insulin-Analoga gegenüber dem Humaninsulin um veränderte Moleküle handelt, sind insbesondere auch in der Laienpresse Sicherheitsbedenken gegen diese »Kunstinsuline« vorgebracht worden. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die erste Entwicklung eines schnellwirksamen Insulin-Analogons, das Insulin AspB10, Tumoren in Tierstudien bewirkte. Neben seiner schnelleren Wirkung zeigte AspB10 eine verstärkte Affinität zum IGF-1- und Insulinrezeptor. Für viel Aufregung hatte dann eine Publikation gesorgt, die darüber berichtete, dass Insulin Glargin über eine 7,8fach höhere mitogene Potenz gegenüber Normalinsulin verfügt. Während Insulin Lispro ebenfalls eine etwas höhere mitogene Potenz in diesen Studien aufwies, war dies bei Insulin Aspart und Detemir nicht der Fall. Die erhöhte Mitogenität wurde über die höhere Bindungsaffinität von Glargin und Lispro am IGF-1-Rezeptor (IGF = »insulin-like growth factor«) erklärt. Allerdings ist das Modell, bei dem die mitogene Potenz geprüft wurde, eine humane Osteosarkom-Zelllinie mit sehr vielen IGF-1- und wenigen Insulinrezeptoren. Die Beobachtung konnte in anderen experimentellen Modellen nicht reproduziert werden. Darüber hin-

7.7 · Typisierung der Insulinpräparate

143

7

aus ist es inzwischen klar, dass die erhöhte Kanzerogenität von Insulin AspB10 durch eine deutlich verlängerte Bindungszeit am Insulinrezeptor und nicht durch eine höhere Affinität zum IGF-1-Rezeptor bedingt ist. Durch diese verlängerte Bindungszeit kommt es zu einer Anregung mitogener Signalwege durch den Insulinrezeptor, was unter normalen Bedingungen nicht beobachtet wird. Außerdem würde eine 1.000fach über der physiologischen liegende Insulinkonzentration erforderlich sein, um eine 50%-Rezeptorbindung am IGF-1-Rezeptor zu erreichen. Die Beobachtung einer erhöhten Retinopathie-Häufigkeit in einer Untergruppe der Glargin-Zulassungstudien bei Patienten mit Typ-2-Diabetes hat sich ebenfalls als statistisch unbegründet erwiesen, die Herstellerfirma aber zu weiteren umfangreichen Beobachtungen veranlasst, die bislang keine Bedenken ergaben. Sicher kann man einwenden, dass derzeit noch keine »Langzeiterfahrungen« vorliegen. Insgesamt gibt es aber gegenwärtig keine wissenschaftlich begründbaren Zweifel an der Sicherheit der im Handel befindlichen Insulin-Analoga für ihre Anwendung in der Pädiatrie. Eine ganz andere Frage ist, ob es gerechtfertigt ist, dass die Insulin-Analoga nach wie vor sehr viel teurer als die konventionellen Humaminsuline sind. Inhalatives Insulin Im Januar 2006 wurde von der EMEA und der FDA, der Europäischen und der Amerikanischen Zulassungsbehörde, das inhalative Insulin Exubera zugelassen. Seit Mai 2006 ist es in Deutschland in den Apotheken erhältlich. Exubera wurde von der Firmenkooperation Pfizer/Sanofi-Aventis/Nektar entwickelt. Die Zulassung betrifft Patienten mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes ab dem 18. Lebensjahr; Raucher und Patienten mit bestehenden Lungenerkrankungen wie z.B. Asthma oder chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung sind von der Zulassung ausgeschlossen. Mit der Zulassung der ersten, nadelfreien Insulin-Applikationsform erfüllte sich ein alter Wunschtraum. Das jetzt verfügbare inhalative Insulinpräparat Exubera erzielt – bei 10fach höherer Dosierung – eine in etwa gleich gute Stoffwechseleinstellung wie die herkömmliche subkutane Injektion. Lungenfunktionsparameter, bisher geprüft über einige Jahre, nehmen im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht bzw. nur insignifikant ab. Die Veränderungen waren reversibel. Insulinantikörper steigen im Vergleich zu subkutaner Insulingabe stärker an, soweit bekannt ohne klinische Auswirkungen. Für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sind noch weitere Studien erforderlich. Offene Fragen betreffen hauptsächlich die langfristige Wirkung auf die Lungenfunktion beim wachsenden Organismus und die immunologischen Aspekte der Antikörperbildung. Von einem Einsatz des inhalativen Insulins bei pädiatrischen Patienten außerhalb dieser Studien raten wir gegenwärtig ab.

144

2 2 3

7.8

Kapitel 7 · Insulintherapie

Mischbarkeit von Insulinpräparaten

Für die Insulinsubstitution bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes hat sich die freie Mischung von Normal- und Verzögerungsinsulin in der Spritze unmittelbar vor der Injektion vielfach bewährt. Kombinationsinsuline werden kaum noch verwendet. Folgende chemisch-galenische Voraussetzungen müssen an die Mischbarkeit von Normal- und Verzögerungsinsulin gestellt werden:

4 5 6 7 8 9 10

Chemisch-galenische Voraussetzungen für die Mischbarkeit von Normalund Verzögerungsinsulin 5 Die Normal- und Verzögerungsinsuline sollten vom gleichen Hersteller stammen. 5 Die Insuline sollten speziesidentisch sein (Humaninsulin bzw. Insulin vom Schwein). 5 Selbsthergestellte Insulinmischungen sollten stabil sein. Der Depotstoff sollte nicht im Überschuss vorhanden sein, da er Normalinsulin binden kann; damit würde der Verzögerungsinsulineffekt unberechenbar verstärkt werden. Die Bindung an den Depotstoff sollte stabil sein, da sonst Insulin freigesetzt und der Normalinsulineffekt der Mischung unberechenbar verstärkt wird. 5 Die Konservierungsstoffe (Kresol, Phenol, Methylparaben) sollten in Verzögerungs- und Normalinsulin identisch sein. 5 Der pH-Wert sollte gleich sein.

11 12 13 14 15

Die in der Übersicht genannten Voraussetzungen werden von Mischungen aus Normal- und NPH-Insulin derselben Spezies und derselben Firma erfüllt. In jedem Mischungsverhältnis bleiben die Wirkungscharakteristika der beiden Insulinpräparationen zeitlich unverändert erhalten. Die Insulin-Analoga mit raschem Wirkungseintritt (NovoRapid, Humalog und Apidra) dürfen mit NPH-haltigen Insulinen nur direkt vor der Injektion gemischt werden. Die langwirkenden Insulinanaloga (Lantus, Levemir) dürfen nicht mit Normalinsulin oder schnellwirkendem Analogon gemischt werden.

16

7.9

Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate

17

Die für die Therapie von Kindern und Jugendlichen wichtigsten Präparategruppen sind die Normalinsuline und die NPH-Insuline sowie die zugelassenen Insulin-Analoga (Humalog, NovoRapid, Apidra, Lantus und Levemir). Es sollten daher ausschließlich Humaninsuline bzw. Insulin-Analoga bei Kindern und

7.9 · Tabellarische Zusammenstellung der Insulinpräparate

145

7

Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes Verwendung finden. Die Humaninsuline der Lente-Gruppe (Monotard HM und Ultratard HM) werden selten eingesetzt. Die in . Tabelle 7.1 mitgeteilten Angaben über den Wirkungseintritt und die Wirkungsdauer der Insulinpräparate sind an die Angaben der Hersteller adaptiert. Sie bieten allerdings nur einen gewissen Anhalt zum Vergleich der einzelnen Insulinzubereitungen. Wirkungseintritt und Wirkungsdauer sind in Abhängigkeit von der Menge des injizierten Insulins, der aktuellen Blutglukosekonzentration, dem Spritz-Ess-Abstand und dem Injektionsort intra- und interindividuellen Schwankungen unterworfen.

. Tabelle 7.1 Insulintabelle der aktuellen Insulinpräparate

A

Charakterisierung (unverzögerter Anteil in %)

W (min/ h)

SanofiAventis Pfizer

Sehr kurz wirkend

10/5

Exubera

Sehr kurz wirkend

10/4

Apidra d (U100)

Protamin(50)

15/15

Misch(30)

20/17

Analoga (25)

20/18

BasalAnaloga

60/24

90/20

Lilly

Novo Nordisk

Humalog (U100) a

NovoRapid (U100) b

Humalog Mix 50 (U100) a

B. Braun Melsungen & ratiopharm

BerlinChemie

Liprolog (U100)

Liprolog Mix 50 (U100)

NovoMix 30 (U100) b Humalog Mix 25 (U100) a

Liprolog Mix 25 (U100)

Lantus c (U100) Levemir e (U100)

146

2

. Tabelle 7.1 (Fortsetzung)

2 3 4 5 6 7 8 9

Kapitel 7 · Insulintherapie

H

Charakterisierung (unverzögerter Anteil in %)

W (min/ h)

SanofiAventis Pfizer

Lilly

Novo Nordisk

B. Braun Melsungen & ratiopharm

BerlinChemie

Normalinsuline kurz wirkend

20/8

Insuman Rapid, Insuman Infusat (U100)

Huminsulin Normal

Actrapid Velosulin (U100)

B. Braun ratiopharm Rapid

Berlinsulin H Normal (U100)

NPH- (50)

30/14

Insuman Comb 50

MischInsuline (40)

35/17

(30)

35/19

B. Braun ratiopharm Comb 30/70

Berlinsulin H 30/70 (U100)

(25)

35/17

(20)

45/21

(15)

45/18

(10)

45/23

NPH-Insuline

45/20

Actraphane 50 (U100) Actraphane 40 (U100) Huminsulin Profil III

Actraphane 30 (U100)

Huminsulin Profil II (U100)

Actraphane 20 (U100)

10 11

Insuman Comb 25

12 13

Berlinsulin H 20/80 (U100)

14 15

Insuman Comb 15 Actraphane 10 (U100)

16 17

Insuman Basal

Huminsulin Basal

Protaphane

B. Braun ratiopharm Basal

Berlinsulin H Basal (U100)

A Insulin-Analoga, H Humaninsulin, S Schweineinsulin, Z Zink-verzögertes Insulin. a Lispro Humalog, b Aspart NovoRapid, c Glargin Lantus, d Glulisine Apidra, e Detemir Levemir.

Literatur

147

7

Zusammenfassung Zum augenblicklichen Zeitpunkt sind in Deutschland noch U40- und U100-Insuline für die Applikation mit Spritzen, Pens, Insulinfertigspritzen und Pumpen im Handel. In absehbarer Zeit wird bei uns – wie in fast allen Ländern der Erde – nur noch U100-Insulin verfügbar sein. Trotz der Entwicklung neuer Insulin-Analoga wird sich die Zahl verschiedener Insulinpräparate weiter vermindern. Neben den konventionellen Humaninsulinpräparaten, insbesondere Normal- und NPHInsulin, kommen in zunehmendem Maße die rasch und verzögert wirkenden Insulin-Analoga zur Anwendung.

Literatur Brange J, Owens DR, Kang S, Solund A (1990) Monomeric insulins and their experimental and clinical implications. Diabetes Care 13: 923–954 Heinemann L, Woodworth JR (1998) Insulin Lispor, chap III: Pharmacokinetics and metabolism of Insulin Lispro. Drugs of Today 34(Suppl C): 23–36 Heinemann L, Breuer J, Cebulla D, Wüssel B, Bender R, Heise T (1996) Wirkprofil von Normalinsulin, 25/75-Mischinsulin und NPH-Insulin, hergestellt aus gentechnologischem oder semisynthetischem Humaninsulin. Diabetes und Stoffwechsel 5: 157–163 Kriegstein E von (200) Insulin-Tabelle I/2006. Diabetologie und Stoffwechsel 2: 73-138

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8

Ernährung Bei der Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes muss v. a. darauf geachtet werden, dass sie sich in Art, Zusammensetzung und Menge nicht von der stoffwechselgesunder Gleichaltriger unterscheidet. Kinder und Jugendliche mit Diabetes und ihre Eltern müssen allerdings auch in der Lage sein, vor jeder Mahlzeit den Kohlenhydratgehalt und die Blutglukosewirksamkeit der Nahrungsmittel abzuschätzen, um die Insulindosis sachgerecht an die geplante Nahrungszufuhr anzupassen. Ohne Abschätzung insbesondere des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel sind auch die intensivierten Formen der Insulinbehandlung nicht erfolgreich umzusetzen. Damit bleibt die Ernährungsbehandlung – das muss immer wieder betont werden – das wichtigste Adjuvans jeder Form der Insulintherapie. 8.1

Berechnung der Grundnährstoffe (Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß)

)) Der tägliche Bedarf an Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß ist unterschiedlich groß. Er richtet sich nach Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, Arbeitsleistung und besonderen Lebensbedingungen wie z. B. Klima und Jahreszeit. Der Nährstoffgehalt der zahlreichen verfügbaren Nahrungsmittel ist ebenfalls unterschiedlich groß. Um den unterschiedlichen Nährstoffbedarf des Menschen mit Nahrungsmitteln unterschiedlichen Nährstoffgehaltes decken zu können, sind einheitliche Berechnungsgrundlagen notwendig. Der Nährstoffbedarf des Menschen wird meist in Gramm (g)/Tag angegeben, der Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel in g/100 g Lebensmittel.

Da die 3 Grundnährstoffe Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß Energie enthalten, die im Körper durch die Stoffwechselprozesse freigesetzt und verwertet wird, hat man sich geeinigt, sowohl den Nährstoffbedarf des Menschen als auch den Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel mit Hilfe einer einheitlichen Maßeinheit für die Energie zu berechnen. Bei der vollständigen Verbrennung von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß in einer Kalorimeterbombe wird die in ihnen gebundene Energie frei und als Wärme abgegeben. Die Wärme kann daher als Maß für die in den Nährstoffen gebundene physikalische Energie gemessen und berechnet werden. Als Maß-

150

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Kapitel 8 · Ernährung

einheit für die Wärmeenergie dient die Kalorie (kcal), die in folgender Weise definiert wird: ! 1 kcal ist die Energie- bzw. Wärmemenge, die notwendig ist, um 1 l Wasser von 14,5 auf 15,5°C, also um 1°C, zu erwärmen.

Bei der Verbrennung von 5 1 g Kohlenhydrat werden 4,1 kcal, bei 5 1 g Fett 9,3 kcal und bei 5 1 g Eiweiß 5,4 kcal freigesetzt. Bei der vollständigen Verbrennung von Kohlenhydraten und Fetten im Körper stimmt die physiologische Verbrennungsenergie mit den physikalischen Brennwerten überein. Bei der Verbrennung von Eiweiß im Körper erfolgt jedoch durch die Umwandlung von Stickstoff zu Harnstoff ein Energieverlust, so dass der physiologische Brennwert von 1 g Eiweiß 4,1 kcal beträgt. Die »Kalorie«, mit der Jahrzehnte lang in der ganzen Welt gerechnet wurde, ist durch eine andere Maßeinheit, das »Joule« (dzu:l) abgelöst worden. Diese Änderung hat zunächst viel Verwirrung gestiftet und die Berechnung der Nahrungsmittel erschwert. Bis zum 31.12.1977 wurde ausschließlich die »Kalorie« auf Lebensmittelpackungen verwendet. Nach diesem Termin erfolgten die Angaben über den Nährstoffgehalt der Nahrungsmittel zunächst in »Joule«. Heute erfolgen die Angaben meist in »Joule« und »Kalorien«, wobei 5 1 kcal 4,185 kJ und 5 1 kJ 0,239 kcal entspricht. Der physiologische Energie- bzw. Wärmegehalt der Grundnährstoffe beträgt daher in Kalorien und Joule angegeben: 1 g Kohlenhydrat = 4,1 kcal = 17 kJ; 1 g Fett = 9,3 kcal = 38 kJ; 1 g Eiweiß = 4,1 kcal = 17 kJ. Der physiologische Gesamtenergiegehalt der Nährstoffe eines Nahrungsmittels ist selbstverständlich nicht identisch mit der Energiemenge, die dem Organismus letztendlich für die Stoffwechselprozesse zur Verfügung steht. Von der mit einem Nahrungsmittel zugeführten Bruttoenergie müssen Energieverluste abgezogen werden, die mit den Faeces, über Harn und Darmgase und durch postprandiale Thermogenese verloren gehen. Das Ausmaß der Umwandlung von Brutto- in Nettoenergie sowie die Verwertung der Nettoenergie für Stoffwechselprozesse weist erhebliche individuelle Unterschiede auf. Hinzu kommt, dass die Messung der Bioverfügbarkeit der einzelnen Nahrungsbestandteile methodisch nicht gesichert ist und daher fast nur Schätzungen vorliegen.

8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf

151

8

Die Ausnutzbarkeit der Nahrungsbestandteile wird schließlich auch durch die unterschiedlichen küchentechnischen Verfahren stark variiert. Ein gewisser Fortschritt für die Abschätzung der Bioverfügbarkeit der Nährstoffe war die Abtrennung der »nichtverwertbaren Kohlenhydrate« (Ballaststoffe) von den »verwertbaren Kohlenhydraten« (Einfach-, Zweifachzucker, Stärke). Dabei berücksichtigt diese Differenzierung nicht, dass geringe Anteile der Ballaststoffe ebenfalls energetisch verwertet werden. Die physiologischen Brennwerte der verschiedenen Nahrungsmittel und ihr quantitativer Anteil an Kohlenhydraten (»verwertbare« und »nichtverwertbare«), Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und Wasser sind in Nahrungsmitteltabellen (Nährwerttabellen, Lebensmitteltabellen) zusammengestellt. Die handlichste Zusammenstellung ist »Der kleine Souci-Fachmann-Kraut«, eine von der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie herausgegebene »Lebensmitteltabelle für die Praxis« (1991). Die in den Nahrungsmitteltabellen angegebenen physiologischen Brennwerte (in kJ bzw. kcal) sagen allerdings wenig über den für die Stoffwechselprozesse verwertbaren Anteil der in den Nahrungsmitteln enthaltenen Nährstoffenergie aus. 8.2

Energie- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen

)) Der Bedarf an Kalorien, Kohlenhydraten, Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralsalzen, Spurenelementen und Flüssigkeit ist bei Kindern und Jugendlichen noch größeren individuellen und interindividuellen Schwankungen unterworfen als bei Erwachsenen. Dieser Bedarf ist bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes grundsätzlich nicht anders als bei denen ohne Diabetes. Die wichtigsten Faktoren, die den Bedarf bestimmen, sind das Alter, die Körpergröße, das Körpergewicht und das Geschlecht, aber auch die von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde wechselnde Lebensweise mit unterschiedlicher körperlicher, geistiger und seelischer Aktivität.

Der ständige Wechsel des Kalorien- und Nährstoffbedarfs und der damit verbundenen Nahrungszufuhr ist das wichtigste Charakteristikum der Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Persönliche Vorlieben für bestimmte Speisen und unterschiedliche Essgewohnheiten in der Familie vergrößern noch die Variabilität der Ernährung. Daher sind Richtwerte, z. B. die der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, nur als Orientierungshilfen für den Kalorien- und Nährstoffbedarf von Kindern und Jugendlichen zu bewerten. Man kann, wie es schon Karl Stolte betonte, davon ausgehen, dass die physiologische Appetitregu-

152

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Kapitel 8 · Ernährung

lation den Energie- und Nährstoffbedarf eines Kindes oder Jugendlichen sicherstellt, der zur Erhaltung seines Körpergewichts und für ein altersentsprechendes Wachstum und Gedeihen bei guter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit notwendig ist. Bei Kindern und Jugendlichen sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die generelle Energieaufnahme, v. a. aber die Kohlenhydratzufuhr, mit Hilfe der Dosis und des Wirkungsprofils des injizierten Insulins und der körperlichen Aktivität ausbalanciert werden. Nur bei Übergewicht bzw. Adipositas (Body-mass-Index: BMI >p90 bzw. >p97) ist eine Reduzierung der Energie- und Nährstoffzufuhr aus therapeutischen Gründen notwendig (Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft 2002). 8.2.1

Richtwerte für die Energiezufuhr

! Der Energiebedarf setzt sich aus dem Energieumsatz bei völliger Körperruhe und bei körperlicher Aktivität, dem Bedarf für die postprandiale Thermogenese und das Wachstum zusammen. Richtwerte für die Energiezufuhr werden in kcal bzw. MJ pro Tag oder kcal bzw. kJ pro kg Körpergewicht angegeben. Sie orientieren sich an den ermittelten Durchschnittswerten des Energiebedarfs für verschiedene Altergruppen und sind nur als Orientierungshilfen für normalgewichtige Kinder und Jugendliche anzusehen.

In . Tabelle 8.1 sind die Richtwerte für durchschnittlich aktive Kinder und Jugendliche der Deutschen Gesellschaft für Ernährung wiedergegeben. Bei Übergewicht oder Untergewicht müssen sie entsprechend korrigiert werden. Die älteste und einfachste Orientierungsgröße zur Ermittlung des Kalorienbedarfs von Kindern stammt von Priscilla White und wird nach folgender Formel berechnet: Alter in Jahren × 100+1.000 = Kalorienbedarf (kcal) pro Tag. Erfahrungsgemäß entspricht die durchschnittliche, durch den Appetit geregelte Energieaufnahme der meisten Kinder und Jugendlichen ihrem physiologischen Energiebedarf, v. a. dann, wenn sie normalgewichtig sind. Die Variabilität bei den einzelnen Mahlzeiten ist sehr groß, die Zufuhr gleicht sich jedoch meist durch den Wechsel von energiereichen und energiearmen Mahlzeiten aus.

16 Zusammenfassung 17

Aus psychologischen und physiologischen Gründen ist es wenig sinnvoll, regulierend in die Energie- und Nahrungsaufnahme einzugreifen. Das gilt selbstverständlich nicht nur für stoffwechselgesunde Kinder und Jugendliche, sondern auch für solche mit Typ-1-Diabetes. Allerdings muss bei ihnen die exogene Insulingabe ständig an die wechselnde Nahrungszufuhr angepasst werden.

8

153

8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf

. Tabelle 8.1 Richtwerte für die Energiezufuhr bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1992) Alter

[kcal/Tag]

[MJ/Tag]

[kcal/kg]

[kJ/kg]

m

m

m

m

w

w

w

w

Säuglinge 0 bis unter 4 Monate 4 bis unter 12 Monate

550 800

2,3 3,3

112 95

470 400

Kinder 1 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 10 Jahre

1300 1800 2000

5,4 7,5 8,4

102 90 73

430 380 300

10 bis unter 13 Jahre 13 bis unter 15 Jahre

2250 2500

2150 2300

9,4 10,5

9,0 9,6

Jugendliche und Erwachsene 15 bis unter 19 Jahre 19 bis unter 25 Jahre

3000 2600

2400 2200

12,5 11,0

10,0 9,0

8.2.2

61 53

54 46

260 220

230 190

Richtwerte für die Zufuhr von Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß

! Der Kohlenhydrat- und Fettbedarf orientiert sich am Gesamtenergiebedarf. Der prozentuale Anteil der Kohlenhydrate an der Gesamtenergieaufnahme ist weltweit sehr unterschiedlich. In manchen Ländern beträgt er bis 70% der Gesamtenergie. Er liegt in Europa zwischen 45 und 60%.

Unter der Voraussetzung, dass Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischen Index und hohem Ballaststoffanteil überwiegen, muss nicht mit nachteiligen Effekten für die Stoffwechseleinstellung gerechnet werden, wenn die Kohlenhydrataufnahme an der oberen Grenze, d. h. bei 60%, liegt. Der für Kinder und Jugendliche mit Diabetes empfohlene prozentuale Anteil der Kohlenhydrate sollte mehr als 50% betragen (ISPAD 2000). Erhebungen haben ergeben, dass der prozentuale Kohlenhydratanteil in der Regel zugunsten des Fettverzehrs deutlich niedriger liegt. Erwachsene sollten täglich mindestens 30 g Ballaststoffe zu sich nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hält eine Ballaststoffdichte von mindestens 12,5 g/1.000 kcal für Kinder als wünschenswert und auch realisierbar. Als

154

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Kapitel 8 · Ernährung

vernünftiges Ziel wird bei Kindern ab 2 Jahren eine Ballaststoffaufnahme angenommen, die in Gramm dem Alter des Kindes entspricht plus 5 g pro Tag. Die Fettzufuhr sollte bei Kindern ab 4 Jahren und Jugendlichen 35% der Gesamtenergiezufuhr nicht überschreiten. . Tabelle 8.2 zeigt, dass Säuglinge und Kleinkinder unter 4 Jahren einen höheren Anteil an Nahrungsfett benötigen, um den Gesamtkalorienbedarf zu decken. In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Fettzufuhr bei Kindern und Jugendlichen oft 35% überschreitet. Im Hinblick auf die Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen ist nicht nur die mit der Nahrung aufgenommene Gesamtfettmenge, sondern auch deren Zusammensetzung von Bedeutung. Ein hohes Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen weisen Triglyceride mit gesättigten (tierische Fette) und transungesättigten Fettsäuren (Kekse, Kuchen, Schokolade) auf. Eine Reduzierung des Verzehrs dieser Fettsäuren unter 10% der Gesamtkalorien reduziert das makrovaskuläre Risiko, u. a. durch Verminderung des Serumcholesterinspiegels (LDL-Cholesterin). Mehrfach ungesättigte Fettsäuren pflanzlichen Ursprungs reduzieren dagegen die kardiovaskulären Risiken. Ungesättigte Fettsäuren des Omega-3-Typs (tranhaltiger Fisch) gelten als besonders günstig. Die Zufuhr dieser Fettsäuren kann bis 10% betragen. Als Ersatz für gesättigte Fettsäuren gelten einfach ungesättigte Fettsäuren (Pflanzen- und Nussöle), v. a. die mit cis-Konfiguration. Sie bieten nachweislich Schutz vor makrovaskulären Erkrankungen. Daher sollte ihr Anteil an der Gesamtkalorienzufuhr deutlich mehr als 10% betragen. Erhöhte LDL- und erniedrigte HDL-Cholesterinwerte gelten ebenfalls als kardiovaskuläres Risiko. Daher sollten Erwachsene nicht mehr als 300 mg Cholesterin pro Tag zu sich nehmen. Dieser Richtwert wird bei einer Fettzufuhr unter 35% der Gesamtkalorien in der Regel nicht überschritten. Das National Cholesterol Education Program gibt für Kinder und Jugendliche einen Richtwert von 100 mg täglich an. Die Ermittlung des Proteinbedarfs muss den altersabhängigen Erhaltungsbedarf, die altersabhängigen Zuschläge für das Wachstum, den Grad der Ausnutzung und die individuelle Variabilität berücksichtigen. Daraus hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1992) die in . Tabelle 8.3 zusammengestellten Empfehlungen abgeleitet. Sie liegen bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht zwischen 1,2 und 0,8 g pro kg Körpergewicht und Tag. Das entspricht etwa 10–15% der zugeführten Gesamtenergie.

8

155

8.2 · Energie- und Nährstoffbedarf

. Tabelle 8.2 Richtwerte für die Zufuhr von Fett bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) Alter

Fett [%] der Energie

Säuglinge 0 bis unter 4 Monate 4 bis unter 12 Monate

45–50 40–45

Kinder 1 bis unter 4 Jahre 4 bis unter 7 Jahre 7 bis unter 10 Jahre 10 bis unter 13 Jahre 13 bis unter 15 Jahre

35–40 30–35 30–35 30–35 30–35

Jugendliche und Erwachsene 15 bis unter 19 Jahre 19 bis unter 25 Jahre

30–35 25–30

. Tabelle 8.3 Richtwerte für die Zufuhr von Proteinen bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) Alter

Empfohlene Zufuhr

Alter

Empfohlene Zufuhr

[Monate]

[g/kg KG/Tag]

[g/Tag]

[Jahre]

[g/kg KG/Tag]

[g/Tag]

1

2,2

11

1

1,2

16

2

2,2

11

2

1,2

16

3

2,2

11

3

1,2

16

4

1,6

13

4

1,1

21

5

1,6

13

5

1,1

21

6

1,6

13

6

1,1

21

7

1,6

13

7

1,0

27

8

1,6

13

8

1,0

27

9

1,0

27

9

1,6

13

10

1,6

13

11

1,6

13

12

1,6

13

156

2 2 3 4 5 6 7 8

Kapitel 8 · Ernährung

. Tabelle 8.3 (Fortsetzung) Alter

Empfohlene Zufuhr

[Jahre]

[g/kg KG/Tag]

[g/Tag]

m

w

m

w

10

1,0

1,0

38

39

11

1,0

1,0

38

39

12

1,0

1,0

38

39

13

1,0

1,0

51

50

14

1,0

1,0

51

50

15

0,9

0,8

60

47

16

0,9

0,8

60

47

17

0,9

0,8

60

47

18

0,9

0,8

60

47

9 10 11 12 13 14 15

Verteilung der Grundnährstoffe auf die tägliche Gesamtenergiezufuhr bei Kindern und Jugendlichen 5 Kohlenhydrate >50%: – komplexe, nichtraffinierte, ballaststoffreiche Kohlenhydrate sollten bevorzugt werden, – mäßige Aufnahme von Saccharose. 5 Fett 30–35%: – weniger als 10% gesättigte Fettsäuren, – weniger als 10% mehrfach ungesättigte Fettsäuren, – mehr als 10% einfach ungesättigte Fettsäuren. 5 Eiweiß 10–15%: – mit zunehmendem Alter weniger.

16

8.2.3 17

Richtwerte für die Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen

! Mit einer Mischkost, die die Richtwerte für den täglichen Bedarf an Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß berücksichtigt, nehmen Kinder und Jugendliche in der Regel eine ausreichende Menge an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen zu sich.

8.3 · Ratschläge für die Ernährung

157

8

Bei Einbeziehung vitaminreicher Nahrungsmittel (Obst, Gemüse, Pflanzenöle, Nüsse, Fisch, Fleisch, Eier usw.) in den Speiseplan wird der Vitaminbedarf reichlich gedeckt. Die Einnahme pharmazeutischer Kombinationspräparate, die Vitamine, Antioxidanzien, Spurenelemente und u. U. auch Mineralstoffe enthalten, ist bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Diabetes, die eine gesunde Mischkost erhalten, nicht notwendig. 8.2.4

Richtwerte für die Zufuhr von Flüssigkeit

Der Flüssigkeitsbedarf von Kindern und Jugendlichen ist auf das Gewicht bezogen sehr viel größer als der von Erwachsenen. Auf die Kalorienzufuhr bezogen ist er jedoch identisch. Die tägliche Flüssigkeitsaufnahme eines Kindes entspricht 10–15% seines Körpergewichts, die des Erwachsenen nur 2–4%. Flüssigkeitsverluste durch Stuhl, Urin Schweiß und Perspiratio insensibilis können bei akuten Erkrankungen durch Fieber, Durchfall und Erbrechen oder bei Diabetes, durch eine gesteigerte Diurese, schnell zu einer mit Exsikkose einhergehenden Dehydratation führen. Besonders gefährdet sind Säuglinge und Kleinkinder. Daher muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass Kinder und Jugendliche reichlich trinken und auch mit der Nahrung ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. Die normale Kost eines Kindes weist einen hohen Flüssigkeitsgehalt auf. Feste Nahrung enthält in der Regel 60–70% Wasser, Obst und Gemüse sogar 90%. Da der Flüssigkeitsbedarf von Säuglingen, Kleinkindern, Schulkindern und Jugendlichen oft unterschätzt wird, sind in . Tabelle 8.4 Richtwerte für die täglichen Umsatzraten zusammengestellt. Die tägliche Trinkmenge sollte etwa die Hälfte des Flüssigkeitsbedarfs decken. Wegen der großen Flüssigkeitsaufnahme sollten die Getränke für Kinder möglichst energiearm oder energiefrei sein. 8.3

Ratschläge für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen

Das Prinzip der Auswahl der Nahrungsmittel orientiert sich an 3 einfachen Regeln: 5 reichlich: Getränke (möglichst energiefrei) und pflanzliche Lebensmittel, 5 mäßig: tierische Lebensmittel (fettarme Varianten), 5 sparsam: fett- und zuckerreiche Lebensmittel. Von den Lebensmitteln, die mehr als 90% der Gesamtenergie enthalten, werden Getränke, Brot, Getreide, Kartoffeln, Nudeln, Reis, Obst und Gemüse reichlich empfohlen. Dagegen sollten Milch, Milchprodukte, Fleisch, Wurst, Eier und Fisch mäßig, Öl, Margarine und Butter sparsam verzehrt werden. Zucker- und fettreiche Lebensmittel sind geduldet, wenn sie weniger als 10% der Gesamtenergie enthalten. Es bleibt daher ein gewisser Spielraum für Süßigkeiten, Feinge-

158

2

Kapitel 8 · Ernährung

. Tabelle 8.4 Durchschnittlicher täglicher Flüssigkeitsumsatz von Kindern unterschiedlichen Alters. (Nach Brodehl 1978) Gewicht kg

Körperoberfläche m2

Perspiratio insensibilis ml/kg KG

Urin ml/kg KG

Stuhl ml/kg KG

Total ml/kg KG

Neugeborenes

3,0

0,2

30

40–60

10

80–100

Säugling 5 Monate

6,0

0,32

50

60–80

10

120–140

Kleinkind 1 Jahr

10,0

0,45

40

40–60

8

90–110

Schulkind 9 Jahre

30,0

1,0

25

30–50

4

60–80

Jugendlicher 14 Jahre

50,0

1,5

20

20–40

3

40–60

Erwachsene

70,0

1,73

15

10–20

2

20–40

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

bäck, Eiscreme und Schokolade, auf die auch Kinder und Jugendliche mit Typ1-Diabetes nicht ganz verzichten müssen. Hinsichtlich des Verzehrs tierischer Lebensmittel wird empfohlen, Vollmilch und Vollmilchprodukte gegen teilentrahmte Milch und Milchprodukte auszutauschen. Dann müsste auf fettreichen Käse sowie fette Fleisch- und Wurstsorten in mäßiger Menge nicht verzichtet werden. Durch diese Maßnahme würde auch die Aufnahme gesättigter Fettsäuren ausreichend reduziert. Speiseöle sollten sparsam verwendet werden. Empfehlenswert ist v.a. Sojaöl, geeignet sind aber auch Sonnenblumenöl und Maiskeimöl. Bei Margarine sollten Produkte mit der Bezeichnung »Pflanzenmargarine« gewählt werden. Butter sollte sparsam verwendet werden. Kinder müssen reichlich trinken. Die Getränke sollten möglichst energiefrei sein (Trinkwasser, ungesüßter Kräuter- oder Früchtetee, Mineralwasser). Die skizzierten Regeln entsprechen der in . Abb. 8.1 dargestellten Ernährungspyramide des U.S. Department of Health and Human Services, die in optisch eindrucksvoller Weise die Wertigkeit der verschiedenen Lebensmittelgruppen zeigt und auch Angaben über die Anzahl der angebotenen Portionen

8.3 · Ratschläge für die Ernährung

159

8

. Abb. 8.1 Ernährungspyramide des U.S. Health Department and Human Services. (Nach Barlow u. Dietz 1998)

enthält. In der Reihenfolge ihrer Wertigkeit für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen werden die Lebensmittel in 6 Gruppen eingeteilt: Einteilung der Lebensmittel in 6 Gruppen nach ihrer Wertigkeit für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen 5 5 5 5 5 5

Brot, Hülsenfrüchte, Teigwaren (Nudeln) Gemüse Obst Milch, Joghurt, Käse Fleisch, Geflügel, Fisch, Eier, Nüsse Fett, Öl, Süßigkeiten

160

2

Kapitel 8 · Ernährung

8.4

Wechselbeziehung zwischen Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung

2

))

3

Das physiologische Gleichgewicht zwischen nahrungsbedingtem Blutglukoseanstieg und insulinbedingter Blutglukosesenkung ist beim Typ-1-Diabetes aufgehoben. Alle therapeutischen Bemühungen, die prandiale Insulinwirkung mit Hilfe von Normalinsulininjektionen oder schnellwirksamen Insulin-Analoga an die Nahrungszufuhr anzupassen, sind grobe Nachahmungen der physiologischen Insulinantwort auf prandiale Blutglukosesteigerungen.

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

8.4.1

Postprandiale Stoffwechselsituation beim Stoffwechselgesunden

! Nach Passage des Speisebreis durch den Magen beginnt im Dünndarm die Verdauung und Resorption der Kohlenhydrate. Stärke, Saccharose, Maltose und Laktose werden zu Monosacchariden gespalten. Anschließend werden Glukose, Fruktose und Galaktose resorbiert und gelangen in die Blutbahn.

Unmittelbar blutglukosesteigernd wirkt allein die Glukose. Das proximale Jejunum ist in der Lage, maximal 1,5–2 g Glukose/min zu resorbieren. Bei Stoffwechselgesunden erreicht die Glukoseresorption nach etwa 30 min ihren Höhepunkt und ist nach 90–120 min abgeschlossen. Die Insulinsekretion beginnt unmittelbar nach Anstieg der Blutglukosekonzentration im Splanchnikusgebiet. Sie entspricht dem Anfluten der Glukose und hält den Blutglukosespiegel in engen Grenzen (60–140 mg/dl). Mehr als 50% des in den Pfortaderkreislauf sezernierten Insulins wird von der Leber extrahiert und unterdrückt dort die hepatische Glukoseproduktion. Erst nach Passage der Leber entfaltet das Insulin seine Wirkung in der Peripherie und sorgt für den Abstrom der Glukose vom Blut in die Gewebe (Muskulatur, Fettgewebe). Der Verlauf der Blutglukose- und Seruminsulinkurven hängt nicht nur von Art und Menge der Kohlenhydrate im Speisebrei ab, sondern auch vom Fettund Eiweißgehalt. Beide Nährstoffe verzögern die Magenentleerung. Auch die Konsistenz der Nahrung beeinflusst die Magenentleerung. Flüssigkeiten passieren den Magen schneller als feste Speisen.

8.4 · Nahrungsaufnahme und Insulinwirkung

8.4.2

161

8

Postprandiale Stoffwechselsituation bei Typ-1-Diabetes

! Die postprandiale Hyperglykämie bei Typ-1-Diabetes ist nur zum Teil Folge der intestinalen Kohlenhydratverdauung und Glukoseresorption. Die durch den Insulinmangel bedingte Dysregulation der hepatischen Glukoseproduktion spielt eine wesentliche Rolle.

Bei stoffwechselgesunden Erwachsenen beträgt die hepatische Glukoseproduktion etwa 2,4 mg pro kg Körpergewicht und Minute, bei Kleinkindern bis 4 mg pro kg. Bei Typ-1-Diabetes kann die hepatische Glukoseproduktion bei fehlender Suppression durch Insulin um das Doppelte gesteigert sein. Wegen seiner unphysiologischen Applikation in die Subkutis kann das vor einer Mahlzeit injizierte Normalinsulin die Glukoseproduktion in der Leber nicht ausreichend supprimieren. Die Folge ist, dass kaum 50% des postprandialen Blutglukoseanstiegs Folge der intestinalen Glukoseresorption ist. Bei Stoffwechselgesunden werden nach Ingestion von 10 g Glukose etwa 1 I.E. Insulin sezerniert. Bei Typ1-Diabetes müssen dagegen bei fehlender Insulinsekretion mindestens 1,5–2,0 I. E. Normalinsulin pro 10 g Glukose injiziert werden. Bei unzureichender Basalinsulinsubstitution kann der Prandialinsulinanteil noch größer sein. Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes haben einen täglichen Basalinsulinbedarf von etwa 0,35 I.E. pro kg Körpergewicht. Präprandiale Blutglukosewerte zwischen 100 und 120 mg/dl sind Ausdruck einer ausreichenden Basalinsulinsubstitution. Die hepatische Glukoseproduktion ist supprimiert. Nüchternblutglukosewerte über 200 mg/dl weisen jedoch auf eine unzureichende Basalinsulinsubstitution hin. Die hepatische Glukoseproduktion ist offenbar nicht hinreichend supprimiert. Unabhängig von der Basalinsulinsubstitution und damit der hepatischen Glukoseproduktion steigt die Blutglukosekonzentration ohne Normalinsulininjektion nach Ingestion von 10 g Glukose bei Erwachsenen um etwa 40 mg/dl an. Bei Kindern und Jugendlichen hängt der postprandiale Blutglukoseanstieg vom Alter und Gewicht ab. Er kann bei Kleinkindern bis 100 mg/dl betragen und nähert sich bei Jugendlichen dem von Erwachsenen an. Der Blutglukoseanstieg wird auch vom Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst.

162

2 2 3 4

Kapitel 8 · Ernährung

Zusammenfassung Die postprandialen Blutglukosewerte sind bei Vorliegen eines Typ-1-Diabetes nur teilweise von der intestinalen Glukoseresorption abhängig. Sie werden auch durch die hepatische Glukoseproduktion beeinflusst, die bei s.c.-Injektion von Normalinsulin nicht ausreichend supprimiert wird. Eine ausreichende Basalinsulinsubstitution ist daher für den postprandialen Blutglukoseverlauf von großer Bedeutung. Die physiologische Insulinsekretion des Stoffwechselgesunden nach Nahrungsaufnahme kann nur unzureichend mit Hilfe einer differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution nachgeahmt werden.

5 6 7 8 9

8.5

Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel für die Insulintherapie

)) Bei den konventionellen Methoden der Insulintherapie mit ein oder zwei täglichen Injektionen von Verzögerungsinsulin muss die Nahrungszufuhr an die vorgegebene, im Tagesverlauf sehr unterschiedliche blutglukosesenkende Wirkung des injizierten Verzögerungsinsulins angepasst werden.

10 11 12 13 14 15 16 17

Um ein einigermaßen ausgeglichenes Blutglukosetagesprofil zu erreichen, muss der Kohlenhydratgehalt der Nahrungsmittel exakt für die einzelnen Mahlzeiten vorausberechnet werden. Das Prinzip der konventionellen Insulintherapie funktioniert daher nur mit Hilfe einer exakt berechneten und streng eingehaltenen »Diabetesdiät«. ! Bei den intensivierten Formen der Insulintherapie mit differenzierter Prandialund Basalinsulinsubstitution wird versucht, die Prandialinsulinwirkung so gut wie möglich an den vom Kohlenhydratgehalt der geplanten Mahlzeit abhängigen postprandialen Blutglukoseanstieg anzupassen.

Auch bei Durchführung der intensivierten Insulintherapie ist der Patient daher auf die quantitative Schätzung der Kohlenhydratmenge in den Nahrungsmitteln angewiesen. Allerdings nicht im Sinne einer vorgeplanten, exakt berechneten Diabetesdiät mit konstanten Mahlzeitenzusammensetzungen, die Tag für Tag eingehalten werden müssen. Ohne eine Schätzung des Kohlenhydratgehalts der ständig wechselnden freigewählten Nahrungsmenge einer Mahlzeit kann die für die Absenkung des postprandialen Blutglukoseanstiegs notwendige Insulindosis jedoch nicht bestimmt werden.

8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel

163

8

Der Kohlenhydratgehalt der Nahrungsmittel hat bei den beiden Formen der Insulinbehandlung eine unterschiedliche Bedeutung: 5 Bei der konventionellen Insulintherapie ist die Kenntnis des Kohlenhydratgehalts erforderlich, um die Nahrungsmenge zu berechnen, die notwendig ist, um bei vorgegebener Insulinwirkung ein Absinken des Blutglukosespiegels zu verhindern. 5 Bei der intensivierten Insulintherapie ist die Schätzung des Kohlenhydratgehalts notwendig, um die Insulinmenge zu berechnen, die den durch die geplante Nahrungszufuhr hervorgerufenen Blutglukoseanstieg in Grenzen hält. 8.5.1

Methoden zur Quantifizierung der Kohlenhydrate und ihres Austausches

! Die Aufgabe von Nahrungsmittelaustauschtabellen besteht darin, die Vielfalt verfügbarer Nahrungsmittel mit ihrem unterschiedlichen Gehalt an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten in ein berechenbares System zu bringen.

Verschiedene Methoden der Berechnung und Systematisierung der Nahrungsmittel sind denkbar. Eine Methode geht davon aus, tabellarisch anzugeben, wie viel Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate in jeweils 100 g eines Nahrungsmittels enthalten sind (Beispiel: 100 g Nudeln enthalten 13 g Eiweiß, 3 g Fett, 70 g Kohlenhydrate bzw. 349 kcal). Eine andere Methode dreht das Berechnungsprinzip um und gibt an, wie viel Gramm eines Nahrungsmittels eine definierte Menge an Kohlenhydraten enthält, z. B. 10 oder 12 g (Beispiel: 30 g Graubrot enthält 10 g Kohlenhydrate). Diese Methode ermöglicht den Austausch von Nahrungsmitteln mit Hilfe sog. Kohlenhydrateinheiten. Die in Deutschland lange Zeit verwendete Broteinheit (BE ) wurde zunächst als diejenige Menge eines Lebensmittels definiert, die auf den Stoffwechsel des Menschen mit Diabetes die gleiche Wirkung ausübt wie 12 g D-Glukose. Diese sinnvolle stoffwechselorientierte Definition wurde später durch eine kalorienorientierte Definition ergänzt, die lautete: »Als Broteinheit gilt eine Menge von insgesamt 12 g an Monosacchariden, verdaulichen Oligo- und Polysacchariden sowie Sorbit und Xylit, wobei verdauliche Poly- und Oligosaccharide als Monosaccharide zu berechnen sind«. Nach dieser Definition entsprach 1 BE der Kohlenhydrat- aber auch Zuckeralkoholmenge, die 12 g Glukose kalorisch äquivalent sind. Diese starre Festlegung implizierte, dass Nahrungsmittel mit identischen Kohlenhydrat- bzw. Kaloriengehalt auch die gleichen Blutglukosereaktionen nach einer Mahlzeit verursa-

164

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Kapitel 8 · Ernährung

chen. Diese Annahme wurde mit Recht zunehmend in Frage gestellt. Die in der Bundesrepublik gültige 12-g-Broteinheit (BE) und die in der ehemaligen DDR übliche 10-g-Kohlenhydrateinheit (KHE) wurden daher aufgegeben. In einem Statement des Ausschusses für Ernährung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft heißt es folgerichtig: ! »Die analytische Erfassung der verwertbaren Kohlenhydrate sowohl auf indirektem (Differenzmethode) als auch direktem Wege liefert heute gut übereinstimmende und reproduzierbare Ergebnisse. Die biologische Schwankungsbreite der einzelnen Kohlenhydratträger liegt jedoch im Schnitt bei 20–30%, sodass eine starre Festlegung von Kohlenhydrataustauscheinheiten auf 10 bzw. 12 g Kohlenhydrate nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Es wird vorgeschlagen, in den Austauschtabellen die oben genannten Schwankungsbreiten zu berücksichtigen«.

Über den praktischen Umgang mit Kohlenhydrataustauscheinheiten heißt es in dem Statement: »Die Austauscheinheiten BE, KHE und KE sind nicht als Berechnungseinheiten, sondern als Schätzeinheiten zur praktischen Orientierung von Insulin-behandelten Diabetes-Patienten anzusehen. Lebensmittelportionen, die 10–12 g verwertbare Kohlenhydrate enthalten, können gegeneinander ausgetauscht werden. Nach praktischer Erfahrung entsprechen solche Lebensmittelportionen praktikablen Größen. Das Einschätzen der Portionen kann orientiert an Küchenmaßen erfolgen.« 8.5.2

Kohlenhydrataustauschtabellen

In Deutschland werden von den verschiedenen Diabetesteams unterschiedliche Kohlenhydrataustauschtabellen empfohlen. Sehr verbreitet ist die vom Diabetes-Forschungsinstitut in Düsseldorf herausgegebene Tabelle. Die Kohlenhydrataustauscheinheiten beschreiben darin Lebensmittelportionen, die 10–12 g verwertbare Kohlenhydrate enthalten und gegeneinander ausgetauscht werden können. Das Einschätzen der Portionen orientiert sich einerseits an Gramm, andererseits an Küchenmaßen mit unterschiedlichem Fassungsvermögen: Wichtige Küchenmaße 5 5 5 5 5

1 Esslöffel: ca. 15 g 1 Teelöffel: ca. 5 g 1 Tasse/Kaffeetasse: ca. 125 g (1/8 l) 1 mittelgroßes Glas: ca. 250 g (1/4 l) 1 mittelgroßes Schälchen: ca. 200 g (0,2 l)

8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel

8

165

Nahrungsmittel, die keine Kohlenhydrate enthalten, sind in dieser Tabelle nicht zu finden, so z. B.: Fleisch, Fleischwaren und Wurst, Fisch, Ei, Käse, Koch- und Streichfette. Diese Lebensmittel enthalten v. a. Eiweiß und Fett. Eine andere weit verbreitete Kohlenhydrataustauschtabelle orientiert sich an »Zehn Gramm KH«. Sie wird in der Pädiatrie häufig verwendet, weil sie durch farbige Fotos von Nahrungsmittelportionen, die 10 g Kohlenhydrate enthalten, Kindern eine greifbare Vorstellung von Nahrungsmittelmengen vermittelt. Außerdem findet man als Ausdruck einer allerdings sehr liberalen Ernährungsauffassung auch Mengenangaben über Schokolade, Schokoriegel, Pralinen, Bonbons, Fruchtgummi, Lakritz, Eis, Fastfood und Sushi. In . Tabelle 8.5 ist die aus der pädiatrischen Praxis in der Universitätskinderklinik der Charité Berlin entwickelte Kohlenhydrataustauschtabelle wiedergegeben. Einer KE bzw. BE entsprechen 10–12 g Kohlenhydrate. Als Faustregel zur Umrechnung von Kalorienbedarf und täglicher KE-Menge kann man davon ausgehen, dass eine »gut belegte« KE etwa 100 kcal entspricht. Als Ergänzung zu dieser Kohlenhydrataustauschtabelle sind in . Tabelle 8.6 und 8.7 die Zusammensetzung und der Kaloriengehalt exotischer Gemüse und Früchte zusammengestellt, um dazu beizutragen, dass auch diese Nahrungsmittel in den Speiseplan von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eingebaut werden.

. Tabelle 8.5 Kohlenhydrataustauschtabelle Brot dunkle Sorten: Graubrot/Mischbrot Grahambrot/Steinmetzbrot Kommissbrot/Pumpernickel Kleiebrötchen Roggenbrot, -brötchen Schusterjungen Vollkornbrötchen Knäckebrot (je nach Sorte) helle Sorten: Brötchen, Baguette Croissant Kräcker Weiß-, Toastbrot Weizenmischbrot Salzstangen Zwieback Cherimoya

1 KE

Mehle, Teigwaren, Nährmittel

1 KE

25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 25 g 15–25 g

Cornflakes Haferflocken Kartoffelstärkemehl (Sago) Mondamin, Gustin Paniermehl, Semmelmehl Puddingpulver Weizenmehl Weizengrieß Weizenvollkornmehl Nudeln (roh 15 g) gekocht Vollkornnudeln (roh 20 g) gekocht Reis (roh 15 g) gekocht Karambole/Sternfrucht

15 g 20 g 15 g 15 g 15 g 15 g 15 g 15 g 20 g 45–50 g 60 g 45–50 g 160 g

25 g 25 g 15 g 25 g 25 g 15 g 15 g 100 g

166

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Kapitel 8 · Ernährung

. Tabelle 8.5 Kohlenhydrataustauschtabelle Körner (gemahlen/ganz)

1 KE

Vollkorn/Buchweizen Dinkel, Grünkern, Hirse Mais, Grütze, Graupen (roh) alle Sorten (gekocht × 3) Weizengrütze (Bulgur/Couscous roh) (gekocht × 3)

15 g 15 g 15 g 60 g 15 g 45–50 g

Verschiedenes

1 KE

Blätterteig TK, roh Hefeteig, Pizzateig Popcorn, salzig

30 g 30 g 20 g

Milch und Milchprodukte

1 KE

Buttermilch Dickmilch (0,5–3,9% Fett) Joghurt (0,5–3,9% Fett) Kefir (1,5–3,9% Fett) Milch (0,5–3,9% Fett) Molke Kondensmilch 4% Fett

200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 200 ml 100 ml

Kartoffeln/ Kartoffelerzeugnisse

1 KE

Kartoffeln roh oder gekocht Kartoffelbrei, fertig zubereitet Kartoffelknödel/-püree/ -puffermehl Knödel, Puffer, fertig zubereitet Kroketten, fertig zubereitet Kartoffelchips, Kartoffelsticks Pommes frites

65 g 75 g 15 g 45 g 35 g 25 g 35 g 200 g 100 g 90 g

16 17

1 KE = 10 g Kohlenhydrate.

Obst und Obstkonserven (essbarer Anteil)

1 KE

Ananas Apfel Apfelsine Orange (mit Schale 170g) Aprikosen Banane (mit Schale 90 g) Birne Brombeeren Erdbeeren Feigen frisch Granatapfel Guaven Grapefruit (mit Schale 230 g) Himbeeren Heidel-/Blaubeeren Holunderbeeren Honigmelone Johannisbeeren, rot Johannisbeeren, schwarz Kakipflaume Kiwi Kirschen, sauer/süß Kumquat Litschi Mango Mandarine (mit Schale 170 g) Moosbeeren Mirabellen Mispel Nektarine Opuntie/Kaktusfrucht Papaya Passionsfrucht Pflaumen Preiselbeeren Quitte Renekloden Sanddornbeeren Stachelbeeren Tamarillo/Baumtomate Wassermelone Weintrauben

140 g 90 g 150 g 110 g 70 g 90 g 140 g 160 g 80 g 170 g 170 g 170 g 150 g 140 g 140 g 100 g 140 g 120 g 70 g 110 g 90 g 70 g 90 g 110 g 150 g 130 g 70 g 100 g 100 g 260 g 200 g 100 g 90 g 140 g 140 g 100 g 200 g 130 g 130 g 270 g 70 g

8

167

8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel

. Tabelle 8.6 Zusammensetzung und Kaloriengehalt exotischer Gemüse In 100 g essbarem Anteil sind enthalten: Gemüsesorte

Eiweiß [g]

Fett [g]

KH [g]

Ballaststoffe [g]

kcal

Artischocken

2,4

0,1

12,2

1,5

61

Auberginen

1,2

0,2

4,6

0,8

26

Bambussprossen

2,5

0,3

4,1

1,2

29

Bohnenkeime (Lunja)

3,4

Bleichsellerie

1,2

0,2

5,6 3,6

1,0

37 21

Broccoli

3,3

0,2

4,4

1,3

33

Chicoree

1,3

0,2

2,3

0,8

16

Chilli

2,0

0,5

6,0

Chinakohl

1,2

0,2

2,0

37

Eisbergsalat

5,0

Gemüsefenchel

2,4

0,2

9,1

Okra (Eibisch)

2,1

0,2

8,2

Palmito (Palmenmark)

2,5

0,5

5,0

34

Paprika

1,2

0,3

4,7

27

0,5

5,0

16 42 50

1,7

4,0

44

Radicchio

1,5

Topinambur

2,4

0,4

15,8

0,7

79

23

Wassermelone

0,6

0,2

7,7

0,2

35

Zucchini

1,6

0,4

5,1

0,6

31

Zuckermais

3,2

1,2

19,2

0,8

107

168

2

Kapitel 8 · Ernährung

. Tabelle 8.7 Zusammensetzung und Kaloriengehalt exotischer Früchte In 100 g essbarem Anteil sind enthalten:

2

Obstsorte

Eiweiß [g]

Fett [g]

3

Acerola

0,2

0,2

5,0

4,9

23

Ananas

0,5

0,2

13,2

1,4

56

2,0

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

KH [g]

Ballaststoffe [g]

kcal

Banane

1,2

0,2

21,0

Gemüsebanane

1,2

0,2

38,0

90

Cherimoya

1,5

0,3

13,4

Cranberry

0,8

0,5

9,4

Feigen, frisch

1,3

0,5

13,0

Granatapfel

0,7

0,6

16,7

3,2

75

Grapefruit

0,6

0,2

9,3

0,6

41

Guave

0,9

0,5

7,0

10,2

37

Honigmelone

0,9

0,1

12,4

1,0

54

Kaki

0,6

0,3

17,0

1,4

69

Kaktusfeige

1,0

0,4

7,0

Kapstachelbeere

2,7

1,1

12,0

Karambola

1,2

0,5

4,0

3,2

23

Kiwi

1,0

0,6

11,0

3,6

50

Kumquat/Zwergorange

0,7

0,3

15,0

64

Limette

0,4

0,3

1,9

32

158 1,0

62 52 62

36 92

Litschi

0,9

0,3

16,8

Mandarine

0,7

0,3

10,1

2,5

46

74

Mango

0,6

0,3

13,0

1,7

56

Orange

1,0

0,2

9,3

2,2

43

Papaya

0,5

0,1

2,3

Passionsfrucht/Maracuja

2,4

0,4

13,4

Tamarillo/Baumtomate

1,7

0,8

10,6

56

Zitrone (Saft)

0,7

0,6

7,0

37

12 1,4

67

8.5 · Bedeutung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel

169

8

Zusammenfassung Kohlenhydrataustauschtabellen sind für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ein unverzichtbares Orientierungsmittel für die Schätzung des Kohlenhydratgehalts der Nahrungsmittel. Bei konventioneller Insulintherapie helfen sie, den Speiseplan für die Anpassung der Nahrungszufuhr an die vorgegebene Insulinwirkung zu berechnen, bei der intensivierten Insulintherapie (CSII, ICT) sind sie notwendig, um die Insulindosis sachgerecht an die geschätzte Kohlenhydratmenge anzupassen.

8.5.3

Zuckerersatzstoffe

Zum Süßen von Nahrungsmitteln werden 2 Arten von Zuckerersatzstoffen verwendet: Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe. Zuckeraustauschstoffe Zuckeraustauschstoffe sind Fruktose sowie die Monosaccharidalkohole D-Sorbitol, Mannitol und Xylitol und die Disaccharidalkohole Isomalt, Maltit und Lactit. Sie werden in den Stoffwechsel eingeschleust und verwertet. Daher müssen sie kalorisch berechnet werden. Fruktose und die Monosaccharidpolyole werden wie Kohlenhydrate berechnet, Disaccharidpolyole mit 2,4 kcal/g. Ein Nachteil der Mono- und Disaccharidpolyole liegt darin, dass ein Teil unresorbiert in den Dickdarm gelangt und dort vergoren wird. Daher wirken Zuckeraustauschstoffe blähend und abführend und können zu Diarrhö (Gärstühle) führen. Da Zuckeraustauschstoffe nur sehr langsam im Darm resorbiert und verzögert in der Leber zu Glukose umgebaut werden, kommt es nach ihrer Aufnahme zu einem verzögerten und nur wenig ausgeprägten Blutglukoseanstieg. Der glykämische Index von Fruktose liegt z. B. nur zwischen 20 und 29%. Süßstoffe Die in Deutschland zugelassenen Süßstoffe sind Saccharin, Cyclamat, Acesulfan, Aspartam, Neohespiridin und Thaumatin. Immer wieder wurde daran gezweifelt, dass Süßstoffe keine schädlichen Nebenwirkungen aufweisen. Tierexperimentelle Untersuchungen ließen den Verdacht aufkommen, dass Cyclamat Nebenwirkungen besitzt, die das Verbot des Süßstoffes rechtfertigen. Allerdings wurden bei diesen Versuchen Mengen von Cyclamat an die Tiere verfüttert, die ein Vielfaches von dem betragen, was Menschen an Cyclamat zu sich nehmen. Die geringen, von Patienten mit Diabetes verzehrten Cyclamatmengen sind unschädlich. Gegen die Verwendung von Süßstoffen zum Süßen von Nahrungsmitteln ist daher nichts einzuwenden. Viele »light«-Produkte enthalten Süßstoff, v. a. Limonaden oder Cola-Getränke.

170

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Kapitel 8 · Ernährung

Zuckerersatzstoffe bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes Das komplette Verbot von Saccharose in der Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ist nicht mehr gerechtfertigt. Es sollten allerdings nicht mehr als 10% der Gesamtkalorien in Form von Zuckerzusätzen zur Nahrung verzehrt werden. Die Verwendung von Fruktose sowie Mono- und Disaccharidpolyolen ist daher im Grunde überflüssig. Im »Statement 1995« der DNSG der European Association for the Study of Diabetes (EASD) heißt es: ! »Fruktose und andere kalorienhaltige Zuckeraustauschstoffe bringen DiabetesPatienten keinen wesentlichen Vorteil gegenüber der Verwendung von Saccharose außer einer verminderten Kariesbildung. Zum Verzehr von Fruktose und anderen Zuckeraustauschstoffen sollte nicht ermutigt werden. Energiefreie Süßstoffe können in Getränken nützlich sein«.

Das Verdikt gegen die Verwendung von Zuckeraustauschstoffen trifft auch alle Lebensmittel, die »als geeignet für Diabetiker« angeboten werden. Sie zeichnen sich meist durch einen hohen Fett- und Energiegehalt aus und sind meistens teurer als übliche Produkte. ! Wenn Kinder und Jugendliche mit Diabetes süße Nahrungsmittel essen wollen, dann mit Saccharose gesüßte. Allerdings muss die Wirkung auf den Blutglukosespiegel abgeschätzt und die Insulindosis entsprechend angepasst werden.

11

8.5.4

12

Unter dem Etikett »Diabetikerlebensmittel« werden eine Fülle unnötiger, meist teurer Lebensmittel angeboten: Diabetikermehl, Diabetikernudeln, Diabetikerreis, Diabetikermehlbackmischungen, Diabetiker-Instant-Kakaopulver, Diabetikerbrot, Diabetikerzwieback, Fertigmischungen für Diabetikerdesserts (Puddingpulver, Gelee, Fruchtmix, Cremes) usw. Eltern müssen immer wieder darauf hingewiesen werden, dass die üblichen, in normalen Lebensmittelgeschäften erhältlichen Nahrungsmittel für die Ernährung ihrer Kinder am besten geeignet sind. Nur nichtalkoholische Getränke, die mit Süßstoffen gesüßt sind (z. B. Deit, Diät-Fanta, Diät-Lift, Flori-Fit, Gerolsteiner kalorienarm, Schweppes Slimline, Cola light) können als spezielle Diabetikergetränke nützlich sein und akzeptiert werden. Für alle anderen Lebensmittel gilt das Statement:

13 14 15 16 17

Spezielle »Diabetikerlebensmittel«

»Es sind keine Gründe bekannt, die eine Ermunterung zu speziell hergestellten Diabetiker- oder Diätlebensmitteln rechtfertigen könnten«.

8.6 · Glykämischer Index

8.6

171

8

Glykämischer Index

)) Äquivalente Kohlenhydratmengen verschiedener Nahrungsmittel weisen unterschiedliche Wirkungen auf den Blutglukosespiegel auf. Eine Hilfe für die Abschätzung der hyperglykämisierenden Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel bietet der glykämische Index.

1982 wurde eine Klassifizierung der Nahrungsmittel nach ihrer akuten blutzuckererhöhenden Wirkung vorgeschlagen. Nach diesem Einteilungsprinzip werden Nahrungsmittel mit niedrigem glykämischen Index (z.B. Hülsenfrüchte, Haferflocken, Graupen) von solchen mit hohem glykämischen Index (z.B. Zucker, Weißbrot, Nudeln) unterschieden. Bezugsgröße für den glykämischen Index ist die blutglukoseerhöhende Wirkung von Glukose, die mit 100% angegeben wird. Die Methoden zum Ermitteln des glykämischen Index wurden häufig kritisiert, weil wichtige Einflussgrößen keine Berücksichtigung fanden (Ausgangsblutglukosewert, Glukosurie, Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetes, Testdauer, Substitution mit und ohne Basalinsulin usw.). Weiterhin wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der glykämische Index nicht nur individuell, sondern auch interindividuell extrem variabel ist. Trotzdem ist unstrittig, dass der glykämische Index der Nahrungsmittel wichtige Hinweise für die Einschätzung der hyperglykämisierenden Wirkung der in den Kohlenhydrataustauschtabellen allein nach ihrem Kohlenhydratgehalt aufgeführten Nahrungsmittel gibt. Eine graphische Darstellung des glykämischen Index verschiedener Nahrungsmittel ist in . Abb. 8.2 wiedergegeben. Sie hat sich als praktische Hilfe für die Abschätzung der Blutglukosewirkung der Nahrungsmittel bewährt. ! Die Kenntnis des glykämischen Index einiger wichtiger Nahrungsmittel ist für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes als Ergänzung zu den Austauschtabellen unverzichtbar.

Die unterschiedliche hyperglykämisierende Wirkung der Nahrungsmittel, die im glykämischen Index eine Quantifizierung gefunden hat, hängt jedoch von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab:

172

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Kapitel 8 · Ernährung

173

. Abb. 8.2 Glykämischer Index wichtiger Nahrungsmittel. (Nach Chantelau 2000)

8.6 · Glykämischer Index

8

174

2 2 3 4 5

Kapitel 8 · Ernährung

Faktoren für die unterschiedliche hyperglykämisierende Wirkung der Nahrungsmittel 5 Aufbereitung der Nahrungsmittel (Zerkleinern, Mahlen, Erhitzen, Rösten, Kochen, Backen, Garen, Pressen, Versaften usw.) 5 Zeitpunkt der Magenentleerung (feste, breiige, flüssige Nahrung, Fett-, Eiweißbeimengung), Passage des Speisebreis durch den Dünndarm (z. B. intestinale Motilität bei Diarrhö) 5 Verdauung und Resorption (Fermentaktivität und Verfügbarkeit /Amylase, Disaccharidase usw./, Grad der Verdaulichkeit der Kohlenhydrate, Anteil an Ballaststoffen, Grad der Malabsorption usw.) 5 Glukoseanteil der Kohlenhydrate (Anteil der Kohlenhydrate an Fruktose bzw. Saccharose und Laktose)

6 7 8 9

Obwohl der glykämische Index eine große praktische Bedeutung für die Einschätzung der blutzuckererhöhenden Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel hat, wurde er in die Berechnung von Lebensmittelaustauschtabellen bisher nicht aufgenommen. Im Rahmen der Diabetes-Schulung sollten die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes jedoch darin geschult werden, den glykämischen Index wichtiger Nahrungsmittel bei der Berechnung der Insulindosis zu berücksichtigen.

10 Zusammenfassung 11 12 13 14 15 16 17

Der glykämische Index – als Indikator für die hyperglykämisierende Wirkung kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel – ist als wichtige Ergänzung der Kohlenhydrataustauschtabellen für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes anzusehen. Daneben wird die Digestion und Resorption der Kohlenhydrate jedoch von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst. Die Blutglukosewirkung der verschiedenen Nahrungsmittel ist daher auch durch aufwendige Tabellen und strenge Regeln schwer fassbar. Perfektionistische Berechnungen von Mahlzeiten im Sinne einer traditionellen Diabetesdiät sind daher sinnlos.

8.7 · Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie

8.7

175

8

Bedeutung der Ernährung für die Insulintherapie

)) Der Bedarf an Kalorien, Kohlenhydraten, Fett, Eiweiß, Vitaminen, Mineralsalzen, Spurenelementen und Flüssigkeit ist bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes denselben individuellen und interindividuellen Schwankungen unterworfen wie bei stoffwechselgesunden Kindern und Jugendlichen. Die wichtigsten Faktoren, die den Bedarf bestimmen, sind das Alter, die Körpergröße, das Körpergewicht und das Geschlecht, aber auch die von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde wechselnde Lebensweise mit unterschiedlichster körperlicher, geistiger und seelischer Aktivität. Der ständige Wechsel des Nahrungsbedarfs und der damit verbundenen Nahrungszufuhr ist das wichtigste Charakteristikum der Ernährung von Kindern und Jugendlichen.

Die konventionelle Insulintherapie mit ein oder zwei Injektionen pro Tag erlaubt kaum Schwankungen der täglichen Nahrungszufuhr. Häufige, genau berechnete Mahlzeiten müssen befolgt werden, um die Nahrungszufuhr an die vorgegebene Insulinwirkung anzupassen. Bei der intensivierten Insulintherapie mit differenzierter Prandial- und Basalinsulinsubstitution können die Patienten dagegen jederzeit frei entscheiden, wann und wie viel sie essen wollen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie die Zusammensetzung der Nahrungsmittel und ihre Blutglukosewirksamkeit abschätzen können, um die adäquate Prandialinsulindosis zu ermitteln, die für die Anpassung der Insulindosis an die frei geplante Nahrungszufuhr notwendig ist. Wichtigste Hilfsmittel für die Ernährung bei konventioneller wie bei intensivierter Insulintherapie sind eine Kohlenhydrataustauschtabelle und eine Tabelle mit Angaben zum glykämischen Index der Lebensmittel. 8.7.1

Verteilung der Nahrungsmittel bei konventioneller Insulintherapie

! Bei der konventionellen Insulintherapie müssen genau berechnete Mahlzeiten eingenommen werden, um eine gute Stoffwechseleinstellung zu erreichen, da die Nahrungsmittelmengen dem Wirkungsprofil des injizierten Insulinpräparates angepasst werden müssen. Die Nahrungszufuhr richtet sich nach der vorgegebenen Insulinwirkung.

Um ein Stoßangebot von Kohlenhydraten zu verhindern, die den Blutglukosespiegel über Gebühr ansteigen lassen, müssen die Nahrungsmittel auf möglichst

176

2 2 3 4 5 6 7 8 9

Kapitel 8 · Ernährung

viele kleine Mahlzeiten verteilt werden. Je häufiger Mahlzeiten eingenommen werden, desto leichter ist eine gute Stoffwechseleinstellung zu erzielen. Daher müssen sich die Patienten, die nur 1- oder 2-mal am Tag Insulin spritzen, an mindestens 6 Mahlzeiten gewöhnen: 1. Frühstück, 2. Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken (Vesper), Abendessen und Spätmahlzeit. Die Verteilung der Nahrungsmittel auf die Mahlzeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wichtig sind die von Familie zu Familie, aber auch von Land zu Land wechselnden Essgewohnheiten. So wird in Deutschland zu den 3 Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittagessen und Abendessen) etwa gleich viel gegessen, während in den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern die Hauptmahlzeit am Abend eingenommen wird. Zusammenfassung Die Ernährung bei konventioneller Insulintherapie entspricht in keiner Weise den Essgewohnheiten, dem wechselnden Nahrungsbedarf und dem Lebensstil von Kindern und Jugendlichen. Um eine gute Stoffwechseleinstellung zu erzielen, müssen die klassischen Leitsätze einer geregelten Diabetesdiät angewendet werden, d. h. häufige, kleine, berechnete Mahlzeiten, die pünktlich eingenommen werden müssen und möglichst keine Süßigkeiten. Weiterhin wird bei dieser Therapieform empfohlen, das komplizierte System Insulin-Diät-Bewegung relativ konstant zu halten, eine Forderung, die für Kinder nicht zu realisieren ist.

10 11

8.8

12

))

13

Subjektive Zeichen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes richtig ernährt werden, sind Angaben der Patienten, dass sie satt werden und die Wünsche und Erwartungen, die sie an die Nahrung stellen, befriedigt werden. Objektive Hinweise für eine gesunde Ernährung sind eine normale Größen- und Gewichtszunahme und ein normaler Body-mass-Index (BMI).

14 15 16 17

Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung

Die Größen- und Gewichtszunahme von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes kann mit Hilfe von Perzentilenkurven beurteilt werden. Der BMI ist definiert als Körpergewicht (kg) dividiert durch das Quadrat der Körperlänge (m). Die Verwendung des 90. bzw. 97. alters- und geschlechtsspezifischen Perzentils wird heute als Grenzwert zur Definition von Übergewicht bzw. Adipositas im Kindes- und Jugendalter empfohlen.

8.8 · Parameter zur Beurteilung der Qualität der Ernährung

177

8

Zusammenfassung Größe, Gewicht und BMI sollten bei jeder ambulanten Vorstellung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes für die Beurteilung der Größen- und Gewichtsentwicklung und des Ernährungszustandes bestimmt und protokolliert werden. Aber auch die subjektiven Angaben über Art und Zusammensetzung der Nahrung, Sättigungs- und Gesundheitsgrad der Ernährung und Zufriedenheit mit den Essgewohnheiten des Kindes und der Familie sollten regelmäßig erfragt werden.

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178

2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Kapitel 8 · Ernährung

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179

9

Methoden der Stoffwechselkontrolle )) Die Qualität der Stoffwechseleinstellung von Kindern und Jugendlichen muss ständig mit Hilfe verlässlicher Werte der Stoffwechselselbstkontrolle und objektiv messbarer Parameter der Stoffwechselkontrolle überprüft werden. Die sicherste Methode zur Erfassung der aktuellen Stoffwechselsituation ist die Blutglukosemessung. Die wichtigste Maßnahme zur Beurteilung der Effektivität der Diabetestherapie über einen längeren Zeitraum ist die Messung des HbA1c-Wertes. Die Stoffwechselkontrolle durch die HbA1c-Bestimmung erfolgt in der Regel alle 3 Monate in der Ambulanz oder der Klinik, während die Stoffwechselselbstkontrolle durch die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern zu Hause täglich mehrfach mit Hilfe von Blutglukosemessungen durchgeführt wird.

9.1

Stoffwechselselbstkontrolle

! Der geeignetste Parameter zur Beurteilung der aktuellen diabetischen Stoffwechselsituation ist die Blutglukosekonzentration.

Ideal wäre es, wenn der Blutglukosespiegel mit einer einfachen Methode kontinuierlich gemessen werden könnte. Diesem Ziel ist die moderne Technologie in den letzten Jahren näher gekommen. Dabei haben sich die wesentlichen Grundzüge dieser Geräte in den letzten 30 Jahren nicht geändert. Die Entwicklung begann mit größeren, computergesteuerten Geräten (Biostator, Fa. Ames), die nicht nur die Fähigkeit besitzen, kontinuierlich die Blutglukosekonzentration zu messen, sondern auch ständig die Insulingabe an die Höhe des Blutglukosespiegels anzupassen. Die Geräte „übernehmen“ die Aufgabe der E-Zellen. Es handelt sich um glukosegesteuerte rückgekoppelte intravenöse Insulininfusionssysteme (künstliches Pankreas, »closed loop system«), die nach wie vor in Kliniken und Forschungslabors eingesetzt werden. Die Patienten müssen dabei meistens liegen, eine engmaschige ärztliche Überwachung ist notwendig. In Gegensatz zu diesem großen Geräten hat die Fa. Medtronic MiniMed ein kleines System entwickelt,welches bereits bei mehreren Patienten implantiert worden ist. Durch Kopplung eines zentralvenösen Langzeitglukosesensors mit einer implantierbaren Pumpe sind in Frankreich bereits mehrmonatige Ver-

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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle

suche durchgeführt worden (. Abb. 9.1). Ein Glukosesensor wird in den Vorhof des rechten Herzens platziert. Dort misst er für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten mit einer elektrochemischen Methode auf enzymatischer Basis die Glukosekonzentration. Die Ergebnisse werden mit einem Kabel kontinuierlich zu einer implantierten Insulinpumpe übermittelt. Die Insulinabgabe wird telemetrisch durch eine Fernbedienung gesteuert. Die Pumpe gibt das Insulin direkt in die Lebervene ab. Wegen des Wegfalls der zephalen Phase der Insulinsekretion gestaltet sich die Programmierung der Dosierungsalgorithmen nicht einfach. Auch wegen der

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. Abb. 9.1 Schematische Darstellung eines »closed loop Systems« mit dem »Long-Term Sensor System« der Fa. Medtronic

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Sicherheitsbedenken ist nicht mit einem breiten klinischen Einsatz dieser Systeme in naher Zukunft zu rechnen. In den letzten Jahren sind kleinere, weniger invasive und handlichere Geräte entwickelt worden, mit deren Hilfe die Glukosekonzentration kontinuierlich gemessen werden kann. In einer Reihe von Studien wurden sie erprobt, auch bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Die erhaltenen Daten vermitteln wichtige Einblicke in den Glukoseverlauf bei unterschiedlichen Therapieformen. Von der amerikanischen Zulassungsbehörde sind gegenwärtig die Geräte Guardian RT (Fa. Medtronic) und Dexcom STS (Fa. Dexcom) zugelassen, eine Zulassung des Geräts Freestyle Navigator (Fa. Abbott) steht kurz bevor. Diese Geräte erlauben erstmalig eine kontinuierliche Anzeige subkutan gemessener Glukosekonzentrationen, die in einer engen Korrelation mit den Blutzuckerwerten stehen und sind zudem mit Alarmen für Hypo- und Hyperglykämien sowie raschen Änderungen der Glukosekonzentration ausgestattet. Weniger ideal als die kontinuierliche Blutglukosebestimmung sind häufige Einzelmessungen der Blutglukose. Selbst wenn sie im Rahmen eines sog. Blutglukosetagesprofils 8- bis 12-mal in 24 h durchgeführt werden, liefern sie nur »Schnappschüsse« einer sich ständig ändernden Stoffwechselsituation. Trotzdem geben sie wertvolle Informationen über die aktuelle Stoffwechsellage, die der Patient benötigt, um die notwendige Insulindosis für sich zu ermitteln. Eine weitere, nachgeordnete Methode zur Überwachung des Stoffwechsels ist der Ketonkörpernachweis im Urin oder Blut, der allerdings nur in Sondersituationen notwendig ist. 9.1.1

Blutglukose-Einzelwertmessung

! Alle Eltern und Patienten müssen die Methode der Blutglukosebestimmung beherrschen. Sie allein vermittelt einen genauen Einblick in die aktuelle Stoffwechselsituation.

Ohne täglich mehrfache Blutglukosemessungen ist die Anwendung der subtilen Methoden der Insulinsubstitution (individuell angepasste Insulinmischungen, intensivierte Formen der Insulintherapie – ICT und CSII) undenkbar. Wichtig ist, dass die erhobenen Befunde protokolliert und von den Eltern und Patienten selbst so sicher beurteilt werden, dass sie daraus sachgerechte therapeutische Konsequenzen ziehen können. Ob und wieweit die aus den Stoffwechselmessungen gezogenen Schlüsse richtig und notwendig waren, wird anhand der Protokollaufzeichnungen mit dem behandelnden Arzt bei der ambulanten Vorstellung erörtert. Nur mit Hilfe der häuslichen Stoffwechselselbstkontrolle ist das für Kinder und Jugendliche erstrebenswerte Ziel zu erreichen, möglichst selten oder nie in die Klinik eingewiesen werden zu müssen.

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Bei der Stoffwechselselbstkontrolle wird die Glukosekonzentration im Kapillarblut gemessen, das einer nicht bestimmbaren Mischung aus arteriellem und venösen Blut entspricht. Im arteriellen Blut liegen die Glukosekonzentrationen durchschnittlich 8% höher als im venösen Blut. ! Die von den Patienten gemessenen Kapillarblutwerte für Glukose liegen 10–15% niedriger als die entsprechenden Plasmawerte.

Im Folgenden sind die heute verfügbaren Blutglukosemessmethoden für die Stoffwechselselbstkontrolle zusammengestellt: 5 Messung eines Einzelwertes durch visuelle Auswertung von Teststreifen, 5 Messung eines Einzelwertes mit Reflektometern bzw. Blutglukosesensoren und 5 nichtinvasive Messung eines Einzelwertes. Teststreifenmethode ! Die Teststreifenmethode wird heute kaum noch angewendet. Sie ist weitgehend durch die Blutglukosemessgeräte verdrängt worden.

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Blutglukosemessgeräte Die Blutglukosekonzentration wird heute fast ausschließlich mit Messgeräten bestimmt, in die ein Teststreifen eingeschoben wird. Nach Auftragen oder Ansaugen von Blut kann der Blutglukosewert nach kurzer Zeit auf einer Digitalanzeige abgelesen werden. Grundsätzlich gibt es 2 Gerätetypen: Reflektometer und Blutglukosesensoren. Inzwischen wird eine Vielzahl von Messgeräten, augenblicklich mehr als 60, angeboten.

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Reflektometer. Die reflektometrische Messung des Blutglukosewertes erfolgt

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nach dem Prinzip der photometrischen Auswertung der bei der Glukoseoxidase-Peroxidase-Methode entstandenen Farbreaktion. Die Farbreaktionszone des Teststäbchens muss daher in das Photometer eingeschoben werden. Blutglukosesensoren. Blutglukosemessgeräte, die mit einem elektrochemischen Messsystem arbeiten, werden als Blutglukosesensoren bezeichnet. Die Elektroden enthalten einen Enzymkomplex mit Glukoseoxidase und dem Elektronentransmitter Ferrocen. Nach Auftragen des Blutstropfens auf den Testbezirk wird die Glukose in Glukonolakton umgewandelt. Die dabei frei werdenden Elektronen werden durch den Transmitter an die Elektrode geführt. Der vom Sensor gemessene Elektronenstrom, d. h. die Veränderung des elektrischen Widerstandes, wird zum Blutglukosewert umgerechnet. Die Handhabung der Geräte ist einfach. Die Sensor-Elektrode wird in das Gerät eingeführt und der Blutstropfen

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auf das Testfeld am Ende der Elektrode aufgetragen. Die Messung beginnt und ist nach wenigen Sekunden beendet. Der Blutglukosewert wird digital angezeigt. Wichtige Eigenschaften der Blutglukosemessgeräte 5 Die für die Messung notwendige Blutmenge sollte möglichst gering sein. Die meisten Geräte benötigen heute nur noch 1–4 µl. 5 Die Testdauer sollte möglichst kurz sein. Sie schwankt je nach Gerät zwischen 5 und 45 s. 5 Der Messbereich sollte möglichst groß sein (z. B. 20–600 mg/dl). 5 Die Speicherkapazität sollte ausreichend sein (z. B. 50–100 Werte). 5 Die Geräte sollten möglichst wenig störanfällig sein. Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit sollten die Messergebnisse möglichst wenig beeinträchtigen. 5 Jedes Gerät sollte eine Fehleranzeige aufweisen. 5 Die Digitalanzeige sollte groß und deutlich und auch in Dunkelheit abzulesen sein.

Patienten, die gewohnt sind mit dem Computer zu arbeiten – dazu gehören heute viele Jugendliche – wünschen die Übertragung der Messergebnisse auf einen Computer. Darum bieten die meisten Hersteller von Blutglukosemessgeräten spezielle Datenmanagement-Systeme an. Trotz ständiger technischer Verbesserungen der Blutglukosemessgeräte bleiben eine Reihe von Einfluss- und Störfaktoren: Hämatokrit, Temperatur, Feuchtigkeit, Sauerstoffgehalt, hohe Triglyceridkonzentration, v. a. aber Folgen des unzureichenden Trainings der Patienten. Auch die Impräzision der Geräte ist nach wie vor hoch, da eine Standardisierung der inzwischen mehr als 60 Gerätetypen fehlt. Die erlaubten Abweichungen der Glukometer zu parallel durchgeführten Labormessungen wurden von der American Diabetes Association (ADA) von 15% auf 5% gesenkt. Kapillarblutentnahme ! Die Blutglukosebestimmungen können ohne Schwierigkeiten von Schulkindern, Jugendlichen und Eltern durchgeführt werden. Am unangenehmsten ist die Kapillarblutentnahme, an die sich jedoch, wie die Erfahrung zeigt, Schulkinder und Jugendliche so sehr gewöhnen, dass sie sie subjektiv kaum noch als Belastung empfinden. Durchführung. Zunächst wird die Fingerbeere seitlich, das Ohrläppchen oder

eine andere Entnahmestelle mit Wasser gereinigt. Alternative Blutentnahmestellen sind Daumenballen oder Unterarm. Die Haut im Bereich der Blutentnahme

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sollte gut durchblutet sein, damit ein ausreichend großer Blutstropfen gewonnen wird. Die Durchblutung kann durch Reiben, Waschen mit warmem Wasser oder durch Heizungswärme verbessert werden. Durch einen Stich mit einer Lanzette wird frisches Kapillarblut gewonnen. Für den Einstich in die Haut sind Stechhilfen mit Einmallanzetten sehr gut geeignet, die meist in Zusammenhang mit den Blutglukosemessgeräten angeboten werden. Durch die Wahl einer individuell unterschiedlichen Einstichtiefe kann das Ausmaß der Hautverletzung bestimmt und der Einstichschmerz vermindert werden. Der Blutstropfen wird auf den Reflektorteststreifen aufgetragen. Bei den Sensorteststreifen (Sensorelektroden) wird das Blut kapillar angesaugt, bis die winzige Testkammer gefüllt ist. Wichtig ist, dass die Reaktionszone des Teststreifens vollständig bedeckt bzw. die Testkammer der Sensorelektrode vollständig gefüllt ist. Wenn das nicht der Fall ist, zeigen neue Geräte eine Fehlermeldung, ältere falsch-niedrige Werte an. ! Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Blutglukoseteststreifen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Auch die Kosten für Reflektometer, Blutglukosesensoren und Stechhilfen werden in der Regel (bei über 80% der Patienten) akzeptiert. Manchmal muss die Notwendigkeit vom behandelnden Arzt schriftlich begründet werden. Unstrittige Indikationen zur Anschaffung eines Blutglukosemessgerätes sind: die Notwendigkeit einer besonders straffen Stoffwechseleinstellung (z. B. Gravidität) oder die Anwendung einer Behandlungsmethode, die häufige Blutglukosebestimmungen erforderlich macht (intensivierte Formen der Insulintherapie: ICT, CSII).

9.1.2

Kontinuierliche und nichtinvasive Blutglukosemessung

! Eine kontinuierliche Blutglukosemessung kann dem Patienten Informationen über die gesamte Blutglukosefluktuation eines Tages vermitteln. Gleichzeitig gibt ein solches System zuverlässige Warnsignale für hypo- und hyperglykämische Blutglukosewerte ab.

Minimal-invasive und nichtinvasive Methoden Grundsätzlich muss man 2 unterschiedliche Typen von Glukosesensoren unterscheiden: 5 Geräte für die minimal-invasiven und 5 Geräte für die nichtinvasiven Methoden. Minimal-invasive Methoden bestimmen die Glukosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit der Haut oder Subkutis. Dabei muss der Sensor entweder

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direkt ins Gewebe platziert werden oder die Analyseflüssigkeit muss aus dem Körper zur Messung transferiert werden. Der Vorteil dieser minimal-invasiven Methode ist die Möglichkeit der spezifischen Glukosemessung und der Bestimmung der absoluten Konzentration. Die minimal-invasiven Methoden arbeiten einerseits mit Glukose-Elektroden (z. B. CGMS der Fa. Medtronic MiniMed), mit Mikrodialysemethoden (z. B. Glucoday der Fa. Menarini bzw. GlucOnline der Fa. Roche/Disetronic) oder mit transdermalen Methoden (z. B. GlucoWatch der Fa. Cygnus). Bei den nichtinvasiven Methoden werden üblicherweise optische Glukosesensoren verwendet. Das grundsätzliche Prinzip eines optischen Glukosesensors besteht darin, einen Lichtstrahl durch die intakte Haut zu senden und danach die Eigenschaften des reflektierten Lichtes zu analysieren. Dabei wird das reflektierte Licht einerseits durch direkte Interaktionen mit Glukose verändert (spektroskopische Ansätze) oder durch indirekte Effekte der Glukose, indem die physikalischen Eigenschaften der Haut verändert und dadurch die Lichtreflexe beeinflusst werden (sog. Scattering). Das Hauptproblem dieser nichtinvasiven optischen Methoden ist es, eine Spezifität der Glukosebestimmung mit ausreichender Präzision zu erzielen. Das Verhältnis von Blutglukose- und interstitieller Glukosekonzentration Angesichts der Risiken, einen Glukosesensor langfristig in das intravaskuläre Blutstromgebiet einzubringen, werden Glukosesensoren üblicherweise in den Intrazellulärraum bzw. in die interstitielle Flüssigkeit oder das intervaskuläre Kompartiment gelegt. Daher messen Glukosesensoren nicht den Blutglukosewert, sondern die Glukosekonzentration in der Flüssigkeit, in der der Sensor lokalisiert ist. So misst der minimal-invasive Glukosesensor die Glukosekonzentration der interstitiellen Flüssigkeit, während die nichtinvasiven Dialysemethoden bzw. die transdermalen Sensoren eine Mischung der Glukosekonzentration aus Intrazellulärraum, interstitieller Flüssigkeit und intervaskulärem Kompartiment bestimmt. Da 45% des Volumens der Haut aus interstitieller Flüssigkeit besteht und weniger als 5% des Volumens aus Blutgefäßen besteht, bewirken Änderungen der Blutglukose nur geringe Änderungen der Glukosekonzentration in der Haut oder dem Unterhautfettgewebe. Unter physiologischen Bedingungen gibt es einen raschen Austausch der Glukosemoleküle zwischen Blutplasma und interstitieller Flüssigkeit. Daher besteht eine enge Korrelation zwischen den beiden Glukosekonzentrationen. Allerdings besteht eine gewisse Zeitverzögerung zwischen den Veränderungen in den verschiedenen Kompartimenten. Diese physiologische Zeitverzögerung variiert zwischen wenigen Sekunden bis zu 15 Minuten. Das Ausmaß der Unterschiede hängt von den absoluten Glukosespiegeln, der Geschwindigkeit der Glukosekonzentrati-

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onsänderung sowie der Richtung der Änderung ab. Zur Fehleinschätzung der tatsächlichen Blutglukosekonzentration trägt bei, dass es wahrscheinlich eine intra- wie auch eine interindividuelle Variabilität dieser Zeitverzögerung gibt und auch lokale Faktoren wie Körpertemperatur oder körperliche Bewegung das Ausmaß der Zeitverzögerung beeinflussen können. Besonderheiten der kontinuierlichen Glukosemessmethoden 5 Zeitverzögerung bis zum Erhalt des Ergebnisses der Messung:

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Grundsätzlich können 2 Gründe für eine Zeitverzögerung verantwortlich sein. Bei allen Methoden, bei denen die Probe erst gesammelt werden muss (z. B. GlucoWatch) oder die Probe erst zur Messeinheit transferiert werden muss (z. B. Mikrodialyse), kommt dieser Zeitraum zu der physiologischen Zeitverzögerung hinzu. Darüber addiert sich die Zeitverzögerung durch das Messverfahren selbst. 5 Messfrequenz:

Während ein idealer Glukosesensor kontinuierlich messen sollte, sind mit Rücksicht auf die Messmethodik und Probengewinnung bestimmte Messintervalle erforderlich. So wird z. B. bei der transdermalen Untersuchung mit der GlucoWatch-Methode nur alle 20 min ein Messwert angegeben. 5 Erreichen eines stabilen Signals nach Applikation des Glukosesensors:

Bei allen Typen der Glukosesensoren wird eine gewisse Zeit benötigt, bis ein stabiles Signal erhältlich ist. Der Äquilibrierungsprozess zwischen der Oberfläche des Sensors und dem umgebenden Milieu führt zu einer weiteren Zeitverzögerung. 5 Langfristige Stabilität des Sensorsignals und Kalibrierung:

Die meisten Glukosesensoren haben einen sog. Drift in ihrem Signal. So können z. B. Reaktionen der Glukose-Elektrode mit der Umgebung im Sinne einer Fremdkörperreaktion zu einer Änderung des Verhältnisses zwischen Sensorsignal und Glukosespiegel führen. Für eine gewisse Zeit lässt sich dieser Prozess durch eine Rekalibration ausgleichen, bis keine verlässlichen Ergebnisse mehr zu erhalten sind. Gerade hinsichtlich der Kalibrierung bieten diese Messmethoden auch für die Stoffwechselbewertung völlig neue Perspektiven. Gegenwärtig werden alle Veränderungen der Diabetestherapie durch die Ergebnisse der täglichen Blutzuckermessungen bestimmt. Sollte sich aber herausstellen, dass z. B. Änderungen der interstitiellen Glukosespiegel viel mehr für die Entwicklung von diabetischen Folgeerkrankungen verantwortlich sind, könnte sich dieses Bezugssystem in Zukunft ändern. Solange jedoch Untersuchungen fehlen, die diese Annahme beweisen, werden die in den verschiedenen Kompartimenten gewonnenen Sensorsignale über den Kalibrationsprozess in Blutglukosewerte umgerechnet.

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Dazu müssen üblicherweise eine oder mehrere konventionelle kapilläre Blutglukosemessungen durchgeführt und in das Messsystem eingegeben werden. Dabei unterscheiden sich die Messsysteme in der Anzahl der notwendigen Blutglukosewerte für die primäre Kalibration und die Intervalle bzw. die Notwendigkeit einer Rekalibration. Keine der bislang verfügbaren Methoden der kontinuierlichen Messung kann daher vollständig auf die herkömmlichen Blutzuckermessgeräte verzichten. Dadurch gehen Fehler der Blutglukosemessung in die Genauigkeit der kontinuierlichen Messung ein. Beispiele für verschiedene Messsysteme CGMS und Guardian RT (Fa. Medtronic MiniMed). Das CGMS-System ist das bislang am häufigsten klinisch eingesetzte Messsystem zur kontinuierlichen Glukosemessung (. Abb. 9.2). Eine Glukoseelektrode wird in das Unterhautfettgewebe gelegt. An der Spitze der Elektrode ist ein glukosespezifisches Enzym, die Glukoseoxidase, lokalisiert. Die Elektrode misst Spannungsänderungen, die durch die enzymkatalysierte Produktion von Wasserstoffperoxid entstehen. Die registrierten Spannungsänderungen werden durch Kalibrierung mit Hilfe von 4 täglichen Blutglukosemessungen in Glukosekonzentrationen umgerechnet. Bei der Weiterentwicklung des Systems Guardian RT werden die Werte über einen Transmitter kabellos mittels Radiowellen an einen Monitor übertragen (. Abb. 9.3). Auf dem Monitor wird sowohl der berechnete Glukosewert, Trendanzeigen über die Änderung und die Profile für die letzten 3 oder 24 Stunden angezeigt. Der Monitor wird am Gürtel oder bei kleinen Kindern in einem Rucksack getragen, so dass die übliche tägliche körperliche Aktivität weitestge-

. Abb. 9.2 Komponenten des CGMS-Systems der Fa. Medtronic

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. Abb. 9.3 Die neueren Systeme mit kontinuierlicher Glukoseanzeige (Guardian RT und Dexcom STS)

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. Abb. 9.4 Praktisches Vorgehen zur Analyse der CGM-Daten. Die Glukoseprofile mehrerer Tage für bestimmte Zeitperioden können übereinander gelegt werden, um typische Muster von Glukosekonzentrationsverläufen zu erkennen

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hend möglich ist. Am Ende der Messperiode kann das Gerät in eine Basisstation (»Comstation«) gelegt werden und es erfolgt die Übertragung der Daten zum Computer. Dort können die Glukoseprofile mehrerer Tage übereinander gelegt und analysiert werden (. Abb. 9.4). DexCom STS (Fa Dexcom). Das System besteht aus einem drahtähnlichem Sensor, der vom Patienten direkt in das Unterhautfettgewebe plaziert wird. Die Daten

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werden kabellos auf den STS Empfänger übertragen (. Abb. 9.3). Die Werte und Trends können durch Knopfdruck von den Patienten abgerufen werden; das System gibt Alarme bei hohen und niedrigen Blutzuckerwerten. Der Sensor muss genauso wie das Guardiansystem alle drei Tage gewechselt werden. Im März 2006 wurde es von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zugelassen. Es ist bisher nur in den USA erhältlich. GlucoWatch (Fa. Cygnus). Der transdermale Ansatz der GlucoWatch-Methode

basiert auf der sog. reversen Iontophorese. Dabei wird eine schwache Stromspannung an die Haut angelegt, wodurch interstitielle Flüssigkeit durch die Haut gesammelt wird. Dabei kann es zu leichten reversiblen Hautirritationen kommen. Zusammen mit der Flüssigkeit werden geringe Mengen von Glukose (ungefähr ein Tausendstel der Blutglukosekonzentration) transferiert. Nach einer 3-stündigen Äquilibrierungsperiode mit einer einzigen konventionellen Blutglukosemessung kann dieses System zurzeit 3 Glukosewerte pro Stunde während einer zwölfstündigen Messdauer angeben. Gegenwärtig ist das System nicht mehr erhältlich. Glucoday (Fa. Menarini). Das Glucoday-System der Fa. Menarini beruht auf

einer Mikrodialyse-Methode. Mikrodialyseverfahren imitieren die Funktion der Kapillaren. Ein semipermeabler Katheter wird dabei unter die Haut eingeführt. Durch Perfusion des Katheters mit isotoner glukosefreier Flüssigkeit wird ein Dialysat der interstitiellen Flüssigkeit gesammelt. Dieses Dialysat wird von einer peristaltischen Minipumpe zum Biosensor des Messgeräts gepumpt. Dort können in weniger als 2 min nach Probeentnahme am Display Glukosewerte abgelesen werden. Der Vorteil der Methode besteht darin, dass im Bereich des Messsensors keine Fremdkörperreaktion stattfindet, so dass kein wesentlicher Signaldrift auftritt. Nach einmaliger, 2 h nach der Insertion des Dialysekatheters durchgeführter Kalibrierung, kann ein bis zu 48-stündiges Glukose-Monitoring durchgeführt werden. GlucOnline (Fa. Roche). Ein ganz anderes Messprinzip verwendet der Sensor Glu-

cOnline. Wie bei dem System Glucoday benutzt das Gerät eine Mikrodialysemethode. Gemessen wird aber nicht eine elektrochemischen Reaktion, sondern die Viskositätsänderung der Messflüssigkeit. Sie besteht aus 2 Komponenten: aus Dextran und Concanavalin A (ConA), einem Lektin. ConA bindet die großen Dextranteilchen aneinander, so dass es zu einer engen Vernetzung kommt. Die Flüssigkeit ist deshalb zuerst relativ dickflüssig. Wenn aus dem interstitiellen Kompartiment Glukose in die Messflüssigkeit über eine semipermeable Membran diffundiert, bindet ConA nicht nur Dextran, sondern mit gleicher Anziehungskraft auch Glukose. Das Netz wird gelockert, die Messflüssigkeit flüssiger.

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Die Viskositätsänderung der Messflüssigkeit kann man direkt messen. Sie erlaubt einen Rückschluss auf die Glukosekonzentration im Gewebe. Klinische Studien sind gegenwärtig in der Planungsphase. Erfahrungen bei Kindern liegen bislang nicht vor. ! Die nichtinvasiven Glukosesensoren (optische Glukosesensoren, Polarimetrie,

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Infrarotspektroskopie usw.) befinden sich noch in der präklinischen Studienphase. Es ist nicht voraussehbar, ob Geräte für den breiten klinischen Einsatz entwickelt werden können.

Klinische Interpretation der Ergebnisse Die Ergebnisse der kontinuierlichen Messungen bieten die Möglichkeit, komplementär zu HbA1c- und Blutglukosemessungen durch die Patienten eine Einschätzung der Stoffwechselschwankungen zu erhalten. Bereits während der Anfangszeiten der Blutglukosebestimmungen waren hierfür Messgrößen entwickelt worden. Der sog. MAGE-Wert (Mean Amplitude of Glycaemic Excursions) ist ein Maß für die Blutglukoseschwankungen eines Tages. Dabei wird der Absolutwert der Differenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Blutzuckerwert einer Blutzuckerschwankung herangezogen. Alle Blutzuckerschwankungen, die über einer Standardabweichung der mittleren Blutglukose (MBG) einer 24-h-Periode liegen, werden zur Berechnung eines Mittelwerts herangezogen. Als Maß für die Blutzuckerschwankungen zwischen einzelnen Tagen wurde der MODD-Wert (Mean Of Daily Differences) entwickelt. Dabei werden über 200 Wertepaare von Blutglukosebestimmungen zur gleichen Tageszeit gebildet, und der Mittelwert des Absolutwertes der jeweiligen Differenzen berechnet. Für die Beratung bei intensivierter Insulintherapie kommt es besonders auf die Betrachtung bestimmter Zeitpunkte an (z. B. Postprandialwerte), die sich wegen eines flexiblen Tagesablaufs von Tag zu Tag ändern können. Als praktisches Vorgehen hat sich folgende Methodik bewährt: Schritt 1 — Betrachten der Nacht Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien Schritt 2 — Betrachten der prä-prandialen Periode Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien Schritt 3 — Betrachten der post-prandialen Periode Entdecken von Hypo- dann Hyperglykämien

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Dabei sind Schwankungen innerhalb des Blutglukose-Zielbereichs von hyperund hypoglykämischen Phasen zu unterscheiden. Dem trägt das Verfahren zur Berechnung der Fläche unter der Kurve (Area under the Curve, AUC) Rechnung. Bei den rasch fluktuierenden Glukosewerten kann die AUC als ein Maß für die pathologische Blutzuckerlast pro Zeiteinheit angesehen werden. Sie erlaubt den Vergleich verschiedener therapeutischer Verfahren, wie z. B. die Verwen-

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dung von kurzwirkenden Insulin-Analoga oder Normalinsulin zur Regulation postprandialer Blutzuckererhöhungen. Wenn man die Gesamtfläche unter der Glukosekurve einer 3-tägigen Messung mit dem CGMS-System mit den HbA1cWerten der Kinder vergleicht, ergibt sich eine gute Übereinstimmung. Erfahrungen bei Kindern Der Einsatz der kontinuierlichen Messverfahren hat in mehreren pädiatrischen Studien die schwankenden Glukosewerte in den verschiedenen Altersgruppen belegt. Bei Vorschulkindern zeigten sich mit dem CGMS-System häufig langfristige nächtliche hypoglykämische Phasen, die mit der herkömmlichen Blutglukosebestimmung trotz nächtlicher Messung um 2 Uhr nicht erfasst wurden. Trotz regelmäßiger Blutglukosemessungen am Tage wird das Ausmaß der tatsächlichen Stoffwechselschwankungen meist unterschätzt. Die kontinuierliche Glukosemessung bietet daher eine wichtige neue Möglichkeit der Stoffwechselüberprüfung. Sie stellt gegenüber den Blutglukosetagesprofilen und der HbA1c-Bestimmung eine zusätzliche Information dar. Es ist zu hoffen, dass die Akzeptanz der Methoden bei Patienten und Kostenträgern mit der Verbesserung der technischen Voraussetzungen weiter zunehmen wird. Die kontinuierlichen oder nichtinvasiven Verfahren der Glukosemessung können die herkömmlichen Stoffwechselselbstkontrollen nicht ersetzen, erst recht nicht die Laboranalysen (HbA1c). Eine nichtinvasive, d. h. schmerzfreie Blutglukosebestimmungsmethode wäre v. a. für kleinere Kinder wünschenswert. Auch für die Erkennung nächtlicher Hypoglykämien wäre die Methode eine wichtige Hilfe. Allerdings müsste man sich auf die Messgenauigkeit der Geräte, v. a. im Hypoglykämiebereich, verlassen können. 9.1.3

Uringlukosemessung

Die Blutglukosebestimmung hat die Uringlukosemessung vollständig verdrängt. Trotzdem sollte die sehr viel preiswertere Methode zur Uringlukosemessung nicht ganz vergessen werden. In vielen Ländern der Erde muss sie aus Kostengründen nach wie vor verwendet werden. 9.1.4

Ketonkörpernachweis

! Häufigste Ursache für eine Hyperketonämie mit Ketonurie sind eine schlechte Stoffwechseleinstellung mit mangelnder Insulinsubstitution und/oder unzureichende Kalorien-, insbesondere Kohlenhydratzufuhr.

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Bei bestimmten Stoffwechselsituationen (z. B. Infektionen, ausgeprägter Hyperglykämie, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Hunger, Fasten) sollte der Urin auf Ketonkörper untersucht werden. Bei mangelhaftem Glukoseangebot an die Zellen, z. B. aufgrund unzureichender Insulinsubstitution oder wegen eines nicht ausreichenden Nahrungsangebots, werden vermehrt Triglyceride gespalten. Dabei entstehen freie Fettsäuren, die teils oxidieren, teils in der Leber zu Ketonkörpern umgewandelt werden. Die Serumkonzentration der Ketonkörper E-Hydroxybuttersäure, Acetessigsäure und Aceton steigt an (Hyperketonämie bzw. Ketose). Die Ketonkörper werden im Urin in so großer Menge ausgeschieden, dass sie mit Hilfe einfacher Tests nachweisbar werden. Ketonkörper im Urin sind daher ein wichtiger Hinweis für eine schlechte Stoffwechseleinstellung. Für den Nachweis der beiden Ketonkörper Acetessigsäure und Aceton im Urin werden Schnelltests angeboten, die auf der Legal-Probe basieren, bei der die beiden Ketonkörper im alkalischen Milieu einen violetten Farbkomplex mit Nitroprussiat bilden. Die b-Hydroxybuttersäure wird nicht gemessen. Die Tests weisen eine praktische Empfindlichkeit von 5 mg/dl auf. Eine physiologische Ketonurie, bei der Werte bis 2 mg/dl auftreten können, wird durch die Tests nicht erfasst. Die Nitroprussid-Methode wird durch einige Faktoren gestört. Falsch-positive Werte werden bei ACE-Hemmern und bei Eigenfärbung des Urins nachgewiesen, falsch-negative bei stark saurem Urin oder bei unverschlossen aufbewahrten Teststreifen. Für den Ketonkörpernachweis im Urin sind die Teststreifen Ketostix (Bayer Vital) und Keturtest (Roche Diagnostics) verfügbar. Mit den Schnelltests KetoDiabur-Test 5000 (Roche Diagnostics) und Ketodiastix (Bayer Vital) können Glukose und Ketonkörper im Urin bestimmt werden. Die Urinteststreifen sind für die Abschätzung der Ketonkörperkonzentration im verdünnten Blut nicht geeignet, da die bei Ketose stark vermehrte E-Hydroxybuttersäure mit der Nitroprussid-Methode nicht nachgewiesen wird. Für die Diagnose und Überwachung der diabetischen Ketoazidose ist dagegen eine enzymatische Teststreifen-Methode mit E-Hydroxybutyrat-Dehydrogenase verfügbar (Medisense Precision Xtra E-Keton), die sich besonders für Patienten mit Insulinpumpentherapie eignet, damit Phasen eines Insulinmangels bei Katheterobstruktion rasch erkannt werden können. 9.1.5

Häufigkeit der Stoffwechselselbstkontrolle

Die Häufigkeit von Stoffwechselselbstkontrollen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes hängt v. a. von der individuellen Eigenart des Patienten und seiner Familie, aber auch von der aktuellen Stoffwechselsituation, vom Verlauf des Diabetes und nicht zuletzt von der Methode der Insulintherapie ab.

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! Jedes Mitglied des Diabetesteams muss wissen, dass die Kinder und ihre Eltern Individuen mit freier Entscheidung darüber sind, wie sie mit dem Diabetes umgehen. Man kann ihnen viele Ratschläge erteilen, wie sie allerdings damit umgehen, hängt allein von ihrer eigenen freien Entscheidung ab.

Wann sollte der Blutglukosewert bestimmt werden? Wichtig ist, dass Zeitpunkte gewählt werden, die in enger zeitlicher Beziehung zur Insulininjektion und zur Nahrungsaufnahme stehen. Die Kenntnis des Blutglukosewerts vor jeder der 3 Hauptmahlzeiten ist für die Berechnung der notwendigen Insulindosis wichtig, auch um evtl. die Mahlzeit in Abhängigkeit vom Blutzuckerwert zu modifizieren. Wenn man prüfen will, ob das Verhältnis zwischen Insulindosis und Nahrungszufuhr richtig gewählt war, kann der Blutglukosewert 1–1,5 h nach der Mahlzeit gemessen werden. Der Nüchternwert, unmittelbar nach dem Aufwachen morgens früh, der meist mit dem Wert vor der 1. Hauptmahlzeit übereinstimmt, ist wichtig, weil er u. U. wichtige Informationen über die abgelaufene Nacht (Hypoglykämie) oder das Ausmaß der häufigen Morgenhyperglykämie (Dawn-Phänomen) gibt. Auch der Spätwert zwischen 22 und 23 Uhr, d. h. bei vielen Patienten vor der Basalinsulininjektion für die Nacht, ist sehr informativ für die Wahl der Insulindosis bzw. für die Vermeidung einer Hypoglykämie. Schließlich gibt es Zeitpunkte für die Blutglukosebestimmung, die keinen unmittelbaren Bezug zu Insulininjektionen oder Mahlzeiten haben. Nachts zwischen 24 und 2 Uhr treten erfahrungsgemäß häufiger niedrige Blutzuckerwerte auf, in den frühen Morgenstunden zwischen 4 und 7 Uhr dagegen relativ hohe. Daher kann es notwendig sein, z. B. um 1 Uhr und/oder um 4 Uhr orientierend Blutglukose zu messen. In . Tabelle 9.1 sind exemplarisch mögliche Zeitpunkte für Blutglukosemessungen, Insulininjektionen und Mahlzeiten bei einer der intensivierten Formen der Insulintherapie zusammengestellt. Insgesamt sind 9 Blutzuckermessungen angegeben. Täglich ist das selbstverständlich unzumutbar. Der Patient muss selbst täglich neu entscheiden, wie oft und zu welchem Zeitpunkt er eine Blutglukosemessung durchführen will. Im Alltag reichen bei relativ stabiler Stoffwechseleinstellung in der Regel 4 Messungen in 24 h, an Tagen mit problematischer Stoffwechselsituation (Infekt, Sport usw.) kann häufiger getestet werden. Zusammenfassung In der Regel reichen 4 Blutglukosebestimmungen in 24 h. Die wichtigsten Zeitpunkte sind morgens, mittags und abends vor den 3 Hauptmahlzeiten und spät abends vor Beginn der Nacht. Bei besonderen Stoffwechselsituationen kann die Zahl der Messungen beliebig erhöht werden.

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Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle

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. Tabelle 9.1 Mögliche Zeitpunkte für die Blutglukosebestimmung, die Insulininjektionen und die Hauptmahlzeiten

2

Zeit

Messen

7.15 Uhr 7.30 Uhr 8.00 Uhr

1. Blutzucker (Nüchternwert)

3 4

9.30 Uhr

2. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit

5

12.15 Uhr 12.30 Uhr 13.00 Uhr

3. Blutzucker vor der 2. Insulininjektion

14.30 Uhr

4. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit

17.45 Uhr 18.00 Uhr 18.30 Uhr

5. Blutzucker vor der dritten Insulininjektion

20.00 Uhr

6. Blutzucker 1,5 h nach der Mahlzeit

22.30 Uhr 22.35 Uhr

7. Blutzucker, Spätwert

1.00 Uhr

8. Blutzucker (1. Nachthälfte)

5.00 Uhr

9. Blutzucker (2. Nachthälfte)

6 7 8

9

Spritzen/Essen

1. Insulininjektion 1. Hauptmahlzeit

2. Insulininjektion 2. Hauptmahlzeit

3. Insulininjektion 3. Hauptmahlzeit

4. Insulininjektion

10 11 12 13

9.1.6

14

! Die Messergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind unverzichtbar, um die

15 16 17

Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle

notwendige Insulindosis zu ermitteln und um sich ein Bild von der aktuellen Stoffwechselsituation zu machen. Sie sind aber auch eine wichtige Grundlage für die Beratung in der Diabetessprechstunde. Darum sollten sie regelmäßig dokumentiert, d. h. aufgezeichnet werden.

Für die Protokollierung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind verschiedene Protokollbogen und Protokollheftchen entwickelt worden. Die Firmen verschenken sie, in den Diabetesambulanzen werden sie verteilt und einige Eltern und Patienten entwerfen ihre eigenen Protokollbogen. Es gibt Protokollbogen für einen Tag, für eine Woche oder einen Monat (. Abb. 9.5).

9.1 · Stoffwechselselbstkontrolle

195

9

. Abb 9.5 Wochenprotokollbogen für die Stoffwechselselbstkontrole (Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover)

Daten für den Protokollbogen 5 5 5 5 5 5

Wochentag und Datum Insulininjektionen (differenziert nach Normal- und Verzögerungsinsulin) Verteilung der Kohlenhydrateinheiten (KE) Blutglukosewerte Letzter HbA1c-Wert Platz für Bemerkungen

Für Eltern und Jugendliche, die sich besonders intensiv mit den Ergebnissen der Stoffwechselselbstkontrolle beschäftigen wollen, werden eine Reihe von Computerprogrammen angeboten. Die Blutglukosewerte können direkt vom Messgerät übernommen und mit Hilfe eines speziellen Datenmanagement-Systems ausgewertet werden. Man kann die graphischen Darstellungen und statistischen Auswertungen der Ergebnisse ausdrucken, betrachten und auch in der Diabetessprechstunde mit dem Arzt gemeinsam erörtern. Wenn nicht nur die Messwerte, sondern auch die Begleitumstände ihrer Entstehung (z. B. Insulin, Mahlzeiten, Sport, Infekt, Stress) miterfasst werden, können Stoffwechselprobleme, Schwächen der Stoffwechseleinstellung und krisenhafte Situationen schnell erkannt und problemlösend besprochen werden. Die Patienten sollten durch die Mög-

196

2 2 3 4 5

Kapitel 9 · Methoden der Stoffwechselkontrolle

lichkeit der elektronischen Datenspeicherung und Analyse jedoch nicht dazu verführt werden, auf die täglichen handgeschriebenen Protokolle zu verzichten. Zusammenfassung Die handgeschriebenen Protokolle der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle sind unverzichtbare Dokumente für eine individuelle Diabetestherapie. Sie sind wichtige Orientierungshilfen für die täglich neuen therapeutischen Entscheidungen der Patienten. Nur mit Hilfe dieser Protokolle kann eine kritische Analyse der individuellen täglichen Insulintherapie mit der Möglichkeit zur notwendigen Modifikation und Verbesserung erfolgen. Sie stehen daher im Mittelpunkt der Ambulanzgespräche zwischen den Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, ihren Eltern und dem Arzt.

6 9.1.7

Beurteilung der Ergebnisse der Stoffwechselselbstkontrolle

7 ! Bei Menschen ohne Diabetes steigen die Blutglukosewerte praktisch nie über 8

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120 mg/dl an und sinken nie unter 60 mg/dl ab. Der mittlere Blutglukosewert liegt bei ihnen um etwa 80 mg/dl. Solche Werte sind bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes auch mit Hilfe einer sachgerechten Insulintherapie und Ernährung nicht zu erreichen.

In . Tabelle 9.2 sind Orientierungswerte für die Blutglukosekontrolle mit Bewertungsmaßstäben für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes zusammengestellt. Sie folgen den Empfehlungen der ISPAD (2000) und sind den Statements der AGPD (2004) der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) entnommen. Die Maßstäbe sind sehr streng und, wie die Erfahrung lehrt, in der täglichen Praxis oft schwierig zu erreichen. Darum müssen diese allgemeinen Orientierungsdaten selbstverständlich den individuellen Umständen des Kindes oder Jugendlichen angepasst werden. Es gehört sicher zu den schwierigsten Aufgaben der Diabetesberatung, praxisgerechte Ratschläge für die individuelle Bewertung der Daten der Blutglukosemessungen zu vermitteln. Zusammenfassung

16 17

Die Beurteilung der von den Patienten gemessenen Blutglukosewerte ist ein wichtiges Thema der Diabetesschulung. Blutglukosewerte unter 50 mg/dl sind immer als zu niedrig zu bezeichnen (Hypoglykämie), solche über 180 mg/dl gelten grundsätzlich als zu hoch. Ob die Blutzuckerwerte als zu hoch oder zu niedrig zu beurteilen sind, hängt jedoch auch davon ab, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie gemessen wurden bzw. in welcher Verlaufsphase des Diabetes sich der Patient befindet (Remissions- bzw. Postremissionsphase).

9

197

9.2 · Methoden der Stoffwechselkontrolle

. Tabelle 9.2 Blutglukoserichtwerte bei Kindern ohne und mit Typ-1-Diabetes. (Nach AGPD und ISPAD ) Ideal (stoffwechselgesund)

Optimal

Mäßig

Sehr schlecht (Maßnahmen erforderlich)

Präprandiale oder nüchtern BG mmol/l mg/dl

3,6–6,1 65–110

4–7 72–126

>8 >144

>9 >162

Postprandiale BG mmol/l mg/dl

4,4–7 79–126

5–11 90–198

11,1–14 200–252

>14 >252

Nächtliche BG mmol/l mg/dl

3,6–6 65–108

nicht 140 mg/dl) wird die Bestimmung der Plasmaglukosekonzentration im Labor, des HbA1c-Wertes, der diabetes-assoziierten-Autoantikörper (GADA, IA2A) sowie die Durchführung eines oralen Glukose-Toleranztests (oGTT) empfohlen. Die ISPAD Consensus Guidelines 2000 empfehlen die Durchführung des oGTT mit der oralen Glukosegabe von 1,75 g/kg Körpergwicht nüchtern nach normaler Kohlenhydrataufnahme an den vorangehenden Tagen. Die Kriterien für die Beurteilung des oGTT sind für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleich (. Tabelle 1.1). Wenn nicht gleich ein oGTT durchgeführt werden kann, wird ein Blutglukose-Tagesprofil (2-stündlich über eine Verweilkanüle) unter

208

2 2 3 4 5 6 7 8

9 10 11 12 13 14

Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

normaler, kohlenhydratreicher Kost gemessen. Werden pathologisch hohe Blutglukosewerte nachgewiesen, gilt das Vorliegen eines Diabetes mellitus als gesichert. Differentialdiagnostisch ist ein Typ-1-Diabetes von anderen Diabetesformen (z. B. Typ-2-Diabetes, MODY) bzw. sekundären Störungen der Kohlenhydrattoleranz (z.B. Medikamente, Endokrinopathien) oder einer akzidentellen Hyperglykämie im Rahmen einer Stressituation abzugrenzen. Wenn die diabetesspezifischen Autoantikörper positiv und der oGTT normal ausfällt, empfiehlt sich eine Wiedervorstellung des Patienten in 6–12 Monaten zur Wiederholung der Tests, denn das Risiko, einen insulinpflichtigen Diabetes zu entwickeln, ist relativ hoch. Wenn im oGTT pathologisch hohe Werte nachgewiesen werden, sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen (alle 3–6 Monate) erforderlich. Für die häuslichen Tests durch die Eltern eignet sich der Glukosenachweis im Urin (Urinzuckerteststreifen: Diabur 5.000) besser als die Blutzuckerbestimmung, da diese bei Ungeübten häufig falsch-pathologische Werte anzeigt und damit Unsicherheit und Verwirrung auftreten können. Als weiteres Kriterium für das Vorliegen einer gestörten glykämischen Stoffwechsellage kann der HbA1c-Wert herangezogen werden. Ein HbA1c-Wert unterhalb der einfachen Standardabweichung des Mittelwertes des Normalkollektivs des Labors schließt einen Diabetes aus, während ein Wert oberhalb der doppelten Standardabweichung die Diagnose Diabetes mellitus wahrscheinlich macht. 10.2

Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes

)) Der klinische Verlauf des Typ-1-Diabetes ist bei Kindern und Jugendlichen durch 3 charakteristische Phasen gekennzeichnet, die als Initial-, Remissions- und Postremissionsphase bezeichnet werden. Die Dauer der Verlaufsphasen ist individuell sehr unterschiedlich.

15

10.2.1 Initialphase

16

Bei Manifestation des Typ-1-Diabetes ist der Insulinbedarf zunächst relativ hoch, und zwar umso höher, je länger der Diabetes bereits vorlag, ohne diagnostiziert zu werden. In Abhängigkeit vom Manifestationstyp liegt der Insulintagesbedarf bei Patienten mit ausgeprägter Dehydratation und Ketoazidose bzw. Coma diabeticum zwischen 1,5 und 2,5 I.E. pro kg Körpergewicht (KG), bei Kindern mit mittelgradiger Dehydratation ohne Ketoazidose zwischen 1,0 und 1,5 I.E. pro kg

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10.2 · Verlaufsphasen des Typ-1-Diabetes

209

10

KG und bei der leichten Manifestationsform mit geringgradiger Dehydratation zwischen 0,5 und 1,0 I.E. pro kg KG. 10.2.2 Remissionsphase Bei etwa 90% der Patienten kann die Insulindosis einige Tage nach Beginn der Behandlung nach und nach reduziert werden. Der Patient kommt in die Remissionsphase, die durch eine unterschiedlich ausgeprägte Restsekretion von endogenem Insulin charakterisiert ist. Als »partielle temporäre Remission« wird die Phase bezeichnet, in der der Insulintagesbedarf definitionsgemäß weniger als 0,5 I.E. pro kg KG beträgt. Während dieser Zeit, die auch als »Flitterwochen« (Engl. »honeymoon period«) des Diabetes bezeichnet wird, ist eine sehr gute Stoffwechseleinstellung – meist ohne Glukosurie – ohne Schwierigkeiten zu erzielen. Eltern und Kinder lernen, mit der Erkrankung umzugehen. Die »partielle temporäre Remission« mit sehr niedrigem Insulintagesbedarf tritt nur bei etwa 30–60% der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes auf und dauert 1–6 Monate, selten länger als ein Jahr. Bei Kleinkindern tritt die Remission seltener und kürzer auf. Die Restsekretion von Insulin lässt in der Folge immer mehr nach, sodass sie bei der Mehrzahl der Patienten schon nach 1–2 Jahren nicht mehr nachweisbar ist. Nach 2–4 Jahren ist sie in der Regel bei allen Kindern erloschen. Die Remissionsphase ist damit endgültig beendet. 10.2.3 Postremissionsphase Während der Postremissionsphase liegt der Insulintagesbedarf bei Kindern vor der Pubertät zwischen 0,8 und 1,0 I.E. pro kg KG, meist näher bei 1,0 I.E. pro kg KG. Wir sind der Auffassung, dass bei Kleinkindern und Kindern bis etwa 12 Jahren eine Tagesdosis von 1 I.E. pro kg KG nicht überschritten werden sollte. Wenn mehr Insulin injiziert wird, muss eine Überinsulinierung in Erwägung gezogen werden. Allerdings steigt der Insulintagesbedarf während der Pubertät deutlich an. Er liegt bei Mädchen zwischen 1,0 und 1,3 I.E. pro kg KG, bei Jungen zwischen 1,1 und 1,4 I.E. pro kg KG. Ursachen des steigenden Insulinbedarfs sind der Wachstums- und Entwicklungsprozess der Patienten. Insulinantagonistische Hormone wie Kortikoide, Wachstumshormon, Schilddrüsenhormon, Sexualhormone werden während dieser Altersphase in wechselnder Menge sezerniert und führen zu einer deutlichen Verminderung der Insulinwirksamkeit. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass während der Pubertät, der Zeit der Sexualreife, eine zufrieden stellende Stoffwechseleinstellung oft sehr schwierig zu erzielen ist.

210

2 2 3 4 5

Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

Nach der Pubertät sinkt der Insulintagesbedarf bei Mädchen wieder auf Werte unter 1,0 I.E. pro kg KG, während er bei Jungen auf etwa 1,0 I.E. pro kg KG zurückgeht. Der endgültige Insulinbedarf des Erwachsenen, der bei etwa 0,6– 0,7 I.E. pro kg KG liegt, wird meist jenseits des 20. Lebensjahres erreicht. Zusammenfassung Die Kenntnis der charakteristischen, vom Alter des Patienten und von der Diabetesdauer abhängigen Veränderungen der Insulindosis ermöglichen zwar keine exakten Rückschlüsse auf den individuellen Insulinbedarf, lassen jedoch prognostische Aussagen zu. Besorgte Eltern können z. B. darauf hingewiesen werden, dass der labilen Stoffwechseleinstellung mit hohem Insulinbedarf während der Pubertät eine stabile Phase mit reduziertem Insulinbedarf folgt.

6 7 8

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10.3

Stationäre Behandlung nach Manifestation des Typ-1-Diabetes

)) Die Initialbehandlung von Kindern und Jugendlichen nach Manifestation eines Typ1-Diabetes erfolgt in Deutschland in der Regel stationär in einer Kinderklinik. Obwohl eine ambulante Erstbehandlung bei klinisch gutem Zustand eines Kindes möglich ist und dabei von etwa gleichen Kosten für das Gesundheitswesen auszugehen ist, sind die dafür erforderlichen ambulanten Strukturen in Deutschland gegenwärtig nicht vorhanden . Die stationäre Aufnahme nach Manifestation sollte nicht nur wegen der notwendigen initialen Stoffwechselersteinstellung, sondern v. a. wegen der initialen Schulung der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern erfolgen. Dafür sind etwa 10–14 Tage erforderlich. Vom Zustand des Kindes hängt es ab, ob eine Initialtherapie mit oder ohne Infusionsbehandlung notwendig ist. Während des ersten Klinikaufenthaltes muss entschieden werden, ob das Kind eine konventionelle oder intensivierte Insulintherapie erhalten soll. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sollte die Behandlung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ambulant, gemeinsam durch den niedergelassenen Kinderarzt und die Mitarbeiter einer Diabetesambulanz, an einer Kinderklinik bzw. pädiatrisch-diabetologischen Schwerpunktpraxis durchgeführt werden.

10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation

211

10

10.3.1 Erste Maßnahmen nach Aufnahme Bei der klinischen Aufnahme eines Kindes mit Diabetesverdacht sollte auf folgende Besonderheiten geachtet werden, die leider immer wieder vergessen werden: Wichtige Maßnahmen nach Aufnahme 5 Anamnese: Typische Symptome wie Polyurie, Polydipsie, Gewichtsabnahme, Enuresis, aber auch Diabetes in der Familie und individuelle Ernährungsgewohnheiten erfragen 5 Aufnahmestatus: Nicht vergessen: Länge und Gewicht mit Perzentilen, Dehydratationsgrad, Pubertätsstadium und Blutdruck zu dokumentieren 5 Initiale Labordiagnostik unmittelbar nach Aufnahme: Blutglukose, Blutgasanalyse, Elektrolyte (cave: korrigiertes Na = gemessenes Na + 2 × ((BG– 100)/100), Harnstoff, Kreatinin, Blutbild mit Hämatokrit, HbA1c; Urinstatus mit Ketonkörper- und Glukosenachweis 5 Labordiagnostik nach Initialphase: GAD-Antikörper, IA2-Antikörper, Transaminasen, Cholesterin (HDL/LDL), Trigyceride, IgA, Screening auf assoziierte Erkrankungen, z. B. fT4, TSH, Anti-TPO/Anti-TG und TRAK-AK (Hashimoto-Thyreoiditis), Transglutaminase-Antikörper (Zöliakie)

Die Insulintherapie vermittelt bei Typ-1-Diabetes den lebensnotwendigen Ersatz des fehlenden körpereigenen Insulins. Sie ist daher lebenslang erforderlich. Ihr Erfolg hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die physiologische Insulinsekretion zu imitieren. Das ist nur bei ausreichendem Wissen und praktischen Fertigkeiten der Familien erreichbar. Die Insulintherapie ist daher auch das zentrale Thema aller strukturierten Schulungsprogramme, die später ausführlich dargestellt werden. Während der initialen Behandlung und Schulung sollen die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern und auch andere Betreuungspersonen in die Lage versetzt werden, die Insulintherapie im Alltag sachgerecht und selbständig durchzuführen. Die Insulintherapie soll eine selbstbestimmte, flexible Lebensführung – einschließlich einer möglichst wenig durch den Diabetes eingeschränkten Ernährung – ermöglichen. Die verfügbaren Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes und ihre Eltern erwiesen sich im Rahmen einer initialen stationären Schulung als effektiv hinsichtlich Diabeteswissen, praktischer Therapiekompetenz, Diabetesakzeptanz, sozialer Integration, Stoffwechselparameter und Familienakzeptanz.

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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

10.3.2 Gespräche mit dem Arzt ! Erfahrungsgemäß ist für den Prozess der Krankheitsbewältigung, der unmittelbar nach Diagnosestellung beginnt, das erste Gespräch mit der Eröffnung der Diagnose »Diabetes mellitus« von erheblicher Bedeutung. Das erste Gespräch mit der Mitteilung der Diagnose beeinflusst den langfristigen Therapieverlauf und damit die gesamte Prognose des Diabetes.

Mit der Diagnose »Diabetes mellitus« sind viele, oft angstbesetzte Gefühle und Vorstellungen verbunden. Diese beziehen sich häufig auf vorangegangene Krankheitserfahrungen. Fast immer sind sie mit Schuldgefühlen belastet, die darauf beruhen, sich selbst bzw. das eigene Kind nicht vor einer solchen unheilbaren Erkrankung geschützt zu haben. Weiterhin bestehen aufgrund weit verbreiteter Fehlinformationen in der Bevölkerung bei vielen Patienten und ihren Eltern angstbesetzte Vorurteile gegenüber dieser chronischen Erkrankung. Ungenaue oder ausweichende Informationen, erst recht vordergründige Tröstungsversuche können sich negativ auswirken. Scheinbar nebensächliche Fehlinformationen können fest haften bleiben und das Verhalten der Kinder oder ihrer Eltern über lange Zeit beeinflussen. Eine langjährige Erfahrung im Umgang mit »Diabetes-Familien« ist für die Beratung und Information der Eltern unabdingbar. Die Diagnoseeröffnung sollte daher möglichst frühzeitig durch einen kinderdiabetologisch erfahrenen Arzt erfolgen. Die Inhalte des 1. Arztgespräches sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt:

11 1. Arztgespräch 12 13 14 15 16 17

5 5 5 5 5 5 5 5 5 5

Eingehen auf die emotionale Situation bei Diagnoseeröffnung Bestehende Vorerfahrungen (»Vorurteile«) über die Erkrankung Häufigkeit der Erkrankung (1 Kind auf 600) Theorien zur Ursache der Erkrankung (wichtig ist v. a. – als Entlastung von Schuldgefühlen – die differenzierte Erklärung der genetischen Komponente) Unterschied Typ-1-/Typ-2-Diabetes mit den daraus folgenden Konsequenzen für die Therapie Folgen des Insulinmangels mit Bezug auf die Symptomatik des Kindes Grundlagen der Therapie (lebenslange Therapie, remissionseinleitende Wirkung des Insulins) Ablauf während des stationären Aufenthalts Ansprechpartner (Arzt, Psychologe, Diabetesberaterin usw.) Auswirkungen auf die Lebensplanung (Gestaltung eines normalen Lebens möglich und notwendig)

10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation

213

10

Diese Inhalte werden nicht als Wissensvermittlung im Sinne einer Schulung angesprochen, sondern sollen den Eltern lediglich eine Orientierungshilfe geben. Dabei ist nicht abzusehen, welche Aspekte für die Eltern von Bedeutung sind. Erfahrungsgemäß behalten die Eltern nur das für sie momentan Wichtige in der Erinnerung und vergessen vieles andere. Alle Themen müssen daher später, im Rahmen der Schulung, noch einmal in Ruhe besprochen werden. Die Aufklärung des Kindes erfolgt in aller Regel getrennt von den Eltern. Das Gespräch orientiert sich inhaltlich am Alter und Reifegrad des Kindes. Im Vordergrund stehen konkret praktische Inhalte, die zum Verständnis der aktuellen Situation des Kindes beitragen. Bei älteren Kindern kann es auch gemeinsam mit den Eltern erfolgen. Allerdings sollte den Eltern auch Gelegenheit gegeben werden, ihre Ängste ohne die Anwesenheit ihres Kindes zu äußern. An einem der folgenden Tage ist ein weiteres ausführliches Gespräch mit den Eltern notwendig, in dem die Inhalte der Diagnoseeröffnung wiederholt werden und in dem auf die Fragen eingegangen werden kann, die in der Zwischenzeit aufgetreten sind. Die Inhalte dieses 2. Gesprächs sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt: 2. Arztgespräch 5 Aufgreifen der Themen des Erstgesprächs: Anpassung an die Lebensführung, Diabetes soll nicht zum Lebensinhalt werden 5 Problem der »Overprotection« 5 Stoffwechsel: ohne Kontrolle ist keine Therapie möglich (Blutglukosemessung und Ketonkörperbestimmung, HbA1c) 5 Hypoglykämie und Gegenregulation (Glukagon) 5 Risiko für Folgeerkrankungen 5 Regelmäßige ambulante Vorstellungen 5 Kontrolluntersuchungen zur rechtzeitigen Erkennung anderer Risikofaktoren (Hyperlipidämie, Hypertonie) 5 Bei Fragen: Beruf, Partnerschaft, Lebenserwartung, Auftreten von psychischen Problemen 5 Neues aus der Forschung

Die eigentliche Schulung der Eltern und Patienten durch die Diabetesberaterinnen und Diätassistentinnen beginnt erst nach diesen beiden eingehenden Initialgesprächen mit dem Arzt. Im Verlauf des Klinikaufenthalts finden weitere Arztgespräche mit den Eltern statt, die die Schulungsgespräche ergänzen sollen. Im eingehenden Gespräch vor der Entlassung wird der Krankenhausaufenthalt noch einmal zusammenfassend erörtert. Unbeantwortete Fragen oder Unsicherheiten über die Behandlung des

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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

Diabetes und die Gestaltung des alltäglichen Lebens sollten beantwortet werden. Das Gespräch wird in der Regel mit dem Arzt, der Diabetesberaterin, den Eltern und Patienten gemeinsam geführt. In der folgenden Übersicht sind einige Themen des Abschlussgesprächs zusammengestellt: Abschlussgespräch 5 Ansprechen noch bestehender Ängste (z. B. Hypoglykämie, Ketoazidose) 5 Vereinbaren von Anhaltspunkten, die einen telefonischen Rückruf rechtfertigen z. B. 3 Tage erhöhter Blutzucker über 200 mg/dl, Hypoglykämie (Remissionsphase!), Ketonurie mit Blutzucker über 300 mg/dl, Unklarheit und Unsicherheit bei der Diabetestherapie 5 Besprechen der aktuellen Insulindosis und evtl. notwendiger Insulindosisanpassung 5 Häufigkeit von Stoffwechselkontrollen (4-mal täglich Blutzucker: morgens, mittags, abends und vor dem Schlafengehen sowie bei unklaren Situationen) und Interpretation der Ergebnisse 5 Vorstellungstermin in der Diabetesambulanz 5 Weitere offene Fragen

9 10.3.3 Initialtherapie ohne Infusionsbehandlung

10 11 12 13 14 15 16 17

Mit der Insulinsubstitution wird vor der ersten Mahlzeit im Krankenhaus begonnen. Schon jetzt müssen die Weichen für die Insulinsubstitutionsmethode gestellt werden, die während der folgenden Zeit angewendet werden soll. Gemeinsam mit den Eltern sollten die heute möglichen Formen der Insulintherapie erörtert werden. Es geht darum, ob das Kind eine konventionelle Insulinbehandlung mit meist 2 täglichen Insulininjektionen oder eine intensivierte Insulintherapie mit meist 4 täglichen Insulinapplikationen oder eine Insulinpumpentherapie erhalten soll. Konventionelle Insulintherapie Bei Kleinkindern und Schulkindern unter 10 Jahren kann man davon ausgehen, dass wegen der zu erwartenden Remissionsphase eine gute Stoffwechseleinstellung mit sehr niedrigen Insulintagesdosen zu erwarten ist, die unter 0,5 I.E. pro kg KG liegen. Das entspricht einer Tagesdosis, die meist weit unter 15 I.E. liegt. Oft benötigen die Kinder täglich nur 4 oder 6 I.E., um Blutzuckerwerte unter 120 mg/dl bei Aglukosurie zu erreichen. Eine konventionelle Insulintherapie mit 2 Insulininjektionen pro Tag kann daher in dieser Altersphase versucht werden. Zweimal täglich, morgens vor dem ersten Frühstück und abends vor dem Abendessen, wird ein Verzögerungsinsu-

10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation

215

10

lin mit oder ohne Normalinsulinanteil injiziert. In Abhängigkeit von der Restsekretion liegt der Normalinsulinanteil zwischen 10 und 30%. Bei niedrigem exogenen Insulinbedarf steht die Basalinsulinsubstitution im Vordergrund. Der Normalinsulinanteil ist daher gering oder fehlt ganz, sodass evtl. ein langwirkendes Insulin-Analogon eingesetzt werden kann. Bei höherem Insulinbedarf ist ein größerer Normalinsulinanteil notwendig, um den Prandialinsulinbedarf abzudecken. Die Insulindosis hängt vom Alter des Kindes, von der Höhe der Blutglukosewerte und vom Ausmaß der Restsekretion ab. Die Stoffwechselreaktionen auf die erste Insulingabe fallen sehr unterschiedlich aus. Daher können verbindliche Angaben über die initiale Insulindosis nicht gegeben werden. Manche Kinder reagieren auf die erste Insulingabe sehr empfindlich mit schnellem und ausgeprägtem Abfall der Blutglukosekonzentration. Um eine Hypoglykämie zu vermeiden, ist es daher angebracht, die initiale Insulindosis nicht zu hoch zu wählen. Initial kann z. B. eine Einzeldosis gewählt werden, die zwischen 4 und 10 I.E. Normalinsulin liegt. Das entspricht etwa 0,2–0,3 I.E. pro kg KG. Die Tagesdosis beträgt bei Behandlungsbeginn während der Initialphase 0,5–1,0 I.E. pro kg KG. Vom weiteren Verlauf des Blutglukosespiegels hängt es ab, ob mehr oder weniger Insulin injiziert werden muss. Die Blutglukosekonzentration wird nach Klinikaufnahme zunächst in stündlichen Abständen gemessen, nach 3–6 h seltener. Wenn keine Komplikationen auftreten (z. B. Hypoglykämie), wird die Blutglukosekonzentration im Rhythmus des sog. Tagesprofils bestimmt. Der Zeitpunkt der Blutentnahmen und Glukosebestimmungen steht bei diesem Tagesprofil in konstanter Beziehung zur Insulingabe und Nahrungszufuhr. Der Insulinbedarf geht in charakteristischer Weise etwa 1–2 Wochen nach Beginn der Initialbehandlung zurück. Meist wird die Insulintherapie mit täglich 2 Injektionen fortgesetzt. Selten kann ein Kind wegen des sehr niedrigen Insulinbedarfs sogar von täglich 2 Injektionen auf 1 Injektion umgestellt werden. Das sollte jedoch immer nur als ein Versuch gewertet werden. Bei Anstieg der Blutglukosewerte und erneutem Auftreten einer Glukosurie muss das Kind wieder auf 2 tägliche Injektionen umgestellt werden. Es ist unstrittig, dass die Kinder nach Manifestation des Diabetes v. a wegen der notwendigen Initialschulung 1–2 Wochen in der Klinik bleiben. Aber auch aus medizinischen Gründen ist es sinnvoll in der Klinik abzuwarten, auf welchen Insulinbedarf sich die Stoffwechseleinstellung endgültig einpendelt. Eltern sind zu diesem frühen Zeitpunkt meist überfordert, die notwendige Reduzierung der Insulingaben eigenverantwortlich durchzuführen. In der letzten Zeit hat es sich als zunehmend sinnvoll erwiesen, auch Kleinkinder initial mit einer Insulinpumpe auszustatten. Das bedeutet, dass es für die Insulinpumpentherapie prinzipiell keine Altersgrenze mehr gibt.

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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

Intensivierte Insulintherapie Schulkinder ab 10 Jahren und Jugendliche benötigen von Anfang an höhere tägliche Insulindosen, auch dann, wenn sie in die Remissionsphase kommen. Daher ist es sinnvoll, sich bei ihnen bereits unmittelbar nach Diabetesmanifestation für eine intensivierte Form der Insulintherapie zu entscheiden. Viele Jahre hindurch wurde fast ausschließlich eine 4-Injektionen-Therapie durchgeführt (ICT). Inzwischen werden jedoch zunehmend häufiger Insulinpumpen bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt (CSII). ! Heute stellt sich bei Kindern und Jugendlichen während der Initialphase nicht nur die Frage, ob eine konventionelle oder intensivierte Insulintherapie durchgeführt werden soll, sondern man muss sich auch entscheiden, ob die intensivierte Insulintherapie mit täglich 4 Injektionen oder mit einer Insulinpumpe erfolgen soll.

Wenn man sich für eine intensive Insulintherapie (ICT) entschieden hat, erhalten die Kinder bzw. Jugendlichen morgens, mittags und abends vor den Hauptmahlzeiten Normalinsulin als Prandialrate, abends spät ein Verzögerungsinsulin (z. B. NPH-Insulin) als Basalrate. Man kann auch Insulin-Analoga mit schnellem und langsamem Wirkungseintritt injizieren. Das Vorgehen bei intensivierter Insulintherapie mit Hilfe einer Insulinpumpe (CSII) ist im Prinzip sehr ähnlich. Die Prandialinsulingaben werden vom Patienten vor den Mahlzeiten abgerufen und die kontinuierliche Basalinsulinapplikation eingestellt. ! Die Entscheidung für eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie hat nur Vorteile. Der Patient wird von vornherein nach dem Prinzip der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution geschult. Er übt von Anfang an, die Insulindosis flexibel an die geplante Nahrungszufuhr anzupassen und begreift schnell die Notwendigkeit täglich mehrfacher Blutglukosebestimmungen. Er erkennt die vielen Variationsmöglichkeiten dieser Therapieform, und gewinnt in kurzer Zeit vielfältige praktische Erfahrungen mit Einsicht in seine individuellen Stoffwechselreaktionen. Er kann daher sein Leben sehr viel freier und variabler gestalten als ein Patient, der täglich nur 1- oder 2-mal Insulin injiziert, weil er eine konventionelle Insulintherapie durchführt.

10.3.4 Initialtherapie mit Infusionsbehandlung ! Nach unseren Erfahrungen wird bei etwa 50% der Kinder und Jugendlichen mit Manifestation eines Typ-1-Diabetes die Diagnose so spät gestellt, dass eine ausgeprägte Dehydratation auftritt, die mit einer i.v.-Infusion behandelt werden muss.

10.3 · Stationäre Behandlung nach Manifestation

217

10

Wenn der pH-Wert mehr als 7,3 beträgt (bzw. der base excess über –8 liegt), liegt keine diabetische Ketoazidose vor. Sie tritt bei Manifestation seltener auf, etwa bei 20% der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei diabetischer Ketoazidose wird später eingehend beschrieben. Bei den Patienten mit ausgeprägter Dehydratation ohne Azidose stehen starker Durst, vermehrtes Trinken und Urinlassen, Gewichtsabnahme, Abgeschlagenheit, Mattigkeit, Leistungs- und Konzentrationsschwäche im Vordergrund. Später treten Exsikkosezeichen wie trockene Haut und Schleimhäute, belegte trockene Zunge und halonierte Augen hinzu. Auch Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen und Kopfschmerzen können auftreten. Das Flüssigkeitsdefizit beträgt bei ausgeprägter Dehydratation ohne Ketoazidose etwa 30–50 ml pro kg KG. Die wichtigste Behandlungsmaßnahme ist neben der initialen Insulingabe eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr. Während der ersten 24 h werden das angenommene Flüssigkeitsdefizit von 30–50 ml pro kg KG und zusätzlich der Tagesbedarf des Patienten (Schulkinder: 60–80 ml pro kg KG; Jugendliche: 40– 60 ml pro kg KG) infundiert. Für die Infusionsbehandlung eignet sich am besten eine Lösung, die Natrium und Chlorid in dem für das Plasma und den Extrazellulärraum gültigen physiologischen Verhältnis aufweist, d. h. etwa 150 mÄq/l Na+ und 100 mÄq/l Cl-, wie in einer isotonen Ringer-Laktat-Lösung (z. B. Sterofundin). Ringer-LaktatLösungen werden von Kindern und Jugendlichen gut toleriert, da das Laktat schnell metabolisiert wird. Nicht so gut geeignet wie eine isotone Ringer-Laktat-Lösung ist eine isotone 0,9%ige NaCl-Lösung, da sie wegen des unphysiologisch hohen Chloridgehalts zu einer hyperchlorämischen Azidose führen kann. Streng abzuraten ist von der initialen Verwendung hypotoner Infusionslösungen (z. B. halbisotone 0,45%ige NaCl-Lösung). Immer wieder begegnet man dem Fehlschluss, dass eine hypertone Dehydratation, wie sie bei Diabetesmanifestation vorliegt, mit einer hypotonen Infusionslösung behandelt werden muss. Diese Therapie birgt die Gefahr in sich, dass durch ein Überangebot an »freiem Wasser« vermehrt Flüssigkeit vom Extra- in den Intrazellulärraum eindringt. Eine intrazelluläre Hirnschwellung kann die Folge sein, sodass hirnorganische Anfälle, Coma und irreversible Hirnschäden auftreten können. Bei Absinken der Blutglukosewerte unter 300 mg/dl wird auf eine halbisotone Ringer-Laktat-Lösung mit 5% Glukose (z. B. Sterofundin HG5) umgestellt. Mit dieser Infusionstherapie wird das Defizit an Natrium und Chlorid voll ersetzt. Die Behandlung des Kaliumdefizits beginnt, wenn die Diurese ausreichend in Gang gekommen ist. In 6 h werden etwa 1 ml einer 1,0 molaren KClLösung pro kg KG benötigt. Insgesamt sind 3–4 mÄq pro kg KG in 24 h notwendig. Bei höherer Kaliumsubstitution droht die Gefahr einer transitorischen

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Kapitel 10 · Stationäre Behandlung

Hyperkaliämie. Man muss besonders darauf hinweisen, dass eine einmolare Kaliumsalzlösung nie als Bolus infundiert werden darf. Bei der i.v.-Flüssigkeitsbehandlung wird heute fast ausschließlich das Prinzip der niedrig dosierten Insulininfusion angewendet, da eine maximale hypoglykämisierende Insulinaktivität im Plasma mit sehr niedrigen Insulindosen erreichbar ist. Es wird 0,1 I.E. Normalinsulin pro kg KG und Stunde infundiert, bis der Blutglukosewert 200 mg/dl erreicht. Dann wird die Insulininfusion mit 0,05 I.E. pro kg KG und Stunde fortgesetzt. Bei Blutglukosewerten unter 150 mg/dl wird die Insulindosis auf 0,025 I.E. pro kg KG und Stunde reduziert. Sie sollte auch bei Werten unter 100 mg/dl fortgesetzt werden. Die Insulininfusion wird im »Bypass« mit einer 50-ml-Perfusorspritze durchgeführt. Beispiel: Die Spritze wird mit 48 ml einer 0,9%igen NaCl-Lösung und 0,5 I.E. Normalinsulin pro kg KG gefüllt. Bei einer Insulininfusion von 0,1 I.E. pro kg KG und Stunde werden 10 ml pro Stunde infundiert, bei 0,05 I.E. 5 ml, bei 0,025 I.E. 2,5 ml (. Tabelle 10.2). Die Infusionsbehandlung bei ausgeprägter Dehydratation ohne Ketoazidose dauert in der Regel 12–24 h. Das weitere therapeutische Vorgehen entspricht dem bei leichter Dehydratation ohne Infusionsbehandlung. Eine gefürchtete Komplikation während der Insulininfusionsbehandlung ist die Entwicklung einer Hypoglykämie. Schon bei Erreichen eines Blutglukosespiegels von 300 mg/dl muss daher die Infusion mit glukosefreier Infusionslösung (z. B. Sterofundin) beendet und mit glukosehaltiger Lösung (z. B. Sterofundin HG5) fortgesetzt werden. Wenn allerdings auch bei Blutglukosewerten unter 100 mg/dl die Insulininfusion mit 0,025 I.E. pro kg KG fortgesetzt wird, könnte die Infusion mit 5%iger Glukoselösung nicht ausreichend sein, um eine Hypoglykämie sicher zu verhindern. Daher sollten bei Werten unter 100 mg/dl die Glukosekonzentration in der Infusionslösung erhöht und/oder Kohlenhydrate oral zugeführt werden. Da sich die Kinder nicht mehr sehr krank fühlen, kann zu diesem Zeitpunkt auch die erste Mahlzeit angeboten werden. Mit der Gabe von Tee mit Traubenzucker, geschlagener Banane, geriebenem Apfel oder anderen leicht verdaulichen Kohlenhydratnahrungsmitteln wird begonnen.

15 16

. Tabelle 10.2 Intravenöse Insulinsubstitution im »Bypass«

17

Blutglukose (mg/dl)

Insulindosis (I.E./kg KG/h)

Infusionsmenge (ml/h)

>200

0,1

10

150–200

0,05

5

Die Insulininjektion erfolgt in zwei Schritten: 1. Aufziehen des Insulins in die Spritze, 2. Injektion des Insulins in das Unterhautfettgewebe. Zunächst werden die Hände gründlich gewaschen. Dann wischt man den Gummistöpsel des Insulinfläschchens mit einem in Alkohol getränkten Zellstofftupfer ab. Bei trüben Insulinsuspensionen muss das Insulinfläschchen geschwenkt werden, bis sich der weißliche Bodensatz in der Suspension aufgelöst und verteilt hat. Anschließend zieht man den Kolben der Insulinspritze 2–3 Teilstriche weiter zurück, als Insulin injiziert werden soll (z. B. bei 10 I.E. bis zum Teilstrich 12 oder 13). Dann führt man die Kanüle durch den Gummistopfen in das Fläschchen ein und stellt es auf den Kopf, sodass die Kanülenspritze in der Insulinlösung steht. Jetzt wird der Spritzenkolben bis zum Anschlag gedrückt und Luft in das Fläschchen geblasen. Die benötigte Insulinmenge wird anschließend in die Spritze gezogen. Luftblasen, die beim Aufziehen in die Spritze geraten, werden in das Fläschchen zurückgeblasen. Wenn die gewünschte bläschenfreie Insulinlösung in der Spritze ist, wird die Kanüle aus dem Fläschchen herausgezogen. Die Haut der Injektionsstelle muss sauber und trocken sein. Eine Desinfektion der Haut ist zu Hause nicht nötig. Das Abreiben der Haut mit 70%iger Alkohollösung dient nur der Säuberung (Wischreinigung). Eine Hautfalte wird zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und die Kanüle an der Basis der Hautfalte in das Unterhautfettgewebe in einem Winkel von 45–90° eingeführt. Der Stempel der Spritze muss nicht angezogen werden, um zu prüfen, ob Blut zurückfließt (das ist bei Pens und Fertigspritzen technisch auch gar nicht möglich). Das Insulin wird langsam in das Fettgewebe injiziert. Anschließend wird die Kanüle langsam herausgezogen, damit möglichst wenig Insulin aus dem Stichkanal austreten kann. Ganz kann das manchmal nicht vermieden werden.

11.3

Berechnung der Insulindosis und Wahl des Insulinpräparates

)) Eine erfolgreiche Insulinbehandlung verlangt vom behandelnden Arzt sehr viel Erfahrung, die wegen der Seltenheit des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen schwierig zu erlangen ist. Experte wird nur, wer über Jahre zahlreiche Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes langfristig behandelt und betreut.

Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern wird mit dem Insulin ein hochwirksames Medikament in die Hand gegeben, das falsch dosiert gefährliche, manch-

238

2 2 3 4 5 6 7 8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

mal sogar lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisungen (z. B. schwere Hypoglykämien) provozieren kann. Daher ist es unerlässlich, dass nicht nur der behandelnde Arzt Experte auf dem Gebiet des Typ-1-Diabetes ist, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, v. a. aber ihre Eltern. Sie können gegenüber dem Arzt einen großen Erfahrungsvorsprung gewinnen, weil sie täglich, Tag und Nacht, mit dem Typ-1-Diabetes konfrontiert sind und in einem viel unmittelbareren Therapiekontext mit ihm stehen als jeder Arzt. Der Erfolg der Insulinbehandlung hängt zunächst von der richtigen Wahl der Insulindosis und des Insulinpräparates ab. Viele Faktoren sind dabei zu beachten, z. B.: 5 Alter, 5 Größe, 5 Gewicht, 5 Geschlecht, 5 körperliche Aktivität, 5 Essgewohnheiten, 5 Lebensweise, 5 Sozialverhalten, 5 Art der schulischen bzw. beruflichen Tätigkeit, aber auch 5 Manifestationsalter, 5 Diabetesdauer, 5 Verlauf des Typ-1-Diabetes und, 5 Art und Häufigkeit akuter und chronischer Komplikationen. ! Die Insulindosis hängt ausschließlich vom aktuellen Insulinbedarf des Patienten ab. Es sollte nicht der Ehrgeiz des Arztes oder der Eltern sein, mit einer möglichst geringen Insulindosis auszukommen. Die Prognose des Diabetes hängt nicht von der Höhe der Insulindosis ab, sondern allein von der Qualität der Stoffwechseleinstellung. Die Insulindosis muss mit Hilfe täglicher Stoffwechselselbstkontrollen (Blutglukosebestimmungen) empirisch ermittelt werden. Sie ist richtig gewählt, wenn die Blutglukosewerte zwischen 70 und 160 mg/dl liegen und im Urin wenig oder keine Glukose ausgeschieden wird.

Die Kenntnis der Insulinsekretionsraten stoffwechselgesunder Erwachsener erlaubt die Schätzung des Insulinbedarfs von Kindern und Jugendlichen. Die basale Insulinsekretionsrate beträgt beim fastenden Erwachsenen 14–17 mU/ min. Das entspricht etwa 0,7–1,0 I.E./h bzw. 17–24 I.E./Tag. Daraus errechnet sich ein nahrungsunabhängiger Basalinsulintagesbedarf von etwa 0,3 I.E./kg KG. Die Insulinfreisetzung nach oraler Gabe von 10–12 g Kohlenhydraten (1 KE), d. h. der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf, beträgt etwa 1,35 I.E. Bei Umrechnung dieser Richtwerte würde z. B. ein 10-jähriges stoffwechselgesundes Kind mit einem Körpergewicht von 30 kg und einer Kohlenhydratzu-

11.3 · Berechnung der Insulindosis und Wahl des Präparates

239

11

fuhr von 14 KE täglich etwa 28 I.E. Insulin benötigen (Basalinsulinbedarf: 0,3 × 30 = 9 I.E.; Prandialinsulinbedarf: 14 x 1,35 = 19 I.E.). Der Insulintagesbedarf dieses 10-jährigen Kindes würde danach etwa 0,9 I.E./kg KG betragen (Basalbedarf: 0,3 I.E./kg KG; Prandialbedarf: 0,6 I.E./kg KG). Der Insulintagesbedarf von Kindern und Jugendlichen hängt aber auch von der Diabetesphase ab, in der sich der Patient befindet (. Tabelle 11.1). Unmittelbar nach Manifestation des Diabetes, während der Initialphase, liegt der exogene Insulintagesbedarf in Abhängigkeit vom Ausmaß der Stoffwechselentgleisung zwischen 0,5 und 1,5 I.E./kg KG. Bei über 90% aller Kinder und Jugendlichen folgt etwa 1–2 Wochen nach Beginn der Insulinbehandlung die Remissionsphase, d. h. eine Zeit, die durch eine noch bemerkenswerte Restsekretion von endogenem Insulin charakterisiert ist. Die ersten 1–2 Jahre dieser Phase, die auch als »Partielle temporäre Remission« bezeichnet wird, ist definitionsgemäß durch einen exogenen Insulintagesbedarf von weniger als 0,5 I.E./kg KG gekennzeichnet. Eine gute Stoffwechseleinstellung mit Aglukosurie, Blutglukosewerten zwischen 80 und 160 mg/dl und HbA1c-Werten unter 7,4% ist meist ohne Schwierigkeiten zu erzielen. Es schließt sich eine Zeit von etwa 3–4 Jahren an, in der ebenfalls noch eine Restsekretion von endogenem Insulin vorliegt. Der Insulintagesbedarf beträgt 0,5–0,8 I.E./kg KG. Während der Remissionsphase, die individuell unterschiedlich lange dauert, ist eine Teilsubstitution mit exogenem Insulin notwendig. Nach vollständigem Erlöschen der Restfunktion der ß-Zellen beginnt die Postremissionsphase. Lebenslang muss eine Vollsubstitution mit exogenem Insulin durchgeführt werden. Der Insulinbedarf liegt über 0,8 I.E./kg KG. Wenn bei Kindern mehr als 1,0 I.E.Insulin/kg KG injiziert wird, sollte eine Überinsulinierung in Erwägung gezogen werden. Bei Jugendlichen liegen die Insulinbedarfswerte allerdings wegen der hormonell bedingten Verminderung der Insulinsensitivität oft über 1,0 I.E./kg KG. Sie können bis 1,5 I.E./kg KG betragen.

. Tabelle 11.1 Phasen des Diabetesverlaufs bei Kindern und Jugendlichen Verlaufsphasen

Dauer

Insulintagesbedarf (I.E./kgKG)

Initialphase

1–2 Wochen

0,5–1,5

Remissionsphase

1–2 Jahre 3–4 Jahre

0,8

KG Körpergewicht.

240

2 2 3

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

Zusammenfassung Der Insulintagesbedarf beträgt bei Kindern mit Typ-1-Diabetes während der Postremissionsphase (Vollsubstitution) im Mittel 0,8–1,0 I.E./kg KG. Bei Jugendlichen liegt der tägliche Insulinbedarf häufig über 1,0 I.E./kg KG. Wegen der ausgeprägten Variabilität des Insulintagesbedarfes muss die tägliche Insulindosis immer wieder individuell mit Hilfe von Stoffwechselselbstkontrollen (Blutglukosemessungen) empirisch ermittelt werden.

4 ! Die Entscheidung darüber, welche Insulinpräparate bei der Therapie von Kindern

5 6 7 8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eingesetzt werden, trifft der behandelnde Arzt.

Für eine sachgerechte Insulintherapie steht heute eine Vielzahl von verschiedenen Insulinpräparaten zur Verfügung. Benötigt werden im Prinzip nur zwei Präparatetypen (7 Kap. 7). 5 Insuline mit schnellem Wirkungseintritt und kurzer Wirkungsdauer (Normalinsuline und rasch wirkende Insulinanaloga) und 5 Insuline mit langsamen Wirkungseintritt und verzögerter Wirkungsdauer (NPH-Insuline und mittellang und langwirkende Insulinanaloga). 11.4

Wahl der Insulinsubstitutionsmethode

Seit Beginn der Insulinära werden zwei grundsätzlich unterschiedliche Strategien der Insulintherapie eingesetzt (. Abb. 11.3): 5 konventionelle Insulintherapie und 5 intensivierte Insulintherapie. Prinzip der konventionellen Insulintherapie Bei der konventionellen Insulintherapie (. Tabelle 11.2) wird täglich ein- oder zweimal Insulin injiziert. Es liegt eine eindeutige Dominanz der Verzögerungsinsulinwirkung vor. Etwa 70–100% der Insulintagesdosis bestehen aus Verzögerungsinsulin, nur etwa 0–30% aus Normalinsulin. Die Nahrungszufuhr muss an die vorgegebene Verzögerungsinsulinwirkung angepasst werden. Die Patienten sind in ein genau berechnetes, streng festgelegtes Insulin-Diät-Regime eingebunden. In . Abb. 11.4 sind drei Beispiele einer konventionellen Insulintherapie dargestellt. Die Insulinsubstitution wird mit einer Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons (Glargin) (. Abb. 11.4a), mit zwei Injektionen eines Verzögerungsinsulins (NPH-Insulin) (. Abb. 11.4b) und zwei Injektionen eines Mischinsulins (Normal-/NPH-Insulin, Verhältnis 30:70) (. Abb. 11.4c) durchgeführt.

241

11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode

11

. Abb. 11.3 Gegenüberstellung der zwei Insulinsubstitutionsmethoden: konventionelle Insulintherapie und intensivierte Insulintherapie in ihrem Verhältnis zur physiologischen Insulinsekretion

. Tabelle 11.2 Charakteristika der konventionellen und intensivierten Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen Charakteristika

Konvertionelle Insulintherapie

Intensivierte Insulintherapie

Anzahl der Injektionen pro Tag

1–2

4

Anteil Normalinsulin

30–40%

70–60%

Anteil Verzögerungsinsulin

70–60%

30–40%

Dominierender Insulinanteil

Verzögerungsinsulin

Normalinsulin

Anpassung

Nahrungszufuhr an Insulinwirkung

Insulinwirkung an Nahrungszufuhr

Kostform

Strenge Diät

Frei gewählte Kost

Differenzierung Prandial-/Basalinsulin

Nein

Ja

242

2 2 3 4 5

a

6 7 8

9 10 11

b

12 13 14 15 16 17 c

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

. Abb. 11.4 Beispiele für unphysiologische Formen der Insulinsubstitution (konventionelle Insulintherapie): a Einmalige Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons; b zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons; c zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons sowie eines Normalinsulins. (Nach DeWitt u. Hirsch 2003)

11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode

243

11

Die konventionelle Insulintherapie setzte wurde bis zum Beginn der 1980er Jahre in der Diabetologie ausschließlich angewendet. Zusammenfassung Die konventionelle Insulintherapie imitiert nicht die physiologische E-Zellsekretion. Sie muss daher als nichtphysiologische Insulinsubstitutionsmethode bezeichnet werden.

Prinzip der intensivierten Insulintherapie Die intensivierte Insulintherapie (. Tabelle 11.2) imitiert das physiologische Insulinsekretionsmuster bei Stoffwechselgesunden. In . Abb. 11.5 sind die Insulinsekretionsphasen stoffwechselgesunder Freiwilliger in Abhängigkeit von 3 Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittag, Abendessen) und einer Spätmahlzeit dargestellt. Man erkennt deutlich das Nebeneinander von Basal- und Prandialratensekretion. Während der Basalinsulinspiegel 15 µU/ml nicht überschreitet, steigt die Prandialinsulinkonzentration während und nach einer Mahlzeit bis 75 µU/ml an. Die Blutglukosewerte liegen während des gesamten Zeitraums in einem relativ engen Bereich (60–130 mg/dl). Die differenzierte Prandial- und Basalratensekretion der E-Zellen diente als Vorbild für die intensivierte Insulintherapie.

. Abb. 11.5 24-h-Profil der Seruminsulinund Glukosekonzentration bei Stoffwechselgesunden; F Frühstück, M Mittagessen, A Abendessen, S Spätmahlzeit. (Nach Shade et al. 1983)

244

2 2 3 4

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

Bei der intensivierten Insulintherapie wird der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf durch die Injektion von Normalinsulin oder einem rasch wirkenden Insulinanalogon vor den Mahlzeiten gedeckt, der nahrungsunabhängige Basalinsulinbedarf durch die Injektion von NPH-Insulin oder einem langwirkendem Insulinanalogon, ein- oder mehrmals am Tag. In . Abb. 11.6 sind zwei Beispiele einer intensivierten Insulintherapie dargestellt. Die Prandialinsulinsubstitution wird in beiden Beispielen mit der dreimaligen Injektion eines Normalinsulins bzw. eines schnell wirkenden Insulinanalogons durchgeführt: die Basalinsulinsubstitution im ersten Beispiel mit

5 6 7 8

9 10 11

a

12 13 14 15 16 17

b

. Abb. 11.6 Beispiele für physiologische Formen der Insulinsubstitution (intensivierte Insulintherapie): a dreimalige Gabe eines schnellwirkenden Insulinanalogons vor den Hauptmahlzeiten, einmalige Gabe eines langwirkenden Insulinanalogons. b dreimalige Gabe eines schnellwirkenden Insulinanalogons vor den Mahlzeiten, zweimalige Gabe eines NPH- bzw. mittelang wirksamen Insulinanalogons. (Nach DeWitt u. Hirsch 2003)

11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode

245

11

einer Injektion eines langwirkenden Insulinanalogons (Glargin) (. Abb. 11.6a), im zweiten Beispiel mit der zweimaligen Injektion eines Verzögerungsinsulins (NPH) oder eines mittelang wirksamen Insulinanalogons (Detemir) (. Abb. 11.6b). Das Prandialinsulin ermöglicht die Metabolisierung der durch die Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate und soll eine postprandiale Hyperglykämie verhindern, das Basalinsulin reguliert die hepatische Glukoseproduktion durch Hemmung der Glukoneogenese. Dennoch bleibt auch die substilste Form der intensivierten Insulintherapie a priori unphysiologisch. Bei der durch den postprandialen Blutglukoseanstieg ausgelösten Insulinsekretion der E-Zellen gelangt das Insulin beim Stoffwechselgesunden über die Pfortader primär in die Leber und bringt dort die hepatische Glukoneogenese praktisch zum Erliegen. Nur ein Teil des Insulins gelangt in die peripheren Zielorgane (Muskulatur, Fettgewebe), um den postprandialen Blutglukoseanstieg zu regulieren. Bei der subkutanen Insulininjektion erreicht das Insulin dagegen auf dem Umweg über die Peripherie die Leber. Durch den langen Weg des Prandialinsulins zur Leber wird die hepatische Glukoseproduktion auch bei der intensivierten Insulintherapie postprandial nur unzureichend gedrosselt. Die oft sehr hohen Postprandialwerte sind daher durch die Addition von intestinaler Glukoseresorption und hepatischer Glukoneogenese verursacht. Um eine ausreichende Insulinwirkung in der Leber zu erzielen, muss daher im Vergleich zur physiologischen Insulinsekretion eine relative Überinsulinierung in Kauf genommen werden. ! Die Kunst der intensivierten Insulintherapie besteht einerseits in der aktuellen Anpassung der Prandialinsulindosis an die geplante Nahrungszufuhr, andererseits in der subtilen Regulation der hepatischen Glukoseproduktion durch eine ausreichende Basalinsulinsubstitution.

Im Gegensatz zur konventionellen Insulintherapie bestehen bei der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution der intensivierten Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen etwa 70% der Tagesdosis aus Normalinsulin, etwa 30% aus Verzögerungsinsulin (. Abb. 11.6). Bei Erwachsenen beträgt das Verhältnis etwa 50/50%. Das von der physiologischen Insulinsekretion bei Stoffwechselgesunden abgeleitete Prinzip der differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution wurde zunächst mit Hilfe glukosegeregelter, rückgekoppelter Insulininfusionssysteme (Closed-loop-System) umgesetzt. Später wurden tragbare, programmierbare Insulininfusionspumpen (Open-loop-System) entwickelt, mit deren Hilfe die Prandialinsulindosis abgerufen und das Basalinsulin kontinuierlich appliziert werden konnte (CSII).

246

2 2 3 4 5 6

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

Die Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) war wiederum eine Imitation der Insulinpumpentherapie (CSII). Beide Formen der intensivierten Insulintherapie, die CSII und die ICT, stellen, insbesondere seit Publikation der Ergebnisse des DCCT, die Methode der Wahl zur Insulintherapie von Patienten mit Typ-1-Diabetes dar. Auch Kinder und Jugendliche werden inzwischen fast ausschließlich mit einer der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie behandelt. Besondere Stellung nimmt hierein die Behandlung von sehr jungen Kindern (Neonaten, Säuglinge, Kleinkinder) mit Diabetes. Aufgrund des sehr variablen und unberechnenbaren Tagesablaufs sowie der sehr kleinen Insulinmenge, die benötigt bzw. injiziert werden müssen, erweist die Insulinpumpentherapie als die geeigneteste Therapieform. Zusammenfassung Die intensivierte Insulintherapie imitiert die physiologische E-Zellsekretion. Sie muss daher als physiologische Insulinsubstitutionsmethode bezeichnet werden.

7 8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Heutige Auffassungen zur Wahl der Insulinbehandlungsmethode. Die Einstellung zur Wahl der Insulinbehandlungsstrategie unmittelbar nach Manifestation des Typ-1-Diabetes hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Richtig ist nach wie vor, dass grundsätzlich zwei Therapiemethoden angeboten und beschritten werden können, die konventionelle oder die intensivierte Insulintherapie. Wenn eine intensivierte Form gewählt wird, hat man zu entscheiden, ob das Insulin mit Spritzen oder Pumpen appliziert werden soll, d. h. ICT oder CSII. Die Entscheidung für die konventionelle Insulintherapie oder eine intensivierte Therapieform mit Spritzen bzw. Pumpen muss eingehend zwischen dem behandelnden Arzt und den Eltern und Kindern erörtert werden. Die Indikation für eine der Therapieformen sollte nicht allein von medizinischen, sondern auch von psychosozialen und pädagogischen Gesichtspunkten beeinflusst werden, d. h. es sollte geprüft werden, welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung der einen oder der anderen Therapie vorliegen. Viele Gründe sprechen dafür, dass Kleinkinder, Kinder und Jugendliche von Anfang an, d. h. bereits unmittelbar nach Diabetesmanifestation, mit einer der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie behandelt werden. Während der Umstellungsphase von konventioneller auf intensivierte Insulintherapie in den 1980er Jahren konnte eine Verbesserung der Qualität der Stoffwechseleinstellung nicht eindeutig nachgewiesen werden. Auch jüngere Studien bei Kindern und Jugendlichen zeigten nach Umstellung von 2 auf 4 Injektionen keine besseren Stoffwechselergebnisse. Die Umstellung vieler Jugendlicher der Hvidøre-Studie auf eine 4-Injektionen-Therapie erbrachte ebenfalls keine signi-

247

11.4 · Wahl der Insulinsubstitutionsmethode

11

fikante Verbesserung der Stoffwechselkontrolle. Das hat unserer Meinung nach vor allem damit zu tun, dass eine 4-Injektionen-Therapie durchaus nicht immer den Kriterien einer differenzierten Prandial- und Basalinsulinsubstitution entspricht, d. h. der Imitation der physiologischen Insulinsekretion. Wenn bei einer 4-Injektionen-Therapie der Basalinsulinanteil mehr als 50% beträgt, wird keine intensivierte, sondern ein konventionelle Insulintherapie durchgeführt. Wenn Kinder und Jugendliche und ihre Eltern bereits unmittelbar nach Manifestation, d. h. in einer Phase, in der die Bereitschaft für die Umsetzung einer optimalen Diabetestherapie sehr groß ist, nur eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie kennen lernen, sind die Voraussetzungen für eine langfristig gute Stoffwechseleinstellung sehr günstig. Die Stoffwechselergebnisse der Kinder und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult konnten von Jahr zu Jahr deutlich verbessert werden (. Abb. 11.7). Das hat zweifellos sehr unterschiedliche Gründe (Intensivierung der ambulanten Betreuung und Schulung, Entwicklung von differenzierten Schulungsprogrammen für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern usw.). Die wichtigste Ursache scheint jedoch der Umstand zu sein, dass die Zahl

Anteil der Patienten (%)

60

56 56

55 50 43 43 43 43 41 40 40 41 40 40 37 37 35 34 35 34

45 40 35 30 25

51 51 4847 47 48 47 47 44 44 4444 4444 43 44 44 43 42 42 41 41 36 36

1994 n = 518 1995 n = 527

34 34

29 29 25 25 23 23

25 25 23 23

21 19 21 19 1819 19 18 15 15 15 15 13 12 13 12

20 15

8 8

10 5 0 < 7,5 %

7,5 – 9,0 %

1996 n = 512 1997 n = 473 1998 n = 454 1999 n = 458 2000 n = 468 2001 n = 453 2002 n = 469 2003 n = 471 2004 n = 510 2005 n = 530

> 9,0 %

individueller Jahresmedian des HbA1c (Norm 5,0 ± 0,8 %) . Abb. 11.7 Die Veränderungen der Qualität der Stoffwechseleinstellung (HbA1c) bei Kindern und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover im Zeitraum 1994–2005

248

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

. Abb. 11.8 Die Änderungen der verschiedenen Formen der Insulintherapie der Kinder und Jugendlichen der Diabetesambulanz am Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover in den letzten 20 Jahren (1986–2005) (n=530)

2 3 4

Anteil der Patienten in %

100

2

80 60 40 20 0 1986

1990 1994

1999 2003

2004

n = 339 n = 425 n = 521 n = 458 n = 471 n = 510

5

2005

n = 530

Konventionelle zwei Injektionenbehandlung Insulinpumpen Intensivierte Insulintherapie

6 7 8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

der Kinder und Jugendlichen, die unmittelbar nach Manifestation mit einer der intensivierten Formen der Insulintherapie (bis 2000 ICT, seither auch CSII) behandelt wurden, von Jahr zu Jahr deutlich zugenommen hat. Mit nur wenigen Ausnahmen erhalten fast alle Kinder und Jugendlichen nach Manifestation des Diabetes eine intensivierte Insulintherapie (ICT bzw. CSII) (. Abb. 11.8). Zusammenfassung Heute sollten fast alle Säuglinge, Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen unmittelbar nach Manifestation ihres Typ-1-Diabetes eine der beiden Formen der intensivierten Insulintherapie (ICT bzw. CSII) erhalten.

11.5

Durchführung der konventionellen Insulintherapie

Die konventionelle Insulintherapie wird heute nur noch selten vorübergehend während der Remissionsphase eingesetzt. Als Dauertherapie gilt sie als obsolet. Die einmalige Injektion eines Verzögerungsinsulins sollte nicht mehr durchgeführt werden.Bei einem Insulintagesbedarf zwischen 0,5 und 0,8 I.E./kg KG wird 2-mal täglich ein Verzögerungsinsulin, meist jedoch eine freie Mischung aus kurz und verzögert wirkendem Insulin injiziert. Das Verhältnis zwischen der morgendlichen und abendlichen Insulinmenge ist etwa 2:1. Die Eltern müssen in der Lage sein, zu entscheiden, wann welcher Insulinanteil erhöht oder erniedrigt werden muss und dass der Normalinsulinanteil flexibel an das aktuelle Ergebnis der Stoffwechselmessung angepasst werden sollte. Der Verzögerungsinsulinanteil kann relativ konstant gehalten werden. Das für den Patienten günstigste Verhältnis zwischen Normal- und Verzögerungsinsulin muss immer wieder neu ermittelt wird. Eine Insulinanpassung an die Nah-

11.6 · Durchführung der ICT

249

11

rungszufuhr ist nur mit Hilfe des relativ geringen Normalinsulinanteils möglich. Die Nahrungsmenge ist daher subtil an die vorgegebene Wirkung des Verzögerungsinsulins anzupassen. Das Dilemma des retrospektiven Prinzips der konventionellen Insulintherapie besteht darin, dass der Patient ständig hinter den Stoffwechselereignissen herhinkt. 11.6

Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT)

Das Vorbild der intensivierten Insulintherapie ist das physiologische Insulinsekretionsmuster bei Stoffwechselgesunden. Ein ständiger Basalinsulinspiegel ist notwendig, um die Glukoneogenese in der Leber zu regeln. Niedrige Insulinkonzentrationen führen zur Entkoppelung der hepatischen Glukoseproduktion (Hyperglykämie), hohe zu deren Hemmung (Hypoglykämie). Der Basalinsulinsekretion steht die prandiale Insulinausschüttung gegenüber, die während und nach der Nahrungsaufnahme erfolgt und die postprandiale Fluktuation der Blutglukosekonzentration in engen Grenzen hält. Bei der Imitation der physiologischen Insulinsekretion mit Hilfe der intensivierten Insulintherapie ist die Kenntnis der zirkadianen Rhythmen der Wirkung von Hormonen, v. a. des Insulins, von großer praktischer Bedeutung. Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung Zirkadiane Rhythmen sind u. a. für die Sekretion von Hormonen beschrieben worden, die den Glukosestoffwechsel regulieren, d. h. sowohl für Insulin wie für die insulinantagonistischen Hormone Adrenalin, Noradrenalin, Glukagon und die Kortikoide. Die Sekretion von Wachstumshormon wird dagegen vom Schlafrhythmus beeinflusst, d. h. sie erfolgt normalerweise während der frühen Nachtstunden. Auch die Sensitivität der Zielzellen der Hormone, die den Glukosemetabolismus kontrollieren, ist zirkadianen Rhythmen unterworfen. Bei Insulin sind dies v. a. die Zielzellen in Leber, Muskulatur und Fettgewebe. Die Plasmaspiegel von Glukose und Aminosäuren unterliegen ebenfalls zirkadianen Rhythmen. Sie sind teils durch endogene Einflüsse (hepatische Glukoseproduktion), aber auch durch exogene Faktoren (Nahrungszufuhr) bedingt. Das Miteinander und Gegeneinander zirkadian wirksamer endogener und exogener Faktoren wird beim Stoffwechselgesunden durch die Feinabstimmung der endogenen Hormonsekretion ausbalanciert. Ergebnis dieser subtil ausgewogenen Glukoseregulation ist die Normoglykämie des Stoffwechselgesunden mit Werten zwischen 60 und 100 mg/dl. Beim Typ-1-Diabetes wird die täglich notwendige Insulinsubstitution durch die zirkadianen Änderungen der Insulinwirkung mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Insulinbedarf sehr kompliziert, da die endogene Insulinsekretion, die sich ständig auf die zirkadianen Einflüsse der insulinantagonisti-

250

2 2 3 4 5 6 7

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

schen Hormone einstellt und sie ausgleicht, nur annäherungsweise imitiert werden kann. Die zirkadianen Rhythmen der Sekretion und Wirkung der Hormone sind von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ausgeprägt und können sich auch bei einem Patienten von einem Tag zum anderen ändern. Für die Praxis der Insulintherapie können nur grobe Anhaltspunkte für die individuell sehr unterschiedlichen Zirkadianrhythmen mitgeteilt werden. Bei jedem Patienten sind die individuellen zirkadianen Rhythmen der Insulinwirkung immer wieder neu empirisch zu ermitteln. In . Abb. 11.9 sind die Beziehungen zwischen Insulinwirkung, Insulinbedarf und Blutglukoseverhalten während der verschiedenen Tageszeiten schematisch dargestellt. Zusammenfassung Die zirkadianen Veränderungen der Insulinwirkung und des Insulinbedarfes sind mit Hilfe der konventionellen Insulintherapie schwierig auszubalancieren. Das morgens und abends injizierte Verzögerungsinsulin (z. B. NPH-Insulin) wirkt während der Phasen niedrigen Insulinbedarfes zu stark, während der Phasen hohen 6

8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

. Abb. 11.9 Schematische Darstellung des Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung und des Insulinbedarfes mit den entsprechenden Veränderungen des Blutglukosespiegels

11.6 · Durchführung der ICT

251

11

Insulinbedarfes zu schwach. Die Folge können Hypoglykämien mittags und nachts sowie Hyperglykämien nachmittags und am frühen Morgen sein. Nur mit den intensivierten Methoden der Insulintherapie gelingt es einigermaßen, den zirkadianen Wechsel der Insulinwirkung durch die subtile Anpassung der Prandial- und Basalinsulindosis an den notwendigen Insulinbedarf auszugleichen.

Dawn- oder Somogyi-Phänomen? ! Morgenhyperglykämien sind bei Patienten mit Typ-1-Diabetes, v. a. bei Kindern und Jugendlichen, seit langem bekannt. Sie wurden zunächst als Ergebnis einer hormonellen Gegenregulation nach unbemerkten nächtlichen Hypoglykämien gedeutet.

Die seither als Somogyi-Phänomen bezeichnete posthypoglykämische Hyperglykämie wurde auch von Pädiatern beschrieben und vielfach nachgewiesen. Als Ursache für hohe morgendliche Nüchternblutglukosewerte wurden lange Zeit asymptomatische nächtliche Hypoglykämien angenommen. Das Somogyi-Phänomen gewann nicht nur bei Ärzten, sondern auch bei Patienten eine große Popularität. Die praktische Konsequenz war, dass auf Hyperglykämien häufig wegen der Annahme einer vorausgegangenen unbemerkten Hypoglykämie mit einer Reduzierung der Insulindosis reagiert wurde, mit noch ausgeprägteren Hyperglykämien als Folge. Gegenregulatorisch bedingte Hyperglykämien treten jedoch selten und wenn, nicht sehr ausgeprägt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes auf, weil bei ihnen die Glukosegegenregulation gestört ist. Vor allem der erste und wichtigste Schritt der Gegenregulation beim Stoffwechselgesunden, das Sistieren der Insulinsekretion zur Entkoppelung der hepatischen Glukoseproduktion, entfällt beim Typ-1-Diabetes. Für die häufig auftretenden Morgenhyperglykämien musste daher eine andere pathophysiologische Erklärung gefunden werden. ! Untersuchungen mit glukosegeregelten Insulininfusionssystemen erbrachten den Beweis, dass der Anstieg der Blutglukosewerte in den frühen Morgenstunden auf eine passagere partielle Insulinresistenz zurückzuführen ist. Die durch eine Verminderung der Insulinwirkung bedingte Morgenhyperglykämie wurde als Dawn-Phänomen bezeichnet.

Die relative Insulinresistenz während der frühen Morgenstunden ist auf die nächtliche Sekretion von Wachstumshormon zurückzuführen, das nicht nur die Insulinsensitivität vermindert, sondern auch die hepatische Glukoseproduktion stimuliert. Wachstumshormon wird bei Typ-1-Diabetes vermehrt sezerniert. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen der Wachstumshormonausschüttung

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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

und dem Anstieg des Insulinbedarfes während der Pubertät. Damit ist nicht nur der deutliche Anstieg des Insulintagesbedarfes bei Jugendlichen (>1,0 I.E./kg KG), sondern auch die häufig unzureichende Stoffwechseleinstellung erklärt. Die Rolle der Sexualhormone als Ursache für den erhöhten Insulinbedarf während der Pubertät bleibt dagegen unklar. ! Häufigkeit und Ausmaß des Dawn-Phänomens hängen ursächlich vom Ausmaß der nächtlichen Pulsamplitude der Wachstumshormonsekretion ab. Es tritt meist 3- bis 4-mal pro Woche auf und besonders ausgeprägt während der Pubertät. Die während der Pubertät erhöhten Wachstumshormonspiegel sind eine der Ursachen des gesteigerten Insulinbedarfs und der oft unzureichenden Insulinbehandlung von Jugendlichen.

Ermittlung der Prandial- und Korrekturinsulindosis ! Die Prandialinsulinsubstitution erfolgt vor den Hauptmahlzeiten (Frühstück, Mittagessen, Abendessen) durch die Injektion eines kurzwirkenden Insulins, d. h. eines Normalinsulins oder eines schnell wirkenden Insulinanalogons. Die Prandialinsulindosis muss in Abhängigkeit vom präprandialen Blutglukosewert korrigiert werden. Berechnung der Prandialinsulindosis. Die Prandialinsulindosis hängt von der

Menge der während einer Mahlzeit zugeführten Kohlenhydrate ab. Daher hat es sich als didaktisch sinnvoll erwiesen, die Prandialinsulindosis als Quotient »Insulin/KE« anzugeben [eine Kohlenhydrateinheit (KE) entspricht 10–12 g Kohlenhydraten]. Der Insulin-KE-Quotient liegt meist zwischen 1,5 und 2,0 I. E./KE. Er ist intra- und interindividuell unterschiedlich groß und muss daher vom Patienten ständig neu ermittelt werden. Wichtige Einflussgrößen sind 5 Alter, 5 Größe, 5 Gewicht, 5 Geschlecht, 5 Diabetesdauer, 5 Essgewohnheiten (z. B. Zusammensetzung der Mahlzeiten: schnell oder langsam resorbierbare Kohlenhydrate, Ballaststoff-, Eiweiß-, Fettgehalt), evtl. auch 5 Art des schnellwirkenden Insulinpräparates (Normalinsulin bzw. schnell wirkendes Insulinanalogon). Von besonderer Bedeutung ist, ob sich der Patient in der Remissionsphase befindet und noch eine Restsekretion von endogenem Insulin vorliegt. Ist das der Fall, kann der Insulin-KE-Quotient unter 1,0 I.E./KE liegen.

11.6 · Durchführung der ICT

253

11

Auch die zirkadianen Veränderungen der Insulinwirksamkeit beeinflussen den Insulin-KE-Quotienten. Während der Zeit der Morgenhyperglykämie (Dawn-Phänomen) werden normalerweise deutlich mehr als 2 I.E./KE benötigt. Am späten Nachmittag liegt ebenfalls eine Hyperglykämieneigung vor (Dusk-Phänomen), sodass etwa 2 I.E./KE injiziert werden müssen. Am späten Vormittag und um die Mittagszeit sowie nach Mitternacht während der ersten Nachthälfte besteht eine ausgesprochene Hypoglykämieneigung. Während dieser Zeit sollte das Insulin daher sehr vorsichtig dosiert werden. Meist kommen die Patienten um die Mittagszeit mit 1,0–1,5 I.E./KE, um Mitternacht mit 0,5– 1,0 I. E./KE aus. Weitere Einflussfaktoren für die Größe des Insulin-KE-Quotienten sind der Spritz-Ess-Abstand, die Injektionsart, die Beschaffenheit des Injektionsortes und nicht zuletzt die Effizienz der Basalinsulinsubstitution. Der Spritz-Ess-Abstand sollte um so länger sein, je schneller die zugeführten Kohlenhydrate resorbiert werden. Die Variationsbreite beträgt etwa 10 min (langsame Resorption: Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischen Index , ballaststoffreich, hoher Fett-Eiweiß-Gehalt) bis 40 min (schnelle Resorption: Kohlenhydrate mit hohem glykämischen Index, Fastfood). Der Spritz-EssAbstand richtet sich auch nach dem präprandialen Blutglukosewert: Bei hohen Blutglukosewerten (z. B. >250 mg/dl) sollte er verlängert, bei niedrigen (z. B. 100 mg/dl). In einer randomisierten Crossover-Studie konnte gezeigt werden, dass die Substitution mit individuellen Mischungen von Normal- und NPHInsulin vor den Mahlzeiten und NPH-Insulin zur »Bettzeit« die HbA1c-Werte senkt und die Inzidenz von hypoglykämischen Episoden vermindert. Dasselbe gilt im Prinzip für das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir. Das mittelang wirksame Insulin Detemir (Levemir) muß wegen seiner Wirkdauer von etwa 12–16 h in der Regel zweimalig injiziert werden. Dabei kommen Schemata mit morgendlicher und abendlicher, mittäglicher und spätabendlicher (besonders bei Dawn-Phänomen) und morgendlicher und spätabendlicher Gabe zur Anwendung. Bei der Dosisfindung ist ein interindividuell sehr unterschiedliches Ansprechen auf auf Detemir zu beobachten. Im Vergleich mit

. Tabelle 11.3 Täglicher Basalinsulinbedarf in Abhängigkeit von den Pubertätsstadien nach Tanner. (Nach Dunger u. Edge 1995) Basalinsulindosis (I.E./kg KG/Tag)

15 16 17

Tanner-Stadium

Mädchen

Jungen

Gesamt

1

0,21

0,29

0,29

2

0,29

0,29

0,29

3

0,37



0,32

4

0,40



0,40

5

0,33

0,36

0,35

KG Körpergewicht

11.6 · Durchführung der ICT

257

11

dem früher erhältlichen Zink-Verzögerungsinsulin Semilente ergeben sich bei spätabendlicher Gabe Dosiserhöhungen von im Mittel 1,7-mal der ursprünglichen Zinkinsulindosis. Dabei wurden gute Nüchternblutzucker bei einzelnen Patienten auch bei dosisgleicher Umstellung beobachtet, während andere erst nach einer Verdopplung der Dosis gute Morgenwerte ohne nächtliche Unterzuckerungen aufwiesen. Bei Erwachsenen und auch in einigen pädiatrischen Zentren wird häufig das langwirkende Insulinanalogon Glargin als Basalinsulin eingesetzt. Wegen seiner langen Wirkungsdauer von 22 bis 24 h wurde das Glagin zunächst nur einmal am Tag injiziert. Inzwischen sind jedoch verschiedene Modifikationen seines Einsatzes entwickelt worden. Es wird frühmorgens und abends (18 Uhr), frühmorgens und spät abends (23 Uhr) aber auch mittags und spät abends injiziert. An den Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung kann es wegen seiner sehr langen Wirkungsdauer nicht in gleicher Weise angepasst werden wie die NPHInsuline und das Detemir. Bei Verwendung der langwirksamen Insulinanaloga ist die Inzidenz schwerer Hypoglykämien geringer ist als bei Injektion von Normal- und NPH-Insulin. Wichtig ist, dass bei der Verwendung kurzwirkender Insulinanaloga als Prandialinsulin die Basalinsulindosis erhöht werden muss, da sie an der Deckung des Basalinsulinbedarfes wegen ihrer kurzen Wirkungsdauer weniger beteiligt sind als Normalinsulin. Umgekehrt muss bei Verwendung langwirkender Insulinanaloga als Basalinsulin die Prandialinsulindosis erhöht werden, da sie weniger an der Deckung des Prandialinsulinbedarfes beteiligt sind als NPH-Insulin. Die Trennung zwischen Prandial- und Basalinsulinwirkung ist daher bei der Verwendung kurz- und langwirkender Insulinanaloga präziser gewährleistet ist als bei der von Normal- und NPH-Insulin. Bei der Injektion von Normal- und NPH-Insulin sind beide Insuline durch die Überschneidung ihrer Wirkungsprofile an der Prandial- und an der Basalinsulinsubstitution beteiligt, d. h. ein Teil des Normalinsulins wirkt als Basalinsulin, ein Teil des Basalinsulins als Prandialinsulin. Die Substitution mit kurz- und langwirkenden Insulinanaloga erfasst dagegen genauer das reale Verhältnis zwischen Prandial- und Basalinsulinbedarf. Die Durchführung der ICT mit kurz- und langwirkenden Insulinanaloga kommt daher den Voraussetzungen und Möglichkeiten der CSII näher als die mit Normal- und NPH-Insulin. Zusammenfassung Der Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst nicht nur die Berechnung des Prandial- und Korrekturinsulinbedarfes vor den Hauptmahlzeiten, sondern auch die des Basalinsulinbedarfes. Bei der Umsetzung der ICT sollten daher, individuell abgestimmt, Prandial- und Basalinsulin mehrfach am Tag injiziert werden. 6

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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

Insulinanaloga mit langer Wirkungsdauer (Glargin) können nicht wie z. B. NPHInsulin und das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir an den wechselnden Basalinsulinbedarf angeglichen werden. Trotzdem werden sie zunehmend häufig verwendet, da die Hypoglykämiegefahr geringer ist und vor allem eine exaktere Trennung zwischen Prandial- und Basalinsulinwirkung erkennbar ist, v. a. dann, wenn auch kurzwirkende Insulinanaloga als Prandialinsulin eingesetzt werden. Die Verwendung von kurz- und langwirkenden Insulinanaloga kommt den Voraussetzungen und Möglichkeiten der CSII näher als die Injektion von Normal- und NPH-Insulin.

Insulinpräparate für die ICT Für die Umsetzung der ICT stehen für die Prandrialinsulinsubstitution die Normalinsuline und die drei schnellwirkenden Insulinanaloga (Lispro, Aspart und Glulisine), für die Basalinsulinsubstitution die NPH-Insuline, das mittellang wirkende Insulinanalogon Detemir und das langwirkende Insulinanalogon Glargin zur Verfügung.. In . Tabelle 11.4 sind die wichtigsten Varianten der Kombination von Prandial- und Basalinsulin zusammengestellt. Welche Kombinationen haben sich bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes bewährt? Bei Säuglingen und Kleinkindern bis etwa zum 4. Lebensjahr sind Kombinationen mit einem schnellwirkendem Insulinanalogon geeignet, weil die Eltern nie genau wissen, wie viel von der angebotenen Mahlzeit wirklich gegessen wird. Es ist daher günstig, erst nach der Mahlzeit Prandialinsulin zu injizieren. Da man die NPH-Insuline sehr gut an den Zirkadianrhythmus der Basalinsulinwirkung anpassen kann, werden sie bei dieser Altersgruppe bevorzugt angewendet (Variante B1 oder B2). Erst bei Einstellungsproblemen kann man ein langwirkendes Insulinanalogon erproben (Variante C oder D). Bei Kleinkindern etwa ab vier Jahren und Schulkindern, aber auch bei Jugendlichen, die großen Wert auf Zwischenmahlzeiten (2. und 3. Frühstück in der Schule, Vespermahlzeit nachmittags, Spätmahlzeit abends vor dem Schlafen) legen, wird häufig Normalinsulin als Prandialinsulin und NPH-Insulin als Basalinsulin benutzt (Variante A1). Aber auch NPH-Insulin tagsüber und Detemir nachts als Basalinsuline sind sehr verbreitet (Variante A2). Patienten dieser Altersgruppe, die den Spritz-Ess-Abstand vermeiden wollen, können ein schnellwirkendes Insulinanalogon als Prandialinsulin injizieren (Variante B1 oder B2). Wenn Schwierigkeiten bei der Basalinsulinsubstitution auftreten, kann auch ein langwirkendes Insulinanalogon als Basalinsulin erprobt werden (Variante C oder D).

11.6 · Durchführung der ICT

259

11

. Tabelle 11.4 Wichtigste Varianten der Kombination von Prandial- und Basalinsulin Variante A1

Prandialinsulin Basalinsulin

Normalinsulin NPH-Insulin tagsüber und nachts

Variante A2

Prandialinsulin Basalinsulin

Normalinsulin NPH-Insulin tagsüber und mittellang wirkendes Insulinanalogon (Detemir) nachts

Variante B1

Prandialinsulin Basalinsulin

Schnellwirkendes Insulinanalogon NPH-Insulin tagsüber und nachts

Variante B2

Prandialinsulin Basalinsulin

Schnellwirkendes Insulinanalogon NPH- Insulin tagsüber und mittellangwirkendes Insulinanalogon (Detemir) nachts

Variante C

Prandialinsulin Basalinsulin

Normalinsulin Lang- (Glargin) oder mittellangwirkendes (Detemir) Insulinanalogon tagsüber und nachts

Variante D

Prandialinsulin Basalinsulin

Schnellwirkendes Insulinanalogon Lang- (Glargin) oder mittellangwirkendes (Detemir) Insulinanalogon tagsüber und nachts

Je mehr die Jugendlichen auf Zwischenmahlzeiten verzichten und sich den Essgewohnheiten von Erwachsenen (3 Hauptmahlzeiten) annähern, desto besser eignet sich das langwirkende Insulinanalogon als Basalinsulin in Kombination mit Normalinsulin oder schnellwirkendem Insulinanalogon als Prandialinsulin (Variante C oder D). Dabei gibt es viele Patienten, die eine Normalinsulingabe morgens (Abdenkung von Frühstück und 1. Schulpause) mit schnellwirkendes Insulinanalogon zum Mittag oder Abendbrot kombiniern. Das gilt vor allem, wenn Jugendliche wie viele Erwachsene bereit sind, bei einer spontanen Zwischenmahlzeit Prandialinsulin zu injizieren. Bei der Wahl der Prandial-/Basalinsulin-Kombination für die ICT kommt es auf folgende Kriterien an: 5 Wahl des Prandialinsulins: – wenn der Spritz-Ess-Abstand vermieden werden soll: schnellwirkendes Insulinanalogon, – wenn eine der Hauptmahlzeit folgende Zwischenmahlzeit mit abgedeckt werden soll: Normalinsulin.

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2

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

5 Wahl des Basalinsulins: – wenn das Basalinsulin an den Zirkadianrhythmus angepasst werden soll:

NPH-Insulin tagsüber, Detemir nachts,

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– wenn die Zwischenmahlzeiten mit abgedeckt werden sollen, die zeitlich wei-

ter von der vorausgegangenen Hauptmahlzeit entfernt sind: NPH-Insulin, – wenn nur drei Hauptmahlzeiten eingenommen werden und auf Zwischen-

mahlzeiten verzichtet wird: langwirkendes Insulinanalogon (Glargine). Diese Grundregeln sind das Ergebnis eigener klinischer Erfahrungen. Sie können aufgrund der Erfahrungen des behandelnden Arztes und der Patienten selbstverständlich weitere Variationen aufweisen. Wie immer sie ausfallen, sollten sie jedoch ständig neu diskutiert und, wenn nötig, variiert werden. Zusammenfassung Die Kunst der Insulintherapie besteht darin, für jeden Patienten die Behandlungsform zu finden, die seinem individuellen Lebensrhythmus und seinen individuellen Lebensbedürfnissen entspricht und außerdem zu guten Stoffwechselergebnissen führt.

Richtwerte für die Durchführung der ICT In . Tabelle 11.5 sind Richtwerte für die Umsetzung der ICT zusammengestellt. Sie beruhen auf eigenen klinischen Erfahrungen und sollen als Orientierungshilfe dienen. Individuelle Abweichungen von diesen Erfahrungswerten müssen daher bei jedem Patienten immer wieder neu diskutiert und festgelegt werden. Der Insulintagesbedarf beträgt bei Kleinkindern und Kindern 0,8–1,0 I.E./kg KG während der Postremissionsphase. Bei Jugendlichen kann er während der Frühadoleszenz (Pubertät; 12–16 Jahre) auf 1,2, selten bis 1,5 I.E./kg KG ansteigen. Während der Spätadoleszenz (16–20 Jahre) nähert sich der Insulintagesbedarf nach und nach dem von Erwachsenen, der zwischen 0,6 und 0,7 I.E./kg KG liegt. Der Basalinsulintagesbedarf beträgt bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen 0,30–0,35, selten bis 0,4 I.E./kg KG. Die Prandialinsulindosis wird mit Hilfe des Insulin-KE-Quotienten ermittelt, der meist zwischen 1,0 und 2,5 liegt. Nachts während der Phase hoher Insulinsensitivität kann dieser jedoch bis auf 0,5 absinken, d. h. er hängt von der Diabetesdauer (Restsekretion) und vom Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung ab. Die Prandialinsulindosis muss in Abhängigkeit vom präprandialen Blutglukosewert korrigiert werden. Bei niedrigen präprandialen Blutglukosewerten wird die Korrekturinsulindosis von der Prandialinsulindosis abgezogen, bei hohen wird sie ihr zugezählt.

11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)

261

11

. Tabelle 11.5 Richtwerte für die Durchführung der intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) Insulintagesbedarf

Kinder Jugendliche Erwachsene

0,80–1,0 I.E./kg KG 1,2–0,8 I.E./kg KG 0,6–0,7 I.E./kg KG

Basalinsulintagesbedarf

Kinder Jugendliche Erwachsene

0,30–0,35 I.E./kg KG

Prandialinsulindosis

Morgens Mittags Abends Nachts

1,5–2,5 I.E./KE 1,0–1,5 I.E./KE 1,5–2,0 I.E./KE 0,5–1,0 I.E./KE

Blutglukoseabsenkungsraten nach 1 I.E. Normalinsulin

Morgens Mittags Abends Nachts

–20–30 mg/dl –40–50 mg/dl –30–40 mg/dl –60–80 mg/dl

Täglicher Kalorienbedarf

Kinder Jugendliche Erwachsene

45–70 kcal/kg KG 35–45 kcal/kg KG 25–35 kcal/kg KG

KG Körpergewicht.

Die Korrekturinsulindosis hängt von der Blutglukoseabsenkungsrate ab, d. h. davon, um wie viel die Blutglukosekonzentration nach Injektion von 1 I. E. Normalinsulin vermindert wird. Die Absenkungsrate wird durch das Alter des Patienten und ebenfalls durch den Zirkadianrhythmus der Insulinwirkung beeinflusst. Sie liegt zwischen 30 und 100 mg/dl, kann allerdings früh morgens weniger und spät abends mehr betragen. Der tägliche Kalorienbedarf beträgt bei Kindern 45–70 kcal/kg Körpergewicht, bei Jugendlichen 35–45 kcal/kg KG und bei Erwachsenen 25–35 kcal/ kg KG. 11.7

Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)

! Die Durchführung einer intensivierten Insulintherapie mittels kontinuierlicher subkutaner Insulininfusionstherapie (CSII) kann in allen Altersstufen vorteilhaft gegenüber einer Therapie mit multiplen Injektionen (ICT) sein. Durch die stündlich programmierbare kontinuierliche Basalrate und die einfache zusätzliche Gabe

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2 2

Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

von Bolusinsulin auf Knopfdruck kann der nahrungsabhängige Prandialinsulinbedarf und der nahrungsunabhängige Basalinsulinbedarf zeitgerecht substituiert werden.

5

Seit mehr als 20 Jahren wird die Insulinpumpentherapie zur Behandlung von Patienten mit Typ-1-Diabetes eingesetzt. Sie gilt jetzt als die physiologisch optimale Methode zur Bereitstellung von Insulin mit der besten Stoff wechseleinstellung und den wenigsten hypoglykämischen Ereignissen. Diese überlegenen klinischen Vorteile gehen mit einer positiven Wirkung auf die Lebensqualität des Patienten einher. Die CSII hat in den letzten Jahren als eine mögliche Behandlungsform des insulinpflichtigen Diabetes mellitus auch bei Kindern und Jugendlichen in vielen Ländern deutlich zugenommen.

6

Funktionsweise einer Insulinpumpe

3 4

7 8

! Insulinpumpen, ob tragbar oder implantiert, arbeiten als offenes System, d. h. es existiert keine automatische Rückkopplung der Insulinabgabe an die aktuelle Blutglukosekonzentration. Dies bedeutet, dass die Insulinpumpenbehandlung anhand von Blutglukosekontrollen bzw. -selbstkontrollen gesteuert und überwacht werden muss.

9 Eine Insulinpumpe besteht im Wesentlichen aus den folgenden Teilen

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5 5 5 5

Gehäuse, Motor und Getriebe, Elektronik, die die Insulinabgabe des Motors steuert und überwacht, Gewindestange, die die Drehbewegung des Motors in eine Längsbewegung des Ampullenstopfens umwandelt, 5 mit Insulin gefüllte Ampulle oder Reservoir, 5 Katheter mit Stahl oder Kunststoffkanüle,. 5 Adapter, der die Ampulle in der Pumpe fixiert und in den der Katheter eingeschraubt wird

Das Insulin wird aus dem Reservoir über den Katheter dem Körper zugeführt. Den Insulinkatheter und die Insulinampulle wechselt der Patient selbstständig. Die ersten Erfahrungen mit einer Glukosesensor-gekoppelten Insulinpumpe liegen seit kurzem auch bei Kindern vor. Dabei werden kontinuierlich subcutan gemessene Glukosewerte in die Pumpe übertragen und zur Berechnung von Korrektur- und Mahlzeitenbolus herangezogen. Bei einer ersten Anwendung bei 15 Kindern über einen Zeitraum von 4 Wochen zeigte sich eine gute Akzeptanz dieses Systems durch die Familien.

11.7 · Durchführung der Insulinpumpentherapie (CSII)

263

11

Häufigkeit der CSII bei Kindern Die CSII wurde in den letzten Jahren als mögliche Behandlungsform des Typ-1Diabetes bei Kindern und Jugendlichen immer mehr akzeptiert und daher auch eingesetzt. Nach den Zahlen der DPV-Wiss-Initiative kam es in Deutschland bei den in diesem System dokumentierten mehr als 16.000 pädiatrischen Diabetespatienten ( Lena: Insulindosis morgens: Morgens um 7.00 Uhr isst Lena 4 KE, in der Schule um 9.00 Uhr und um 11.30 Uhr je eine weitere KE: um 7.00 und 9.00 Uhr also zusammen 5 KE. Daraus ergibt sich eine Prandialinsulindosis von 5 I.E. Die 1 KE in der zweiten großen Pause wird durch Insulin abgedeckt, das Lena noch selbst bildet. Der Blutglukosewert beträgt um 7.00 Uhr nur 80 mg/dl. Da Lenas Zielwert 120 mg/ dl beträgt und eine 1 I.E. Normalinsulin ihren Blutzuckerwert um etwa 50 mg/dl senkt, zieht sie von der Prandialinsulindosis 1 I.E. Korrekturinsulin ab. Sie injiziert daher morgens 4 Einheiten Normalinsulin (Prandialinsulin – Korrekturinsulin). Insulindosis mittags: Mittags hat sie großen Hunger. Darum isst sie 4 KE. Für den Nachmittag hat sie 1 KE eingeplant. Daraus ergeben sich 5 KE, für die sie 2,5 I. E. Prandialinsulin benötigt. Da der Blutglukosewert 160 mg/dl beträgt und damit 60 mg/dl über ihrem Zielwert von 100 mg/dl liegt, fügt sie dem Prandialinsulin 1 I. E. Korrekturinsulin hinzu. Endgültig injiziert sie 3,5 I.E. Normalinsulin. Insulindosis abends: Um 17.00 Uhr fühlt sich Lena etwas unterzuckert. Der Blutglukosewert beträgt nur 60 mg/dl. Damit er nicht weiter absinkt, isst sie zwei Extra-KE. Um 18.30 Uhr liegt der Blutzucker bei 160 mg/dl. Lena will 4 KE zum Abendbrot essen und vor dem Schlafen um 20.30 Uhr eine weitere KE, d. h. insgesamt 5 KE. Daraus ergeben sich abgerundet 3,5 I.E. Mahlzeiteninsulin. Den Blutglukosewert von 160 mg/dl korrigiert sie auf den Zielwert von 110 mg/dl mit 1 I.E. Korrekturinsulin. Sie injiziert daher vor dem Abendessen 4,5 I.E. Normalinsulin. Um 23.00 Uhr messen Lenas Eltern einen Blutglukosewert von 90 mg/dl. Das ist für die Nacht zu niedrig. Um einer nächtlichen Hypoglykämie vorzubeugen,

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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

lassen sie Lena darum 1 KE essen. Sie injizieren wie üblich 5 I.E. Basalinsulin. Sicherheitshalber kontrollieren die Eltern um 1.00 Uhr noch einmal den Blutzuckerwert. Er liegt bei 130 mg/dl.

> Marcel: Insulindosis morgens: Morgens um 7.00 Uhr isst Marcel 4 KE. Da er in der ersten großen Pause um 9.30 Uhr 2 KE essen will, injiziert er 15 I.E. Prandialinsulin. Sein Blutglukosewert ist mit 220 mg/dl hoch. Da die Blutglukoseabsenkungsrate zu dieser Zeit etwa 30 mg/dl beträgt, fügt er 3 I.E. Korrekturinsulin zum Prandialinsulin hinzu. Insgesamt injiziert er 18 I.E. Normalinsulin, außerdem 6 I.E. Verzögerungsinsulin als Basalinsulin. Gegen 11.00 Uhr ist er sehr hungrig, sein Blutglukosewert beträgt 70 mg/dl. Es wird Zeit, dass er seine 2 KE isst. Insulindosis mittags: Mittags beträgt der Blutzuckerwert 90 mg/dl. Marcel hat großen Hunger und isst mit großem Appetit seine 6 KE. Nachmittags plant er weitere 2 KE ein. Darum benötigt er für die 8 KE 12 I.E. Normalinsulin. Außerdem injiziert Marcel noch 4 I.E. Verzögerungsinsulin als Basalinsulin. Gegen 15.30 Uhr spürt Marcel Unterzuckerungszeichen. Sein Blutzuckerwert beträgt 50 mg/dl. Er trinkt 2 KE Cola, damit er sich schnell wieder besser fühlt. Um 16.00 Uhr misst er 110 mg/dl. Er isst er noch die geplanten 2 KE, damit sein Blutzuckerwert nicht wieder zu sehr absinkt. Insulindosis abends: Abends nimmt Marcel 6 KE zu sich. Für die Stunden zwischen 20.00 Uhr und 22.00 Uhr ist noch 1 KE eingeplant. Die KE von 20.30 Uhr

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. Abb. 11.24 Beispiel Marcel (Stoffwechselübungsbogen)

11.8 · Didaktische Hilfen für die Umsetzung der ICT im Alltag

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11

nimmt er in die Berechnung Prandialinsulindosis hinein. 14 I.E Prandialinsulin werden vorgesehen. Da sein Blutzuckerwert um 18.00 Uhr 140 mg/dl beträgt, korrigiert er seine Dosis nicht. Er injiziert 14 I.E. Normalinsulin und kein Basalinsulin. Um 23.00 Uhr liegt der Blutzuckerwert bei 150 mg/dl. Marcel injiziert 12 I.E. Basalinsulin.

Sport bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Sport spielt im Leben aller Kinder und Jugendlichen eine große Rolle. Darum sollen einige grundsätzliche Besonderheiten der Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit ausgeprägter körperlicher Aktivität diskutiert werden. ! Die vielen Einflüsse beim Sport machen es sehr schwierig, verbindliche Regeln für die zusätzliche Nahrungszufuhr aufzustellen. Für jedes Kind müssen eigene Erfahrungswerte gesammelt werden. Dazu sind v. a. regelmäßige Blutglukosebestimmungen notwendig.

In . Abb. 11.25 und 11.26 ist ein Tag mit ausgeprägter körperlicher Aktivität dargestellt. > Melanie ist 9 Jahre alt. Sie verbringt den Tag mit ihrer Familie in einem Freizeitpark. Sie ist den ganzen Tag auf den Beinen. Morgens spritzt Melanies Mutter die Dosis des Basalinsulins wie immer. Das Prandialinsulin am Morgen bleibt auch

. Abb. 11.25 Beispiel Melanie (Insulindosierungsbogen)

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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

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. Abb. 11.26 Beispiel Melanie (Stoffwechselübungsbogen)

gleich, weil die Fahrt zum Park etwa 2 h dauert. Melanie sitzt in dieser Zeit im Auto ohne sich zu bewegen. Bevor Melanie das erste Karussell ausprobiert, misst sie ihren Blutzuckerwert. Er liegt knapp über 120 mg/dl. Weil sich Melanie viel bewegen wird, isst sie noch 1 KE zusätzlich. Mittags ist Melanie durchgeschwitzt, sie hat viel getobt, ihr Blutzucker liegt bei 100 mg/dl. Zum Mittagessen spritzt die Mutter die übliche Dosis von 3 I. E. Normalinsulin, Melanie isst aber nicht wie sonst 3 KE und 1 KE nachmittags, sondern gleich 5 KE Spaghetti und später noch 1 KE. Der Nachmittag bleibt anstrengend. Gegen 15.00 Uhr hat Melanie Hunger. Es ist Zeit für die Nachmittagsmahlzeit (1 KE). Ihr Blutzuckerwert liegt bei 80 mg/dl. Melanie isst ein Eis mit fast 3 KE, weil sie auch noch während der nächsten Stunden die vielen Geräte auf dem Spielplatz ausprobieren will. Um 19.00 Uhr ist die Familie wieder zu Hause. Melanies Blutzuckerwert liegt bei 130 mg/dl. Sie hat starken Hunger. Zum Abendbrot nimmt sie 5 KE zu sich, etwas später noch 1 KE. Ihre Mutter hat zuvor das Normalinsulin reduziert und nur für 4 KE injiziert. Zur Spätspritze wird Melanie kaum wach, der Tag war sehr anstrengend. Der Blutzuckerwert liegt bei 150 mg/dl. Die Mutter spritzt statt 6 I. E. Basalinsulin zur Nacht nur 5, damit bei Melanie nachts keine verzögerte Hypoglykämie auftritt.

11.8 · Didaktische Hilfen für die Umsetzung der ICT im Alltag

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11

Ein weiteres Beispiel für die Stoffwechselsituation bei körperlicher Anstrengung ist in . Abb. 11.27 und 11.28 dargestellt.

. Abb. 11.27 Beispiel Julia (Insulindosierungsbogen)

. Abb. 11.28 Beispiel Julia (Stoffwechselübungsbogen)

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Kapitel 11 · Ambulante Langzeitbehandlung

> Julia ist 17 Jahre alt. Sie geht mit ihren Freundinnen auf eine Party. Gegen 22.30 Uhr treffen sie sich um loszufahren. Julias Blutzuckerwert liegt bei 140 mg/dl, zuletzt hat sie gegen 19.00 Uhr Prandialinsulin zum Abendessen und 2 I.E. Basalinsulin gespritzt. Um 23.00 Uhr sind sie in der Disko angekommen. Julia isst noch ein paar Chips (etwa 1 KE), bevor sie tanzt. Gegen 24 Uhr fällt Julia ein, dass es Zeit für ihr Basalinsulin zur Nacht ist. Wegen der körperlichen Anstrengung spritzt sie etwas weniger Verzögerungsinsulin als sonst, 7 statt 8 I.E., damit keine verzögerte Hypoglykämie auftritt. Nach weiteren 1 1/2 h ist sie durchgeschwitzt. Sie fühlt sich schlapp, sie weiß aber nicht, ob das an der Anstrengung liegt oder an ihrem Blutzuckerwert. Die Messung ergibt 58 mg/dl. Eine Hypoglykämie kündigt sich an. Sie trinkt ein Glas Cola (ca. 2 KE) und isst dann noch ein Stück Pizza (2 KE), das sie sich gekauft hat. Sie will weiter tanzen. Gegen 2.30 Uhr wird es ruhiger. Der Blutzuckerwert liegt bei 150 mg/dl. Die nächsten zwei Stunden wird nur noch wenig getanzt. Gegen 4.30 Uhr fahren Julia und ihre Freundinnen nach Hause. Der Blutzuckerwert liegt bei 160 mg/ dl. Julia kann beruhigt einschlafen. Obwohl Julia selbstständig für ihren Diabetes sorgt, hat sie mit ihrer Mutter besprochen, wie sie ihr helfen kann, wenn die Nacht sehr lang war. Morgens darf die Mutter darum nach Julia sehen und den Blutzuckerwert messen, wenn sie den Eindruck hat, dass er zu niedrig sein könnte. Für Julia ist es wichtig, dass sie das Basalinsulin am nächsten Tag nicht zu spät spritzt. Deshalb hat sie ihre Mutter gebeten, sie um 9.00 Uhr kurz zu wecken.

Akute Infektionen bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Akute Infektionskrankheiten (Angina, Otitis media, akute Durchfallserkrankungen u. a.) beeinflussen ebenfalls die Stoffwechseleinstellung bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes. Darum sollen Verhaltensregeln bei Infekten und Beispiele vorgestellt werden. ! Folgende Behandlungsregeln haben sich bewährt: 5 Wenn sich das Kind während einer Krankheit wohl fühlt, sollte ihm erlaubt werden zu essen, was und so viel es sich wünscht. Die Prandialinsulindosis wird wie üblich an die aufgenommene Nahrungsmenge angepasst. Die Basalinsulindosis bleibt unverändert. Die Blutglukosewerte sollten dabei nicht zu hoch ansteigen und bei Bedarf durch Korrekturinsulin ausgeglichen werden. 5 Wenn sich das Kind während einer akuten Infektion krank fühlt, sollte die sonst übliche Dosis des Prandial- und Basalinsulins injiziert werden. Anschließend muss das Kind versuchen, die für die injizierte Insulindosis notwendige Nahrungsmenge zu sich zu nehmen. Hierfür sind kohlenhydrathaltige Getränke besser geeignet als feste Nahrung. Apfelsaft oder andere Obstsäfte, evtl. mit Mineralwasser verdünnt, Tee mit Traubenzucker, geriebener Apfel, geschlagene Banane, auch Cola sind Nahrungsmittel, die von den Kindern in dieser Situation am ehesten akzeptiert werden. Die Blutglukosewerte dürfen

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nicht zu stark absinken. Vorsicht vor Hypoglykämien! Es sollten eher höhere Werte, auch über 160 mg/dl akzeptiert werden.

In . Abb. 11.29 und 11.30 ist das Tagesbeispiel für eine nicht sehr ausgeprägte akute Infektion dargestellt. > Anke ist 9 Jahre alt. Sie hat einen kräftigen Schnupfen, etwas Kopfschmerzen, die Augen brennen, sie hat eine Bindehautentzündung. Die Temperatur beträgt 37,6°C. »Virusinfektion« sagt der Hausarzt. Anke liegt auf dem Sofa, hört ein bisschen Musik und fühlt sich eigentlich ganz wohl. Sie darf sich wünschen, was sie mittags essen will: Nudeln mit Tomatensauce. Vor dem Essen liegt der Blutglukosewert bei 150 mg/dl. Sie will aber nur 3 KE Nudeln essen, später vielleicht noch 1 KE Obst. Dafür benötigt sie 4 I.E. Prandialinsulin. Sie trinkt auch noch etwas Mineralwasser. Eine Stunde nach dem Essen beträgt der Blutzuckerwert 180 mg/ dl. Nicht schlecht, wenn man krank ist. Auch am Abend, während der Nacht und am folgenden Tag isst sie, was sie sich wünscht. Die Insulinanpassung funktioniert fast so gut wie immer. Dass auch mal Blutglukosewerte bis 240 mg/dl auftreten, stört weder Anke noch ihre Mutter, denn Anke hat ja einen Infekt.

. Abb. 11.29 Beispiel Anke (Insulindosierungsbogen)

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. Abb. 11.30 Beispiel Anke (Stoffwechselübungsbogen)

In . Abb. 11.31 und 11.32 ist das Tagesbeispiel für eine schwerere akute Infektion dargestellt. > Kai ist 9 Jahre. Es hat ihn ganz schön erwischt. Er liegt mit einer eitrigen Angina im Bett. Am Kieferwinkel rechts und links hat er schmerzhafte Schwellungen. Beim Schlucken tut alles weh. Das Fieber steigt auf Werte über 39°C. Nach einem Paracetamol-Zäpfchen sinkt es auf 38,2° C, aber 2 h später liegt die Temperatur wieder über 39°C. Er fühlt sich schlapp und müde, mag nichts hören und sehen und schläft viel. Der Hausarzt hat ihm ein Antibiotikum verordnet. Der Appetit ist gleich Null. Kai mag nur Trinken. Der Blutzuckerspiegel ist hoch, ständig Werte über 200 mg/dl. »Das liegt am Stress«, sagt seine Mutter, denn Kai isst nicht viel. Die Mutter injiziert morgens dieselbe Basalinsulindosis wie immer, 2 I.E. Wenn Kai gesund ist, erhält er zum Frühstück 3 KE, in der Schule um 9.00 Uhr noch 2 KE, um 11.00 Uhr weitere 2 KE. Jetzt versucht seine Mutter, ihm etwas weniger, nämlich insgesamt 5 KE in Form von Getränken anzubieten. Sie stellt ihm einen Krug mit einem Liter Apfelsaft hin und sagt, dass er bis mittags mindestens die Hälfte nach und nach in kleinen Portionen trinken solle. Ein halber Liter Apfelsaft entspricht etwa 5 KE. Das akzeptiert er. Die Mutter entscheidet, für 4 KE 8 I.E. Prandialinsulin zu injizieren, außerdem noch 2 I.E. Korrekturinsulin, weil Kais Blutzuckerwert so hoch ist. Insgesamt spritzt sie morgens 10 I.E. Normalinsulin. Alle 2 h messen sie den Blutzuckerwert. Er soll nicht zu stark absinken. Die Werte schwanken zwischen 180 und 250 mg/dl. Kai staunt, wie gut er und seine Mutter mit dem Diabetes trotz der eitrigen Angina über die Runden kommen.

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. Abb. 11.31 Beispiel Kai (Insulindosierungsbogen)

. Abb. 11.32 Beispiel Kai (Stoffwechselübungsbogen)

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Verhalten bei Neigung zu niedrigen Blutglukosewerten. Die Stoffwechselsituation

kann für Kinder mit Diabetes gefährlich werden, wenn im Rahmen einer akuten Infektionskrankheit keine Nahrung mehr aufgenommen wird, Übelkeit und Erbrechen auftreten und noch Durchfall hinzukommt. Das kann bei allen Formen akuter Infekte vorkommen, v. a. aber bei Darminfektionen, d. h. bei akuten Durchfallserkrankungen. Bei akuten Infektionen mit Fieber werden Stresshormone ausgeschüttet, die den Blutglukosespiegel ansteigen lassen und zu einer Erhöhung des Insulinbedarfes führen. Solange das Kind weiter Nahrung zu sich nimmt, muss damit gerechnet werden, dass die Blutzuckerwerte erhöht sind. Im Urin wird kein oder nur wenig Azeton ausgeschieden. Man sollte in dieser Situation dafür sorgen, dass kein Insulinmangel auftritt. Anders ist es, wenn als Folge von Erbrechen und Durchfall keine Nahrung mehr aufgenommen wird, da jetzt ein Kohlenhydratmangel auftreten kann. Der Blutglukosespiegel sinkt. Um den Energiemangel auszugleichen, werden Triglyzeride abgebaut. Eine Hyperketonämie ist die Folge. Im Urin wird zunehmend Azeton ausgeschieden. Es ist jetzt wichtig, nicht nur häufige Blutglukosemessungen durchzuführen, sondern den Urin auf Azeton zu untersuchen. Bei Kohlenhydratmangel werden niedrige Blutglukosewerte gemessen, im Urin wird reichlich Azeton nachgewiesen. Da nicht nur ein Kohlenhydratmangel besteht, sondern durch Erbrechen und Durchfall auch große Mengen an Flüssigkeit und Salz verloren gehen, sollte das Kind möglichst viel trinken. In kleinen Portionen muss reichlich Flüssigkeit angeboten werden, die das enthält, was das Kind dringend benötigt: Glukose und Salze. Am besten geeignet sind Elektrolyt-Glukose-Lösungen (z. B. Oralpädon oder GES 60). Aber auch Tee mit Traubenzucker (2 Teelöffel pro 100 ml) oder eine Mischung aus Mineralwasser ohne Kohlensäure und Apfelsaft (1:1), der noch Glukose (1 Teelöffel pro 100 ml) und eine Prise Salz zugesetzt wird, können angeboten werden. Der Blutzuckerwert muss stündlich gemessen werden. Jede Urinportion muss auf Azeton untersucht werden. Beim Absinken der Blutzuckerwerte muss glukosehaltige Flüssigkeit getrunken werden, vor allem, wenn das Prandialinsulin bereits injiziert wurde. Wenn weiter niedrige Blutzuckerwerte auftreten, muss die nächste Prandialinsulindosis erheblich reduziert werden, um 30%, nicht selten sogar um 50%. Das Basalinsulin wird unverändert gespritzt. Es ist falsch, kein Insulin zu spritzen. Die Folge wäre ein kombinierter Kohlenhydrat- und Insulinmangel. Dabei besteht die Gefahr, dass sich eine Ketoazidose entwickelt. Hinweise dafür sind plötzlich stark ansteigende Blutglukosewerte und der ausgeprägte Nachweis von Azeton im Urin. Die Exsikkosezeichen (trockene Haut und Schleimhäute, trockene, belegte Zunge, rissige Lippen, halo-

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nierte Augen) nehmen zu, die Atmung ist beschleunigt und vertieft (Azidoseatmung). Wenn das Erbrechen unstillbar bestehen bleibt, unverändert durchfällige Stühle auftreten und keine Flüssigkeit mehr aufgenommen wird, muss das Kind in die Klinik gebracht werden. Symptome, die eine Klinikaufnahme notwendig machen 5 Stationäre Aufnahme bei: – unstillbarem Erbrechen, – ausgeprägter Azetonurie, Azetongeruch aus dem Mund (wie faule Äpfel), – steigenden Blutglukosewerten (über 300 mg/dl), – unverändert durchfälligen Stühlen, – zunehmenden Exsikkosezeichen, – beschleunigter und vertiefter Atmung, – drastischer Verschlechterung des Allgemeinzustandes, – großer Unruhe und Aufgeregtheit, erst recht bei Bewusstseinstrübung (Lethargie) oder Bewusstlosigkeit (Koma), – heftigen Leibschmerzen, – heftigen Kopfschmerzen.

Bei Kleinkindern unter 2 Jahren sollte der Zeitpunkt zur Klinikaufnahme früher gewählt werden als bei Schulkindern oder Jugendlichen. Je kleiner und jünger die Kinder sind, desto schneller dekompensieren der Flüssigkeits-, Elektrolyt- , Säure-Basen-Haushalt und Glukosestoffwechsel. Die Eltern sollten sich nicht scheuen, frühzeitig in der Kinderklinik anzurufen und sich beraten zu lassen. Sie sollten auch nicht zögern, ihr Kind in die Klinik zu bringen, wenn sie sich unsicher fühlen. Das gilt ganz besonders für die Eltern mit Kindern kurz nach der Diabetesmanifestation. In . Abb. 11.33 und 11.34 ist ein Tagesbeispiel für die Stoffwechselsituation bei einer akuten Durchfallserkrankung mit mittelgradiger Dehydratation dargestellt. > Sarah ist 6 Jahre alt. Morgens beim Aufstehen ist ihr übel. Beim Zähneputzen tritt heftiges Erbrechen auf. Sie hat wenig Appetit und fühlt sich schlapp. »Ich glaube, du wirst krank«, sagt ihre Mutter. Bevor sie den Blutzucker bestimmen kann, tritt Durchfall auf. Sarah staunt über die Flüssigkeitsmenge, die sie durch den Stuhl verliert. »Da haben wir die Bescherung«, sagt ihre Mutter. Der Blutzucker beträgt 160 mg/dl. Sonst würde Sarah 6 I.E. Prandialinsulin und 2 I.E. Basalinsulin injizieren. Ihre Mutter ist vorsichtig, denn sie weiß nicht, ob nicht noch häufiger Erbrechen auftreten wird. Darum spritzt sie nur 4 I.E. Prandial- und 2 I.E. Basalinsulin. Zum

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. Abb. 11.33 Beispiel Sarah (Insulindosierungsbogen)

9 10 11 12 13 14 15 16 17 . Abb. 11.34 Beispiel Sarah (Stoffwechselübungsbogen)

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Frühstück versucht Sarah, 2 KE Toastbrot zu essen, dazu trinkt sie 1 KE Apfelschorle. Aber 20 min nach dem Essen muss sie erneut brechen. Ihre Mutter stellt ihr einen Krug mit Tee ans Bett. Pro 100 ml enthält er 2 Teelöffel Traubenzucker und eine Prise Salz, d. h. 100 ml entsprechen 1 KE. In kleinen Schlückchen versucht Sarah, nach und nach den Tee zu trinken, denn sie weiß, dass der Blutzucker nicht absinken darf. Stündlich bestimmt sie den Blutzuckerwert. Er liegt bis 12.00 Uhr zwischen 120 und 200 mg/dl. Mittags mag Sarah immer noch nichts essen, darum injiziert ihre Mutter statt der üblichen 4 I.E. Prandialinsulin nur 2 I.E. und 1 I.E. Korrekturinsulin. Sarah versucht, etwas Wasserkartoffelbrei zu essen, aber nach 20 min erbricht sie wieder. Die Vorsicht ihrer Mutter war berechtigt. Etwas ängstlich wird ihre Mutter, als der Blutzucker gegen 16.00 Uhr unter 100 mg/dl absinkt. Darum versucht Sarah weiter Tee mit Traubenzucker in kleinen Schlückchen zu trinken. Bis zum Abend schafft sie ¼ l. Die Übelkeit lässt nach. Auch abends injiziert die Mutter weniger Insulin als sonst. Statt 4 I.E. Prandialinsulin nur 3 I.E. Zum Abendessen behält Sarah sogar ein Scheibe Toastbrot bei sich. Außerdem schafft sie noch fast ¼ l Apfelschorle. Die Blutglukosewerte liegen zwischen 100 und 200 mg/dl. Abends spät injiziert Sarah statt 5 I.E. Basalinsulin nur 4 I.E. Ihre Mutter ist vorsichtig. Sie will keine nächtliche Hypoglykämie riskieren. Weil sie am Tag viel geschlafen hat, ist Sarah lange wach, erst um 23.30 Uhr schläft sie ein. Während des ganzen Tages hat sie insgesamt 4-mal gebrochen und 6-mal dünnflüssigen Stuhl ausgeschieden. Sie sieht blass und elend aus. Sie hat kein Fieber. Aber ihre Haut ist trocken, die Zunge belegt. Die Augen sind haloniert. Sie hat tagsüber nur wenig Urin gelassen. Azeton war immer positiv. Am nächsten Morgen beträgt der Blutzuckerwert 180 mg/dl. Sarah hat Durst, ihr ist nicht mehr übel. Zum Frühstück injiziert sie wieder die verminderte Insulindosis. Sarah nimmt 2 Scheiben Toastbrot zu sich. Sie trinkt viel Tee mit Traubenzucker. Erbrechen tritt nicht mehr auf. Es geht deutlich besser. Mittags isst sie Nudeln, zum Nachtisch geriebenen Apfel, nachmittags Banane. Die Blutzuckerwerte liegen etwas höher, bis 250 mg/dl. Im Urin wird nachmittags kein Azeton mehr nachgewiesen. Zwei Tage bleibt Sarah noch zu Hause, dann ist die Durchfallserkrankung überstanden und sie kann wieder in den Kindergarten gehen.

In . Abb. 11.35 und 11.36 ist das Beispiel eines schweren Verlaufs einer akuten Durchfallserkrankung (Salmonellose) dargestellt, aus der sich eine diabetische Ketoazidose entwickelt. > René ist 6 Jahre alt. Am Morgen wacht er mit Bauchschmerzen auf, ihm ist übel und er fühlt sich heiß an. Der Blutzucker beträgt 280 mg/dl, im Urin ist Azeton noch negativ. Er hat Fieber, 39,2°C. René muss heftig erbrechen, als er sich im Bett aufrichtet. Wenig später entleert er eine große Menge dünnflüssigen Stuhl. Seine Mutter kommt kaum zur Ruhe. Während sie in der Küche Tee zubereitet, muss René schon wieder brechen. Den Tee mit Traubenzucker, den seine Mutter

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. Abb. 12.35 Beispiel René (Insulindosierungsbogen)

9 10 11 12 13 14 15 16 17 . Abb. 12.36 Beispiel René (Stoffwechselübungsbogen)

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ihm anbietet, mag René kaum anrühren, so übel ist ihm. Wie viel Insulin sollen sie spritzen? Sonst erhält er 6 I.E. Prandialinsulin und isst normalerweise 3 KE und später 1 KE. An Essen ist jedoch nicht zu denken. Ob er den Tee bei sich behalten wird? Seine Mutter entscheidet sich, nur 2 I.E. Basalinsulin und 2 I.E. Normalinsulin als Korrektur zu spritzen. Sie hat Angst, dass eine Hypoglykämie auftreten könnte, wenn sie mehr injiziert und er nichts bei sich behält. Sie hat recht. Der Blutzuckerwert sinkt ab: Um 9.00 Uhr 180 mg/dl, um 11.00 Uhr 110 mg/dl. Immer wieder muss René erbrechen. Dünnflüssiger Stuhl wird entleert. Im Urin wird ab 10.00 Uhr viel Azeton ausgeschieden. Renés Haut ist trocken, die Lippen sind rissig. Mit großen Augen sieht er seine Mutter an. Sie telefoniert mit dem Hausarzt, der sagt, sie solle René lieber in die Klinik bringen. Die Gefahr sei groß, dass sich eine Ketoazidose entwickelt. René wird immer stiller, er wirkt sehr ernst, seine Atmung ist beschleunigt und vertieft. Obwohl er keine Flüssigkeit bei sich behält, steigt der Blutzucker mittags auf 320 mg/dl. Er hat keinen Urin mehr gelassen und riecht nach Azeton aus dem Mund. Am Nachmittag bringt ihn seine Mutter in die Klinik. René erhält sofort eine Tropfinfusion. Die Infusionslösung enthält alles, was er in dieser Situation braucht: Flüssigkeit, Elektrolyte, Glukose und Insulin (7 Kap. 13). Nach 12 h sieht er wieder besser aus. Zwei Tage lang erhält er eine Infusion, denn der Durchfall wird kaum weniger. Er leidet fast 2 Tage lang unter Bauchschmerzen. Das Fieber geht auch erst nach zwei Tagen zurück. Die Ärzte haben seine Stoffwechselsituation gut im Griff. Die Blutzuckerwerte liegen zwischen 120 mg/dl und 200 mg/dl. Im Stuhl sind Salmonellen nachgewiesen worden. Eine Woche bleibt René in der Klinik. René hat sehr schnell eine Ketoazidose entwickelt. Nicht nur der Insulin- und Kohlenhydratmangel, sondern auch der Flüssigkeits- und Salzverlust durch Erbrechen und Durchfall haben die schwere diabetische Stoffwechselentgleisung herbeigeführt.

Zusammenfassung Die Insulindosierungs- und Stoffwechselübungsbögen haben sich als wichtige Hilfe bei der Bewältigung schwieriger Stoffwechselsituationen bewährt. Mit ihrer Hilfe können die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen eines Tages rekonstruiert und bei ambulanten Vorstellungen mit dem behandelnden Arzt erörtert werden

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11.9

Lokale Nebenwirkungen der Insulintherapie

)) Insulinallergie und Insulinresistenz sind heute sehr selten auftretende Nebenwirkungen der Insulintherapie bei Kindern und Jugendlichen. Die Necrobiosis lipoidica ist eine seltene, therapieresistente Hautveränderung, die nach jahrelanger Diabetesdauer auftreten kann. Lipodystrophien (Lipome und Lipoatrophien) sind nach Einführung der hochgereinigten Humaninsuline und der Insulinanaloga sehr selten geworden. Ausgeprägte Formen werden heute nicht mehr gesehen. Die »Limited Joint Mobility« (LJM), die früher als Cheiroarthropathie bezeichnet wurde, wird bei langfristig unzureichend behandelten Patienten beobachtet.

6 11.9.1 Insulinallergie und Insulinresistenz

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! Allergische Hautreaktionen im Bereich der Injektionsstellen können durch Insulin selbst ausgelöst werden, häufiger jedoch durch Depotstoffe (z. B. Zinkchlorid, Zinkazetat, Amino-quinurid-2-HCI (Surfen), Protaminsulfat), Konservierungsmittel (Kresol, Phenol, Methyl-4-hydroxybenzoat) und Desinfektions- und Reinigungsmittel, die der Säuberung der Haut oder der Spritzen und Kanülen dienen.

Moderne Trennverfahren haben ergeben, dass der Pankreasextrakt neben Insulin vom Sanger-Typ weitere unterschiedlich antigen wirkende Komponenten enthält (z.B. Proteine des exokrinen Pankreas, Proinsulin, Insulindimere, Intermediärinsuline, insulinähnliche Verbindungen, Amidoinsuline, Arginininsuline). Die Bemühungen der Industrie, möglichst hochgereinigte Insulinpräparate herzustellen, denen insulinähnliche Begleitproteine und exokrine Pankreasproteine fehlen, haben dazu geführt, dass die Häufigkeit allergischer Insulinreaktionen so sehr zurückgegangen ist, dass sie im klinischen Alltag keine Rolle mehr spielen. Die Immunogenität hängt auch von den Speziesunterschieden der Insuline ab (Rind, Schwein, Mensch). Da heute fast ausschließlich Humaninsulinpräparate oder Insulinanaloga verwendet werden, treten immunologische Nebenwirkungen praktisch nicht mehr auf. Schließlich kann die Applikationsweise der Injektion eine allergische Reaktion hervorrufen. Solange Insulinpräparate subkutan appliziert werden, muss daher prinzipiell mit lokalen Nebenwirkungen gerechnet werden. Die Immunantwort des Organismus auf das durch die Insulininjektion zugeführte Antigen erfolgt auf zwei Wegen: zum einen können streng antigenspezifisch determinierte Lymphozyten gebildet werden, zum anderen humorale, im Blut zirkulierende Antikörper, die den IgG- und IgE-Immunklassen angehören.

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Die durch zelluläre Abwehrmechanismen vermittelte lokale Reaktion benötigt bis zu ihrer vollen Ausprägung 24–36 h. Sie wird daher als Reaktion vom Spättyp bezeichnet. Die durch humorale Antikörper verursachte Reaktion kann dagegen bereits nach 30 min auftreten und ist als Reaktion vom Soforttyp gekennzeichnet. Lokale Reaktion vom Spättyp Etwa 24 h nach Insulininjektion tritt im Bereich der Injektionsstelle ein derbes, rotes, meist juckendes Infiltrat von 2–4 cm Durchmesser auf, das sich an den folgenden Tagen noch vergrößern kann. Es bleibt 4–5 Tage bestehen und verschwindet dann langsam wieder. Die Reaktion vom Spättyp wird nie sofort nach der ersten Insulininjektion beobachtet, sondern erst 1–2 Wochen nach Therapiebeginn. Ganz selten treten schwerere allergische Reaktionen auf (z.B. generalisierte Urtikaria, Quincke-Ödeme, Gelenkschwellungen, anaphylaktischer Schock). Lokale Reaktion vom Soforttyp Bei dieser Form der Insulinallergie sind die Hauterscheinungen bereits 30 min bis 2 h nach der Insulininjektion nachweisbar. Rötung und Infiltration der Haut sind die klinischen Zeichen. Auch bei der Sofortreaktion können die oben beschriebenen, schweren allergischen Reaktionen einschließlich eines anaphylaktischen Schocks auftreten. Als Arthus-Phänomen bezeichnet man allergische Reaktionen vom Soforttyp, bei denen Nekrosen im Bereich der Injektionsstelle entstehen. Lokale allergische Reaktionen vom Soforttyp werden häufig erst Jahre nach Beginn der Insulintherapie beobachtet. Therapie der Insulinallergie ! Die beiden allergischen Reaktionsformen bedürfen in den meisten Fällen keiner Behandlung, da sie trotz fortgesetzter Insulintherapie verschwinden.

Bleibt die Neigung, auf Insulininjektionen mit einer allergischen Hautreaktion zu antworten, bestehen, muss herausgefunden werden, ob andere Ursachen als das Insulinpräparat in Frage kommen. Die Insulininjektionstechnik, die verwendeten Desinfektions- und Reinigungsmittel sowie die Sauberkeit des Patienten müssen überprüft werden. Erst wenn sich herausstellt, dass nur das Insulin selbst Ursache der Allergie sein kann, ist es angebracht, mit Hilfe einer Intrakutantestung ein Insulinpräparat zu finden, bei dem keine Hautreaktionen auftreten. Die Intrakutantestung wird am Rücken vorgenommen. Sofort und 15, 30, 60 min sowie 6, 12 und 24 h nach intrakutaner Insulininjektion wird das Ergebnis des Testes abgelesen. Die Testdosis beträgt bei lokalen Reaktionen vom Spättyp jeweils 0,4 I.E. Insulin (0,1 ml einer 1:10 verdünnten Insulinlösung), bei

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Reaktionen vom Soforttyp wegen der Gefahr eines analphylaktischen Schocks jeweils nur 0,04 I.E. Insulin (0,1 ml einer 1:100 verdünnten Insulinlösung). Zusammenfassung Allergische Hautreaktionen nach Insulingabe sind bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sehr selten geworden, da heute hochgereinigte Insulinpräparationen zur Verfügung stehen. Die allergischen Hauterscheinungen verschwinden meist nach wenigen Tagen ohne weitere therapeutische Maßnahmen. Nur extrem selten wird eine Intrakutantestung notwendig, um das Insulinpräparat zu finden, gegen das keine allergische Reaktion erfolgt.

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Insulinresistenz bei Typ-1-Diabetes Bei erwachsenen Patienten mit Typ-1-Diabetes wurde eine Insulinresistenz angenommen, wenn täglich mehr als 200 I.E. Insulin benötigt werden. Heute spricht man bereits von Insulinresistenz, wenn der Insulintagesbedarf an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen 100 I.E. überschreitet. Diese Definition kann nicht für Kinder uns Jugendliche gelten. Bei ihnen liegt eine Insulinresistenz vor, wenn täglich mehr als 2,5 I.E. Insulin pro kg Körpergewicht injiziert werden müssen. Eine Insulinresistenz tritt bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1Diabetes extrem selten auf. Wenn der Insulintagesbedarf bei einem Kind 1,5, bei einem Jugendlichen 2,0 I.E./kg KG überschreitet, sollte nach der Ursache der Überinsulinierung gefahndet werden. Eine durch Insulinantikörper bedingte verminderte Insulinansprechbarkeit spielt klinisch keine Rolle. Zahlreiche Untersuchungen der Konzentration und Avidität von Insulinantikörpern v. a. gegen Rinder- und Schweineinsulin zeigten, dass die Insulinwirksamkeit der verabreichten Insulinpräparate nicht beeinträchtig wurde. Als Ursachen für einen erhöhten Insulintagesbedarf kommen evtl. in Frage: 5 insulinantagonistische Hormone (z. B. Sexualhormone, Kortikoide, eher Wachstumshormon), 5 Ernährungsfehler, 5 Hyperlipoproteinämien, 5 Exsikkose und 5 akute und chronische Infekte.

16 Zusammenfassung 17

Am häufigsten liegt bei einem extrem hohen Insulintagesbedarf bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes eine iatrogen- oder patientenverursachte Überinsulinierung vor.

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11.9.2 Veränderungen der Haut und Subkutis Bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die eine zufriedenstellende Stoffwechseleinstellung aufweisen, ist die Prävalenz von Haut- und Schleimhautinfektionen nicht erhöht. Nur bei sehr schlechter Stoffwechseleinstellung können gehäuft Hautinfektionen mit pyogenen Keimen und Pilzen auftreten (z. B. Follikulitiden, Furunkel, Candidiasis, Intertrigo). Von diesen unspezifischen Hautinfektionen müssen diabetesspezifische Haut- und Unterhautveränderungen abgegrenzt werden (z. B. Necrobiosis lipoidica, Lipodystrophie). Necrobiosis lipoidica Unabhängig von der Dauer des Typ-1-Diabetes und der Qualität der Stoffwechseleinstellung treten bei Jugendlichen Läsionen der Haut auf, die als Necrobiosis lipoidica bezeichnet werden. Die Prävalenz wird mit 0,3% angegeben, Mädchen sind 4- bis 5-mal häufiger betroffen als Jungen. Die Ätiopathogenese ist vollkommen unklar. Bei der Necrobiosis lipoidica handelt es sich um eine atrophische Dermatitis, die meist im Bereich des Schienbeins auftritt, häufig auch beidseitig (. Abb. 11.37). Aus kleinen rundlichen, rötlich gefärbten Papeln entwickeln sich größere scharf begrenzte Plaques mit einem Durchmesser zwischen 2 und 6 cm. Das Zentrum der Plaques ist durchsichtig, sodass Fettgewebe gelblich durchscheint. Die Haut glänzt spiegelartig und ist von Teleangiektasien durchzogen.

. Abb. 11.37 Necrobiosis lipoidica bei einem 14 Jahre alten Mädchen mit Typ1-Diabetes (Schienbein)

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In etwa einem Drittel der Fälle kommt es zu Ulzerationen, meist durch Traumata oder mechanischen Manipulationen. Eine erfolgreiche spezifische Therapie dieser lästigen, kosmetisch unangenehmen Komplikation ist nicht bekannt. Wichtig ist der Schutz vor Traumatisierungen der betroffenen Hautareale. Lipodystrophien ! Immer wieder müssen die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern darauf hingewiesen werden, dass die Insulininjektionsstellen gewechselt werden müssen. Der Abstand der Injektionsstellen voneinander sollte mindestens 1,5–2,0 cm betragen.

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Nicht wenige Kinder injizieren mit Vorliebe in einen eng begrenzten Hautbezirk von 1–2 cm2. Ein solcher Bezirk wird im Laufe der Zeit weniger schmerzempfindlich. An Orten gehäufter Insulininjektionen können Veränderungen des subkutanen Fettgewebes auftreten, die als Lipodystrophien bezeichnet werden (. Abb. 11.38). Handelt es sich um Mehrbildungen des Fettgewebes, die als deutlich sichtbare Vorwölbungen imponieren, so werden sie Lipome oder Lipohypertrophien genannt. Bei Atrophien des Fettgewebes, die zu tiefen Mulden führen können, spricht man von Lipoatrophien. Die Genese der Lipodystrophien ist nicht bekannt. Lipodystrophien sind bei Jungen seltener als bei Mädchen, bei Erwachsenen seltener als bei Jugendlichen. Sie führen manchmal zu kosmetischen Problemen. Die Einführung hochgereinigter Humaninsulinpräparate hat die Häufigkeit und Ausprägung der Lipodystrophien deutlich vermindert. Trotzdem sollten die Injektionsstellen regelmäßig inspiziert werden, damit Lipodystrophien als Ursache verminderter Insulinabsorption und Insulinwirkung identifiziert werden können. Die durch Lipodystrophien verursachte Verminderung der Insulinwir-

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. Abb. 11.38 Lipodystrophie. a Lipom; b Lipoatrophie

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kung kann zu einer Insulinüberdosierung führen. Bei Injektion der erhöhten Insulindosis in lipodystrophiefreie Bezirke können schwere Hypoglykämien die Folge sein. Die Therapie der Lipodystrophien ist einfach. Sie besteht darin, dass auf andere Injektionsareale ausgewichen wird und die veränderten Stellen in Ruhe gelassen werden. Allerdings dauert es oft Monate, bis Lipome und Lipoatrophien vollständig verschwunden sind. 11.9.3 Veränderungen der Gelenke Die häufigste bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes auftretende Gelenkveränderung ist die Cheiroarthropatie, die heute als »Limited Joint Mobility« (LJM) bezeichnet wird. Andere diabetesasssoziierte Gelenkerkrankungen kommen bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes praktisch nicht vor. LJM (Cheiroarthropathie) 1974 wurde erstmalig bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes die schmerzlose Einschränkung der Beweglichkeit in den Gelenken beschrieben, die zunächst als Cheiroarthropathie bezeichnet wurde. Dieser Begriff wird heute nicht mehr verwendet. Er ist durch die Bezeichnung »Limited Joint Mobility« ersetzt worden, da es sich nicht um Veränderungen der Gelenke, sondern des Weichteilmantels handelt und die Komplikation nicht nur auf die Handgelenke beschränkt ist. Ursächlich liegen der LJM Veränderungen der kollagenen Strukturen des Bindegewebes zu Grunde. Sie werden biochemisch auf die »Advanced Glycosylated Endproducts« (AGE) und die dadurch bedingten Quervernetzungen des Kollagens zurückgeführt. Zunächst kommt es zu einer Einschränkung der Beweglichkeit des Metakarpophalangeal- und proximalen Interphalangealgelenkes des kleinen Fingers. Die Veränderungen schreiten fort und können alle Fingergelenke, das Handgelenk, später auch die Ellenbogen- und Schultergelenke sowie die Hals- und Brustwirbelsäule betreffen. Die Unfähigkeit, die Hand in den Fingergelenken zu strecken, ist leicht zu prüfen (Bethaltung der Hände, Handabdruck mit Stempelfarbe; . Abb. 11.39). Die LJM manifestiert sich meist zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr. Die Häufigkeitsangaben schwanken bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zwischen 9 und 30% und hängen von der Diabetesdauer und Qualität der Stoffwechseleinstellung ab. Der Schweregrad der LJM korreliert direkt mit der Häufigkeit und dem Schweregrad mikrovaskulärer Folgeerkrankungen. Eine spezielle kausale Therapie gibt es nicht.

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. Abb. 11.39 »Limited Joint Mobility« (LJM; Cheiroarthropathie) bei einem 16 Jahre alten Jungen (Diabetesdauer 14 Jahre). a Handabdruck mit Stempelfarbe; b Bethaltung, maximal mögliche Streckung der Fingergelenke

Andere diabetesassoziierte Gelenkveränderungen Bei Erwachsenen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes sind differentialdiagnostisch andere diabetesassoziierte Gelenkerkrankungen abzugrenzen (Dupuytren-Kontraktur, Karpaltunnel-Syndrom, Flexor tenosynovitis, »Stiff Hand Syndrome«, Schulter-Hand-Syndrom), die bei den meisten Patienten nach jahrzehntelanger Diabetesdauer auftreten und zu einer Einschränkung der Lebensqualität führen können. Literatur AGPD (Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie; Heidtmann B, Ziegler R, Beyer P et al.) (2004) Statement: Insulinpumpentherapie (CSII) bei Kindern und Jugendlichen mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus. Diabetes Stoffw 14: 62–63 DeWitt DE, Hirsch IB (2003) Outpatient insulin therapy in type 1 and type 2diabetes mellitus. JAMA 289: 2254–2264 Diabetes-Leitlinie DDG Pädiatrie (2004) Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. Diabetes Stoffw 13: 37–47 Dunger DB, Edge JA (1995) Glucose homeostasis in the normal adolescent. In: Kelnar CJH (ed) Childhood and adolescent diabetes. Chapman & Hall, London, pp 31–45

Literatur

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Diabetische Ketoazidose 12.1

Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels

)) Unmittelbar nach Manifestation eines Typ-1-Diabetes werden niedrig-normale oder eindeutig verminderte Insulinspiegel im Plasma nachgewiesen. Die Stimulation der Insulinsekretion durch Nahrungszufuhr oder orale bzw. i.v.-Gaben von Glukose, Aminosäuren, Ketonkörpern, 323gastrointestinalen Hormonen oder Sulfonylharnstoff ist vermindert oder bleibt ganz aus. Der Typ-1-Diabetes ist daher durch einen zunächst partiellen, später absoluten Insulinmangel gekennzeichnet. Die wichtigsten Konsequenzen des Insulinmangels sind Hyperglykämie und Hyperketonämie, die erhebliche Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts zur Folge haben.

12.1.1 Hyperglykämie und Hyperketonämie ! Bei Insulinmangel sind die vielfältigen anabolen Wirkungen des Hormons auf molekularer Ebene gestört. Der für das Stoffwechselgleichgewicht wichtige Insulin-Glukagon-Antagonismus ist zu Gunsten des katabol wirkenden Glukagons verschoben. Am Ende einer langen Kette von pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels stehen die beiden Leitsymptome des Typ-1Diabetes: Hyperglykämie und Hyperketonämie.

Insulinmangel und Muskelgewebe Bei Insulinmangel ist in der Muskulatur der Membrantransport von Glukose in die Zelle vermindert. Dadurch ist die intrazelluläre Glukose-Utilisation reduziert. Sowohl der anaerobe (Glykolyse) wie der aerobe Abbau von Glukose (Krebs-Zyklus) ist gestört und die Energiebereitstellung dadurch herabgesetzt. Glukagon aktiviert die Phosphorylase, Insulin hemmt sie. Durch die Dominanz der Glukagonwirkung bei Insulinmangel ist die Glykogenolyse mit Bildung von Glukose-1-Phosphat gesteigert. Durch Stimulation der Lipolyse ist die Konzentration von freien Fettsäuren im Blut erhöht. Deren Einstrom in die Mitochondrien der Muskelzellen ist durch die vermehrte Bildung von Acylcarnitin gesteigert. Fettsäuren stehen

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daher der Muskulatur bei Insulinmangel für die Energiegewinnung vermehrt zur Verfügung. Die Proteinsynthese ist bei Insulinmangel gehemmt, die Proteolyse im Muskelgewebe dagegen erhöht. Der Ausstrom von Aminosäuren aus den Muskelzellen ist vervielfacht. Aminosäuren stehen für die Glukoneogenese in der Leber vermehrt zur Verfügung. Insulinmangel und Fettgewebe Der Membrantransport von Glukose in die Adipozyten ist ebenfalls gehemmt. Durch Verminderung der Glykolyserate ist der Abbau von Glukose mit Karboxylierung von Acetyl-CoA zu Malonyl-CoA gehemmt. Malonyl-CoA steht als Ausgangssubstrat der Fettsäuresynthese vermindert zur Verfügung. Die Lipogenese ist dadurch deutlich reduziert. Glukagon stimuliert über die cAMP-abhängige Proteinkinase die Lipaseaktivität und steigert damit die Lipolyse. Glycerin und Fettsäuren werden vermehrt an den Kreislauf abgegeben. Glycerin wird als Substrat für die Glukoneogenese in der Leber bereitgestellt. Die Fettsäuren werden zu Fettsäure-Acyl-CoA abgebaut und mit Hilfe von Acylcarnitin in die Mitochondrien transportiert, um dort oxydiert zu werden. Insulinmangel und Leber Die Glykogensynthese wird in der Leber wie in der Muskulatur durch den Insulinmangel gehemmt, während die Glykogenolyse durch die vermehrte Glukagonwirkung gesteigert abläuft. Daneben wird Glukose in der Leber durch die bei Insulinmangel deutlich gesteigerte Glukoneogenese vermehrt bereitgestellt. Substrate stehen für die Glukoseneubildung reichlich zur Verfügung: 5 Laktat durch die verminderte Glukoseoxidation, 5 Aminosäuren durch die gesteigerte Proteolyse und 5 Glycerin durch die stimulierte Lipolyse. Das erhöhte Angebot von freien Fettsäuren führt in der Leber ebenfalls zu gesteigerter Fettsäure-Acyl-CoA-Bildung. Die aktivierten Fettsäuren werden in die Mitochondrien der Hepatozyten aufgenommen und können dort für die Energiegewinnung oxidiert oder im Hydroxymethylglutaryl-Zyklus zu E-Hydoxybuttersäure bzw. Acetessigsäure umgewandelt werden. Die Ketogenese ist bei Insulinmangel deutlich gesteigert.

12.1 · Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels

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Zusammenfassung Die wichtigsten Konsequenzen einer verminderten Insulin- und verstärkten Glukagonwirkung sind die verminderte Glukose-Utilisation, die gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneogenese mit vermehrter Bereitstellung von Glukose, weiterhin die gesteigerte Lipolyse mit erhöhtem Angebot von Fettsäuren, die teils oxidiert, teils zu Ketonen umgewandelt werden, schließlich die gesteigerte Proteolyse mit erhöhtem Anfall von Aminosäuren als Substrat für die Glukoneogenese. Hyperglykämie und Hyperketonämie sind die wesentlichen pathophysiologischen Konsequenzen des Insulinmangels. Die wichtigsten Konsequenzen einer verstärkten Insulin- und verminderten Glukagonwirkung sind dagegen die vermehrte Glukose-Utilisation, die gesteigerte Glykogensynthese bei verminderter Glykogenolyse, die blockierte Glukoneogenese mit verminderter Bereitstellung von Glukose, weiterhin die gesteigerte Lipogenese bei verminderter Lipolyse mit reduziertem Anfall von Fettsäuren und blockierter Ketogenese, die gesteigerte Proteinsynthese bei reduzierter Proteolyse und vermindertem Anfall von Aminosäuren als Substrat für die Glukoneogenese.

12.1.2 Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts ! Hyperglykämie und Hyperketonämie haben weitreichende Konsequenzen für den Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt.

Hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums Unter physiologischen Bedingungen herrscht im Plasma-, Extrazellulär- und Intrazellulärraum der gleiche osmotische Druck. Die Osmolalität beträgt durchschnittlich 285 Milliosmol (mosmol)/kg Wasser. Steigende Glukosekonzentrationen im Blut und in der extrazellulären Flüssigkeit verursachen eine Erhöhung der Osmolalität, d. h. eine Hyperosmolalität. 1 Millimol (mmol) Glukose wiegt 180 mg. Die Erhöhung des Blutglukosespiegels um 180 mg/l bzw. 18 mg/dl steigert die Osmolalität daher um 1 mosmol von 285 auf 286 mosmol/kg Wasser. Ein Blutglukoseanstieg von 80 mg/dl auf 440 mg/dl, wie er bei Diabetes nicht selten beobachtet wird, lässt die Osmolalität um 20 mosmol von 285 auf 305 mosmol/kg Wasser ansteigen. Eine Hypertonizität des Blutes und der extrazellulären Flüssigkeit ist die Folge. Um einen Konzentrationsausgleich zwischen Extra- und Intrazellulärraum zu erreichen, tritt intrazelluläre Flüssigkeit in den Extrazellulärraum über. Es kommt zu einer osmotischen Flüssigkeitsbewegung aus dem Intra- in den Extrazellulärraum. Hieraus resultiert eine hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums mit Verminderung des Zellvolumens.

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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose

Die Hirnzellen besitzen einen besonderen Mechanismus, um sich vor dem hypertonen Wasserentzug zu schützen. Sie können innerhalb kurzer Zeit die intrazelluläre Osmolalität durch die Aufnahme oder Freisetzung niedermolekularer Substanzen (»idiogenic osmols«: Natrium und Aminosäuren) erhöhen. Dadurch kann Wasser intrazellulär – selbst gegenüber einem hypertonen Extrazellulärraum – zurückgehalten werden. Eine ausgeprägtere Hirnschrumpfung, die zu Gefäßabrissen und Blutungen führen könnte, wird dadurch verhindert. Reicht dieser Schutzmechanismus nicht aus, z. B. bei dem schweren Verlauf einer diabetischen Ketoazidose, so können durch die Exsikkose der Hirnzellen zerebrale Symptome auftreten (Unruhe, Irritabilität, Bewusstseinstrübung bis Bewusstlosigkeit/Koma und Krämpfe). Der durch den Ausstrom von Wasser aus dem Intrazellulärraum bewirkte Verdünnungseffekt trägt mit zur Verminderung der Elektrolytkonzentration der extrazellulären Flüssigkeit und des Blutes bei. Dabei ist zu bedenken, dass auch durch andere Faktoren Veränderungen der Elektrolytkonzentration bei Insulinmangel verursacht werden können. Um den durch gesteigerte Glykogenolyse und Proteolyse bedingten Kaliumverlust der Zellen auszugleichen, dringt z. B. vermehrt Natrium vom Extra- in den Intrazellulärraum ein. Andererseits kommt es durch die vorübergehende Hypervolämie zu einem Absinken der Aldosteronsekretion in der Nebennierenrinde und damit zu einem verstärkten Natriumchloridverlust durch die Nieren. Hypertone Dehydratation des Extrazellulär- und Plasmaraums Die Glomerula der Nieren sind für Glukose durchlässig, so dass Glukose in den Primärharn übertritt. Unter physiologischen Bedingungen resorbieren die proximalen Nierentubuli jedoch fast die gesamte filtrierte Glukose aus dem Primärharn zurück. Im Endharn sind daher nur winzige Spuren von Glukose nachweisbar. Diese basale Glukosurie liegt zwischen 2 und 15 mg/dl. Die tubuläre Rückresorptionskapazität der Niere ist jedoch nicht unbegrenzt. Sie beträgt maximal etwa 350 mg Glukose/min und wird als maximale tubuläre Rückresorption für Glukose (TmG) bezeichnet. Bei einer Glukosekonzentration ab 140–180 mg/dl wird die Rückresorptionskapazität einzelner Nierentubuli bereits überschritten, so dass Glukose nicht mehr vollständig rückresorbiert und in steigender Menge im Endharn ausgeschieden wird. Den individuell unterschiedlichen Grenzwert zwischen 140 und 180 mg/dl bezeichnet man als Nierenschwelle für Glukose. Bei hoher Glukosekonzentration im Primärharn wird auch die tubuläre Rückresorptionskapazität für Wasser stark eingeschränkt. Zum einen nimmt die Harnströmungsgeschwindigkeit in den Tubuli stark zu, zum anderen werden Wasser und Salze im Harn osmotisch zurückgehalten. Das Konzentrationsvermögen der Niere, das unter physiologischen Bedingungen maximal 1.400 mosmol/kg Wasser beträgt, übersteigt bei ausgeprägter Glukosurie selten

12.1 · Pathophysiologische Konsequenzen des Insulinmangels

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600–800 mosmol. Dadurch werden mit dem Urin große Flüssigkeits- und Elektrolytmengen (insbesondere Natrium und Chlorid) ausgeschieden. Es kommt zu einer erheblich gesteigerten osmotischen Diurese, d. h. in einem 2. Schritt auch zu einer hypertonen Dehydratation des Extrazellulär- und Plasmaraums. Durch die ausgeprägten Flüssigkeits- und Elektrolytverluste kann sich ein hypovolämischer Schock entwickeln. Metabolische Azidose Die gesteigerte Ketogenese in der Leber, mit einem vermehrten Anfall von bHydroxybuttersäure und Acetessigsäure, führt zu einer ausgeprägten metabolischen Azidose, da Ketone starke Säuren sind und daher zu einer starken Wasserstoffbelastung der Körperflüssigkeiten führen. Die metabolische Azidose ist durch folgende Befunde gekennzeichnet. Der pH-Wert des Blutes, der unter physiologischen Bedingungen zwischen 7,36 und 7,48 liegt, sinkt unter 7,30 ab. pH-Werte unter 7,0 werden bei diabetischer Ketoazidose nicht selten gemessen. Bikarbonatwerte weit unter 15 mÄq/l sind die Regel. Das Basendefizit kann deutlich über 15 mÄq/l liegen. Um den vermehrten Anfall von Säureäquivalenten im Plasma auszugleichen, wird die Abgabe von Kohlendioxyd (CO2) durch die Lungen gesteigert. Eine hochfrequente, vertiefte Atmung (Kussmaul- oder Azidoseatmung) ist die Folge. Daher ist der CO2-Druck im Blut (pCO2), der normalerweise um 40 mmHg liegt, deutlich vermindert (Hypokapnie). Die Rückresorption von Ketonkörpern durch die Niere ist gering, so dass sie schon bei relativ geringgradiger Ketonämie im Urin erscheinen. Sie werden an ein Kation gebunden (zunächst Natrium und Kalium, später Ammonium) ausgeschieden und verstärken daher bei diabetischer Ketoazidose den Elektrolytverlust. Zusammenfassung Die wichtigsten Konsequenzen der Hyperglykämie und Hyperketonämie sind die hypertone Dehydratation des Intrazellulärraums mit der Gefahr der Entwicklung einer Hirnexsikkose (Coma diabeticum), die gesteigerte osmotische Diurese, die zu einer hypertonen Dehydratation auch des Extrazellulär- und des Plasmaraums mit ausgeprägten Glukose-, Elektrolyt- und Flüssigkeitsverlusten durch die Niere führt, die einen hypovolämischen Schock zur Folge haben kann sowie die metabolische Azidose (diabetische Ketoazidose).

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Kapitel 12 · Diabetische Ketoazidose

12.2

Klinik der diabetischen Ketoazidose

! Die biochemischen Kriterien für die Diagnose einer Ketoazidose sind eine ausgeprägte Hyperglykämie (Blutglukosewerte über 200 mg/dl) und ein venöser pH-Wert