Kommunikation 3379201197

Wie ist Kommunikation möglich, wenn die Gedanken eines jeden Menschen in seiner Brust verschlossen sind, fragt die europ

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Kommunikation
 3379201197

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Alles ist Kommunikation, doch wie ist Kommunikation möglich? Diese Beobachtung und diese Frage markieren die Pole, zwischen denen der Begriff

Kommunikation oszilliert. Wesentlich für Kommunikation ist, dass sie auf einer Differenz beruht: zwischen dem Individuum und seinem Bewusstsein auf der einen Seite und der

Gesellschaft auf der anderen. Das, was ein Individuum wahrnimmt, ist stets etwas anderes als das, was es »zum Ausdruck« bringt. In der europäischen Tradition wurde die Kunst des Redens immer wieder als »bloßes Reden« verdächtigt. Das Tiefe und Wahre, so glaubt man, hat nur der verstanden, der schweigt. Doch wir sind auf Kommunikation angewiesen; es gibt keine Welt ohne ihre Beobachtung in den Augen der anderen. Dirk Baecker, geboren 1955, ist Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Buchpublikationen u. a.: Wozu Systeme?, 2002; Vom Nutzen ungelöster Probleme (mit Alexander Kluge), 2003; Wozu Soziologie?, 2004.

Grundwissen Philosophie

Kommunikation von

Dirk Baecker

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:

Prof. Dr. Hartmut Böhme Prof. Dr. Detlef Horster PD Dr. Geert Keil Prof. Dr. Ekkehard Martens Prof. Dr. Barbara Naumann Prof. Dr. Herbert Schnädelbach Prof. Dr. Ralf Schnell Prof. Dr. Franco Volpi

Besuchen Sie uns im Internet:

www.reclam.de © Reclam Verlag Leipzig, 2005 Reclam Bibliothek Leipzig, Band 20119 1. Auflage, 2005 Reihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele Burde Foto auf der Umschlagrückseite © Klaudia Taday Gesetzt aus ITC Slimbach Satz: Reclam Verlag Leipzig Druck und Bindung: Reclam, Ditzingen Printed in Germany ISBN 3-379-20119-7

Inhalt

Der Verdacht 7

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Die ästhetische Fragestellung

Das Geschmacksurteil 26 Wie ist eine Mitteilung möglich?

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Die Sprache 33 Theologie und Rhetorik Das Individuum 40 Schrift und Buchdruck 43 Paradox der Inkommunikabilität 46 Die Erfahrung eines Widerstands 50 Die soziale Dimension 52 Der Kontext der Kommunikation 56 Kommunikation als Selektion 61 Kommunikation als Form 68 Kommunikation als Differenz 73

Therapie im System 84 Medien der Kommunikation 90 Attribution und Codierung 95 Zusammenfassung und Ausblick 98

Anmerkungen 100 Kommentierte Bibliografie 104

Schlüsselbegriffe 113 Zeittafel 117

Dank 120

Der Verdacht

Es ist nicht selbstverständlich, im Rahmen einer philosophi-

schen Einführung das Thema Kommunikation zu behandeln. Auf den ersten Blick ist der Begriff der Kommunikation kein philosophischer Begriff. Schaut man auf die klassische EinteiJung der Philosophie in Ontologie und Metaphysik, Logik und Erkenntnistheorie sowie Ethik und Asthetik, wird man vergeblich nach einer Seinslehre, einer Erkenntnislehre oder einer Lehre vom Guten und Schönen der Kommunikation Ausschau halten. Betrachtet man die aristotelische Unterscheidung von theoretischer, praktischer und poetischer Philosophie, gilt für alle drei Felder des Seienden (Mathematik, Physik, Metaphysik), der Veränderung (Ethik, Politik) und des Hervorbringens (Poetik, Ökonomik), dass von Kommunikation in den großen alten Texten der Philosophie keine Rede ist. Oder doch? Auf den zweiten Blick muss man sich eingestehen, dass das Wort »communicatio« mindestens lateinischer Herkunft ist und die Sache (»communicatio«, lat. = Mitteilung, Gewäh-

rung, Verbindung, Austausch, Verkehr, Umgang, Gemeinschaft) sicher so alt wie die Menschheit selbst. Aber nicht nur

das. Auch als Gegenstand philosophischen Nachdenkens steht Kommunikation, spätestens seit Platons großem Dialog Sophistes zwischen Theaitetos und einem Fremden in einem Zentrum jeden Strebens nach Erkenntnis. Doch dieses Zentrum hat einen merkwürdigen Status. Es liegt ein Verdacht auf der Kunst des menschlichen Redens. Seit man, so zumindest in der alteuropäischen Tradition, über das Reden nachdenkt, liegt die Abwertung des Redens zum »bloßen Reden« nie fern, scheinen die eigentlichen Bedingungen einer möglichen Einsicht in das Wahre, Gute und Schöne immer erst dann gegeben zu sein, wenn der Mensch schweigt. Der Dialog Sophistes wendet diesen Verdacht hin und her, immer aufs Neue um die Be-

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obachtung kreisend, dass man demjenigen, der sich überzeugend auszudrücken versteht, schon deswegen mit Skepsis begegnet. Es unterliegt keinem Zweifel, dass man reden muss, um einen Sachverhalt von allen Seiten zu prüfen. Fraglich erscheint allerdings, ob man dabei zu einem Ergebnis kommen kann, dem man trauen kann. Warum das so ist, ist auch ziemlich deutlich. Platons Höhlen-

gleichnis im Dialog Politeia hat auch dies auf den Punkt gebracht: Einsicht in das Wahre, Gute und Schöne kann nur

derjenige gewinnen, der sich aus dem Schattenspiel der menschlichen Meinungen befreit und das Licht der göttlichen Erkenntnis gesehen hat. Er stammelt, wenn er, zurückgekehrt unter die Menschen, von seiner Einsicht berichtet. Und findet er schließlich wieder zu Worten, versteht man ihn nicht. Die alteuropäische Tradition lässt es bei diesem Verdacht bewenden und spricht von Wort und Sache der Kommunikation nur als von einer zwar unerlässlichen, aber höchst unzuverlässigen Bedingung der menschlichen Verständigung darüber, als was diese Welt sich darstellt, wie man sich in ihr verhalten soll und wie man sich daran beteiligen kann, in ihr das Neue ebenso wie das Notwendige immer wieder neu entstehen zu lassen. Das alteuropäische Denken hat ein ontologisches Bias, eine ontologische Schlagseite, die sich letztlich lieber an die Sache und zur Not an die Zeit, das Werden und Vergehen, hält, wenn es darum geht, etwas über die Welt herauszufinden und

zu sagen. Das Sagen und Reden selbst gilt als Mittel zum Zweck. Es muss unter Kontrolle gehalten werden, wenn es für diesen Zweck brauchbar sein soll. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass das, worauf sich hier der Verdacht richtet, tatsächlich ins Zentrum des Geschehens gehört. Wie soll man Theorie, Praxis und Poetik begreifen, wie soll man verstehen, worauf sie jeweils zielen und was sie dabei auslassen, wenn man nicht berücksichtigt, dass unsere Erkenntnis der Sache sprachlich verfasst ist, dass unsere Politik und Ethik auf eine Form des Streits und der Verständigung zielen, die irgendeine Art des Gesprächs voraussetzen,

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und dass das ökonomisch oder poetisch Machbare als solches nur überzeugen kann, wenn es Gegenstand unserer VerhandJung sein kann? Wann hätte man je erlebt, dass das Schweigen fruchtbar ist - es sei denn in der Form des Schweigens innerhalb der Kommunikation? Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat bedeutende Korrek-

turen an der alteuropäischen Tradition vorgenommen, die nicht zuletzt darauf hinauslaufen, der Sprache einen zentralen Status in jeder Lehre der Erkenntnis einzuräumen. Man weist der Sprache, dem Reden, dem Streit und der Verständigung

nach wie vor einen medialen Stellenwert zu, aber man will jetzt wissen, was man von und über dieses Medium selbst wissen kann. Mit Ludwig Wittgenstein (1889-1951) wird die Philosophie Sprachphilosophie, was freilich keine Vereinfachung bedeutet, sondern die Situation schwieriger macht. Denn jetzt muss die Philosophie bei jedem Erkenntnisakt in Rechnung stellen, dass sie in der Sprache zuerst über die Sprache und dann über alles andere nachdenken muss und dass sie dabei voraussetzen muss, was sie herausfinden möchte. Zum Unglück der Philosophen muss man schon reden, schreiben und lesen können, wenn man sich schließlich darauf einlässt,

herauszufinden, was das eigentlich ist, was man da schon

kann.

Auch deswegen wurde mit Jean Piaget (1896-1980) die entwicklungspsychologische Kindheitsforschung so wichtig. Denn man konnte den Kindern dabei zuschauen, wie wir lernen, was wir schon können. Leider stellte dies keine wirkliche Lösung des Dilemmas dar, weil man in dieser Kindheitsforschung letztlich nur entdeckte, dass wir weder Ahnung davon haben, was im Gehirn der Kinder vorgeht, wenn ihre Mütter und Väter sich über sie beugen und sie schwatzend in die Gesellschaft einführen, noch davon, was Mütter und Väter an

sozialen Leistungen voraussetzen müssen, um dies tun zu können. Mit anderen Worten, wenn man beginnt, Kommunikation zu beobachten, stößt man nicht auf einen präzise um-

rissenen Sachverhalt, sondern auf zwei Endloshorizonte, die

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Psyche der beteiligten Individuen auf der einen Seite und die Gesellschaft der beteiligten Individuen auf der anderen Seite. Was geht hier vor? Und wie funktioniert, was hier funktio-

niert? Wenn man sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu dieser Frage genauer anschaut, entdeckt man zwei in unserem Zusammenhang interessante Tendenzen. Die eine besteht in einer immer genaueren Durchdringung der Vorläufigkeit aller menschlichen Erkenntnis, aber darüber hinaus auch allen menschlichen Handelns und Sollens. Es ist, als würde man die

traditionellen Versuche der Philosophie, die Sache der Welt dingfest zu machen, aufgeben und sich auf die Einsicht einlassen, dass es immer das nächste Wort, der nächste Satz, die nächste Geste ist, die zum einen gegenwärtig noch offen und unbekannt sind, zum anderen jedoch einen Ort, eine Klarheit, einen Ausgangspunkt schaffen werden. Die Philosophien von Jacques Derrida (1930-2004) (etwa: Politik der Freundschaft) oder Stanley Cavell (*1926) (etwa: This New Yet Unapproachable America: Lectures after Emerson after Wittgenstein oder Nach der Philosophie) sind dafür gute Beispiele. Es ist, als

würde man die alten Versuche, irgendetwas zu entdecken einen Gott, eine Natur, ein Schicksal, das uns immer schon be-

stimmt und dem wir, mehr oder minder unterstützt durch irgendeine Form der Offenbarung, nur noch auf die Spur kom-

men müssen -, aufgeben und sich stattdessen mit dem Versuch anfreunden, die Welt als eine zu begreifen, in der wir lau-

fend neu und immer wieder im Rückgriff auf uns selbst herauszufinden versuchen, welche unserer Bestimmungen sich bewähren und welche nicht. Die zweite Tendenz, die man vor dem Hintergrund eines Interesses am Begriff und am Phänomen der Kommunikation entdeckt, hat mit dieser ersten Tendenz viel zu tun, steht aber bislang mehr oder minder unverbunden neben ihr. Sie besteht in der Entwicklung eines sich selbst als »konstruktivistisch« beschreibenden Denkens, in dem neurophysiologische, biologische, kybernetische und epistemologische Uberlegungen

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zusammentreffen, um dieselben Einsichten, die die Philosophie im Ausgang von der Sprachphilosophie beschäftigen, auf eine eher naturwissenschaftliche und mehr und mehr kognitionswissenschaftliche Art und Weise zu behandeln. Hierfür stehen Autoren wie Heinz von Foerster (1913-2002) (vor allem

Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition; Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke), Ernst

von Glasersfeld (*1917) (Radical Constructivism: A Way of Knowing and Learning) oder Francisco J. Varela (1946-2001)

(Ethical Know-How: Action, Wisdom, and Cognition), denen

es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, die Selbstüberschätzung des Menschen als (neben den Göttern, die man jedoch nur erfunden hat, um sie imitieren und mit ihnen rivalisieren zu können) einziges Subjekt der Welterkenntnis zu korrigieren und mit einem mehr oder minder strengen Blick auf den Begriff der Kommunikation auch Zellen, Organismen, Gehirne, Bewusstseine, Kulturen, Gesellschaften und eventuell intelligente Maschinen als Konstrukteure ihrer Welt zu begrei-

fen, die in einem offenen, also immer wieder neu bestimmbaren, Verhältnis zueinander stehen und sich auf dieses Verhältnis verlassen müssen, wenn sie sich reproduzieren wollen. Der Kommunikationsbegriff' erhält hier einen vorsichtigen Grundlagenstatus, noch bevor er in der Wissenschaftsphiloso-

phie (Michel Serres, *1931), in der Soziologie (Niklas Luhmann, 1927-1998) und in der Sozialphilosophie (Jürgen Habermas, *1929) zum Grundbegriff wird. Darauf werden wir zurückkommen. In gewisser Weise kehrt man mit diesen konstruktivistischen Überlegungen zu Positionen der Philosophie der Stoa zurück, die Wert darauf gelegt hat, zwischen Können (téchne, aréte) auf der einen Seite und Wissen (sophía) auf der anderen Seite zu unterscheiden, um im Zweifel für ein Können zu plädieren, auch wenn dies nicht durch ein Wissen gedeckt ist. Der Konstruktivismus optiert ähnlich. Gerade weil wir nicht wissen, in welchen physischen, psychischen und sozialen Konstruktionen wir bereits stecken, wenn wir anfangen, über unsere Be11

dingungen nachzudenken und die eine oder andere Beobachtung zu machen, die uns über diese aufzuklären beginnt, kön-

nen wir nur dort anknüpfen, wo wir schon etwas können, ohne deswegen zu wissen, was das ist, was wir können. Sprache und Kommunikation sind dafür ein gutes Beispiel. Die erste Entdeckung, die man macht, wenn man danach fragt, was das »ist«, die Sprache oder die Kommunikation, ist, dass man sie offensichtlich beherrscht. Wir sprechen und kommunizieren ja bereits. Wir können Bücher wie dieses nicht nur schreiben, sondern auch lesen, und weder Autor noch Leser verlieren dabei je die Möglichkeit aus den Augen, dass man einen Text jederzeit beiseite legen und sich anderen Dingen zuwenden kann, anderen Kommunikationen, aber auch dem bloßen Leben, dem Träumen, der Beobachtung des Regens. Für uns stellt sich hier jedoch zunächst die Frage, wie wir die alte Rolle des Verdachts gegenüber dem Sachverhalt der Kom-

munikation und die neue vorsichtig zentrale Stellung des Kommunikationsbegriffs am Leitfaden philosophischer Uber-

legungen so nachvollziehen können, dass man beides veisteht. Wir arbeiten im Folgenden nicht soziologisch an einer Sozialtheorie der Kommunikation, sondern philosophisch an einer Geschichte der Unruhe, in die das menschliche Nachdenken durch die Beobachtung von Kommunikation - soweit man wusste, was man da beobachtete - geriet. Insofern ist die historische Übersicht, die wir im Folgenden geben wollen, dem Buch Speaking into the Air: A History of the Idea of Comnmunication von John Durham Peters vergleichbar, das mit an-

deren Akzenten und in größerer Ausführlichkeit darlegt, wie die Geschichte der Entdeckung, Beschreibung und Bewältigung des merkwürdigen Sachverhalts der Kommunikation seit den alten Griechen verlaufen ist. Im Unterschied zu Durham werden wir jedoch von der mathematischen Kommunikationstheorie und den Kognitionswissenschaften nicht absehen, sondern sie als die großen Herausforderungen an einen auch philosophisch nachvollziehbaren Begriff der Kommunikation begreifen.

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Wenn man sich an den Dialog Sophistes von Platon erinnert,

kommen im Wesentlichen zwei Vorgehensweisen infrage, um

sich dem Begriff und Phänomen der Kommunikation anzunähern. Die eine Vorgehensweise macht den Verdacht gegenüber der »bloßen Rede« stark und konzentriert sich auf eine Moral oder Ethik der Philosophie, die andere unterstreicht die Bewunderung, die wir der überzeugenden Rede zollen, und kon-

zentriert sich auf eine Ästhetik der Kommunikation. Diese Einführung legt den Schwerpunkt eher auf die letztere Vorgehensweise, ohne jedoch den Verdacht ganz aus den Augen zu verlieren. Gefragt wird danach, was da gelingt, wenn Kommunikation gelingt, während Versuche der Kontrolle, der Eingrenzung, ja sogar des Schweigegebots (Carl Schmitt) hier nur insofern interessieren, als sie ja ihrerseits gelingen, also überzeugen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen.

Mein soziologischer und insofern empirischer Ausgangspunkt besteht darin, dass man ja allerorten, in der Familie, im Freundeskreis, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, in Politik und Wirtschaft, im Theater und in der Kirche, vor Gericht und im Krieg, beobachten kann, dass Kommunikation vorkommt, gelingt und erfolgreich ist. Empirisch besteht daran kein Zweifel, wie Platon in seinem Lehrgespräch Politeia anlässlich seiner Beobachtung des Lebens der Polis, der Stadt, ja ebenfalls und höchst beunruhigt feststellt: Während die einen darüber nachdenken, worin eine »vernünftige« Ordnung der Gesell-

schaft bestehen könnte, handeln die anderen im doppelten Sinne des Wortes, das heißt, sie reden und machen Geschäfte miteinander. Und niemand weiß (und jeder befürchtet), ob sie dabei nicht schon wieder durchkreuzen, was die anderen sich gerade erst überlegen. Diese Gleichzeitigkeit eines unübersichtlichen Geschehens ist es ja auch, worauf der Kommunikationsbegriff erst aufmerksam macht. Insofern sieht man mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie sich im Laufe der Geschichte immer wieder neue Schweigebefehle -

man denke etwa an den Verfassungslehrer Carl Schmitt (1888-1985) und sein Werk Ex Captivitate Salus: Erfahrungen

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der Zeit 1945/47 - durchgesetzt haben, mit denen zuerst die Theologen den Zauberern, dann die Juristen den Theologen und schließlich die Ingenieure den Juristen mehr oder minder erfolgreich das Wort verboten haben, damit man wenigstens weiß, wer bei all dem Gerede das letzte Wort hat. Die Kommunikation ist ein so radikal symmetrischer Sachverhalt, dass nahezu jede Asymmetrie willkommen ist, die hier eine gewisse Ordnung herstellt, nicht zuletzt, damit man weiß, an welche Adressen der eigene Widerstand zu richten ist.

Aber der Grund, warum ich mich im Folgenden an die Ästhe-

tik und nicht an die Ethik halten möchte, reicht über das Interesse an Empirie hinaus und betrifft eine Fragestellung, die ich als zutiefst philosophisch wahrnehme. Mit dem Sachverhalt der Kommunikation, so mein Eindruck, den ich mit dieser historischen Skizze belegen möchte, war immer schon eine Diffe-

renz zwischen dem Individuum und seinem einsamen Bewusstsein auf der einen Seite und der Gesellschaft und ihrem geselligen Betrieb auf der anderen Seite mitgemeint, die im Konzept der »aisthesis«, der Asthetik, schon in der Antike auf den Punkt gebracht, aber erst in der Moderne systematisch ausbuchstabiert wird. Die Asthetik, die Lehre vom sinnlichen Erleben und Empfinden des Individuums und von der Übersetzung des Erlebten und Empfundenen in Wort, Sprache und

Mitteilung, entdeckt, dass dieses Erleben und Empfinden eines und ihre Übersetzung etwas ganz anderes ist. Was ein Individuum hört, sieht, riecht, schmeckt, tastet und fühlt, bezeichnet die Welt der Sinneseindrücke. Aber man nehme dieses Individuum und lasse es sich mit anderen über das Wahr-

genommene austauschen, und etwas ganz anderes kommt dabei herum. Wie soll ich sagen, aufschreiben oder bebildern, was ich gehört, gesehen, gerochen, geschmeckt, ertastet oder gefühlt habe, ohne dafür Worte, Bilder und Gesten zu finden,

die sich ganz anders anfühlen als das, was ich »zum Ausdruck« bringen möchte? Die Lehre von der Ästhetik kommt dem Individuum an dieser Stelle zu Hilfe, indem sie ihm eine Sprache des Schönen und Hässlichen, eine Sprache des Ge14

schmacks zur Verfügung stellt, in der es anderen mitteilen kann, was es erlebt und empfindet, und dabei in Rechnung stellen kann, dass die Mitteilung etwas anderes ist als das Erle-

ben und Empfinden. John Locke (1632-1704), darauf kommen wir gleich zurück, war der Erste, der diese Einsicht der individuellen Verschlossenheit des Erlebens und Empfindens in aller Deutlichkeit formuliert hat; und Immanuel Kant (1724-1804), auch auf ihn kommen wir gleich zurück, hat daraus die bis heute maßgebende Aufforderung abgeleitet, die Humaniora, die Lehre vom Menschen, im Wesentlichen als eine Lehre, ja sogar als eine Methodenlehre, des Geschmacks zu entwerfen. Das ist nicht

nur philosophisch, sondern auch soziologisch interessant, wie Pierre Bourdieu (1930-2002) in seinem Buch Die feinen Unterschiede gezeigt hat. Nirgendwo bestimmen wir uns auch in unserem geselligen, nach Streit und Versöhnung, nach Distanz und Nähe suchenden Verhalten genauer als in dem Geschmack, mit dem wir aufeinander reagieren und dem wir dann sprachlich, gestisch und bildlich einen mehr oder minder deutlichen oder verbrämten Ausdruck geben. All das bedeutet jedoch, dass uns Begriff und Phänomen der Kommunikation philosophisch vor allem mit Blick auf jene

Differenz interessieren, um festzuhalten, dass das körperliche und psychische Erleben des Individuums zwar die Voraussetzung und je nach den Umständen auch das Thema der Kommunikation ist, aber nicht ihr Inhalt. »Wenn du etwas zu sagen hast, tanze es«, lautete die Einladung von Alexis Sorbas in

Nikos Kazantzakis' (1883-1957) gleichnamigem Roman an seinen intellektuellen Freund, womit der Sachverhalt der Differenz auf den Punkt gebracht wird. Dank unseres konstruktivistischen und kognitionswissenschaftlichen Ausgangspunk-

tes können und müssen wir diese Differenz heute ernst nehmen. Wir wissen seit der Neurophysiologie von Johannes Peter Müller (1801-1858), dass das Gehirn ein geschlossen operierendes System ist; wir können uns seit der Bewusstseinsphilosophie von Edmund Husserl (1859-1938) vorstel15

len, dass das Bewusstsein nicht nur vorbegrifflich, sondern vorsprachlich und damit in der geschlossenen Welt seiner Empfindungen und Vorstellungen operiert; und wir ahnen seit der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, dass man sich auch Familien, Organisationen oder die Gesellschaft

als geschlossen operierende Systeme vorstellen kann. Das aber bedeutet, dass der Kommunikationsbegriff, der die ganze Last der Beschreibung unseres sozialen Umgangs miteinander zu tragen hat, zugleich Erklärungen und Beschreibungen liefern muss, die es verständlich und nachvollziehbar (mitteilbar und erlebbar?) machen, dass Individuen aus ihrem »einsamen Seelenleben« (Husserl) heraus dennoch und gerade deswegen genügend Motive finden können, um sich von dem angesprochen zu fühlen, was die Gesellschaft zu bieten hat, und sich an dem zu beteiligen, was die Geselligkeit von ihnen erwartet.

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Die ästhetische Fragestellung

Der Kommunikationsbegriff ist eine der bemerkenswerten

theoretischen Erfindungen des vergangenen Jahrhunderts. Von vielen der Gegenstandslosigkeit verdächtigt, formuliert er einen Gedanken, der zwar seine Vorläufer hat, jedoch in dieser

Kompromisslosigkeit erst im 20. Jahrhundert gedacht wird.

Vielleicht gibt es neben der antiken Rhetorik und der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts, deren uns hier interessierende Motive im 19. Jahrhundert von der marschen Gesellschaftstheorie und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der freudschen Psychoanalyse aufgegriffen werden, kaum einen wirklichen Vorläufer. Im Kommunikationsbegriff wird versucht, Information, Mitteilung und Verstehen zugleich abhängig und unabhängig von Psyche und Bewusstsein des Menschen zu denken - abhängig insofern, als es ohne Menschen (bzw. einige Tiere und demnächst einige Maschinen) keine uns bekannte Kommunikation gibt, und unabhängig insofern, als diese Kommunikation in ihrer Form und ihren Inhalten, in ihren Akten und ihren Prozessen nicht auf Intentionen eines sich äußernden, mitteilen-

den und zuhörenden Bewusstseins zurückgeführt werden kann, sondern eine eigene, sozial bestimmte Referenz in Anspruch nimmt. Die Radikalität, mit der dieser Gedanke in Angriff genommen wird, nimmt ihr Maß an Immanuel Kants Bestimmung des Geschmacksurteils in der Kritik der Urteilskraft (B 17, A 19ff.). Hier wird nichts Geringeres versucht, als die Subjektivität einer Empfindung mit einem Anspruch auf Allgemeinheit zusammen zu denken, der das Geschmacksurteil gesellschaftlich mitteilungsfähig macht. Damit wird das

Skandalon zugleich aufgehoben und fortgeführt, dem die ästhetische Theorie ihre Geburt verdankt und das darin besteht, dass ausgerechnet die subjektive Empfindung, auf

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deren Mitteilung es dem Ästheten ankommt, in der Brust des Individuums - um John Lockes Ausdruck in An Essay Concerning Human Understanding (1690, Buch III, Kap. II) zu benutzen - verschlossen ist. Schon Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) hatte in seinen Aesthetica dem Chaos der subjektiven Empfindungen, die auf Mitteilung drängen und zur Mitteilung nicht kommen, Richtung und Struktur angeboten, indem er formulierte, dass jede Empfindung an der Schönheit der Erkenntnis sich zu messen habe. Damit ist ein Gedanke angesprochen, der vom Kommunikationsbegriff aufgenommen wird: Mitteilungsfähig wird eine

subjektive Empfindung nicht aus sich heraus, sondern nur dank Angeboten, mit der die Gesellschaft dem wortlosen Individuum zu Hilfe kommt. Während die Ästhetik damit beschäftigt sein wird, die Differenz des Individuums und seines Bewusstseins unter dem Gesichtspunkt von Formangeboten zu

tradieren, die diese Differenz nicht leugnen, sondern sie zu einem Motiv geselliger und gesellschaftlicher Mitteilungsfähigkeit machen, greift der Kommunikationsbegriff die damit entdeckte Differenz auf und fragt nach dem, was hier dem

Individuum zu Hilfe kommt. Es lag nahe, die Tendenz des Kommunikationsbegriffs, sinnliche Erkenntnis mitteilbar zu machen, zu überziehen und die

Rolle individueller Differenz fast vollständig zu vernachlässigen, wie es vor allem in der Rezeption der Mathematical Theory of Communication (1949) von Claude E. Shannon (1916-2001) und Warren Weaver (1894-1978), weniger bei diesen selbst, zuweilen geschah. Aber dort, wo der grundbegriffliche Status des Kommunikationsbegriffs ernst genommen wurde, konnte diese Überziehung nicht überzeugen. Das gilt zum Beispiel für die Psychiatrietheorie von Jürgen Ruesch (1909-1995) und Gregory Bateson (1904-1980), für die Wissenschaftsphilosophie von Michel Serres, die Sozialphilosophie von Jürgen Habermas und die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann Die Psychiatrietheorie kann gar nicht anders, als die Differenz des Individuums ins Zentrum der Auf-

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merksamkeit zu rücken; nur so kann sie berücksichtigen, wie sehr diese Differenz durch eine »soziale Matrix« sowohl präfi-

guriert als auch immer wieder verfehlt wird. Die Wissenschaftsphilosophie stellt ebenfalls von vorneherein auf die Differenz ab, indem sie wechselweise das Individuum als Rauschen (im informationstheoretischen Sinne: als Störung, aber

auch: als Anregung) für die Kommunikation wie auch die Kommunikation als Rauschen für das Individuum zu beschreiben vermag. Überhaupt wird sich auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen herausstellen, dass der Kommunikationsbegriff immer dann an Prominenz gewinnt, wenn Anlass besteht, dem Rauschen nicht nur eine störende, sondern auch eine konstruktive Rolle beizumessen.

Die Sozialphilosophie unternimmt den Versuch, eine »kommunikative Rationalität« zu denken, in der sich die Individuen ebenso zwanglos untereinander wie mit sich selbst verständigen können, und akzeptiert die Differenz zumindest in der Form, dass diese Verständigung (im Gegensatz zu ihrer Möglichkeit) nicht vorausgesetzt werden kann und somit erst erreicht und immer wieder neu erreicht werden muss. Auch die ethnologische Theorie, insbesondere von Claude Lévi-Strauss (*1908), unterstreicht am Misslingen solcher Begriffe wie »Kollektivbewusstsein« (oder gar »kollektives Unbewusstes«) die Unumgänglichkeit der Differenz des Individuums. Die Ethnomethodologie hält diese Einsicht fest, indem sie nachweist, das gerade die Enttäuschung von Erwartungen konstitutiv für Kommunikation ist. Sie bestätigt damit die für die Erforschung des Sozialen, und damit der Kommunikation, grundlegende These, dass die für die Emergenz des Sozialen ausschlaggebende Ebene nicht die Koordination des Verhaltens verschiedener Individuen, sondern die Koordination von Erwartungen, und vor allem: der wechselseitigen Erwartung von Erwartungen, ist. Und die Gesellschaftstheorie formuliert explizit den Einschluss des Ausschlusses des Bewusstseins des Individuums als Formbegriff der Kommunikation.

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Wir kommen später auf eine Reihe dieser theoretischen Positionen zurück. Entscheidend ist für diese Einführung, dass der Kommunikationsbegriff als ein Begriff gedacht wird, der für Information, Mitteilung und Verständigung primär nicht die Referenz auf das Bewusstsein, sondern zunächst eine soziale Referenz in Anspruch nimmt und erst in der Abhängigkeit von

dieser sozialen Referenz auch das Bewusstsein wieder ins Spiel bringt. Natürlich fällt es schwer, diese soziale Referenz unabhängig von den beteiligten Individuen und Subjekten zu beobachten und zu denken. Tatsächlich haben jedoch in genau diesem Punkt die Rhetorik, die Theologie, die Asthetik, die marxsche Gesellschaftsanalyse und die freudsche Psychoanalyse wichtige Vorarbeiten geleistet. Die rhetorische Kategorie der »Beredsamkeit« (»Eloquenz«), die theologische Ka-

tegorie der »idiomatum communicatio«, die ästhetische Kategorie des »Geschmacks«, die marxsche Kategorie des »Ka-

pitals« und die freudsche Kategorie des »Unbewussten« wie dann auch explizit die Kategorie der »Sprache« von Humboldt

bis Saussure sind sich in der Funktion gleich, dass sie auf etwas verweisen, das »kommuniziert«, ohne dass ein Bewusstsein intentional beteiligt sein müsste. Gegenwärtig besetzen »Massenmedien« und »Computercodes« dieselbe Funktions-

stelle und werfen dieselben Probleme der Zurechnung von Aktionen, Ereignissen und Operationen auf. Verallgemeinert man im Sinne einer genaueren Bestimmung

des Kommunikationsbegriffs die Intention, die Kategorien wie der Beredsamkeit, der Teilhabe der menschlichen an der göttlichen Natur, dem Geschmack, dem Kapital, dem Unbewussten und der Sprache zugrunde liegt, so stößt man in der Tat nicht auf einen bestimmten »Gegenstand«, den man greifen und begrifflich dingfest machen könnte und auf den man zeigen könnte, um ihn anderen vorzuführen; vielmehr stoist man auf die Rekursivität, das Vor- und Zurückgreifen einer be-

stimmten Operation, die nur an ihren Resultaten als Mitteilung, Verständigung, Ubereinstimmung und so weiter kenntlich wird. Der Kommunikationsbegriff zielt daher im

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Wesentlichen darauf, den Beobachter mit der Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewusstsein zu versorgen. Er

kann dann die Welt nicht nur anders beobachten, sondern kann mit sehen, dass und wie das Soziale sich konstituiert und

konstruiert, ohne dass die Konstitution und die Konstruktion

auf individuelle Intentionen zurückgeführt werden könnten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Ästhetik in ihrer Fassung als materialistische oder kognitivistische Theorie der Wahrnehmung dabei behilflich sein kann, die Muster wahrnehmbar zu machen, die auf das rekursive Operieren der Kommunikation zurückgeführt werden können. ' Als ästhetischer Grundbegriff überzeugt der Kommunikationsbegriff insofern, als er eine Problemformel ästhetischen Denkens bezeichnet. Versteht man die Asthetik mit Kant als eine Philosophie der Selbstbestimmung des Subjekts, die zu einem Zeitpunkt auftritt, zu dem diese Selbstbestimmung ebenso illusorisch wie unumgänglich wird, dann wird deutlich, dass die Ästhetik den Kommunikationsbegriff zwiespältig handhaben muss. Einerseits formuliert der Kommunikationsbegriff all das, was dem Astheten als Fremdbestimmung des Subjekts und zugleich als Subjektlosigkeit eines blinden und leeren Geschehens unangenehm auffällt. Andererseits kommt auch die Ästhetik nicht darum herum, erstens ihre eigene Einstellung zur Kommunikation zu kommunizieren und zweitens mit den Mitteln der Kommunikation nach einer Form der Kommunikation zu suchen, die auch den Ästheten überzeugen kann. Eine solche Form ist das »Gespräch«, wenn es im

Schweigen hörbar macht, was sich dem Gespräch entzieht: »Das Gespräch«, liest man bei Walter Benjamin (1892-1940), »strebt zum Schweigen, und der Hörende ist eher der Schweigende. Sinn empfängt der Sprechende von ihm, der Schweigende ist die ungefaßte Quelle des Sinns. (...] Schweigen ist die innere Grenze des Gesprächs.«5 Die folgende Übersicht über die Geschichte des Kommunikationsbegriffs greift das Dilemma der Ästhetik als Folie zur Bestimmung eines Kommunikationsbegriffs auf. Die Differenz

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des Individuums gerät dabei nicht aus dem Blickfeld. Ebenso wie die Kategorien der Beredsamkeit, der Gemeinsamkeit der

Naturen, des Geschmacks, des Kapitals, des Unbewussten oder der Sprache ist die Kategorie der Kommunikation, die sie unter einen Begriff bringt, als »double bind« zu denken: Der Begriff der Kommunikation zielt auf ein Verständnis des Sozialen, das, so Luhmann, in der Lage ist, ein vom Bewusstsein unabhängiges »System höherer Ordnung« zu denken, in dem die Kontakte wählbar sind und das System je nach den gewählten Kontakten unterschiedliche Strukturen realisiert.? Die Ästhetik entsteht im 18. Jahrhundert als philosophische Disziplin, die sich um die Phänomene der sinnlichen Erkenntnis oder individuellen Wahrnehmung (»aisthesis«) zum einen und der aufeinander Bezug nehmenden individuellen künstlerischen Akte zum anderen kümmert. In diesen beiden Phänomenen wird die Eigenwilligkeit und Unzugänglichkeit des Individuums entdeckt und formuliert. Baumgarten entwickelt

eine Theorie des Schönen und Kant eine Theorie der Geschmacksurteile, die das Individuum vom Problem der Mitteilung individueller Wahrnehmung her denken.

Im 19. Jahrhundert wird die Asthetik zu einer Art Gesellschaftstheorie avant la lettre, die beobachtbar macht, wie die kommunikativen Zugriffe der Gesellschaft am Individuum scheitern und wie Individuen und Gesellschaft darauf mit dem

Angebot poetischer, literarischer, musikalischer, theatralischer und sogar architektonischer Bearbeitungen des Problems antworten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen unter »avantgardistischem« - und zwar sozialismus- wie nationalsozialismusaffinem - Vorzeichen Spezialästhetiken, die das Scheitern der Gesellschaft am Individuum zu einem künstlerischen, politischen und erzieherischen Einwand gegen die Gesellschaft zu stilisieren vermögen und damit in der Gesellschaft Erfolg haben. In der zweiten Hälfte des

20. Jahrhunderts verliert die Asthetik dann zunehmend an Einfluss, bleibt jedoch als Stilisierungssemantik unverfüg-

barer Individualität ebenso abrufbar wie sie als eine nach wie

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vor uneingelöste Programmatik einer »schönen«, heute würde man sagen: einer kognitivistischen und konstruktivistischen, Wissenschaft erinnert werden kann. Als eine der Entdeckungen, die der im 18. Jahrhundert entwickelten Ästhetik ihr Profil geben, kann man die wechselseitige Verschränkung von Individualität und sinnlicher Erkenntnis

ansehen. Die Mitteilbarkeit von sinnlicher Erkenntnis wird zum Grenzfall, an dem sich jeder Kommunikationsbegriff be-

währen muss. Solange das Individuum von der Ästhetik substanziell und nicht funktional gedacht wird, kann dieser Typ von Erkenntnis nur als nicht mitteilbar gelten. Substanziell ist das Individuum immer eine monadisch geschlossene Größe. Sobald es funktional, also als Adresse und Bezugspunkt, gedacht wird, kann man die Individualität des Indivi-

duums als Einsatzmarke im Spiel der Mitteilung des Nichtmitteilbaren, das heißt als Eröffnung der Kommunikation, betrachten. Eher implizit als explizit wird in der Asthetik das Problempotenzial des rhetorischen und des theologischen Kommunikationsbegriffs abgearbeitet, die beide eine prinzipielle Differenz an die Stelle jeder Idee einer reibungslosen Mitteilung setzen. Die rhetorische Figur der »communicatio« wendet sich fragend an den Zuhörenden und hält rhetorisch offen, wie dieser antwortet. Die theologische Idee der »idiomatum communicatio« kann sich gelungene Kommunikation zwischen Gott und den Menschen nur in einem einzigen Fall vorstellen, nämlich in Jesus Christus, seinem Mensch gewordenen Sohn. In der Folge wird der Kommunikationsbegriff daraus gewonnen, dass er einerseits für unwahrscheinlich hält, was andererseits das Wahrscheinlichste ist: nämlich das Vorkommen von Mitteilungen. Die Unwahrscheinlichkeit wird an der singulä-

ren, also nicht mitteilbaren Individualität des Individuums festgemacht, die Wahrscheinlichkeit an der problemlosen Verknüpfung von Mitteilungen in den Medien der wechselseitigen Wahrnehmung, der Sprache, der Schrift, des Buchdrucks

und der elektronisch gestützten Kommunikation. Es wird 23

deutlich, dass Kommunikation nur als soziales, das heißt als

nicht - oder nur paradox - dem Individuum, sondern als der

Gesellschaft zuzurechnendes Phänomen verstanden werden kann. Die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation liegen in der Mitteilung selbst, nicht in dem, was mitgeteilt werden soll, oder in dem, was sich mitteilen will. Das aber be-

deutet, dass der Kontext der Kommunikation mindestens ebenso wesentlich für ihr Zustandekommen ist wie ihr Text, ihr Inhalt, ihre Absicht. Sogar die mathematische Kommunikationstheorie, die im 20. Jahrhundert als Ingenieurwissenschaft des Nachrichtenverkehrs entwickelt wird, berücksichtigt diesen Punkt, indem sie eine Nachricht als Selektion aus einem (mehr oder minder bestimmten) Möglichkeitenbereich definiert, der durch die Nachricht so mitkonstituiert wird (oder technisch vorausgesetzt werden muss), dass die Nachricht selbst nur mithilfe

eines systematisch oszillierenden Blickwechsels zwischen Inhalt der Nachricht und Auswahlbereich der Nachricht gelesen

und verstanden werden kann. Für diese Problemfassung durch die mathematische Theorie sind in der Nachfolge in so unterschiedlichen Bereichen wie der Kybernetik, der Anthro-

pologie, der Philosophie und der Soziologie verschiedene Übersetzungen gefunden worden, die die Kommunikation als Form, Differenz, System und Medium beschreibbar machen. Die ästhetische Problemfassung wird in diesen Begrifflichkeiten nur noch selten explizit mitgeführt. Aber ohne ein Verständnis dieser Problemfassung bleiben die Begrifflichkeiten

stumm.

Dieses Buch verzichtet im Folgenden zunächst auf ein chrono-

logisches Vorgehen. Stattdessen wird die ästhetische Fragestellung, soweit sie für den Begriff der Kommunikation von Interesse ist, rekonstruiert, um erst dann die Fragen nach Mitteilungsfähigkeit und Sprachvermögen aufzunehmen, die den Begriff der Kommunikation konturieren. Im Anschluss daran wird an die theologische und rhetorische Begriffsfassung erinnert, um den widerständigen Einsatz markieren zu können,

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den die Entdeckung des Individuums auslöst. Erst dann kommt das chronologische Prinzip wieder zum Tragen, indem nachgezeichnet wird, wie sich bis hin zur Aufklärung im Ver-

trauen auf die Medien der Schrift und des Buchdrucks ein auf

Verständigung zielender Kommunikationsbegriff hält, der erst mit der Romantik und deren Sinn für Unverständlichkeit einem Kommunikationsbegriff weicht, der bis heute einen guten Teil der Reflexionslast der Moderne zu tragen hat. Das Buch orientiert sich durchweg an einem Verständnis des Ästhetischen, das dieses als philosophische und epistemologische Kategorie profiliert. Damit geht ein weitgehender Verzicht auf die Beobachtung der verschiedenen Künste einher, die von der Kategorie des Ästhetischen auch geleistet werden soll. Dieser Verzicht ist nur mit dem generellen Hinweis zu

entschuldigen und abzugelten, dass in den verschiedenen Künsten das Problem der Mitteilung möglicherweise prägnanter, aber grundsätzlich nicht anders zu entfalten ist als auf der allgemeinen Ebene, die diese Einführung wählt. Dieses Vorgehen trägt einerseits dem Umstand Rechnung, dass die Kategorie des »Asthetischen« über eine Reflexion auf künstlerisches Mitteilungsverhalten dem Anspruch nach hinausgeht, indem sie die Differenz des Individuums zum Einwand gegen jegliche determinierte oder auch nur »prästabilierte« (Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646-1716) Ordnung stilisiert und stattdessen nach der Ordnung spontaner Muster fragt, die sich keinem

Design, sondern dem »Tanz« (Bateson) ihrer eigenen Elemente verdanken. Andererseits soll damit nicht bestritten werden, dass die Kunst andere Mittel und auch andere Interessen hat, das Problem des Individuums in der Kommunikation zu adressieren, als die Wissenschaft, die Wirtschaft oder die

Politik.

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Das Geschmacksurteil

Die Asthetik steht vor dem Problem, dass sinnliche Erkenntnis strikt und ausschließlich Sache des erkennenden Individuums ist und dennoch Anspruch auf Gemeingültigkeit erhebt. Niemand außer das jeweilige Individuum kann auf die je eigene

sinnliche Erkenntnis, die Wahrnehmung, zugreifen; und trotzdem soll diese Erkenntnis als Erkenntnis, oder wie es bei Kant in der Kritik der Urteilskraft (Erstes Buch: Analytik des Schönen) heißt, als »mitteilbar« gelten. Baumgarten hatte das entscheidende Begriffsmanöver bereits vorgegeben, indem er in seinen Aesthetica (1750/58) das Schöne als eine Art regulative Idee der sinnlichen Erkenntnis ins Spiel brachte: Nur in der Schönheit erreicht die sinnliche Erkenntnis Vollkommenheit, und nur in dieser Fassung, so muss man ergänzen, lohnt sich ihre Mitteilung. Das Hässliche ist lediglich insofern informativ, als es auf »Fehler, störende Flecken in der sinnlichen Erkenntnis« aufmerksam macht. Die Schönheit ist nicht eigentlich das Produkt, sondern das Regulativ eines kritischen

Vermögens, das die sinnliche Erkenntnis im Hinblick auf Übereinstimmungen zwischen Denken, Sachen und Ordnung zu prüfen hat. Innerhalb dieses Prüfprozesses verliert die Beschränkung der sinnlichen Erkenntnis auf das Individuum ihren problematischen Charakter. Sie wird transformiert in die Voraussetzung einer Erkenntnis des Schönen - und findet sich in dieser Erkenntnis bereits determiniert durch Anforderungen der Übereinstimmung, die nicht diejenigen des Individuums sind. Will das Individuum wissen, was ihm individuell eignet, muss es sich ans Hässliche halten. Und selbst das ist bereits gemeingültig bestimmt durch seinen Fehlercharakter. Kant bringt das Begriffsmanöver der Asthetik, das das Problem der bloß individuellen Erkenntnis stillzustellen hat, in der Kritik der Urteilskraft noch deutlicher als Baumgarten zum

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Ausdruck. Für ihn bestimmt sich das Subjekt im ästhetischen Urteil selbst, und dies auch und gerade dann, wenn sich dieses Urteil auf ein Objekt bezieht.® Kant spricht dem ästhetischen Urteil jedoch nicht den Charakter der Erkenntnis, sondern der Empfindung zu. Es handelt sich somit um ein Geschmacksurteil. Mit dem Begriff des Geschmacks greift Kant einen Termi-

nus auf, der spätestens seit Baltasar Gracián (1601-1658) die

doppelte Funktion hat, einerseits die Unreduzierbarkeit des

Individuums festzuhalten, andererseits die Selbstbestimmung des Individuums in Abhängigkeit von seiner Umwelt und mit Bezug auf diese Umwelt zu beschreiben. Der Geschmack eines Individuums, so Gracián in El Héroe (1637) und

im Oraculo manual, y arte de prudencia (1647), erweist sich nur in der Gesellschaft. Er entsteht in der Gesellschaft, und er bewährt sich in der Gesellschaft. Darauf kommt es auch Kant an. Das Geschmacksurteil zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihm das Individuum selbst bestimmt, und zwar ohne sich darin irgend »beschwatzen« zu lassen; darüber hinaus ist das Geschmacksurteil mitteilungsfähig und findet in dieser Mitteilungsfähigkeit seinen eigenen Grund. Nicht Lust und Unlust teilen sich im Geschmacksurteil mit, sondern der daraus gewonnene Gemütszustand, der als »Gefühl des freien Spiels der Vorstellungskräfte« verstanden werden kann und offensichtlich nicht nur individuell zugerechnet werden darf. »Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszu-

standes in der gegebenen Vorstellung, welche, als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, demselben zum Grunde liegen, und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muß. Es kann aber nichts allgemein mitgeteilt werden, als Erkenntnis, und Vorstellung, sofern sie zum [sic!] Erkenntnis gehört.« (Kant, KdU, A 27). Sinnliche Erkenntnis, würde man heute sagen, ist sozial präjudiziert, und dies im strikten Sinne des Wortes auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung: dort, wo nicht mehr geurteilt, sondern die Urteile anderen Urteilenden mitgeteilt werden. In ihrer Abhängigkeit von der Mitteilbarkeit machen sich die

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Geschmacksurteile davon unabhängig, dass die sinnliche »Erkenntnis« (Baumgarten) beziehungsweise »Empfindung«

(Kant) auf das Individuum beschränkt ist und dort für alle anderen auf eine Art und Weise unzugänglich ist, die dem Individuum einen unhintergehbaren, wenngleich vielfältig korrumpierbaren und durch keine Vernunft immanent zu begrenzenden Autonomiespielraum gibt. Das Geschmacksurteil erhält in erster Linie die Funktion, die Kommunikationsfähigkeit selbst zu kommunizieren, indem es zu dokumentieren erlaubt, dass auch im individuellen Sinn ein Gemeinsinn enthalten, angesprochen und ausgesprochen ist. Die Kategorie des Asthetischen nimmt das individuelle und subjektive Unruhemoment der sinnlich-empirischen Erkenntnis auf und überführt sie auf die soziale Ebene des Mitteilungsverhaltens. Sie lässt Sittlichkeit an die Stelle von Sinnlichkeit treten. Aber sie

kann die Sittlichkeit nicht transzendental begründen, ohne nicht wieder auf die Sinnlichkeit zu stoßen. Damit verweist die Kategorie des Ästhetischen, von der man sagen muss, dass sie

auf instruktive Weise scheitert', auf einen Begriff der Mitteilung, der Kommunikation, der sich bis heute schwer damit

tut, das Unruhemoment anders denn durch Kontinuierung des Problems aufzunehmen. Der Kommunikationsbegriff wird im Kontext des Ästhetischen dort bedeutsam, wo man zum ersten Mal und systematisch Grund hat, an Kommunikation zu zweifeln, und zugleich wie selten zuvor auf Kommunikation angewiesen ist. Denn auch dann, wenn die Schönheit als Regulativ der niederen Erkenntnisse und das Geschmacksurteil als Bedingung seiner eigenen Mitteilbarkeit vorgestellt werden, bleibt es dabei, dass sinnliche Erkenntnis und Empfindung auf das Individuum beschränkt, also nicht (beziehungsweise nur kommunikativ) zugänglich sind. Das ästhetische Verständnis von Kommunikation ist hinfort mit der Paradoxie der nur kommunikativen

Zugänglichkeit des kommunikativ nicht Zugänglichen be-

fasst. Diese ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbe28

griffs wirft ein bezeichnendes Licht auf die Asthetik. Sie wurde von Jean Paul (1763-1825) dadurch treffend charakterisiert, dass er eine Vorschule der Asthetik (1813) schrieb und damit auf das mittelalterliche Proscholium anspielte. Diese Vorschule war vom eigentlichen Hörsaal durch einen Vorhang abgetrennt. Dort wurden »die Zöglinge in Anstand, Anzug und Antritt für den verhangnen Lehrer« zugerichtet und vorbereitet. Die Ästhetik positioniert das Individuum für die Kommunikation. Sie steht selbst im Dienste der Kommunikation und

erfüllt eine kommunikative Funktion, indem sie die Unzu-

gänglichkeit der sinnlichen Erkenntnis und Empfindung nur

thematisiert, um zu zeigen, wie sie durch die Erkenntnisregeln des Schönen in mitteilungsfähige Geschmacksurteile übersetzt werden können. Aber wie man an der Differenz von »Schule« und »Vorschule« sehen kann, präpariert die Ästhetik die Kommunikation nicht lediglich, sondern unterbricht sie auch. An dieser Unterbrechung kann das Individuum etwas

Wesentliches über sich selbst lernen, nämlich dass es nicht von sich aus kommuniziert, sondern zur Kommunikation gebracht werden muss. Dann allerdings muss es sich, und darauf kommt es an, anders bestimmen als durch Kommunikation.

Freilich blieb diese Auffassung von Asthetik nicht unwidersprochen. Johann Georg Hamann (1730-1788) hat in seiner Aesthetica in nuce (1762) das Dilemma einer Rede, die nicht spricht, bereits formuliert, ohne sich auf eine Lösung vom Typ Baumgartens oder Kants einzulassen. »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder«, schreibt er einerseits. Dass die Schöpfung »eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern,« behauptet er andererseits. Die

Einheit dieses Dilemmas ist eine Unsichtbarkeit, die der Mensch zunächst Gott zugeschrieben hat, mit der er jedoch

sich selbst meint. Wir werden sehen, dass die Kommunikationstheorie bis heute damit beschäftigt ist, diese beiden Seiten der Kommunikation auf die Unsichtbarkeit hin zu deuten, die sie bestätigen und sichtbar machen zugleich.

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Wie ist eine Mitteilung möglich?

Kaum hatten Baumgarten und Kant auf das Problem der indi-

viduellen Erkenntnis und Empfindung mit ihrer ästhetischen Lösung geantwortet, warf die Romantik dasselbe Problem neu auf. Friedrich Schlegel (1772-1829) stellte an programmatischer Stelle, nämlich in seiner Kritik Über die Unerständlichkeit die Frage: »Was kann wohl von allem, was sich auf die Mit-

teilung der Ideen bezieht, anziehender sein, als die Frage, ob sie überhaupt möglich sei [...]?« Und Novalis (1772-1801) formuliert in einem Fragment aus den Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (Nr. 316) die Gegenthese, dass »alles, was wir erfahren, [...] eine Mittheilung [ist]. So ist die Welt in der That eine Mittheilung - Offenbarung des Geistes.« Mit dieser Frage und dieser Aussage war das Dilemma deutlich formuliert. Der Kommunikationsbegriff oszilliert zwischen der Frage danach, ob Kommunikation überhaupt möglich ist, und der These, dass alles Kommunikation ist. Es ist leicht zu sehen, dass es angesichts dieses Dilemmas kaum Sinn macht, sich auf die Suche danach zu machen, was Kommunikation denn nun eigentlich »ist«. Denn Kommunikation ist hier eine Beobachtungsformel disparater und dennoch aufeinander an-

gewiesener Phänomene: der irreduziblen Erfahrung der menschlichen Individualität und der ebenso irreduziblen Erfahrung eines sich mitteilenden »Geistes«. Es ist daher nur konsequent, wenn Hegel (1770-1831) in seinen Vorlesungen über die Asthetik die Ästhetik auf eine Philosophie des Kunstschönen zurücknimmt, um dort umso genauer die Frage nach der Mitteilung stellen zu können. In den Kunstwerken »verdoppelt« sich der Mensch als Geist, das heißt, er kann sich anschauen, sich vorstellen, sich denken und wird durch dieses tätige Fürsichsein allererst Geist. Je genauer er sich anschauen kann, desto rätselhafter allerdings

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wird, wie er sich mitteilen kann. Das Kunstwerk wird bestimmt als »eine Frage, eine Anrede an die widerklingende Brust, ein Ruf an die Gemüter und Geister« und damit als etwas, was wie jede Mitteilung (aber wie?) allererst zu einer Mitteilung gemacht werden muss. Der von Schlegel genannte Topos der »Mitteilung der Ideen« erinnert an die Formulierung von John Locke, der zufolge es nur durch die »communication of ideas« möglich ist, dass sich die Menschen die in ihrer Brust verschlossenen und allen anderen unzugänglichen Ideen (Vorstellungen) wechselseitig

zugänglich machen. ° Die Ideen sind unsichtbar, aber die Worte, die die Menschen verwenden, bestehen aus sichtbaren

Zeichen, welche die Ideen bezeichnen können, die ein Mensch in seinem Kopf hat. Auch hier, im Rahmen einer Philosophie der Sprache, ist nicht die Lösung interessant, die durch das Wort »Kommunikation« eingeführt wird, sondern das Pro-

blem, das durch die Lösung eher verdeckt als tatsächlich gelöst wird. Denn auch für Locke besteht das entscheidende Problem in der verschlossenen Individualität des Individuums. Wie ge-

lingt es einem Menschen, seine Vorstellungen anderen zu vermitteln? Er verwendet Worte, die seine Vorstellungen bezeichnen, wohlgemerkt: seine Vorstellungen, aber weder die Vorstellungen anderer noch die Realität der Dinge, die in diesen Vorstellungen angesprochen wird. Das schließt freilich nicht aus, dass die Menschen Worte verwenden, deren Bedeutung sie nur zu kennen meinen, weil andere sie auch verwenden, ohne dass diese Worte notwendigerweise eine eigene Vorstellung bezeichnen. Aber wenn sie dies tun, unterliegen sie dem Verdikt des papageienhaften Sprechens. Daran könne man sich zwar gewöhnen, doch dürfe man sich nicht so weit

daran gewöhnen, dass man vergesse, dass jedes Wort ursprünglich nichts anderes bezeichnen kann, »and that by a

perfect arbitrary imposition«, als eine Vorstellung im Kopf eines Menschen.11 Die Kommunikation der Ideen führt hier also nicht etwa einen

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Schritt weiter auf dem Weg zur Lösung des Problems; sie verschärft vielmehr das Problem, da die Referenz der Worte die wiederum unzugängliche Vorstellung im Kopf eines Menschen ist. Locke kann das Problem nicht lösen, sondern nur benennen. Indem er an dieser Stelle abbricht, ein neues Kapitel beginnt und dies »Of general terms« nennt, verweist er jedoch auf die Ebene, auf der das Problem bereits als gelöst gelten kann und muss, nämlich auf die Ebene der Begriffe. Die Begriffe haben bereits eine allgemeine Bedeutung, die insofern »allgemein« genannt werden kann, als sie sich über verschiedene Individuen und Kontexte hinweg durch- und in Gebrauch hält. Hier stoßen wir wieder auf das grundsätzliche Problem. Mithilfe des Kommunikationsbegriffs fragt man nach einer Möglichkeit der Kommunikation, die man einerseits infrage stellen muss, wenn man von der Individualität der Individuen ausgeht, die man jedoch andererseits voraussetzen muss, weil man sonst die Frage gar nicht stellen könnte. Denn wir stellen diese Frage sprechend, lesend und schreibend, also offensichtlich kommunizierend, wissen also anscheinend schon, wie man das macht. Das macht die schlegelsche Frage so dringend und die novalissche Bemerkung so überzeugend.

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Die Sprache

Hinter die lockesche Problemstellung kann niemand mehr zurück. Auch Johann Gottfried Herder (1744-1803) bestimmt in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache die Seele

des Menschen als unaussprechlich. Er gibt dem Problem jedoch dadurch eine neue, für die deutsche Tradition maßgebende Wendung, dass er den Menschen nicht nur als »dunkel fühlende Auster« beschreibt, sondern ihm zugleich Oh-

ren gibt zu hören. Das ist keine triviale Wendung, denn das Individuum wird dadurch aus der nur produzierenden in eine auch rezipierende Stellung gebracht. Das Ohr ist der erste Lehrmeister der Sprache; der Mensch ist als horchendes und merkendes Geschöpf zur Sprache gebildet. Aber nicht nur das. Indem er über das Gehör zur Sprache erzogen wird, lernt der Mensch das Tönen als Handeln zu verstehen. Indem die Natur tönt, ist sie belebt und handelt sie. Indem er tönt, kann der Mensch zeigen, dass er lebt, und beginnen zu han-

deln.

Auch angesichts des Handelns bleibt der Mensch ein hörender, und das heißt ein besonnener: »Der Mensch ist in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend,

hat Sprache erfunden.« Denn Hören ist Merken, und Merken heißt, Aufmerksamkeit produzieren zu können und abzuwarten, was sich in diese Aufmerksamkeit einzeichnet. Dieses Merken merkt, dass es auf ein Besonderes merkt, und hat an dieser Absonderung seine besonnene, seine reflexive Komponente. Die Folgen sind nicht zu unterschätzen. Denn würde der Hund, der eines solchen Hörens nicht fähig ist, je

ein Wort verstehen, so diente er nicht mehr bloßs, sondern schüfe sich selbst »Kunst und Republik und Sprache.«

Damit ist die Verschlossenheit des Individuums in einer 33

wesentlichen Hinsicht neu und anders akzentuiert. Denn jetzt

»Öffnet« sich dieses Individuum nicht mehr nur, um seine Vorstellungen preiszugeben, sondern es öffnet sich bereits, um auf die Welt zu hören. Es macht sich die Welt zur Mitteilung im Sinne von Novalis, kann dabei aber das eigene Merken, das nach wie vor als Unaussprechliches stattfindet, nicht in Abrede stellen. Noch und gerade in der Öffnung des Individuums zur Welt, noch und gerade in seiner Bereitschaft zur

Kommunikation, findet daher etwas höchst Inkommunikables statt. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) hat in seiner Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts diesen Gedanken einer selbsttätigen Empfänglichkeit des sich in seiner Sprache mit der Welt verknüpfenden Menschen ausdrücklich akzentuiert. Auch er hält am Gedanken der letzten Bestimmtheit der Sprache im Individuum fest: »Keiner denkt

bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.«3 Aber für ihn gibt es ein Bedürfnis zu freier Geselligkeit, aus dem die Sprache entspringt. Darum ist die Sprache nicht nur bereits Gesprochenes, sondern auch jeweils neu zu Sprechendes; hat sie nicht nur Gewalt über den Menschen, sondern er auch Gewalt über sie; und ist sie teils fest, teils flüssig, denn nur so ist sie dem »redenden Geschlecht« gemäß. Das lockesche Problem der ausschließlichen Referenz der Sprache im Kopf des Sprechenden verschwindet, denn erstens gibt es keine objektive Vorstellung, die restlos der Subjektivität entzogen wäre; und zweitens gibt es keine Sprache, an der nicht ein anderer mitwirkt. Dies ist dann die Sprache, mit deren Hilfe das Individuum seine Gedanken formuliert und immer wieder neu formulieren kann. Der Mensch ist bereits ins Reden verstrickt. Und es gilt daher nicht herauszufinden,

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wie ein verschlossenes Individuum kommunikationsfähig werden kann. Vielmehr gilt es herauszufinden, welchen Beitrag die Verschlossenheit des Individuums zu seiner offensichtlichen Kommunikationsfähigkeit leistet.

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Theologie und Rhetorik

Die ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbegriffs hat sich vorschnell darauf verlassen, die Einsamkeit des Indi-

viduums durch Mitteilung »heilen« zu können. Tatsächlich

liegt ihre Leistung nicht in dieser Heilung, die nicht gelingt, sondern darin, das Individuum im Kontext von Kommunikation und Kommunikation im Kontext von Individualität beob-

achtbar zu machen. Die ästhetische Fragestellung zwingt dazu, die Differenz von Individualität und Kommunikation ins Auge zu fassen und zu formulieren. Daraus entsteht ein be-

grifflich hier lediglich angedeutetes Spannungsfeld, in das sich unterschiedliche Problemstellungen einzeichnen können. Die Philosophie des Bewusstseins im Ausgang von John Locke und die Philosophie der Sprache im Ausgang von Herder und Humboldt sind dafür nur Beispiele. Wenn die Ästhetik sich auf »Mitteilung« einlässt, beerbt sie ein theologisches und rhetorisches Verständnis von »communicatio«, das sich erst in dem Moment, in dem die Asthetik es übernimmt, als nicht mehr kontinuierbar erweist. Der theologische Begriff der »communicatio« zieht sich auf einen Terminus technicus zurück, der nur noch von Theologen verstanden wird; der rhetorische hat mit seiner Gebundenheit an die mündliche Rede Mühe, sich im Zeitalter des Buchdrucks zu behaupten, und verliert in dem Maße an Eleganz und Uberzeugungskraft, in dem die psychologische Kenntnis, die den

rhetorischen Begriff zunächst nur implizit motiviert, von Psychologie und Psychoanalyse expliziert werden. Aber sowohl das theologische als auch das rhetorische Verständnis von Kommunikation sind wichtig, um von der Asthetik zunächst aufgegriffene, dann eingeklammerte Erwartungen an die Kommunikation nachvollziehen zu können. Der Begriff der »idiomatum communicatio« behauptet die

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Gott-Mensch-Natur Christi, das heißt die Ubereinstimmung und Gemeinsamkeit der Eigenschaften Gottes und der mensch-

lichen Natur Christi in der gottmenschlichen Person. In der einen Person durchdringen sich, kommunizieren, die beiden Naturen (Idiome). In Christus und nur in Christus ist die prinzipielle Differenz von Gott und Mensch aufgehoben. Er ist, so muss man wohl sagen, das Wunder der Aufhebung einer Dif-

ferenz, auf die man anschließend, wenn wie am Beispiel Christi einmal gelungen, auch in anderen Fällen zurückgreifen kann, um Göttliches im Menschlichen und Menschliches im Göttlichen aufzuzeigen. Der Austausch der Idiome, der von

der Kommunikation behauptet wird, lässt die Differenz schließlich jedoch unglaubwürdig werden und mit ihr die Instanz, die sich über sie zur Geltung brachte. Der theologische Begriff der »idiomatum communicatio« formuliert den Sachverhalt unwahrscheinlicher Kommunikation mit aller wünschenswerten Schärfe - um daraus eine Christologie abzuleiten, die den Anforderungen Sören Kierkegaards (1813-1855) an die paradoxale, also herausfordernde, überfordernde und unterwerfende Natur des Glaubens gerecht werden kann. Der Begriff ist, und das gilt für alle Begriffe, selbst eine Kommunikation, und zwar auch in diesem Fall der »idiomatum communicatio« eine »mittelbare Mitteilung« im Sinne

Kierkegaards, die deswegen als Kommunikation gelten kann, weil sie nur gelingt, wenn sie als »Zeichen des Widerspruchs« den Empfänger zu einer »selbsttätigen« Entscheidung über den Sinn der Mitteilung herausfordert. In dieser Selbsttätigkeit

und nur dort erfüllt sich die Kommunikation.

Die Kommunikation des göttlichen und des menschlichen Idioms ist der schlechthin gelungene - wenn auch nur einmal gelungene und nur als Paradoxie zu glaubende - Fall einer Kommunikation, an dem hinfort alle andere Kommunikation sich messen lassen muss. Weil es dieses erfolgreiche Exempel gibt, kann »Kommunikation« auf Austausch und Gemeinsamkeit abstellen, als sei dieser Fall selbst nicht wiederum als Einheit einer schlechthin unversöhnlichen Differenz zu beschrei-

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ben und festzuhalten. Tatsächlich verwickelt sich die Theologie in die Paradoxie, die Differenz behaupten zu müssen, um eine Einheit ins Spiel bringen zu können, die für die eine der beiden Seiten der Differenz, aber nicht die andere, Vorbildcharakter gewinnen soll. Irgendwann in der Geschichte wird die Differenz gestrichen, die Paradoxie vergessen - und trivialerweise ein Kommunikationsbegriff beibehalten, der auf gelingende Gemeinsamkeit setzt. Am Streichen der theologischen Differenz ist jene Rhetorik nicht unschuldig, die gleichzeitig einen ganz anders gearteten Begriff der »communicatio« in der historischen Semantik zur Geltung bringt. In Marcus Tullius Ciceros (106 v. Chr.-43 v. Chr.) De Oratore oder Marcus Fabius Quintilians (30-um 96 n. Chr.) Institutio oratoria ist die »communicatio« eine Redefigur, die sich an den Zuhörer wendet, um ihn um Rat zu fragen, um ihm Mitsprache einzuräumen und um einen Zweifel an den eigenen Worten anzudeuten, der nur vom Zuhörer ausgeräumt werden kann. Die Redefigur der »communicatio« (griech. anakoinosis) ist insofern den Redefiguren der »dubitatio« und der »permissio« verwandt. Sie zielt auf Handlungen und stellt in Rechnung, dass gemeinsames Handeln im Anschluss an eine Rede nur dort möglich ist, wo die Zuhörenden in etwas einbezogen worden sind, was als Herstellung einer

gemeinsamen Basis verstanden und selbst wiederum als die Unterstellung dieser Basis kommuniziert werden kann. Von der »communicatio« zur »institutio« bedarf es nur jenes kleinen Schrittes, der signalisiert, dass der gerade erst gewonnene Konsens jetzt für generalisierungsfähig gehalten wird, das heißt gegen Abweichungswünsche durchgesetzt werden

soll. Der rhetorische Begriff der Kommunikation beschreibt eine Redefigur, die nicht etwa ein einzelner Sprechakt ist, sondern letztlich das Ganze der Kommunikation umgreift: eine Rückkopplungsschleife zwischen Redenden und Zuhörenden, die auch dann einen nicht mehr zu leugnenden Sachverhalt benennt, also eine Einsicht in Kommunikation enthält, wenn sie

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wieder und wieder als (»bloße«) Redefigur enttarnt wird. Man kann diesen Begriff verwenden, um sich zum Beispiel dem

theologischen Begriff der »idiomatum communicatio« zu-

zuwenden, und hat dann die Wahl, die Idee des Gottmenschen, ja auch die Idee Gottes selbst, als »communicatio« des redenden Menschen oder als »communicatio« des sich offenbarenden Gottes zu verstehen. Da die Offenbarung aber nicht als »communicatio« im rhetorischen Sinne verstanden werden kann, da Gott nicht als jemand gedacht werden kann, der sich und den Glauben an ihn dem Einzelnen anheim stellt (oder doch?), fällt die entscheidende Botschaft des Gottmenschen auf den Menschen zurück. Der Begriff der »communicatio« spielt keine dominierende Rolle in der Rhetorik. Aber er kann dazu benutzt werden, die Rhetorik als eine Form des Wissens um Kommunikation zu rekonstruieren. Die Einsicht in Rückkopplungsschleifen spielt dabei eine wichtige Rolle. Denn diese Einsicht platziert die Rhetorik genau dort, wo man sie braucht, wenn die Evidenz und Garantie einer externen Wirklichkeit verloren gehen und das Bewusstsein einer durch Kommunikation konstruierten

und strikt vorläufigen Wirklichkeit sowie einer an ihren Widerständen zu erkennenden Wirklichkeit an ihre Stelle tritt. Der durch die ästhetische Fragestellung auf die Differenz

von Individuum und Kommunikation zugespitzte, aber immer noch nicht erläuterte Kommunikationsbegriff erfährt durch die theologische Paradoxie der »idiomatum communicatio« eine in sich selbst kollabierende Emphase des Gelingens und durch den Verweis der Rhetorik auf Rückkopplungsschleifen eine Aufforderung zur Operationalisierung, die der

weiteren Ausarbeitung des Begriffs allerdings nicht nur gut tut, sondern lange Zeit auch im Wege steht.

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Das Individuum

Vielleicht wird das Problem, auf das die ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbegriffs hinauswill, nirgendwo deutlicher als in den Essais von Michel de Montaigne (1533-1592), die vor allem mit der Apologie für Raymond Sebond als ein Manifest des neuzeitlichen Individualismus gelten. Diese Apologie fragt danach, wie es dazu kommt, dass ein Individuum etwas weiß: »Wie aber dergleichen rein seelische Einwirkungen einen festen und kompakten Körper so tief durchdringen können und auf welche Weise das enge Ineinandergreifen dieser erstaunlichen Impulse vor sich geht, hat kein Mensch je in Erfahrung gebracht.«$ Montaigne para-

phrasiert hier Augustinus (354-430), den er wenige Zeilen später zitiert: »Wie der Geist sich mit dem Körper vereint,

ist ein vollkommenes Wunder und kann von keinem Menschen begriffen werden; ebendiese Vereinigung aber ist der Mensch.«16 Auch Montaigne weiß hier nicht weiter. Er stellt aber fest, dass es zwei Typen individuellen Wissens gibt, die beide aus ein und derselben Grunderfahrung gespeist werden. Der eine Typ orientiert sich an Autoritäten und verteidigt deren Lehren, und zwar nicht etwa wegen des oft fragwürdigen Inhalts dieser Lehren, sondern um die Autorität als Autorität aufrechtzuerhalten. Die Autorität ist für dieses Wissen der Endzweck. Das Individuum liefert sich an eine Autorität aus und erhält dafür die Möglichkeit, sich auf eine Autorität zu berufen. Beim anderen Typ individuellen Wissens lässt sich der

Einzelne von denjenigen Ansichten überzeugen, denen man sich gerade, sei es zufällig, sei es zur Übung, und durchaus kritisch, aussetzt. »Die Schriften der Alten - ich meine die guten,

gehaltvollen und gründlichen - umgarnen mich gleichsam und ziehn mich wohin immer sie wollen; der, dem ich grade zuhöre, scheint mir immer am überzeugendsten, und ich

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finde, daß jeder auf seine Weise recht hat, obgleich sie sich widersprechen.«17 Wenn dies die beiden Typen individuellen Wissens sind, der eine angewiesen auf eine Autorität, wenn auch geschickt und einfallsreich in der Verteidigung, der andere schwankend und

unstet, wie kundig und kenntnisreich auch immer, was ist dann über die Art dieses individuellen Wissens zu sagen? »Ich, der ich mich näher beobachte und stets im Blick behalte, wie eben einer, der nicht viel zu tun hat, [...] getraue mich kaum zu sagen, wieviel Unzulänglichkeit, ja Unvermögen ich in mir entdecke. Ich stehe auf so unsichren und wackligen Füßen, ich gerate so leicht ins Schwanken und sehe die Dinge in so wechselhaftem Licht, daß ich mich nüchtern als einen andren empfinde denn nach dem Essen.«l8 Und: »Nicht nur hitzige Krankheiten, berauschende Getränke und schwere Schicksalsschläge verwirren unsere Urteilskraft - schon geringste Kleinigkeiten

machen sie taumeln.« Die Brisanz dieser Entdeckung besteht darin, dass sie das neuzeitliche Individuum nicht etwa dazu bringt, von sich wieder abzusehen, vielmehr akzeptiert dieses Individuum die unsicheren und schwankenden Füße als die seinen. Das ist das Individuum, auf das die Asthetisierung des Kommunikationsbegriffs hinauswill: ein Individuum, das sich im Bezug auf sich selbst immer wieder neu und immer wieder prekär selbst schafft, wie es Karl Philipp Moritz (1756-1793) als lesendes und vielleicht schon deswegen nicht mehr »philosophisch«, sondern nur »psychologisch« zu fassendes Individuum in seinem Roman Anton Reiser höchst einflussreich vorgeführt hat. Das ist das Individuum, das dann auch als »klug« (Gracián), als »genial« und »witzig« (Jean Paul) gefeiert werden kann. Denn »klug« muss man schon sein, wenn man die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen, in all den Versuchen, von anderen bestimmt zu werden, entdecken und - Gipfel der Klugheit - dafür Sorge tragen will, dass diese Möglichkeit nicht

dem Individuum, sondern den Verhältnissen zugerechnet wird (sonst sähen andere keinen Anlass sich anzuschließen).

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»Genial« ist das Individuum, wenn es sich selbst als »Schöpfer«

setzen kann, das heißt mit Jean Paul wenn es sich »die Wirklichkeit zugleich zum Gegenstand und zur Darstellung zuführt« 20 Dazu braucht es zweierlei, nämlich »Besonnenheit«,

also die Fähigkeit, zwischen äußerer und innerer Welt zu unterscheiden, und »Instinkt«, mithin einen Sinn für die Zukunft, der seinen Gegenstand fordert wie die Wirkung ihre Ursache. Im »Instinkt« denkt das Individuum sich als unabhängig von seinem Denken, nämlich als ausgestattet mit einem Realitätsbewusstsein, das weder auf momentane Evidenz noch auf einen externen Garanten noch auf einen operativen Zweifel, sondern auf die Erfahrung eines nicht, das heißt: nur auf die Wirklichkeit, zurechenbaren sinnlichen Widerstandes zurückgeht. »Witzig« schließlich ist das Individuum, wenn es sich in eine Position bringen kann, von der aus Vergleiche verschiedener Phänomene möglich sind, die Ähnlichkeiten oder

Unähnlichkeiten ermitteln, die man anschließend unentscheidbar sowohl den Phänomenen als auch dem vergleichenden Individuum zurechnen kann. »Witzig« ist somit, wer überraschende Vergleiche zwischen scheinbar unterschiedlichen Phänomenen ziehen kann. Man sieht, in welche anspruchsvolle Position die Ästhetik das Individuum einrückt. Man sieht aber auch, dass es offensicht-

lich nicht als nichtkommunikativ gedacht werden kann. »Klug«, »genial« und »witzig« ist es, wenn es sich kommunikativ zur Bestimmung der Kommunikation bestimmen lässt. Es richtet sich selbst in der Unentscheidbarkeit der internen oder externen Bestimmung ein. So auch Montaigne. Er teilt in seinen Essais seinen Lesern mit, dass er nicht auf sie angewiesen ist, widerlegt diese Behauptung allen sichtbar jedoch erstens dadurch, dass er diese Behauptung überhaupt mitteilt, und zweitens dadurch, dass er seine Essais publiziert.

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Schrift und Buchdruck

Das Individuum der Neuzeit spricht nicht mehr nur mit anderen und hört ihnen zu, es liest und schreibt auch. Wenig hat nach der Einführung der Schrift die Situation der Kommunikation und damit auch das Verständnis der Kommunikation so durchgreifend verändert wie die Einführung des Buchdrucks.

Die Schrift hatte mit der Einführung des Alphabets die Bedeutung des - von der mündlich vorgetragenen Rede ebenso geprägten wie in Anspruch genommenen - individuellen Gedächtnisses für Handlungen und Erlebnisse allmählich zurückgedrängt und das individuelle Bewusstsein nicht nur für Prozesse der Reflexion freigesetzt, sondern auch sich selbst entdecken lassen. Sodann eröffnete der Buchdruck einerseits die Möglichkeit des einsamen Lesens und andererseits die Möglichkeit, jedermann mit der eigenen Schrift erreichen zu können, ohne zu wissen, wer oder wann jemand erreicht wird. Das heißt, der Buchdruck machte es unausweichlich, das Individuum als (lesendes) Individuum und alle anderen als (noch unbestimmte) »Gesellschaft« zu denken. Der Buchdruck wurde als Kommunikationsmaschine analog zu Bewässerungssystemen, aber auch zu Offenbarungsmedien gedacht, und »Kommunikation« erhielt jetzt den Sinn des »in die Gemeyn Gebens«2), wobei »in Gemeyn« zunächst die Übersetzung für »in das Medium« (nämlich des Buchdrucks) war und

erst später zur Gemeinschaft und Gesellschaft der Lesenden und Schreibenden erweitert wurde. Die »Gesellschaft« wurde ausgehend vom Medium des Buchdrucks gedacht, also mit Blick auf die Differenz zwischen dem mit Lesen und Schreiben beschäftigten Individuum und einer unbestimmten Menge von Lesern und Schreibern. Bei diesem

kommunikationstechnologischen Verständnis von Gesellschaft blieb es jedoch nicht. Der neuzeitliche Humanismus

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trägt Erinnerungen an den griechischen Begriff der koinonia, der in der Polis »herrlich« und »herrschaftlich« gewordenen Gemeinschaft nach und streicht damit die prinzipielle Dif-

ferenz zwischen Individuum und Gesellschaft, nicht ohne sie für die Selbstbestimmung des »Menschen«, aber jetzt im Rahmen der Gesellschaft, dann doch wieder einzufordern. Und der Protestantismus interpretiert den Buchdruck, der ja zunächst der Bibel zugute kam, als letztes Geschenk Gottes, in

dem die gesamte Weisheit der göttlichen Offenbarung umfassend und abschließend gespeichert ist. Das kommunikationstechnologische Verständnis wird mit diesen und anderen Referenzen angereichert, so dass man wieder einen Schritt weitergekommen ist im Versuch, Einsichten in die Struktur der Kommunikation durch mitlaufende Referenzen sowohl zu verstellen als auch in dieser Form der Verstellung zu

bewahren. Die herausragende Bedeutung des Buchdrucks ist auch daran zu erkennen, dass im 19. Jahrhundert eine textorientierte Her-

meneutik an die Stelle der noch an der mündlichen Rede orientierten Rhetorik tritt. Die Hermeneutik, so wie sie als Kunstlehre des Verstehens vor allem von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) in seinem Buch Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament entfaltet wird, beerbt ganz selbstverständlich das »ästhetische« Wissen um die Differenz von Individuum und Gesellschaft, hier in der Fassung der Differenz zwischen Individuum und Sprache. Sie bringt das Widerstandsmoment des Individuellen zum Ausdruck, indem sie das »Psychologische« des Denkens eines Individuums mit dem »Grammatischen« der Sprache eines Zeitalters konfrontiert und dann nicht nur die Wahl hat, woran sie ihre eigene Arbeit orientiert, sondern diese Wahl zum eigenen Bewegungsmoment machen kann. Die Aufgabe, die Rede eines anderen zu verstehen, erweist sich am Missverstehen immer wieder neu als dringlich, sie kann jedoch mit dem Blick aufs Grammatische einer Lösung zugeführt werden, der zugleich mit dem Blick aufs Psycholo-

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gische systematisch nicht zu trauen ist. Die Unendlichkeit dieser Aufgabe sowohl in grammatischer als auch in psychologi-

scher Hinsicht - unendlich, weil die Verweisungshorizonte der Zukunft und Vergangenheit in jedem Moment der Rede unendlich sind - bedingt, dass die Kunst des Verstehens als Kunst ohne Regeln verstanden werden muss. Für diese Kunst gibt es zwischen Psychologie und Grammatik keine Prioritäten und keine Dominanzen, allenfalls situative Verschiebungen, wenn man feststellt, dass sich das grammatische Verstehen etwa vornehmlich im Geschäftlichen und Didaktischen oder das psychologische Verstehen im Brieflichen und Lyrischen bewährt. Hier deutet sich eine bereichsspezifische Lösung des Problems des Individuellen an, die sich in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts allgemein großer Wertschätzung erfreut. Man glaubt, das Problem des Individuellen gesellschaftlich lö-

sen, vielleicht sogar nutzen zu können, indem ihm sein Bereich, das »Private«, zugewiesen wird und es derart aus allem anderen, dem »Öffentlichen«, herausgehalten werden kann. Dieser Versuch erweist sich jedoch als nicht praktikabel. Bereits Wilhelm Dilthey (1833-1911) denkt in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften die »Systeme der Kultur« (Religion, Kunst, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft) als Modifikationen der Person, die zwar den Wechsel der Individuen überdauern, gleichwohl jedoch auf immer wieder neue Individuen angewiesen sind. Das Individuum ist nicht ins Private zu relegieren, sondern für den Nachvollzug und Mitvollzug, und das heißt immer auch: den Weitervollzug, der großen Kulturleistungen der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Allerdings unterscheidet auch Dilthey zwischen diesen »Systemen der Kultur« einerseits und der »Organisation der Gesellschaft« andererseits, die sich durch Herrschaft, Abhängigkeit, Gemeinschaft, Familie, Unternehmen, Staat, Kirche und so weiter auszeichnet und nicht als Modifikation der Person zu denken ist.

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Paradox der Inkommunikabilität

Deutlich geworden ist, woran sich die ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbegriffs reibt: Thr Problem liegt in der unzugänglichen Individualität des Individuums. Die Gesellschaft stellt in den Zeiten des Buchdrucks denjenigen Bereich dar, der sich über den Wechsel der Individuen hinweg reproduziert und daher durch Mitteilungen des Individuums allererst erreicht und dem Individuum zugänglich gemacht werden muss. Die Gesellschaft operiert zum einen hautnah, nämlich in den aufgeschlagenen Büchern, durch die sich das Individuum als unstet, leer und schwankend erfährt, und zum anderen unerreichbar, nämlich in dem, dass andere gleichzeitig anderes tun. Auf diese Entdeckung der Gesellschaft zielt der Kommunikationsbegriff. Die Ästhetik muss sich darauf beschränken, die Entdeckung der Gesellschaft zusammen mit der Entdeckung des Individuums festzuhalten. Sie hat keinen eigenen Kommunikationsbegriff, der den Dimensionen dieser Entdeckungen und dem Charakter der Differenz von Individuum und Gesellschaft, die in ihnen angesprochen ist, gewachsen wäre. Sie kann lediglich den Gedanken des sich im ästhetischen Urteil selbst bestimmenden Subjekts festhalten und der Frage nachgehen, welche nicht vom Subjekt, sondern von den Kommunikationen, in die es verwickelt ist, ausgehenden Bestimmungen in diese Selbstbestimmung miteingehen. Das primäre Feld für diese Erkundung des auf dem Umweg der Fremdbestimmung

sich selbst bestimmenden Individuums ist die Kunst. Als Künstler behauptet sich das Individuum so souverän und autonom, wie es sich andererseits in die »unnegierbare Sozialität«z verstrickt, die eigenen Wahrnehmungen für die Wahrnehmung durch andere, also für Kommunikation, zu präparieren, weil andernfalls von Kunst gar keine Rede sein kann.

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Selbst für die künstlerische Freiheit des Individuums, oder besser: seiner Kunst, gilt, dass es über die Bestimmung durch Kommunikation nur insoweit hinausgelangen kann, als es ihm gelingt, diese Bestimmung selbst mit vorzuführen. Daraus gewinnt der künstlerische Akt des Individuums jene Am-

biguität, die, einmal akzeptiert, nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, die aber selbst wiederum nur als Unentscheidbarkeit bestimmt werden kann, ob der Akt den Möglichkeiten der

Welt oder den Möglichkeiten des Individuums zugerechnet werden muss. Auch wenn die Kunst zum eigentlichen Spielfeld wird, in dem

die ästhetische Akzentuierung der Kommunikation erprobt werden kann und ausgeführt werden muss, so lässt sich die ästhetische Beobachtung der Kommunikation doch nicht auf die Kunst beschränken. Denn zum einen will die Ästhetik mehr als nur Theorie der Kunst sein. Sie gibt den Gedanken nicht auf, dass spätestens am Gegenstand des künstlerischen Werkes das Individuum sich selbst anders bestimmen lernt, als es sich durch die »verwaltete Welt«23 bereits bestimmt vorfindet. Zum anderen jedoch bleibt auch für alle gesellschaftlichen Bereiche außerhalb der Kunst festzuhalten, dass Kom-

munikation dort auf die Paradoxie der Zugänglichkeit eines unzugänglichen Individuums angewiesen ist. Die Gesellschaft installiert sich selbst in dieser Paradoxie.

Das können ein Aufklärungsoptimismus - der sich von der »Zirkulation« der Ideen, der »Korrespondenz« der Gelehrten und der »Konversation« der Gebildeten eine allmähliche Vervollkommnung der sprachfähigen Menschheit verspricht24 und ein »bürgerlicher« Begriff der Kommunikation - der in eher pragmatischer Absicht auf Verkehr, Verbindung, Vermittlung und Verständigung abstellt - zwar für eine Weile verbergen. Aber neben diesen Optimismus und diesen bürgerlichen Begriff treten im 18. Jahrhundert der Roman und im 19. Jahrhundert die Poesie, die wie eine Art Gesellschaftstheorie vor der Gesellschaftstheorie auf der Inkommunikabilität dessen bestehen, was das Individuum für sein Wichtigstes hält, näm-

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lich Identität, Authentizität und Aufrichtigkeit. Gegen den bürgerlichen und aufklärerischen Optimismus der Kommunikation setzt die Poesie den ebenso bürgerlichen, aber romantischen Pessimismus, dass Individualität nicht nur »unsagbar« ist, sondern dass sie, wenn sie sich zum Ausdruck bringt, den Zweifel an ihr weckt. Wer »ich« sagt, wer sich als »authentisch« beschreibt und wer darüber hinaus auch noch beteuert, dass er »aufrichtig« ist, lässt sich auf eine Kommunikation ein, die nachfragt und Zweifel vorbringt, eben weil sie es gelernt hat, jede Kommunikation im Hinblick auf die Differenz von Individuum und Gesellschaft auszulegen. Wer sagt, dass er aufrichtig ist, erzeugt genau deswegen Misstrauen, weil er es für nötig hält, dies zu formulieren. Im Paradox der Inkommunikabilität, das von der Poesie zugleich beklagt und ausgenutzt wird, das heißt in der Widerlegung der Kommunikation durch die Kommunikation, versteckt sich über Jahrzehnte jene Kommunikationstheorie, die erst expliziert werden kann, wenn sie gleichzeitig Theorie der Gesellschaft geworden ist. In beiden Versionen eines bürgerlichen Verständnisses von

Kommunikation - in einem Verständnis, das auf die neuen Verkehrsformen (Eisenbahn), neuen Medien (Presse) und neuen Kommunikationstechnologien (Telegraf) setzt, und in einem Verständnis, das im Roman, in der Poesie, später in der Ideologiekritik und in der Psychoanalyse sein Übungsfeld findet - bereitet sich ein Kommunikationsbegriff vor, der seinen wichtigsten Anhaltspunkt in der Erfahrung einer weder vom Sprechenden noch vom Hörenden zu kontrollierenden, dennoch auf beider Aufmerksamkeiten angewiesenen Eigendynamik der Kommunikation hat. Für diese Eigendynamik stellt sich spätestens mit der Erfahrung der Französischen Revolution, die durch Oberschichteninteraktion (also durch das nicht nur »vernünftige«, sondern »gesellige«, die Vernunft auf ein vernünftiges Maß reduzierende »Gespräch«) nicht mehr zu steuern ist, der Name »Gesellschaft« ein.

Wenn man wie Hegel in seiner Philosophie des Rechts (1819/20) von der »bürgerlichen Gesellschaft« spricht, so ver-

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bindet sich damit zunächst die aus der schottischen Moralphilosophie übernommene Hoffnung, diese Eigendynamik letztlich doch auf die »Interessen« der Individuen zurückführen zu können und diese »Interessen« für die Kontrolle beziehungs-

weise Kanalisierung der den Bürger bedrohenden Eigendyna-

mik adliger »Leidenschaften« nutzen zu können. Doch spä-

testens im 20. Jahrhundert muss diese Hoffnung auf eine »bürgerliche« Gesellschaft aufgegeben werden, weil man mit Phänomenen konfrontiert wird, die weder auf Interessen noch auf Leidenschaften gründen, stattdessen jedoch von einer sich

selbst ermöglichenden, ihre eigene Vergangenheit und Zukunft schaffenden Eigendynamik zeugen. Der ästhetische Akzent überlebt beide Versionen der bürgerlichen Emphase, die Eroberung der Welt durch Kommunikation ebenso wie die Universalisierung des Verdachts aufgrund der Erfahrung von Kommunikation. Er hält die Eigendynamik der Kommunikation fest und verfolgt das Schicksal der Indivi-

dualität. Im 19. Jahrhundert beschäftigte man sich mit der Frage, wie weit der Kommunikation etwa unter dem Gesichtspunkt der »Erziehung« überhaupt noch ein Zugriff auf das In-

dividuum möglich ist. Henry Adams (1838-1918) zum Beispiel führt in The Education of Henry Adams vor, dass man nicht wusste, ob man aus der Entwicklungsdynamik der Gesellschaft auf die abnehmende Relevanz der Individuen oder der Kommunikation schließen sollte. Man sah jedoch, dass es auf die kommunikative Verständigung der Individuen nicht ankommt beziehungsweise dass das, was geschieht, in diese Verständigung auf eine Art und Weise eingebettet ist, die ebenso unempfindlich gegenüber der Verständigung wie zufallsabhängig ist.

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Die Erfahrung eines Widerstands

Die ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbegriffs läuft auf zwei Unterscheidungen zu, die in einem vielleicht als »proemielle Relation«25 (von griech. »prooimion« = Einleitung, Vorspiel) zu beschreibenden Verhältnis zueinander stehen. Die erste ist die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft, die zweite die Unterscheidung zwischen gelin-

gender und misslingender Kommunikation. An der ersten Unterscheidung hat die Ästhetik ihren Ansatzpunkt. Auf die zweite Unterscheidung läuft sie zu, denn sie kann die erste nur

behaupten, wenn sie aus dem gesellschaftlichen Gelingen (oder Misslingen) der Kommunikation nicht auch auf ein indi-

viduelles Gelingen (oder Misslingen) schließen muss. Sie muss auf einer individuellen Reserve bestehen, die nicht nur darin besteht, dort Nein sagen zu können, wo alle anderen Ja sagen, sondern auch darin, dort ein Scheitern zu diagnostizieren, wo alle anderen sich heimisch fühlen, und dort ein Gelingen, wo alle anderen den Eindruck des Versagens haben. Die Unterscheidung zwischen Gelingen und Misslingen gibt dem Individuum ebenso wie der Gesellschaft die Möglichkeit, auf der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft zu bestehen, und das heißt hier: sie in die Kommunikation als von der Kommunikation zu berücksichtigende Differenz einzuführen. Man kann hier von einer »proemiellen Relation« sprechen, weil die symmetrische Austauschmöglichkeit zwi-

schen den beiden Zuschreibungen des Gelingens und des Misslingens eine Ordnungsrelation zwischen Individuum und Gesellschaft schafft, die es systematisch unentscheidbar und damit fallweise entscheidbar (und als fallweise zu entscheiden beobachtbar) macht, ob »Individuum« oder »Gesellschaft« der

hierarchisch dominierende Wert ist. Man kann die beiden Unterscheidungen und ihre »proemielle Relation« dahinge-

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hend zusammenfassen, dass der ästhetisch akzentuierte Kommunikationsbegriff für das Individuum den Widerstand der Gesellschaft und für die Gesellschaft den Widerstand des Individuums erfahrbar macht. Mit diesem Begriff des Widerstands wird die Beobachtung formuliert, dass, wie Jean-François Lyotard (1924-1998) in seinem Buch Le différend herausgearbeitet hat, Kommunikation nicht nur zum Reden bringt, sondern auch zum Schweigen. Darauf kann man »ethisch« oder auch »politisch« reagieren und eine »Diskursethik« entwickeln, die auf dem Postulat beruht, jede Kommunikation unter dem Gesichtspunkt möglichst offener Anschlussmöglichkeiten, das heißt einer zwar strukturierten, aber nicht bereits vorweg entschiedenen Kontingenz der Fortsetzungsoptionen, zu beobachten. Mit der Formulierung einer Widerstandserfahrung scheint über den ästhetischen Akzent hinaus die Möglichkeit jedes Kommunikationsbegriffs angesprochen zu sein. Denn wie soll man sich einen Begriff von Kommunikation vorstellen, der

nicht (mindestens) auf die beiden genannten Unterscheidungen und auf die Erfahrung des Widerstands, der sie zusammenfasst, Bezug nimmt? Wir stehen damit vor der merkwürdigen Situation, dass wir zwar keinen ästhetischen Kommunikationsbegriff haben, uns gleichwohl jedoch vor dem Hintergrund der beschriebenen historischen Semantik keinen Kommunikationsbegriff mehr vorstellen können, der

nicht in einem durch die Verwendung der beiden genannten

Unterscheidungen gekennzeichneten Sinne »ästhetisch« wäre.

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Die soziale Dimension

Im 20. Jahrhundert wird ein Kommunikationsbegriff ausgearbeitet, der nach wie vor an den beiden genannten Polen - der Frage von Schlegel, wie eine Mitteilung möglich sei, und der Antwort von Novalis, dass alles eine Mitteilung sei - sein ästhetisches wie auch begriffliches Maß hat. Mit zunehmender Schärfe wird ein Kommunikationsbegriff formuliert, der Kommunikation als eine ebenso allgegenwärtige wie immer wieder

auf sich selbst verweisende Verständigungsoperation unter Menschen begreift. Diese Menschen werden als Individuen angesprochen. Sie gehen in der Verständigungsoperation nicht auf, sondern beobachten sie wie von außen. Die Kommunikation spricht die Individuen an und nimmt sie in Anspruch. Sie bringt sie jedoch prinzipiell in eine Situation, die nur durch eine eigene Wahl des Individuums und damit im Kontext einer Selbstbestimmung des Individuums beantwortet werden kann. Man entdeckt die Selbstreferenz der Kommunikation und pro-

biert mehrere Versionen aus, wie diese zu verstehen und zu

interpretieren ist. Zunächst dominiert der erkenntniskritische Aspekt, den bereits Friedrich Nietzsche (1844-1900) in seiner Schrift Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) vorgetragen hatte und der darauf abstellt, dass Wahrheit nichts anderes sei als das Vergessen der sprachlichen Herkunft jenes »beweglichen Heeres von Metaphern«, mit denen die Menschen sich unter sich weniger über die Welt als vielmehr über ihre Beziehungen untereinander als Beziehungen zur Welt verständigen. Nietzsche hatte für diese These Argumente gefunden, die man heute als »kognitionswissenschaftliche« Argumente beschreiben würde. So seien die Worte, mit

deren Hilfe sich die Menschen verständigen, Metaphern für

Bilder und diese wiederum Metaphern für Nervenreize. »Und

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jedesmal vollständiges Uberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue.«26

Martin Heidegger (1889-1976) hat diesen erkenntniskritischen Zug weiterverfolgt und in seinem Buch Sein und Zeit (1927, § 35) unter dem Titel »Das Gerede« das, was hier als »Kommunikation« verhandelt wird, als bodenlosen Selbstläufer gekennzeichnet, dem gerade deswegen, weil das Gerede sich sein Verstehen im Nach- und Weiterreden selbst schafft, der Durchblick auf seine Bodenlosigkeit vorenthalten ist. Hatte John Locke die Referenz der gesprochenen Sprache nicht in den beredeten Dingen, sondern in den gemeinten Vorstellungen des Sprechers gesehen, so geht Heidegger einen Schritt weiter und sieht diese Referenz nur noch in der gesprochenen Sprache selbst, die sich zwar die Suggestion schafft, dass sie mittels individueller Vorstellungen nachvollziehbar ist, tatsächlich aber auf diesen Nachvollzug auch verzichten

kann, weil es einzig auf die Fortsetzung des Geredes ankommt. Dieses Gerede nimmt ein eigenes Dasein an, dem, weil es sich immer schon versteht, nichts verschlossener bleibt als »die Unheimlichkeit der Schwebe«, in der es sich hält. Karl Jaspers (1883-1969) erinnert in der dritten seiner fünf Vorlesungen über Vernunft und Existenz (1960) gegenüber der Erkenntniskritik wieder an die Differenz von Individuum und Kommunikation, die jetzt allerdings nicht mehr ästhetisch, sondern existenzialistisch formuliert wird. Für Jaspers Philosophie gewinnt die Kommunikation einen grundbegrifflichen Status. Sie wird nicht nur als universale Bedingung des

Menschseins, sondern als in sich ständig bewegte, auf kein Ziel, keine Vergangenheit, keine Zukunft festzulegende Bedingung beschrieben, die eine stets unsichere, stets gefährdete Wirklichkeit schafft. Aber obwohl es keine Möglichkeit gibt,

den Menschen anders als durch Kommunikation zu bestimmen, bestimmt dieser sich erst wirklich durch ein spezifisches »Ungenügen«, das er in der Kommunikation erfährt, indem er

zwar als Ich angesprochen wird, sich jedoch nicht als »ich 53

selbst« engagieren kann. Das existenzialistische Motiv wird so formuliert, dass das Ich in der Kommunikation nur als Funktion dieser Kommunikation, nicht jedoch als sich selbst bestimmendes Ich auftaucht. Jean-Paul Sartre (1905-1980) und andere haben diesen Gedanken später radikalisiert. Eine andere Version zur Entdeckung der Selbstreferenz der Kommunikation präsentiert John Dewey (1859-1952) in einer Vorlesung über »Nature, Communication and as Meaning« (Experience and Nature, 1925). Auch für ihn ist die Kommunikation vor allem durch die freie Beweglichkeit des Wortes und

des Diskurses gegenüber der Gebundenheit des Dinges, des Ereignisses und auch des Redners an Ort und Zeit gekennzeichnet. »Kommunikation ist die wunderbarste Sache der Welt. Daß Dinge von der Ebene äußerlichen Stoßens und Ziehens auf eine Ebene übergehen können, auf der sie sich dem Menschen und dadurch sich selbst enthüllen; und daß die Frucht der Kommunikation Teilnahme, Teilhabe ist, ist ein Wunder, neben dem das Wunder der Transsubstantiation verblaßt.«28 Dank Kommunikation kann man sich Dinge und Ereignisse in einer Art Zweitversion (aber für die Kommunikation ist es die erste und einzige Version) zurechtlegen, sie neu kontextuieren, an ihnen etwas lernen und lehren. Durch Kommunikation erwerben Dinge und Ereignisse einen Sinn, und das heißt, sie reichern sich an mit Verweisen auf anderes, auf eingelöste und uneingelöste Möglichkeiten. Dewey schließt aus dieser Verfassung der Kommunikation jedoch nicht auf Erkenntniskritik, sondern auf die Beobachtung einer Dimension der Sozialität, die bei Nietzsche, Heidegger und Sartre bereits präsent ist, jetzt allerdings als Entdeckung

einer eigenen Referenz auf »Gesellschaft« ausgelegt wird. Kommunikation ist nun nicht mehr nur durch die Sprachlichkeit der Sprache bestimmt, sondern gleichzeitig dadurch, dass

es immer mehrere Individuen sind, die an ihr teilnehmen. Wenn der Mensch kommuniziert, begibt er sich in eine Situa-

tion mit zwei Parteien. Noch gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass es der Mensch ist, der kommuniziert. Noch ist

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es zu wichtig, gegen theologische Suggestionen gerade darauf hinzuweisen. Wesentlich ist, dass Kommunikation als etwas gefasst wird, was einer Mehrzahl an ihr teilnehmender Menschen und damit keinem der Individuen, sondern strikt und ausschließlich ihrer Differenz zugerechnet wird. Wie schwer es fällt, diese Differenz zu denken, wird daran deutlich, dass sie als Ich/Du-Differenz zunächst einmal theologisch, also abgesichert durch den Rekurs auf einen anwesend abwesenden Dritten, gedacht wird 29 Man wird darauf warten müssen, dass der Gedanke einer auf eine Differenz zielenden Selbstreferenz ausformuliert wird, um diese externe Absicherung fallen lassen zu können3° Man wird begreifen müssen, dass die Sprache genügend »Arbitrarität« (Ferdinand de Saussure) und »Spiel« (Ludwig Wittgenstein) hat, um der sozialen Dimension, das heißt der Mehrzahl der an der Kommunikation teilnehmenden Individuen und der sich erst aus dem »Gebrauch« der Worte bestimmenden »Funktion« eines Wortes, Raum zu geben. Man wird von einer Linguistik monologischer zu einer »Metalinguistik« dialogischer Beziehungen übergehen müssen, um jedes Wort als »zweifach gerichtet« verstehen zu können, einmal auf den Gegenstand der Rede und einmal auf die Rede des anderen. Und man wird verstehen müssen, dass die Sprache ihre Sachverhalte nicht nur benennt, sondern konstruiert, um verstehen zu können, wie Kommunikation als Konstruktion des Sozialen beschrieben werden kann. 32

Damit beschäftigt sich die Philosophie im 20. Jahrhundert ausgiebig. Dabei stellt sie sich vom Paradigma der Sprach- und

Bewusstseinsphilosophie um auf eine um das Problem der Kommunikation kreisende Sozialphilosophie, die insofern dem transzendentaltheoretischen Programm verpflichtet bleibt, als zwar nicht Gott, aber eine in der Sprachkompetenz verankerte, auf Verständigung zielende Vernunft der sozialen Verhältnisse der »bloßen« Selbstreferenz der Kommunikation regulativ mit auf den Weg gegeben wird. 33

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Der Kontext der Kommunikation

Nach wie vor fehlt jedoch ein Begriff der Kommunikation.

Nietzsche hat in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne aus der »Metaphernwelt«, in der der Mensch sich ebenso unruhig wie selbstvergessen beheimatet sieht, geschlossen, dass es zur Differenz der »Sphären« kein

kausales, sondern nur ein »ästhetisches«, ein künstlerisch schaffendes Verhalten geben könne. Heidegger hat gegen das »Gerede« die Erinnerung an die »Seinsfrage« mobilisiert. Doch das Soziale als Referenz des Kommunikationsbegriffs, den es zu bestimmen gilt, bleibt eigentümlich unbestimmt. Es wird durch Verweise auf die Mehrzahl der beteiligten Individuen, auf die Priorität des »Du«, auf die Unreduzierbarkeit des Anderen für den Einzelnen und auf den inhärenten Verständigungsimpuls der Sprache stellvertretend bearbeitet. Das ändert sich erst, als sich Einzelwissenschaften der Fra-

ge der Kommunikation annehmen. Bronislaw Malinowski (1884-1942) formuliert für die Anthropologie in seinem Aufsatz »Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen«34 einen Kommunikationsbegriff, der einerseits auf das »phatische«, das die Soziabilität um der Soziabilität willen bestätigende Element der Kommunikation eingeht. Das erinnert an

Schleiermachers in Hermeneutik und Kritik vorgestellten »Nullwert« der Sprache. Andererseits wird der »context of situ-

ation« als Bestimmungselement der Kommunikation in den Begriff der Kommunikation mit aufgenommen: »die Vorstellung der Bedeutung als in einer Äußerung enthalten [ist] falsch

und unergiebig [...). Eine im wirklichen Leben ausgesprochene Äußerung ist nie von der Situation abgelöst, in der sie gemacht wurde. Denn jede verbale Aussage eines Menschen hat das Ziel und die Funktion, einen Gedanken oder ein Gefühl auszudrücken, die in diesem Augenblick und in dieser Situa-

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tion aktuell sind und aus dem einen oder anderen Grund einer

anderen Person oder anderen Personen mitgeteilt werden müssen - um entweder Zwecken einen gemeinsamen Handelns zu dienen, oder Bande rein sozialer Gemeinschaft herzustellen, oder aber den Sprecher von heftigen Empfindungen oder Leidenschaften zu befreien. Ohne einen imperativen Reiz des Augenblicks kann es keine gesprochene Aussage geben. [...] in der Wirklichkeit einer gesprochenen, lebenden Volkssprache [hat] die Außerung keine Bedeutung außer im Situationskontext. «35 Dieser Kommunikationsbegriff wird aus der Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit gewonnen und wendet sich explizit gegen ein philologisches, an Texten orientiertes Verständnis von Kommunikation. Das wesentliche Motiv, das die Selbstreferenz der Kommuni-

kation zu unterbrechen, anzureichern und dadurch zu bestätigen vermag, ist der Verweis jeder Kommunikation auf einen Kontext, in dem sie sich abspielt und ohne den sie weder zu generieren noch zu verstehen ist. Damit wird eine funktionale Interpretation der Kommunikation nahe gelegt, die die Leis-

tungen der Kommunikation als Leistungen für das Fortsetzen

der Kommunikation bestimmbar macht und diese Bestim-

mung nicht aus dem Selbstlauf des »Geredes«, sondern aus der Kontextbezogenheit der Kommunikation gewinnt. Dies schließt explizit ein, dass ein Moment dieses Kommunikationskontexts die Kommunikation selbst ist.

Dieses Verständnis für den Kontext der Kommunikation genügt bereits, um ein ausgefeiltes Programm einer Soziologie

der Kommunikation zu begründen, wie es Edward Sapir (1884-1939) in seinem Artikel in der Encylopaedia of the Social Sciences (1931) über »Communication« entfaltet. Diese Sozio-

logie unterscheidet verschiedene Bereiche und damit auch Ausprägungen von Kommunikation nach den Kontexten, in denen sie vorgefunden werden kann. Sie stellt fest, dass es

unformulierte und nonverbale Formen der Kommunikation

gibt, ohne deren Kenntnis ein Großteil des Verhaltens einer Gesellschaft nicht zu verstehen ist. Darüber hinaus untersucht

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sie die Tendenz der Kommunikation, sich selbst eine umso ökonomischere Fassung zu geben, je komplexer die Verhältnisse sind, die anzusprechen sind. Das Gelingen von Kom-

munikation sei jedoch nicht bereits durch die verwendete Technologie (Eisenbahn, Telegraf, Telefon, Radio, Flugzeug) gewährleistet, sondern muss darauf warten, dass es zu »mean-

ingful cultural reactions« kommt, in denen die Kommunikation als Kommunikation aufgenommen wird. Außerdem weist diese Soziologie darauf hin, dass es Gründe geben kann, sich gegenüber Kommunikation sperrig zu verhalten, sei es,

weil man glaubt, nicht verstanden zu werden, wenn man zu schnell verstanden wird, sei es, weil man Sorge hat, von allzu

vielen verstanden zu werden. Unter ästhetischen Gesichtspunkten überzeugt daher vielfach eher »anticommunication« als »communication«, wie Herbert Brün feststellt: »Antikommunikation ist der Versuch, eine Nachricht von aktueller Relevanz und Bedeutung vor der bedingungslosen Unterwerfung unter den adressierten Empfänger zu schützen. «36 Damit wird ein Motiv explizit, das in der soziologischen Konversationsanalyse von Harvey Sacks (1935-1975) zu einer au-

ßerordentlich fruchtbaren Beschreibung der Manöver, mit denen man Informationen erlangen kann, ohne sich selbst festzulegen oder gar auszuliefern, geführt hat. In seinen in den sechziger Jahren vornehmlich an der Universität von Berkeley,

Kalifornien, gehaltenen Lectures on Conversation (2 Bde., 1992) hat Sacks zahlreiche Beispiele für diese Manöver genannt und auch eine Methodologie (»picking up recurrent items«) zu ihrer Erforschung entwickelt. Hier treffen sich linguistische und soziologische Fragestellun-

gen, die nicht darauf abstellen, wie Kommunikation »gelingen« oder gar »verbessert« werden kann, sondern die im Gegenteil herausfinden wollen, wie Kommunikationsteilnehmer mit Situationen umgehen, in denen ein bestimmtes Gelingen, ein bestimmtes Verstehen, ein Offenlegen von Hintergründen, Hintergedanken, Absichten und Wünschen eher vermieden werden soll. Diese Situationen sind vor allem 58

in professionstypisch codierten Gesprächen einschlägig, also für Gespräche zwischen Arzt und Patient, Vorgesetztem und Mitarbeiter, Richter und Rechtsanwalt, Schüler und Lehrer, aber sie kommen auch in der Familie und unter Freunden vor, wo das »offene Gespräch« vielfach eines ist, das gepflegt wird, um über andere Dinge nicht reden zu müssen. Die Linguistik und die Soziologie kommen in Studien etwa von John Gumperz (*1922), Michael Silverstein (*1945) und Eric M. Leifer (*1955) zu dem Ergebnis, dass entsprechende Manöver vielfach darin bestehen, den Kontext vermeintlich für sich selbst sprechen zu lassen, um währenddessen offen, wenn nicht sogar mehrdeutig halten zu können, was man in einer bestimmten Mitteilung und wen man mit einer Mitteilung meint. Der Verweis auf den Kontext von Kommunikation ist jedoch nur das erste Element eines fachwissenschaftlich bewährten Begriffs von Kommunikation. Weitere Elemente kommen in dem Maße hinzu, in dem es die Fachwissenschaften lernen, ihren eigenen kommunikativen Kontext beziehungsweise, mit Max Weber, ihre Problemstellung nicht mehr nur als Sachbezug, sondern zugleich auch als Begriffsbezug in Rechnung zu stellen. Entscheidend für die Entwicklung eines soziologi-

schen Kommunikationsbegriffs ist daher der Versuch von George Herbert Mead (1863-1931), Kommunikation als einen

Vorgang zu beschreiben, in dem ein Individuum sich selbst

ebenso wie einen anderen affiziert: »Die Bedeutung des stimmlichen Stimulans liegt also darin, daß ein Individuum hören kann, was es sagt, und dazu tendiert, auf das Gehörte genauso zu reagieren, wie die anderen reagieren.«3 Dieser Versuch erinnert an Herders Ableitung der Sprache aus dem Hörenkönnen. Er geht jedoch darüber hinaus, indem die Kommunikation aus einer Fähigkeit, sich in die Rolle des anderen zu versetzen, abgeleitet wird, die nicht etwa auf Emphase ab-

stellt, sondern auf ein Moment der Entscheidung über den

Fortgang der Kommunikation, die weder dem einen noch dem anderen beteiligten Individuum, sondern dieser wechselseitigen Konstruktion der Rolle des anderen zugerechnet wird.

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Als Kommunikation wird die Fähigkeit beobachtet, »signifikante Symbole« hervorzubringen, von denen sich Individuen ansprechen lassen und mit denen soziale Beziehungen definiert werden können. Diese sozialen Beziehungen sind einerseits Vorgaben für Kommunikation. Man kann signifikante Symbole aufrufen, um zu definieren, auf welche Wechselsei-

tigkeit und damit auf welchen Kontext man sich einlassen möchte. Andererseits sind diese sozialen Beziehungen selbst das Ergebnis von Kommunikation. Denn signifikante Symbole verdanken sich der Kommunikation ebenso wie sie von dieser Kommunikation in ihrem Sinn, das heißt in ihrer Fähigkeit, Kontexte und Räume für Wechselseitigkeiten zu definieren,

laufend neu und mit leichten oder gravierenden Verschiebungen definiert werden können. Mead hat diesen Kommunikationsbegriff mit einer Tendenz auf das Ideal einer wirklich »menschlichen« Kommunikation versehen, das sich daran erweise, dass jeder an der Kommunikation Beteiligte denselben Sinn der Symbole aktualisiert. Heute ist man vorsichtiger bei der Interpretation von Sinnidentität als Menschlichkeit. Stattdessen neigt man dazu, die Diversität von Sinn nicht nur für »menschlich« zu halten, sondern auch für evolutionär sinnvoll. Ähnlich wie die sexuelle

Fortpflanzung, die die Gene immer wieder zu mischen erlaubt, macht sie es allfälligen Parasiten schwieriger, das Sinnsystem in Zustände pathologischer Homogenität zu überfüh-

ren. Die Diversität gibt einer möglichen Verschiebung der Kontexte Raum. Dieser Einwand ändert jedoch nichts daran,

dass die Bestimmung der Kommunikation durch signifikante

Symbole nicht mehr wegzudenken ist. Die neuere Kybernetik

Heinz von Foersters (Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, 1993) kommt diesem Kommunikationsbegriff durch

ein Verständnis für rekursive, sich in selbst gefundenen »Eigenwerten« niederschlagende Prozesse entgegen.

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Kommunikation als Selektion

Es hat den Anschein, als würde sich der ästhetische Akzent des Kommunikationsbegriffs im Zugriff der Philosophie und der Einzelwissenschaften auf die Kommunikation zunehmend verflüchtigen. Doch dieser Eindruck täuscht. Es bleibt bei einem Bewusstsein für die Differenz des Individuums. Und

es bleibt bei einem Bewusstsein dafür, dass diese Differenz nur »ästhetisch«, nicht kausal (Nietzsche) zu kontrollieren ist.

Man kann sogar beobachten, dass der Kommunikationsbegriff, wie etwa in der Theorie des Traums, die André Breton (1896-1966) unter dem Titel Les vases communicants veröffentlicht, an die Stelle des Kausalitätsbegriffs tritt. Denn im Traum erlebt man weder Ursachen noch Wirkungen, sondern Assoziationen, Nachbarschaften, Ansteckungen und andere merkwürdige Verhältnisse wechselseitiger Ermöglichung und Einschränkung. Freilich geht diese Beobachtung determinationsfreier Verhältnisse immer mit dem Verdacht einher, dass dort, wo keine manifesten Determinationen zu beobachten sind, latente Determinationen wirken. Dies führt zuweilen so weit, dass der Kommunikationsbegriff im Sinne einer Heuristik der Beobachtung von Maschinen eingesetzt wird: Kommunikation bezeichnet dann die Einrichtung und Aufrechterhaltung eines rekurrenten, unwahrscheinlichen und reale Distinktionen übergreifenden Zusammenhangs, der für den Alltagsblick unsichtbar nur mithilfe von Theorien beobachtet,

dann jedoch auch mit Technik verstärkt, gestaltet und ausgenutzt werden kann. Dem liegt ein Maschinenbegriff zugrunde, der nicht mehr an der Mechanik und Physik der Kräfte, sondern - vorbereitet durch die Thermodynamik, das Wahrscheinlichkeitskalkül und die Dampfmaschine - an der Kybernetik und einem Kalkül rekursiver Operationen orientiert ist.

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Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiebt sich der Akzent, mit

dem der Kommunikationsbegriff formuliert wird, zuneh-

mend vom Ästhetischen ins Technische. Dabei wird Technik als Fähigkeit verstanden, eine kausale Kontrolle von Abläufen einzurichten, und daher zunächst in Opposition zum Ästhetischen gebracht. Hans Blumenberg und andere mussten daran erinnern, dass diese Einrichtung einer kausalen Kontrolle von

Abläufen ihrerseits als Moment eines schöpferischen Weltzugangs, also als »techné« im griechischen Sinne, begriffen werden muss, um diese Gegenüberstellung wieder auflösen zu können. Eine große Herausforderung für die ästhetische Akzentuierung stellte die Mathematische Theorie der Kommunikation (1949) von Claude E. Shannon und Warren Weaver dar. In dieser ingenieurwissenschaftlichen Konzeption von Kommunikation, die sich auf das Problem der störanfälligen Übertragung von Daten konzentrierte, schien die Technik die Oberhand zu gewinnen und jede Erinnerung an die semantischen und insofern sinnhaften Momente der Kommunikation zu verdrängen. Der individuelle Widerstand ebenso wie das mögliche Misslingen der Kommunikation schienen auf Störgeräu-

sche der Kommunikation reduziert werden zu können, die durch technische Vorkehrungen ausgeschaltet werden können. Die »verwaltete Welt« hatte offenbar den Grundbegriff gefunden, nach dem sie gesucht hatte. Als Kommunikation zählte jetzt nur noch gelingende Kommunikation; und die Be-

dingungen des Gelingens waren beschlossen in der technischen Kopplung von Sender, Kanal und Empfänger. Nur rauschende Kanäle, falsch codierende Sender und falsch codierte Empfänger konnten der Kommunikation nun noch im Wege stehen. Man kehrte zurück zu einem Aufklärungsoptimismus der Kommunikation, den man längst überwunden glaubte. Für Politik, Wirtschaft und Erziehung war es wieder möglich,

an Kommunikation Erwartungen zu knüpfen, die auf ihre »Wirkung« zielen.

Diese Interpretation der mathematischen Kommunikations-

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theorie war nicht einfach aus der Luft gegriffen. So hatte Warren Weaver als eine Art Ubersetzer die mathematischen Problemformulierungen von Shannon für ein breiteres Publikum definiert: »Der Begriff Kommunikation wird hier in einem sehr weitläufigen Sinn gebraucht, um alle Vorgänge ein-

zuschließen, durch die gedankliche Vorstellungen einander beeinflussen können [im Original: by which one mind may affect another, D. B.] Dies bezieht sich natürlich nicht nur auf die Sprache in Wort und Schrift, sondern auch auf die Musik, Malerei, Theater und Ballett, eigentlich auf alles menschliche Verhalten. «38 Und auch Shannon formulierte Sätze wie: »Das grundlegende Problem der Kommunikation besteht darin, an einer Stelle entweder genau oder angenähert eine Nachricht

wiederzugeben, die an einer anderen Stelle ausgewählt wurde. «39 Aber dabei dürfen zwei Dinge nicht übersehen wer-

den. Erstens betonte Shannon, dass er ein Ingenieurproblem zum Ausdruck brachte, für das die semantischen Probleme des Sinns oder der Bedeutung von Kommunikation irrelevant sind. Und zweitens steckt, lange übersehen, in der ingenieurwissenschaftlichen Interpretation des Kommunikationsproblems ein Definitionsangebot, das auch für das Verständnis der semantischen Probleme Sinn macht. So hat es in der Tat nur einen ingenieurwissenschaftlichen

Sinn, wenn Shannon Kommunikation als Übertragung von Nachrichten definiert. Im Rahmen von sozialen Verhältnissen

kann von »Übertragung« keine Rede sein, weil die sozialen Verhältnisse durch unüberbrückbare Differenzen zum einen zwischen Kommunikation und Individuum und zum anderen zwischen verschiedenen Individuen gekennzeichnet sind. Kommunikation ist dadurch definiert, dass sie angesichts der Verschlossenheit der Individuen einen sozialen Vorgang an die Stelle der Übertragung von Nachrichten treten lässt. Und tatsächlich gibt Shannon selbst sein striktes Konzept einer Übertragung auf, sobald man es nicht mit rauschfreien Kommunikationskanälen, sondern mit rauschenden Kanälen zu tun hat. Dies ist bei zwischenmenschlicher Kommunikation

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der Normalfall. Keine Nachricht ist je für Sender und Empfän-

ger dieselbe Nachricht. Es tritt grundsätzlich ein Rauschen auf, das die Nachrichten voneinander abweichen lässt. Für diesen Normalfall entwickelt Shannon ein Schema des Kommunikationssystems, das von dem vielerorts reproduzierten abweicht. Hier wird das Kommunikationssystem nicht mehr durch das folgende bekannte Schaubild modelliert: Nachrichten-

NachrichtenSender quelle

Empfänger

Signal

Nachricht

Signal

ziel

Nachricht

Störquelle

Vielmehr wird die Nachrichtenübertragung als ein »Korrektursystem« vorgestellt, in dem ein Beobachter eine unverzichtbare Rolle spielt : Korrekturdaten

Beobachter



M Quelle

Sender

M'

,M

Empfänger Korrekturglied

Die Rolle des Beobachters besteht darin, die vom Sender ausgesendeten und vom Empfänger empfangenen Signale mitein-

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ander zu vergleichen und bei Abweichungen Korrekturen über einen entsprechenden Kanal zu senden. Wenn man das Schaubild genau betrachtet, fällt auf, dass diese Korrekturen nicht an den Sender und auch nicht an den Empfänger gesendet werden, sondern sich auf den Prozess des Signalaustausches selbst richten, der rechts aus dem Bild ins Unbestimmte läuft. Shannon bietet für dieses Schaubild die Interpretation an, dass der Sender gut daran tut, seine Signale mit einem relativ hohen Maß an Redundanz auszustatten, damit der Empfänger aus den redundanten Merkmalen die eventuell durch das Rauschen verloren gegangenen rekonstruieren kann. Vielleicht - aber das führt über Shannon hinaus - muss man sich den Beobachter als eine Instanz vorstellen, die diese Redundanz bereitstellt. Man kann dabei an den Wink der Götter, an das Schicksal oder an die List der Vernunft denken. Für den Soziologen liegt es nahe, sich diese Funktionsstelle mit der Gesellschaft zu besetzen und dementsprechend die Kommunikationstheorie komplett auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung anzusiedeln. Darüber hinaus hat Shannon eine Definition von Nachricht vorgeschlagen, die für das Verständnis von Kommunikation ebenfalls von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Denn sie bringt ein neues Element zum Tragen, das vorher nicht formuliert worden war, ohne das jedoch danach kein Kommunikationsbegriff mehr auskommt. Dieses Element ist das Element der Selektivität. Shannon hatte

für sein ingenieurwissenschaftliches Problem der Ubertragung von Nachrichten formuliert: »Der technisch [technisch‹ = Einf. des Übers.; D. B.] bedeutungsvolle Aspekt ist, daß die tatsächliche Nachricht aus einem Vorrat von möglichen Nachrichten ausgewählt worden ist. Das System muß so entworten werden, daß es für jede mögliche Nachricht funktioniert, nicht nur für die eine, die tatsächlich ausgewählt wird,

da diese zum Zeitpunkt der Konstruktion noch unbekannt ist.«42 Mit ›technisch bedeutungsvolk [significant] meinte er: signifikant für das Verständnis seines Problems. Doch tatsäch65

lich lässt sich diese Signifikanz auch für die sinnhaften Probleme der Kommunikation interpretieren. Kommunikation, so W. Ross Ashby (1903-1972) in seiner Einführung in die Kybernetik (1956, dt. 1974), setzt voraus, dass eine Nachricht als

Selektion aus einer Menge von Möglichkeiten verstanden wird. Der Inhalt einer Nachricht ist eine Selektivität, die nur an der mitgelieferten Redundanz überhaupt kenntlich wird. Der Informationswert einer Nachricht besteht darin, dass sie den Raum der Möglichkeiten als Differenz der ausgewählten Möglichkeit zu den nicht ausgewählten Möglichkeiten bestimmt.

So müssen mindestens die beiden Möglichkeiten, dass die Nachricht vorkommen, aber auch nicht vorkommen kann, mitkommuniziert werden können. Darüber hinaus muss jedoch jeder einzelne Aspekt einer Nachricht, sei es ihres zeitlichen Moments, ihrer sachlichen Spezifizierung oder ihres sozialen Bezugs, als Selektion aufgefasst werden können. Wenn die Möglichkeiten auf eine schrumpfen, ist die Kommu-

nikation blockiert und kommt keine Information zustande. Technische Kommunikation unterscheidet sich von sozialer dann darin, dass im Fall der technischen Kommunikation die Menge der Möglichkeiten definiert ist, im Fall der sozialen Kommunikation hingegen nicht. Kommunikation ist selektiv. Das heißt nicht etwa nur, dass jede Kommunikation eine Kommunikation unter vielen auch anders möglichen Kommunikationen ist. Gemeint ist also nicht nur, dass man, wenn man etwas sagt, auch anderes sagen könnte, oder, wenn man etwas versteht, auch anders verstehen könnte. Sondern viel radikaler bedeutet die Selektivität

der Kommunikation, dass Kommunikation nur zustande kommt, wenn eine bestimmte und als selektiv bestimmte Information im Kontext von Sinnverweisungen beobachtet wird, die Bestimmtes ebenso wie Unbestimmtes, Wissen ebenso wie Nichtwissen, Sichtbares ebenso wie Unsichtbares, Anwesendes ebenso wie Abwesendes, Gewisses ebenso wie Ungewisses betreffen. In dieser Radikalität ist der Kommunikationsbegriff erstmals von Niklas Luhmann in seinem Werk Die

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Gesellschaft der Gesellschaft formuliert worden. Kommunikation, so heißt es dort, findet ihren Anlass »typisch im Nichtwissen. Man muß einschätzen können, welche Mitteilungen für andere Information bedeuten, also etwas, was sie nicht oder nicht sicher wissen, ergänzen. Ebenso muß, umgekehrt gesehen,

jeder Teilnehmer etwas nicht wissen, um Information aufnehmen zu können. Diese Rolle des Nichtwissens läßt sich nicht auf ein je individuelles Wissen des Nichtwissens anderer reduzieren. Es ist auch völlig unrealistisch, anzunehmen, ein Individuum wisse, was es nicht wisse. Vielmehr erzeugt und testet die Kommunikation selbst das für ihren weiteren Betrieb notwendige Nichtwissen. Sie lebt, könnte man auch sagen, von ungleich verteiltem Wissen/Nichtwissen. Sie beruht auf der Form des Wissens, die immer zugleich eine andere Seite des noch nicht Gewußten mitlaufen läßt. Und ebenso muß jeder Teilnehmer abschätzen können, was überhaupt nicht gewußt werden kann, damit er vermeiden kann, erkennbar Unsinn zu reden. «43

Dieser Kommunikationsbegriff ist in früheren Ansätzen zur Formulierung des Sinnbegriffs bei Maurice Merleau-Ponty (Das Sichtbare und das Unsichtbare, 1964, dt. 1986), Gilles Deleuze (Logik des Sinns, 1969, dt. 1993) und Niklas Luhmann (»Sinn als Grundbegriff der Soziologie«, in: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, 1971) bereits ebenso angedeutet wie in fallweisen Be-

obachtungen der Fähigkeit der Kommunikation, Information nicht nur aufzurufen, also zu aktualisieren, sondern auch auszuschließen und derart - sei es als Bedrohung, sei es als Ver-

lockung des thematisierten Sinns - zu potenzialisieren. * Und auch der Begriff der Information ist bereits als Determination

einer »Form« verstanden worden, die nur Sinn macht, wenn ihr Zustandekommen ungewiss ist. Dennoch schließt sich der Kreis der Argumente, die den Kommunikationsbegriff zu bestimmen erlauben, erst dann, wenn das Moment der Selektivität der Kommunikation systematisch ernst genommen wird und in diesen Kreis als Unterbrechung des Kreises mit aufgenommen wird.

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Kommunikation als Form

Die Selektivität von Kommunikation bedeutet, dass ihre Selbstreferenz unter die Anforderung gestellt ist, sich selbst ebenso wie den Verweis auf alles andere zu reproduzieren. Kommunikation ist notwendig kontextuell, da sie ohne den Verweis auf Kontexte nicht in der Lage wäre, »alles andere« zu

reproduzieren, ohne den Verweis auf die Kontexthaftigkeit des Kontextes jedoch auch nicht in der Lage wäre, »sich selbst«

zu reproduzieren. Damit wird Kommunikation als Operation verstanden, die eine »Form« im Sinne von George SpencerBrown (* 1923, Gesetze der Form, 1969, dt. 1997) produziert, die die selegierte Nachricht ebenso umfasst wie den Raum der Möglichkeiten, aus dem sie selegiert ist, und darüber hinaus die Operation der Selektion selbst. Kommunikation ist in diesem Sinne eine dreiwertige Zwei-Seiten-Form: Sie schließt auf der Innenseite ein, was sie bezeichnet; sie schließt auf der Außenseite aus, was sie nicht bezeichnet; und sie produziert sich selbst als Operation, die einschließt, was sie einschließt, und ausschließt, was sie ausschließt. Kommunikation ist damit paradox, denn als Form muss sie einschließen, was sie als Operation ausschließt.

Man kann diesen Formbegriff der Kommunikation dazu

verwenden, das ästhetische Problem der Kommunikation zu reformulieren. Denn man kann jetzt sagen, dass Kommunikation eine Operation ist, die das Individuum als Ausgeschlossenes einschließt. Auf der Innenseite dieser Form werden Mitteilungen produziert und reproduziert, die auf der Außenseite der Form ein unzugängliches, unsagbares und singuläres Individuum voraussetzen, das selbst nicht gesagt, sondern nur

mitgesagt werden kann. Unter dem Gesichtspunkt dieser Form kann Kommunikation als eine Operation beobachtet werden, die diese Trennung von Innenseite und Außenseite

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produziert und reproduziert, obwohl und weil sie beide Seiten zu ihrer Produktion und Reproduktion voraussetzt. Damit ist auch gesagt, dass beide Seiten der Form vom Produktions- und Reproduktionsmodus der Operation abhängig sind. Das heißt, die Möglichkeiten des Einschlusses von Mitteilungen variieren mit den Möglichkeiten des eingeschlossenen Ausschlusses von Individualität. Die Kommunikation hängt in der gesellschaftlichen Evolution davon ab, was Individuen zugemutet

werden kann, aber eben: als Ausgeschlossenen zugemutet werden kann. Und umgekehrt hängt das gesellschaftliche Ver-

ständnis von Individualität von der Art und Weise des Ausschlusses der Individuen und den Möglichkeiten der Beobachtung dieses Ausschlusses als Einschluss in die Form ab. Asthetische Wertungen wie »Witz«, »Originalität« und »Genialität« sind unter diesem Gesichtspunkt Wiedereinführungen

des Ausgeschlossenen in das Eingeschlossene. Ihre ästhetische Pointe besteht darin, dass sie das Ausgeschlossene als Ausgeschlossenes thematisieren. Darum kann es nur mithilfe von Vokabeln wie »Unsagbarkeit«, »Unzugänglichkeit« und »Singularität« bezeichnet werden. Denn jede andere Bezeichnung würde es auf die Innenseite der Kommunikation versetzen und damit in seiner Individualität verkennen. Darum muss es der ästhetischen Beobachtung darauf ankommen, die Kommunikation an den Punkt zu führen, an dem Sprache, jede Sprache, als »Grenzereignis«* erfahrbar wird, mithin als ein Ereignis, das an die »andere Seite« der Kommunikation ebenso stößt wie an die Operation, die die Trennung von Innenseite und Außenseite vollzieht und damit die Kommunikation überhaupt erst möglich macht.

Die Ästhetik hat keinen eigenen Formbegriff der Kommunikation. Doch man kann ihre Art und Weise der Beobachtung der Kommunikation als Beobachtung der Form der Kommunikation beschreiben. Und man kann darüber hinaus formulieren, dass sie als diese Beobachtung der Form der Kommunikation

das Erbe anderer Beobachtungsformeln antritt, die auf der ausgeschlossenen Seite der Kommunikation (das heißt als ein-

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geschlossen in die Form der Kommunikation) nicht die Individualität des Individuums, sondern das Mystische und das Göttliche beobachtet haben. Insofern beerbt die Asthetik Kosmologie und Theologie und hält dieses Erbe unter dem Titel des »Erhabenen« als ihr selbst vorgängige und sie überschreitende Bedingung des Asthetischen fest. Aus all dem resultiert kein emphatischer, auf »Subjektivität« und »Identität« zulaufender Begriff des Individuums. Dass das Individuum als »andere Seite« der Kommunikation gefasst wird, bedeutet nicht, dass man dort auf eine sich selbst zugrunde liegende (also subjektive) Substanz trifft, von der ausgehend die flüchtige Qualität der Kommunikation bestimmt werden kann. Die Asthetik ist nur als Referenz auf das Individuum und Distanzierung vom Individuum zugleich zu denken. In der ästhetischen Akzentuierung des Kommunikations-

begriffs gewinnt das Individuum einen prekären Status, der seinerseits nur aus der Differenz zur Kommunikation bestimmt werden kann. In diesem Status kann es nur als (mit sich) identisch gelten, weil die Vielfalt und Zufallsabhängigkeit der Kommunikation es als identisch, nämlich als wiederholt und wiedererkennbar adressierbare Instanz der Ordnung von Kommunikation und Handlung zu setzen zwingt. Die Stärkung und Schwächung des Individuums ist der Preis für die ästhetische Konturierung des Kommunikationsbegrifts. Aber nur so kann es als andere Seite der Kommunikation positioniert werden. Nur so kann es gedacht werden. Und nur so sind ein Begriff des Individuums und ein Begriff der Kommunikation möglich. Überdies verdient festgehalten zu werden, dass die Asthetik nicht zwangsläufig auf die Formulierung der Individualität des Individuums zuläuft. Man kann sich auch eine Beobachtung der Kommunikation vorstellen, die auf die Unzugänglichkeit

und Unsagbarkeit nicht der psychischen, sondern der natürlichen Umwelt von Gesellschaft abstellt. Johann Georg Hamann hatte in seiner Aesthetica in nuce (1762) bereits eine eher

»ökologische« Referenz vor Augen, wenn er davon spricht,

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dass »die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten« wieder aufzuerwecken sei. Die Chancen dafür schätzte er jedoch niedrig ein, denn eine »mordlügnerische Philosophie« habe die Werkzeuge der Natur längst verstümmelt und sie aus dem Weg geräumt. Seither wird »jede Kreatur (...] wechselweise euer Schlachtopfer und euer Götze«.47

Interessanterweise geht mit dem Wechsel zur ökologischen Fragestellung eine Problematisierung der Referenz auf den »Menschen« einher. Die »antihumanistische« Psychoanalyse (Jacques Lacan, 1901-1981) und Geschichtsschreibung (Michel Foucault, 1926-1984) rekonstruieren die Bedingungen des Einschlusses des ausgeschlossenen Individuums. Mit dieser Rekonstruktion wird die Form der Kommunikation selbst zur Disposition gestellt und wird anderen Formbeobachtungen der Kommunikation Raum gegeben. Der Humanismus nimmt die Position des Wiedereinschlusses des ausgeschlossenen Individuums ein, während der Antihumanismus diesen Wiedereinschluss als Zementierung einer bestimmten Form der Kommunikation begreift und zugunsten anderer Formen, das heißt zugunsten anderer Besetzungen der Außenseite der Form, variiert. Auch die von Norbert Elias (1897-1990) in seinem Werk Uber den Prozeß der Zivilisation beschriebene »Disziplinierung«

des Individuums für Kommunikation spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Die Trennung der Innenseite der Kommunikation von der Außenseite der Kommunikation impliziert nicht, dass für die Innenseite gleichgültig ist, was auf

der Außenseite geschieht. Im Gegenteil. Die Trennung bildet

einen Konditionierungszusammenhang beider Seiten ab, der

als Koevolution verstanden und abgebildet werden kann. Die Unterscheidung zwischen Innenseite und Außenseite muss von jeder einzelnen Kommunikation neu getroffen werden. Die Form ist nicht der statische Kontext der Operation Kom-

munikation, sondern Voraussetzung und Ergebnis dieser Operation und damit von jeder Operation neu und anders zu bestätigen, zu bewähren und zu variieren. Das gibt Foucaults

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»Diskursen« Raum, die als Einheit der Differenz von Wissen und Macht das Individuum definieren und zugleich zurichten. Institutionen wie das Asyl, die Klinik und das Gefängnis sorgen dafür, dass die haarfeine Linie bestimmt und durchgesetzt wird, die die jeweils für akzeptabel gehaltene Kommunikation von der nicht für akzeptabel gehaltenen Kommunikation - die als »Wahnsinn«, als »Krankheit« und als »Gewalt« markiert wird - trennt.

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Kommunikation als Differenz

Man kann den Formkalkül Spencer-Browns als eine Wieder-

aufnahme der mathematischen Kommunikationstheorie Shannons interpretieren. Das Spiel mit der Unterscheidung als Grenze, das dieser Kalkül eröffnet, führt ins Herz der Struktur

der Kommunikation.48 Hier wird eine Innenseite einer Unter-

scheidung bezeichnet, indem sie von einer Außenseite unter-

schieden wird, und das erinnert an die Bestimmung einer Nachricht als Selektion einer Möglichkeit aus einem Raum weiterer (unbestimmter, aber bestimmbarer) Möglichkeiten. Spencer-Browns Vorschlag, die Operation der Bezeichnung auf ihre Form der getroffenen Unterscheidung hin zu beobachten, geht jedoch insofern über Shannon hinaus, als sein Kalkül

die Bedingungen dieser Operation in die Operation selbst hineinzuholen vermag. An die Stelle der Technizität der shannonschen Theorie tritt die Selbstreferenz des spencerbrownschen Kalküls. Damit wird dieses Kalkül zu einer neuen Maßgabe für die Theorie und den Begriff der Kommunikation. Für die Kommunikationsforschung bedeutet diese Maßgabe, dass nur noch Kommunikationsbegriffe überzeugen können,

die differenziell sind. Dieser Anforderung entsprachen der theologische ebenso wie der rhetorische Kommunikationsbegriff. Die »idiomatum communicatio« stellt zwar auf Einheit ab, muss dafür jedoch die Differenz der Idiome zuallererst vor-

aussetzen, also für einen denkbaren künftigen, nicht an Einheit orientierten Gebrauch festhalten. Wenngleich sich die Naturen von Gott und Mensch in Christus vereinigen, können sie eben deshalb auch als different und unvereinbar festgehalten werden. Und die »communicatio« als eine rhetorische Figur der Überredung muss voraussetzen, dass es eine Differenz zwischen Redner und Zuhörer gibt, die nicht nur die Bedingung der Möglichkeit der Überredung, sondern auch die

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Bedingung der Möglichkeit eines möglichen Scheiterns der Überredung ist. Der ästhetische Akzent des Kommunikationsbegriffs hält diese Differenz, die die Kommunikation kennzeichnet, fest und erprobt sowohl Einheitsformeln, die

sie überbieten sollen (das »Schöne« Baumgartens, der »Ge-

schmack« Kants), als auch Formeln, die sie als unüberbietbar festhalten (der »unsichtbare« Mensch Hamanns). Es gibt eine ganze Reihe von modernen Kommunikationsbegriffen, die dieser Anforderung, die Differenz zu benennen,

die durch Kommunikation ebenso bestätigt wie verarbeitet wird, genügen. An erster Stelle ist hier Jürgen Rueschs und Gregory Batesons aus der psychiatrischen Praxis und anthropologischen Beobachtung - also im Wesentlichen aus der Beobachtung von Störungen der Kommunikation - hervorgegangenes Buch Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie (1951, dt. 1995) zu nennen. Dieses Buch ist der erste und weitreichendste Versuch, den Kommunikationsbegriff als einen Grundbegriff physiologischer, psychologischer und soziologischer Forschung zu formulieren. Es macht schon im Titel deutlich, dass Kommunikation als ein Phänomen verstanden werden soll, das die Differenz von Individuum und Sozialität ebenso voraussetzt wie die wechselseitige Konditionierung. Ruesch und Bateson bestimmen als wesentliche Elemente der Kommunikation: die wechselseitige Wahrnehmung, die Rekursivität, die Metakommunikation sowie »report« (Bericht) und »command« (Aufforderung) als die beiden notwendigen Aspekte jeder Mitteilung. Die Formulierung der »sozialen Ma-

trix« weist bereits darauf hin, dass der Analysebezug dieser Elemente nicht das Individuum und auch nicht eine Mehrzahl von Individuen, sondern die soziale Situation ist.

Wechselseitige Wahrnehmung bedeutet, dass von Kommunikation nur die Rede sein kann, wenn »Sender« und »Empfanger« wahrnehmen, dass sie wahrnehmen, dass sie sich wahrnehmen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der »kommunikativen Dyade«*° als Analyseeinheit der Kommunikation, vom »Grundzug der Responsivität«s der die Kommu-

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nikation kennzeichnet, oder generell von der »Reflexivität«

der Kommunikation. Damit ist die Stimulus-response-Vorstellung der Kommunikation ebenso verabschiedet wie die Idee, dass es sich bei Kommunikation um einen Vorgang der »Ubertragung« von Sinn vom Sender auf den Empfänger handelt. Denn die wechselseitige Wahrnehmung impliziert, dass

man sich als »kommunizierend« in dem Sinne wahrnimmt, dass man jeweils so, aber auch anders auf die Kommunikation reagieren und mit der Kommunikation umgehen kann. Wechselseitige Wahrnehmung bedeutet somit, dass es Kontingenzspielräume auf beiden »Seiten« der Kommunikation gibt und dass diese Kontingenzspielräume nicht etwa die Kommunika-

tion erschweren (das auch), sondern zuallererst die Bedingung dafür sind, dass Kommunikation überhaupt zustande kommen kann. Die Soziologie spricht mit Talcott Parsons (1902-1979)52 und Niklas Luhmann53 an dieser Stelle vom »Problem der doppelten Kontingenz«, das die Entstehung sozialer Situationen und damit das Zustandekommen von Kommunikation kennzeichnet. Von »doppelter Kontingenz« spricht man, weil man es in

der Kommunikation mit mindestens zwei Positionen, Alter und Ego, zu tun hat, die beide in der Lage sind, kontingenterweise diese oder eine andere Verhaltensoption zu wählen. Das

Problem der doppelten Kontingenz ergibt sich daraus, dass nichts passiert, wenn Alter darauf wartet, dass Ego eine Wahl trifft, und umgekehrt Ego darauf wartet, dass Alter eine Wahl trifft. Die Situation ist durch die von Paul Watzlawick (*1921)

beschriebene Paradoxie strukturiert, dass man nicht nicht kommunizieren kann.54 Diese Kontingenzspielräume sowie

die Vorstellung, dass die an Kommunikation beteiligten Individuen schon wegen dieser Kontingenz, von der Unzugänglichkeit ihrer Psyche zu schweigen, füreinander Black Boxes sind, schließen es aus, Kommunikation als Ubertragung von Sinn

zu konzipieren. Stattdessen muss man davon sprechen, dass jedes Individuum für sich konstruiert, was es als Sinn der Kommunikation wahrnimmt.

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Gleichzeitig jedoch, und darin besteht die soziologische Brisanz des Gedankens der doppelten Kontingenz, ist die Kommunikation in ihrer Eigendynamik unabhängig von dem, was Individuen sich als Sinn der Kommunikation zurechtlegen. Doppelte Kontingenz koppelt die Kommunikation von den Intentionen der beteiligten Individuen ab und ist damit die Voraussetzung dafür, dass individuelle Sinnbeiträge, wie die Linguistik sagt, zunächst demotiviert und dann remotiviert werden können: Sie werden allgemein entmutigt, um dann in besonderen Fällen ermutigt werden zu können. Nur so können Intentionen konstruiert werden, die den Individuen zugerechnet werden. Zugleich ist damit allerdings anerkannt, dass Kommunikation nicht als Übersetzung von Intention in Rede und von Rede in Verstehen oder Nichtverstehen begriffen werden kann. Kommunikation schafft sich vielmehr eine eigene Realität, die sich nach eigenen Maßgaben von den beteiligten Bewusstseinen abhängig macht, damit jedoch, das muss man sehen, von diesen Bewusstseinen in ihrer Reproduktion wesentlich unabhängig ist. Auf der Grundlage des Theorems der doppelten Kontingenz wird Kommunikation als Sinnverarbeitung eines nicht nur zufälligen, sondern systematisch zu fordernden Rauschens verstanden. Die Unverständlichkeit, von

der die Romantiker sprachen, macht die Kommunikation nicht unmöglich, sie eröffnet ihr ihren Spielraum. Seither ist Kommunikation, wenn man eine Definition wagen darf, Inter-

pretation des Rauschens. Die Rekursivität als zweites Element der Kommunikation bedeutet, dass Kommunikation nicht als ein einziges kommunikatives Ereignis, sondern nur als Bezugnahme kommunikati-

ver Ereignisse auf kommunikative Ereignisse verstanden werden kann. Ruesch und Bateson veranschaulichen dies, indem sie sagen, dass Kommunikation Fehlerkorrekturen impliziert. Man erkennt Kommunikation am einfachsten daran, dass Fehler vorheriger Kommunikationen erkannt, zugerechnet und korrigiert werden und dass nachfolgende Kommunikationen auf diesen Umstand korrigierter Fehler Bezug neh-

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men. Man kann die Fehlerkorrektur als Pars pro toto nehmen und Kommunikation als Bezugnahme auf Kommunikation definieren. Diese Bezugnahme ist notwendige und hinreichende Bedingung des Vorliegens von Kommunikation. Damit ist allerdings auch angedeutet, dass es für die Bezugnahme

eine Referenz gibt, die nicht mit den Individuen, die an der Kommunikation teilnehmen, zusammenfällt. Diese Referenz

ist die Kommunikation selbst, für die damit im Rahmen ihrer Rekursivität eine Eigenrealität und Eigendynamik angenommen werden kann. Das dritte Element der Kommunikation ist die Metakommunikation: Es kann keine Kommunikation geben kann, die nicht gleichzeitig mitkommuniziert, dass sie kommuniziert. Damit ist ein weiterer und notwendiger Kontingenzspielraum für

Kommunikation definiert, denn die Anschlusskommunikation hat die Wahl, entweder auf die Kommunikation selbst oder die Metakommunikation Bezug zu nehmen. Und nichts kann ihr diese Wahl nehmen, da mit jeder Sprache die Mög-

lichkeit einher geht, laufend die Ebene zu wechseln. Umgekehrt ist die Unfähigkeit, die Metakommunikation mit zu sehen, ein Zeichen für Pathologien, angesichts derer man wiederum die Wahl hat, sie der Kommunikation selbst oder den beteiligten Individuen zuzurechnen, sie also als Soziopathologie oder als Psychopathologie zu betrachten. Dabei ist klar, dass es keine Entscheidung dieser Zurechnungsfrage gibt, die nicht ihrerseits auf einem kommunikativen oder individuellen Beobachtungsinteresse fußt. Jede Kommunikation impliziert also eine Metakommunikation. Das bedeutet, dass die Kommunikation sich selbst als Kommunikation vorführt. Nur so kann die Selbstreferenz der Kommunikation gedacht werden, denn nur so aktualisiert sie sich fortwährend als eine eigene Möglichkeit ihrer selbst, die andere Möglichkeiten nicht ausschließt, sondern voraussetzt und erfordert. So verweist Kommunikation stets über

sich hinaus auf weitere Kommunikationen. Jurij Lotman (1922-1993) sieht daher jede Kommunikation durch zwei »se-

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miotic situations« gekennzeichnet: Die eine Situation aktualisiert den »mechanism of communication«, die andere Situation den »content of communication« 55 Zwischen diesen beiden Situationen oszilliert die Kommunikation, ohne sich auf eine der beiden Situationen festlegen zu können oder festlegen

zulassen.

Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Metakommunikation noch nicht identisch mit dem Auftreten von Sprache ist. Die Metakommunikation betrifft im Wesentlichen das Muster der Beziehungen, das durch Kommunikation pro-

duziert und reproduziert und durch Metakommunikation variiert werden kann. Die Sprache hingegen erlaubt es, zu diesem Muster der Beziehungen wiederum einen Bezug herzustellen, so dass ein Kommunikationssystem entsteht, das sich über sich selbst verständigen kann. Daran schließt der Begriff der Sprache an, den Heinz von Foerster vorschlägt: »Die Sprache ist jenes besondere Kommunikationssystem, das über sich selbst sprechen kann. Das heißt, wenn man von der ›Bienensprache‹ redet, dann würde ich sagen: Die Bienen verfügen - nach meiner Definition - über keine Sprache. Die Bienen können einander wohl zutänzeln: Bzzz, die Blume Sowieso ist 300 Fuß ostostwest zu finden

- ein fabelhaftes Kommunikationsmedium. Aber wenn die Biene zu-

rückkommt, kann sie nicht zu der wartenden Biene sagen: ›Du hast

das alles zwar sehr schön und richtig gesagt, aber deine Aussprache war katastrophak oder: ›Laß doch beim nächsten Mal deinen texanischen Akzent weg‹ etc. Das können die Bienen, glaube ich jedenfalls, nicht, sie können auch nicht über ihr Vokabular sprechen, sie können sich nicht über ihre Grammatik unterhalten, ihr Kommunikationssystem selbst kann nicht innerhalb ihres Kommunikationsrepertoires kommuniziert werden. Die Sprache beginnt für mich aber dort, wo die Kommunikation einen Begriff von Kommunikation entwickelt und reflexiv wird.«56

Im Zusammenhang einer soziologischen Systemtheorie, die sich in diesem Punkt von Edmund Husserls Philosophie des Bewusstseins (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und

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phänomenologischen Philosophie, 1913-30) hat anregen lassen, werden die beiden von Lotman genannten »semiotischen Situationen« in die Begrifflichkeit der »Selbstreferenz« und

der »Fremdreferenz« der Kommunikation übersetzt. Die

Selbstreferenz aktualisiert die Kommunikation als Kommunikation. Die Fremdreferenz aktualisiert ihren sachlichen oder inhaltlichen Bezug auf etwas außerhalb der Kommunikation. So wie man keinen Gedanken denken kann, ohne ihn als Gedanken an etwas zu denken, so kann man auch keine Kommunikation denken, ohne sie als Kommunikation über etwas zu denken. In der Bewusstseinsphilosophie wird dieser Fremd-

bezug als »Intention« beschrieben, in der Soziologie als »Thema«. Über Intentionen findet das Bewusstsein und über Themen findet die Kommunikation die Anlässe und Anhaltspunkte ihrer Reproduktion. Hier wie dort ist es jedoch erst der Bezug des Bewusstseins beziehungsweise der Kommunikation auf sich selbst, der unterschiedliche Intentionen beziehungsweise Themen zu finden und zu wechseln erlaubt. Eines dieser Themen kann die Kommunikation selbst sein, so dass es möglich ist, über Kommunikation zu kommunizieren und dabei sowohl voraussetzen zu müssen als auch infrage

stellen zu können, dass wir wissen, was Kommunikation »Ist«. Das vierte Element, das Ruesch und Bateson für die Kommunikation festhalten, ist die Doppelung jeder Mitteilung in die beiden Aspekte des »report« und des »command«. Dieses Element hängt mit dem Element der Rekursivität eng zusammen, benennt jedoch zugleich einen weiteren, davon unabhängigen Punkt. Als »report« oder Bericht bezieht sich jede Kommunikation auf vorherige Ereignisse, als »command« oder Aufforderung bezieht sie sich auf Folgeereignisse. Interessant ist auch daran wiederum, dass sich diese beiden Aspekte nicht etwa sauber und deutlich getrennt an jeder Kommunikation beobachten lassen, sondern dass sich jede Kommunikation in jeder ihrer Sinnimplikationen sowohl als »report« als auch als »command« interpretieren lässt. Denn es lässt sich der Bericht

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als Aufforderung verstehen, den Bericht zu akzeptieren. Und es lässt sich die Aufforderung als Bericht darüber verstehen, welche Erwartungen mit der Kommunikation einhergehen. Dieser Unterscheidung von »report« und »command« widerfährt demnach dasselbe Schicksal wie der Unterscheidung performativer und konstatierender Sprechakte in den Vor-

lesungen How to Do Things with Words von J. L. Austin (1911-1960). Auch in der Sprachakttheorie glaubte man, zwischen Aussagen, die einen Sachverhalt benennen (konstatie-

ren), und Aussagen, die einen Sachverhalt hervorbringen (performieren), unterscheiden zu können, bis man merkte, dass die Konstatierung »Dies ist ein Tisch« die Voraussetzungen ihres Verstehens ebenso performiert wie die Performanz des Priesters »Ich nenne euch Mann und Frau« die Institution »Ehe« zitiert und mithilfe dieses Zitats das Ehepaar beschreibt,

das in genau dem Moment entsteht. Man kommt, wie vor allem die Philosophie der Dekonstruktion von Jacques Derrida vorführt, nicht darum herum, für das Funktionieren von Sprache und Kommunikation Unterscheidungen wie die zwischen Kommunikation und Metakommunikation, »report« und »command«, konstatierenden und performativen Sprechakten, zu postulieren, die laufend kollabieren und in diesem

Sinne »unmöglich« sind und dennoch und als diese kollabierenden Unterscheidungen unverzichtbar sind. Sie sind unverzichtbar, weil sie die Institutionen bestätigen, die zitiert werden können, um die Setzungen dieser Unterscheidungen abzusichern. Ohne diesen Zirkel zwischen Setzung und Bestätigung käme es nicht zur Etablierung kommunikativer Struk-

turen, auf die Kommunikationen Bezug nehmen können, wenn sie Direktiven dafür suchen, welches Spiel jeweils gespielt wird Das »Kollabieren« der Unterscheidung, genauer gesagt: die

Wiedereinführung der Unterscheidung auf beiden Seiten der Unterscheidung, gilt auch für die Unterscheidung zwischen dem Beziehungsaspekt der Kommunikation und dem Inhaltsaspekt der Kommunikation, die Paul Watzlawick, Janet

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H. Beavin und Don D. Jackson in ihrem Buch Menschliche Kommunikation eingeführt haben. Ihre Vermutung war, dass der Inhaltsaspekt »digital« übermittelt wird, der Beziehungsaspekt hingegen »analog« und dass die digitale Kommunikation ihre Vorteile in einem hohen Grad der Komplexität, die

analoge hingegen in einem hohen Grad möglicher Widersprüchlichkeit hat. Für diese Unterscheidung spricht, dass sie auf eine elegante Art und Weise den Sprachbezug der Kommunikation (womit nicht nur menschliche, sondern auch künst-

liche Sprachen, nicht nur verbale, sondern alle medialen gemeint sein können) vom Individualitätsbezug der Kommunikation zu unterscheiden und die prinzipielle Differenz des

Individuums durch die Konzession der Widersprüchlichkeit abzusichern vermag. Gegen die Unterscheidung spricht, dass vor allem eine Kommunikationsforschung, die auf ge-

schlechtscodierte Kommunikation zu achten gelernt hat, nicht mehr in der Lage ist, zwischen Inhaltsaspekt und Beziehungsaspekt eindeutig zu differenzieren. Denn in der Definition bestimmter Inhalte als Inhalte stecken über die Definition der Inhalte abgesicherte soziale Beziehungen - der »Sachzwang« als »Herrschaftsinstrument« des »Patriarchats« - und in der Definition der Beziehung als Beziehung steckt die Abweisung der Beziehung als »nicht zur Sache gehörig«.

Ahnliche Überlegungen gelten für die Unterscheidung, die

Niklas Luhmann in seinem Werk Soziale Systeme und später verwendet, um die Kommunikation als Synthese dreier Selektionen zu beschreiben: »Ähnlich wie Leben und Bewußtsein ist auch Kommunikation eine emergente Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen - nämlich Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information. Keine dieser Komponenten kann für sich allein vorkommen. Nur zusammen erzeugen sie Kommunikation. Nur zusammen - das heißt nur dann, wenn ihre Selektivität zur Kongruenz ge-

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bracht werden kann. Kommunikation kommt deshalb nur zustande, wenn zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Das unterscheidet sie vom bloßen Wahrnehmen des Verhaltens anderer. Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird. Sie kann dabei die eine

oder die andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder auf das expressive Verhalten achten. Sie ist aber immer darauf angewiesen, daß beides als Selektion erfahren und dadurch unterschieden wird. Es muß, mit anderen Worten, vorausgesetzt werden können, daß die Information sich nicht von selbst versteht und daß zu ihrer Mitteilung ein besonderer Entschluß erforderlich ist. Und das gilt natürlich auch, wenn der Mitteilende etwas über sich selbst mitteilt. Wenn und insoweit diese Trennung der Selektionen nicht vollzogen wird, liegt eine bloße Wahrnehmung vor.«*)

In der Mitteilung steckt der Selbstbezug der Kommunikation auf eine Handlung, die als Kommunikation wahrgenommen wird, in der Information der Fremdbezug der Kommunikation auf ein Thema und im Verstehen erstens die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbezug und zweitens die Entscheidung über die rekursiven Anschlüsse der Kommunikation an weitere Kommunikation. Vorausgesetzt ist dabei die Temporalisierung der Kommunikation zu kommunikativen Ereignissen, die auftauchen und wieder verschwinden. Insofern setzt die Fortsetzung der Kommunikation die »Autopoiesis«58 der Kommunikation, das heißt die rekursive Produktion der Kommunikation aus den Elementen der Kommunikation voraus. Dabei ermöglicht sich Kommunikation »von hinten her« (Niklas Luhmann); sie kommt nur zustande, wenn verstanden wird, dass sich Information und Mitteilung unterscheiden und daher die Wahlmöglichkeit gegeben ist, sich mit der Folgekommunikation entweder auf die Information oder die Mitteilung zu beziehen. Mit dem Verstehen ist noch nicht entschieden, ob die Kommunikation angenommen oder abgelehnt wird. Sie muss in beiden Fällen verstanden worden sein, wenn

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sich »Verstehen« daran erweist, dass ein Anschluss gefunden wird. Sowohl die Ablehnung als auch die Annahme müssen kommuniziert werden, setzen die Kommunikation also fort.

Insofern punktiert das Verstehen den Prozess der Kommunikation: Es setzt Anfang und Ende, Mittelpunkt und Höhepunkt und akzentuiert so, wie es jeweils weitergeht. Das Verstehen ist nach Charles S. Peirce (1839-1914) »interpretant« und nach Gordon Pask (1928-1996) »sharp-valued event«, die vorherige von nachfolgender Kommunikation zu unterscheiden und damit die Kommunikation als solche zu unterscheiden erlauben. Mit Verstehen ist hier nicht das »mitlaufende« Verstehen der Kommunikation durch die Individuen gemeint, sondern das von der Kommunikation für die Kommunikation selbst aufgebrachte Verstehen im Sinne der Möglichkeit, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden und Folgekommunikationen entweder an dem einen oder am anderen Aspekt oder höchst anspruchsvoll am Ineinanderblenden von Information und Mitteilung, also an der Wiedereinführung der Unterscheidung, zu orientieren. Auch die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung »kollabiert« in jenem Sinne, dass sich nicht ausmachen lässt, ob die Kommunikation über ihren Sachbezug informiert und ihren Sozialbezug mitteilt oder nicht vielmehr umgekehrt ihren Sachbezug mitteilt und über ihren Sozialbezug informiert. Es kommt ganz darauf an, wie sie verstanden wird. Es genügt die Einführung eines vom »männlichen« abweichenden »weiblichen« Blickwinkels, um das eine Verstehen in das andere Verstehen zu transformieren. Zugleich jedoch ist diese Unterscheidung, wie auch die bereits genannten, stabil, denn sie versagt nicht etwa an ihrer Beweglichkeit im Verstehen, sondern bewährt sich an ihr.

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Therapie im System

Die wesentlichen Anregungen zur Formulierung eines Kom-

munikationsbegriffs werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem therapeutischen oder therapie-

nahen Kontext formuliert. Hatte das 18. Jahrhundert die Differenz des Individuums entdeckt und das 19. Jahrhundert die

Eigendynamik der Gesellschaft formuliert, so interessiert sich das 20. Jahrhundert zunehmend für die Kurzschlüsse und die Vermeidung dieser Kurzschlüsse zwischen Individuum und Gesellschaft. Wie sichert man sowohl den individuellen als

auch den gesellschaftlichen Spielraum, wenn Kommunikation nur als Form zu beschreiben ist, die Individuum und Gesellschaft in einen Konditionierungszusammenhang versetzt, der zwar nicht kausal, sondern nur ästhetisch zu verstehen ist, gleichwohl jedoch die Gefahr determinierender Zugriffe der Gesellschaft auf das Individuum und umgekehrt enthält? Dies ist die Frage, die von Therapeuten, Sozialphilosophen und Soziologen entfaltet wird. Seit man im Faschismus ebenso wie im Stalinismus die Erfahrung machen musste, dass gerade im Bereich des Asthetischen fatale Kurzschlüsse zwischen Individuum und Gesell-

schaft gezündet werden können, wächst das Interesse an dieser »nur ästhetischen« Kopplung von Individuum und Gesellschaft. Man entdeckt, dass die mangelnde Determination

Ansatzpunkte für kompensierende, fundamentalistische Überdeterminationen bietet, die sowohl als individuelles wie auch als politisches und wirtschaftliches Projekt formuliert

werden können, und versucht herauszufinden, wie diese Überdetermination wieder auf ein »gesundes«, das heißt bewegliches und offenes Maß zurückgeführt werden kann. Die

ästhetische Fragestellung bleibt auch hierfür der Ansatzpunkt, weil »Ästhetik« jetzt heißen kann, das Wissen um die

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Form der Kommunikation in die Kommunikation wieder einzuführen und die Kommunikation in der Kommunikation auf

ihre Fähigkeit der Selbstdetermination hin zu beobachten. Diese Beobachtung macht auf Kontingenzspielräume aufmerksam und darauf, wie diese Kontingenzspielräume von der Kommunikation selbst immer wieder eingeschränkt und auch neu eröffnet werden. Das bedeutet, dass sich das Interesse von Therapeuten, Philosophen, Soziologen und Literaten auf die Frage konzentriert, wie der Zirkelschluss der Kommunikation, das heißt die Aufrechterhaltung der Kommunikation durch Kommunikation, sowohl garantiert als auch immer wieder unterbrochen werden kann. Grundsätzlich lautet die Lösung dieses Problems, dass die Kommunikation mit Verweis auf externe Faktoren unterbrochen wird, die in einer zweiten, ergänzenden Bewegung als Supplemente der Kommunikation, als von der Kommunikation selbst produzierte endogene Faktoren nachgewie-

sen werden können. Man spricht auch davon, dass sich die Kommunikation auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ord-

nung schließt und auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung öffnet. Die paradoxe Kurzformel für diese Problemfassung lautet: Reproduktion durch Öffnung. Diese Formel liegt mittlerweile einer ganzen Reihe zentraler Theoreme zur Bestimmung kommunikativer Sachverhalte zugrunde. Nach dem Ende der »großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard) gilt sie als Inbegriff

philosophischer Weisheit. Sie übersetzt die alte Einheitsfor-

mel der Vernunft in eine schon eher differenzfähige Vorstel-

lung der Einigung durch den zwanglosen Diskurs (Jürgen Habermas). Dabei erlaubt sie es, sich eine »Ethik der Diskussion«

vorzustellen, die auf der Anerkennung und Verschiebung (»itérabilité«) des Problems der Unentscheidbarkeit basiert.» Sie ermöglicht es, sich eine Zähmung des fatalen, zur Gewalt neigenden, von René Girard (*1923) beschriebenen mimetischen Begehrens zu steigerungsfähigen und damit rivalitätsentlastenden Wunschobjekten (Gott, Geld) vorzustellen, die

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gleichwohl wieder in den Zyklus der Reproduktion der Kommunikation zurückgelenkt werden können. Darüber hinaus liegt jene Kurzformel der Idee zugrunde, eine Gesellschaftstheorie auf der Grundlage der Einheit eines Begriffs zu formu-

lieren, der Heterogenes sowohl fordert als auch übergreift (Niklas Luhmann). Sie begründet das Programm, die gewohnten Metaphern der Angleichung (»communio«) und der Kon-

trolle, auf denen ein nicht elaboriertes Kommunikationsverständnis fußt, durch die Metapher der Konstruktion zu ersetzen, die schon deswegen Schließung und Öffnung zugleich sichert, weil sie sich als Metapher weiß (Klaus Krippen-

dorff). Und sie ist sogar in Vorschlägen aufgenommen worden, die Gestaltung von Computersystemen am Prinzip der Vorwegnahme von Zusammenbrüchen zu orientieren. 60 Grundsätzlich geht es immer wieder darum, Kommunikation als Lösung eines Problems zu konzipieren, das sie selbst produziert. Die im Zweiten Weltkrieg gemachte Entdeckung, dass man Soldaten, vor allem Piloten, die der Situation nicht mehr gewachsen waren, am besten und schnellsten helfen konnte,

indem man die Voraussetzungen dafür schuf, dass ihnen durch ihre Gruppe - und nicht durch den Psychiater - geholfen wurde, ist das Paradigma dieser Problemformulierung (so bei Ruesch und Bateson), die ihre andere Seite in der Entdeckung der fatalen, individuelle Abweichungschancen minimierenden Eigendynamik eines »Gruppendenkens« hat.61 Eine andere Beschreibung des Problems lautet, dass sich Kommunikation als System reproduziert. Dies bedeutet, dass die

Kommunikation nicht als Ubertragungsvorgang zwischen den an der Kommunikation beteiligten Individuen verstanden

wird, sondern als emergentes Phänomen. »Es wird nichts übertragen«, so Niklas Luhmann in seinem bereits zitieren Aufsatz »Was ist Kommunikation?«: »Es wird Redundanz erzeugt in dem Sinne, daß die Kommunikation ein Gedächtnis erzeugt, daß von vielen auf sehr verschiedene Weise in An-

spruch genommen werden kann. Wenn A dem B etwas mitteilt, kann sich die weitere Kommunikation an A oder B wen-

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den. Das System pulsiert gleichsam mit einer ständigen Erzeugung von Überschuß und Selektion. Durch die Erfindung von

Schrift und Buchdruck ist dies Systembildungsverfahren nochmals immens gesteigert worden, mit Konsequenzen für Sozialstruktur, Semantik, ja für Sprache selbst, die erst allmählich ins Blickfeld der Forschung treten. «62 Kommunikation produziert und reproduziert sich als System, das weder auf Leben noch auf Bewusstsein, sondern ausschließlich auf sich selbst verweist.

Damit wird jedes »reduktionistische« Programm der Erklärung von Kommunikation abgelehnt. An die Stelle der Zurückführung der Kommunikation auf ein anderes tritt die Systemformulierung selbst, die im Kontext einer Theorie selbstreferenzieller Systeme nicht auf die Vorstellung einer geschlossenen Systematik wohl definierter Elemente und Relationen zwischen diesen Elementen hinausläuft, sondern auf die Vorstellung der unwahrscheinlichen und prinzipiell prekären Reproduktion der Differenz zwischen System und Umwelt. 63

Ebenso wie beim Formbegriff der Kommunikation wird beim Systembegriff der Kommunikation die andere Seite der Differenz, hier: die Umwelt, ausgeschlossen und im Zuge dieses Ausschlusses als unabdingbare Voraussetzung der Systemreproduktion beschrieben. Als diese Umwelt fungieren jene Tatbestände des Lebens und des Bewusstseins, auf die die Kom-

munikation als System nicht zurückgeführt werden kann. Dazu gehört dann auch die Einsicht, dass die Kommunikation andere Zustände annimmt, dass man anders spricht und hört, dass man ein anderes Gedächtnis und andere Erwartungen mobilisiert, wenn man die »Chemie«* im doppelten Sinne des

Wortes der an der Kommunikation beteiligten Individuen etwa durch Rauchen und Trinken verändert. Dieser Systembegriff kann als eine Konsequenz der ästhetischen Fragestellung gedacht werden. Denn ähnlich wie die Asthetik basiert er auf der Vorstellung einer Unterbrechung kausaler Beziehungen und der Möglichkeit der Einrichtung

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sich selbst isolierender und damit umweltindifferenter, nur in

selbst gewählten Selektionen von der Umwelt abhängiger Sachverhalte. Dies führt zurück auf den antiken Begriff der »techné«, der Kunst im Sinne der Schaffung künstlicher Werke

ebenso wie Technik im Sinne der Schaffung einer eigenen Kausalität meinte. Ein System in diesem Sinne kann zwar von

außen zerstört, aber nicht determiniert werden. Es determiniert sich selbst und rekonstruiert zu diesem Zweck Sachverhalte der Umwelt, denen gegenüber es sich in ein Verhältnis der Differenz setzt. Jean Baudrillard (*1929) hat in seinem Werk Paradoxe Kommunikation kritisiert, dass der Begriff der Kommunikation nur noch den Selbstlauf einer negationsfreien Operation bestätigen könne, dem jedes Bewusstsein der Differenz des Individuums und der symbolischen Qualität der Sprache abhanden gekommen sei. Danach ist die Fähigkeit, miteinander zu sprechen, verloren gegangen und eine ebenso technisierte wie therapeutische Fähigkeit, sich zum Sprechen zu bringen be-

ziehungsweise den anderen sprechen zu lassen, an deren Stelle getreten. Der Systembegriff wie auch der Formbegriff der Kommunikation erlauben es, diesen Vorwurf aufzugreifen und zu zeigen, dass das aktuelle Kommunikationsverständnis in der Tat eine therapeutische Funktion hat, die jedoch ohne

das Wissen um die Differenz der anderen Seite, des eingeschlossenen Ausgeschlossenen, nicht zu denken ist. Die Übersetzung des ästhetischen in einen therapeutischen Begriff der Kommunikation nimmt immer noch auf das Individuum Bezug. Und immer noch geht es darum, dieses Individuum zugleich in seiner inkommunikablen Singularität vorkommen zu lassen und mitteilungsfähig zu machen. In letzter

Konsequenz formuliert der therapeutische Kommunikationsbegriff daher genau den Impuls, den die ästhetische Fragestellung aufgegriffen hat: Kommunikation heißt, jene Redundanz zu erzeugen, die das Unvorhersagbare vorhersagbar und das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werden lässt. Die Struktur dieser Redundanz ist der »double bind« (Gregory Bateson),

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nämlich die Unterwerfung des Individuums unter eine Struktur, die sich dadurch definiert, dass sie das Individuum als frei

postuliert. Dieser »double bind«, darauf weist Gregory Bate-

son hin, ist jedoch nicht etwa substanzieller Natur, sondern selbst das Produkt von Kommunikation, das heißt einer Verwirrung, deren Unauflösbarkeit möglich macht, was wir Kommunikation nennen. Das Individuum akzeptiert den »double bind«, denn er ist der Preis für jene Kommunikation, die ihm, mit Vilém Flusser (1920-1991) formuliert, als »Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode« erscheint: Die Entfaltung des »double bind« sichert ihm gemeinsam mit anderen jene hinreichend problematische Struktur, die es ihm erlaubt, sich gegen die natürliche Tendenz zur Entropie mit immer neuer, Unterschiede machender Information zu versorgen. Zusammen mit dem Formbegriff der Kommunikation stellt der Systembegriff die Möglichkeit bereit, die Verwirrung der Kommunikation ebenso wie ihre Reproduktion zu beschreiben. Denn die Schließung der Kommunikation zum System ist einerseits die Voraussetzung dafür, dass die Paradoxie des eingeschlossenen Ausgeschlossenen auffallen kann. Sie ist je-

doch andererseits auch die Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation aufrechterhalten werden kann. Das macht den Systembegriff der Kommunikation zu einem therapeutischen Begriff. Zur Lösung der Probleme der Kommunikation empfiehlt er: Kommunikation.

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Medien der Kommunikation

Die moderne Kommunikationsforschung bestätigt die ästhetische oder auch ästhetisierende Erwartung, dass es keinen ob-

jektiven Standpunkt gibt, von dem aus Kommunikation definiert werden könnte. Jede Definition von Kommunikation ist

bereits dadurch gekennzeichnet, ob sie sich eher für die sprachlichen oder die individuellen Aspekte der Kommunikation, für ihre Einheit oder ihre Differenz, für ihr Gelingen oder ihr Misslingen, für die Kommunikation als Handlung oder für die Kommunikation als Erleben, für die Einschluss- oder für die Ausschlussoperation der Kommunikation interessiert. 65

Dies ist mit ein Grund dafür, dass sich in jüngerer Zeit das Interesse den »Medien« der Kommunikation zuwendet. Auch dies kann noch durch die ästhetische Fragestellung abgedeckt werden, da die Frage nach den Medien der Kommunikation mit der Frage korreliert, wie sich das Individuum in seinen kommunikativen Chancen durch diese Medien einerseits determiniert sehen muss und welche Chancen es andererseits hat, etwa zwischen verschiedenen Medien zu wählen, um seine Inkommunikabilität zu kommunizieren. Es ist daher kein Zufall, dass das Medienproblem im Rahmen der Literaturwissenschaften aufgeworfen wurde und nach wie vor auf größtes Interesse stößt. So macht Marshall McLuhan (1911-1980) in seinen Letters deutlich, dass die Kommunikationstheorie sich nicht auf die Inhalte der Kommunikation und auch nicht auf den Transport dieser Inhalte zu richten hat,

sondern in erster Linie auf das Verhältnis von Figur und Hintergrund. Man könne sich kommunikationstheoretisch nicht auf die Figur, also auf die jeweiligen aktuellen Kommuni-

kationen konzentrieren, wenn deren Zustandekommen, Typ und Reproduktionschance bereits im Hintergrund entschieden werden. McLuhan orientiert sich hier zwar an gestalttheo-

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retischen Überlegungen, doch man erkennt Shannons Definition der Nachricht als Selektion aus einem Raum von Möglichkeiten ebenso wie Spencer-Browns Berechnung einer Bezeichnung aus der Unterscheidung, die sie trifft. Wir können es hier offen lassen, inwieweit die Gestalttheorie

durch Shannons Kommunikationstheorie oder umgekehrt diese durch jene mitmotiviert ist. Wesentlich ist, dass hier wie in allen anderen Figuren, die in unserem Zusammenhang eine Rolle spielen, eine Differenz des Sichtbaren und des Unsichtbaren mitgedacht und jeweils neu formuliert wird. Und dabei wiederum ist wesentlich, dass man zwar immer wieder auch Versuche beobachten kann, sich ausschließlich für das empirisch Sichtbare oder das transzendental Unsichtbare zu ent-

scheiden, die weiterführende Frage jedoch darin gesehen wird, die Differenz selbst zu beschreiben und als eine Operation zu verstehen, die sich selbst reproduziert. McLuhans Arbeiten zur Medientheorie, von Understanding Media (1964, dt. 1968) bis zu The Medium is the Massage (mit Quentin Fiore, 1967), müssen im Licht dieses Interesses an der

Differenz von Figur und Hintergrund gelesen werden. Als »Medium« wird bestimmt, was im Hintergrund wirkt und Kommunikation determiniert. Harold A. Innis (1894-1952)

hatte bereits den Verdacht formuliert, dass man ganze Reiche und Epochen anhand der Frage beschreiben könne, welche Medien sie für die Kommunikation bereitstellen (Empire and Communications, 1950; The Bias of Communication, 1951). Der Untergang der Reiche und Epochen korreliert mit einem Medienwechsel. So leicht es jedoch dem Historiker fallen mag, die jeweiligen Medien zu bestimmen, so schwer fällt dies im jeweils aktuellen, durch bestimmte Medien bereits charakterisierten Kontext. Das jeweils aktuelle Medium entzieht sich allen Bestimmungsversuchen, weil es als Hintergrund (wie Husserls »Horizont der Lebenswelt«) nur weiter zurückweichen kann, wenn man sich ihm nähert. Als »Inhalt« eines Mediums kann daher, so Friedrich Kittler (*1943), immer wieder nur ein weiteres Medium postuliert werden. 66

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Auch die Philosophie der Dekonstruktion interessiert sich für die »différance«, die »sich zurückzieht«, wenn sie beobachtet wird, weil sie zu ihrer Beobachtung immer wieder weitere Differenzen voraussetzt. Zwar fällt bei Jacques Derrida nur sel-

ten, wenn überhaupt, das Stichwort der Kommunikation. Doch gerade deswegen, das kann man bei ihm lernen und an seinem Interesse an »Postkarten« festmachen (La carte postale de Socrate à Freud et au-delà, 1980, dt. Bd. 1: 1989, und Bd. 2:

1987), kann man seine Uberlegungen zur »différance« und zur »Schrift« als Beitrag zu einer »unmöglichen« Kommunikationstheorie lesen. Wenn er die »différance« als »mediale Form« begreift67, so kann man dies mithilfe des Formkalküls von Spen-

cer-Brown als Verweis auf die in den beiden Seiten, die sie trennt, nicht enthaltene und somit sich der Beobachtung entziehende Operation der Unterscheidung verstehen, die von jeder

Kommunikation getroffen wird, ohne dass sie in irgendeiner Kommunikation vorkäme. In diesem Sinne arbeiten Medientheorien an der Bestimmung des dritten Werts der dreiwertigen Zweiseitenform der Kommunikation. Derridas Erkundung der »Schrift« in der Grammatologie kann diese Vermutung bestätigen, denn auch hier geht es um die »différance«, die im Anwesenden (der Figur) als Abwesendes (als Hintergrund) anwesend ist und über ihren eigenen nachtragenden Aufschub »in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet«58

Und auch die soziologische Medientheorie von Talcott Parsong"' und Niklas Luhmann? versteht Medien als strukturelle Vorentscheidungen des Raums der Möglichkeiten, der von der Kommunikation in Anspruch genommen werden kann. Nicht nur wird vorentschieden, welche Sinnselektionen in Medien wie Geld, Wahrheit, Macht, Kunst und Liebe jeweils vorgenommen werden können; es werden durch diese Medien auch entscheidende, also vorgreifende Motivationen in Anschlag gebracht, die die Kommunikation und mit ihr das Individuum

dazu bestimmen können, sich auf diese Vorentscheidungen einzulassen.

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Unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Problemstellung ist an der Medienfrage interessant, dass jedes neue Medium unter dem doppelten Gesichtspunkt einer endgültigen Determination oder einer gefährlichen Freisetzung des Individuums beobachtet wird. Das galt für das Aufkommen der Verbreitungsmedien Schrift, Buchdruck und elektronische Medien bis hin zum Computer ebenso wie für die Beobachtung von Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit, Kunst und Liebe. Jedes Mal muss man befürchten, dass die inkommunikable Individualität des Individuums nun endgültig keine Chancen mehr hat, sich als Einwand gegen die Kommunikation in der Kommunikation durchzusetzen. Und jedes Mal muss man entdecken, dass jedes dieser Medien neue Inkommunikabilitätschancen eröffnet. Nicht zuletzt die Kunst kann als immer mitlaufender und sich an jedem Me-

dium neu bewährender Bereich der immer wieder neuen Durchsetzung der Einsicht in Inkommunikabilität beschrieben werden. Sogar die Massenmedien Zeitung, Kino, Rundfunk und Fern-

sehen profitieren von diesem Problem der Inkommunikabilität des Individuums. Denn sie beziehen ihre Attraktivität daraus, in jeweils einem Zug und nahezu ununterscheidbar sowohl über die Zustände der Welt als auch über Abweichungs- und Profilierungschancen von Individuen nicht nur zu berichten, sondern diese Zustände und Chancen durch das Angebot der Selektion aus den Massenmedien zugleich auch zu realisieren: Nichts definiert unsere Welt präziser und durch nichts werden wir individueller als durch die Wahl der Zei-

tung, die wir zum Frühstück lesen, und durch die Art und Weise, wie wir sie lesen. Die Massenmedien erlauben eine Beobachtung von Beobach-

tern in großem Stil. Sie universalisieren den Verdacht gegen-

über allen Mitteilungen und allen Informationen, aber sie steigern auch die Fähigkeit der Gesellschaft, sich selbst zu irritieren, in bisher ungekanntem Maße. Sie bilden eine Sinnmaschine, die niemals eindeutig funktioniert und dennoch oder

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gerade deswegen in vielen Hinsichten vorhersehbar operiert. Während sie dem Individuum Abweichungschancen in Hülle und Fülle bieten, fangen sie es doch immer wieder auch ein, indem sie es doppelt einbinden in das Interesse daran, für andere beobachtbar zu bleiben einerseits und andere beobachten zu können andererseits. Die Beobachtung von Beobachtern gibt dieser wie jeder anderen Kommunikation eine

Struktur, die nicht mehr die Konformität, sondern die Abweichung präferiert. Denn nur die Abweichung liefert Ansatzpunkte für Imitation und Kopie, die für andere Individuen interessant sein können.

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Attribution und Codierung

Der Systembegriff und der Medienbegriff der Kommunikation

laufen beide darauf hinaus, der Kommunikation eine eigene, vom Individuum unabhängige Referenz zuzuschreiben. Kommunikation wird als ein eigener Modus der Konstitution und Reproduktion von Gesellschaft beschrieben, der vom Individuum nicht initiiert werden kann und dennoch von ihm verantwortet werden muss. Denn dieser Konstitutions- und Reproduktionsmodus nimmt auf das Individuum als notwendig differenzielle, also systematisch abweichende, mit Intransparenz und mit Indifferenzchancen ausgestattete Voraussetzung seiner selbst Bezug. Diese Referenzzuschreibung muss nicht unbedingt als Ver-

such interpretiert werden, Kommunikation zu einer Art Subjekt zu substanzialisieren. Es geht in diesen Begriffen weniger um die Identität der Kommunikation als um den Unterschied, den sie macht. Der Gewinn des im 19. und 20. Jahrhundert formulierten Kommunikationsbegriffs besteht darin, für die Produktion und Reproduktion der Form der Kommunikation eine Zurechnungsinstanz und Attributionsadresse, das soziale System oder Netzwerk als ein Phänomen

aus eigenem Recht, ins Spiel zu bringen, die außerhalb des Individuums liegen. Damit wird an den Milieubegriff angeknüpft, dem zufolge man einen Organismus (und ein Individuum) nicht unabhängig von der Nische, vom Lebensraum, definieren kann, den er besetzt, in dem er sich als Differenz reproduziert und aus dem heraus er sich bestimmt. Der Psychologe Kurt Lewin (1890-1947) hat in diesem Sinne das Verhal-

ten eines Individuums als Funktion der Person und ihrer Umwelt bestimmt. Darüber hinaus wird die Eigendynamik

dieser Milieus festgehalten, die nicht nur Restriktionen set-

zen, sondern die sich selbst in Abhängigkeit von den Or-

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ganismen (Individuen), die sich in ihnen reproduzieren, ver-

ändern. Der Kommunikationsbegriff ist somit eine Beobachtungsformel, die es ermöglicht, so Fritz Heider (1896-1988) in der von ihm begründeten Attributionstheorie?33, einen Wechsel der Attribution von der Person auf die Situation vorzunehmen

und aus der Reproduktion bestimmter Situationen auf eine Gesellschaft zu schließen, die sich über den Wechsel der Personen und den Wechsel der Situationen hinweg reproduziert. Wir befinden uns in der »Gesellschaft der Gesellschaft«, um Luhmann zu zitieren, und dies nicht nur dann, wenn wir allein

sind, vielmehr auch dann, wenn wir kommunizieren. Wir müssen entdecken, dass nicht wir es sind, die kommunizieren, sondern die Kommunikation. Die Kommunikation gewährleistet die Differenz der Codes, mit deren Hilfe wir uns verständigen. Gäbe es nur einen Code, so Lotman, müssten wir uns als eine Person verstehen. 74

So aber haben wir es mit mehreren Codes, mehreren Personen - und deswegen mit Kommunikation zu tun. Die Kommunikation selbst oszilliert notwendigerweise zwischen der Einsicht in unvollständige Ubersetzbarkeit der Mitteilungen einerseits und vollständiger Unübersetzbarkeit andererseits. Und diese Oszillation wiederum ist das Ergebnis des Umstands, dass Kommunikation immer beides heilst: erstens wachsende Individualisierung, denn man braucht immer neue Möglichkeiten, sich abweichend auf die Kommunikation beziehen zu können, und zweitens wachsende Amplifikation

der Generalisierung, damit die Kommunikation erkennbar bleibt. Der Codebegriff, wie ihn vor allem Gregory Bateson in einem

Beitrag zu seinem mit Jürgen Ruesch geschriebenen Buch Kommunikation entwickelt, zieht die Konsequenzen daraus, dass jede Kommunikation nur »ökologisch«, das heißt nur als

Überbrückung der unüberbrückbaren Differenz von Individuum und Gesellschaft zustande kommt. Denn so kann Kommunikation als Codierung, als Schaffung einer eigenen

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Sequenz von Ereignissen verstanden werden, die für etwas außerhalb dieser Sequenz stehen mögen, tatsächlich jedoch dieses Für-etwas im Kontext der eigenen Sequenz von Ereignissen mitproduzieren. Diese Codierung kann nicht decodiert, sondern nur im Kontext eines anderen Codes recodiert werden. Wenn man sich auf Kommunikation einlässt, bewegt man sich

im Möglichkeitenraum unterschiedlicher Codes, die weder vollständig übersetzt noch im Hinblick auf irgendetwas ent-

schlüsselt werden können, was nicht seinerseits ein Code wäre. Die ästhetische Zuspitzung des Kommunikationsbegriffs führt auf einen attributionalen Spielraum, den man nicht nur dazu nutzen kann, die Kommunikation als Kommunikation, sondern auch dazu, die Differenz der Codes als notwendige Prämisse der Kommunikation zu beobachten. Und nur dies bringt das Individuum gegenüber der Differenz der Kommunikation wieder ins Spiel. Es kann sich jetzt darauf kaprizieren, die Codes entweder besonders unauffällig oder besonders virtuos zu bedienen. Es kann sich dafür entscheiden, die Codes zu wechseln und mit dem Wechsel der Codes in verschiedenen Situationen zu spielen. Und es kann sich auf den Versuch einlassen, die Codes zu dekonstruieren und die Kommunikation dadurch fortzusetzen, dass die Kommunikation unmöglich gemacht wird. Dies alles sind im wahrsten Sinne des Wortes ästhetische Optionen. Denn sie ermöglichen es, im Vollzug der Kommunikation die Differenz des Individuums augenfällig werden zu lassen.

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Zusammenfassung und Ausblick

»wie wenig machen wir uns klar, dass wir nicht an die welt, sondern an die kommunikation grenzen«, hat Oswald Wiener (*1935) in seinem Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa

(1969, S. clvi) festgestellt. Die ästhetische Akzentuierung des Kommunikationsbegriffs hat eines ihrer Motive darin, dieses

Angrenzen immer wieder neu herauszuarbeiten, und zwar von beiden Seiten. Man kann die Entfaltung des Kommunika-

tionsbegriffs so weit verfolgen, dass schließlich auch die Grenze selbst sichtbar wird und ihre mediale Operation zum Gegenstand von Kommunikationsforschung werden kann. Die ästhetische Konturierung der Kommunikation, an der sich, wie gezeigt, jeder Kommunikationsbegriff zu messen hat, läuft darauf hinaus, die Singularität und Inkommunikabilität des Individuums festzuhalten. Als Begriff der Kommunikation kann dann nach theologischen und rhetorischen Vorläufern und begleitet durch sprachphilosophische Erwägungen nur ein Versuch überzeugen, die Individualität des Individuums als die »andere Seite« der Kommunikation mit in

den Begriff zu integrieren. Bei diesem Kommunikationsbegriff bleibt das Individuum unbestimmt, das heißt frei, sich selbst zu bestimmen. Der ästhetisch akzentuierte Kommunikationsbegriff formuliert die Einsicht, dass ohne den Spielraum eines sich selbst bestimmenden Individuums von Kommunikation keine Rede sein kann. Gemessen an seiner Intention und Intuition tritt der Kommu-

nikationsbegriff im 20. Jahrhundert die Nachfolge des Kausalitätsbegriffs des 19. Jahrhunderts an. Er ersetzt die Beobachtung von Ursache und Wirkung durch die Beobachtung von in Grenzen wählbaren Beziehungen, die auf beiden Seiten Autonomie voraussetzen. Und er führt auf einen Begriff der Sprache, der jene Kommunikation bezeichnet, die sich über sich

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selbst verständigt. In diesem Sinne ist der vorliegende Text eine sprachliche Verständigung auf einen Kommunikationsbegriff, der offen lässt, was Kommunikation »ist«, weil nur so mit in den Begriff aufgenommen werden kann, dass Kommunikation darin besteht, nicht zu determinieren, wie sie fortgesetzt wird. Wenn nicht alles täuscht, haben wir in der gegenwärtigen Gesellschaft Anlass genug, mit dem hier vorgestellten Kommuni-

kationsbegriff in allen seinen Schattierungen zu arbeiten. Denn erstens bewährt sich in dieser Gesellschaft nur noch ein ökologischer Ordnungsbegriff, der mit Nachbarschaften unbestimmter, aber sich laufend bestimmender Art rechnet und ohne eine übergreifende, den Kosmos, die Geschichte oder den Staat zitierende Ordnungsvorstellung auskommt. Was sich hier bestimmt, bestimmt sich kommunikativ. Und zweitens deutet sich eine Reihe von Beobachtungen an, die den Engpass dieser Gesellschaft in der Frage diagnostizieren, ob und wie lange es ihr noch gelingt, für ihre anspruchsvollsten kommunikativen Aufgaben - man denke nur an Mütter und Väter, Schüler und Lehrer, Politiker und Wähler, Vorgesetzte und Mitarbeiter, Techniker und Berater, Wissenschaftler und Priester, Künstler und Kunstbetrachter - nach wie vor Individuen zu finden, die bereit sind, mitzumachen, was ihnen bei der Erfüllung dieser Aufgaben geboten und von ihnen verlangt wird. Der Kommunikationsbegriff macht auf eine lose Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft aufmerksam, die beiden Seiten enorm viel Spielraum verschafft, aber auch immer wieder eine Überforderung darstellt, die dazu verführen kann, mit Sozialmodellen aufzuwarten, die den Bindungsgrad

durch Sinnangebote aller Art (und die dazugehörende Drohung mit Unsicherheit) zu erhöhen versprechen.

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Anmerkungen

1 Siehe vor allem Heinz von Foerster, Epistemologie der Kommuni-

kation, in: ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M. 1993. 2 Siehe zu den hier zitierten Einteilungen der Philosophie: dtv-Lexi-

kon in 20 Bänden, München 1995, Bd. 14, Stichwort »Philosophie«; und des Näheren zur antiken Philosophie: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Berlin 1973.

3 Vgl. Jürgen Ruesch/Gregory Bateson, Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie, Heidelberg 1995; Michel Serres, Hermes, Bd.1: Kommunikation, Berlin 1991; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997. 4 Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Eaglewood 1967. 5 Vgl.Gregory Bateson, Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1982. 6 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Metaphysik der

Jugend, Frankfurt a. M. 1977, S. 91.

7 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O.,

S.194. 8 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung. 9 Vgl. Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1993. 10 Vgl. John Locke, Essay Concerning Human Understanding [1690], Bd. 2, Buch III, Kap. 2.

11 Vgl. ebenda. 12 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1891,

5.34. 13 Wilhelm von Humboldt, Uber die Verschiedenheit des menschLichen Sprachbaues und thren Einflus auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Berlin 1836, S. 64.

14 Vgl. Sören Kierkegaard, Einübung ins Christentum (1850], in: ders., Gesammelte Werke, hg. Von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes, Bd. 26, Gütersloh 1986.

100

15 Michel de Montaigne, Apologie für Raymond Sebond, in: ders., Essais, übers. von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 269.

16 Ebenda, S. 269. 17 Ebenda, S. 284. 18 Ebenda, S. 282. 19 Ebenda, S. 281f. 20 Jean Paul, Vorschule der Asthetik (1804/13], Hamburg 1990, S. 55f. 21 Petrus Dasypodius, Dictionarium Latinogermanicum, Straßburg 1536, Lemma »gemeyn«. 22 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995; siehe auch Harrison C. White, Careers and Creativity: Social Forces in the Arts, Boulder 1993.

23 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, passim. 24 Vgl. Josias Ludewig Gosch, Fragmente über den Ideenumlauf, Kopenhagen 1789. 25 Gotthard Günther, Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik,

Hamburg 1979. 26 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 3, Frankfurta. M. 1969, S. 312.

27 Vgl. Karl Jaspers, Philosophie, München 1960, S. 71 ff. 28 John Dewey, Erfahrung und Natur. Frankfurt a. M. S. 167. 29 So bei Martin Buber, Das dialogische Prinzip (1923], 8. Aufl., Heidelberg 1997. 30 Vgl. Gotthard Günther, Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik, Hamburg 1979. 31 Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval, München 1969. 32 Vgl. Heinz von Foerster, Understanding Understanding, New York 2003; Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Frankfurta. M. 1997. 33 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985.

34 In: C. K. Ogden, I. A. Richards, Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurta. M. 1974, S. 323-384. 35 Bronislaw Malinowski, Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen, a. a. O., S.338f.

36 Herbert Brün, Drawing Distinctions Links Contradictions, in: Heinz von Foerster (Hg.), Cybernetics of Cybernetics: The Control of Control and the Communication of Communication, Minneapolis 1995, S. 473. Übersetzung D. B.

101

37 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 104. Übersetzung korrigiert durch D. B. 38 Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation, in: Claude E. Shannon und Warren Wea-

ver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, München 1976, S. 11f

39 Claude E. Shannon, in: Claude E. Shannon und Warren Weaver, Mathematische Grundlagen der Informationstheorie, a. a. O., S.41. 40 Ebenda, S. 44. 41 Ebenda, S. 80. 42 Ebenda, S. 41. 43 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, 5. 39f. 44 Vgl. Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. M. 1981; Yves Barel, Le paradoxe et le système, Grenoble 1979.

45 Donald MacKay, Information, Mechanism and Meaning, Cam-

bridge/Mass. 1969. 46 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981. 47 Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce, in: ders., Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, Stuttgart 1968, S. 129, 113

und 115. 48 Vgl. Louis H. Kauffman, »Ways of the Game - Play and Position Game«, in: Cybernetics and Human Knowing, Bd. 2, Heft 3, 1994, S. 22. 49 Harald Weinrich, »Über Sprache, Leib und Gedächtnis«, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988. 50 Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994. 51 Klaus Merten, Kommunikation: Eine Begriffs- und Proze analyse, Opladen 1977. 52 Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge 1951.

53 Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, Kap. 3. 54 Vgl. Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern u. a. 1969.

102

55 Jurij Lotman, »Primary and Secondary Communication-Modeling Systems«, in: Daniel P. Lucid (Hg.), Soviet Semiotics, Baltimore 1977. 56 Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen, Berlin 2002, S. 161. 57 Niklas Luhmann, »Was ist Kommunikation?«, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1995, S. 115. 58 Vgl. Humberto R. Maturana, Biologie der Realität, Frankfurt a. M.

2000. 59 Vgl. Jacques Derrida, Limited Inc., Wien 2001. 60 Vgl. Terry Winograd und Fernando Flores, Erkenntnis maschinen Verstehen, Berlin 1989. 61 Vgl. Irving Lester Janis, Victims of Groupthink, Boston 1972. 62 Niklas Luhmann, »Was ist Kommunikation?«, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, a.a. O., S. 117. 63 Vgl. Niklas Luhmann, »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981. 64 Michael Rutschky, Wartezeit: Ein Sittenbild, Köln 1983. 65 Vgl. Anthony Wilden, System and Structure, London 1972. 66 Friedrich Kittler, »Geschichte der Kommunikationsmedien«, in: Jörg Huber und Alois Martin Müller (Hg.), Raum und Verfahren, Basel 1993. 67 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien 1989, S. 34. 68 Ders., Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 105.

69 Vgl. Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen 1980. 70 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a. a. O., Кар. 2. 71 Vgl. Dennis McQuail, Mass Communication, London 1983. 72 Vgl. Kurt Lewin, Werkausgabe, Bd. 4: Feldtheorie, Bern 1982. 73 Vgl. Fritz Heider, Psychologie der interpersonalen Beziehungen, Stuttgart 1977.

74 Vgl. Jurij M. Lotman, »Primary and Secundary CommunicationModeling Systems«, a. a. O.

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Kommentierte Bibliogra e

Platon, Sophistes, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3. übers. von Friedrich Schleiermacher, neu hg. von Ursula Wolf, Reinbek 1994, S. 253-335. Jede Auseinandersetzung mit Wort und Sachverhalt der Kommunika-

tion sollte mit Platons Sophistes und dem Buch von Shannon und Weaver beginnen. Platon ist es in diesem Lehrgespräch auf meisterhafte und unnachahmliche Art gelungen, die Faszination und den Verdacht gegenüber der Kunst der menschlichen Rede auf den Punkt zu bringen, angefangen damit, dass der auch aus anderen Gesprächen Platons bekannte Theaitetos hier mit einem auch so genannten Fremden spricht, der keinen Namen erhält und mit dem die Auseinandersetzung bis zum Schluss damit nur gleichsam auf Abstand geführt wird. Sophisten, also Wort- und Redekünstler, so weiß man aus der Geschichte des antiken Griechenlands, waren wandernde Gelehrte (vergleichbar manchen heutigen Beratern), die insofern »fremd« waren, als man nie recht wusste, welcher Herkunft außerhalb ihrer Heimat in der Sprache sie sich verpflichtet fühlten. Seither wird der Sachverhalt der Kommunikation nur mit spitzen Fingern berührt, obwohl

und vielleicht auch weil man weiß, dass man ohne ihn nicht auskommt, ja nicht einmal lebensfähig ist. Aber in der Gemeinschaft jener, die einander nicht fremd sind, muss es, so glaubt man seit jeher, auch genügen, miteinander zu schweigen. Immerhin mindert dies die Möglichkeit der Missverständnisse. Shannon, Claude E., und Warren Weaver, Mathematische Grundlagen

der Informationstheorie (1949), München 1976.

Dies ist neben Platons Sophistes das zweite Buch, das für die Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsbegriff unabdingbar ist. Vermutlich handelt es sich um eine der einflussreichsten wissenschaftlichen Publikationen des 20. Jahrhunderts überhaupt, enthusiastisch begrüßt von den einen, die sich die Möglichkeit erhoffen, ausrechnen zu können, was die Kommunikation leisten kann und was nicht, und aus den gleichen Gründen vehement abgelehnt von den anderen. Die Rezeptionsgeschichte dieses Buches ist allein schon des-

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halb faszinierend, weil der eigentliche Erfinder der mathematischen Kommunikationstheorie, Claude Shannon, und sein Mentor und Ko-

autor Warren Weaver auf die fatale Idee gekommen waren, ihre Grundidee mit einem Sender-Empfänger-Kanal-Übertragungsmodell

der Kommunikation zu veranschaulichen. Diese hat seither jede

Form von Sprach- und Kommunikationswissenschaft mit der irreführenden Annahme belastet, bei der Kommunikation ginge es darum, etwas Identisches, eine Nachricht, von einem Sender so zu einem

Empfänger zu transportieren, dass sie dort reproduziert werden kann. Die einfache Rückfrage, wer denn diese Identität feststellt, wurde nicht gestellt. Wäre sie gestellt worden, hätte man bemerkt, dass das Identitätskonzept der Kommunikation nicht richtig sein kann. Man wäre darauf gestoßen, dass Sender, Empfänger und mögliche Beobachter sich ihren eigenen Reim auf die übermittelten Nachrichten machen und dann am wechselnden Feedback, an der Fehlerkorrektur, überprüfen, wie weit sie damit kommen. Die Ironie an der Rezeptionsgeschichte der mathematischen Theorie der Kommunikation ist, dass Shannons Definition der Information als mitzulesende Auswahl einer Nachricht aus einem Möglichkeitenbereich anderer

Nachrichten in hohem Maße geeignet ist, Kommunikation im Sinne einer rekursiven, auf sich selbst immer wieder neu Bezug nehmenden Fehlerkorrektur zu beschreiben. Ruesch, Jürgen, und Gregory Bateson, Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie (1951), übers. von Christel Rech-Simon, Heidel-

berg 1995.

Dieses Buch, das sich mit der mathematischen Theorie der Kommunikation von Shannon auseinander setzt, wurde kaum gelesen. Für die

Ingenieure war es zu unmathematisch und für die Sozialwissenschaftler zu unkritisch gegenüber dem Modell von Shannon. Erst der

Neudruck 1987 und die deutsche Übersetzung 1995 haben daran etwas geändert. Tatsächlich werden in diesem Buch alle wesentlichen

Ideen der wechselseitigen Wahrnehmung, der Fehlerkorrektur, der Ditterenz von »report« und »command«, sowie der jede Kommunikation begleitenden Metakommunikation eingeführt, die die Kommunikationswissenschaften schon früh hätten bereichern und zu fruchtbaren Formen der Auseinandersetzung mit der Linguistik, der

Sprachphilosophie und der analytischen Philosophie hätten befähigen können. Nicht zuletzt wird hier ein allgemeiner, auf lebende, psy-

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chische und soziale Systeme gleichermaßen anwendbarer Kommunikationsbegriff entwickelt, der auch in der Diskussion mit Soziologie und Sozialpsychologie hilfreich sein kann. Aber wichtig ist vor allem, dass sich Ruesch und Bateson von der ingenieurwissenschaftlichen Verengung der mathematischen Kommunikationstheorie durch deren Autoren nicht davon abschrecken ließen, auch die biologische, psychologische und anthropologische Fruchtbarkeit der Idee der Selektivität der Kommunikation zu entdecken und auszubauen. Havelock, Eric A., Preface to Plato, Oxford 1963.

Havelocks Werk gehört zu den Initialzündungen einer historischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung, die dann auch bei Autoren wie Walter J. Ong, Jack Goody, lan Watt, Harold A. Innis,

Marshall McLuhan und Friedrich Kittler zu der außerordentlich fruchtbaren Fragestellung geführt hat, inwieweit nicht nur das Was, sondern auch das Wie mitbedingt, was (!) wir uns mitzuteilen haben. Die griechische Philosophie, so Havelock, war regelrecht erschrocken durch das Auftauchen der alphabetischen Schrift, die mit der Prasenz

des mündlich gesprochenen Wortes bricht und Sprache zu einem wahrnehmbaren und still stehenden - nicht mehr, wie in der mündlichen Rede, fließenden - Sachverhalt macht. Platon befürchtet, dass auf das menschliche Gedächtnis bald kein Verlass mehr sein wird, wenn man sich aufschreiben und dann in der Schrift verändern kann, was man sich merken will. Aber die Einführung der Schrift ist nicht nur eine Katastrophe für die Gesellschaft, sondern sie löst in der Bear-

beitung dieser Katastrophe Entwicklungen aus, die man sich zuvor nicht hätte vorstellen können. Eine der wichtigsten Entwicklungen im Fall der Schrift ist sicherlich die mit dem Stillstehen der Worte ermöglichte Substantivierung von Verben und Adjektiven zu Abstraktionen (»philía«: die Freundschaft, »alétheia«: die Wahrheit, »ethos«: das

gute Leben), die in dieser Form ein Eigenleben beginnen und zum Kristallisationspunkt unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche werden.

Sacks, Harvey, Lectures on Conversation, hg. von Gail Jefferson, 2 Bde., Oxford 1992.

In diesem Buch sind Vorlesungen von Harvey Sacks aus den Jahren 1964 bis 1972 zusammengestellt, die dieser vornehmlich an der University of California in Berkeley gehalten hat und die zum Originells-

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ten gehören, was die an Originellem in diesen Jahren nicht arme Soziologie zu bieten hat. Sacks Vorgehen ist strikt ethnomethodologisch, nur lose an einige linguistische Interessen, aber an keinerlei theoretische Vorannahmen gebunden. Er verfolgt die Frage, wie Konversationen gebaut sein müssen, damit Personen, die bestimmte Informationen für sich behalten, gleichzeitig jedoch andere Informationen erhalten wollen, es riskieren, sich auf sie einzulassen. Telefon-

gespräche beim Erstkontakt zwischen Patienten und Kranken-

häusern, Kinderspiele und andere strikt kleinformatige Gespräche werden protokolliert und auf ihr »turn-taking«, das Hin und Her zwischen den Gesprächspartnern hin untersucht, um zu ermitteln, wie jeder einzelne Beitrag zur Kommunikation jeweils eine Einladung zu bestimmten »accounts«, Zuschreibungen von Sachverhalten, ist und eine Entmutigung oder Diskontierung anderer Zuschreibungen. Nirgendwo wird die These von Umberto Eco, dass man Kommunikation (hier den Gebrauch von Zeichen), nur versteht, wenn man versteht, wie Lüge, Betrug und Verstecken möglich sind, ernster genommen und in eine zugleich auf jeden Pessimismus verzichtende Beobachtung von Kommunikation umgesetzt. Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche

Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (1967), Bern 1969.

Mit seinem »metakommunikativen Grundsatz«: »Man kann nicht nicht kommunizieren«, ging dieses Buch in die Geschichte der Human- und Sozialwissenschaften ein. Hinzuzufügen wäre dem nur,

dass dies auf beiden Ebenen der Kommunikation gilt, die die Autoren in diesem Buch beschreiben, auf der Beziehungsebene und auf der Inhaltsebene. Weder kann man sich aussuchen, was man auf der Beziehungsebene mitkommuniziert, während man meint, auf der In-

haltsebene zu kommunizieren, und umgekehrt, noch kann man sich aussuchen, was man auf der Beziehungsebene mitkommuniziert, während man versucht, etwas auf der Beziehungsebene zu kommunizieren, noch was man auf der Inhaltsebene mitkommuniziert, während man versucht, etwas auf der Inhaltsebene zu kommunizieren. Selten ist die Eigendynamik, die lose Kopplung der Kommunikationsteilnehmer aneinander, präziser beschrieben worden als in diesem

Buch, das denn auch nur konsequent nicht nur auf »Formen«, sondern auch auf »Störungen« und »Paradoxien« Schwerpunkte legt. Folgenreich war darüber hinaus die Unterscheidung »analoger«, irgend-

107

wie dinglicher, und »digitaler«, über Namen und Abstraktionen laufender, Kommunikation. Derrida, Jacques, Grammatologie (1967), übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a. M 1974. Derridas Buch gehört zu den ersten Büchern, die versuchen, einen so

allgemeinen Schriftbegriff zu formulieren, dass damit der Umgang mit Zeit, mit dem Anderen und mit der Sprache in der Gesellschaft beschrieben werden kann. Das Buch deckt den »Phonozentrismus« auf,

mit dem die alteuropäische Philosophie alle Formen menschlicher Rede und Verständigung am Modell des gesprochenen und gehörten, also präsenten Wortes orientiert, und setzt dem die Idee einer Schrift und eines Buches entgegen, in denen die Arbeit am Sinn über die Bewegungen des Aufschubs und des Nachtrags, das heißt unter Inanspruchnahme von Zeit und generell als Einladung an den anderen, aber auch als Entzug gegenüber dem anderen, stattfindet. Serres, Michel, Hermes I: Kommunikation (1968), übers. von Michael Bischoff, Berlin 1991.

In diesem ersten Band seines fünfbändigen Werks über Hermes, den griechischen Gott der Wanderer, Hirten, Diebe und Kaufleute sowie Götterboten, zeigt Serres, dass die von Shannon begründete Informationstheorie einen weitreichenden Umbau von Philosophie und Wissenschaft bewirkt. Shannons Informationsbegriff, so Serres, führt dazu, dass lineare Ordnungsmodelle verabschiedet werden und auch das Konzept der Kausalität nur noch innerhalb des ihm vorgeordneten Konzepts des Netzwerks Verwendung finden kann. Serres war wohl einer der Ersten, die entdeckt haben, dass das Rauschen (»noise«) in Shannons Modell nicht nur eine störende und verzerrende, sondern

auch eine kreative und aufbauende Bedeutung haben kann. Darauf beruht nicht zuletzt das spätere Erfolgsbuch von Serres Der Parasit (franz. 1980, dt. 1981). Zur Auseinandersetzung mit der alteuropä-

ischen Tradition gehört die Einsicht, dass auch philosophische Erkenntnisse nichts mit einem (platonischen) Wiedererkennen (des Ursprungs), aber sehr viel mit einem Rekonstruieren zu tun haben, das sich an immer wieder neuen gegenwärtigen Ausgangspunkten

orientiert.

108

MacKay, Donald M., Information, Mechanism and Meaning, Cambridge, Mass. 1969.

In diesem Buch wird mit aller Konsequenz die shannonsche Kommu-

nikationstheorie als eine Theorie der prinzipiellen selektiven Information ausgearbeitet. Der Autor ist Physiker und gehört dem frühen Kreis der englischen Kybernetiker an, wechselt jedoch später und durchaus konsequent in die Kommunikationsforschung. MacKay entwickelt die Idee des »state of conditional readiness«, des Zustands der

bedingten Bereitschaft, in dem sich jeder Kommunikationsteilnehmer befindet. Damit ist die für jedes kausale Konzept schwierige Beobachtung zu erklären, dass Kommunikationsteilnehmer aufeinander zwar reagieren, aber überraschend reagieren. Batesont, Gregory, Geist und Natur: Eine notwendige Einheit (1979), übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1982.

Batesons Schrift enthält, beginnend beim Konzept der Unterscheidung und ihres seltsamen ontologischen Status (Was ist und wo befin-

det sich der Unterschied zwischen einem roten und einem weißen Kreidestrich an der Tafel?), eine ganze Reihe von Begriffen und Ideen,

die sich praktisch ebenso wie erkenntnistheoretisch als nützlich erweisen, sobald man sich vom Paradigma der Kausalität als Weltmodell verabschiedet und auf das Paradigma der Kommunikation einlässt. Bateson ist zwar auch für den New-Age-Gedanken notorisch, dass in der Welt letztlich alles mit allem zusammenhängt, aber wenn man von dieser Letztversicherung in einer Idee der Ganzheitlichkeit

abstrahiert, bekommt man es mit einem der wohl schärfsten und ein-

fallsreichsten Denker der Differenz zu tun. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984.

Hier handelt es sich um die Grundlegung einer Kommunikationstheorie sozialer Systeme. Der Kommunikationsbegriff wird aus seiner Ver-

allgemeinerung bei Ruesch und Bateson herausgelöst, im Anschluss an Shannon als Selektionsbegriff (genauer: als Begriff einer Synthese

der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen) formuliert und in dieser Fassung auf soziale Systeme im Unterschied zu psychischen Systemen (Bewusstseinen) und zur sonstigen Umwelt eingegrenzt. Der Kommunikationsbegriff wird in eine Theorie selbstreferenzieller und autopoietischer sozialer Systeme eingebettet, in de109

nen die Kommunikation sowohl die Grenzziehung gegenüber der Umwelt leistet als auch die Reproduktion dieser Systeme. Soziale Systeme werden als temporalisierte Systeme konzipiert, so dass jede einzelne Kommunikation als Ereignis begriffen werden kann, das auf-

taucht und wieder verschwindet und in dieser Form das Reproduktionsproblem sozialer Systeme sowohl immer wieder neu stellt als auch, solange sich Anschlussereignisse finden, löst. Die autopoietische, soziale Systeme generierende und reproduzierende Operation der Kommunikation wird von der Problemstellung der doppelten Kontingenz (Ego macht nur ein kommunikatives Angebot, wenn Alter eines macht, und umgekehrt) ausgelöst (etwas geschieht, ein Blick,

eine Geste, ein Wort, oder eben nichts geschieht), allerdings auch immer wieder neu vor dasselbe Problem gestellt (Ego wartet auf Alter, Alter wartet auf Ego ...). Soziale Systeme reproduzieren sich, indem sie immer wieder neue Kommunikation hervorbringen, und sie steuern sich, indem sie diese Kommunikation Handlungen zurechnen.

Baudrillard, Jean, Paradoxe Kommunikation, Bern 1989. Ob Jean Baudrillard Arbeiten von Niklas Luhmann gelesen hat, weiß

man nicht, aber die These dieses Buches, Kommunikation würde heute nicht mehr als Aktion, sondern nur noch als Operation begriffen, liest sich so, als sei auch Luhmann damit gemeint. Man handle nicht mehr, setze sich nicht mehr mit dem anderen auseinander, bringe nichts mehr hervor, lautet die These dieses Buches, sondern man lasse geschehen, treibe mit und sorge nur noch dafür, dass man den Anschluss nicht verpasst. Die Kommunikation wird zu ihrem eigenen Medium, so der melancholische Soziologe, in dem die Kommu-

nikation selbst, ihr Inhalt, ihr Einsatz, ihre Absicht, keinen Unterschied mehr macht. Das Buch lässt offen, womit die gegenwärtige Gesellschaft dieses Schicksal verdient hat, nimmt damit aber nur umso deutlicher die Position eines Individuums ein, dem die Kommu-

nikation insgesamt zum Sachverhalt der Wahrnehmung wird und dem durchaus nicht gefallen muss, was es da sieht und hört. Giesecke, Michael, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991.

Ebenso wie das Buch von Elisabeth L. Eisenstein, Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im modernen Europa, geht auch dieser Text den

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weitreichenden Veränderungen nach, die die Einführung des Buchdrucks, genauer gesagt: die Notwendigkeit der Gesellschaft, sich mit

den neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Buchdrucks auseinander zu setzen, in der Gesellschaft ausgelöst hat. Der Buchdruck wird nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, die Bibel zu drucken und zu

vervielfältigen, als »letztes Geschenk Gottes« begrüßt, zugleich aber

wegen der Flugblätter, Pamphlete, Geldnoten, Wertpapiere, Zeug-

nisse, Quittungen und Zeitungen, die der Buchdruck ermöglicht, als

Kommunikationsmaschine wahrgenommen, die die Gesellschaft ähnlich zu bewässern erlaubt wie eine Pumpe die Felder. Man stritt darüber, wer berechtigt ist, in diese Maschine neue Daten einzugeben, und schuf das Amt des Predigers (später ergänzt durch die Ämter der Philologen), der in den richtigen Umgang mit der neuen Technik einweist. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997.

Dieses Buch ist zum einen ein Loblied der Buchdruckgesellschaft im Übergang zur Computergesellschaft und zum anderen ein Plädoyer dafür, den Kommunikationsbegriff umzustellen auf den Umgang mit Nichtwissen einerseits und mit der Differenz der Individuen andererseits. Aus einem mithilfe des Formbegriffs von G. Spencer-Brown konzipierten Differenzbegriff der Kommunikation werden eine Sys-

temtheorie, eine Medientheorie, eine Evolutionstheorie und eine Differenzierungstheorie der Gesellschaft entwickelt, die allesamt ihresgleichen suchen. Das Buch schließt mit einem großen Kapitel zu »Selbstbeschreibungen« der Gesellschaft, in dem die Glanzleistung der Semantik »Alteuropas« dargestellt, jedoch auch gezeigt wird, dass wir weit davon entfernt sind, auch nur eine Ahnung davon zu haben, mit welchem Selbstverständnis wir die aktuelle kommunikative Gestalt der Gesellschaft begleiten und beobachten können. Der Kommunikationsbegriff wird zu einem Suchbegriff, der impliziert, dass es immer wieder wechselnde Beobachterpositionen sind, aus denen her-

aus die gegenwärtige Gesellschaft reproduziert und beschrieben wird.

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Peters, John Durham, Speaking into the Air: A History of the Idea of Communication, Chicago 1999. Obwohl es die mathematische Kommunikationstheorie sowie die kybernetischen, soziologischen und philosophischen Auseinandersetzungen nicht berücksichtigt, stellt dieses Buch dennoch oder viel-

leicht auch gerade deswegen eine lebendige und materialreiche Geschichte des Nachdenkens über Kommunikation von der Antike bis in die Moderne dar. Als Skandalon der Kommunikation wird der Umstand wahrgenommen, dass man über alle möglichen »Medien« der Kommunikation miteinander kommunizieren kann, ohne dabei körperlich präsent zu sein, was wohl heißt, ohne dabei in den Genuss eines evidenten Sinns und einer wirksamen Kontrolle zu kommen. Krämer, Sybille, Sprache, Sprechakt, Kommunikation: Sprachtheoreti-

sche Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001.

Krämer unterscheidet eine »intellektualistische«, am »logos« der Sprache (Zeichen, Abbildung, Repräsentation, Vernunft) orientierte Tradition (Ferdinand de Saussure, Noam Chomsky, John R. Searle, Jürgen Habermas) und eine mit dieser Tradition brechende, die Autonomie und Eigendynamik (Sprachspiel, Performanz, Kommunikation, die Sprache als Unbewusstes, Schrift, Sprechen) betonende Tradition der Sprachtheorie im 20. Jahrhundert (Ludwig Wittgenstein, John L. Austin, Niklas Luhmann, Donald Davidson, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Judith Butler). Die Positionen werden in ihrem Für und Wider übersichtlich und anschlussfähig dargestellt.

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Schlüsselbegriffe

Ästhetik Die Lehre vom Kunstschönen, die dem subjektiven Empnden des Individuums dort zu Hilfe kommt, wo dieses nach Kriterien sucht, die es ihm erlauben, seine Geschmacksurteile anderen mitzuteilen.

Attribution Zurechnung, Zuschreibung; die Attributionspsychologie geht davon aus, dass wir die Wahl haben, ob wir ein Verhalten oder ein Erleben einer Person zurechnen oder der Situation, auf die die Person reagiert. Wir nutzen diese Option aus, um Personen inklusive uns

selbst die Verantwortung für etwas entweder zuzuschieben oder sie von dieser Verantwortung zu entlasten. Codierung Regel, nach denen Ereignisse eines Typs in Ereignisse eines anderen Typs übersetzt werden; so codiert die Sprache Ereignisse der Welt, indem sie sie in sprachliche Ereignisse (Worte, Sätze,

Rede) übersetzt. Von einer Codierung spricht man dann, wenn die Artikulation der Ereignisse des zweiten Typs die Vermutung begründen kann, dass es sich bei diesen um die Übersetzung von Ereignissen des ersten Typs handelt. Worte und Sätze müssen dementsprechend so artikuliert werden, dass die Vermutung aufrechterhalten werden kann, dass sie sich auf Ereignisse der Welt beziehen.

Differenz Unterschied und Unterscheidung; Grundbegriff differenzialistischer Theorien, die nicht mehr von der Substanz, dem Wesen und der Einheit der Welt ausgehen, sondern davon, dass wir nur etwas von Phänomenen wissen können, die wir als etwas unterscheiden, was sich selbst unterscheidet. Differenzen sind keine Kategorien zur Ordnung der Welt, sondern Operationen, die entweder vorkommen oder nicht. So verdanken sich auch Kommunikation und Bewusstsein

ihrer jeweiligen Differenz, das heißt dem Unterschied, den sie gegenüber anderem machen. Form Die Form der Unterscheidung; vom Mathematiker George Spencer-Brown eingeführter Begriff, der Form nicht mehr in Differenz

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zu Materie (Aristoteles) oder Inhalt (Ästhetik des 18. Jahrhunderts) setzt, sondern als Begriff zur Bezeichnung der beiden Seiten einer Unterscheidung und ihrer Unterscheidung verwendet. Dieser Begriff erlaubt es, die Zusammengehörigkeit des Unterschiedenen zu denken und zu beobachten. Geschmack (engl. taste, franz. goût) In der Soziallehre der Neuzeit

ein Begriff zur Kennzeichnung der Distinktion und beanspruchten beziehungsweise mangelnden Distinguiertheit des Individuums. Sein Geschmack kennzeichnet das Individuum, weil es ihn mit niemandem teilt; und genau deswegen wird aus der Kommunikation von Geschmacksurteilen einer der verlässlichsten Sozialisierungsmechanismen. Der Geschmack sozialisiert die Individuen als Individuen,

die sich über ihre Geschmacksurteile als Angehörige bestimmter Gruppen und Kulturen erweisen.

Gesellschaft Ehemals die umfassende soziale Ordnung, in der Ge-

sellschaftstheorie von Niklas Luhmann die unbestimmt bestimmte Möglichkeit, zu jeder Kommunikation einen Anschluss zu finden. Individuum Das Unteilbare; ein im 19. und 20. Jahrhundert bedeut-

sam werdender Begriff, der die Möglichkeit beschreibt, Individualisierung und Vergesellschaftung wechselseitig zu steigern: je auto-

nomer die Gesellschaft, desto autonomer das Individuum. Das 18. Jahrhundert bereitete dieses Begriffsverständnis vor, indem es von Individuen als verdächtigen Subjekten und Elementen sprach.

Information Siehe Selektion. Kommunikation Eine Beziehung wechselseitiger Wahrnehmung beziehungsweise wechselseitiger Vorstellung zwischen unabhängigen Lebewesen, die in der Einschränkung der aus dieser Beziehung entstehenden Freiheitsgrade besteht.

Medien Im 19. Jahrhundert Einrichtungen zum Gespräch mit Gei-

stern, im 20. Jahrhundert Medien der Wahrnehmung (Fritz Heider) sowie Verbreitungsmedien (Marshall McLuhan) und Erfolgsmedien (Talcott Parsons) der Kommunikation; Medien bestimmen Freiheitsspielräume durch die Einschränkung des Möglichen: Geistergespräche mithilfe von Geistersehern, Wahrnehmung mithilfe von Lichtund Schallwellen, Verbreitung der Kommunikation mithilfe von Wor-

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ten und Texten, Erfolg der Kommunikation mithilfe von Macht, Geld, Liebe, Wahrheit.

Mitteilung Handlungsaspekt der Kommunikation; man versteht eine Kommunikation, wenn man Information (worum geht es?) und Mitteilung (wer spricht?) voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen kann. Das schließt die Möglichkeiten, Informationen über sich mitzuteilen und über Mitteilungsabsichten zu informieren, nicht aus, sondern ein. Nachricht Das, was sich vom Rauschen unterscheidet; zugleich Bericht (report) über bestimmte Zustände und Situationen und Befehl (command), sich nach diesem Bericht entweder annehmend oder ablehnend zu richten.

Schrift Zunächst als Gedächtnisstütze und Quittung für Zwecke der Buchführung erfunden, später für Zwecke des Erreichens abwesen-

der Kommunikationspartner ausgebaut; die Gesellschaft beunruhigende Möglichkeit der Archivierung und Verteilung von Kommunika-

tion. Selektion Auswahl; Grundbegriff einer Kommunikationstheorie im Anschluss an Claude E. Shannon, wenn dessen Modell nicht mehr als Übertragungsmodell von Signalen, sondern als Selektionsmodell von Sinn verstanden wird. Eine Information ist die Selektion einer Nachricht aus einem entweder technisch bestimmten oder sozial konstru-

ierten Auswahlbereich möglicher Nachrichten, die nur verstanden werden kann, wenn sie als Selektion vor dem Hintergrund dieses Auswahlbereiches gesehen wird. Sprache Gebrauch und Artikulation von Wörtern durch einen Organismus; durch Sprache fasziniert die Kommunikation das Bewusstsein und durch Sprache nimmt das Bewusstsein an Kommunikation

teil. System Begriff zur Beschreibung der rekursiven, das heißt vor- und zurückgreifenden, Reproduktion von Operationen, deren Innenseite als System und deren Außenseite als Umwelt bezeichnet wird; Sys-

teme sind informational geschlossen und materiell und energetisch offen; sie unterbrechen die kausale Verkettung von Ursache und Wirkung, indem sie selbstreferenzielle Unbestimmtheit und Bestimm-

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barkeit als zusätzliche Ressource der Selbstverursachung (Selbstsetzung) einführen. Therapie Personen, aber auch Situationen verändernde, meist über Kommunikation vermittelte Maßnahme, die auf der Verschiebung be-

ziehungsweise dem Umarrangieren eines körperlichen, mentalen und/oder sozialen Konflikts beruht. Gruppentherapeutische Maßnahmen waren Mitte des 20. Jahrhunderts der Kontext für die Entdeckung der Wirksamkeit von Kommunikation auf körperliche, psy-

chische und soziale Zustände, obwohl die Kommunikation selbst kein kausaler Vorgang ist. Offensichtlich kann Kommunikation als

Disposition über Kausalität in Rechnung gestellt werden. Aber was heißst das?

Verstehen Voraussetzung für das Finden kommunikativer Anschlüsse, eine Leistung der Kommunikation.

116

Zeittafel

Antike »Communicatio« ist in der Grammatik und in der Rhetorik ein Begriff

für Adverbialbezeichnungen (Verweise auf die Umstände einer Kommunikation wie »hier«, »jetzt«, »flink«, »deshalb«) und für Redefiguren, die sich an die Zuhörer wenden, um sie zu fragen, welches Handeln sie in einer bestimmten Situation für empfehlenswert halten. Der Redner gibt sich die Antwort auf seine Frage selbst, behandelt sie aber

als Meinung auch seiner Zuhörer.

Mittelalter »Communicatio idiomatum« ist spätestens seit den griechischen Kirchenvätern (Gregor von Nazianz) ein theologischer Begriff für den

Austausch und die Vereinigung, jedoch nicht Vermengung der beiden Naturen (Idiome) des Gottes und des Menschen in Jesus Christus. »Communicatio in sacris« ist ein Ausdruck für die Teilnahme an den gottesdienstlichen Handlungen Andersgläubiger.

Neuzeit Michel de Montaigne Ende des 16. Jahrhunderts sowie John Locke und Blaise Pascal Ende des 17. Jahrhunderts beschreiben die Wankelmütigkeit, Unbeobachtbarkeit, innere Leere und Unruhe des Individuums in der Kommunikation. Alexander Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant formulieren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Subjektivität und damit Unerschließbarkeit sinnlicher Empfindungen und tragen der Ästhetik die Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass es dem Individuum in »Geschmacksurteilen« gelingt, seine sinnlichen Erfahrungen anderen so mitzuteilen, dass die Bedingungen der Sittlichkeit gewahrt bleiben.

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Moderne

Im 19. Jahrhundert bürgert sich der Begriff der Kommunikation zur Beschreibung des sozialen Verkehrs (mündliche Rede, Schrift, Buch-

druck, Verkehr und Transport, Presse, Funk) der Menschen untereinander ein. Man gewöhnt sich daran, dass man sehen kann, dass Menschen miteinander kommunizieren, ohne zu wissen, wie sie dies tun. Gegen die Hoffnung auf Vernunft durch Kommunikation, wie sie in der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu finden war, set-

zen die Romantiker des 19. Jahrhunderts die Frage, wie denn eine

Mitteilung überhaupt möglich sei (Friedrich Schlegel). Der Begriff der Kommunikation deckt gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Philosophie des Pragmatismus, in der Ethnologie und in der Linguistik das Phänomen ab, dass der nur zum Teil beobachtbare beziehungsweise bewusstzumachende Kontext der Kommunikation für deren Zustan-

dekommen, Gelingen und Misslingen mindestens so wesentlich ist wie die Absicht, der Inhalt und das Verstehen der einzelnen Mitteilungen.

20. Jahrhundert

Die Mathematiker Claude E. Shannon und Warren Weaver formu-

lieren ihren mathematischen Kommunikationsbegriff und lösen damit ebenso viel Faszination wie Ablehnung aus. Ihr Sender-Empfänger-Kanal-Modell der Kommunikation legt die Annahme nahe, dass Kommunikation ein Vorgang der Übertragung von Sinn ist. Dem

widerspricht Shannons Definition der Information als Selektion einer Nachricht aus einer Menge anderer Nachrichten. Diese Definition legt die Annahme nahe, dass Kommunikation ein Vorgang der Selek-

tion von Sinn ist, und dies je unterschiedlich auf den Seiten des Senders und des Empfängers. Vermutlich gehört die von der mathe-

matischen Kommunikationstheorie ausgelöste Kette von Missverständnissen unter Anhängern wie Gegnern zu den fruchtbarsten Verwicklungen der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Mitte des Jahrhunderts erklären Therapeuten Kommunikation zum Grundbegriff der Psychiatrie (Jürgen Ruesch, Gregory Bateson, Paul

Watzlawick), in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird Kommu-

nikation zum Grundbegriff der Sozialphilosophie und Soziologie

(Michel Serres, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann). Seither ist der Begriff der Kommunikation ein Suchbegriff zur Beschreibung der

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niemals ganz zu bestimmenden Teilnahme des Individuums am sozialen Austausch. Er beschreibt ein Verhältnis, das sich über die

Zurechnung von Freiheitsgraden bestimmt.

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Dank

Dem vorliegenden Buch liegt der Artikel »Kommunikation« zu grunde, den ich für das Lexikon Ästhetische Grundbegriffe: Histor sches Wörterbuch in sieben Bänden (2001) geschrieben habe. Ic danke den Herausgebern, vor allem Karlheinz Barck, und dem Met:

ler Verlag, insbesondere Bernd Lutz, für die freundliche Erlaubni diesen Artikel für dieses Buch verwenden zu dürfen. Und ich dant dem wissenschaftlichen Beirat dieser Buchreihe, vor allem Hartmi Böhme, und dem Reclam Verlag Leipzig, insbesondere Maria Koet nitz, für die Einladung, mich mit diesem Band an der Buchreihe zu br teiligen.

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Grundwissen Philosophie Grundwissen Philosophie führt zugleich anspruchsvoll und dennoch verständlich in die zentralen Fragestellungen der Philosophie ein. Unter-

stützt von einem renommierten wissenschaftlichen Beirat vermitteln unsere Autoren gleichermaßen dem philosophisch interessierten allgemeinen Publikum sowie dem Fachpublikum (Schüler, Lehrer, Studen-

ten) fundierte Kenntnisse. In der Reihe erscheinen alle bedeutenden Personen und Sachthemen, die vermittelt oder unmittelbar im Kontext

aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen eine Rolle spielen. Jeder

Band enthält: Kernthesen

Mit einer problemorientierten Hinführung wird dem Leser Basiswissen

für eine weiterführende kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Autor / Thema vermittelt.

Schlüsselbegriffe

Zentrale Termini werden noch einmal gesondert dargestellt, um einen schnellen und unkomplizierten Überblick zu ermöglichen.

Zeittafel Wichtige Lebensdaten und Werke sind hier schnell aufzu nden.

Kommentierte Bibliographie

Weiterführende Literatur wird im Anhang fundiert kommentiert, um dem Leser Orientierung bei der oftmals unübersichtlichen Vielzahl der

Literatur zu bieten.