Schlüsselqualifikationen: Kommunikation · Mediation · Rhetorik · Verhandlung · Vernehmung 9783504380748

Dieses praxisnahe Buch vermittelt jungen Juristen alles, was sie benötigen, um Kommunikation zu perfektionieren, Mediati

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German Pages 314 Year 2008

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Schlüsselqualifikationen: Kommunikation · Mediation · Rhetorik · Verhandlung · Vernehmung
 9783504380748

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PanschabiSchweizer Schlüsselqualifikationen Kommunikation · Mediation · Rhetorik Verhandlung · Vernehmung

.

Schlüsselqualifikationen Kommunikation · Mediation · Rhetorik Verhandlung · Vernehmung herausgegeben von

Rechtsanwalt Dr. Reiner Panschab München und

Fürsprecher Adrian Schweizer Geckhausen bearbeitet von

RA Dr. lvo Greiter lnnsbruck

RA Gerhard Lochmann Ernmandingen

RA Dr. Reiner Ponschab München

Fürsprecher Aclrian Schweizer Geckhausen

Rouven Soudry Heidelberg

2008

oUs

or.C:~midt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221/93738-01, Fax 0221/937 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06133-3 ©2008 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfiiltigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: C. Wild, Stuttgart Druckund Verarbeitung: Grosch, Eppelheim Printed in Germany

Vorwort und Danksagung Wenn ein Buch auf den Markt kommt, sind die Autoren am Ende. Dies gilt auch für diesen Sammelband, an dem wir mit mehreren Autoren und dem Verlag kooperativ zusammengearbeitet, manchmal auch gerungen haben, um letztlich ein Werk herauszubringen, das es in dieser Art im deutschen Sprachraum noch nicht gibt: Ein Lernbuch für Softskills in der Praxis der Juristen. Als Herausgeber danken wir in erster Linie unseren Autoren, die gemeinsam mit uns dieses Buch mit viel Geduld haben entstehen lassen sowie gestalterische Richtungsänderungen und die Kürzungswünsche des Verlags mitgetragen haben. Gleichermaßen gilt unser Dank aber auch unserem Lektor, der die Entstehung dieses Werkes begleitet und immer konstruktiv unterstützt hat. Nicht vergessen wollen wir auch unsere jungen engagierten Kollegen Friedrich Schmidt und Simon G. Kreye (unter teilweiser Mitwirkung von Jonas Oetken). Auftragsgemäß haben sie die Texte ohne falschen Respekt vor den „grauen Köpfen“ der Autoren unter den Gesichtspunkten der Logik, der Sprache und der Verständlichkeit einer strengen Prüfung unterzogen. Danke für diese wichtige Arbeit, die unser Werk erheblich verbessert hat. Ein besonderer Dank gilt auch unseren Familien, die es mit Gleichmut ertragen haben, uns in Mußestunden statt in ihrer Mitte hinter aufgeklappten Notebooks vorzufinden. Unsere Arbeit ist getan. Nun legen wir dieses Buch in die Hände des geneigten Lesers in der Hoffnung, dass es ihm großen Nutzen und viel Freude bereitet. Im Januar 2008

Die Herausgeber

V

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

1. Teil Einleitung Oder: Warum und wie sollten Studenten Schlüsselqualifikationen erlernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung Oder: Was sage ich, nachdem ich „Guten Tag“ gesagt habe? . . . . . . . . .

7

1. Kapitel Worum geht es? Was Sie tun können, um als Anwalt geschäftlich erfolgreich zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

2. Kapitel Zielbestimmung Wie Sie das Ziel Ihres Gespräches bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . .

13

3. Kapitel Synchronisation Wie Sie zu Ihrem Kunden Vertrauen aufbauen . . . . . . . . . . . . . . .

16

4. Kapitel Fragen Wie Sie erfragen, wer der Mandant ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

5. Kapitel Interessen Wie Sie herausfinden, was der Mandant will . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

6. Kapitel Wahlmöglichkeiten Wie Sie dem Mandanten helfen, über den eigenen Tellerrand zu sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

7. Kapitel Nachdenken Wie Sie die gewonnenen Informationen verarbeiten . . . . . . . . . . .

43

8. Kapitel Präsentieren Wie Sie dem Mandanten Ihren Lösungsweg präsentieren und schließlich Ihr Mandat bekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

9. Kapitel Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

10. Kapitel Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

VII

Inhaltsverzeichnis Seite

3. Teil Rhetorik Oder: Wer hat das bessere Argument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

1. Kapitel Grundlagen der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Kapitel Was ist (angewandte) Rhetorik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

3. Kapitel Die sprachlichen Mittel der Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

3.1. Ethos, Logos und Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die rhetorischen Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Übungen zu den sprachlichen Überzeugungsmitteln . . . . . . . . . . . . . .

71 71 74

4. Kapitel Die argumentativen Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Das Argumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vier Grundtypen der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Argumentationstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Killerphrasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 79 80 92

5. Kapitel Die Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7.

Schematischer Überblick über die klassische Rede . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorbereitungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammeln von Inhalten und Argumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung – wir binden die Taue los . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptteil – die Maschinen werden angeworfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss – volle Kraft voraus! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung des Manuskripts und der Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . .

96 96 98 100 101 102 103

6. Kapitel Das Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6.

Der Standpunkt-Fünfsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der dialektische Fünfsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regeln für das Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was tun bei Lampenfieber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperhaltung, Mimik und Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zehn Tipps für gute Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 109 111 112 113 113

4. Teil Vernehmungslehre Oder: Was ich Sie immer schon fragen wollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Kapitel Vernehmungslehre – ohne Lehrlinge und Lehrer . . . . . . . . . . . . .

115

2. Kapitel Vernehmungslehre – in zu engen Kleidern ist schlecht leben . . .

116

3. Kapitel Tatsachenerforschung beim Mandanteninterview . . . . . . . . . . . .

117

3.1. Rahmen der Kontaktaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die ersten zehn Sekunden geben die Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117 118

VIII

Inhaltsverzeichnis Seite

3.3. Den Mandanten bei seiner Selbstdarstellung abholen . . . . . . . . . . . . . 3.4. Tatsachenfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Fragen – wonach? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 119 120

4. Kapitel Fragetechnik – Fragetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Offene Fragen – geschlossene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suggestivfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rhetorische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Fragetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 123 124 125

5. Kapitel Wie Fragen entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

6. Kapitel Glaub’ ich’s oder glaub’ ich’s nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

6.1. Wahrnehmungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Defizite bei der Wahrnehmungsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Lügen will gelernt sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 131 133

7. Kapitel Tatsachenerforschung bei der Zeugenvernehmung . . . . . . . . . . .

134

7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5.

Rahmen der Kontaktaufnahme – die Ladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmen der Kontaktaufnahme – im Gerichtsgebäude . . . . . . . . . . . . . Die persönliche Kontaktaufnahme – im Gerichtssaal . . . . . . . . . . . . . . Belehrung und Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 135 136 137 139

8. Kapitel Vernehmungslehre trainieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5.

Was trainieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie trainieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trainingseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragetechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaubwürdigkeitsbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139 141 141 143 145

5. Teil Verhandlungsführung Oder: Wie bekommt jeder, was er will? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Kapitel Wann liegt eine Verhandlung vor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

1.1. Gegenseitige Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Ausgewogene Machtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148 148

2. Kapitel Was tue ich, bevor ich in die Verhandlung einsteige? . . . . . . . . . .

149

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Ausgleich der Machtverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Verhandlungspartner einbeziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Verhandlungsgebiete erschließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Blick weiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149 151 151 152

IX

Inhaltsverzeichnis Seite

3. Kapitel Typologie der Verhandler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

153

Der Sieger – kompetitiver Verhandlungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verlierer – weicher Verhandlungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rächer – nihilistischer Verhandlungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gewinner – kooperativer Verhandlungsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153 158 159 161

4. Kapitel Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln . . . . .

165

4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Worum geht es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das kompetitive Verhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acht Regeln des kompetitiven Verhandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperatives (rationales) Verhandeln: Acht Schritte kooperativen Verhandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 167 168 170 190

6. Teil Mediation Oder: Was ist Ihr Interesse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Kapitel Was ist das Besondere an Mediation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

191

War die Software fehlerhaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer hat Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wollen die Beteiligten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist der richtige Weg der Konfliktlösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie bringt der Mediator die Parteien zur Einigung? . . . . . . . . . . . . . . .

191 194 196 199 201

2. Kapitel Wie bereite ich eine Mediation vor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

Eignet sich der Fall für die Mediation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie komme ich an den richtigen Mediator? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an den Mediator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was muss ich regeln, bevor die Mediation beginnen kann? . . . . . . . . . Wie bereitet der Mediator die Mediation vor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 205 206 207 208

3. Kapitel Wie läuft eine Mediation ab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7.

Vorbereitung und Einführung – Phase 1 der Mediation . . . . . . . . . . . . . Sachverhaltsdarstellung – Phase 2 der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessen – Phase 3 der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optionen/Lösungen? – Phase 4 der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beste Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visionen – Phase 5 der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einigung – Phase 6 der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 216 220 224 231 234 236

4. Kapitel Beantwortung der Wiederholungs- und Übungsfragen . . . . . . . . .

239

Anlage 1: Anlage 2: X

Mediation oder Gerichtsverfahren? – Eine Entscheidungshilfe – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Mediationsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

Inhaltsverzeichnis Seite

Anlage 3:

Mediationsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

Anlage 4:

Vor- und Nachteile von Einzelsitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

7. Teil Praxis Oder: Die tägliche Kommunikation und Rhetorik für Anwälte . . . . . . 249 1. Kapitel Das Gespräch des Anwalts mit dem Mandanten . . . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

250

Was ist das Ziel des Mandantengespräches? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250 250 255

2. Kapitel Außergerichtliche Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

256

Was ist das Ziel von außergerichtlichen Verhandlungen? . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 257 262

3. Kapitel Verhandlungen bei Vergleichsgesprächen im Gerichtssaal . . . . .

266

3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

265

Was ist das Ziel der Vergleichsgespräche im Gerichtssaal? . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266 266 268

4. Kapitel Zeugenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

269

Was ist das Ziel der Zeugenvernehmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269 270 272

5. Kapitel Vernehmung der eigenen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

Was ist das Ziel der Vernehmung der eigenen Partei? . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

273 273 276 276

XI

Inhaltsverzeichnis Seite

6. Kapitel Plädoyer im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

277

Was ist das Ziel des Plädoyers im Strafprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

277 277 280

7. Kapitel Anwaltliche Wortmeldungen im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . .

282

7.1. 7.2. 7.3. 7.4.

281

Was ist das Ziel der anwaltlichen Wortmeldungen im Zivilprozess . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Kapitel Der Anwalt als Schiedsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8.1. 8.2. 8.3. 8.4.

Was ist das Ziel des Anwalts als Schiedsrichter? . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9. Kapitel Der Anwalt als Parteienvertreter im Schiedsverfahren und Mediationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.1. Was ist Ziel des Anwalts als Parteienvertreter im Schiedsund Mediationsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Kapitel Der Anwalt als Mediator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10.1. Was ist Ziel des Anwalts als Mediator? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Kapitel Der Anwalt als Vortragender auf Konferenzen und in Seminaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11.1. Was ist Ziel des Anwalts als Vortragender auf Konferenzen und Seminaren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel, erlernen um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis Seite

12. Kapitel Der Anwalt im Umgang mit den Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12.1. Was ist Ziel des Anwalts im Umgang mit Medien? . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Teil Einleitung Oder: Warum und wie sollten Studenten Schlüsselqualifikationen erlernen? Ein befreundeter Anwalt und Verhandlungstrainer hat mir vor einigen Monaten bei einem Kölsch am Rhein folgende Geschichte erzählt: „Vor zwei Jahren habe ich in Wien für eine große österreichische Versicherungsgesellschaft ein Seminar zum Thema „Verhandeln und Mediation“ durchgeführt. Teilnehmer waren Kollegen, also Justitiare, Anwälte und Richter sowie ein Mann, der nicht so recht zu uns passte und auch Mühe hatte, den Kollegen in der Diskussion der neuesten Urteile aus dem Versicherungsrecht zu folgen. Der Mann war Versicherungsverkäufer. In der Ausbildung lernten die Teilnehmer, wie modernes kooperatives Verhandeln funktioniert und wie sie mit wenig Aufwand Konflikte unter streitenden Mitarbeitern lösen können. Alle Teilnehmer, mit Ausnahme des Verkäufers aus Sachsen, hatten sehr große Mühe, die dargestellten Konzepte zu verstehen und vor allem auch in Rollenspielen anzuwenden. Anders der Versicherungsverkäufer: Als Verhandler hatte er jeweils schon nach wenigen Minuten mit der Gegenpartei eine Lösung gefunden, der diese vorbehaltlos zustimmen konnte, und auch als Mediator brauchte er sehr wenig Zeit, um die beteiligten Parteien zu befrieden. Wie war es nur möglich, dass dieser Mann, der noch nie in seinem Leben eine Stunde an einer Uni verbracht, geschweige denn ein Gericht von innen gesehen hat, derart effizient die Konflikte lösen konnte, für die doch eigentlich die Juristen ausgebildet worden sind: Verhandlungen für Mandanten führen und Konflikte unter streitenden Parteien lösen? In den Pausen zwischen den Rollenspielen standen die Teilnehmer mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Staunen um den Mann herum und wollten wissen, wie er das alles gemacht hatte. Dieser zuckte die Schultern und antwortete nicht minder erstaunt: ‚Ich weiß gar nicht, was Ihr Juristen da für Probleme habt. Es ist doch alles nur Kommunikation! Bringen die Euch das an der Uni denn nicht bei?‘ Die Kollegen schüttelten einhellig den Kopf. Nein, ‚Kommunikation‘ hat man Ihnen an der Uni nicht beigebracht. Wo er denn Kommunikation gelernt habe, wollten sie nun wissen. Der Mann antwortete: ‚In einer Verkaufsschulung. Da hat man mir beigebracht, wie man das macht. Zwei Wochen Intensivkurs, das ist alles!‘ Nun fragten sich die Juristen entsetzt: Könnte es tatsächlich sein, dass ein Versicherungsverkäufer in Sachen Kommunikation, Gesprächsführung, Rhetorik, Verhandeln und Konfliktlösung besser ausgebildet ist als sie, die sie alle mehrere Jahre studiert und viele sogar noch promoviert hatten? Schweizer

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1. Teil Einleitung

Am Abend beim Bier führten sie dann lange Gespräche mit dem ‚großen Kommunikator‘, wie sie ihn nannten, und fanden heraus, dass es tatsächlich so war: Von den Regeln erfolgreicher Kommunikation wie ‚Synchronisiere Dich, bevor Du fragst!‘ oder ‚Frag’ die Leute, was Sie wollen, und erzähle Ihnen nicht, was sie sollen!‘ hatten sie noch nie etwas gehört. Mit der juristischen Methode hatten sie eine Art und Weise des Denkens gelernt, die wohl mehr fürs ‚bessere Streiten‘ als fürs ‚bessere Geschäfte machen‘ geeignet ist. Ihr Mangel an ausreichenden Werkzeugen für die Praxis war den meisten klar geworden. Lange nach Mitternacht gingen die Kollegen ins Bett. Die meisten von ihnen mit einer bitteren Erkenntnis: Das, was wir an der Uni vor vielen Jahren gelernt haben, ist sicherlich gut, um Prozesse zu führen, aber als Werkzeug für den täglichen, kommunikativen Umgang mit Mandanten und der Gegenpartei taugt es wenig!“ Wie läuft die Juristenausbildung bisher ab? Die juristischen Fakultäten haben lange vor allem dazu ausgebildet, als Richter tätig zu sein, die den Auftrag haben, darüber zu urteilen, ob das, was andere getan oder unterlassen haben rechtens war oder nicht. Um dieser Aufgabe nachzukommen, bedienen wir uns der von den Römern entwickelten Methode des Anspruchsdenkens und fragen uns, ob das, was Menschen tun, einen juristischen Anspruch begründet oder nicht. So einfach ist das. Dass eine solche Art und Weise des Vorgehens nicht viel Positives zum gegenseitigen Verständnis beiträgt, weiß offenbar der Volksmund im Gegensatz zu uns Juristen schon sehr lange, denn es steht sicher nicht ohne Grund an einem alten Berner Bauernhaus in Lützelflüh im Emmental: „Gott schütze dieses Haus vor vielerlei Gefahren, Feuer, Dieben, Fürsprechern1 und Notaren!“ Um diesem Missstand abzuhelfen, hat das Deutsche Parlament im Jahre 2003 beschlossen, das DRiG dergestalt zu ändern, dass die Studenten zukünftig auch auszubilden seien in Schlüsselqualifikationen wie Kommunikation, Gesprächsführung, Rhetorik, Vernehmungslehre, Verhandeln und Mediation. Die Neufassung von § 5a III 1 DRiG lautet: „Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen wie Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit.“ Eine kühne Tat, insbesondere wenn man mit dem Wort „Praxis“ Ernst machen will, diese Ausbildung nicht theoretischer, sondern angewandter Natur sein soll: Die Studenten sollen nicht in Frontalvorlesungen ex cathedra hören, wer z. B. wann was in Sachen Rhetorik geschrieben hat („In welchem Werk erläutert wer die Grundzüge der sokratischen Argumentationstechnik?“), sondern sie sollen praktizierte Kommunikation (Kommunikationsfähigkeit!), praktisches Verhandeln oder angewandte Gesprächsführung lernen! Genau so also, wie Zahnmedizinstudenten lernen, wie man Zähne behandelt, indem sie in Praktika tatsächlich Zähne reparieren.

1 Schweizerisch (Kanton Bern) für Anwälte.

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1. Teil Einleitung

Der Gesetzgeber möchte also, dass die Juristenausbildung in Deutschland wieder dorthin zurückkehrt, wo sie vor der Erfindung der „Begriffsjurisprudenz“ gewesen ist. Bevor Jhering und seine Kollegen behauptet haben, dass alle Lebenssachverhalte unabhängig von den sie verbindenden „soft facts“ in juristischen Formeln geregelt werden können, bestand die Juristenausbildung noch aus dem Teil „Rechtslehre“, wo die Studenten lernten, was ein Anspruch ist und dem Teil „juristische Rhetorik“, wo sie lernten, wie man vor Gericht und außerhalb des Gerichtes auftritt, um diesen Anspruch durchzusetzen. Diese jahrhundertealte Tradition wurde als Folge der „Verwissenschaftlichung“ des Rechts Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Diese Rückschreibung des Gesetzes ist mehr als überfällig, wirft aber zwei Fragen auf: – Wie muss Unterricht gestaltet werden, der dem Anspruch des Gesetzgebers entspricht? – Wie muss ein Lehrbuch aussehen, das dieses praktische Wissen über die juristischen Schlüsselqualifikationen Kommunikation, Rhetorik, Vernehmungslehre, Verhandeln und Mediation praxisgerecht vermittelt? Zuerst einige Worte zum Unterricht: Wir glauben, der Unterricht der Schlüsselqualifikationen kann nicht so durchgeführt werden wie der klassische Rechtsunterricht an der Universität: Ein Professor liest 200 Studenten etwas vor, diese machen sich Notizen und gehen mit vielen schönen Infos im Kopf wieder nach Hause. Angesammeltes, akkumuliertes Wissen, das bei der Prüfung reproduziert werden kann. Bei den Schlüsselqualifikationen handelt es sich aber (das Wort sagt es selbst) nicht um Wissen (sonst würde das Wort ja „Schlüsselwissen“ heißen), sondern um „Qualifikationen“, also um etwas, das man anwenden kann, also letztendlich um Fähigkeiten, um Können. Wie aber wird Können unterrichtet? Ganz einfach so, wie wir Laufenkönnen, Sprechenkönnen oder Schwimmenkönnen gelernt haben: Wir haben es getan und uns nicht zuerst von unseren Eltern fünf Bände über „Die Biologie und Mechanik des Aufstehens und Gehens“ vorlesen lassen. Der Unterricht müsste also in kleinen Gruppen stattfinden, sollte nicht deduktiv sein, d. h., er dürfte nicht Regeln aufstellen, die dann auf den Sachverhalt anzuwenden wären, sondern er müsste induktiv vorgehen, die Studenten aus Sachverhalten die Regeln herausfiltern lassen, die ihnen tatsächlich weiterhelfen. Er könnte vielleicht so ausschauen, wie ich es selbst als Student in Amerika, etwa bei Roger Fisher, erleben durfte: Man arbeitet nur mit praktischen Fällen, versucht diese unbedarft zu lösen, macht Fehler, hört sich an, wie es andere gemacht haben, schaut zu, wie man es selbst besser machen könnte, macht es schließlich auch besser und wird so jeden Tag kompetenter. Ein solcher Unterricht ist nicht einfach durchzuführen, aber der Aufwand würde sich lohnen, der Unterricht wäre sachgerecht. Nun zur Frage wie ein Buch über angewandte Kommunikation aussehen sollte. Es sollte sicher nicht genau so aufgebaut sein, wie die meisten juristischen Lehrbücher, in welchen ein Gesetzesparagraf nach dem anderen abgehandelt und in Schweizer

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1. Teil Einleitung

unzähligen Fußnoten dargestellt wird, wer denn außerdem etwas zu der Auslegung dieser Spezialität beigetragen hat. Der Leser eines solchen Buches wüsste am Schluss wohl alles, was Viehweg in „Topik und Jurisprudenz“ zur juristischen Rhetorik gesagt hat und wäre dann vermutlich in einem Status unvorstellbarer Wissenskompetenz und null Könnenskompetenz. Wie ein Mann, der alles darüber weiß, wie ein Auto funktioniert, aber nicht in der Lage ist, es auch nur einen Meter weit zu fahren. Wie soll aber ein Buch, das Können vermitteln will und kein bei Bedarf reproduzierbares Wissen ausschauen? Oder anders gefragt: Wie unterrichtet man Können in Buchform? Vielleicht so, wie Trommler ihren Lehrlingen Trommeln beibringen! Sie schlagen den Rhythmus an, die Schüler setzen sich neben sie und schlagen ihn mit. Wie geht dies aber mit Schülern, die nicht neben dem Lehrer sitzen können, weil der Lehrer seinen Stoff in Buchform geschrieben hat? Der Lehrer könnte dies so machen, wie Verhalten vermittelt wurde, bevor Johannes Gutenberg den Buchdruck erfunden hat: Er könnte Geschichten, Anekdoten und Beispiele erzählen. Stories eben, wo das gezeigt und vorgemacht wird, was die Studenten lernen können. Wenn diese Geschichten zudem unterhaltsam und blumig geschrieben sind, würden im Kopf des Studenten Bilder und daraus Erinnerungen entstehen, die er in einer ähnlichen Situation, einer Situation, in welcher er dieses Können vielleicht gebrauchen kann, wieder abrufen kann. Etwa so, wie viele unserer Leser berichtet haben, die unsere Bücher „Kooperation statt Konfrontation – Neue Wege anwaltlichen Verhandelns“ oder „Die Streitzeit ist vorbei!“ gelesen haben, die ich zusammen mit Reiner Ponschab geschrieben habe, oder Ivo Greiters Buch „Kreativität bei Verhandlungen und im Alltag“. Viele Leser erzählen uns, dass ihnen in schwierigen Verhandlungssituationen oder in Situationen mit ihren Klienten, in denen sie nicht mehr weiter gewusst hätten, eine Story aus einem der Bücher in den Sinn gekommen sei, die sie dann angewendet oder sogar nachgespielt hätten und, oh Wunder, die Verhandlung sei weitergegangen und sogar noch in die Richtung, die sie sich gewünscht hatten! Deshalb wird dieses Buch ein Geschichten-, Anekdoten-, und Beispielbuch sein, ein Buch also, wo erfahren werden kann, wie man richtig fragt, indem man erlebt, wie richtig gefragt wird, d. h. vor seinem inneren Auge sieht und hört, wie jemand richtig fragt. Und ich fragte dann ganz einfach: „Was ist ihr Ziel? Was wollen sie mit der Klage erreichen? Welches Interesse wollen Sie damit verwirklichen?“ Kreutzpointner runzelte die Stirne und meinte dann: „Es geht mir darum, meinen Widersacher zu bestrafen. Jawohl, er soll leiden! Darum geht es mir hauptsächlich. Ich will Rache für erlittene Unbill!“ Unser Buch ist deshalb vielmehr ein Lernbuch als ein Lehrbuch. Da es aber ganz ohne Theorie nicht geht, werden wir die Beispiele, Geschichten und Anekdoten immer wieder unterbrechen und erläutern, was da nun gerade warum gemacht wurde. Zudem wird es Tabellen und Grafiken für die Menschen geben, die vor allem über Bilder lernen, und Übungen, für die, die weder durch Worte noch durch Bilder lernen, sondern durch Tun. 4

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1. Teil Einleitung

Was werden aber nun die konkreten Inhalte sein? Im ersten Teil des Buches werde ich schildern, wie ein Anwalt, der Meister der Gesprächsführung ist, ein Gespräch mit einem Neukunden führt. Die Rechtsanwälte Abplanalp und von Bubenberg werden zeigen, wie man mit Geschäftsleuten ziel- und kundenorientiert umgeht, so dass sie zu langjährigen Mandanten werden. Im nächsten Teil wird Rouven Soudry, Rechtsanwalt in Heidelberg und badenwürttembergischer Meister im Debattieren, schildern, worauf es ankommt, wenn man etwa als Anwalt rhetorisch brillant plädieren möchte. Gerhard Lochmann, Rechtsanwalt in Emmendingen und NLP-Trainer, wird sodann schildern, wie man Fragen stellt und wie man sich verhalten muss, damit einem die richtigen Fragen einfallen, und wie, damit man auch Antworten erhält. Dann ist die Reihe an Reiner Ponschab: Reiner Ponschab ist Rechtsanwalt und Mentor aus München, sowie Autor und Dozent für verschiedene Themen der außergerichtlichen Konfliktlösung. Reiner Ponschab ist der Mann, der das Thema der ADR (Alternative Conflict Resolution) in Deutschland populär gemacht hat. Zuerst wird er darstellen, wie man erfolgreich Verhandlungen führt, dann schildern, wie man als Mediator vorgehen soll, wenn man den Streit zweier oder mehrerer Parteien schlichtet. Den Schlussteil des Buches hat Ivo Greiter geschrieben. Ivo Greiter ist Rechtsanwalt in Innsbruck und „Großpraktiker“. Er wird zeigen, was der Anwalt alles können muss, um in seinen verschiedenen Rollen, etwa als Interessenvertreter vor Gericht, als Verhandlungsberater seiner Mandantschaft oder als Referent an der Uni Erfolg zu haben. Im ganzen Buch geht es also darum, wie man zuhört, zusammenfasst, antwortet, wieder zuhört, wieder zusammenfasst, entgegnet und spricht, also kommuniziert, da Gesprächsführung, Rhetorik, Vernehmungslehre, Verhandeln und Mediation nichts anderes sind als angewandtes Reden. Oder, um auf unseren Versicherungsverkäufer zurückzukommen: „In unserer Branche ist doch sowieso alles nur Kommunikation!“ Oder? Wie dem auch sei: Viel Spaß bei der Lektüre!

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung Oder: Was sage ich, nachdem ich „Guten Tag“ gesagt habe? Wie ich in der Einleitung dargestellt habe, gibt es Menschen, die behaupten, alles sei Kommunikation und man könne eigentlich gar nicht „nicht kommunizieren“. Dieser Meinung ist etwa Paul Watzlawick, einer der Begründer der Kommunikationsphilosophie, die heute unter dem Namen Konstruktivismus bekannt ist. Andere gehen nicht so weit, meinen aber, dass eine professionelle Ausbildung in Kommunikation und Gesprächsführung für Menschen, die nicht mehr in der Landwirtschaft oder der Industrie, sondern in der Dienstleistungsbranche arbeiten, essentiell wichtig ist. Ja, dass die Meisterung der Kommunikation die Spreu vom Weizen trenne. Ein solcher Mensch ist etwa Rechtsanwalt Abplanalp, den ich Ihnen bald vorstellen werde. Abplanalp behauptet auch, dass es unerlässlich sei, dass sich jeder Anwalt profund in Kommunikation und Gesprächsführung ausbilden lassen sollte. Wenn er Erfolg haben möchte. Solche Ausbildungen sind aber rar, schlecht zu finden oder meistens sehr teuer. Es ist deshalb mehr als zu begrüßen, dass der deutsche Gesetzgeber bestimmt hat, dass die Universitäten, wie in Deutschland vor Jhering oder im angelsächsischen Raum seit eh und je üblich, wieder solche Ausbildungen zu organisieren und anzubieten haben. Wie unterrichtet man nun aber praktische Kommunikation und Gesprächsführung in einem Buch? Ich habe mir gedacht, dass es vielleicht effektiver sein könnte, wenn ich nicht deduktiv vorgehe, also nicht zuerst die Theorie darlege und Sie dann diese oder jene rhetorische Figur einüben lasse, sondern wenn ich Ihnen eine Lerngeschichte erzähle und Ihnen dann dazu Fragen stelle, anhand derer Sie sich die Theorie selber, also induktiv, erarbeiten können. Dann habe ich mir gedacht, dass es noch effektiver ist, wenn ich die Geschichte nicht selber erzähle, sondern wenn ich einen Autor erfinde, der erzählt, was er bei seinem Lehrmeister erfahren hat. Ganz schön kompliziert, was? Aber damit sind wir schon mitten im Thema: Warum sind viele Lehrbücher voll von Geschichten? Warum erzählt Dostojewski im „Idiot“ vom Großinquisitor? Wozu dienen Gleichnisse? Oder abstrakt: Wie muss man eine Information aufarbeiten, damit der Empfänger das versteht, was der Sender senden wollte? Ich bitte Sie nun also, die nachfolgende Story zu lesen, dann vielleicht nochmals, sich Notizen zu machen und dann am Schluss die Fragen zu beantworten, die ich dazu stellen werde und die Ihnen helfen sollen, die Theorie zu verstehen. Viel Spaß beim Lesen!

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

1. Kapitel Worum geht es? Was Sie tun können, um als Anwalt geschäftlich erfolgreich zu sein „Wenn ich spreche, lernen andere, wenn ich zuhöre, lerne ich!“ Joe Outred Mein Name ist Alfred Abplanalp. Ich bin Rechtsanwalt oder Fürsprecher, wie man bei uns im Kanton Bern sagt, und praktiziere in Thun. Thun ist eine kleine Stadt am Eingang zum Berner Oberland. Unsere Kanzlei, oder „Büro“ wie es bei uns heißt, besteht aus vier Partner-Anwälten und fünf angestellten Anwälten. Zusätzlich beschäftigen wir drei Kandidaten oder Referendare, wie man in Deutschland sagt. Unser Geschäft läuft leidlich. Wir sind das größte Anwaltsbüro in der Region. Ich wohne in einem schönen Haus in Oberhofen, direkt am Thuner See, und habe, wie es sich hier gehört, auch ein Segelboot auf dem See. Meine Kollegen behaupten, ich sei ein ziemlich durchschnittlicher Anwalt, aber in der Akquise, im Kundenkontakt, da sei ich ziemlich gut. Das mag stimmen. Der unternehmerische Erfolg unseres Büros könnte ihnen Recht geben. Wie ist es dazu gekommen? Ganz einfach: Ich war immer der Meinung, dass das Führen eines Anwaltsbüros mehr mit Unternehmertum als mit Juristerei zu tun hat und habe mich infolgedessen eher betriebswirtschaftlich weitergebildet als juristisch. Ich dachte mir: „Ich schau’ mal, dass wir Kunden haben; die Kollegen können diese dann juristisch versorgen!“ Sehr rasch merkte ich aber, dass Unternehmertum weniger mit Betriebswirtschaft zu tun hat als viel mehr mit Kommunikation! Kundenorientierte Kommunikation ist es, worum es geht. Die Kunst der Gesprächsführung muss man beherrschen! Die ist wichtiger als der Käfer’sche Kontenrahmen, denn auch dafür gibt es Spezialisten, die, wenn der Kunde mal gezahlt hat, die Gelder richtig verbuchen können. Wenn man aber einem potentiellen Kunden gegenübersteht, da gibt es meistens niemanden, an den man die Überzeugungsarbeit delegieren kann. Dann muss man selbst Kompetenz zeigen. Und Kompetenz zeigt man, indem man weiß, wie man mit Kunden spricht! Was der erfolgreiche Anwalt beherrschen muss, ist die Kunst der Gesprächsführung. Das ist alles. Punkt. Das scheine ich in den letzten Jahren wohl einige Male zu viel behauptet zu haben, denn immer mehr Kollegen haben mich gebeten, doch einmal aufzuschreiben, was ich unter dieser ominösen „Kunst der Gesprächsführung“ verstehen würde. Nun gut. Nachdem ich sicherlich zwanzigmal versprochen habe, am nächsten freien Wochenende mit der Niederschrift zu beginnen, aber es dann einfach keine freien Wochenenden gegeben hat, habe ich mir nun eine Woche Zeit genommen, um das aufzuschreiben, was ich weiß. Ich habe mich, wohlversorgt von meiner Frau mit einer Kiste vorgekochter Nahrungsmittel und einem Haraß (Kasten) „Rugenbräu“, zum Schreiben in das Ferienhaus eines Freundes auf der Axalp oberhalb von Brienz zurückgezogen. Da sitze ich nun an meinem Tisch vor dem offenen Fenster. Wenn ich auf meine Uhr sehe, stelle ich fest, dass wir heute Montag haben. Es ist 7:06 Uhr morgens. Vor mir erhebt sich auf der anderen Talseite, unter einem aufblauenden Himmel, das Brienzer Rothorn, wo schon schnaubend und keuchend der erste

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Der Weg zum anwaltlichen Erfolg

Dampfzug mit Touristen dem Gipfel entgegen raucht. Ich aber sitze hier und versuche meine Gedanken zu sortieren: Wie beginne ich meinen Bericht? Vielleicht mit der Schilderung des Erlebnisses, bei welchem mir zum erstenmal aufgefallen ist, dass ein guter Anwalt vielleicht doch ein bisschen mehr als ein guter Jurist ist? Ja, so könnte es gehen: 1984 verbrachte ich meine Praktikumszeit bei Rechtsanwalt Balthasar von Bubenberg in Bern. Von Bubenberg teilte mir etwa in der dritten Praktikumswoche mit, dass er morgen vor Gericht sei und er deshalb Viktor Vonallmen, einen möglichen neuen Kunden, nicht selbst empfangen könne. Ich solle ihn doch begrüßen und ihn fragen, was sein Anliegen sei. Wichtig sei eins: Ohne Vollmacht keine Arbeit, aber das wisse ich ja sicherlich schon. Ich solle ihn einfach beeindrucken mit meinem Können, aber das werde mir ja nicht schwer fallen. Vonallmen habe ihm übrigens am Telefon mitgeteilt, dass er Malermeister sei und eine Gesellschaft gründen wolle. Ich war gerührt von dem Vertrauen, das mein Chef mir entgegenbrachte. Dieses Vertrauen wollte ich nicht enttäuschen. Ich ging deshalb in die Bibliothek und suchte nach Literatur zum Thema. Im Buch „Grundriss des Schweizerischen Gesellschaftsrechts“ von Arthur Meier-Hayoz und Peter Forstmoser fand ich, was ich brauchte. Das meiste, was ich da las, wusste ich schon, aber es war doch gut, es noch einmal zu wiederholen. Nach einigen Stunden Studium war ich wieder sattelfest und überzeugt, dass mir nun nichts mehr passieren konnte! Am nächsten Tag, kurz vor 10:00 Uhr, traf ich dann Viktor Vonallmen im Besprechungszimmer unseres Büros. Wir tauschten kurz einige Nettigkeiten aus und dann kamen wir zur Sache: „Herr Rechtsanwalt (Ich hatte ihm verschwiegen, dass ich den Titel noch nicht tragen durfte und dachte mir, wenn er mich schon so anspricht, musste das wohl schon ein erstes Zeugnis von Kompetenz sein!), ich habe seit drei Jahren ein Malergeschäft mit elf Angestellten. Die Buchhaltung macht meine Frau. Ihr Bruder, er ist Steuerspezialist, prüft einmal pro Jahr, ob alles richtig ist. Es ist immer alles richtig. Nun hat er mich aber vor einigen Wochen angerufen und meinte, ich solle doch eine Gesellschaft gründen. Damit könnte ich mein Vermögen schützen und sogar noch Steuern sparen. Ich verstehe nichts davon und möchte Sie deshalb fragen, zu welcher Gesellschaft Sie mir raten würden?“ Ich war überglücklich über die Frage, denn sie war exakt so gestellt, dass ich meine Kompetenz in aller Breite ausgewalzt darstellen konnte. Ich begann also: „In der Schweiz kennen wir folgende acht Gesellschaften: Die einfache Gesellschaft, die Kollektivgesellschaft, die Kommanditgesellschaft, die Aktiengesellschaft, die Kommanditaktiengesellschaft, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die Genossenschaft und den Verein. Die einfache Gesellschaft ist eine personenbezogene Rechtsgemeinschaft, die – üblicherweise ohne eine kaufmännische Unternehmung zu betreiben – wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Zwecke verfolgt und deren Teilhaber mit ihrem vollständigen Vermögen primär, unbeschränkt und solidarisch für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften. – Die einfache Gesellschaft ist als Grund- und Subsidiärform im Gesellschaftsrecht ausgestaltet. Das ist die Gesellschaftsform, die sie im Moment ‚betreiben‘. Als nächste Rechtsfigur kennen wir die Kollektivgesellschaft: Die Kollektivgesellschaft ist eine personenbezogene, nach außen hin verselbständigte Gesamthandgemeinschaft von natürlichen Personen, die…“ Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Ich war stolz auf alles, was ich wusste, und war sehr zufrieden mit mir, als ich feststellte, dass ich „Meier-Hayoz/Forstmoser“ quasi wortgetreu wiedergeben konnte. Damit konnte ich an der Fürsprecherprüfung sicher toll auftrumpfen! Leider konnte ich meine Selbstbeweihräucherung nicht zu Ende bringen, da mich Vonallmen nach etwa 20 Minuten Vorlesung unterbrach und meinte, es sei vielleicht doch besser, wenn er morgen mit Rechtsanwalt von Bubenberg selbst spreche, mir die Hand drückte und das Besprechungszimmer fluchtartig verließ. Ich war am Boden zerstört und beichtete abends meine Niederlage. Von Bubenberg lachte und meinte: „Es freut mich, dass es Ihnen nicht anders ergangen ist als mir vor zwanzig Jahren. Ich meinte damals auch, dass man die Kunden durch WissensKompetenz überzeugt, bis mir dann meine Lehrmeister, die Herren Rechtsanwälte Albisetti, Nyfschitz und Gastrolardi beigebracht haben, wie es wirklich geht: Kunden überzeugt man nicht mit Wissen, sondern durch Können! Kommen Sie doch einfach morgen mit, wenn Vonallmen wieder kommt. Frau Blättler hat ihn abermals um zehn Uhr eingetragen.“ Da hatte ich ja noch einmal Glück gehabt. Nicht nur einfaches Glück, sondern vermutlich sogar doppeltes Glück: Ich wurde nicht nur nicht „zusammengestaucht“, sondern wurde auch noch eingeladen mitzuerleben, wie der „Meister“ selbst vorgeht! Um zehn Uhr am nächsten Tag kam Vonallmen wieder. Gleich als Erstes entschuldigte sich von Bubenberg für mein gestriges Verhalten: „Wissen Sie, der Kollege Abplanalp ist noch jung im Geschäft und er meint noch, dass man ausschließlich ein guter Jurist sein müsse, um ein guter Anwalt zu werden!“ „Herr Rechtsanwalt, wem sagen Sie das. Das könnten meine Worte sein“, antwortete Vonallmen, „nur würde ich das Wort Jurist mit dem Wort ‚Maler‘ ersetzen und das Wort Anwalt mit dem Wort ‚Malermeister‘. Aber das muss man halt auch lernen. Haben Sie Herrn Rechtsanwalt Abplanalp mitgenommen, damit er von Ihnen lernen kann, wie man es richtig macht?“ „Genau so ist es. Erlauben Sie mir dies?“ „Kein Problem. Also legen Sie los, Herr Rechtsanwalt. Zu welcher Gesellschaft raten Sie mir?“ „Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, Herr Vonallmen. Sehen Sie, mit der Juristerei ist es wie mit der Malerei: Bevor Sie einem Kunden raten können, in welcher Farbe er sein Wohnzimmer streichen soll, müssen Sie doch wissen, wie er es möblieren möchte, welche Vorhänge er hinhängen will und zu welcher Tageszeit er hauptsächlich im Wohnzimmer ist. Ist das richtig?“ „Genau so ist es! Weiter muss ich auch noch wissen, wie es außerhalb der Wohnung ausschaut, damit der Farbton nicht in allzu großem Kontrast zur Außenwelt steht. Das habe ich mal bei so einem amerikanischen Architekten gelesen, Right oder so, der das Guggenheim-Museum in New York gebaut hat…“ „Frank Lloyd Wright“, ergänzte von Bubenberg.

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Der Weg zum anwaltlichen Erfolg

„Genau, und das wende ich nun konsequent und nicht unerfolgreich an. Also fragen Sie, was Sie wissen müssen!“ „Zuerst müsste ich einmal wissen, was für ein Geschäft Sie betreiben, aber das weiß ich schon. Es ist ein Malergeschäft. Ist das richtig?“ „Genau!“ „Welche Dienstleistungen bieten Sie genau an?“ „Ich male.“ „Wäre es möglich, dass Sie dies etwas ausführen könnten?“ Vonallmen räusperte sich und schaute etwas verlegen zu mir rüber. Ich selbst versuchte ein intelligentes Gesicht zu machen. Vonallmen stand auf und begann zu dozieren, während er auf und ab ging: „Ich offeriere meinen Kunden, ihre Fabrikgebäude, Büros, Häuser und Wohnungen innen und außen mit der Farbe zu versehen, die sie gerne haben möchten!“ Von Bubenberg erhob sich ebenfalls aus seinem Sitz und setzte sich auf die Tischkante: „Wer sind Ihre Kunden?“ „Zu 80 % General- oder Totalunternehmer, zu 20 % Private.“ So ging das nun minutenlang weiter. Von Bubenberg fragte, Vonallmen ging im Zimmer herum und antwortete und je länger das so ging, desto ungemütlicher wurde mir. „Wie kann denn von Bubenberg seine Kompetenz zeigen, wenn er nur fragt?“, begann ich mich nun zu wundern, aber von Bubenberg ließ von seinem Vorgehen nicht ab und fragte weiter: Wie viele Mitarbeiter er habe, was die verdienten, wie viel Umsatz er mache, bis wie viele Monate im Voraus seine Auftragsbücher voll seien, wie groß sein Vermögen sei, wie er sein Geld angelegt habe und so weiter und so fort. Alle Antworten notierte er fein säuberlich auf seinem Notizblock und fasste von Zeit zu Zeit kurz zusammen. Vonallmen nickte und von Bubenberg fuhr mit der Fragerei fort. Als er alles über das Malergeschäft in Erfahrung gebracht hatte, kam er auf den Mann der Schwester zu sprechen und – man glaubt es nicht: Er wollte doch tatsächlich wissen, warum dieser der Meinung war, dass er eine Gesellschaft gründen müsse! Nun war ich völlig von den Socken! Da fragte mein Chef, der einen Großteil seines Geldes mit der Gründung und Verwaltung von Gesellschaften verdiente, doch tatsächlich einen Laien, warum es sinnvoll sei, eine Gesellschaft zu gründen! Das war aber noch nicht alles! Als Vonallmen keine Antwort geben konnte, fragte er diesen doch tatsächlich auch noch, ob er seinen Schwager kurz anrufen könne, was er dann auch tat. Um die Sache kurz zu machen: Ich verstand die Welt nicht mehr! Aber es kam noch dicker! Nachdem mein Chef Vonallmen bis auf die Knochen ausgefragt hatte, bat er sich eine Viertelstunde Bedenkzeit aus, in welcher er einen Kollegen auf dem Steueramt anrief und sich von diesem etwas, was er „selbst nicht begriffen“ hatte, erklären ließ. Dann machte er sich einige Notizen und kehrte zu Vonallmen Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

zurück, nur um diesem mitzuteilen, dass es für ihn nicht sinnvoll sei, eine andere Rechtsform zu wählen als die, die er jetzt schon habe, die einfache Gesellschaft nämlich. Der Verwaltungsaufwand sei größer als der erhoffte Steuergewinn. Er rate vielmehr, alles beim Alten zu lassen, aber dafür mal bei seinem Kollegen Fritz Fellenberg vorzusprechen, der ein gutes Steuerberatungsbüro führe. Er glaube nämlich, dass man durch eine gute Steuerplanung mehr herausholen könne als durch gesellschaftsrechtliche Konstrukte. Was er dazu meine? Vonallmen war mit der Auskunft zufrieden, meldete sich noch am gleichen Tag bei Fellenberg an und bezahlte nicht nur die 600 CHF, die von Bubenberg ihm für die zwei Stunden Frage- und Antwortspiel in Rechnung gestellt hatte, anstandslos, sondern schickte uns auch noch zwei weitere Malermeisterkollegen vorbei, die wir dann auch beraten konnten: Bei einem gründeten wir tatsächlich eine AG, den anderen schickten wir ebenfalls zu Fellenberg, der uns im Gegenzug drei seiner Kunden schickte, für die wir zwei Prozesse führten und ein langjähriges Beratungsmandat an Land zogen. Alles in allem hatte uns, wie ich einige Jahre später nachgerechnet habe, das Wegschicken von Vonallmen über 100.000 CHF an Anwaltshonorar generiert. Ich begann nun plötzlich daran zu zweifeln, ob von Bubenberg tatsächlich so falsch gehandelt hat, wie ich mir gedacht hatte. Wie aber hatte von Bubenberg dies alles angestellt? Wie hatte er es geschafft, in wenigen Jahren eines der florierendsten Büros in Bern aufzubauen und dabei noch freundlich, locker und unangestrengt zu bleiben? Ich habe ihn dies oft gefragt und er gab mir viele Antworten. Manche verstand ich damals, manche nicht. Erst viel später habe ich mich dann bewusst nach einer Ausbildung in Kommunikation und Gesprächsführung umgeschaut und diese und jene Ausbildung besucht. Am meisten habe ich dabei von den Leuten gelernt, deren Antwort ganz einfach war: „Wie sollte man es denn anders machen?“ Auch von Bubenberg war, wie ich später gelernt habe, in einem Zustand, den man als „unbewusste Kompetenz“ bezeichnet: Er tat einfach, was er tat, konnte aber nicht sagen, was genau er tat. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich anderswo nach den Geheimnissen der Gesprächsführung umzusehen. Wo ich dabei am meisten gelernt habe? Darauf werde ich später eingehen. Ich möchte nun versuchen, das Geheimnis von von Bubenbergs Erfolg zu lüften. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich ein Gespräch schildere, dass er einige Wochen später geführt hat. Ich bin mir heute, fast 20 Jahre später, natürlich nicht mehr sicher, ob er Wort für Wort alles so gesagt hat, wie ich es hier aufschreiben werde. Vieles ist sicher erfunden. Übermäßig vieles aber scheinbar nicht, da er, als ich ihm den Text mit der Bitte um Korrektur und Ergänzung vorgelegt habe, mir diesen nur mit einigen wenigen Korrekturen versehen zurückgeschickt und mir stattdessen zu meinem ausgezeichneten Gedächtnis gratuliert hat. Er fügte aber auch an, dass er nicht sicher sei, ob all die „Tricks“, die ich aufgedeckt hätte, um sein Vorgehen zu erklären, wirklich die seien, die er damals angewendet habe und auch heute noch anwende, denn „Tatsache ist doch einfach, dass es wenig sinnvoll ist, etwas Anderes zu tun. Oder etwa nicht?“.

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Zielbestimmung

2. Kapitel Zielbestimmung Wie Sie das Ziel Ihres Gespräches bestimmen „Volle Kraft voraus!“ – „Wohin, Herr Kapitän?“ – „Egal wohin! Hauptsache volle Kraft voraus!“ Aus der Schifffahrt Einige Wochen nach dem Gespräch mit Vonallmen rief mich von Bubenberg zu sich ins Büro und teilte mir mit, dass ich, wenn ich möchte, morgen mit ihm zu Klaus Korb fahren könne: „Korb scheint Probleme mit einem Lieferanten zu haben. Er hat mich gebeten, einmal mit ihm den Sachverhalt anzuschauen und ihm zu helfen, seine Interessen zu vertreten. Wie Sie wissen, fahre ich lieber zu den neuen Mandanten hin als dass ich sie in unser Büro einlade. Es ist wie beim Arzt: Der Hausbesuch ist irgendwie intimer als der Besuch in der Praxis. Wenn Sie wollen, können Sie mal zusehen und zuhören, wie man so etwas machen kann. Vielleicht können Sie was lernen!“ Selbstverständlich wollte ich „was lernen“. So fuhren wir am nächsten Montag mit von Bubenbergs Citroën DS 21 Cabriolet über Belp und den Belpberg nach Gerzensee, wo Korb eine alte Berner Patriziervilla bewohnte. Korb war ein bekannter Mann in der Stadt. Er war der Inhaber von „WarenKorb“, der größten Kaufhauskette im Kanton Bern. In den letzten Monaten war er dadurch bekannt geworden, dass er sich mit WatCH zusammengetan hatte, um in seinen Kaufhäusern exklusive WatCH-Boutiquen einzurichten. Man hielt ihn damals für ziemlich verrückt, denn an den Erfolg der Billiguhren glaubte damals kaum jemand. Auf der Fahrt durch das frühlingshafte Bernbiet erzählte mir mein Chef, worauf es ihm ankommt: „Also, Herr Abplanalp, hören Sie einmal zu: Wer ein Gespräch führen will, muss als Erstes einmal wissen, wohin er es führen will. Er muss also ein Ziel haben. Das Ziel muss das umschreiben, was ich will und nicht das, was ich nicht will und es muss unter meiner eigenen Kontrolle sein. Es muss also ein Ziel für mich sein und nicht eins für jemand Anderen. Das klingt vielleicht ein bisschen kompliziert, aber es ist einfacher als man denkt. Ich erkläre es Ihnen anhand unseres kleinen Ausfluges: Was ist das Ziel unseres Meetings mit Klaus Korb? Das Ziel könnte etwa sein, so wie einer Ihrer Vorgänger einmal formuliert hat, das ‚Gespräch so zu führen, dass wir geschickt zu verhindern wissen, dass der mögliche Mandant ein anderes Anwaltsbüro als unseres auswählt‘. Das klingt irgendwie sinnvoll, ist aber, wenn man es genauer betrachtet, ziemlicher Unsinn. Warum? Nehmen wir einmal an, dass unser Organismus die Tendenz hätte, das zu verwirklichen, was wir uns vorstellen. Was heißt das? Lassen Sie mich dazu ein Beispiel machen: Ich habe mir einmal vorgestellt, wie es sein könnte, wenn ich die Fürsprecherprüfung bestehen würde, und ich habe sie dann auch bestanden. Später habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, eine Frau und fünf Kinder zu haben, und eines Tages war ich tatsächlich verheiratet und einige Jahre später hatte ich auch drei Söhne und zwei Töchter. Einmal habe ich mir dann vorgestellt, diesen Citroën irgendwo als günstige Occasion zu finden, und vor drei Jahren ist mir die „Göttin“ tatsächlich in einer Garage in den Pyrenäen begegnet.

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Wenn Sie sich vorstellen, wie es sein wird, die Fürsprecherprüfung zu bestehen, wird die Wahrscheinlichkeit steigen, dass Sie tatsächlich eines Tages Rechtsanwalt sein werden. Was geschieht aber, wenn Sie sich vorstellen, dass Sie durchfallen? Genau das Gleiche, wie wenn Sie sich vorstellen, die Prüfung zu bestehen: Die Wahrscheinlichkeit, dass das eintritt, was sie sich vorstellen, wird steigen. Intelligente Menschen tun also besser daran, sich das vorzustellen, was sie wollen, als das, was sie nicht wollen. Das scheint logisch, ist aber schwieriger als Sie glauben. Warum? Weil unser Hirn Negationen nicht verarbeiten kann! Was heißt das? Stellen Sie sich einmal vor, sich Ihre Mutter nicht vorzustellen? Was geschieht? Richtig, vor Ihrem inneren Auge entsteht ein Bild Ihrer Mutter! Das Hirn reagiert auf ‚Mutter‘ und nicht auf ‚nicht Mutter‘. Was geschieht also, wenn wir uns vorstellen, dass wir verhindern möchten, ‚dass der Mandant ein anderes Anwaltsbüro als unseres auswählt?‘“ „Dann stellt sich mein Hirn vor, welches andere Büro als unseres er sich auswählen könnte!“ „Richtig! Und welches haben Sie sich vorgestellt?“ „Räs, Räber, Renggli!“ „Unterstehen Sie sich! Ich sehe, Sie haben verstanden, um was es geht. Wie lautet also der richtige Satz?“ Ich überlegte kurz und sagte dann: „Erreichen, dass der Mandant uns auswählt.“ „So weit, so gut. Lassen Sie uns nun einmal vorstellen, wir würden das schaffen. Wie würden Sie sich dann fühlen?“ „Super!“ „Und wie würden Sie sich fühlen, wenn Korb uns ablehnen würde?“ „Mies!“ „Richtig! Wer kontrolliert also Ihre Gefühle? Korb oder Sie selbst?“ „Korb!“ „Richtig. Sehen Sie, wenn Sie formulieren, dass Sie erreichen möchten, dass Korb uns auswählt, dann geben Sie die Kontrolle über das Erreichen Ihres Zieles in fremde Hände und das ist nicht gut. Wie könnten Sie das Ziel stattdessen formulieren?“ Das war mir zu kompliziert; ich wusste keine Antwort. „Wie wäre es mit ‚Ich finde heraus, wie der Sachverhalt genau aussieht, finde heraus, was Korb genau möchte und mache ihm einen Vorschlag zur Vorgehensweise, der optimal seinen Wünschen entspricht.‘ Wie klingt das?“ „Kompliziert aber logisch.“ „Sicher, wenn Korb uns nun mandatiert, dann fühlen wir uns wieder gut und wenn er es nicht tut, was dann?“ 14

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Zielbestimmung

„?“ „Dann können wir uns fragen, was wir übersehen haben, und unsere Vorgehensstrategie beim nächsten Kunden optimieren. Wenn wir so formulieren, lernen wir auch dann etwas, wenn wir den Auftrag nicht erhalten. Und das hilft uns über den Frust hinweg, den wir uns sicher einfangen, wenn wir das Mandat nicht bekommen. Wenn wir das Ziel so formulieren, haben wir es unter eigener Kontrolle. Wir können es beim nächsten Mal besser machen. Korb oder irgendeinen anderen Menschen können wir nämlich nicht kontrollieren, da Menschen die Tendenz haben, das zu tun, was sie wollen, oder wenigstens meinen zu tun, was sie wollen. Kontrollieren und somit verbessern können wir nämlich nur uns selbst. Ist das klar?“ „Ziemlich klar!“ Was mir von Bubenberg hier erklärte war identisch mit den beiden ersten Prinzipen der Zielbestimmung, des „Wellformed Outcome“, wie die NLPler es nennen. Zielbestimmung (Richard Bandler/John Grinder) 1. Formulieren Sie Ihr Ziel proaktiv. Notieren Sie, was Sie wollen, und nicht, was Sie nicht wollen! 2. Formulieren Sie ein Ziel für sich und nicht eines für jemand Anderes! 3. Wann, wo und mit wem wollen Sie das Ziel erreichen? 4. Assoziieren Sie in den Zielzustand hinein. Fühlen Sie, wie es sein wird, wenn Sie das Ziel erreicht haben werden. 5. Was gewinnen Sie, wenn Sie das Ziel erreichen? Was bleibt gleich? Was geben Sie dafür her? (Was verlieren Sie?) 6. Woran erkennen Sie, dass Sie das Ziel erreicht haben? 7. Was ist der erste Schritt?

Ich werde später noch erklären, was unter „assoziieren“ genau gemeint ist. Zuerst aber einige Worte zu NLP: NLP wurde vor etwas über 20 Jahren von Prof. John Grinder und Dr. Richard Bandler und ihren Studenten Leslie Cameron-Bandler, Judith DeLozier und Robert Dilts an der University of California in Santa Cruz entwickelt. Die beiden Forscher versuchten, hinter das Geheimnis der Kommunikationstechniken hocherfolgreicher Kommunikatoren wie Fritz Perls, Gregory Bateson, Virginia Satir oder Milton Erickson zu kommen. Dazu filmten sie diese und verglichen die Interventionen miteinander. Dabei fokussierten sie sich nicht darauf, was diese taten und sagten, sondern wie sie es sagten und taten. Weiter versuchten sie, die Techniken in allgemeinverständlichen Modellen darzustellen. Diese Modelle basieren auf biologischen Begebenheiten wie etwa der Tatsache, dass wir fünf Sinne haben, dass es eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft gibt oder dass wir Erinnerungen als Gefühl oder als Gedanke abspeichern können. Die Resultate ihrer Arbeiten veröffentlichten sie in mehreren Büchern und gaben ihren „Formaten“, wie sie die Modelle nannten, den Namen Neurolinguistisches Programmieren oder NLP. Die Formate waren derart präzise und verständlich, dass es heute praktisch keine seriöse Kommunikationsausbildung mehr gibt, die auf den Gebrauch von NLP-Formaten verzichten kann. Schweizer

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Vielleicht ist es noch wichtig zu erwähnen, dass die NLP-Erfinder eher einem amerikanisch-pragmatischen Wissenschaftsansatz verpflichtet sind. Als sie herausgefunden haben, wie man beispielsweise Sprache benutzt, so dass sie keine Widerstände beim Hörer erzeugt, haben sie sich nicht gefragt, warum dem so ist, sondern, wie man die einmal elizitierten, also herausmodellierten, Muster weiter verfeinern könnte. Aus dem Grund findet man in der Primärliteratur praktisch keine Forschungsresultate über den Grund der Wirkungsweise. Dies wurde aber später nachgeholt. Wer sich mehr dafür interessiert, warum es wirkt als dass er es selbst anwenden möchte, sei deshalb empfohlen: Peter Schütz: Theorie und Praxis der Neuro-Linguistischen Psychotherapie (NlPt), Junfermann, Paderborn, 2001 Wer es selbst ausprobieren möchte, dem sei folgendes Buch empfohlen: Richard Bandler/John Grinder: Neue Wege der Kurzzeittherapie, Junfermann, Paderborn, 1997 oder als Zusammenfassung: Joseph O’Connor/John Seymour: Neurolinguistisches Programmieren: Gelungene Kommunikation und persönliche Entfaltung, Verlag für angewandte Kinesiologie VAK, Freiburg im Breisgau, 1992 Doch nun zurück zu unserer Geschichte. Zurück in die „Déesse“, die Fürsprecher von Bubenberg leichthändig über den Belpberg nach Gerzensee steuerte.

3. Kapitel Synchronisation Wie Sie zu Ihrem Kunden Vertrauen aufbauen „Ein paar Stunden gemeinsam gegangen, gefangen, gelangen wir zum Fluss.“ Indianisches Sprichwort „So nun werden wir bald bei Herrn Korb sein. Das Wichtigste wird nun sein, dass wir uns mit ihm synchronisieren, bevor wir mit dem Gespräch beginnen. Was bedeutet synchronisieren? Wir müssen Korb das Gefühl geben, dass wir ihn verstehen, dass wir beide vom gleichen Stamm sind. Wenn uns das gelungen ist, wird es uns nachher viel einfacher fallen, die wichtigen Fragen zu stellen. Wie machen wir das? Ganz einfach, wir beginnen das Gespräch mit Small Talk, reden über irgendetwas, was uns beide interessiert. Autos und Fußball sind bei Männern immer beliebt oder das Militär: ‚Waren Sie auch in Dübendorf in der Offiziersschule der Luftwaffe?‘ Bei Frauen sind Mode, Kochen und Beziehungsfragen bevorzugte Themen. Tratsch über Frauen läuft bei Männern gut und Tratsch über Männer bei Frauen. Dabei dürfen wir aber eins nicht vergessen: Reden Sie nie über etwas, was Sie nicht wirklich interessiert! Das merkt der Andere sofort. Wer also ein guter Kommunikator sein möchte, sollte sich für viel interessieren: Architektur, Kunst, Sport, Politik, Religion. Einfach alles, was so in der Zeitung steht. Ich 16

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Synchronisation

lese seit Jahrzehnten jeden Montag den ‚Spiegel‘ und am Donnerstag die „Weltwoche“. Damit bin ich bestens versorgt. Früher habe ich auch noch die ‚Zeit‘ gelesen, aber irgendwann waren meine Arme zu schwach um die Zeitung zu halten.“ Ich lachte, von Bubenberg grinste und plötzlich waren wir da: Eine stattliche, wohl 200 Jahre alte Sandsteinvilla, deren Fenstersimse, wie es sich für ein Bernerhaus gehörte, mit Geranien mehr als vollgestellt waren: Die Residenz von „WarenKorb“. Wir parkten das Auto auf der großen Kiesauffahrt und klingelten. Das Hausmädchen öffnete, begrüßte uns freundlich und geleitete uns in den Salon, wo Klaus Korb schon auf uns wartete. Wie von Bubenberg nun das Gespräch eröffnete, war schlicht meisterhaft: Von Bubenberg ging auf Korb (etwa 50 Jahre alt, hochgewachsen, Typ englischer Gentleman) zu, begrüßte ihn freundlich, stellte mich vor und steuerte dann schnurstracks auf ein riesiges, abstraktes Gemälde zu, das an der Wand hing: „Ein Jeanmaire, wenn ich richtig rate?“ „Richtig, Herr Rechtsanwalt, aber woher kennen Sie diesen Maler?“ „Ich kenne Alexander Jeanmaire, weil bei uns im Besprechungszimmer ebenfalls ein Bild von ihm hängt! Spaß beiseite, ich war vor einigen Jahren in der Galerie Commercio in Zürich und habe mich schlicht in eines seiner Bilder verliebt. Seit damals kaufe ich mir fast jedes Jahr einen Jeanmaire, was aber nicht ungefährlich ist!“ „Wem sagen Sie das! Haben Sie auch schon ein Haus komplett neu eingerichtet, nur weil die Möbel nicht mehr zum Bild passten?“ „Nicht ein ganzes Haus, aber in meinem Haus in Muri musste ich die Hälfte der Möbel aus dem Wohnzimmer entfernen, weil das Bild nicht atmen konnte!“ „Dann darf ich Sie doch einmal in mein Studierzimmer bitten. Sehen Sie sich einmal an, was das Bild dort angerichtet hat!“ Wir verließen den Salon und gingen in das Studierzimmer, das sich als ein zweites Haus im Garten entpuppte. Ein Haus mit wunderbarem Blick: Der Gerzensee im Vordergrund und die Hochalpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau im Hintergrund. Das Gartenhaus war ein moderner Bau aus Beton, Stahl und Glas, der aber, weil der Farbton des Betons dem Sandstein der Villa angepasst war, ausgezeichnet mit dem Haupthaus harmonierte. Innendrin bestand es nur aus einem Raum mit einer riesigen Fensterfront. An der gegenüberliegenden Seite zu den Fenstern war ein einziges Pult aufgestellt und an einer der Seitenwände hing ein ähnliches Bild wie dasjenige im Salon: Etwa zehn Meter lang und drei Meter hoch. Das Bild gab dem leeren Raum Gehalt und Würde. Von Bubenberg schaute sich das Bild lange schweigend an, schritt dann gedankenverloren durch den Raum und sagte schließlich: „Sie haben Recht, Herr Korb. Ein Bleistift mehr auf dem Pult wäre zuviel!“ Korb lachte. „Sehen Sie, was habe ich gesagt! Diese Bilder sind wirklich gefährlich!“ Die beiden parlierten nun sicherlich eine halbe Stunde über Malerei, Architektur und Möbeldesign. Nach der halben Stunde hatten wir fast alle Räume in Korbs Schweizer

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Anwesen begutachtet. Wenn jemand behauptet hätte, die beiden Herren hätten sich gerade vor wenigen Minuten zum erstenmal getroffen, hätte man diese Person mit Sicherheit einen Lügner gestraft! Die beiden unterhielten sich derart lebendig, spontan und herzlich als wären sie zwei alte Schulfreunde, die sich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatten. Das Gespräch kulminierte schließlich in folgender Aussage Korbs: „Herr von Bubenberg, ich bin mehr als erfreut, Sie in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Ehrlich gesagt hatte ich einen etwas verstaubten, förmlichen Juristen erwartet. Dass Sie sich nun aber als Jeanmaire-Sammler und Kenner der Architektur des ‚Atelier 5‘ zu erkennen geben, hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet!“ Nach der Hausbesichtigung ging es zurück in den Salon. Bevor aber auch wir in unseren Gedanken dorthin zurückkehren, noch etwas für die Skeptiker unter uns: Hatte von Bubenberg nicht einfach Glück gehabt, dass Korb und er zufälligerweise den gleichen Maler sammelten? Diese Frage habe ich ihm dann auf unserer Rückfahrt auch gestellt. Hier seine Antwort: „Vielleicht war es Glück, sicher, aber ich hätte auch über andere Themen mit ihm reden können: Etwa über seinen ‚Scheewittchensarg-Volvo‘, der in der Einfahrt parkte, oder über Dollar Brand. Haben Sie seine Plattensammlung gesehen? Oder über Bose Stereoanlagen, Kiton Kittel, Bulova Accutron Uhren oder das ‚Atelier 5‘, wie wir es auch gemacht haben. Die Halen-Siedlung wäre dann ein weiteres Thema gewesen, die Ausbaupläne der Stockhorn Bergstation und so weiter. Natürlich kann man es als Glück bezeichnen, wenn man so leicht ein Thema findet. Aber vielleicht ist es auch ein klein wenig mehr als nur Glück. Vielleicht ist es auch „angewandtes Interesse“ an der Welt und ihren Schönheiten. Wer weiß!“ Wenn wir nun nicht in der glücklichen Lage sind wie von Bubenberg, der sich für sehr, sehr viel interessiert, was müssen wir dann tun? Vielleicht hilft hier eine Antwort, die der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright einmal einem Bauherrn gab, als dieser bemerkte, es sei völlig sinnlos, das Haus um den im Wohnzimmer aufgestellten Flügel zu bauen, da er weder einen Flügel besitze noch Klavier spielen könne. Wright: „Dann müssen Sie sich eben einen Flügel kaufen und Klavier spielen lernen!“ Dies klingt ziemlich arrogant und überheblich, oder? Aber wie wäre es, wenn es wirklich so wäre, dass es dem, der sich für viele Gebiete interessiert leichter fällt, sich mit seinem Gegenüber zu synchronisieren als dem, der sich nur für, sagen wir mal, Heraldik und Strafrecht interessiert? Sie können diese Frage nicht beantworten, da Sie nicht wissen, was „synchronisieren“ genau bedeutet? Gut, lassen Sie es mich erklären: Die bereits vorher erwähnten Amerikaner Richard Bandler und John Grinder hatten bei der Betrachtung der Videoaufnahmen, die sie von Kommunikationsgenies wie Milton Erickson, Virginia Satir oder Gregory Bateson gemacht hatten, entdeckt, dass das kommunizierende Paar oft schon nach wenigen Minuten wie ein einziger, im Gleichklang pulsierender Organismus aussah: Die beiden Personen gingen im Gleichschritt oder bewegten Kopf, Arme und Oberkörper zu gleichen Zeit und im gleichen Rhythmus. Wie waren diese Phänomene zu erklären? Die beiden Forscher fanden heraus, dass die Ausnahmekommunikatoren offenbar die Gabe besaßen, voll und ganz in die Welt des Anderen einzutauchen: Wenn das Gegenüber von einem Badestrand in Florida erzählte, so schlenderten die Starkommunikatoren als ihr Gegenüber in Gedanken den Strand entlang. Wenn das Gegenüber erzählte, wie toll er die Dallas Cowboys fand, so jubelte auch der Gesprächsführer mit. Es schien, als würden die unter18

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Fragen

suchten Starkommunikatoren nicht nur zuhören, sondern das, was ihr Gegenüber erzählte, gleichzeitig mit diesem miterleben. Ja, manchmal sah es genau so aus, als würden diese in die Rolle ihres Gegenübers schlüpfen und etwa selbst die Rede vor den 1.000 Wählern halten, von der einer erzählte: Sie bewegten den Mund im Gleichklang und wiederholten die gleichen Worte, die das Gegenüber vorher gesprochen hatte. Genau das hatte auch von Bubenberg getan. Er war voll und ganz in die Welt des Jeanmaire-Sammlers Korb eingestiegen und hatte mit diesem Freud und Leid des Kunst-Enthusiasten geteilt. Was er dabei in seinem Kopf genau gemacht hat, wie er dabei seine fünf Sinne organisiert hat, damit dies alles so leichtfüßig vor sich ging, werde ich in einem der nächsten Abschnitte erklären. Wichtig ist mir im Moment eines: Wer die Fähigkeit hat, sich mit seinem Gegenüber zu synchronisieren, verfügt damit auch über die Fähigkeit, Vertrauen, Zuneigung und Einheit aufzubauen. Wer diese Fähigkeit nicht hat, sollte sich nicht wundern, wenn er stattdessen Misstrauen, Abneigung und Dissens erzeugt!

4. Kapitel Fragen Wie Sie erfragen, wer der Mandant ist „Die Qualität der Frage bestimmt die Qualität der Antwort.“ Sprichwort Nun ging es zur Sache. Nun ging es nämlich darum, herauszufinden, was das Problem von Korb war. Später auf der Rückfahrt erzählte mir von Bubenberg, worum es in dieser Phase geht: „Nachdem wir uns synchronisiert haben, müssen wir Kompetenz zeigen, denn wir werden den Mandanten nur gewinnen können, wenn dieser glaubt, dass wir kompetent sind. Wie erkennt dieser aber nun unsere Meisterschaft? Die landläufige Meinung ist die, dass man Kompetenz dadurch zeigt, dass man dem Anderen mitteilt, was man alles weiß. Diese Leute prahlen dann mit ihren Kenntnissen und Titeln und verkünden ganz beiläufig, dass sie schon den König von Turkmenistan und die berühmte Industriellenfamilie Duckstein sowie den Erzengel Gabriel beraten haben. Mit Wissen anzugeben ist eine beliebte, aber nicht zielführende Methode: Ich glaube nämlich nicht, dass es auf die lange Dauer sehr viel bringt, dem Mandanten Vorträge über das, sagen wir mal, Immaterialgüterrecht zu halten.“ Von Bubenberg machte hier eine kleine Pause. Er atmete tief durch. Ich hatte das Gefühl, als wisse er, was in dem Moment in mir vorging. Ich war ihm dankbar, als er fortfuhr und meine Schmach nicht weiter auskostete. „Diese Wissensshow ist, und das kann man nicht oft genug betonen, auf die lange Dauer eher kontraproduktiv. Warum? Ganz einfach: Weil wir davon ausgehen sollten, dass der Kunde schlicht und einfach erwartet, dass er einen Berater vor sich hat, der sein Metier kennt. Wir erwarten von unserem Friseur doch auch, dass er uns stilsicher die

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Haare schneidet und uns nicht vordoziert, wie man die Schere in der Hand hält, wo man schneidet und wo nicht und uns dann am Schluss fragt, was er nun tun solle, oder? Übertragen auf das Handwerk des Anwaltes heißt das, dass der Mandant von uns erwartet, dass wir Wissen haben, aber erkennen möchte, ob wir dieses professionell einsetzen oder nicht. Denn was nutzt einem Mandanten ein Professor als Anwalt, der sämtliche Feinheiten des Aktienrechtes kennt, aber nicht in der Lage ist, den Richter vom Bestehen des Anspruches seines Mandanten auf die Übertragung der Namensaktien an ihn zu überzeugen? Und wie findet der Mandant nun heraus, ob der Anwalt nur das ‚Kopfwerk‘ oder auch das Handwerk beherrscht? Ganz einfach, indem er es selbst erlebt! Indem er erlebt, wie brillant der Anwalt fragen kann und indem er erlebt, wie messerscharf dieser das Wichtige vom Nichtwichtigen trennen kann. Indem er erlebt, um es auf einen Nenner zu bringen, wie der Anwalt ein Gespräch führen kann! Das habe ich Ihnen, so hoffe ich wenigstens, vorhin demonstrieren können.“ Von Bubenberg machte eine Pause, als wolle er die Worte wirken lassen, und fuhr dann fort: „Vielleicht ist es auch noch sinnvoll, wenn ich Ihnen etwas über meine Philosophie erzähle, die ich meiner Art der Gesprächsführung zugrunde gelegt habe: Erstens gehe ich davon aus, dass ich nichts weiß, dass ich also von Tuten und Blasen keine Ahnung habe und dass ich ein absoluter Laie bin, der sich die Sache Punkt für Punkt erklären lassen muss. Dann gehe ich weiter davon aus, dass auch mein Gegenüber die Sache nicht vollständig überblickt, dass auch er nur einen kleinen Ausschnitt von dem wahrnimmt oder wahrgenommen hat, was wirklich geschehen ist. Mehr noch, ich gehe auch davon aus, dass mein Gegenüber auch nur beschränkt weiß, was er wirklich will. Ziel des gemeinsamen Gespräches ist es dann, zusammen ein möglichst vollständiges Bild von dem zu erarbeiten, was vorgefallen ist, im Bewusstsein aber, dass wir dies nie erreichen können, da wir davon ausgehen müssen, dass kein Mensch wirklich Zugang hat zu dem, was ist. Alles was wir haben sind Abbildungen. Das wussten schon die alten Griechen; Platon hat dies sehr treffend in seinem Höhlengleichnis dargestellt. Für diese Suche nach der subjektiven Realität meines Gegenübers verwende ich Fragen. Die Grundfrage ist immer die Gleiche. Die Grundfrage ist die Frage aller Fragen: Wer bist Du? Woher kommst Du? Wohin gehst Du? Wer diese Fragen für sich oder die Firma beantwortet, die er führt, wird eingeladen, mir Informationen zu liefern über die Geschichte, den Status quo und die Ziele, die er für sich selbst und mit seinen Unternehmungen verfolgt. Die Fragen werden mir also Antworten liefern über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft meines Gegenübers.

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Fragen

Dann stelle ich viele offene Fragen: Was ist geschehen? Wo ist es geschehen? Wann ist es geschehen? Wie ist es geschehen? Warum ist es geschehen? Wer war daran beteiligt? Bei dieser Fragerei kann ich sehr penetrant sein, denn ich gehe nicht zum nächsten Themenkreis über, solange ich nicht den verstanden habe, an dem arbeite. ‚Never do the second step before you have done the first!‘ ist einer meiner Leitsätze. Ich höre erst auf, wenn ich ein komplettes Bild von der Geschichte habe. Wenn ich ein Bild davon malen könnte oder ein Drehbuch schreiben, um damit einen Film zu drehen. Erst dann fange ich übrigens an, mir auch nur den Schatten eines Gedankens über einen möglichen juristischen Anspruch zu machen. Ich bin, und das kann ich Ihnen mit aller Gewissheit versichern, keiner von denen, die, sobald sie ihren Mandanten sagen hören ‚Ich habe ihm sehr vertraut!‘ schon an ‚culpa in contrahendo‘ denken! Um ehrlich zu sein: Während ich frage, denke ich an überhaupt nichts. Ich frage einfach, höre mir die Antworten an, mache mir meine Notizen, frage nach, fasse zusammen, ergänze meine Notizen und frage wieder nach.“ Wie sich das bei Korb angehört hat, möchte ich nun kurz schildern: Nach dem Rundgang durch das Haus sind wir wieder in den Salon zurückgekehrt und Korb fragte uns, ob wir die Besprechung hier oder lieber irgendwo anders abhalten möchten. Von Bubenberg fragte, ob es vielleicht möglich wäre, ins Arbeitszimmer zu gehen. Er liebe große, unmöblierte Räume. „Kein Problem“, meinte Korb, „dann lassen Sie uns drei Stühle von der Veranda mitnehmen. Brauchen wir auch einen Tisch?“ „Nein, aber wenn Sie so etwas haben, vielleicht ein Flipchart. Wenn Sie das nicht haben, habe ich einige große Blätter Papier im Auto, die wir dann an die Wand hängen können. Vis à vis vom Jeanmaire.“ Korb hatte kein Flipchart. Also holte ich das Papier und klebte es mit Abdeckband an die Sichtbetonmauer des Studierzimmers. Von Bubenberg begann das Gespräch. Zuerst stellte er sich vor. Er sagte, wann er geboren wurde, wo er studiert hatte, wo er wohnte. Das Erstaunliche war, dass er auch viele private Details offenbarte: So erwähnte er seine Frau, seine Kinder und gab am Schluss sogar noch so etwas wie ein „mission statement“ ab: „Meine Aufgabe als Anwalt sehe ich darin, meinen Mandanten zu helfen, so dass es ihnen möglich ist, ihre Interessen langfristig so optimal wie möglich zu verwirklichen. Dies in möglichst großer Freiheit und möglichst großer Selbstverantwortung.“ Nachdem er sich vorgestellt hatte, bat er mich, mich kurz vorzustellen. Da er mich mit dieser Bitte ziemlich überfahren hatte, stotterte ich etwas von „AbplaSchweizer

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nalp, cand. jur.“ und „lernen wollen, wie man ein Erstgespräch führt“. Korb lachte und gratulierte mir zu meinem Lehrmeister. Dann bat von Bubenberg ihn, sich auch vorzustellen und fügte an: „Ich erachte es als sehr wichtig, dass man weiß, mit wem man es zu tun hat. Dies für den Fall, dass man länger zusammenarbeiten möchte. Ich finde es nämlich schade, wenn Personen nur auf ihren Namen und zwei oder drei Zahlen reduziert werden.“ Klaus Korb bejahte die Ansicht und stellte sich ebenfalls vor. Ich erfuhr, dass Korb 47 Jahre alt war, drei erwachsene Söhne hatte, seit drei Jahren geschieden und seit einem Jahr wieder glücklich verliebt war. Er hatte in Bern Physik studiert und dann am Dartmouth College an der Amos Tuck School of Business in Hanover, New Hampshire, seinen MBA gemacht. Dann war er mehrere Jahre auf Wanderschaft in den Filialen einer befreundeten Familie, die ebenfalls einen Kaufhauskonzern führt. Stationen waren London, Hongkong, Sydney und Montevideo. In Montevideo fand er seine erste Frau, heiratete und gründete eine Familie. Mit 38 Jahren kehrten sie in die Schweiz zurück, wo er die Leitung des Familienunternehmens übernahm. „Über meine Hobbys brauche ich Ihnen wohl nicht noch detaillierter Auskunft zu geben. Darüber haben wir ja eingehend gesprochen!“ „Sicher. Nun wissen wir ausreichend voneinander Bescheid, um uns Ihren Fall einmal näher anzuschauen. Bevor ich aber einsteige, sollte ich über einige Basisinformationen verfügen. Wäre es Ihnen möglich, uns vielleicht einige Daten über Ihre Firma zu geben, um deren Wohlergehen Sie sich, wie Sie mir am Telefon mitgeteilt haben, im Moment Sorgen machen.“ „Sehr gerne. Vielleicht ist es sinnvoll, wenn ich dazu gleich die Papiere benutze, die Herr Abplanalp an die Wand geklebt hat?“ Korb nahm einen unserer mitgebrachten Textmarker und erzählte, während er zeichnete: „Also die Warenhauskette ‚WarenKorb‘ gehört einer Holding mit Sitz in Muri bei Bern. Die Holding ist eine AG und zu 100 % in Familienbesitz …“ „Darf ich fragen, wie die Aktien verteilt sind?“ „Selbstverständlich: Mir und meinen vier Schwestern gehören je 20 %. Meine Aktien alleine haben allerdings ein Stimmengewicht von 60 %, d. h. ich kann die Firma so regieren, wie ich das möchte. Einzig im Falle, dass es 60 zu 40 sein sollte, haben wir uns an einen Schiedsrichter zu wenden, der dann entscheidet. Dies ist allerdings noch nie eingetreten, da ich mich mit meinen Schwestern sehr gut verstehe.“ „Nach den Schwestern, nun zu den Töchtern?“ „Richtig. Die Holding hat insgesamt fünf Töchter. Davon interessiert aber nur die Tochter, die Warenhäuser im Kanton Bern betreibt. Solche Warenhäuser führen wir in Bern, Biel, Thun, Interlaken, Langenthal, Burgdorf, Gstaad und Freiburg im Kanton Freiburg. Die anderen Töchter betreiben andere Geschäfte wie Auto- oder Kaffeehandel …“

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Fragen

Korb sprach und zeichnete, von Bubenberg hörte zu, fragte nach und fasste von Zeit zu Zeit zusammen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, beschäftigen Sie in ihren Warenhäusern insgesamt 900 Personen. Darf ich Sie bitten, noch hinzuschreiben, wie viele das etwa pro Standort sind?“ Oder: „Ich begreife: Ihre Kaufhäuser verstehen sich als ‚department stores‘ und sind eher im mittleren bis oberen Preissegment angesiedelt. Nicht unten, wie die ‚EPA‘ oder ‚ABM‘, aber auch nicht so weit oben wie etwa ‚Grieder‘ in Zürich. Am besten etwa zu vergleichen mit ‚Globus‘.“ Einmal sagte er auch, als ihn Korb auf eine Frage hin etwas seltsam anschaute: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie auch scheinbare Banalitäten frage und mich manchmal etwas dumm stelle. Mir ist wichtiger, dass ich alle Informationen aus erster Hand erhalte und dabei auch überprüfen kann, ob das, was ich schon weiß, mit dem übereinstimmt, wie sie es sagen.“ Nach etwa 20 Minuten Frage- und Antwortspiel hing folgendes Organigramm an der Wand:

Klaus Korb

20 %

Schwestern Korb

20 % 20 %

20 %

20 %

60 % SRA

40 % SRA

Familie Korb Beteiligungen AG, Muri (Holding)

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

Warenkorb AG, Muri

...

...

Autohandel

Kaffeehandel

Warenhäuser in Bern, Biel, Thun, Interlaken, Langenthal, Burgdorf, Gstaad, Freiburg im Ü. Organigramm der Familie Korb Beteiligungen AG, Muri

„Jetzt wissen wir, wer Ihre Firma ist. Nun würde uns etwas aus der Geschichte der Firma interessieren. Wäre es möglich, dass Sie uns dazu etwas sagen könnten? Könnten Sie, Herr Abplanalp, nun die Rolle des Schriftführers übernehmen?“ Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Nach weiteren zehn Minuten wussten wir, wann die Firma gegründet wurde (1849), in welcher Generation Herr Korb das Unternehmen nun führte (fünfte Generation), wann die Firma fast in Konkurs gegangen wäre (Erster Weltkrieg) und wie sie sich über den Zweiten Weltkrieg gerettet hatte: Durch die Produktion von Wolldecken und Ausmietung von Teilen der Warenhäuser als Armeemateriallager. Dann wollte von Bubenberg wissen, welche Zukunftspläne die Firma hatte: „Wir wollen unseren Platz erfolgreich verteidigen. Wir sind die Nr. 1 im Kanton Bern. Weiter wollen wir noch mehr in die Uhren- und Autobranche diversifizieren. Unsere Vision lautet: ‚Jeder Haushalt des oberen Mittelstandes kauft mindestens einmal pro Woche ein Produkt aus unserem Sortiment‘!“ „Sie wollen also Hoflieferant der Besserverdienenden werden?“ Korb lachte: „Ja, das könnte man sagen. Wir glauben einfach, dass in den nächsten Jahren eine Welle großen Wohlstandes auf uns zukommen wird. Wohlstand will das Geld irgendwo ausgeben und da haben wir uns gedacht, besser bei uns als bei der Konkurrenz!“ „Schön, nun sind wir bestens über den Hintergrund informiert. Jetzt können wir uns langsam ans Problem herantasten. Anders gesagt, in welchem Zusammenhang könnte Ihnen mein Büro Dienste leisten?“ „Es geht um unsere Zusammenarbeit mit der Firma Hanlord.“ „Ist das die Firma, bei der meine Frau immer ihre Bodies bezieht? Hanlord, der Mercedes unter den Unterwäschefabrikanten?“ „Jawohl, genau um diese Firma aus Haag im Vorarlbergischen geht es. Lassen Sie mich einmal erzählen. Wir arbeiten seit 50 Jahren mit Hanlord zusammen …“ Von Korb erfuhren wir nun, dass „WarenKorb“ nach dem Zweiten Weltkrieg das Alleinvertriebsrecht für die Hanlord-Produkte in der Schweiz erworben hatte. Dafür hatten sie in ihren Warenhäusern spezielle Nischen (heute Inhouse-Boutiquen genannt) eingerichtet, wo es nur Hanlord-Produkte gab. Das Alleinvertriebsrecht hatten sie aber nur im Kanton Bern und in Fribourg ausgeübt; damit sei man einverstanden gewesen, da die Umsätze sehr gut gewesen seien. „Alles lief gut, bis vor etwa vier Jahren. Hanlord hat sich damals entschieden, einen radikalen Relaunch ihrer Marke durchzuführen: Anstatt Unterwäsche für jede Frau herzustellen, wollten sie nur noch das Top end bedienen. Sie wollten, um Ihr Wort zu benutzen, in fünf Jahren ‚Hoflieferant‘ der großen Modeschauen werden. Ein Paar Hanlord-Strümpfe sollte es nicht unter 40 CHF geben und die guten Bodies sollten anstatt 50 CHF nun 500 CHF kosten. Und, ob sie es glauben oder nicht, sie haben es geschafft!“ „Wissen Sie, wie sie da genau vorgegangen sind?“ „Jawohl: Erstens haben sie riesige Summen in die Entwicklung und Qualitätsverbesserung gesteckt, zweitens haben sie völlig avantgardistische Designer angestellt und drittens haben sie Topfotografen wie Carl von Werth und Jean-Pierre Sebald gebeten, ihre Models zu fotografieren …“ 24

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Fragen

„Richard A. Miller, Gunter Wax …“ „Hut ab, Herr von Bubenberg! Gibt es etwas, worüber sie nicht Bescheid wissen?“ „Ja, etwa wie unsere neun Bundesräte heißen!“ Beide lachten. „Das klingt ja alles wunderbar. Wo gibt es denn nun Probleme?“ „Die Probleme haben mit dem Relaunch begonnen: Vor einigen Wochen erhielten wir nämlich einen Brief von Hanlord, dass wir dass Alleinvertriebsrecht für die Schweiz mangelhaft ausgeübt hätten, dass es deshalb per Ende des Jahres gekündigt wird und dass die Firma beabsichtige, eigene Shops in Bern, Basel, Genf, St. Gallen, Luzern, Gstaad, St. Moritz, Interlaken und Zürich zu eröffnen.“ „Schlecht!“ seufzte von Bubenberg. „Sehr schlecht!“ quittierte Korb. „Wie hat Hanlord begründet, dass sie das Alleinvertriebsrecht mangelhaft ausgeübt hätten?“ „Sie haben zwei Gründe genannt: Einerseits, dass wir ihre Marke nicht in der ganzen Schweiz vertreten würden, und andererseits, dass wir in unseren Filialen zu wenig auf den Relaunch eingegangen seien: Die Präsentation der Ware entspreche noch zu sehr dem alten, biederen Image.“ „Was sagen Sie zu dem Vorwurf?“ „Blödsinn, wir haben unsere Inhouse-Boutiquen angepasst!“ „Alle?“ „Die in Bern, Gstaad, Thun und Interlaken. Die anderen werden folgen.“ „Wann?“ „Angepasst haben wir letztes Jahr. Fertig sein werden wir nächstes Jahr.“ „Das wären dann drei bis fünf Jahre nach dem Relaunch?“ „Ich weiß, das ist ein bisschen spät, aber besser spät als nie!“ „Was haben Sie genau angepasst?“ „Wir haben die Boutiquen zusammen mit den Hanlord-Architekten dem internationalen Standard angeglichen.“ „Hanlord hat also mitgearbeitet?“ „Genau!“ „Wer hat die Umbauten bezahlt?“ „Wir haben fifty-fifty ausgehandelt.“ Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

„Gut. Dürfte ich vielleicht den Alleinvertriebsvertrag einmal sehen? „Sicher!“ Korb holte den Vertrag aus dem Safe, von Bubenberg las ihn durch. Dann sagte er: „Hier steht tatsächlich, dass WarenKorb verpflichtet wird, das Alleinvertriebsrecht in der ganzen Schweiz auszuüben. Gibt es irgendwelche Dokumente, die belegen, dass Hanlord mit der Nicht-Ausübung des Rechtes in der ganzen Schweiz einverstanden ist?“ „Es gibt Briefe aus den 60er und 70er Jahren. Die sind vermutlich in unserem Safe in Muri.“ „Die könnten wir sicher einsehen?“ „Absolut.“ Von Bubenberg fragte in dieser Art und Weise sicherlich noch eine halbe Stunde weiter, ich schrieb alles auf die Papierbögen. Als es keine Fragen mehr gab, stellte sich von Bubenberg vor die Bögen und fasste zusammen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es einen Alleinvertriebsvertrag zwischen der WarenKorb AG, Muri und der Hanlord AG, Haag vom 22. April 1961. Der Vertrag überträgt der AG das Recht und die Pflicht, die Hanlord-Produkte in der Schweiz in ihren Filialen an ‚ausgesonderten Verkaufspunkten‘ zu vertreiben. Diese Pflicht wurde aber nie vollständig ausgefüllt. Die Boutiquen wurden nur in Ihren Filialen im Kanton Bern sowie in Freiburg eröffnet. Es scheint Briefe aus den 60er und 70er Jahren zu geben, in denen Hanlord dies ausdrücklich billigt. Die Briefe vermuten Sie im Tresor in der Zentrale in Muri. 1980 hat Hanlord seine Produkte und seine Marke vollkommen neu platziert: Aus der biederen Lingerie-Linie wurde ein Top-end-Produkt sowohl bezogen auf die Qualität als auch auf den Preis. Hanlord hat daraufhin seine Inhouse-Boutiquen-Händler auf der ganzen Welt aufgefordert, ihre Shops architektonisch nach den Plänen von T. Tomaso Ondo neu zu gestalten. Hanlord selbst beteiligte sich schlussendlich zu 50 % an den Umbaukosten. Sie haben dieses Jahr diesem Wunsch entsprochen, nachdem sie sich zuerst geweigert und versucht hatten, den Kostenanteil von Hanlord von ein Drittel auf zwei Drittel zu erhöhen. Schließlich hat man sich auf 50/50 geeinigt. Umso erstaunter waren Sie deshalb, als ihnen vor einem Monat ein Schreiben ins Haus flatterte, in welchem Ihnen Hanlord den Alleinvertriebsvertrag, der auf 40 Jahre geschlossen worden war und somit am 21. April 2001 ausläuft, vorzeitig kündigte. Als Begründung wurde angeführt, dass Sie ihrer Pflicht, die ganze Schweiz zu beliefern, nie nachgekommen seien und sich bezüglich der Marke während der Jahre nicht im Sinn und Geist des Vertrages verhalten hätten, so dass Hanlord sich veranlasst fühlte, festzustellen, dass die Basis für eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr gegeben sei. Ist es das, was Sie gesagt haben?“ „Ja, mit einer Ausnahme: Wir haben uns nicht ‚geweigert‘, die Boutiquen neu zu gestalten. Wir haben nur ‚angeregt zu überdenken‘, ob es im Rahmen einer zukünftigen erfolgreichen Zusammenarbeit nicht sinnvoller sei, die Kosten ein wenig anders zu verteilen.“ „Okay, also nicht ‚geweigert‘, sondern ‚angeregt zu überdenken‘“. 26

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Fragen

„Richtig.“ „Sie haben dann, nachdem sie den Kündigungs-Brief erhalten haben, sofort mit Haag Kontakt aufgenommen und sind mit Ihrem Anwalt Dr. Rösli nach Österreich gefahren, wo Sie aber sehr unfreundlich respektive überhaupt nicht empfangen wurden: Die für Sie zuständigen Herren seien überraschend nach Hamburg beordert worden. Zurück in Bern haben Sie dann von einem Freund erfahren, dass Hanlord in den meisten Großstädten der Schweiz sowie in einigen Nobelkurorten nach Verkaufslokalen an bester Einkaufslage suche. Hier in Bern seien sie in Verhandlung mit dem Eigentümer einer Liegenschaft direkt vis-à-vis Ihres Hauses. Dr. Rösli meinte, dass es vielleicht besser sei, einen zusätzlichen Anwalt beizuziehen. Einen, der einen guten Ruf als Verhandler habe und der auch mehr internationale Erfahrung habe als er. So sind wir schließlich auf Empfehlung von Roger Rösli zusammengekommen. Ist das richtig so?“ „Genau so ist es!“ „Gibt es zum Sachverhalt noch etwas zu ergänzen?“ „Nein, ich glaube, Sie haben das Wesentliche zusammengefasst.“ „Gut, dann noch ein letzte Frage. Wieviel haben Sie mit Hanlord in den letzten Jahren pro Filiale durchschnittlich umgesetzt?“ „Etwa 150.000 CHF.“ „Das macht etwa wieviel Gewinn?“ „Etwa 70.000 CHF brutto.“ „Sehr gut. Nun zu den Zielen. Was möchten Sie, dass ich für Sie erreiche?“ „Ich will, dass Sie erreichen, dass Hanlord die Kündigung der Alleinvertriebsverträge rückgängig macht, das ist doch klar!“ „Sehr gut, und was ist Ihr Interesse daran, dass ich das tun soll? „Mein Interesse daran? Ich verstehe Ihre Frage nicht? Dürfte ich Sie bitten, mir etwas genauer zu erklären, was Sie unter ‚Interesse‘ verstehen?“ Das wird Rechtsanwalt von Bubenberg gleich tun. Zuerst wollen wir uns aber noch etwas genauer anschauen, wie von Bubenberg genau gefragt hat: Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass er sehr einfach, präzise, aber irgendwie gnadenlos gefragt hat. Dabei scheint er aber nie den Kontakt mit Korb verloren zu haben und er scheint ihn auch fast nie genervt zu haben. Wie hat er das gemacht? Ein Geheimnis seines Erfolges liegt wohl darin, dass er sich konsequent und permanent nachsynchronisiert. Einerseits dadurch, dass er immer und immer wieder zusammengefasst und wiederholt hat, was Korb gesagt hat: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann …“ Damit hat Korb das nochmals gehört, was er vorher schon gesagt hatte. Und was geschieht, wenn jemand Ihnen das wiederholt, was Sie soeben gesagt haben? Jawohl, Sie fühlen sich verstanden! Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Ein weiterer Punkt ist der, dass von Bubenberg nie aus seiner eigenen Sichtweise heraus gesprochen hat. Er hat ständig versucht, in die Welt von Korb einzusteigen, dort zu sein, wo dieser auch war: Wenn er darüber gesprochen hat, wie unfreundlich sie in Haag empfangen worden sind, dann war von Bubenberg in seinem Kopf auch in Haag und auch er wurde unfreundlich empfangen, da er sich wohl vorgestellt hat, er sei Korb. Die Fähigkeit, die von Bubenberg hat, nennet man „Einfühlsamkeit“: Er kann sich in die Rolle anderer Menschen hineinversetzen. Grinder/DeLozier nennen diese Fähigkeit „to go second position“. Wer mehr davon wissen möchte, liest am besten bei Grinder/DeLozier „Der Reigen der Daimonen“ nach. Nach Grinder/DeLozier gibt es drei Wahrnehmungspositionen: 1st position, 2nd position, 3rd position.

dis.

ass.

ass.

Beobachter 3rd

ich 1st

er 2nd

Die drei Wahrnehmungspositionen

Die erste Position ist in sich selbst sein, assoziiert in den eigenen Schuhen stecken, fühlen. Die zweite Position ist, in den Schuhen von jemand anderem stecken, ebenfalls assoziiert, mitfühlen. Die dritte Position ist die Position des Betrachters. „To go to the balcony“, wie Bill Ury formuliert hat: Ich schaue mich und den anderen von außen an, dissoziiert denken. Jeder gute Verhandler, Verkäufer, Berater, Gesprächsführer besitzt die Fähigkeit, noch während des Gespräches „second position“ zu gehen. Jeder durchschnittlichschlechte Verhandler, Verkäufer, Berater oder eben Gesprächsführer hat diese Fähigkeit nicht: Er ist gefangen in seiner eigenen „first position“ oder schafft es höchstens zum Überdenken der Situation: „third position“. Wer ein guter Gesprächsführer werden möchte, kann den Positionenwechsel üben. Wenn Sie mögen, können wir dies gleich tun. Hier und jetzt: Ich sitze im Moment nicht mehr oben auf der Axalp in meiner Ferienwohnung sondern auf der Terasse des „Grandhotel Giessbach“ (www.giessbach.ch) in Brienz. Das „Giessbach“ liegt 200 Meter oberhalb des tiefblauen Sees und ist ein Hotelpalast wie im aus dem Märchen: Hier ein Türmchen, hier ein Balkon, dort 28

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Fragen

eine Veranda. Die Terasse wird von Bäumen gesäumt. Vögel zirpen darin, die Giessbachfälle rauschen. Touristen im Wanderkostüm oder amerikanisch bunt gekleidet sitzen an den Tischen. Einige fragen: „Was it here, where Sherlock Holmes died?“ Es riecht nach Kaffee und in der Ferne hört man das Abfahrsignal des Kursschiffes. Wenn Sie jetzt aus Ihren eigenen Augen schauen und das sehen, was Sie jetzt gerade sehen, also etwa dieses W O R T, dann sind Sie „1st position“, also in sich selbst. Wenn Sie nun die Augen schließen und in meine Geschichte einsteigen, indem Sie etwa auf einen der Balkone des Grandhotels hochgehen, das sie in ihrem Kopf nach den oben erhaltenen Angaben konstruieren können und dann zu mir hinunter gucken, der ich da unten am Tisch sitze und schreibe, dann sind sie „3rd position“. Wenn sie nun noch versuchen, mich zu sein, wie ich da mit Blick auf den See und das Brienzerrothorn schreibe, den Mac vor mir auf dem Tisch aufgeschlagen habe und versuche, Ihnen das näher zu bringen, was es heißt, „2nd position“ zugehen, dann sind Sie „2nd position“. Wenn Sie dann auch noch das Lakritz schmecken, das ich im Mund habe, dann wissen Sie wirklich, was es heißt, „2nd position“ zu gehen! Diese Übung ist nicht einfach, da Sie von uns verlangt, unsere Sinne als Ganzes anders einzusetzen, als wir es gewohnt sind. Wir werden aufgefordert, nicht nur zu denken (was immer das meinen mag!) sondern bewusst Positionen in unseren Landkarten einzunehmen und dann noch wahrzunehmen, welche anderen Informationen uns unser Nervensystem nun liefert: Einmal bin ich ich selbst, dann ein Anderer, dann schau ich mir alles von außen an! Das ist schon viel verlangt, oder? Vielleicht ist es deshalb besser, wenn wir vorerst in die alten Denk-Muster („3rd position“!) zurückkehren und uns etwas wieder rein kognitiv anschauen. Hierzu das Metamodell des Fragens von Bandler/Grinder geeignet. Bandler und Grinder haben in Ihren Studien über erfolgreiche Kommunikatoren u. a. herausgefunden, dass diese auf eine ganz spezielle Art und Weise fragen. Mit diesen Fragetechniken konnten sie herausfinden, was ihre Gegenüber wirklich meinten: Wenn jemand etwa sagte „Ich habe es nicht verstanden!“ haben die Spitzenkommunikatoren nachgefragt: „Was genau haben Sie nicht verstanden?“ Wenn jemand sagte, dass etwas viel zu teuer sei, haben sie gefragt „Zu teuer, verglichen womit?“ oder wenn jemand behauptet hat, dass es doch klar sei, dass es nicht gehe, wurde so nachgefragt: „Wer hat dies gesagt?“

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Hier das ganze Modell: Meta-Modell des Fragens (Richard Bandler/John Grinder) Nominalisierungen verwandeln „Er bekommt zu wenig Unterstützung.“ Wovon genau bekommt er zu wenig? Was genau bedeutet Unterstützung? Woran erkennen Sie, dass er nicht unterstützt wird? Welches Verhalten fehlt ihm? Unbestimmte Verben konkretisieren „Er kann es!“ Was genau kann er? Wie genau kommt er dazu, es zu können? Was tut er genau, damit Sie wissen, dass er es kann? Fehlende Beziehungen herstellen/unbestimmten Inhaltsbezug klären „Das kann man leicht sagen!“ Was genau kann man leicht sagen? Tilgungen/Löschungen ergänzen „Ich weiß, dass er nicht interessiert ist.“ Woran genau ist er nicht interessiert? Vergleiche ersichtlich machen „Dieses Auto ist besser!“ Besser als was? Verglichen womit? Verallgemeinerungen auflösen „Er hat noch nie etwas fehlerfrei gemacht!“ Wirklich nie? Gab es nicht einen einzigen Fall, in dem er irgendwann irgendwas fehlerfrei gemacht hat? Möglichkeiten erweitern „Ich kann es nicht zulassen!“ Was würde passieren, wenn Sie es könnten? Was hindert Sie daran, es zuzulassen? Ursache-Wirkungskreise offenlegen „Ich bin deprimiert, weil sie nicht gekommen ist!“ Was genau tun Sie, um dieses Gefühl der Depression zu erzeugen? Was könnten Sie tun, damit es noch stärker wird? Was könnten Sie tun, damit es schwächer wird? Was könnten Sie tun, damit es verschwindet? Gedanken lesen „Den sollte er doch kennen!“ Wie kommen Sie dazu zu wissen, dass er ihn kennen sollte? Generalisierungen klären, verlorene Zitate wiederfinden „So muss es angegangen werden!“ Wer sagt das?

Soviel zum Metamodell. Nun aber zurück zu von Bubenberg und der Art und Weise, wie er die Ziele oder Interessen herausgefragt hat. Aber halt, bevor Sie weiterlesen: Versuchen Sie sich doch bitte noch in einige Personen einzufühlen. Sie kön30

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Interessen des Kunden

nen dazu auch eine gute Erinnerung nehmen. Etwa der erste Schultag oder der erste Kuss. Versuchen Sie, die Szene von sich aus zu sehen (1st position), dann aus der Perspektive eines Vogels (3rd position), dann aus der Position der Lehrerin oder des Freundes/der Freundin. Wie schmeckt es, sich selbst zu küssen? Jetzt oder in wenigen Sekunden.

5. Kapitel Interessen Wie Sie herausfinden, was der Mandant will „Der kluge Verhandler streitet nicht um Positionen, sondern verknüpft Interessen.“ Roger Fisher Um zu erklären, was Interessen sind, scheint es mir auch hier wieder sinnvoll zu sein, zuerst das wiederzugeben, was mir von Bubenberg darüber erzählt hat: „Das Nächste, was wir nun herausfragen müssen, sind die Interessen. Obwohl wir Anwälte auch ‚Interessenvertreter‘ genannt werden, sind es in meinen Augen nicht die Interessen, die der ausschließlich juristisch denkende Anwalt vertritt. Was er verteidigt sind vielmehr die Positionen. Was also ist der Unterschied zwischen Interessen und Positionen? Die Position ist das, was in der Klageformel steht und mit Hilfe des juristischen Anspruchs vor Gericht durchgesetzt werden soll. Da kann es etwa heißen: ‚Der Beklagte sei zu verurteilen, dem Kläger 1.000.000 CHF nebst Zinsen seit dem 1. Januar 1984 zu bezahlen.‘ Der Kläger wünscht sich also, dass der Beklagte ganz konkret und so rasch wie möglich 1.000.000 CHF entweder in bar oder auf sein Bankkonto, etwa bei der Schweizerischen Volksbank am Bahnhofplatz in Bern, einzahlt. Die Position ist also das, was durch den Beklagten konkret zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ausgeführt werden soll. Die Position ist immer etwas Konkretes. Etwas, das man filmen kann, wenn es ausgeführt wird oder wenn es sich um Sachen handelt, die irgendwohin gebracht werden sollen. Etwas, das man auf die Pritsche eines Lastwagens binden und abtransportieren kann. Die Million, die der Kläger da haben möchte, ist mit Sicherheit eine Position, weil er sie, wenn er sie dann hat, auf die Ladebrücke seines Transporters packen und zu sich nach Hause fahren kann. Ganz anders verhält es sich mit Interessen. Interessen sind immer abstrakt, nie konkret, und können vor allem nicht abtransportiert werden! Interessen antworten auch auf eine andere Fragen: Während die Position auf die Frage antwortet, was soll der Beklagte wann und wo tun, antwortet das Interesse auf die Frage, warum möchte der Kläger, dass der Beklagte dies tut? Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Die Position richtet sich also, um eine andere Unterscheidung zu treffen, an den Beklagten, das Interesse an den Kläger. Das Interesse ist, um weiter zu präzisieren, der Grund, das Motiv, aus dem heraus der Kläger den Richter auffordert, den Beklagten zu verurteilen. Dabei ist wichtig zu wissen, ich habe es schon eingangs gesagt, dass wir als Interesse nicht den juristischen Grund, den Anspruch, auf den sich die Position beruft, bezeichnen, sondern den philosophischen oder psychologischen Grund. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen erklären: Einem Arbeitnehmer wird fristlos gekündigt. Er sucht nach einer neuen Stelle, findet aber keine. Nach einigen Wochen geht ihm langsam das Geld aus. Er geht zum Anwalt und dieser findet heraus, dass die Entlassung alles andere als juristisch sauber erfolgt ist und er durchaus die Möglichkeit sieht, für ihn vor Gericht eine nicht unerkleckliche Summe rauszuholen. Geld, das er dringend gebrauchen könnte, da er über keine Vermögenswerte verfügt. Also klagt er, dass ihm der Arbeitgeber aus seinem Arbeitsvertrag noch 60.000 CHF auszuzahlen habe. Die Position ist klar: 60.000 CHF auf mein Bankkonto und zwar so schnell wie möglich! Das Interesse aber, was könnte das sein? Interessen antworten immer auf die Frage nach dem psychologischen Grund der Klage: Warum will der Kläger, dass der Beklagte etwas tut? Hier in unserem Falle kann man vielleicht sagen, dass der Kläger das Geld haben möchte um zu verhindern, dass er sich sehr stark einschränken muss. Abstrakt ausgedrückt könnte man vielleicht ‚materielles Wohlergehen‘ sagen oder noch abstrakter ‚Sicherheit‘. Kriegt der Kläger nämlich sein Geld nicht, hat er eine materiell mehr als unsichere Zukunft vor sich. Klar?“ „Noch nicht ganz.“ „Dann ein anderes Beispiel: In einer Neubausiedlung wohnen zwei Nachbarn auf angrenzenden Grundstücken. Der eine ist Familienvater und hat sechs Kinder, der andere ist Lebemann und hat viele Freunde und Freundinnen. Der Familienvater verbringt die sommerlichen Wochenenden im Kreise seiner Familie, der Lebemann im Kreise seiner ‚friends‘. Der Familienvater brät Würste am Feuer und planscht im Pool. Der Lebemann feiert Feste im Pool und um den Pool herum. Nach einigen Wochen des tatenlosen Zuschauens ruft der Familienvater das Gericht an und ersucht es, dem Lebemann zu verbieten ‚Orgien‘ im Garten abzuhalten. Was ist die Position? Die Position ist klar: Ich will, dass du, Beklagter, ab sofort mit deinen ‚friends‘ nur noch im Hause herumgrölst. Woran erkennen sie, dass dies eine Position ist? Jawohl, es wäre möglich den Beklagten und seine Gäste auf einen Lastwagen zu packen und vom Pool ins Wohnzimmer zu transportieren. Was ist aber das Interesse?“ „‚Anstand‘ vielleicht, oder ‚Fürsorge‘ für seine Kinder vielleicht, oder ‚Ruhe‘?“ „Richtig! Und woran erkennen wir, dass es sich bei Fürsorge, Anstand oder Ruhe um Interessen handelt? Jawohl, es sind keine konkreten Sachen oder Handlungen, die bewegt oder ausgeführt werden sollen, sondern es ist das Motiv, das damit umschrieben wird, warum ich verlange, dass der andere etwas tun soll. Die Position ist also immer individuell-konkret, das Interesse generell-abstrakt. Vielleicht noch etwas: Je mehr es uns gelingt, ein Interesse abstrakt zu formulieren, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es später beim Verhandeln auch 32

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Interessen des Kunden

gelingt, eine gemeinsame Lösungsmenge zu finden. Eine Menge, die erlaubt, dass sowohl mein Interesse als auch das andere erfüllt werden: Feste am Pool feiern und Feste nicht am Pool feiern sind nicht verknüpfbar. Entweder – oder. Spass als Interesse für den Lebemann und Ruhe für den Familienvater sind hingegen verknüpfbar. Wie wäre es also möglich, die Wochenenden so zu gestalten, dass sowohl der Lebemann seinen Spaß als auch der Familienvater seine Ruhe hat? Sowohl als auch. Dies ist aber ein anderes Thema als ‚Gesprächsführung‘. Das Thema dort lautet Verhandeln. Ich werde in Ihrer Ausbildung darauf zu reden kommen. Wenn es soweit ist.“ Schauen wir uns nun einmal an, wie von Bubenberg praktisch die Interessen herausgefragt hat. Um wieder ins Geschehen hinein zu kommen, schauen wir uns nochmals die letzten Sätze an, welche die beiden miteinander gesprochen haben: „Nun zu den Zielen. Was möchten Sie, dass ich für Sie erreiche?“ „Ich will, dass Sie erreichen, dass Hanlord die Kündigung der Alleinvertriebsverträge rückgängig macht, das ist doch klar!“ „Sehr gut, und was ist Ihr Interesse daran, dass ich das tun soll? „Mein Interesse daran? Ich verstehe Ihre Frage nicht? Dürfte ich Sie bitten, mir etwas genauer zu erklären, was Sie unter Interesse verstehen?“ „Als Interesse bezeichnen wir etwa den Grund, warum wir möchten, dass der Beklagte etwas tun soll.“ „Der Grund ist klar, ich finde, dass sich Hanlord an die Verträge halten soll. ‚Pacta sunt servanda‘ habe ich mal selbst im Rechtsunterricht gelernt.“ „Schön. Lassen Sie uns einmal etwas präziser nachfragen: Was würden Sie verlieren, wenn es Hanlord möglich wäre, die Verträge zu kündigen?“ „Viel Geld natürlich!“ „Und neben Geld?“ „Es wäre für unser Renommee nicht gut. Der Relaunch von Hanlord hat in der Branche viel Aufsehen erregt. Hanlord ist eines dieser Produkte, die den neuen Lifestyle repräsentieren. Etwa wie Alessi, Montblanc, Apple, WatCH oder Hugo Boss.“ „Verstehe, und da Sie sich genau dort positioniert haben, wäre es für das Prestige Ihrer Firma schlecht, wenn Sie einen dieser Trendsetter im Angebot verlieren würden.“ „Genau so ist es.“ „Was würden Sie also gewinnen, wenn Sie Hanlord behalten könnten?“ „Wie Sie gesagt haben: Prestige.“ „Nur Prestige?“

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

„Lassen Sie mich nachdenken. Nein, auch Sicherheit. Erstens in Bezug auf Geld und zweitens in Bezug auf unsere Vision: Es wäre nicht schön, wenn wir eine unserer Kernmarken, von denen wir glauben, dass sie in den nächsten Jahren im Fokus unseres Zielpublikums sein werden, verlieren würden.“ „Sehr gut. Ihr Interesse oder Ihr Nutzen oder Ihr Ziel, warum Sie möchten, dass Sie weiter Hanlord-Produkte verkaufen können, wäre also Renommee, man könnte vielleicht auch sagen Anerkennung und Sicherheit: Anerkennung dadurch, dass Sie einer von denen sind, die die neuen Trendprodukte vertreiben und Sicherheit dadurch, dass Sie wissen, dass Sie weiter auf dem Weg zu Ihrer Vision sind. Ist das richtig?“ „Genau!“ Interessant ist vielleicht hier noch, wie von Bubenberg die Interessen herausgefragt hat. Sind Ihnen die Fragen auch aufgefallen? Nicht? Dann wiederhole ich sie noch einmal, nicht exakt, eher sinngemäß: „Was ist Ihr Ziel?“ „Warum wollen Sie Hanlord weiter im Sortiment führen?“ „Was erhoffen Sie dadurch zu gewinnen, dass Sie Hanlord weiter vertreiben können?“ „Was würden Sie verlieren, wenn Sie Hanlord verlieren würden?“ „Welchen Nutzen bringt Ihnen eine Fortführung der Partnerschaft zwischen Ihnen und Hanlord?“ „Was ist Ihr Nutzen, Ihr Motiv, Ihr Interesse daran, dass Sie die Hanlord-Produkte weiterverkaufen können?“ Alles präzise, offene, ziel- und lösungsorientierte Fragen, mit denen von Bubenberg herausfinden wollte, worum es Korb wirklich ging. Was ist das Interesse hinter der Position? Der Begriff „Interesse“ wurden von Roger Fisher und Bill Ury in ihrem Buch „Getting to yes“ in die Welt des Verhandelns eingeführt. Die beiden Autoren haben festgestellt, dass es beim Verhandeln sinnvoller sei, Interessen zu verknüpfen, als um Positionen zu streiten. Was ein Interesse aber inhaltlich genau ist, habe ich bei den beiden nicht erfahren. Auch nicht in Harvard selbst, wo Fisher und Ury gelehrt haben. Wenigstens nicht so, dass ich es begriffen hätte. Eine gute Erklärung, was genau ein Interesse ist und warum das von Fisher/Ury vorgeschlagene Vorgehen tatsächlich sinnvoll ist, habe ich erst bei Robert Dilts gefunden: Er erklärt es in einer Verbindung der „Logischen Ebenen“ mit einem Axiom Albert Einsteins, das besagt, dass ein Problem nicht auf der selben Ebene gelöst werden kann, auf der es sich zeigt. „Our thinking creates problems that the same type of thinking will not solve“ oder „The problems that we have created cannot be solved at the same level of thinking that created them.“ Wie ist das zu verstehen? Schauen wir uns zuerst einmal die logischen Ebenen an: Robert Dilts bestimmt sechs Ebenen, auf denen in lebenden Systemen Probleme 34

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Interessen des Kunden

auftreten können. Die Systeme können sowohl Menschen als auch Gruppen von Menschen sein, wie etwa Unternehmen. Die logischen Ebenen (nach Robert Dilts/Gregory Bateson/Bertrand Russel/Alfred North Whitehead) 6te Ebene:

Zugehörigkeit

Heimat, Mission, Dharma

mit wem?

5te Ebene:

Identität

Vision, Rolle, Aufgabe

wer?

4te Ebene:

Belief, Werte

Motivation, Ziel, Interesse

warum?

3te Ebene:

Fähigkeiten

Strategie

wie?

2te Ebene:

Verhalten

Aktion

was?

1te Ebene:

Umwelt

Reaktion

wann? wo?

Nach Einstein kann nun ein Umwelt-Problem nicht auf der Umwelt-Ebene gelöst werden, d. h. nicht durch Wechseln der Umwelt, sondern etwa durch ein anderes Verhalten, da sich das alte Verhalten auch in der neuen Umwelt wiederholen würde. Ein Verhaltens-Problem kann nicht durch andauerndes Wiederholen des gleichen Verhaltensmusters gelöst werden, sondern es muss ein neues Verhalten erlernt werden, d. h. man muss sich zusätzliche Fähigkeiten aneignen. Mangelt es auf der Fähigkeiten-Ebene, muss auf der Belief-Ebene interveniert werden: Der Glaube, die neue Fähigkeit erlernen zu wollen, muss generiert werden. Ich weiß, das klingt alles ungemein kompliziert, ist es aber nicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben heute zusammen in Gedanken Korb in Gerzensee besucht. Stellen Sie sich nun bitte einmal vor, ein Mann steht an einem Ufer des Gerzensees und möchte ans andere Ufer. Nun kann er aber nicht schwimmen. Auf welcher Ebene liegt sein Problem? Richtig, auf den Umwelt/Verhaltens-Ebenen: Er steht am See (Umwelt) und merkt, dass er kein adäquates Verhalten hat, um ans andere Ufer zu kommen! Denken, fluchen, Steine werfen nützen nichts. Was könnte helfen? Richtig, er muss sich eine neue Fähigkeit aneignen und diese Fähigkeit ist „Schwimmenkönnen“. Oder nehmen wir einmal die Kunst der Gesprächsführung. Wer das nicht kann, hat auch ein Umwelt-/Verhaltens-Problem: Er kann nämlich weder in der Kanzlei, noch in der Disco, noch in der Badeanstalt ein Gespräch so führen, dass das heraus kommt, was er gerne hätte. Wir können dem Mann oder der Frau nun helfen, indem wir ihm/ihr zeigen, was es mit der Synchronisation auf sich hat, wie man sich einfühlt und wie man die richtigen Fragen stellt. Was geschieht aber, und das ist mir schon mehrfach mit verschiedenen meiner Kandidaten passiert, wenn sie es einfach nicht kapieren? Sie argumentieren weiter, anstatt dass sie fragen, sie legen weiterhin ihre Sicht der Dinge dar, anstatt neugierig auf die fremde Sicht der Dinge zu sein. Sie glauben einfach nicht an den Satz, den mir einmal mein Lehrer gesagt hat: „Abplanalp, wenn Sie sprechen, lernt Ihr Gegenüber. Wenn Ihr Gegenüber spricht, lernen Sie selbst!“ Hier die logischen Ebenen noch mal, weil sie so wichtig sind. In der Form eines Blattes, wie ich sie mir mal selbst zusammengestellt habe:

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Die logischen Ebenen der Veränderung (nach Robert Dilts/Gregory Bateson/Bertrand Russel/Alfred North Whitehead) Zugehörigkeit mit wem? für wen? Heimat, Lebensaufgabe, Mission, Dharma, Sinn ich gehöre zu Identität wer? Rolle, Vision, Zweck ich bin Beliefs, Werte, Motive warum? Motivation, Interesse, Ziel ich glaube, ich will Fähigkeiten wie? Strategie ich kann Verhalten was? Aktion ich agiere Umwelt wo? wann? Reaktion ich reagiere Die obere Ebene bestimmt die untere Ebene. Ein Problem kann nicht auf der gleichen Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist. (Albert Einstein)

Wenn wir übrigens feststellen, dass jemand immer wieder den gleichen Fehler macht, obwohl man ihn schon sehr oft darauf aufmerksam gemacht hat, scheint die Lösung des Problems nach Einstein nicht auf der Fähigkeiten-Ebene zu liegen, sondern mindestens eine Ebene darüber. Vielleicht konnten einige meiner Kandidaten die Kunst der Gesprächsführung nicht erlernen, weil sie nicht geglaubt haben, nicht davon überzeugt waren, dass es wichtig ist, diese Kunst zu beherrschen? Oder weil sie geglaubt haben, dass nichts über ein treffendes Argument kommt. Oder weil sie geglaubt haben, dass das eh Unsinn ist, was „der Alte“ da erzählt. Vielleicht ist es doch so, wie Seneca einmal formuliert hat: „Nicht Können ist nur der Vorwand, nicht Wollen der Grund!“ Was ist dann zu tun? Nichts kann getan werden, solange der Kandidat nicht zu glauben begonnen hat, dass es tatsächlich wichtig ist, diese Kunst zu erlernen, so wie wir erst schwimmen, Schach spielen oder Aikido zu lernen beginnen, wenn wir glauben, dass es uns etwas nützt. Und dieser Nutzen ist das, was man auch als Motiv, Grund oder Interesse bezeichnen kann. Was könnte also das Interesse daran 36

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sein, Schach spielen zu können? Vielleicht könnte der Nutzen darin liegen, dass ich, wo immer ich mich auch aufhalte, relativ rasch jemanden finde, mit dem ich eine gemeinsame Tätigkeit ausüben kann. Mein Nutzen wäre dann „leichter Kontakt finden“ und damit vielleicht „Freiheit“. Was wäre der Nutzen von Aikido? Vielleicht „innere Ruhe“, also „Harmonie“, oder auch „Sicherheit“: Ich kann mit Aikido körperliche Angriffe leicht abwehren. Ich glaube, es gibt neun abstrakte Interessen gibt, auf die sich sämtlicher Nutzen, der sich denken lässt, zurückverfolgen lässt. Diese abstrakten Interessen sind: Freiheit, Sicherheit, Anerkennung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität, Fürsorge und Neugier. Als wir in Bern angekommen sind, hat mir von Bubenberg noch einige Blätter in die Hand gedrückt, die mit „Die neun Leitwerte“ überschrieben waren und gemeint: „Vielleicht hilft Ihnen das weiter! Denkkategorien sind unbewusste Handlungssteuerungen: Wer im Restaurant immer das bestellt, was er noch nicht kennt, „liebt das Neue“, wer immer das bestellt, was er schon kennt, liebt das „was er schon kennt“. Wer immer aus seiner Jugend erzählt, denkt eher „vergangenheitsorientiert“, wer stehts davon berichtet, was er im Leben noch alles unternehmen möchte, denkt eher „zukunftsorientiert“. Mit Hilfe dieser Leitwerte können Sie erkennen, wie ihre Mitmenschen ticken und indem Sie im Gespräch diese Muster übernehmen, eine große Übereinstimmung mit Ihrem Gegenüber erzeugen. Wenn Sie mit einem Buchhalter über Visionen reden, versteht er Sie nicht, da er nicht in so großen Einheiten denkt. Wenn Sie ihn aber auf der fünften Stelle nach dem Komma abholen, ist er mit Ihnen. Das ist alles nicht so einfach zu verstehen, aber wenn Sie sich ein bisschen damit auseinander setzen, werden Sie es kapieren. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“ Ich möchte Ihnen diese Blätter nicht vorenthalten und mich sonst ebenso in Schweigen hüllen wie mein Meister, denn das Glück lacht dem Tüchtigen! Die neun Leitwerte Freiheit Rolle: Der Unabhängige Kernwunsch: „Ich will machen, was ich will!“ Kernangst: „Immer bekommen die Anderen das, was ich möchte!“ Denkkategorie: zukunftsorientiert lösungsorientiert denkt in großen Einheiten macht, was er will liebt das Neue Wie mit ihm umgehen: Hilf ihm, sich selbst zu verwirklichen!

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Sicherheit Rolle: Der Beamte Kernwunsch: „Ich darf keine Fehler machen!“ Kernangst: „Wenn ich nicht auf alles vorbereitet bin, geht es schief!“ Denkkategorie: vergangenheitsorientiert problemorientiert denkt in kleinen Einheiten macht, was andere von ihm verlangen liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen? Sorge dafür, dass ihn nichts bedroht!

Anerkennung Rolle: Der Künstler Kernwunsch: „Sag mir, dass ich gut bin!“ Kernangst: „Ich werde nur für meine Leistungen geliebt!“ Denkkategorie: vergangenheitsorientiert verwandelt Probleme in Lösungen denkt in großen und kleinen Einheiten tut, was andere von ihm verlangen liebt, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Sag ihm, wie gut er ist!

Macht Rolle: Der Politiker Kernwunsch: „Ich möchte, dass Du das tust“ Kernangst: „Ich werde betrogen, deshalb muss ich alles unter Kontrolle haben!“ Denkkategorie: Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft lösungsorientiert denkt in großen Einheiten macht, was er und andere wollen liebt das Neue und das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Besiege ihn oder verbünde Dich mit ihm!

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Interessen des Kunden

Harmonie Rolle: Der Vermittler Kernwunsch: „Ich möchte, dass sich jetzt alle gut fühlen!“ Kernangst: „Ich bin nicht wichtig!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert vermeidet Probleme denkt in großen Einheiten macht, das, was andere wollen liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Hilf ihm dafür zu sorgen, dass sich alle wohlfühlen!

Intensität Rolle: Der Abenteurer Kernwunsch: „Ich will jetzt Spaß haben!“ Kernangst: „Niemand sorgt für mich!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert sucht aktiv nach Problemen, um bei Lösungsversuchen Spaß zu haben große und kleine Einheit tut was er will „polarity responder“ Wie mit ihm umgehen: „Widersprich ihm! (Er wird es mögen!)“

Integrität Rolle: Der Priester Kernwunsch: „Ich will nach meinem eigenen Lebensplan leben und handeln“ Kernangst: „Wenn ich nicht perfekt bin, kann ich nicht bestehen!“ Denkkategorie: zukunftsorientiert lösungsorientiert denkt in großen Einheiten, wenn es ihn selbst betrifft; in kleinen, wenn es um andere geht macht, was er will liebt das, was er schon kennt Wie mit ihm umgehen: Lass ihn in Ruhe!

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Fürsorge Rolle: Die Krankenschwester Kernwunsch: „Wo kann ich helfen?“ Kernangst: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich mich für andere aufopfere!“ Denkkategorie: gegenwartsorientiert lösungsorientiert denkt in kleinen Einheiten tut das, was andere von ihr verlangen liebt das, was sie schon kennt Wie mit ihr umgehen: Unterstütze sie dabei, anderen zu helfen!

Neugier Rolle: Der Wissenschafter Kernwunsch: „Wie funktioniert das genau?“ Kernangst: „Ich bin unfähig und nutzlos!“ Denkkategorie: untersucht die Vergangenheit, um die Zukunft zu gestalten lösungsorientiert denkt in kleinen Einheiten macht, was er will liebt das Neue Wie mit ihm umgehen: Bitte ihn um Hilfe bei der Lösung Deiner Probleme!

Nun nützt es aber nichts, wenn ich bloß weiß, was das Interesse des Mandanten ist. Nutzen kommt erst auf, wenn der Mandant sieht, dass ihm dieser seltsame Ausflug in die Psycho-Logik etwas bringt. Wie von Bubenberg diesen Schritt gemeistert hat, möchte ich als Nächstes beschreiben.

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Wahlmöglichkeiten

6. Kapitel Wahlmöglichkeiten Wie Sie dem Mandanten helfen, über den eigenen Tellerrand zu sehen „Drei Äpfel sind besser als einer!“ Sprichwort „Also Herr Korb, was Sie möchten ist, dass Sie Ihre Vision verwirklichen können und dass Sie weiter in dieses Prestige-Sortiment, das Sie anpeilen, hineinwachsen können. Ist das richtig?“ „Das ist sehr richtig.“ „Eine Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen ist die, dass Sie Hanlord-Produkte im Kanton Bern und in Freiburg vertreiben. Dieser Vertrieb ist im Moment gefährdet und Sie bitten mich, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Ihnen Hanlord die Verträge kündigt. Nun ist es oft sinnvoll, bevor man in Verhandlungen oder einen eventuellen Prozess einsteigt, sich zu überlegen, was für Alternativen man denn noch hat, seine Ziele zu erreichen, für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern.“ „Die Verhandlungen dürfen nicht scheitern, Herr Rechtsanwalt! Hanlord ist, entschuldigen Sie den Ausdruck, verdammt wichtig für die Verwirklichung unserer Vision. Wir brauchen starke Produkte für Frauen, da es je nach wie vor die Frauen sind, die hauptsächlich in Warenhäusern einkaufen.“ „Das verstehe ich und gerade deshalb scheint es sinnvoll zu sein, sich nach alternativen Zielerreichungsmöglichkeiten umzusehen. Denn wie sagte einmal ein Freund: Eine Lösung ist ein Problem. Zwei Lösungen sind ein Dilemma. Freiheit beginnt mit drei Lösungen.“ „Gut, ich verstehe Sie! Was gibt es sonst noch für Möglichkeiten? Wir könnten natürlich das weitermachen, was wir bis jetzt auch gemacht haben: Wir könnten uns um weitere starke Lifestylemarken bemühen. So ist es uns gelungen, bei den Italienern Alessi und Mandarina Duck an uns zu binden. Oder Bodum aus Dänemark. Und natürlich WatCH. Die neue Plastik-Uhr, der meiner Meinung nach eine sehr große Zukunft bevorsteht, wird auch in unseren Filialen erhältlich sein.“ „Haben Sie da Ideen, wie Sie Ihr Sortiment erweitern könnten?“ „Ja, wir könnten versuchen, ob wir Apple ins Sortiment bekommen oder einen Sony-Corner errichten können.“ „Gut, weitere Möglichkeiten?“ „Da viele der Marken eigene Boutiquen haben möchten, aber ihnen oft das nötige Know-how fehlt, haben wir uns auch schon überlegt, ob es nicht möglich wäre, Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

eine weitere Firma zu gründen, die dann mit internationalen Anbietern zusammen Shops in der Schweiz betreibt.“ „Sind Ihnen da Namen präsent?“ „Benetton etwa oder H&M. Vor einigen Wochen war ich in Amerika und da sind mir die neuen Kaffee-Shops aufgefallen: Die Amis geben dem Kaffee einfach Fruchtaromen bei und die, die den Kaffeegeschmack nicht mögen, trinken dann eben ein Haselnussgetränk.“ „Klingt gut. Könnten Sie diese Ideen mit der Idee von Hanlord, eigene Boutiquen zu eröffnen, verbinden?“ „Sehr gut, auf die Idee bin ich ja noch gar nicht gekommen: Wir könnten Hanlord anbieten, zusammen mit ihnen in der Schweiz eine Boutiquen-Kette aufzubauen. Sehr gut.“ „Wäre es auch vorstellbar, dass Sie in anderen Kaufhäusern Inhouse-Boutiquen zusammen mit Hanlord betreiben?“ „Vorstellbar schon, aber praktisch nicht durchführbar: Manor, Globus und wie unsere Konkurrenz sonst noch heißt, lässt uns nicht in ihre Häuser. Wir lassen die ja auch nicht zu uns rein. Nein, das geht nicht. Aber die Idee mit der Beteiligung an den Boutiquen ist gut. Sehr gut sogar.“ Was hat von Bubenberg hier gemacht? Er hat Korb geholfen, aus seiner engen, digitalen Vorstellungswelt, die nur genau zwei Wahlmöglichkeiten aufwies, nämlich „Hanlord bleibt“ oder „Hanlord geht“, auszusteigen und ihn erleben lassen, dass die Möglichkeit, in seinen Warenhäusern Hanlord-Produkte in Inhouse-Boutiquen zu verkaufen, nur eine Möglichkeit von vielen ist, seine Interessen zu verwirklichen. Er hat mit ihm, um mit den Worten von Fisher/Ury zu sprechen, seine BATNAs, die Best Alternatives To a Negotiated Agreement, erarbeitet. Die BATNAs umschreiben, wie man sein Ziel unabhängig von dem bereits angedachten Weg erreichen kann. BATNAs sind nicht leicht zu erarbeiten, da es, wie wir auch bei Korb gesehen haben, den Mandanten ziemliche Mühe machen kann, ihre eingespielten Denksysteme zu verlassen. Dafür ist der Erfolg, wenn es funktioniert hat, umso größer: Die Mandanten verlieren plötzlich ihre Panik und sehen, dass es auch andere Wege gibt, wie sie ihre Ziele sogar noch wirkungsvoller erreichen können als so, wie sie es sich gedacht haben. Dies macht sie flexibler und mächtiger zugleich, denn auch hier gilt das Gesetzt der notwendigen Vielfalt. „The Law of Requiste Variety“ besagt nämlich, dass auf lange Sicht ein System von demjenigen Element beherrscht wird, das das flexibelste ist. Diese Aussage deckt sich übrigens mit dem Leitspruch des großen Konstruktivsten Heinz von Förster, der formuliert hat „Handle stets so, dass die Zahl Deiner Wahlmöglichkeiten zunimmt!“ Zurück zu unserer Geschichte. Wir hatten nun genügend Infos und von Bubenberg bat Korb nun um eine Pause von einer halben Stunde, in der er mit mir das weitere Vorgehen besprechen wollte. Anschließend wollte er Korb kurz darlegen, was wir uns ausgedacht hatten. Korb fand die Idee gut. Er wollte die Pause nutzen, um noch einige Telefonate zu führen.

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Informationen reflektieren

7. Kapitel Nachdenken Wie Sie die gewonnenen Informationen verarbeiten „Slow down to speed up!“ Amerikanisches Sprichwort „Pausen sind wichtig“, erklärte mir von Bubenberg später auf der Rückfahrt nach Bern, „in Pausen können wir abschalten und unsere Gedanken neu ordnen. Und Mandanten schätzen Pausen. Sie finden sich geehrt, wenn man sich erlaubt, in ihrer Anwesenheit eine Auszeit zu nehmen, um über die Lösung ihrer Probleme nachzudenken. Halt, wir denken gar nicht über die Probleme nach. Das wäre falsch, wir denken nur darüber nach, welche Fragen beantwortet werden müssen, um den Fall zu lösen. Nehmen Sie mal den Zettel und schauen Sie sich die Fragen nochmals an. Vielleicht haben Sie nun Fragen zu den Fragen.“ Von Bubenberg überholte einen Traktor, ich angelte mir meine Aktentasche auf der Rückbank, wühlte darin herum und fand den „Draft“, den wir gemacht hatten, bevor wir die Fragen auf das Flipchart-Papier übertragen hatten: Was genau steht in dem Vertrag von 1961? Wie werden die gegenseitigen Leistungen umschrieben? Bestand tatsächlich eine Pflicht, die Hanlord-Produkte in der ganzen Schweiz zu vertreiben? Ist es möglich, dass diese mögliche Pflicht einseitig schriftlich oder durch konkludentes Verhalten aufgelöst werden kann? Wie können generell solche Verträge aufgehoben werden? Einseitig? Zweiseitig? Hat der Vertrag eine Gerichtsstandsklausel? Wo müsste geklagt werden? Welches Recht ist anwendbar? Schweizer Recht, österreichisches Recht? Gibt es Handelsbräuche? Wie lange könnte ein Prozess vor erster Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden? Wie lange könnte ein Prozess vor zweiter Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden? Wie lange könnte ein Prozess vor dritter Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden?

Doch kehren wir vorerst noch einmal nach Gerzensee zurück. Nach einer halben Stunde gingen wir ins Arbeitszimmer zurück und von Bubenberg erklärte Korb, welche Fragen es zu beantworten galt. Korb nickte, nickte nochmals, nickte immer wieder und nickte auch am Schluss, als ihm von Bubenberg mitteilte, dass er gerne bereit sei, für ihn diese Fragen zu beantworten, wenn er dies wünsche. Unser Stundensatz sei übrigens 300 CHF. Korb zückte seinen Füller und unterSchweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

schrieb die Vollmacht, die ihm von Bubenberg vorgelegt hatte, ohne zu zögern und ohne von Bubenberg eine einzige Frage zu stellen. Anschließend vereinbarten wir, dass er heute in einer Woche um 9 Uhr morgens zu uns ins Büro kommen werde. Dann verabschiedeten wir uns. Erst im Auto draußen kam ich wieder zu Sinnen: War es tatsächlich möglich, dass Korb uns mandatiert hatte, ohne dass wir nur eine einzige der gestellten Fragen beantwortet hatten? Ja, genau so war es! Korb hatte uns nicht dafür beauftragt, dass von Bubenberg ihm Antworten geliefert hatte, sondern dass von Bubenberg Fragen gestellt hatte! Dies war für mich eine phänomenale Erkenntnis. Hören wir einmal, wie von Bubenberg seine Vorgehensweise begründete: „Früher habe ich auch immer gemeint, dass der Anwalt gleich auf Anhieb alles lösen muss. Im Laufe der Zeit ist mir aber aufgefallen, dass man, bevor man Antworten geben kann, zuerst einmal die richtigen Fragen stellen muss, denn ich habe immer wieder erlebt, wie wir Anwälte Antworten gegeben haben, wo gar keine Fragen waren und dafür vergessen haben, die wirklichen Fragen zu stellen! Die Lektüre von Ludwig Wittgenstein hat mir da sehr geholfen, der irgendwo im ‚Tractatus‘ sinngemäß formuliert: ‚Nur wo eine Frage gestellt werden kann, kann auch eine Antwort gegeben werden!‘“ Ich habe später selbst einmal versucht, den „Tractatus“ zu lesen. Der Satz lautet ein wenig anders, nämlich: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ Von Bubenberg hatte ihn scheinbar positiv umformuliert. Aber was soll’s. Auch in der von Bubenbergschen Version, dem Bubenbergschen Konstrukt, erfüllt er seinen Zweck. Vielleicht sogar noch besser: Was nützt es etwa, dem Klienten alle juristischen Gesellschaftsformen aufzuzählen, wenn die Frage, warum der Mandant denn überhaupt eine Gesellschaft will, weder gestellt noch beantwortet ist! Und wie mir das klar geworden ist, habe ich begonnen, meine Erstkundengespräche anders zu führen und schon das erste Gespräch gab mir Recht: Ich hatte einen Kunden, der eine AG gründen wollte und zu mir kam, um von mir zu erfahren, wie er da vorzugehen habe. Normalerweise hätte ich ihm nun erklärt, was genau eine AG ist und wie das Gründungsprozedere geht. Diesmal ging ich aber anders vor. Ich begann zu fragen: In welcher Branche sind Sie tätig? Was machen Sie genau? Was machen Sie heute und wo wollen Sie in zehn Jahren sein? Wo wollen Sie dabei sein und wo soll die Firma sein? In welcher Rechtsform ist Ihre Firma bis jetzt organisiert? Wieviele Mitarbeiter haben Sie? Wieviel Umsatz haben Sie? Wie hoch ist der Gewinn?

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Informationen reflektieren Wie soll das in zehn Jahren aussehen? Wie sieht die Auftragslage heute aus? Warum wollen Sie eine AG gründen?

Am Anfang hat der zukünftige Mandant die Fragen alle brav beantwortet, aber etwa nach fünf Minuten meinte er etwas gereizt: „He, das Gespräch mit Ihnen habe ich mir aber schon anders vorgestellt! Ich habe gedacht, ich würde die Fragen stellen und Sie würden antworten. Aber nun ist es ja gerade umgekehrt!“ Dann atmete er tief durch und fügte hinzu: „Fahren Sie aber ruhig weiter so! Durch Ihr Fragen komme ich mir nämlich selber auf die Schliche: Ich beginne herauszufinden, was ich wirklich will!“ Am Schluss habe ich das Mandat erhalten. Und noch gleich ein anderes. Er verabschiedete sich nämlich mit folgender Bemerkung: „Wer so auf den Punkt herausarbeiten kann, worum es geht, der kann nur ein guter Anwalt sein! So einen kann ich gebrauchen! Wären Sie bereit, auch meine Scheidung zu übernehmen?“ Nach dieser Antwort war für mich eins absolut klar: Kompetenz zeigt man nicht durch Wissen, sondern durch Können! Wir machten zur Feier des Tages noch einen kleinen Abstecher: Wir fuhren vom Belpberg hinüber auf den Längenberg. Über Zimmerwald. Und dort zeigte mir von Bubenberg, in welchem Hotel Lenin gewohnt und die russische Revolution vorbereitet hatte. Über Köniz fuhren wir dann nach Bern zurück. Im Büro angekommen, bedankte ich mich zuerst bei meinem Chef für die tolle Ausfahrt und all das, was er mir beigebracht hatte. „Gern geschehen. Bis jetzt war es Spaß und nun geht es weiter mit Spaß. Bis jetzt habe ich Spaß gehabt, nun kommen Sie dran. Lassen Sie uns nun mal das weitere Vorgehen besprechen!“ Als erstes schauten wir uns die Fragen nochmals an und ergänzten hier oder dort etwas. Dann wollte er wissen, wie lange ich brauchen würde, diese zu beantworten? „Zwei Tage?“ „Gut, dann lassen Sie uns am Donnerstag wieder zusammensitzen. Sagen wir morgens um acht Uhr, dann können wir mal prüfen, ob wir alles haben!“ Die nächsten beiden Tage versuchte ich, die Fragen zu beantworten. Ich studierte die Gesetze, blätterte in der Literatur, las all die Unterlagen, die wir erhalten hatten und die, die wir noch nachgeliefert erhielten. Ein- oder zweimal rief ich Korb an und bat ihn, mir die eine oder andere Frage zum Sachverhalt zu erläutern. Dies tat er gerne und breitwillig, und so saßen von Bubenberg und ich am Donnerstag erneut zusammen und ich stellte ihm vor, was ich herausgefunden hatte. Das meiste gefiel ihm. Hier und da ergänzte er, hier und dort gab er mir noch einen Vertiefungsauftrag. Am Abend setzten wir uns erneut zusammen und nun war er Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

zufrieden. Er nahm die Unterlagen an sich und sagte, er werde etwa noch eine Stunde brauchen, um sich auf die Präsentation vorzubereiten, die wir am Montag halten würden. Auf meine Frage, wie ich mich vorbereiten könne und was ich dort genau tun solle, antwortete er: „Für Sie gibt es nichts vorzubereiten, und in der Präsentation müssen Sie vor allem wach sein! Ciao, bis am Montag um elf Uhr!“

8. Kapitel Präsentieren Wie Sie dem Mandanten Ihren Lösungsweg präsentieren und schließlich Ihr Mandat bekommen Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Sprichwort Das Wochenende verbrachte ich bei meiner Freundin Isa in Hamburg. Ich erzähle ihr von meiner Ausfahrt mit von Bubenberg und berichtete ihr auch von dem tollen Cabriolet meines Chefs. Wie nicht anders zu erwarten, ließ sie letzteres eher unbeeindruckt. Was sie aber sehr zum Staunen brachte war, dass sich mein Chef derart intensiv um meine Ausbildung kümmerte. Das hatte sie selbst, sie studierte Medizin, weder in amerikanischen Spitälern, wo sie ein halbes Jahr hospitiert hatte, noch in deutschen Kliniken auch nur annähernd erlebt. Ihre Oberärzte erklärten ihr nichts oder brüllten sie höchstens an, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. „Aufmunternde Kommentare erhielt ich eigentlich nur zu meiner Figur!“ meinte sie am Schluss ziemlich sarkastisch! Ein bisschen stolz bestieg ich deshalb in Altona den „Komet“ und war kurz nach acht Uhr wieder in Bern. Ich war sehr gespannt, wie von Bubenberg nun meine Recherchen präsentieren würde. Dies werde ich Sie gleich miterleben lassen, aber zuvor möchte ich Ihnen noch die Gedanken offenbaren, die von Bubenberg mir am Abend bei einem „Egger-Bier“ an der „Front“, so heißt der Platz in Bern, wo es die meisten Kneipen gibt, mit auf meinen weiteren Weg gegeben hat. „Wenn wir jemandem etwas präsentieren, müssen wir grundlegend davon ausgehen, dass der Andere uns nicht versteht. Das ist eine Erfahrung, die ich immer und immer wieder gemacht habe: Ich erkläre meiner Frau den Weg von unserem Haus in Muri an die Haldenstraße in Kehrsatz, wo ich mich abends mit einigen Freunden verabredet habe. Da ich weiß, dass bei diesen Treffen meistens auch ganz gut gebechert wird, bitte ich sie, mich um 23 Uhr dort abzuholen. Sie knurrt ein wenig, meint, ich würde sie auch nie abholen, wen sie mal alleine ausgehen würde. Ich widerlege ihr das leicht, schließlich ist man ja Anwalt, und schließlich willigt sie ein. Was geschieht aber nun? Meine Frau hat das Haus meines Freundes auch um 24 Uhr trotz mehrerer Nacherklärungsversuche per Telefon immer noch nicht gefunden! Oder: Ich versuche meinem Sohn Bendikt zu erklären, dass es sinnvoll ist, sich für die Vorbereitung der Matura alte Prüfungsaufgaben zu besorgen und diese zuerst einmal zu lösen um dabei festzustellen, was die Prüfer von ihm verlangen und was nicht. Damit er weiß, was er bereits kann, und was nicht. Das was er nicht kann, kann er sich anschließend erarbeiten. Das was er kann, gibt 46

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Lösungswege präsentieren

ihm ein Gefühl der Sicherheit. Und was tut er? Er lernt Wort für Wort, Satz für Satz, Seite um Seite Theorie, begreift sie nicht, versteht sie deshalb auch nicht anzuwenden und hat dann auch keine Zeit mehr, die Aufgaben der letzten Prüfung zu lösen und wundert sich dann, warum er die Prüfung doch tatsächlich nicht besteht. Oder meine Sekretärin: Ich sage ihr immer und immer wieder, dass sie morgens mit dem Zug zur Arbeit kommen soll, damit sichergestellt ist, dass wir um acht Uhr den Tag besprechen können. Und was geschieht? Sie verpasst den Zug, nimmt das Auto, kommt in den Stau und meine Tagesplanung ist im Eimer. Gut, selbstverständlich gilt auch hier, dass der, der nicht will, nicht kann, aber es scheint trotzdem möglich zu sein, dieses Können zu unterstützen. Ich glaube, es gibt dabei zwei Regeln: Reden Sie in Bildern und visualisieren Sie auf Teufel komm raus! Ich rate, auch wenn es für einen Juristen seltsam erscheint, zu Folgendem: Kleiden Sie das, was Sie erzählen wollen, in Geschichten. Erzählen Sie Stories. Benutzen Sie Metaphern. Eins ist mir nämlich vor Jahren bewusst geworden: Wenn ich etwas nicht rüberbringe, liegt es nicht am Anderen. Den kann ich nicht verändern. Es liegt alleine an mir. Mich kann ich aber verändern. Ich kann anders erzählen, andere Bilder verwenden, Beispiele machen, Fragen stellen und so weiter. Vielleicht stimmt es eben doch, was mir einmal ein bekannter Fernsehtalkmaster gesagt hat, als ich ihn an einer Veranstaltung unseres ‚Lion’s Club‘ gefragt habe, wie er den Widerstand seiner Gäste breche: ‚Es gibt keine störrischen Gäste. Es gibt nur unflexible Talkmaster.‘“ Vielleicht sind Sie nun gespannt darauf, wie mein Lehrmeister gezeigt hat, dass er ein wirklicher Talk-Master ist: „Lieber Herr Korb, Sie haben Herrn Abplanalp und mich vor einer Woche in Ihrem wunderbaren Haus in Gerzensee beherbergt und uns mitgeteilt, vor welchen Herausforderungen Ihre Firma im Moment mit der Firma Hanlord in Haag steht. Sie haben uns beschrieben, wie Sie seit 1961 sehr erfolgreich die Produkte von Hanlord in Inhouse-Boutiquen vertreiben. Sie haben uns auch die Vision Ihrer Firma mitgeteilt und betont, wie wichtig für Sie eine weitere Zusammenarbeit mit Hanlord in Bezug auf die Verwirklichung dieser Vision ist: Hanlord zählt zu den Marken, die ihre Zielgruppe, die etwas reicheren und modebewussteren Kunden, bevorzugt auswählen. Zudem ist sie seit dem Relaunch der Marke im Jahre 1980 wie Alessi, Hugo Boss oder WatCH zu einer absoluten Trendmarke geworden. Umso erstaunter waren Sie deshalb, als Ihnen Hanlord am 27. Februar 1984 den Alleinvertriebsvertrag mit der Begründung aufgekündigt hat, Sie würden dadurch, dass Sie die Produkte nicht in der ganzen Schweiz verkaufen würden und dadurch, dass Sie sich geweigert hätten, die Boutiquen neu zu gestalten, gegen den Geist des Vertrages verstoßen. Diese Behauptungen entbehren Ihrer Meinung nach jeder Grundlage. Leider hat ein Besuch in Haag, den Sie zur Klärung der Missverständnisse vor zwei Wochen durchgeführt haben, nichts eingebracht: Sie sind von den Verantwortlichen nicht einmal empfangen worden. So haben Sie sich entschlossen, unser Büro mit der Abklärung der Rechtslage zu beauftragen. Vor einer Woche haben Sie uns über den Sachverhalt informiert und zusammen haben wir folgende Fragen zusammengestellt, die wir, bevor wir zu einem Vorgehen raten können, beantworten müssen.“

Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung 1. Was genau steht in dem Vertrag vom 22. April 1961? 2. Wie werden die gegenseitigen Leistungen umschrieben? 3. Bestand tatsächlich eine Pflicht, die Hanlord-Produkte in der ganzen Schweiz zu vertreiben? 4. Wie kann der Vertrag aufgelöst werden? 5. Wie ist der Status quo rechtlich zu beurteilen? 6. Hat der Vertrag eine Gerichtsstandsklausel? Wo müsste geklagt werden? 7. Welches Recht ist anwendbar? Schweizer Recht, österreichisches Recht? 8. Gibt es Handelsbräuche? 9. Wie lange könnte ein Prozess vor erster Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden? 10. Wie lange könnte ein Prozess vor zweiter Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden? 11. Wie lange könnte ein Prozess vor dritter Instanz dauern? Was könnte er kosten: Gerichtskosten? Anwaltskosten? Wie hoch ist die Chance, dass wir obsiegen werden?

Von Bubenberg hatte, wie Sie sehen, die Fragen durchnumeriert und auf ein FlipChart-Blatt geschrieben. Dieses Blatt löste er vom Flip-Chart und pinnte es an eine der Metaplan-Wände, die er links und rechts des Flip-Charts aufgestellt hatte. Unter dem Flipchart waren weitere Blätter angeheftet, auf denen die Fragen am oberen Blattrand hingeschrieben waren und unten in einer Mischung aus Bildern und Worten die Antworten hingemalt und hingezeichnet waren. Das Blatt für die Frage zwei, die Frage nach den gegenseitigen Leistungen, sah etwa folgendermaßen aus:

WarenKorb

Hanlord

Leistung

Leistung

Hanlord-Produkte in der ganzen Schweiz in erstklassigen Verkaufsnischen anbieten Leistungsaustausch

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exlusive Lieferung in CH

Lösungswege präsentieren

Ich kann dieses Blatt hier so wiedergeben, weil ich die Blätter im Anschluss an die Präsentation fotografiert und einem Fotografen zur Herstellung von Abzügen übergeben habe. Diese Abzüge haben wir dann kopiert und am nächsten Tag an Korb verschickt. Ich habe von Bubenberg später einmal gefragt, warum er nicht einfach ein Gutachten verfassen, tippen lassen und verschicken würde. Seine Antwort war einfach: „Weil Worte im Kopf nicht hängen bleiben!“ Wie ich dann selbst als Anwalt zu praktizieren begonnen habe, habe ich zuerst, wie es sich so gehört, auch Aktennotizen verfasst und war dann immer sehr frustriert, wie ich feststellen musste, wie wenig meine Mandanten nach der Lektüre begriffen hatten, worum es in der Sache ging. Wie ich das herausgefunden habe, möchten Sie wissen? Ganz einfach dadurch, dass Sie mich immer wieder das Gleiche gefragt haben! Etwas, das ich ihnen doch schon ein dutzend Mal wortreich erklärt hatte. In meiner Verzweiflung habe ich es dann einmal mit von Bubenbergs „seltsamer Methode“ versucht und siehe da, die Mandanten haben doch tatsächlich bedeutend weniger Fragen gestellt. Ich habe mir dann in meiner Begeisterung eine Art elektronisches Flipchart gekauft, das alle Blätter auch als Zeichnungen ausdrucken konnte. Panasonic hat einmal so etwas hergestellt. 10.000 CHF hat mich das Ding gekostet aber ich glaube, das Geld war gut angelegt. Heute fotografiere ich die Bilder einfach mit der Digitalkamera und maile sie den Mandanten zu. PowerPoint mag ich nicht. Da ist mir zu wenig Handwerk dabei. Aber wer es toll findet, soll es ruhig nutzen. Ein befreundeter Anwalt erstellt gemeinsam mit seinen Klienten auf seinem Laptop Mind Maps. Damit es vor dem Bildschirm kein Gedränge gibt, benutzt er einen Beamer, mit welchem er die Mind Maps an die Wand projiziert. Die moderne Technik hat das Leben schon irgendwie einfacher gemacht! Doch nun zurück zum Gespräch: Von Bubenberg hat also eine Frage nach der andern beantwortet und am Schluss alles zusammengefasst. Die Zusammenfassung hat er wiederum sowohl gezeichnet als auch mündlich vorgetragen: „Zusammenfassend kann ich also Folgendes sagen: Die Vision Ihres Unternehmens ist es zu erreichen, dass jeder Haushalt des oberen Mittelstandes mindestens einmal pro Woche ein Produkt aus ihrem Sortiment erwirbt. Als Strategie zur Verwirklichung Ihrer Vision haben Sie sich entschlossen, die Verkaufsbemühungen auf einige der Marken zu fokussieren, von denen Sie glauben, dass Sie in den nächsten Jahren sehr stark im Trend sein werden: Hugo Boss, WatCH, Alessi und Hanlord, um nur einige zu nennen. Nun sieht es so aus, als würde Ihnen Hanlord einen Strich durch die Rechnung machen, indem sie den Alleinvertriebsvertrag per Ende Jahr gekündigt hat. Sollte diese Kündigung tatsächlich umgesetzt werden, befürchten Sie, dass dies gegenüber Ihrem Publikum ein falsches Signal setzen könnte und Sie einen beachtlichen Teil Ihres Renommees einbüßen könnten. Dem möchten Sie entgegenwirken und bitten uns deshalb alles zu tun, damit Sie Ihre Vision weiter verwirklichen können und weiter in dieses Prestige-Sortiment, das Sie anpeilen, hineinwachsen können. Wie ist nun vorzugehen, um dieses Ziel zu verwirklichen? Lassen Sie mich dazu einmal ein wenig ausholen und auch ein bisschen philosophisch werden: Wenn sich einem Ziel, das wir erreichen möchten, jemand in den Weg stellt und versucht, uns von der Zielerreichung abzuhalten, so sind wir in einer Lage, die wir als Konflikt bezeichnen könnten: Ich möchte etwas erreichen, das ein anderer nicht möchte! Nun gibt es grundsätzlich drei Arten, einen solchen Konflikt zu lösen: Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Die ursprüngliche, die juristische und die ökonomische Lösungsform. Lassen Sie mich dazu einige Worte sagen: Die ursprüngliche Lösungsform ist die Lösungsform, die wir Menschen schon seit tausenden von Jahren praktizieren und es ist wohl auch die, die bei uns biologisch an tiefsten verankert ist. Wenn sich mir jemand in den Weg stellt, habe ich grundsätzlich zwei Alternativen: Entweder flüchte ich oder ich räume den Widersacher aus dem Weg! Flüchten oder standhalten. Dazu muss ich mich in Sekundenschnelle entscheiden: Bin ich stärker oder ist der Gegner stärker? Wenn ich mich entschieden habe, dass ich stärker bin, dann greife ich an und versuche den anderen zu vernichten. Das war bei den Höhlenbären so und das ist heute noch so: Ist irgendjemand in einer Diskussion anderer Meinung, so ist der erste Impuls oft: ‚Der Idiot, was fällt dem ein, mir zu widersprechen!‘ Entschuldigen Sie bitte meine grobe Ausdrucksweise, aber ich möchte die Sachen auf den Punkt bringen.“ Korb lachte. „Fahren Sie ruhig fort. Ich bin mir aus Südamerika noch ganz andere Ausdruckformen gewohnt!“ „Danke! Da es aber nun in den meisten Fällen nicht angebracht ist, den Anderen mitsamt seiner Meinung zu vernichten, versuchen wir wenigstens seine Meinung niederzuringen: Das Prinzip hier heißt zurückschlagen und vernichten! Oder etwas zivilisierter ausgedrückt: Abstreiten, dagegen argumentieren, vom Gegenteil überzeugen! Macht anwenden. Bildlich dargestellt sieht das so aus:

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Lösungswege präsentieren

vorher:

entweder:

nachher:

oder:

Zurückschlagen und vernichten (Macht)

Manchmal kam es aber vor, dass in der Hitze des Wortgefechtes nicht nur Worte eingesetzt wurden, sondern dass auch versucht wurde, nicht nur die Meinung des Gegners zu vernichten, sondern den Gegner auch gleich mit. Es ist klar, das dieses Vorgehen in einer organisierten Gesellschaft nicht tolerierbar ist und deshalb wurde die Gewalt monopolisiert und das Recht erfunden: Wer seine Meinung von einem anderen Menschen bedroht fühlt, wird aufgefordert, nicht mehr Selbstjustiz zu treiben, sondern sich an den Staat zu wenden. Der Staat setzt ein Gericht ein und dieses Gericht entscheidet, wessen Meinung die richtige und wessen Meinung die falsche ist. Seit den Römern ist das Prozedere hier das gleiche: Es wird das Recht angerufen, d.h, ich untersuche den Sachverhalt, suche nach den juristischen Ansprüchen, beweise diese und bitte den Richter, diese zu schützen. Die Gegenpartei tut das gleiche und der Richter entscheidet, wer Recht hat und wer Unrecht hat. Das Prinzip lautet hier nicht mehr zurückschlagen und vernichten, sondern klagen und verurteilen lassen!

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Gericht

vorher:

entweder:

nachher:

oder:

Klagen und verurteilen lassen (Recht)

Auf einer höheren Ebenen sind aber Prinzipien wieder gleich: In beiden Fällen versuche ich, meine Meinung gegen die Meinung der anderen Partei durchzusetzen. Meine Meinung soll gewinnen, die andere soll verschwinden. Solche Verfahren werden Gewinner/Verlierer oder Nullsummenspiele genannt: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Beobachtungen haben nun gezeigt, dass solche Gewinner/Verliererspiele die Tendenz haben, auf lange Sicht zu Verlierer/Verlierer-Spielen zu werden, da ein Mensch, der einmal verloren hat, oft nur auf eines sinnt: Auf Rache nämlich! Der Erste Weltkrieg, die Versailler Verträge und der daraus resultierende Zweite Weltkrieg können hier vielleicht als Beispiel dienen. Oder ‚Michael Kohlhaas‘ oder ‚Der Graf von Monte Christo‘. Aus diesem Grund wurde immer wieder versucht, andere Konfliktlösungsverfahren zu entwickeln, Verfahren, die nicht in Nullsummenspielen enden. Heute sind hier vor allem das kooperative Verhandeln und die Mediation bekannt. 52

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Lösungswege präsentieren

Im kooperativen Verhandeln und in der Mediation geht es nicht mehr darum, durch einen Dritten feststellen zu lassen, wer Recht hat und wer nicht, sondern es geht darum, selbständig und mit möglichst geringem Kostenaufwand Lösungen zu finden, die vielleicht nicht voll den beiden juristischen Ansprüchen, aber doch voll den Interessen der Parteien entsprechen. Die Formel lautet hier also nicht zurückschlagen und vernichten, auch nicht klagen und verurteilen lassen, sondern Interessen herausarbeiten und gemeinsam Lösungen finden.

vorher:

nachher:

Interessen herausarbeiten und gemeinsam Lösungen finden (Interesse)

Lassen Sie mich diese drei Prinzipien an einem Fall kurz darstellen: Sie kaufen eine Uhrenrarität, etwa eine Patek Philippe Referenz 3410 mit dem berühmten amagnetischen Werk Kaliber 27-AM 400 von 1961 zum Preis von 20.000 CHF. Die Uhr hat ein Zertifikat, das, wie sich leider zwei Jahre nach dem Kauf herausstellt, gefälscht ist, ebenso wie die Uhr, die kein Originalwerk aufweist. Was können Sie nun tun? Die erste Reaktion ist die natürliche: Sie kriegen einen Wutanfall und würden am liebsten gleich zum Händler rennen, ihm die Uhr vor die Füße werfen und ihm genau zehn Sekunden Zeit geben, Ihnen die zwanzig Riesen wieder rauszurücken. Hier wirkt das Prinzip Macht: zurückschlagen und vernichten. Da Sie aber ein zivilisierter Mensch sind und wissen, dass sich dies nicht gehört, rennen Sie nicht selbst zum Verkäufer sondern lassen rennen: Sie holen sich einen Anwalt und dieser verklagt den Händler: Der Richter soll veranlassen, dass der Kauf rückgängig gemacht wird, der Händler die Uhr zurücknimmt und Ihnen die 20.000 CHF wieder zurückgibt. Um dies durchzusetzen, findet er im Gesetz juristische Ansprüche, die er minutiös begründet. Hier gilt das Prinzip Recht: klagen und verurteilen lassen! Eine dritte Möglichkeit wäre die, dass Sie versuchen, mit dem Uhrmacher ins Gespräch zu kommen und eine Lösung zu finden, die berücksichtigt, dass sie beim Kauf wohl beide Fehler gemacht haben: Der Uhrmacher, indem er die Uhr in Kommission verkauft hat ohne sie selbst zu prüfen und Sie, indem Sie es ebenfalls Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

unterlassen haben, sie einem zweiten Uhrmacher vorzulegen. Auch berücksichtigen Sie dabei Ihr Ziel: Ihr Ziel ist es, schöne Uhren als Kapitalanlage zu sammeln und das Ziel des Uhrmachers ist es, mit Hilfe seines bis anhin exzellenten Rufes weiter gute Geschäfte zu machen: Sie kommen dabei zu einer Lösung, in welcher er die Uhr zurücknimmt und Ihnen stattdessen zu seinem Ankaufspreis von 22.000 CHF eine Audemars Piquet aus den 40er Jahren überlässt. Bei dieser Lösung sind beide zufrieden: Sie haben eine andere wertvolle Uhr in Ihrer Sammlung und der vorzügliche Ruf des Uhrmachers und damit seine Geschäftsgrundlage wird nicht durch einen öffentlichen Prozess gefährdet. Hier wirkt das Prinzip Interesse: Motive herausarbeiten und gemeinsame Lösung finden. Ich würde Ihnen in Ihrem Falle ebenfalls zu einer solchen dritten Lösung raten: Wir sollten nicht nach Rache trachten und auch nicht versuchen, vor Gericht unsere Ansprüche durchzusetzen, sondern eine Lösung zu finden, in der es nicht Gewinner und Verlierer gibt, sondern nur Gewinner. Ich würde also vorschlagen, dass wir durch kooperatives Verhandeln eine Lösung finden, die vielleicht nicht Ihre Ansprüche vollständig befriedigt, aber doch Ihre Interessen vollumfänglich verwirklicht. Ich habe mir übrigens erlaubt, das ganze Schema, ich nenne es das Rad der klassichen Konfliktlösungsmöglichkeiten, auf einem Blatt zusammen zu fassen. Vielleicht können sie es ja mal anderweitig gebrauchen.“ Von Bubenberg verteilte das Blatt und wir studierten es aufmerksam.

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Lösungswege präsentieren

annihilation vernichten

konfrontativ

negotiation verhandeln

Macht

litigation verurteilen

kooperativ Recht

arbitration vorschlagen

Interessen

mediation vermitteln

Das Rad der klassischen Konfliktlösungsformen

Nach einer Minute fuhr er fort. „Zurück zu unserem Fall. Wie sollten wir vorgehen? Was meinen Sie?“ „Ganz Ihrer Meinung, Herr Professor“, antwortete Korb etwas geistesabwesend, „ was schlagen Sie also als ersten Schritt vor?“ Von Bubenberg schlug vor, mit Hanlord Kontakt aufzunehmen und Verhandlungen vorzuschlagen. Wenn Halnord einverstanden sei, müsse diese Verhandlung vorbereitet und gemeinsam bestritten werden. In der Verhandlung selbst sollte versucht werden, gemeinsam eine Lösung zu finden, die beiden Parteien mehr bringen würde als die Aufhebung der Verträge per Ende Jahr. Korb stimmte zu. Zwei Tage später trafen wir uns wieder und von Bubenberg und Korb bereiteten die Verhandlung minutiös vor. Dann schrieb Korb Hanlord einen kurzen Brief, in welchem er ihnen mitteilte, dass wir mandatiert seien und dass es uns sehr an einer kooperativen Lösung gelegen sei. Auf den Brief erhielten wir keine Antwort. Stattdessen wurde uns etwa einen Monat später vom Gericht in Bregenz (Gerichtsstand laut Vertrag vom 22. April 1961: Bregenz!) die Kopie einer Klage zugestellt. Der gegnerische Anwalt war sich seiner Sache wohl derart sicher, dass er es nicht einmal für nötig gehalten hatte, uns von seiner Mandatierung zu unterrichten! Von Bubenberg lächelte milde, nahm den Fehde-Handschuh auf und reichte in ZusammenSchweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

arbeit mit einem österreichischen Kollegen Widerklage in Millionenhöhe ein. Die Widerklagesumme war der Betrag, den WarenKorb in den nächsten 20 Jahren verlieren würde, wenn Hanlord ihren Vertragspflichten widerrechtlich nicht mehr nachkommen würde. Dazu kamen noch Image-Schaden und weitere Vermögensverluste, die er sich, wie er selbst zugab, mehr aus den Fingern gesogen als rechtlich hiebund stichfest begründet hatte, denn die Klage sollte nur eins bewirken: Hanlord zeigen, dass WarenKorb auch anders als freundlich und kooperativ sein konnte! Die Widerklage tat ihre Wirkung, denn alsbald rief der gegnerische Anwalt an und bat um einen Verhandlungstermin. Die Verhandlungen liefen dann, um es kurz zu machen, ziemlich gut ab: Man einigte sich darauf, dass WarenKorb die HanlordProdukte in den angestammten Geschäften weiterhin führen durfte, das spezielle Schweizer Know-how den Vorarlbergern zur Verfügung stellen würde und mit ihnen gemeinsam Boutiquen in anderen Schweizer Städten errichten würde. Es wurde also etwa die Lösung ausgehandelt, die wir schon in Gerzensee angedacht hatten. Wie ich dann einige Monate später bei der Vertragsunterzeichnung in Haag erleben durfte, waren beide Seiten sehr zufrieden mit dem Resultat und sowohl Hanlord als auch Korb waren voll des Lobes für von Bubenberg, den beide als „sehr kreativen und sehr zielstrebigen Verhandlungsführer“ lobten. Interessant ist hier zu sehen, dass Hanlord erst auf den Interessenausgleich eingewilligt hat, als von Bubenberg ihnen gezeigt hat, dass er auch mit Recht umgehen kann! Das scheint wieder einmal zu bestätigen, dass Graves/Beck/Covan mit ihrem Modell der „Spiral Dynamics“ doch Recht haben, wenn sie behaupten, dass die Art und Weise, wie man einen Konflikt lösen kann, viel mit dem Bewusstseinszustand zu tun hat, über den die beteiligten Parteien verfügen: Mit Macht lösen Menschen Konflikte, die sich hauptsächlich in den ersten drei (instinkiv, animistisch und egozentrischen) Bewusstseinszuständen aufhalten, mit Recht solche, der zwei nächsten (systemgläubig, erfolgsorientiert) und für die Konfliktlösung mittels Interessenausgleich braucht man mindestens Level 6 (soziozentrisch, dann gibt es drüber noch integrativ und holistisch). Nur für Macht zugänglich wären nach ihrem Modell in Europa und den USA rund 30 % der Bevökerung, für Macht und Recht 60 % und für Macht, Recht und Interessenausgleich 10 % der Bevölkerung. Hier eine kleine Zusammenstellung: Bewusstseinsentwicklung und Fähigkeit, ein Problem mit Hilfe von Macht, Recht oder Interessenausgleich lösen zu können nach den „Spiral Dynamics von Graves/ Beck/Cowan Menschen auf diesen Bewusstseinsstufen akzeptieren Konfliktregelung nur mittels Macht: 1. Instinktiv (beige) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite:

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erste menschliche Gemeinschaften Instinkte und angeborene Sinne schärfen „Ich muss nur den Tag und die Nacht überstehen!“ Impulsiv, präkonventionell Nach der Geburt und vor dem Tod Geisteskranke Stadtstreicher, Terroropfer 0,1 % der Bevölkerung 0%

Lösungswege präsentieren 2. Animistisch (purpur) Historisch: Haupptätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite: 3. Egozentrisch (rot) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite:

Ethnische Stammesgemeinschaften Harmonie und Sicherheit in einer geheimnisvollen Welt suchen „Überall Stimmen, Augen und Monster, die nachts lebendig werden!“ Egozentrisch, präkonventionell Kindheit Sportmannschaften, Seilschaften in Unternehmen und Dritte Welt 10 % der Bevölkerung 1% Feudalreiche stark sein, sich selbst ausdrücken, nach Freiheit streben „Der Stärkere überlebt!“ egozentrisch, prä- und konventionell Pubertät Rebellen, epische Helden und New-Age-Narzisten 20 % der Bevölkerung 5%

Menschen auf diesen Bewusstseinsstufen akzeptieren Konfliktregelung mittels Macht und Recht: 4. Systemgläubig (blau) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite: 5. Erfolgreich (orange) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite:

konfuzianisches China, puritanisches Amerika, modernes Singapu Ordnung schaffen, Zweck und Ziele bestimmen „Himmel, Erde und alle Kreaturen bestehen zur Ehre Gottes!“ konformistisch, konventionell Lehre, Militär, Studium monotheistischer Fundamentalismus, Patriotismus, Moral Majority 40 % der Bevölkerung 30 % Aufklärung, Materialismus analysieren und planen zum persönlichen besseren Gedeihen „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ gewissenhaft, konventionell erfolgreiche Berufstätige Mittelklasse, Wall Street, Kalter Krieg, 30 % der Bevölkerung 50 %

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung Menschen auf diesen Bewusstseinsstufen akzeptieren Konfliktregelung mittels Macht, Recht und Interessenausgleich: 6. Soziozentrisch (grün) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite: 7. Integrativ (gelb) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite: 8. Holistisch (türkis) Historisch: Haupttätigkeit: Grundglaube: Ich-Identität: Entwicklungspsychologisch: Freiwillig: Vorkommen generell: Vorkommen in der politischen Elite:

Postmodernismus, Babyboomer streben nach Gleichberechtigung, Erforschen des eigenen Inneren „Der menschliche Geist muss von Habgier, Dogma und Entzweiung befreit werden!“ Individualistisch, konventionell und postkonventionell Aussteiger Menschenrechtsbewegung, Ökobewegung, Feminismus 10 % der Bevölkerung 15 % Holarchien (noch nicht verwirklicht) Systeme einpassen und integrieren „Das Leben ist ein Kaleidoskop natürlicher Hierarchien, Systeme und Formen!“ autonom, postkonventionell Widereinsteiger Elitäre Zirkel 1 % der Bevölkerung 5% universell-holistisch (n. n. v.) Synergien erzeugen und große Einheiten verbinden „Die Welt ist ein einziger, dynamischer Organismus mit kollektiver Vernunft!“ aufgelöst, postkonventionell Erleuchtet Sanghas 0,1 % der Bevölkerung 1%

Wer sich da einlesen möchte, sei das Buch von Beck/Cowan, „Spiral Dynamics“, oder „Nachhaltig handeln“ von Ken Wilber sehr empfohlen! Ich selbst habe ein Jahr später meine Praktikumszeit bei von Bubenberg beendet und zwei Jahre später meine Fürsprecherprüfung vor dem Obergericht in Bern abgelegt. Von Bubenberg treffe ich von Zeit zu Zeit als Gegenanwalt, was meistens problemlos ist, da wir jeweils relativ rasch und im Interesse beider Mandanten außergerichtliche Lösungen finden. Wenn wir uns dann manchmal nach den Verhandlungen noch auf eine „Stange“ (Bier) treffen, kann es auch vorkommen, dass wir dann über meine Zeit als Kandidat in seinem Büro reden und ich erkundige mich dann, wie sich dieses oder jenes Mandat entwickelt hat. Vor einiger Zeit hat er mir auch erzählt, dass er WarenKorb immer noch vertritt und das die Geschäftsbeziehungen zwischen der Warenhauskette und Hanlord ohne jegliche Probleme auch nach dem 31. Dezem58

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Lösungswege präsentieren

ber 2001, dem Ablauf des damals zur Diskussion stehenden Alleinvertriebsvertrages, fortgeführt wurden. Auch Hanlord sei, so meinte er einmal bescheiden, einigermaßen zufrieden mit seinen Leistungen gewesen, so dass er die Firma sogar schon einige Male habe vertreten dürfen und für die Winterkollektion 03/04 habe die Firma, das wage er kaum zu sagen, zwei Kleiderlinien nach seinen Töchtern Beate und Beatrice benannt. Aber vielleicht sei das ja auch bloß Zufall. Nun zum Abschluss noch einige theoretische Bemerkungen: Von Bubenberg geht, wie wir gehört haben, davon aus, dass niemand niemanden versteht. Das ist auch eines der Axiome des NLP: Es gilt der Satz von Korzybski „Die Landkarte ist nicht das Gebiet!“ Es gibt eine Wirklichkeit, aber diese ist für den Menschen unerreichbar, da sie sich jenseits seiner sinnlichen Wahrnehmung befindet, die alles filtert, ordnet und bewertet. Wir nehmen das wahr, was wir gewohnt sind wahrzunehmen oder wahrnehmen wollen und nicht das, was ist. Vor einigen Jahren ist mir das sehr drastisch aufgefallen: Ich war bei einem Meditations-Retreat in Meran und wohnte mit einigen Freunden in einem Vielbettzimmer im Hotel. Nach einigen Tagen machten mich meine Mitbewohner darauf aufmerksam, dass ich in der Nacht heftig schnarchen würde. „Was soll’s“, sagte ich, „schnarcht doch einfach mit!“ So absurd der Vorschlag auch geklungen hat, meine Zimmerkollegen versuchten es eine Nacht lang, aber es gelang ihnen nicht, sich mit mir zu synchronisieren, wie ich es selbst in der Offiziersschule gelernt hatte, als der absolute Weltmeister im Schnarchen 18 Wochen lang neben mir sein Holz sägte. So fragten sie mich dann, ob ich nicht vielleicht die Freundlichkeit hätte, irgendwo anders zu nächtigen. Kein Problem, dachte ich mir, ich bin ja flexibel! Ich hatte ja auch noch das Zelt mit dabei. Also ging ich zum Campingplatz hoch, wo ich zu Beginn der Veranstaltung einem Freund geholfen hatte, sein Zelt aufzubauen. Mit großer Freude sah ich nun, dass die Veranstalter mitten auf dem Platz ein großes Armeezelt aufgebaut hatten, das leer stand. Ich musste also mein Zelt nicht aufbauen, sondern konnte mich jeden Abend ganz einfach dort hinein zum Schlafen legen, was ich dann auch tat. Am Abend erzählte ich dann, dass es ja schon toll sei, dass sie die Organisatoren genau an dem Tag, an dem ich einen Schlafplatz gebraucht hätte, dieses Zelt hier aufgestellt hätten. Meine Freunde sahen mich verwundert an: „Das haben die nicht heute gebaut! Das steht schon die ganze Zeit da!“ Ich lachte und wußte, dass es eben tatsächlich so ist: Unsere Wahrnehmung ist selektiv, was nicht in unserem Fokus ist, nehmen wir nicht wahr. Wenn wir uns verständlich machen wollen, müssen wir also wissen, das dies sehr schwierig ist, da es scheinbar tatsächlich so ist, wie von Bubenberg sagt: „Niemand versteht niemanden!“ Um aber trotzdem etwas rüber zu bringen, ist es sinnvoll, sich zwei weitere Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaften zu Nutze zu machen: 1. Ob mich jemand versteht oder nicht, hängt zu 7 % von dem ab, was ich sage und zu 93 % von dem, wie ich es sage! 2. 50 % aller Menschen verstehen etwas nur, wenn sie es sehen.

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

Somit lag von Bubenberg absolut richtig, wenn er sagte, dass es richtig ist, in Bildern, Geschichten und Metaphern zu sprechen und alles, was gesagt wird, irgendwie an die Wand zu pinnen. So können wir wenigstens sicher sein, dass uns etwa jeder zweite Zuhörer versteht. Manchmal überlege ich mir, warum er wohl zur Begründung seines beabsichtigten kooperativen Vorgehens so weit ausgeholt hat und den ganzen Sermon der drei Vorgehensweisen vorgetragen hat. War das wirklich nötig gewesen? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es auch die Wirkung des Sherrys, den Korb als Gastgeschenk mitgebracht hatte und mit dem wir vor der Präsentation auf „Gute Zusammenarbeit!“ anstießen? Vielleicht frag ich ihn mal, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Das war’s, was ich zu berichten habe. Nehmen Sie das für sich mit, was Sie gebrauchen können und vergessen Sie das, was Sie für wenig geeignet halten. Wichtig ist mir eines: Alles, was ich hier erzählt habe, sind Landkarten, Abbilder der Wirklichkeit, Konstrukte, also Lügen und nicht mehr. Wer sich trotz des Lügencharakters all meiner Ausführungen etwas tiefer und vor allem praktisch mit den Techniken, von denen ich hier erzählt habe, auseinandersetzen möchte, dem sei eine NLPPractitioner-Ausbildung empfohlen. Solche Ausbildungen führt etwa die FIRM durch, ein Institut der Fernuniversität Hagen. Man kann sich dort in 18 Tagen zum „Practitioner of the Art and Science of NLP“ und zum „Softskill Manager Firm/ Uni Hagen“ ausbilden lassen. Mehr Infos unter: [email protected] oder www.firmweb.de. Wer sich für die Bilder des Malers Alexander Jeanmaire interessiert und sich vielleicht auch wie von Bubenberg oder Korb in die Reihe der Sammler einreihen möchte, der kann mit dem Maler Kontakt aufnehmen über www.alexander.jeanmaire.ch. Lassen Sie Alexander ganz herzlich von mir grüßen! Morgen steige ich übrigens wieder ins Tal hinab. Arbeiten! Denn mit Philosophieren alleine gewinnt man keine Kunden. Oder? Soweit die Geschichte von Rechsanwalt Abplanalp. Ob es mir gelungen ist, die Theorie verständlich in die beschreibende Praxis umzusetzen? Bitte urteilen Sie selbst.

9. Kapitel Verständnisfragen Dürfte ich Sie nun zum Schluss bitten, die folgenden Fragen zu beantworten. Damit können Sie prüfen, ob auch Sie etwas von den Ausführungen der Herren Fürsprecher mit nach Hause genommen haben: 1. Warum erzähle ich nicht in der Ich-Form? Milton Erickson (Bandler, Richard/Grinder, John/DeLozier, Judith: Patterns of the Hypnotic Techniques of Milton H. Erickson, M. D. Volume 1/2 1975/1977) hat die widerstandsfreie Sprache entwickelt. Er behauptet, dass, wenn ich sage „Du könn60

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Verständnisfragen

test das auch anders machen!“, gebe ich meinem Gegenüber die Chance, Widerstand gegen mich aufzubauen. Wenn ich aber sage, „Unser gemeinsamer Freund Franz ist der Meinung, dass Du es auch anders machen könntest!“, dann wird sich die Wut nicht auf mich richten, sondern auf Franz und mir als Sprechenden wird kein Widerstand entgegengebracht. Wenn ich das „Milton-Modell der widerstandsfreien Sprache“ weiter anwende, würde ich natürlich nicht so direkt indirekt vorgehen, sondern eher sagen „Unser gemeinsamer Freund Franz glaubt, dass es eine sehr effiziente Vorgehensweise gibt und diese ist folgende: ….“ Dass Franz das tatsächlich gesagt hat und damit einverstanden ist, dass ich seine Meinung weitergebe, setze ich voraus. Wer sich weiter für diese Sprache interessiert, die sehr gerne von Politikern verwendet wird, kann seine Neugier befriedigen in Grinder, John/Bandler, Richard: Therapie in Trance, Klett-Cotta, Stuttgart, 1989. Doch nun zurück zu unserer Frage: Warum erzähle ich nicht von mir selbst, sondern lasse Fürsprecher Abplanalp von Fürsprecher von Bubenberg erzählen? Nach Erickson ist es effizienter und bereitet dem Unbewussten weniger Mühe, etwas Neues anzunehmen, wenn man zitiert. Und um etwas Neues handelt es sich bei den Schlüsselqualifikationen für uns Juristen, die wir ja sonst mehrheitlich an Paragraphen ausgebildet werden, sicherlich. Wenn die Geschichte nun zudem in der exotischen Schweiz spielt, fällt es dem Verstand leichter, sie als fremdes Modell, das ja Gottseidank nichts mit der Realität zu tun hat, anzuschauen und das Unbewusste kann sich so die dargestellten Fähigkeiten widerstandsfreier merken. „Nehmen wir mal in unser Repertoire auf, vielleicht kann man das ja mal in der Schweiz anwenden!“ Dass die Fähigkeiten dann plötzlich auch in einem anderen Konzept, etwa in Deutschland, zur Verfügung stehen, kann man vielleicht als „Wunder des menschlichen Lernens“ bezeichnen! 2. Was muss als erstes geklärt werden, wenn ich mit jemandem ein Gespräch führen möchte? Die wichtigste Frage, die es zu beantworten gilt, ist: „Was ist mein Ziel?“ Jedes Gespräch geht in eine Richtung, entweder in meine Richtung oder in eine andere. Wenn man dazu vor dem wichtigen Gespräch die sieben Schritte der Zielbestimmung aufmerksam durchgeht, erhöht sich die Chance, dass ich das erreiche, was ich möchte. 3. Welchen Anforderungen sollte ein Ziel genügen, damit die Wahrscheinlichkeit, dass ich es erreiche, möglichst hoch ist? Die sieben Punkte der Zielbestimmung sind: 1. Das Ziel ist proaktiv formuliert. 2. Es handelt sich um ein Ziel für mich und nicht um eins für jemand anderes. 3. Ich bin mir darüber im Klaren, wann ich das Ziel mit wem und wo erreiche. 4. Wenn ich an die Zielerreichung denke, stellt sich ein gutes Gefühl ein. Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

5. Ich weiss, was ich gewinne, was gleich bleibt und was ich verliere, wenn ich das Ziel erreiche. 6. Ich erkenne, dass ich das Ziel erreicht habe. 7. Ich kenne und tue den ersten Schritt. 4. Was sollte man sinnvollerweise zu Beginn des Gespräches herstellen? Kein zielorientiertes Gespräch ohne Aufbauen von Vertrauen! 5. Wie stellt man Vertrauen her? Vertrauen oder Rapport aufbauen kann ich, indem ich in „2nd position“ gehe, d. h. in die Landkarte des anderen eintauche und mir vorstelle, ich wäre er. Dieser hocheffiziente Prozess nennt sich Synchronisieren und wird von allen erfolgreichen Kommunikatoren entweder bewusst oder unbewusst beherrscht. Er ist das A und O effizienter Kommunikation. Auch im Aufbau von Rapport empfiehlt sich ebenfalls eine widerstandsfreie Sprache nach Milton Erickson. 6. Wie findet man heraus, was das Gegenüber will? Ich finde die Struktur der Landkarte meines Gegenübers am besten heraus, indem nicht ich die ganze Zeit selbst rede, sondern mein Gegenüber zum Reden auffordere. Dies tu ich, indem ich Fragen stelle. Offene Fragen und, wenn mir etwas noch nicht ganz klar ist, mit dem „Meta-Modell der Sprache“ nachfrage. 7. Was ist die Frage aller Fragen? Als die Frage aller Fragen kann man die Frage „Wer bist Du, woher kommst Du und wohin gehst Du?“ bezeichnen, da ihre Beantwortung eine volle Lebensspanne abdeckt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 8. Wie zeigt man Kompetenz? Der erfolgreiche Gesprächsführer zeigt nicht dadurch Kompetenz, dass er viel weiß und erwähnt, für welche Top-Firmen er schon gearbeitet hat, sondern dadurch, dass er ein Gespräch führen kann und dies demonstriert, etwa dadurch, dass er ein Ziel hat, sich einfühlen und nachfragen kann. 9. Wie lautet die Grundannahme erfolgreicher Kommunikation Die Grundannahme erfolgreicher Kommunikation lautet: „Niemand versteht niemand!“ (Die Landkarte ist nicht das Gebiet). Wenn ich das akzeptiert habe, habe ich auch verstanden, dass erfolgreiche Kommunikation nicht einfach geschieht, sondern ein Prozess kunstvoller Gestaltung meinerseits ist. Wenn ich weiter verinnerlicht habe, dass es dabei nur zu 7 % darauf ankommt, was ich sage, wohl aber zu 93 %, wie ich es sage, habe ich schon sehr viel begriffen. Wenn ich mir dann noch Stephen Covey in Erinnerung rufe und auch anwende, der gesagt hat „Seek first to understand, before you seek to be understood“, dann bin ich mit Garantie auf dem Weg zum Erfolg. 10. Was ist das Ziel des Fragens? Das Ziel des Fragens ist herauszufinden, wie die Landkarte meines Gegenübers aussieht, d. h., wie er die Welt sieht. Daneben kann ich auch auf seine Glaubens62

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Verständnisfragen

sätze, seine Denkmuster, seinen Leitwert und seine bevorzugten Sinnessysteme achten. Wenn ich mich mit seinem Gebrauch derselben synchronisiere, fällt es mir viel leichter, ein harmonisches Gespräch zu gestalten. 11. Warum visualisieren wir? Etwa 50 % der Menschen im Westen lernen etwas, indem sie es sehen, 40 % indem sie es tun und nur 10 % indem sie davon hören. Wer deshalb verstanden werden will, tut gut daran, nicht nur zu reden, sondern das Gesagte auch in Bildern darzustellen. Noch mehr Erfolg hat er, wenn er sein Gegenüber auch an seiner Erfahrung teilhaben lässt. 12. Warum wiederholt man das, was der andere gesagt hat? Mit Backtracking oder aktivem Zuhören synchronisiere ich mich weiter und vertiefe bereits aufgebautes Vertrauen. 13. Wiederholt man das, was der andere gesagt hat, wortwörtlich oder in eigenen Worten? Nichts vertieft bereits aufgebautes Vertrauen besser, als wenn mein Gegenüber seine Meinung in seinen eigenen Worten gespiegelt hört. Damit zeige ich, dass ich gehört habe, was er gesagt habe. Ich diene ihm. Wenn ich es in meinen eigenen Worten wiederhole, zeige ich mir, dass ich es verstanden habe. Ich diene mir. In einer Dienstleistungsgesellschaft diene ich mir am meisten, wenn ich meinem Gegenüber diene. 14. Was sind die drei Wahrnehmungspositionen? Die drei Wahrnehmungspositionen sind ein Modell von Grinder/DeLozier. Es beschreibt, wie man seine Sinne steuern kann, wenn man denken, fühlen und mitfühlen möchte. Denken tut man aus der „3rd position“, fühlen aus der „1st position“ und mitfühlen aus der „2nd position“. 15. Wenn sie Vertrauen aufbauen wollen, aus welcher Position sollten sie sprechen? Aus der „2nd position“. 16. Was ist ein Gefühl, was ist ein Gedanke? Wir fühlen, wenn wir assoziieren (1st and 2nd position). Wir denken, wenn wir disassoziieren (3rd position). 17. Was ist eine Position? Eine Position beschreibt, was wann wo geschehen soll: „Ich will am Montag 10.000 Euro auf meinem Konto haben!“ Auf den logischen Ebenen entspricht die Position der Verhaltens-/Umweltebene. 18. Was ist ein Interesse? Das Interesse ist das Motiv, warum ich ein bestimmtes Verhalten sehen möchte. „Ich will die 10.000 Euro haben, weil sie mir gehören und ich mich um sie betrogen fühle, wenn ich sie nicht kriege und zudem meine Studien nicht fortsetzten kann“. Schweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

19. Wozu brauchen wir die Interessenebene? Nach Einstein kann man ein Problem nicht auf der selben Ebene lösen, auf der es entstanden ist. Zwei sich ausschließende Positionen können über die Interessenebene gelöst werden: Zwei Freunde brauchen das gleich Motorrad am gleichen Nachmittag. Wenn man nur das weiß, gibt es keine Lösung. Wenn man aber fragt, warum die Freunde es brauchen und der eine meint, um ein Foto für seine Freundin von sich auf dem Motorrad zu machen und der andere, um in die Badeanstalt zu fahren, dann gibt es keine Problem: Zuerst Foto, dann Badeanstalt. 20. Gibt es so etwas wie Interessen-Cluster? Es ist möglich, die Interessen in neun Clustern zu bündeln: Freiheit, Sicherheit, Anerkenung, Macht, Harmonie, Intensität, Integrität, Fürsorge, Neugier. Diese Cluster kann man als Werte bezeichnen. 21. Was sind die logischen Ebenen und wozu dienen sie? Die logischen Ebenen stellen eine Möglichkeit einer psychologischen Hierarchie dar. Meine Zugehörigkeit bestimmt meine Identität, meine Identität bestimmt meine Beliefs, meine Beliefs bestimmen meine Fähigkeiten, meine Fähigkeiten bestimmen mein Verhalten und mit meinem Verhalten wirke ich auf die Umwelt ein. 22. Gehören die logischen Ebenen eher zum Idealismus oder eher zum Materialismus? Die logischen Ebenen sind ein idealistisches Konzept (Kant) und kein materialistisches (Hegel, Marx): Der Gedanke bestimmt die Materie. Und nicht umgekehrt. Ich muss mich selbst ändern, wenn ich anders werden will und nicht die Umwelt. 23. Wie helfen Sie ihrem Gegenüber sein Set an Positionen zu erweitern? Ich finde sein Interesse heraus und helfe ihm, mindestens drei Wege zu finden, wie er sein Interesse anders als durch die Durchsetzung der ihm bereits bekannten Position verwirklichen kann. 24. Was ist eine BATNA? Die BATNA ist die „Best Alternative To a Negotiated Agreement“: Die Beste Alternative zu einer Verhandlungslösung. Ist die Verhandlungslösung besser als die BATNA, wähle ich diese. Ist sie schlechter, wähle ich die BATNA. 25. Welche Grundsätze gelten für erfolgreiche Präsentationen? A. Niemand versteht mich. (Die Landkarte ist nicht das Gebiet) B. Nur 10 % verstehen etwas alleine durch Zuhören. 50 % durch Zusehen und 40 % durch Mitmachen. C. Es gibt keinen Widerstand. Es gibt nur unflexible Kommunikatoren. (Das Gesetz der notwendigen Vielfalt: Auf die lange Dauer wird ein System nicht vom mächtigsten Element beherrscht, sondern von flexibelsten!)

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Nachwort

26. Welche drei Arten, einen Koflikt zu lösen, gibt es? Ich kann einen Konflikt entweder durch Macht, Recht oder Interessenausgleich lösen. Zum Macht-Komplex gehören Vernichten und konfrontatives Verhandeln, zum Recht-Komplex das Verfahren vor Gericht- und Schiedsgericht, zum Interessen-Komplex das kooperative Verhandeln und die Mediation. 27. Fassen Sie alles, was Sie bis jetzt über Kommunikation und Gesprächsführung gelernt haben, in einer Strategie zusammen! Zuerst muss ich wissen, was ich will (Zielbestimmung). Dann synchronisiere ich mich mit meinem Gegenüber (2nd position). Mit dem Milton-Modell geht dies besonders einfach. Mit dem Meta-Modell finde ich die Interessen (Leitwerte) hinter den Positionen meines Gegenüber heraus und helfe ihm, drei alternative Wege zu finden, sein Interesse zu verwirklichen. Ich stimme dem Weg zu, der sich am besten mit meinem Ziel/Interesse deckt. 28. Visualisieren Sie diese Strategie? Die Strategie könnte visualisiert etwa so aussehen: • Meta-Modell des Fragens • Nach-Synchronisation • Leitwert

Zielbestimmung Synchronisation Logische Ebenen Milton-Modell Ein Problem kann nicht auf der gleichen Ebene… • 1./2./3. Position

eigenes

fremdes

Interesse

Interesse

Ziel

Lösung

• • • • •

Position Ich

Position Wir

• 3 Alternativen • Gesetz der notwendigen Vielfalt • BATNA • Handle stets so, dass die Zahl Deiner Wahlmöglichkeiten steigt!

Du

• 93 % WIE / 7 % WAS • 50 % visuell / 40 % kinästhetisch / 10 % auditiv • Wahrnehmungskategorien

10. Kapitel Nachwort Dieser Text war, wie Sie sicher bemerkt haben, nur eine rudimentäre Einführung in das riesige Feld erfolgreicher Kommunikation. Wenn Sie mehr können wollen, brauchen Sie mehr Infos. Diese können Sie, wenn Sie ihr Wissen über die Wissenschaft der Kommunikation erweitern wollen, in Büchern finden. Wenn sie aber praktisch besser kommunizieren wollen, dann müssen Sie nicht noch mehr WisSchweizer

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2. Teil Kommunikation und Gesprächsführung

sen akkumulieren, sondern sich Können erwerben. Und dies tut man durch Üben. Wie etwa im Master Studiengang „Mediation“ der FernUniversität Hagen, wo die Studenten insgesamt zwölf Tage üben, üben und nochmals üben dürfen. Auch wenn es Ihrer Universität schwer fällt, Können statt Wissen zu vermitteln – es ist der einzige Weg, angewandte Kommunikation zu erlernen. Wehren Sie sich daher gegen „Vorlesungen“ über die Themen dieses Buches und verlangen Sie statt dessen Lehrveranstaltungen, in denen Sie praktisch üben können. Bleiben Sie hartnäckig. Wie eine mir namentlich bekannte Studentin, die sich um einen Master-Studienplatz an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH in Zürich, einer der best-„gerankten“ Universitäten der Welt, bewerben wollte und dafür, wie ihr ein Studentenselektor des M.I. T. (Massachusetts Institute of Technology) geraten hatte, um ein Gespräch mit dem Dean ihrer Fachrichtung bat. Sie wurde mehrfach abgewimmelt, gab aber nicht auf, bis man ihr nach der 12. oder 13. E-Mail mitteilte, sie brauche sich nicht mehr so anzustrengen, man habe gesehen, dass sie willensstark sei und würde sie ausnahmsweise, nach der Vorlage von „motivation letter“, C. V. und Lizentiats-Dokument, ohne weitere Bedingungen aufnehmen. Was bei der Elite zählt, ist die Demonstration des Willens zum Erfolg! Bleiben Sie deshalb ebenfalls hartnäckig, denn überdurchschnittliche Kommunikationsfähigkeiten brauchen Sie, wenn Sie heute als Anwalt Erfolg haben wollen. Oder als Unternehmensjurist. Oder als Verwaltungsjurist im Zeitalter des New Public Management. Praktische kommunikative Fähigkeiten brauchen Sie nicht, wenn Sie als Zahlenund Faktenbuchhalter alleine in ihrer Studierstube aus hundert Texten einen einhunderteinsten Text fabrizieren wollen, den Sie dann irgendwo, irgendwann an einem Symposium vorlesen dürfen, wo Ihnen andere Datenbuchhalter, die auch aus hundert Texten einen einhunderteinsten Text verfasst haben, applaudieren werden. Was möchten Sie, wie sollte Ihre Zukunft aussehen?

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3. Teil Rhetorik Oder: Wer hat das bessere Argument? Adrian Schweizer hat im 2. Teil über Kommunikation und Gesprächsführung geschrieben, das heißt, wie man vorgeht, wenn man mit einem Gegenüber spricht, redet oder eben kommuniziert. Nun kann es aber vorkommen, und in der Tätigkeit des Anwaltes geschieht dies doch sehr häufig, dass man nicht aufgefordert wird, mit dem andern zu reden, zu sprechen, zu verhandeln oder zu diskutieren, sondern ihm schlicht und einfach die Meinung zu sagen hat, die er, ebenfalls „schlicht und einfach“, zu akzeptieren hat. Dieser Wunsch wird häufig an den Anwalt herangetragen, der forensisch tätig ist, also vor Gericht spricht. Vor Gericht wendet sich der Anwalt dann im Namen seiner Mandantschaft nicht an die Gegenpartei, denn die kann man ja meist nicht von der Richtigkeit der eigenen und der Falschheit ihrer Argumente überzeugen, sondern an das Hohe Gericht und die dort versammelten Richter mit der Bitte, Recht zu sprechen, d. h., derjenigen Partei zuzustimmen, deren Argumente im Sinne des Gerichts zutreffend sind. Diese Form der Kommunikation kann man, wie etwa auch das, was ich im Moment hier gerade schreibe, Einweg-Kommunikation nennen, und um diese Form geht es in diesem Kapitel. Was tue ich, wenn ich nicht in einen Dialog mit meinem Gegenüber treten kann, sondern aufgefordert bin, alleine durch meine Worte mein Gegenüber von meiner Landkarte, wie Adrian Schweizer wohl sagen würde, zu überzeugen? Der gute Rhetoriker lässt nun aber nicht alles hinter sich, was er im 2. Teil über Kommunikation und Gesprächsführung erfahren hat, sondern nutzt das bereits Gelernte für seine Zwecke: Er baut Rapport auf zu seinem Gegenüber, indem er Metaphern und Beispiele aus dem Leben des andern benutzt: Er redet von Schiffen, wenn der Richter am Meer aufgewachsen ist und von Kühen, wenn dieser Bauer ist. Er nutzt seine Kenntnisse über die Sinnessysteme seiner Zuhörer und redet von „klar sehen“, wenn der zu Überzeugende visuell veranlagt ist, in Gefühlen, wenn er kinästhisch lernt und „hört die Schallmeien klingen“, wenn er über ein auditives Leitsystem verfügt. Er benutzt Visualisationen, da er auch weiß, dass 50 % seiner Zuhörer nur etwas verstehen, wenn sie es sehen. Er geht auf die Leitwerte seines Gegenübers ein. Er redet von „tun und lassen können, was man will“ wenn er weiß, dass sein Gegenüber den Leitwert „Freiheit“ hat oder er warnt davon, dass ein Chaos ausbrechen würde, wenn man so täte, wie die Gegenpartei es verlangt, wenn er weiß, dass der Richter ein Machtmensch ist. Er kennt das Meta-Modell der Sprache, wenn er der Gegenpartei Fragen stellen darf. Und er nutzt das Meta-Modell der widerstandsfreien Sprache so oft es geht, denn er weiß, dass er noch besser überzeugt, wenn seine Rede wenig Widerstand erzeugt. Soudry

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3. Teil Rhetorik

Dies sind alles Erkenntnisse der modernen Rhetorik. Diese sind im 2. Teil, das auch „Rhetorik 1“ heißen könnte, dargestellt worden. Auf den nächsten Seiten, die man auch mit „Rhetorik 2“ überschreiben könnte, werde ich vermehrt auf die Erkenntnisse der klassischen Rhetorik eingehen. Wer als Rhetoriker „voll rüberkommen“ möchte, kommt nicht umhin, beide Lehren zu nutzen. Lassen Sie uns also beginnen: Wenn wir von Jura sprechen, dann sprechen wir auch immer von Gesetzen und Regeln, die das Zusammenleben koordinieren sollen. Wenn eine Person ein Gesetz übertritt oder eine Regel missachtet, so wird sie bestraft werden. Sie bekommt ein Bußgeld, eine Geldstrafe oder sogar eine Freiheitsstrafe. Mit der Rhetorik verhält es sich ähnlich. Allerdings gibt es hier keine Regeln oder Gesetze im obigen Sinne – richtig ist nur das, was überzeugt. Dennoch müssen wir uns fragen: Was ist denn das Richtige, das überzeugt? Eine allgemeingültige Antwort hierauf gibt es nicht. Bewegt man sich auf dem Gebiet des Rechts, so weiß man, was man zu unterlassen hat, um nicht bestraft zu werden. Sicherlich gibt es dies auch in der Rhetorik – der Redner weiß, dass er nicht in der Nase bohren darf, während er eine Rede hält. Tut er dies trotzdem, wird auch er bestraft. Er bekommt vielleicht kein Bußgeld oder keine Freiheitsstrafe, aber er bekommt auch nicht das, was er wollte – nämlich Applaus und ein überzeugtes Publikum. Nun heißt dies ja aber noch nicht, dass der Redner Applaus von einem überzeugten Publikum erntet, nur weil er nicht in der Nase gebohrt hat. Was aber muss er dann tun, um dieses zu bekommen? Genau diese Frage werden wir in diesem Teil des Buches versuchen zu beantworten. Versuchen deshalb, weil es eben keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt. Was es aber gibt, sind einige Richtlinien und Muster, die sich bei jedem Redner bewährt haben. Muster und Richtlinien, die Ihnen helfen werden zu lernen, wie Sie Ihren Adressaten der Rede überzeugen können, wie Sie Argumente finden und wie Sie solche bilden. Auf was Sie achten müssen, wenn Sie eine Rede vorbereiten und halten wollen und wie Sie sich gegen Argumente und Angriffe Ihres Gegners erfolgreich wehren können. Dies werden wir natürlich nicht nur für die Rede lernen, sondern auch für das Plädoyer – eine Kurzrede, die Sie als Anwalt meist spontan halten müssen. Dieses Grundwerkzeug gilt es dann zu verinnerlichen, indem Sie es selbst ausprobieren und trainieren. Daher finden Sie in diesem Teil des Buches eine Reihe von Übungen zu den einzelnen Gebieten. Denken Sie nicht solche Sätze wie „das kann ich nicht“ oder das „konnte ich noch nie“. Sicherlich gibt es einige, denen es leichter fällt, sich vor ein Publikum zu stellen und eine Rede zu halten. Es gibt vielleicht aber auch einige in Ihrem Semester, die in der Schule schon immer besser waren als Sie – haben Sie deswegen kein Studium aufgenommen? Rhetorik kann man genauso erlernen wie Mathematik, Jura oder ein sonstiges Fach. Wie in allen Fächern gilt auch hier: Übung macht den Meister! Verstehen Sie dies auch als Aufforderung, sich nach Ihrem Seminar über Schlüsselqualifikationen immer mal wieder dieses Buch zur Hand zu nehmen und darin zu stöbern – Sie werden sehen, es macht Spaß und man betrachtet die Dinge regelmäßig aus einer neuen Perspektive. 68

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Grundlagen der Rhetorik

Wenn es also darum geht, die Kunst der Rhetorik zu erlernen, so halten Sie sich folgenden berühmten Ausspruch des Aristoteles vor Augen: Zum Dichter wird man geboren, zum Redner wird man gemacht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg! Wenn Sie mögen, so können Sie mich jederzeit kontaktieren, indem Sie eine E-Mail schreiben an [email protected].

1. Kapitel Grundlagen der Rhetorik Früh tauchten schon mehrere Begriffsdefinitionen für die Rhetorik auf, d. h. es herrschte kein einheitliches Verständnis darüber, was Rhetorik ist. Sie ist zum einen Ausdruck des Optimismus der Antike, die glaubte, mit dem gesprochenen Wort „pragmatische“ Wirkung erzielen zu können (Rhetorik als Überredungskunst). Rhetorik bedeutet, dass das gesprochene Wort ganz besonders dann wirkt, wenn es überlegt eingesetzt, treffend und „schön“ ist. Rhetorik als lern- und machbare Fähigkeit: Hier begriff man die Rhetorik im Prinzip nur als zusätzliche Fähigkeit, die durchaus erlernbar ist. Man könnte es mit einem Führerschein vergleichen: Es ist machbar, einen Führerschein zu haben, weil die Verkehrsregeln erlernbar sind – hat man ihn nicht, dann fährt man eben mit dem Zug. Zusammenfassend kann man jedenfalls sagen, dass Rhetorik den Oberbegriff für die Praxis und die Theorie der menschlichen Beredsamkeit darstellt, sei es durch das Schreiben oder das Reden selbst. Selbst Bilder kann man darunter fassen. Auch sie wollen etwas ausdrücken, auch sie „sprechen“1,2. Zumindest aber kann man behaupten, dass der dahinter stehende Künstler mit seinen Bildern etwas ausdrücken will, so dass die Bilder letztlich nur das Medium dessen sind, was der Künstler spricht oder denkt – so wie in einem Brief3 der Füller und die Papierseiten das Medium sind. Dies ist aber nur die eine Seite, wie Rhetorik verstanden werden kann. Die andere findet sich in der Wissenschaft. Hier beschäftigt sich die Rhetorik mit der Analyse sprachlicher Kommunikation, die auf die Überzeugung des Adressaten hin ausgerichtet ist (persuasive Kommunikation). An dieser Stelle wird dem ein oder anderen vielleicht schon klar, dass wir hier nicht trennen werden können. Wir brauchen beide Aspekte: Die wissenschaftliche 1 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Sagen Sie das mal mit einem Bild!“ 2 Clorius, The Visual Language of Art, in: Soudry, Rhetorik – eine interdisziplinäre Einführung, S. 203 ff., C. F. Müller, Heidelberg 2006. 3 Das Tagebuch hingegen taugt nicht als Beispiel, da es nur als Gedankenspeicher für den Autor selbst dient und deshalb gar keine Kommunikation stattfindet.

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Seite als Grundlage für die praktische Seite. Daher werden wir uns in diesem Buch mit der praktischen Seite der Rhetorik befassen. Schlicht mit dem Reden. Diese Form der Rhetorik werden wir im Folgenden als angewandte Rhetorik bezeichnen. Sicherlich könnte man nun der Meinung sein, ein Wissenschaftler, der sich mit einer der oben genannten verschiedenen Erscheinungsformen der Rhetorik befasst, wende doch auch Rhetorik in der Praxis an. Das ist sicherlich richtig. Deshalb haben wir uns oben darüber geeinigt, dass es heute zwei Richtungen der angewandten bzw. praktischen Rhetorik gibt. Die erste war die wissenschaftliche Richtung. Die zweite, die für uns interessante Richtung ist die kommunikative Richtung, also der klassische Anwendungsbereich der Rhetorik. Hierbei geht es um das tatsächliche Reden.

2. Kapitel Was ist (angewandte) Rhetorik? Wichtig für das Verständnis angewandter Rhetorik ist, die Rhetorik nicht mehr ausschließlich als Institution, sondern eben zunehmend als Medium zu begreifen. Als Medium, das es, wenn richtig angewandt, erlaubt, sich anderen Menschen gegenüber präzise und unmissverständlich zu äußern. Sicherlich liegt dies nicht nur beim Rhetoriker selbst, sondern es müssen natürlich auch gewisse Voraussetzungen beim Adressaten vorliegen – hierzu aber später. Die Bedeutung des Begriffs der angewandten Rhetorik erklärt sich im Grunde genommen von selbst, so dass es sich nunmehr um die Frage dreht, was Rhetorik in diesem Zusammenhang ist. Rhetorik in diesem Zusammenhang widmet sich der Ausbildung, Übung und Vervollkommnung wirkungsorientierten Sprechens und Verhaltens (Körpersprache, Gesprächshaltung) und benutzt dazu das historisch entstandene System der Regeln, Anleitungen und Gewohnheiten, die anwendungsbezogen von der Allgemeinen Rhetorik entwickelt und formuliert worden sind. Sie bedient sich dabei auch der Einsichten und Ergebnisse der Sprecherziehung und Sprechwissenschaft, die traditionell einen Teil der Rhetorik und der rhetorischen Erziehung darstellen und die mündliche Realisierung der Rede durch Sprechen sowie ihre mimische und gestische Darstellung zum Gegenstand haben4. Einfach gesagt: Angewandte Rhetorik ist das intelligente und bewusste Nutzen der Erkenntnisse wissenschaftlicher Rhetorik. Nachdem wir die für uns wichtigen Begrifflichkeiten nun geklärt haben, können wir uns in die Materie wagen. In diesem Buch wollen wir lernen, wie wir Rhetorik geschickt anwenden können, um uns in Gesprächen, Verhandlungen oder Diskussionen gut positionieren zu können und um vor allem die andere Seite von unserer Idee zu überzeugen. Letzteres ist besonders wichtig für den Anwalt.

4 Gert Ueding, Was ist Rhetorik?, in: Soudry, Rhetorik – eine interdisziplinäre Einführung, S. 13 ff., C. F. Müller, Heidelberg 2006.

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Mittel der Überzeugung

3. Kapitel Die sprachlichen Mittel der Überzeugung Zum überzeugenden Reden gehört in der Regel nicht allein die sachliche Beweisführung. Diese Erkenntnis haben sich die Rhetoriker spätestens seit Aristoteles zu Eigen gemacht, indem sie neben Ethos und Logos der gezielten Erregung von Affekten (pathos) eine zentrale Rolle im Überzeugungsprozess zuwiesen. Hierfür gibt es die verschiedensten Möglichkeiten und Mittel. Wir werden zwischen argumentativen und rein sprachlichen Mitteln unterscheiden. Diese Unterscheidung muss deshalb besonders betont werden, weil ein beträchtlicher Teil in der wissenschaftlichen Rhetorik nicht zu Unrecht die sprachlichen Mittel zur Überzeugung bereits als Argumentationsmittel ansieht.

3.1. Ethos, Logos und Pathos Ethos, Logos und Pathos sind nach Aristoteles die drei Mittel der Überzeugung. Mithilfe von Ethos erzielt der Redner Glaubwürdigkeit beim Publikum. Erreichen kann man dies, indem man dem Publikum zeigt, dass man kompetent ist – man versteht, über was man spricht, integer ist – man auch das meint, was man sagt und wohlwollend ist – man für das Wohl des Publikums spricht. Geschickterweise verwendet man Ethos gleich am Anfang des Hauptteiles seiner Rede, um bereits das Vertrauen des Publikums zu gewinnen. Mithilfe von Logos erlangt der Redner Überzeugungskraft, wenn er seine Argumente klar und folgerichtig darstellt. Wie man dies erreicht, wird später behandelt. Mithilfe von Pathos kann der Redner das Publikum mitreißen. Hier spricht man die Gefühlswelt des Zuhörers an, indem man beispielsweise emotionalisiert und der eigenen Leidenschaft freien Lauf lässt. Da Pathos in der Regel nicht zurückgenommen, sondern nur gesteigert werden kann, empfiehlt es sich nicht, dieses Überzeugungsmittel bereits zu Anfang der Rede anzuwenden.

3.2. Die rhetorischen Figuren Unter rhetorischen Figuren versteht man den Schmuck der Rede, der sich auf mehrere Wörter oder ganze Sätze bezieht. Rhetorische Mittel entfalten ihre Wirkung in verschiedenen Bereichen der Sprache, die jeweils von ihnen verändert oder „umfunktioniert“ werden. Diese Wirkungsbereiche sind von unterschiedlicher Art und sie besitzen jeweils eine verschiedene Größe. Das Kriterium des Wirkungsbereiches wird häufig zur systematischen Unterteilung (Klassifikation) von rhetorischen Mitteln (rhetorischen Figuren) eingesetzt. Mit den rhetorischen Figuren kann man demnach auch eines der drei Überzeugungsmittel untermalen. Der Anwendungsbereich rhetorischer Figuren ist vielfältig: Von Präsentationen eines Themas vor einem Publikum, dem Schreiben Soudry

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3. Teil Rhetorik

eines Artikels über Verwendung in der gehobenen Alltagssprache oder in der Kunst (Literatur, Poesie, Dramaturgie) bis hin zur Werbebranche – rhetorische Figuren belegen, dass Sprache mehr ist, als eine banale Aneinanderreihung von Worten. Im Prinzip verwenden wir rhetorische Figuren ständig in der Alltagssprache, ohne dass uns in der Regel deren Fachbegriff und Sprachwirkung bekannt sind. Die Rede- und Schreiberfahrung hat ein Standardrepertoire bewährter rhetorischer Mittel herausgebildet. Im Folgenden werden wir eine Auswahl der wichtigsten Figuren kennen lernen. Manche dieser Figuren werden dem einen oder anderen Leser bereits aus dem Deutschunterricht in der Schule bekannt sein, als man Gedichte bearbeitet hat. Die Kenntnis dieser rhetorischen Stilmittel ermöglicht dann eine adäquate und gezielte Verwendung in der Kommunikation. Alliteration: Zwei oder mehrere Wörter innerhalb eines Satzes oder einer Zeile beginnen mit demselben Konsonanten: Wir wachsen wenn wir wollen. Anapher: Das Wiederholen eines Wortes oder Satzes am Anfang von aufeinander folgenden Sätzen: Der Wind wehte, der Wind peitschte, der Wind pfiff… Emphasis: Wortwiederholung zur besonderen Betonung: Sie, und nur sie will ich heiraten. Epipher: Wiederholung des Satzendes: Ich sah auf dich und weinte nicht, der Schmerz schlug meine Zähne aneinander; ich weinte nicht. Euphemismus: Beschönigendes Ersetzen einer negativ klingenden Sachverhaltes: Entsorgungspark, Auffanglager, Atomares Zwischenlager Hyperbel: Übertreibung, um einen bestimmten Effekt zu erzielen: Bitterböse, todtraurig Ironie: Der Sprecher meint das Gegenteil dessen, was seine Worte besagen, während alle sich darüber bewusst sind. Das hast Du ja mal wieder gut hingekriegt! Klimax: (Steigerung) Eine Reihe von Ausdrücken wird ansteigend hintereinander gestellt. Ich besitze ein großes Haus. In diesem großen Haus befindet sich ein sehr großer Pool. Neben diesem sehr großen Pool ist auch eine überdimensional große Sauna vorhanden, die unendlich viel Energie verbraucht.

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Mittel der Überzeugung

Litotes: Bewusstes Untertreiben, um einen gewissen Effekt zu erzielen: Mein kleines Gärtchen hat gerade mal eine Größe von 100.000 ha. Metapher: Sprachbild, bildlicher Wortgebrauch: Eine Mauer des Schweigens Metonymie: Ein ersetzter und ein ersetzender Ausdruck stehen in einem reellen Zusammenhang (Umbenennung): Nachbarschaft für die Nachbarn; Amor für die Liebe Oxymeron: Zwei sich widersprechende Begriffe werden nacheinander gestellt: Stummes Schreien Paradoxon: Eine wahre Aussage, die unnachvollziehbar (gegenläufig) erscheint: Lasse den Schnee auf der Wiese liegen, damit das Gras nicht erfriert. Parallelismus: Der Parallelismus ist die Wiederholung derselben Wortreihenfolge in aufeinander folgenden Sätzen oder Satzteilen, wobei der zweite Aussagenteil die Aufmerksamkeit wieder zurück auf den ersten Aussagenteil lenkt: Heiß ist die Liebe, kalt ist der Schnee. Pleonasmus: Ein Sachverhalt wird mit weiteren, überflüssigen Wörtern gefüttert, die das Gleiche noch einmal sagen bzw. verstärken: Niemand, ob groß oder klein, darf diesen Raum betreten. Personifikation: Vermenschlichung einer Sache: Die Bäume lauschten dem Vogelzwitschern. Rhetorische Frage: Scheinfrage, die nur eine bestimmte Antwort erwarten lässt oder als gegeben voraussetzt: Verstehst Du das? Synechdoche: Gebrauch eines Teils für das Ganze oder das Ganze für einen Teil: Bayern ist Meister anstelle von die Fußballmannschaft 1. FC Bayern München hat den Meistertitel gewonnen. Tautologie: Wiederholung einer Aussage mit anderen Worten: Die Miete ist sehr hoch – die Wohnung ist teuer. Vergleich: Explizites Vergleichen von Dingen mit „wie“, um eine Gemeinsamkeit herzustellen: Der Angeklagte schwieg wie ein Grab. Soudry

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3. Teil Rhetorik

Vorgriff: Ein mögliches Gegenargument wird vorweggenommen5: …und nur für den Fall, dass einige sagen werden… Zeugma: Zwei verschiedene Worte werden miteinander verbunden, obwohl dies ihrer Bedeutung nach nur für eines der Beiden richtig wäre: Ich werde es immer in Ehren und über Wasser halten.

3.3. Übungen zu den sprachlichen Überzeugungsmitteln 1. Um welche rhetorischen Figuren handelt es sich im Folgenden? – Das kalte Wasser weckte mich. – Die Adler trainieren für den Meistertitel. – Deine Antwort war unrichtig. – Er schaltete das Fernsehgerät und seine Gedanken ab. – Drahtesel – Heiß ist die Liebe, kalt ist der Schnee. – Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna? – Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, … – Kostengünstig kalten Kaffee kaufen. – Bittere Süße – „Veni, vidi, vici“. – Klein ist die Welt, groß ist das Universum. – Damit begibst Du Dich direkt in die Höhle des Löwen. – Samson war stark wie ein Bär. – Wiederaufbereitungsanlage – „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ – Das Auge des Gesetzes 2. Ordnen Sie den rhetorischen Figuren ein Ziel zu – was können Sie mit diesen bewirken (Ethos, Abwechslung, besondere Betonung…)? 3. Welche rhetorischen Figuren gibt es noch? Machen Sie sich eine Zusammenstellung und ordnen diesen auch ein Ziel wie in Aufgabe 2 zu! Bilden Sie Gruppen, z. B. Gruppe 1 sucht alle rhetorischen Figuren von A bis M.

5 Besonders beliebt bei der Stellung eines Antrages in einer Debatte, um einer erwarteten gegnerischen Argumentation von vornherein Einhalt zu gebieten.

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Die argumentativen Mittel

4. Kapitel Die argumentativen Mittel Kern einer jeden Rede oder Diskussion sind auf der sachlichen Ebene6 natürlich die Argumente. Habe ich gute Argumente, habe ich auch eine gute Ausgangslage, um zu überzeugen. Sind meine Argumente (objektiv) schlecht, heißt das aber noch lange nicht, dass der „Kampf“ verloren ist. Dann kommt nämlich die emotionale Ebene7 ins Spiel, d. h. wie präsentiere ich meine Argumente, wie trete ich auf etc. Wenn dies auch nicht mehr hilft, muss ich mich entscheiden: Gebe ich mich geschlagen und akzeptiere die Gegenmeinung, weil sie etwa insgeheim auch besser ist, oder will ich um jeden Preis als Sieger herausgehen? Ersteres ist einfach: Entweder man kapituliert und sagt: „ Gut, o.k., Du hast Recht, das habe ich so nicht bedacht…“ oder man einigt sich auf einen Konsens und verbleibt mit der Aussage: „Ich sehe das aber anders…“, ohne dabei die Gegenmeinung als falsch, sondern eben als Alternative zu sehen. Letzteres ist da schon schwieriger. Hierbei gibt es im Ansatz verschiedene Möglichkeiten: Zum einen gibt es die eristische Argumentation. Die Eristik (von griechisch eris: Streit, Zwietracht, vgl. auch die griechische Göttin Eris) ist die Kunst des Streitens und Debattierens mit dem Ziel, Recht zu behalten um des Recht Behaltens willen. Im Gegensatz dazu dient die dialektische Argumentation der Wahrheitsfindung durch Abwägen und die logische Argumentation, die Lehre vom schlüssigen und folgerichtigen Argumentieren, der Überzeugung durch Beweisführung. Nun, die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Ansatzpunkte liegen wohl auf der Hand. Schopenhauer hat die jeweiligen Vorzüge dieser Ansätze erkannt und die Vorteile der eristischen Argumentation mit den Vorteilen der dialektischen Argumentation verbunden und somit die so genannte „Eristische Dialektik“ geprägt8. Als Einführung hierzu folgendes Zitat von Arthur Schopenhauer: „Daher entsteht nun in uns die Maxime, selbst wenn das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzukämpfen, im Glauben daß dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument jenes umzustoßen oder eines unserer Wahrheit anderweitig zu bestätigen einfallen werde: hierdurch werden wir zur Unredlichkeit im Disput beinahe genötigt, wenigstens leicht verführt. […] Daraus kommt es, daß wer disputiert in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie ‚pro ara et focis‘ [für Heim und Herd], und ‚per fas et nefas‘ [mit Recht wie mit Unrecht] verfährt, ja wie gezeigt nicht anders kann.“ Ziel der „Eristischen Dialektik“ ist es also, zu vermitteln, in einer Streitfrage Recht zu behalten, ohne notwendigerweise in der Sache selbst im Recht zu sein. Die Wahrheit der Sache und die Frage, ob man in den Meinungen der Zuhörer 6 Die sog. „Kopf-Ebene“. 7 Die sog. „Bauch-Ebene“. 8 In seinem Werk „Die Kunst Recht zu behalten“ beschreibt er anhand von 38 Kunstgriffen, wie es einem Redner gelingen soll, selbst dann Recht zu behalten, wenn er im Unrecht ist.

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Recht behält, sind nämlich zwei verschiedene Dinge – wegen der Natur des menschlichen Wesens geht es in einer Debatte nach der Überzeugung Schopenhauers eben meistens nicht darum, die Wahrheit zu Tage zu bringen, sondern seine Eitelkeit durch den Triumph über den Debattengegner zu befriedigen. Auch geht es hier nicht darum, den Diskussionsgegner zu überzeugen, Ziel ist nur die Überzeugung der Zuhörer. Das soll auch unser Ziel sein – wir wollen nicht den gegnerischen Anwalt überzeugen, sondern den Richter und den Staatsanwalt! Allerdings werden wir die von Schopenhauer begründete „Eristische Dialektik“ noch um das logische Moment erweitern – denn ein objektiv gutes Argument macht die Sache komplett. Damit kann man auch den letzten Zweifler noch auf seine Seite ziehen. Das Beste, was einem Rechtsanwalt passieren kann, ist natürlich, wenn neben den Adressaten der Überzeugung (Richter, Staatsanwalt) auch der Gegner überzeugt wird. Sollte sich ein solches Modell irgendwann einmal durchsetzen, könnte man es ja die „Eristologische Dialektik“ nennen. In diesem Kapitel wollen wir also lernen, wie wir im späteren Berufsleben als Anwälte erfolgreich für unsere Partei streiten, damit diese Recht bekommt – es geht uns also um die Kunst des Streitens und Debattierens mit dem Ziel, Recht zu behalten um des Recht Behaltens willen und weil wir das bessere Argument haben.

4.1. Das Argumentieren Um dieses Ziel zu erreichen müssen wir lernen, wie man erfolgreich argumentiert. Hierzu gilt es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was ein Argument ist, wie man ein solches bildet und wie – wenn man es fertig produziert hat – man es darstellt bzw. „verkauft“. Was ist ein Argument? Argument (lat. argumentum: Darstellung, Beweis)9 Bezeichnung für eine Aussage, die im Hinblick auf eine Behauptung begründende Funktion beansprucht bzw. deren Begründungswert hinsichtlich der Behauptung anerkannt wird. Die Argumente besitzen eine allgemeine Struktur: Ein Argument setzt sich zusammen aus der problematischen Äußerung, für die ein bestimmter Geltungsanspruch erhoben wird, und aus dem grundlegenden Prinzip oder Regel, mit der dieser Anspruch etabliert werden soll. In einer Argumentation stellen ein Argument oder eine Reihe von Argumenten Schritte zur Begründung einer Aussage dar. […] Eine schlüssige Argumentation, in der in einer Reihe von Argumentationsschritten jedem einzelnen zugestimmt wurde, gilt als Begründung bzw. als Beweis einer Aussage. Das Kriterium der Schlüssigkeit besteht darin, dass niemand, der den Ausgangssätzen einer Argumentation zugestimmt hat, einem Argument widersprechen kann, ohne nicht einem von ihm bereits akzeptierten früheren Argument zu widersprechen. […] Häufig wird die Frage gestellt, warum argumentieren überhaupt notwendig ist. Es reiche doch aus, seine eigene Meinung als Argument für dieselbe einfach zu äußern – eine weitere Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Sachmaterie 9 Helmut Glück, Metzler, Lexikon Sprache, 2. Auflage, J. B. Metzler.

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Die argumentativen Mittel

sei dann nicht mehr erforderlich. Klaus Bayer10 war es, der auf die Frage, warum der Mensch überhaupt argumentieren sollte und sich infolge dessen mit der Argumentationstechnik auseinandersetzen muss, mindestens sechs gute Gründe anführen konnte: Wer argumentiert, – ist in der Lage, notwendige Kritik an unseren ‚schnellen, aber irrtums- und verführungsanfälligen Intuitionen‘ zu leisten, – kann mit Argumenten sein eigenes Weltbild konstruieren, Zusammenhänge erklären und Voraussagen treffen, sowie das eigene Wissen dadurch erweitern, dass bestimmte Hypothesen widerlegt werden, – kann sich ‚angesichts der unvermeidlichen Unsicherheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis‘ einen kritischen Standpunkt bewahren, – kann mit seiner Kritik u. U. bestimmte Irrtümer und Vorurteile aufbrechen, – setzt sich in Konflikten relativ friedlich mit anderen Meinungen auseinander und – lernt sich in andere Vorstellungen einzufühlen und „fremde Positionen nicht einfach als fremd und böswillig abzulehnen, sondern ihre Begründungen nachzuvollziehen.“ Ich möchte an dieser Stelle einen siebten Grund für das Argumentieren oder das Erlernen der Argumentationstechnik anführen: Nur wer argumentiert, kann andere von seiner Meinung, Position oder Person überzeugen und für seine Sache gewinnen! Denn wer ein Argument vorträgt, versucht eine Behauptung oder eine Forderung zu stützen, indem er andere Aussagen als Gründe anführt. Wer hingegen nicht argumentiert, sondern lediglich behauptet oder fordert, ohne dies zu begründen oder zu erklären, der kann auch niemanden überzeugen – als einziges Mittel zur Durchsetzung der Behauptung oder Forderung bliebe also nur noch Zwang. Allerdings gilt es, sich natürlich darüber im Klaren zu sein, dass Sie im späteren Anwaltsberuf den Richter oder die gegnerische Partei natürlich nicht dazu zwingen können, Ihren Ausführungen zu folgen. Allerdings gibt es eine Reihe anderer, ebenso wirksamer Methoden, die Ihre gegnerische Partei oder den Richter dazu bringen können, Ihren Ansichten oder Forderungen zu folgen. Dies kann auf verschiedene Weisen und unter Einsatz verschiedener Argumentationstechniken geschehen. Wie aber bildet man ein Argument? Grundsätzlich ist ein Argument ja bereits ein Dafür oder Dagegen, dass zu einer Streitfrage angeführt wird, um seine Position oder aufgestellte These zu untermauern. Die Antwort auf die Frage, ob es sich hierbei um ein „gutes“ oder um ein „schlechtes“ Argument handelt, ist nicht nur Ausdruck der subjektiven Vorstellung des Rechtsanwalt oder Gegners dieses Argumentes oder der zu verteidigenden These, sondern auch objektiver Ausdruck

10 Klaus Bayer, Argument und Argumentation. Logische Grundlagen der Argumentationsanalyse, Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 1999.

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bestimmter Kriterien, die ein Argument braucht, um zu einem „guten“ Argument zu werden. Ist ein Argument nämlich objektiv fehlerhaft gebildet worden, also inhaltlich schlicht falsch und daher angreifbar, kann es nicht nur passieren, dass der Kontrahent dies merkt und angreift, sondern es ist einem geübten Diskussionsgegner dann möglich, die daraus resultierende Schwäche zu seiner Stärke zu machen, d. h. er kann das ursprünglich gegen seine Position gerichtete Argument für sich nutzen, als für ihn sprechend darstellen (hierzu später mehr bei den Argumentationstechniken). Damit dieses nicht passiert, gilt es, stets die vier Pfeiler der erfolgreichen Verteidigung einer These zu beachten. Hiernach gilt für eine erfolgreiche Verteidigung einer These grundsätzlich, dass das Argument – einen engen Bezug zur These besitzt, – die These mit Fakten belegt, – für den behaupteten Sachverhalt relevant ist und – gegenüber Einwänden haltbar ist. Damit diese vier Pfeiler der erfolgreichen Verteidigung einer These auch frei von Fehlern sind, gilt es solche vor der Argumentation zu entdecken, um sie dann auch zu vermeiden. Im Folgenden werden wir die typischen Fehler kennen lernen. Anhand einer Checkliste11 muss man diese dann regelmäßig durchgehen und darauf achten, diese zu erkennen. Genau wie Sie sich in der juristischen Falllösung mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob eine Klage zulässig und begründet ist und deshalb Aussicht auf Erfolg hat, müssen Sie sich bei Ihrer Argumentation auch überlegen, ob Sie den vier Pfeilern der erfolgreichen Verteidigung einer These genügt, also schlüssig ist, und ebenfalls nur dann Aussicht auf Erfolg haben wird. Checkliste: Ist meine Argumentation schlüssig? " Verwechsle ich zusätzliche Attribute mit ganz wesentlichen Attributen eines Sachverhaltes? Beispiel: wasserdichte Uhren mit Taucheruhren gleichsetzen " Wende ich eine allgemeine Regel auf einen besonderen Fall an, ohne die besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen? Beispiel: Wenn es falsch ist zu lügen, dann ist die Notlüge auch immer falsch. " Lasse ich das Wesentliche eines Sachverhaltes aus und kümmere mich stattdessen um unwesentliche Nebenaspekte? Beispiel: In einer Diskussion um die Kanzlerpolitik Schröders wird auf dessen Eheleben und seine bisher vierte Heirat abgestellt, um die mangelnde Stringenz der Politik zu beweisen. 11 Wie z. B. in einer Tatbestandsprüfung.

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" Lasse ich den Kern eines Problems außer Acht („um den heißen Brei reden“)? " Schließe ich von einer Konsequenz auf ihre Voraussetzung? Beispiel: Weil die Straße nass ist, muss es geregnet haben. " Gehe ich bei einer richtigen Schlussfolgerung von einer falschen Begründung aus? Beispiel: Wenn ein Mensch reich ist, muss er hart gearbeitet haben. Wie kann man die soeben gebildeten Argumente nun gut verpacken? Sicherlich haben schon viele in Diskussionen gemerkt, dass man mit dem einen Argument eher auf die „Tränendrüse“ drückt oder mit einem anderen eher an den Verstand appelliert. Diese Einordnung in verschiedene Kategorien bezeichnet man als Argumenttypus. Im Grundsatz gibt es vier verschiedene Argumentationstypen.

4.2. Die vier Grundtypen der Argumentation12 1. Die plausible Argumentation Die plausible Argumentation stützt sich letztlich auf die Kraft von Argumenten, die sich auf den „gesunden Menschenverstand“, auf allgemeine Meinungen, auf Herkunft, Tradition und Gewohnheit bezieht. Das Typische für diesen Argumentationstypus ist, dass er im ersten Augenblick sofort einleuchtet13 und scheinbar keine Fragen mehr offen lässt14. Ziel der plausiblen Argumentation ist es somit, Glaubwürdigkeit zu erlangen. 2. Die moralische Argumentation Dieser Argumentationstypus beruft sich auf verbreitete Wertvorstellungen und Normen in der Gesellschaft. Ethisch vorbildlich und untadelig erscheinende Personen oder Persönlichkeiten werden angeführt, um die eigenen Ansichten zu legitimieren bzw. zu rechtfertigen. Man appelliert damit beim Gegenüber an das Anstandsgefühl und unterstellt ihm gleichzeitig, dass, sollte er weiterhin anderer Meinung sein sollte, er dieses Anstandsgefühl nicht hat. Mithilfe der moralischen Argumentation kann man seinem Gegenüber einen Denkanstoß geben oder man versucht, ihn durch scheinbar allgemein gültige Moralvorstellungen derart zu manipulieren, indem man ihm suggeriert, er verhalte sich amoralisch. Damit baut man bei seinem Gegner erheblichen Druck auf, kann ihn verunsichern und fordert damit gleichzeitig auf, dem moralischen Druck nachzugeben und sich für die „richtige“, die moralische Seite zu entscheiden.

12 Wolfgang Rehm, Gesprächs- und Redepädagogik, Kastellaun, Henn, 1976. 13 Mit Hilfe von Pauschalurteilen und versuchten Verallgemeinerungen. 14 Man könnte es mit der herrschenden Meinung in Jura vergleichen.

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3. Die rationale Argumentation Grundsätzlich zielt die rationale Argumentation auf den Verstand ab. Hierzu bedient sie sich Tatsachen, wie Statistiken und sonstiger Fakten. Hierbei geht der Rhetor anhand von einer logisch nachvollziehbaren Gedankenführung alle anderen möglichen Alternativen zur Sachverhaltslösung durch, um sie zu widerlegen. Bedient man sich der rationalen Argumentation, so wird man – wie bei der plausiblen Argumentation auch – Glaubwürdigkeit erlangen. 4. Die taktische Argumentation Bei der taktischen Argumentation wird prinzipiell von der Richtigkeit und Überlegenheit der eigenen Auffassung ausgegangen. Dann werden abweichende Auffassungen vermeintlich objektiv beurteilt und analysiert und genauso „objektiv“ mit der eigenen Meinung verglichen, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich bei der gegnerischen Auffassung zwar um z. B. ähnliche Fälle handelt, die aber keineswegs vergleichbar und schon gar nicht auf den konkreten Sachverhalt anwendbar sind. Diese Taktik ist im Grunde genommen gut, aber nur solange der Adressat sich nicht näher, auch nach dem Gespräch, damit auseinandergesetzt hat und nicht feststellen wird, dass alles nur eine Show war – er ist also nur fürs Erste überzeugt.

4.3. Die Argumentationstechniken Der folgende Abschnitt soll eine Auswahl solcher wichtiger Argumentationstechniken vorstellen und aufzeigen, was man mit ihnen erreichen kann und wann man sie infolgedessen anwenden sollte. Als Einführung folgendes unterhaltsame Beispiel15: Der englische Unterhausabgeordnete William Gerard Hamilton – genannt „singlespeech-Hamilton“, weil er während seiner politischen Karriere selbst nur eine einzige Rede gehalten hat (1754, im Alter von 25 Jahren) – hat beispielsweise 33 Jahre lang seinen Kollegen zugehört und Ratschläge für Redner notiert, die man in seinem Nachlass gefunden hat, z. B.: „[…] Wenn deine Sache zu schlecht ist, rufe die Partei zur Hilfe; ist die Partei zu schlecht, rufe die Sache zur Hilfe; sind beide zu schlecht, dann verwende allgemeine und mehrdeutige Ausdrücke, und häufe Unterscheidungen und Unterteilungen ohne Ende. Wenn es dir von Nutzen ist, trenne Tatsachen und Gründe, bringt es dir Schaden, vermische sie. Verbräme mit einer Fülle von Einzelheiten die schlechten Stellen deiner Begründung, kannst du das nicht, dann lass diese Stelle fallen, aber behalte sie ständig im Auge. Wo du nicht überzeugen kannst, wird eine Fülle von Vergleichen blenden. Überlege, ob ein Wort verschiedene Bedeutungen hat, was du dir zunutze machen kannst, indem du es einmal in diesem, einmal im anderen Sinn gebrauchst; achte darauf, ob dein Gegner diesen Trick auch benutzt. Wenn die Hauptsache zu sehr gegen dich spricht, so überlege, welcher für dich günstige Punkt noch am wichtigsten ist und am meisten gefällt. Bei diesem verweile, und streife die entscheidende Frage nur flüchtig. Sie ganz zu

15 Aus Fritjof Haft, in: „Juristische Rhetorik“, C. H. Beck, München, 1985.

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übergehen, wäre zu plump. Nachteilige Umstände übergehe nicht ganz, stelle sie nur in den Schatten. […]“ Grundsätzlich kann man zwei Arten von Argumentationstechniken unterscheiden: Die fairen und die unfairen Argumentationstechniken. Wir wollen lernen, mit den fairen Argumentationstechniken zu arbeiten, denn nur diese führen zu dem von uns gewünschten Erfolg. Führen Sie sich immer unser Ziel vor Augen: Recht zu behalten um des Recht Behaltens willen und weil wir das bessere Argument haben. Die „fairen“ Argumentationstechniken – eine Auswahl: – Bestreite -Technik Bei der Bestreite-Technik werden einfach alle Argumente, die einem erfolgreich entgegengesetzt werden, als unwahr bezeichnet bzw. deren Existenz schlicht bestritten. Vorteil: Man drängt plötzlich den Gegner in eine Verteidigungsposition und verschafft sich ein bisschen Luft. Gefahr: Für jeden Zuhörer, der um die Wahrheit bzw. Existenz des Argumentes weiß, ist ersichtlich, dass man gerade die Notbremse zieht – man läuft Gefahr, sich lächerlich und damit unglaubwürdig zu machen. Beispiel: „Ihre Behauptung, Autoabgase seien umweltschädlich, ist doch überhaupt nicht erwiesen.“ – Vergleichs-Technik Eine schon etwas elegantere Technik ist die so genannte Vergleichstechnik. Dies ist eine besonders bei Anwälten beliebte Technik, wenn es darum geht, eine schlechte Position zu verteidigen. Das Rezept ist einfach: Man sucht einen ähnlichen Fall, bei dem es um den gleichen Themenkreis geht, der aber doch etwas anders gelagert ist. Dann stellt man diesen Fall erst einmal als identisch dar. Wenn man merkt, dass die Gegenseite nicht oder falsch recherchiert hat, diesen Vergleich also hinnimmt, versteift man sich auf diesen „gleich gelagerten“ Fall und versucht damit zu argumentieren. Anders herum kann man natürlich auch den Vergleich des Gegners als nicht richtig darstellen, ihm also zeigen, dass sein vermeintlicher Vergleich hinkt. Dies erreicht man, indem man sich seine Beispiele aufgreift und den Fehler im Vergleich findet. Vorteil: Man erscheint in einem besonders besonnenen und rationalen Lichte – man gewinnt an Überzeugungskraft. Gefahr: In der Hitze des Gefechts muss man sich gut überlegen, ob der Vergleich wirklich hinkt bzw. der eigene gezogene Vergleich nicht doch hinkt. Ist dies der Fall, so ist das Argument meist verloren und nicht wieder anführbar! Beispiel: „Sie vergleichen Gurken mit Tomaten, wenn Sie sagen…“ oder „Ihr Vergleich hinkt, wenn Sie sagen, dass…, denn…“

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– „Ja aber“-Technik Bei dieser Technik gibt man seinem Gegenüber zunächst in einigen seiner Punkte Recht („ja“), um dann mit einem „aber“ zu den Einwänden hinüberzuführen, um so die Argumente des Gegners schließlich doch abzulehnen. Vorteil: Die gegnerische Position wird durch rationale Argumentation als unvollständig entlarvt – man stärkt seine eigene Position. Man gewinnt auch den Gegner als aktiven Zuhörer für die eigenen Argumente – indem man ihn mit dem „ja“ aufhorchen lässt, ist er für das „aber“ aufmerksam und aufgeschlossener. Gefahr: Man kann schnell den Überblick verlieren und sich in Widersprüche verwickeln, wenn man nicht mehr genau weiß, welchen Punkten des Gegners man jetzt doch bedingt zugestimmt hat und welchen nicht. Beispiel: „Im Grundsatz haben sie ja Recht! Lassen sie uns doch aber noch einmal folgende Situation betrachten…“ – Scheinstützen-Technik Die Scheinstützen-Technik ist da schon etwas schwieriger zu durchschauen und anzuwenden, da sie einen absoluten Überblick über den gesamten Themenkomplex erfordert, der sich an das Diskussionsthema anschließt. Hier geht es darum, bestimmte Tatsachen zu erfinden, die es entweder gar nicht gibt oder bestimmte Sachen bewusst so zu interpretieren, damit diese als vermeintliche Stütze für die eigene Position erscheinen, obwohl z. B. gerade das Gegenteil der Fall ist. Meistens wird aber mit dieser Technik dahingehend gearbeitet, als bestimmte Konsequenzen aufgezeigt werden, die nicht eingetreten wären, wenn der Gegner im Recht wäre (Stichwort: „Das, was Du sagst, kann gar nicht stimmen, sonst wären ja alle…“). Vorteil: Man erscheint in einem kompetenten Licht und lässt den Gegner „alt“ aussehen, denn was es nicht gibt, kann er auch nicht wissen. Gefahr: Die Gefahr entlarvt zu werden, ist hoch – man blamiert sich, steht als Lügner da und wirkt nicht mehr glaubwürdig. Hier noch zu überzeugen, dürfte schwierig sein. Man sollte sich dann mit einem Witz aus der Schlinge ziehen, um wenigstens den Schaden zu begrenzen. Beispiel: „…eine amerikanische Studie hat gezeigt, dass …“ – Autoritäts-Technik Die Autoritäts-Technik stützt sich auf die Argumentation durch anerkannte Expertenmeinungen. Letztlich vertritt man eine Position, die man versucht mit einer Argumentation zu untermauern. Um dieses Fundament weiter zu verfestigen, führt man einen allseits bekannten Experten an, der genau dieselbe Ansicht vertritt oder vertreten hat und stellt am Besten in aller Kürze dessen Begründung vor, um schließlich den Kreis für alle nachvollziehbar zu schließen. In diesem Bereich der Argumentationstechniken bewegen wir uns schon auf einer sehr sachlichen Ebene, die in ihrer Begründung für sich selbst spricht und wenig angreifbar ist. Ich würde sie immer empfehlen.

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Die argumentativen Mittel

Vorteil: Man verschafft sich Glaubwürdigkeit – keiner traut sich gegen anerkannte Experten oder Persönlichkeiten etwas einzuwenden. Wer das tut, kann ja nur falsch liegen. Es wirkt schon fast wie ein Beweis. Gefahr: Man läuft Gefahr, dass keine eigenen Argumente mehr ins Spiel gebracht werden. Außerdem muss man sich den Einwand des Gegners gefallen lassen, dass man alle Meinungen der Experten schon kennt und man nun auf die Eigene gespannt sei – „…aber was meinen Sie eigentlich dazu?“ Beispiel: „Alan Greenspan hat gesagt…“ – Moralisierungs-Technik Der Techniker der Moral stellt die zur Debatte stehende Streitfrage als ein grundsätzliches und vor allem moralisches Thema dar. Damit reduziert er das Niveau grundsätzlich auf eine emotionale Ebene und klammert den pragmatischen Aspekt nahezu völlig aus – er verschafft sich einen anderen Zugang zu den Adressaten der Überzeugung. Soweit man diese Technik nicht übertrieben anwendet, ist sie durchaus mit Gewinn zu benutzen, aber eben auch mit Vorsicht zu genießen. Der Grat, auf dem man sich bei dieser Technik bewegt, ist sehr schmal, weil moralische Aspekte immer sehr sensibel sind – der Schuss kann also auch nach hinten losgehen. Vorteil: Man kann einen Denkanstoß beim Publikum erwirken und diesem suggerieren, der Gegner verhalte sich amoralisch. Gefahr: Das Publikum könnte anderer Ansicht sein oder genervt sein, z. B. bei abgedroschenen Phrasen. Beispiel: „…Datenschutz ist Tatenschutz…“ Übung: Überlegen Sie, wie Sie auf die moralische Argumentationstechnik Ihres Gegenüber in Zukunft reagieren wollen, ohne ihn als Diskussionspartner zu verlieren oder auszuschließen! – Vorwegnahme-Technik Mit der Vorwegnahme-Technik greift man ein Argument auf, das für den Gegner spricht, welches dieser aber selbst noch nicht erwähnt hat, es aber nur eine Frage der Zeit ist, bis er es ansprechen wird. Vorteil: Man strahlt Überlegenheit aus und vermittelt den „Durchblick“. Man nimmt dem Gegner den Wind aus den Segeln. Man kann das gegnerische Argument gleichzeitig minimalisieren und so für sich nutzen. Die Gegenseite fühlt sich verunsichert, weil durchschaut. Gefahr: Man macht die Gegenseite eventuell auf ein Argument aufmerksam, dass diese selbst nicht gesehen hat16. Möglicher Gegenangriff der Gegenseite wäre der Vorwurf – im Falle einer etwaigen Minimalisierung – ein „wichtiges Argument einfach abzutun“. Beispiel: „Und nur für den Fall, dass Sie einwenden werden, unser Mandant sei zur Tatzeit anwesend gewesen, kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Falsch! Denn…“ 16 Achtung: Keine schlafenden Hunde wecken.

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3. Teil Rhetorik

– Schweige-Technik Bei der so genannten Schweige-Technik übt man sich ausnahmsweise nicht im gekonnten Argumentieren, sondern sagt gar nichts mehr und lässt den Gegner, den dies verunsichert, sich selbst um Kopf und Kragen reden. Vorteil: Langes Schweigen kann den Partner verunsichern. Er sagt mehr, als er möchte – das bringt neue Gegenargumente für einen selbst. Gefahr: Man gibt die Diskussionsführung aus der Hand. Beispiel: Schweigen Sie und warten Sie ab… – Divisionstechnik Wenn man sich der Divisions- oder Minimalisierungstechnik bedient, kann man Nachteile, die vom Gegner angeführt werden, als nicht so schlimm darstellen. Man wiegelt die Nachteile ab und unterstellt dem Gegner gleichzeitig ein bewusstes Übertreiben. Diese Taktik empfiehlt sich, wenn man bei dem Faktor „Kosten“ angelangt ist. Vorteil: Nachteile werden so verkleinert, dass sie kaum ins Gewicht fallen. Aufwendungen wirken dank dieser Technik gering. Gefahr: Einwände wie „Sie sind sich der Tragweite dessen, was sie hier einführen wollen, doch gar nicht bewusst!“ oder „Milchmädchenrechnung!“ werden Sie in jedem Fall erwarten. Beispiel: „…und so teuer, wie es dargestellt wird, ist die Einführung eines Mautsystems doch gar nicht, denn wir haben doch auch immense Einnahmen…“ – Multiplikations-Technik Die Multiplikations- oder Übertreibungstechnik ist natürlich genau das Gegenteil der Divisionstechnik. Kosten oder Mängel des Gegners werden in großen Dimensionen dargestellt. Gleichzeitig untermauert man damit natürlich seine eigene Position. Vorteil: Die Gegenargumente wirken schwerer als sie eigentlich sind; der eigene Vorteil wird vergrößert. Gefahr: Die Diskussion wird zur Rechenaufgabe – jeder rechnet dem Publikum plötzlich nur noch vor, warum die eigene Rechnung nicht die Falsche ist. Das Publikum ist gelangweilt. Beispiel: „Ihr Rechenbeispiel ist ja sehr interessant! Schauen wir es uns doch mal genauer an – in Wirklichkeit bedeutet es nach Ihrer Rechnung nämlich, dass wir im Jahr 2007 einen Schuldenzuwachs von 10 % haben werden, dessen Ausgleich keinesfalls gesichert ist…“17

17 Für weitere Beispiele zu der Minimalisierungs- oder Übertreibungstechnik können Sie zu den aktuellen Anlässen auf Phoenix die „Haushaltsdebatten“ verfolgen und sich überlegen, warum dort nur wenige anwesend sind und niemand zuhört.

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Die argumentativen Mittel

– Matlock-Taktik Die Matlock-Taktik (auch als Salami-Taktik bekannt) ist eine sehr, sehr gute Argumentationsstrategie. Hierbei werden vom Redner einzelne Teilargumente vorgetragen, die der Adressat der Überzeugung für sich leicht bejahen oder befürworten kann und die in ihrer Gesamtheit zum Hauptargument führen. In kleinen Schritten (Scheibe für Scheibe) wird die Zustimmung zum Argument angestrebt. Häufig wird diese Taktik durch Stellung einzelner Fragen, die leicht bejaht werden können, durchgeführt, um dann die logische Konsequenz aus allen beantworteten Fragen zu ziehen. Vorteil: Wenn immer zugestimmt wird, kann beim Hauptargument, das logische Schlussfolgerung der einzelnen Teilargumente ist, nicht mehr bestritten werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Gefahr: Das größte Risiko besteht darin, dass der Adressat die Taktik früh erkennt und sich dann überredet und überrumpelt fühlt, so dass er beim darauf folgenden Teilargument abblockt – die gesamte Argumentation ist dann verloren. Beispiel: Stellen Sie sich Matlock in einer Gerichtsverhandlung vor und versuchen Sie sich auszumalen, wie er dort immer argumentiert: „Ist es nicht so, dass…?! Und wenn es so ist, ist es nicht auch so, dass…?! Und wenn dies auch so ist, wie kann Mister X dann der Täter sein?“ – Definitionstechnik Mithilfe der Definitionstechnik spielt man den schwarzen Peter der Gegenseite zu, indem man ihn in der Streitfrage nach seinem Verständnis über den Streitgegenstand befragt, d. h. mitten in der Diskussion scheinen einem Widersprüche und Unklarheiten in der gegnerischen Auffassung aufzufallen, so dass man den Gegner dazu auffordert, erst einmal zu der Definition der Streitfrage Stellung zu nehmen. Vorteil: Definitionen schaffen Klarheit; man drängt den Gegner damit in die Verteidigungsposition, indem man plötzlich von ihm eine Definition verlangt; man eröffnet sich die Möglichkeit, anhand der eventuell fehlerhaften Definition des Gegners Schwächen in seiner Argumentation zu entdecken. Nachteil: Die gegebene Definition kann zur Diskussionsgrundlage werden – plötzlich diskutiert man in einer Frage, für die man keinerlei Gegenargumente besitzt. Auch kann es passieren, dass man sich plötzlich über die Fragen der verschiedenen Definitionsmöglichkeiten streitet, ohne in der Sache selbst nur ein Wort zu verlieren. Beispiel: „…Sagen Sie mal, was verstehen Sie eigentlich unter Religion?“ – Ausweich-Technik Wendet man diese Technik an, so ist man ständig bemüht, den wahren Schauplatz bzw. Themenkomplex der Diskussion thematisch zu verlassen. Ziel ist es, den fehlenden Sachverstand in einer Diskussion zu vertuschen, in dem man auf ein anderes Thema überleitet, in dessen Gebiet man genug Hintergrundwissen hat, um weiter mitreden zu können, ohne als Ignorant und Blender aufzufliegen. Soudry

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3. Teil Rhetorik

Vorteil: Man erweckt den Eindruck eines besonders weitsichtigen und reflektierenden Menschen, der immer in der Lage ist, auch mal „über den Tellerrand zu schauen“ und Vergleiche anzustellen; man vertuscht sein Unwissen. Gefahr: Wenn es bemerkt wird, z. B. bei zu häufigem oder zu offensichtlichem Gebrauch, kann es passieren, dass der Gegner einen festnagelt – dann hilft nur noch die Flucht nach vorne und man muss dem Gegner „Engstirnigkeit und Sturheit“ vorwerfen. Beispiel: „Wo wir gerade bei dem neuen Steuerfahndungsgesetz sind – wussten Sie eigentlich, dass die Urmenschen auch schon eine Art Steuerzahlung durchführten? Nein? Ich erkläre es Ihnen kurz…“ – Plus-Minus-Taktik Die Plus-Minus-Taktik ist einfach anzuwenden – man pickt sich das wohl beste Argument der Gegenseite heraus und stellt diesem eine große Anzahl von Nachteilen entgegen – oder umgekehrt: Man stellt den von der Gegenseite vorgebrachten Nachteilen, die man ja auch einsieht, eine Vielzahl von Vorteilen der eigenen Seite entgegen. Vorteil: Vor- und Nachteile der Streitfrage werden so dargestellt, als gäbe es eigentlich keinen logischeren Schluss, als dass die eigene Meinung ja wohl überzeugen muss – schließlich hat man ja mehr Vorteile als die Gegenseite! Man stellt sich als überlegenen Menschen dar, da man ja auch einzelne Nachteile der eigenen Seite akzeptiert. Gefahr: Man läuft Gefahr, vorschnell sein ganzes Pulver zu verschießen und steht dann mit leeren Händen da. Der Gegner kann die Situation dann für sich nutzen, indem er fragt: „War das alles? Dann zeige ich Ihnen nun mal die wahren Vorteile meiner Ansicht…“ – er gewinnt den Zuhörer, während Sie ihn gerade verloren haben. Beispiel: „Sie haben als größten Vorteil bei der Verlängerung der Öffnungszeiten im Hinblick auf das Ladenschlussgesetz lediglich den Vorteil einer bequemeren Möglichkeit des Einkaufens beim Kunden genannt. Dieser Vorteil wird aber von einer Reihe gewichtiger Nachteile überschattet, namentlich sind es nämlich die Angestellten, die darunter leiden … und … darüber hinaus…“ Übungen: 1. Arbeiten Sie zehn (Pro/Contra) Argumente zu der Frage „Darf der Staat foltern?“ aus. Bilden Sie hierfür zwei Gruppen (Pro und Contra)! 2. Tauschen Sie gegenseitig Ihre Argumente aus und versuchen Sie, diese den verschiedenen Grundtypen der Argumentation zuzuordnen. 3. Zeigen Sie die wesentlichen Argumentationsstrategien der Gegenseite auf und überlegen Sie, wie Sie sich dagegen wehren könnten! 4. Entwerfen Sie zu den oben dargestellten möglichen Gefahren Gegenreaktionen!

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Die argumentativen Mittel

Die „unfairen“ Argumentationstechniken: Zunächst einmal gilt es die unfairen Techniken des Gegners zu erkennen, denn nur so kann man sich auch gegen sie wehren. Anhand einer Auswahl werden wir nun lernen, solche Strategien auszumachen. Vor Gericht, wo es oft um Kopf und Kragen geht, können Sie sich niemals darauf verlassen, dass Ihr Gegner fair bleibt. Wer unfaire Argumentationstechniken verwendet und dabei erfolgreich entlarvt wird, der hat beim neutralen Adressaten der Überzeugung keine Chance mehr! Daher folgender Ratschlag: Überlassen Sie solche Taktiken der Gegenseite und konzentrieren Sie sich lieber darauf, diese aufzudecken und damit zu überzeugen – Sie werden sehen, dass am Ende Sie mehr davon haben. Wer also sind Ihre Gegner, wenn es darum geht, unfaire Argumentationstechniken zu verwenden? Die Bekanntesten stelle ich Ihnen vor: – Der Verunsicherer Strategie: Der Verunsicherer legt eine betont kritische Haltung an den Tag. Besonders gerne stellt er Gegenfragen, die Sie aus dem Konzept bringen sollen. Zusätzlich untermalt er mit Hilfe seiner Körperhaltung die Strategie, indem er beispielsweise mit verschränkten Armen in seinem Stuhl hängt. Gegenstrategie: Zeigen Sie ihm, dass Sie ihn durchschauen. Sprechen Sie ihn offen an! „Gibt es nicht wenigstens ein kleines Pünktchen, in dem Sie meiner Meinung sind oder lehnen Sie wirklich alles, was ich sage, von vorneherein ab?“ Bringen Sie ruhig zum Ausdruck, dass er für alle Beteiligten eine unangenehme Situation schafft – bringen Sie andere so auf Ihre Seite! – Der Unterbrecher Strategie: Der Unterbrecher hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sie so oft er nur kann zu unterbrechen, um Sie so zum Aufgeben zu zwingen. Gegenstrategie: Machen Sie eine Pause! Sprechen Sie ihn direkt an und erinnern ihn vor allen anderen Beteiligten an die Grundregeln der Kommunikation – jeder lässt den anderen ausreden. Fragen Sie anschließend, ob Sie nun fortfahren dürfen – er wird Sie nicht wieder unterbrechen! – Der Wissenschaftler Strategie: Fremdwörter sind seine große Liebe – er setzt diese besonders großzügig ein, um Sie zu verwirren und um gleichzeitig sein eigenes Fachwissen zu untermauern. Gegenstrategie: Ihre Gegenstrategie hängt grundsätzlich davon ab, ob Sie das gerade verwendete Fremdwort kennen oder nicht. Kennen Sie es, so erklären Sie es in Ihrer Reaktion, wie z. B. so: „Sicherlich haben Sie Recht, wenn Sie in diesem Fall eine Ungleichbehandlung und damit eine Diskriminierung annehmen…“. Damit nehmen Sie von vorne herein der Taktik des Wissenschaftlers den Wind aus den Segeln – es wird ihm unangenehm sein, zu sehen, dass die Beherrschung seiner Fremdwörter zu Ihrem Wissen gehört. Kennen Sie es nicht, so bitten Sie den WisSoudry

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3. Teil Rhetorik

senschaftler offen um Erklärung des verwandten Begriffes, wie z. B.: „Ich kenne dieses Wort nicht. Könnten Sie mir bitte erläutern, was Sie in diesem Zusammenhang damit meinen?“ Damit rücken Sie ihn in eine kooperative Richtung – er arbeitet mit Ihnen nunmehr zusammen und wird sich bemühen, Fremdwörter nicht mehr als Waffe gegen Sie einzusetzen. Tut er dies nämlich weiterhin, wird das Publikum kein Verständnis hierfür zeigen, da dieses Verhalten für alle erkennbar zu keinem Ergebnis in der Diskussion mehr führt. Wer im rechten Moment Schwäche eingesteht, macht sich zum Sympathisanten des Publikums. Übertreiben Sie diese Gegenstrategie aber nicht, da man sich sonst fragen wird, ob Sie überhaupt etwas wissen! – Der Praktiker Strategie: Der Praktiker tut alle Ihre innovativen Vorschläge ab, indem er Sie auf ihre nur theoretische Umsetzbarkeit verweist, die in der Praxis nichts taugen. Das geschieht meist mit folgendem Satz: „Ihr Vorschlag funktioniert vielleicht in der Theorie, aber in der Praxis lässt er sich nicht durchführen“. Gegenstrategie: Fragen Sie ihn gezielt, wo mit Ihrem Vorschlag bereits schlechte Resultate erzielt wurden; weisen Sie ihn darauf hin, dass es einen Versuch wert ist, Ihren Vorschlag auch in der Praxis zu testen; bedanken Sie sich ironisch für seine Anerkenntnis hinsichtlich Ihrer theoretischen Fähigkeiten; weisen Sie ihn darauf hin, dass man „so mit Sicherheit nicht weiter kommt“. – Der Kompetente Strategie: Dieser Mensch strotzt vor Kompetenz – Sie leider nicht. Dies versucht er Sie spüren zu lassen, indem er Ihre Kompetenz in Frage stellt. Dies kann z. B. damit geschehen, dass er Ihnen etwa aufgrund Ihres jungen Alters mangelnde Lebenserfahrung vorwirft. Gegenstrategie: Weisen Sie ihn darauf hin, dass Ihr Alter jetzt gerade nicht zur Debatte steht, sondern es gerade um Argumente in der Sache geht; fragen Sie ihn, was gegen Ihr vorgetragenes Argument spricht. – Der Widerspruchsschnüffler Strategie: Eines kann diese Person ganz besonders gut, nämlich schnüffeln. Dies tut der Widerspruchschnüffler besonders gerne in Ihren früheren Aussagen, die er sich wahrscheinlich irgendwo notiert hat. Findet er eine von Ihnen früher einmal getätigte Aussage, die in Widerspruch zu Ihrer jetzigen steht, so unterbricht er Sie sofort: „…damals haben Sie aber gesagt, dass…“. Gegenstrategie: Schauen Sie ihn verwundert an und sagen Sie ihm, dass Sie in der Zeit, in der er nach widersprüchlichen Aussagen „geschnüffelt“ hat, dazu gelernt haben; stimmt die von ihm erschnüffelte Aussage nicht, so berichtigen Sie ihn klar und deutlich: „Falsch! Das habe ich damals so gesagt…“; weisen Sie auf einen damals unterschiedlichen Kontext zur heutigen Situation hin und erklären Sie, dass Ihre Aussage aus dem Zusammenhang gerissen wurde und falsch dargestellt wird.

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Die argumentativen Mittel

– Der Großzügige Strategie: Der Großzügige macht seinem Namen alle Ehre, wenn es darum geht, bei Zahlen „nicht so kleinlich zu sein“ oder wenn er Ihnen eine „Buchhaltermentalität“ nachsagt. Damit will er Ihre begründeten Einwände hinsichtlich eventueller Kosten als „kleinkariert“ abtun. Gegenstrategie: Fragen Sie ihn nach seinen konkreten Einwänden gegen Ihre Zahlen; fordern Sie ihn auf, Ihnen eine andere Berechnungsgrundlage vorzuschlagen; fragen Sie ihn nach günstigeren Alternativen; weisen Sie ihn auf die Folgen nicht beachteter Details hin („Der Teufel liegt im Detail“). – Der Genaue Strategie: Der Genaue benimmt sich genau anders herum als der Großzügige. Sein Ziel ist es, Sie zum Einstürzen zu bringen, indem er ständig darauf hinweist, dass dieser oder jener Gesichtspunkt keine ausreichende Berücksichtigung in Ihrer Argumentation gefunden hat. Gegenstrategie: Behaupten Sie, dass die von ihm bemängelten Einzelheiten selbstverständlich berücksichtigt wurden und nur deshalb nicht alle „en détail“ aufgeführt wurden, um die Beteiligten nicht zu langweilen; haben Sie die bemängelten Einzelheiten, wie z. B. Zahlen, Kosten etc. tatsächlich berücksichtigt, so legen Sie sie vor – haben Sie die Einzelheiten nicht berücksichtigt, so verweisen Sie ihn auf eine spätere Gelegenheit, bei der man dies dann mit der entsprechenden Zeit gesondert behandeln kann („Ich sehe das genauso! Lassen Sie uns diesen wichtigen Punkt aber später genau erörtern und uns zu diesem Zeitpunkt mit der Grundproblematik befassen…“). – Der Persönliche Strategie: Der Persönliche sieht sich nicht in der Lage, Ihrer Argumentation etwas entgegenzuhalten. Daher wird er persönlich und beleidigend. Damit will er Sie aus der Reserve locken, um Sie gezielt von Ihrem guten Weg abzubringen. Gegenstrategie: Weisen Sie persönliche Angriffe stets entschieden zurück; lassen Sie die anderen Zuhörer an Ihrer Empörung teilhaben; fragen Sie ihn, ob er auch zur Sache etwas zu sagen hat; ignorieren Sie ihn und zeigen Sie den anderen Zuhörern mimisch (z. B. leichtes Augenrollen), dass Sie von seiner Unsachlichkeit nichts halten. – Der Verschleierer Strategie: Der Verschleierer ist wie der Persönliche – nur weiß er es geschickt zu verbergen, indem er seiner persönlichen Kritik andere oder gegenteilige Absichten voranstellt, wie etwa „Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch. Ich meine das jetzt nicht persönlich, aber…“. Damit will er dem Zuhörer suggerieren, dass er sich lediglich zu der Sache selbst äußert (und es nicht nachvollziehbar ist, warum Sie sich so aufregen)18. Gegenstrategie: Decken Sie seine Taktik gezielt auf; zeigen Sie Ihrem Adressaten der Überzeugung, was Ihr Gegner versucht; fragen Sie Ihren Gegner, ob er wirklich 18 Wie etwa die sog. Formalbeleidigung bei § 185 StGB.

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3. Teil Rhetorik

glaubt, dass diese Art von persönlicher Kritik angebracht sei, weisen Sie ihn darauf hin, dass er Sie nicht beleidigen soll; siehe auch bei „Der Persönliche“. – Der Verwirrer Strategie: Der Verwirrer ist darauf spezialisiert, einen von Ihnen als klar dargestellten Sachverhalt derart wiederzugeben, dass selbst Sie ihn nicht wieder erkennen. Er verdreht z. B. Ihre Aussagen in das Gegenteil, um damit zu zeigen, dass Sie sich widersprechen, oder verstellt Tatsachen, indem er behauptet, dass Sie „dies und jenes“ gesagt hätten usw. Nicht zuletzt will er auch Sie selbst damit verwirren. Sie sollen sich fragen: „Was habe ich vorhin eigentlich gesagt?“ oder „Habe ich das wirklich gesagt?“ Am liebsten hätte er dann, dass Sie sich für vorhin Gesagtes entschuldigen, etwa so: „…falls ich das gesagt habe, dann tut es mir leid!“. Gegenstrategie: Entwirren Sie seine Behauptungen; schütteln Sie sie wieder ab; werfen Sie sie aus dem Diskussionsraum; lassen Sie die Zuhörer die Umdeutung Ihres Gegners bewusst werden; machen Sie den Zuhörern klar, dass sie gerade „Opfer“ der Verschleierungstaktik ihres Gegners geworden sind und dass Sie jetzt Hilfe leisten, indem Sie die „Machenschaften des Täters“ genau unter die Lupe nehmen werden. Zum Beispiel so: „Machen Sie sich keine Sorgen – ich werde wieder klare Sicht in die nebelige Landschaft bringen, in die uns soeben mein Kollege entführt hat!“. – Der Isolierer Strategie: Der Isolierer greift sich aus Ihrer Argumentation immer das eine Argument heraus, von dem er glaubt, dass es sich hierbei um Ihr schwächstes handelt und von dem er merkt, dass sich die Zuhörer hieran stören. Dann stellt er es isoliert dar und diskutiert dieses stellvertretend für ihre ganze Argumentation. Am besten führt er für sein Verhalten noch einen für jeden einleuchtenden Grund an, wie z. B. so: „Aus Zeitgründen möchte ich lediglich folgenden Aspekt beleuchten.“. Gegenstrategie: Greifen Sie an! Bedanken Sie sich für seine konkludente Zustimmung zu den anderen Punkten (über die er sich nicht beschwert hat); wenden Sie sich an die Zuhörer: „Sehen Sie, selbst unser größter Kritiker stört sich nur an folgendem Aspekt. Zu diesem Problem haben wir Folgendes erarbeitet…“; nutzen Sie die vom Isolierer geschaffene Situation für sich und ziehen so den Zuhörer wieder auf Ihre Seite. Übung: 1. Im Folgenden finden Sie eine Reihe weiterer „unfairer Argumentationstechniker“. Erarbeiten Sie mindestens drei Gegenstrategien! 2. Was für unfaire Argumentationstechniker kennen Sie sonst noch aus Ihrer Erfahrung? Beschreiben Sie sie beispielhaft und geben Sie ihnen Namen! Bilden Sie Gegenstrategien! – Der Kutscher Strategie: Der Kutscher ist darum bemüht, Ihre vermeintlichen Einladungen zu einer Retourkutsche anzunehmen. Hierzu versucht er nachzuweisen, dass Sie sich noch nicht einmal selbst an die von Ihnen aufgestellten Grundsätze halten.

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Die argumentativen Mittel

„Sie sprechen die ganze Zeit von knappen Energieressourcen und fordern das Einsparen von Energie – selbst fahren Sie aber mit dem Auto zum Zigarettenautomaten.“ – Der Schläger Strategie: Da ihm grundsätzlich die wirklichen Argumente zur Sache fehlen, bedient er sich Schlagworten. Er ist der Meinung, er könne Sie und das Publikum mit seiner Schlagwortargumentation nachhaltig beeindrucken. Das Problem mit dem Schläger ist, dass das Publikum extrem geneigt ist, auf diese Taktik hereinzufallen. „Wer nicht hören will, muss fühlen“ – Der Pauschale Strategie: Er ist ein wahres Genie, wenn es darum geht, einen von Ihnen zitierten Einzelfall zu verallgemeinern, um etwa damit zu beweisen, dass Ihre Argumentation widersprüchlich oder einfach unglaubwürdig ist. „Wollen Sie etwa sagen, dass alle Politiker korrupt sind?“ – Der Sensible Strategie: Der Sensible ist sich nicht zu gut, die Emotionen anderer zu missbrauchen, um damit seine Position zu stärken und die Ihrige zu schwächen. Er nutzt gezielt von Ihnen angesprochene Situationen und wirft Ihnen vor, dass Sie doch überhaupt kein Anstandsgefühl hätten o. Ä. „Ihnen kann es ja egal sein, wenn Sie auf Kosten der Sicherheit noch mehr Einsparungen machen, aber fragen Sie doch mal die Opfer vom 11. September…!“ – Der Plausible Strategie: Der Plausible versucht, wenig fundierte Argumente glaubwürdiger wirken zu lassen, indem er sie schlechthin als plausible deklariert. „Es muss doch allen Beteiligten einleuchten, dass…“ oder „Es kann doch nicht sein, dass…“ – Der Maurer Strategie: Der Maurer baut gezielt eine Mauer des Redens auf, indem er ununterbrochen redet. Damit will er Zeit verbraten, die Ihnen später fehlt. Am liebsten redet er so lange, bis die Zeit um ist, der Richter keine Lust mehr hat zuzuhören oder alle müde werden. – Der Induktive Strategie: Anhand eines für jeden verständlichen Einzelfalls will er beweisen, dass seine Position allgemeingültig ist. Immer wieder führt er bei kritischen Gegenfragen dieses Argument erneut an. „Halten Sie sich doch nur noch einmal unsere vorgenannte Situation vor Augen – dann werden Sie sehen, dass ihre Bedenken unnötig sind.“ Soudry

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3. Teil Rhetorik

4.4. Killerphrasen Der Name sagt es bereits: Killerphrasen sind Sätze, die einfach nur dazu dienen sollen, den Diskussionspartner mundtot zu machen, um im vermeintlichem Recht zu bleiben. Dies geschieht im Grundsatz immer durch das Verwenden von Schlagworten, die zu den gerade stattfindenden Streitgesprächen nahezu immer passen, die jeder immer äußern kann, ohne etwas Konstruktives zu der Streitfrage beizutragen und die eine fruchtbare und sachliche Auseinandersetzung mit der Streitfrage bereits im Keim ersticken. Ziel des Verwenders einer solchen Killerphrase ist es eigentlich nur, der Gegenseite ein „Todschlagargument“ vorzuhalten, um die Streitfrage wenigstens nicht zu Gunsten des Gegners entschieden zu sehen. Von dieser Art der Argumentation muss aber dringend abgeraten werden. Hierzu ein Beispiel: Während einer Diskussion über die lebenslange Freiheitsstrafe von Kinderschändern sagt einer der Beteiligten, der eine lebenslange Sicherheitsverwahrung begrüßt, Folgendes: „Wollen Sie wirklich, dass diese tickenden Zeitbomben wieder in unsere Gesellschaft eingegliedert werden und damit auch Ihre Kinder gefährdet werden? Sind Sie wirklich der Meinung, Sie können weitere Verbrechen verhindern, indem Sie eine Therapie veranschlagen, von der noch nicht einmal sicher ist, ob diese etwas genutzt hat? Was würden Sie denn tun, wenn es sich bei der kleinen M. um Ihre eigene Tochter gehandelt hätte?“

Übung: a) Ersetzen Sie die oben aufgeführten Killerphrasen mit „echten Argumenten“! b) Stellen Sie innerhalb von zehn Minuten eine schlüssige Argumentation für oder gegen die lebenslange Sicherheitsverwahrung zusammen! c) Vertreten Sie hierbei diejenige Position, die Sie in Wirklichkeit angreifen würden. Spielen Sie des Teufels Anwalt! d) Bilden Sie zwei Gruppen und streiten Sie darüber. Versuchen Sie dabei, die erlernten Techniken einzusetzen. Wir haben bereits gelernt, dass es in Diskussionen und Reden immer darum geht, andere zu überzeugen. Dies bedeutet, dass wir den Zugang zu dem Adressaten der Überzeugung finden müssen, denn nur wer überzeugt werden will oder zumindest wer sich gegen das Überzeugtwerden nicht wehrt, kann überzeugt werden. Weil wir aber Menschen und keine Argumentationsapparate sind und dies gleichermaßen natürlich für den Adressaten der Überzeugung gilt, sprechen wir häufig auch dessen Emotionen an. Das heißt, wir argumentieren z. B. moralisch. Diese Ebene nennt man die „Bauch-Ebene“. Killerphrasen sprechen auch die „Bauch-Ebene“ an, da sie auf Emotionen abzielen – dem Adressaten der Killerphrase soll Schwäche suggeriert werden, indem man ihn in eine ausweglose Situation drängt, aus der er sich verbal nicht mehr verteidigen kann.

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Die argumentativen Mittel

Argument

Adressat Adressat erlaubt keinen Zugang zu der Bauch-Ebene

Bauch-Ebene

Kopf-Ebene

Überzeugung

Es kann nur auf der pragmatischen Kopfebene überzeugt werden

Nun gibt es aber solche, die der Auffassung sind, dass man grundsätzlich nur auf der pragmatischen Ebene überzeugen kann. Diese Ansicht teile ich nicht. Schließlich kommt es darauf an, welche Art von Argumentationsebene der Adressat zulässt. Will sich der Adressat nur von sachlichen Gründen und Gegengründen leiten lassen, so wird er bisweilen sogar ungemütlich auf emotionale Argumentationstechniken reagieren. Hierzu ein Beispiel aus dem Alltag: In einer Firma fällt dem Chef, der für seine besonders harte Linie bekannt ist, auf, dass einer seiner besten Angestellten, Herr X, in der letzten Zeit nicht so gut wie sonst üblich arbeitet. Als er ihn darauf anspricht, bittet der Angestellte um Verständnis und erklärt ihm, dass er sich gerade in der Scheidung von seiner Frau befinde und die Kinder furchtbar unter dieser Situation litten. Darauf antwortet der Chef Folgendes: „Herr X, Sie und ich, wir sind Profis! Von solchen Nebensächlichkeiten können wir uns doch als umsatzorientiertes Unternehmen nicht leiten lassen, oder sehen Sie das anders? Herr X, ich kann mich doch auf Sie verlassen?!“ Herr X antwortet: „Sie können sich jederzeit auf mich verlassen!“

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3. Teil Rhetorik

Ausgangslage war, dass es Herrn X schlecht ging und er seine Arbeit nicht zu der von ihm gewohnten Zufriedenheit ausführen konnte. Als ihn also sein Chef auf diesen „Missstand“ hinwies, erklärte er ihm bzw. versuchte er ihm zu erklären, was die Ursache für diese Situation ist. Obwohl er aber wusste, dass sein Chef ein Hardliner ist, wies er ihn auf die emotionale Problematik in seinem Privatleben hin – er argumentierte also aus einer Verteidigungsposition emotional. Dies kam beim Chef gar nicht an, da er solcher Argumentation nicht zugänglich ist. Stattdessen reagierte er mit einer Killerphrase. Hierbei spielt es keine Rolle, ob diese nun als Frage oder Aussage formuliert wird. Wie kann man sich nun aber erfolgreich gegen Killerphrasen wehren? Killerphrasen wirken aufgrund ihrer emotionalen Natur nahezu immer persönlich und können daher Stress auslösen, was ein schnelles Reagieren verhindern kann. Daher ist es empfehlenswert, immer einige allgemeingültige Strategien parat zu haben, die ein entsprechendes Reagieren möglich machen und es einem so erlauben, gelassen zu bleiben und die unangenehme Situation für sich zu nutzen, indem man wieder die Gesprächsführung übernimmt. Rhetorische Vorbereitung: Überlegen Sie, welche Situationen Sie kennen, die ähnlich strukturiert sind, sich öfter wiederholen und die für Sie bislang unbefriedigend verlaufen sind. Modifizieren Sie die oben genannten Beispiele und entwickeln Sie bereits jetzt erfolgreiche Alternativen für Situationen, die kommen werden. Mentale Vorbereitung: Verbinden Sie diese Übung wirkungsvoll mit mentalem Training: Stellen Sie sich bildhaft vor, was abläuft, wenn Sie sich anders verhalten als bisher. Lassen Sie einen Film vor Ihrem geistigen Auge ablaufen. Ändern Sie in Ihrer Vorstellung Ihr Verhalten und das, was Sie sagen, solange um, bis der Film in Ihrer Vorstellung zufriedenstellend abläuft. Strategische Vorbereitung: Mit welchen Menschen in welchen Situationen können welche kritischen Momente kommen? Für wen ist welche Strategie richtig – oder gleich eine Kombination aus mehreren Strategien? Denken Sie daran: Für Erfolg gibt es kein Patentrezept, das zu jedem Menschen zu jedem Thema zu jeder Zeit in jeder Situation passt. Durch mentales Training und gute rhetorische Vorbereitung können Sie sich jedoch in eine gute innere Verfassung bringen, die sich in Ihrem äußeren Verhalten durch Souveränität, angemessener Gelassenheit und gutem Sprachstil widerspiegelt. Schaffen Sie innere Stabilität, um gegenüber Killerphrasen und negativen Gesprächsbeiträgen gelassen und sicher zu reagieren. Beispiele für typische Killerphrasen: Haben Sie das bereits mal irgendwo anders versucht einzuführen? Da könnte ja jeder kommen… Das bringt doch nichts… Das ist doch gegen die Vorschriften… Warum denn so eilig?

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Die Rede Wir probieren es jetzt erst einmal und sehen dann weiter. Das hat sich doch bewährt, warum also ändern? Das ist doch alles bereits kalkuliert… Dafür sind wir nicht zuständig… Technisch ist das nicht machbar… Dazu haben wir nicht die richtigen Leute… Haben wir doch schon alles versucht! Dafür ist die Zeit einfach noch nicht reif! Das weiß doch jedes Kind… Damit kommen wir hier nicht durch! Das ist nicht unser Bier… Abwarten und Tee trinken… Das werden die uns da oben nie durchgehen lassen… Das glaubt doch keiner… Andere machen das auch nicht! Wenn Ihre Idee so gut ist, warum wendet sie dann niemand an?

Übung: 1. Erarbeiten Sie für diese Killerphrasen anhand der oben erlernten Argumentationstechniken Gegenstrategien – arbeiten Sie hierbei die der entsprechenden Killerphrase zugrunde liegende Situation ein! 2. Überlegen Sie sich eine schlagfertige Antwort für jede Killerphrase! 3. Versuchen Sie eine Killerphrasensituation zu erarbeiten, von der Sie glauben, dass es in einer Diskussion keine Gegenstrategie geben kann – eine andere Gruppe soll das Gegenteil beweisen!

5. Kapitel Die Rede Wir werden in diesem Abschnitt lernen, eine „richtige“ Rede zu halten, eine Kurzrede zu halten, wie es in einem Plädoyer vor Gericht nötig ist, und natürlich die wichtigsten Techniken, die man beim Auftreten bzw. beim Halten der Rede selbst beachten muss. Zwischen einer Rede und einem Plädoyer gibt es einige Unterschiede. Ein wesentlicher Unterschied besteht z. B. in der Tatsache, dass man sich in der Regel als Anwalt auf sein Plädoyer nicht vorbereiten kann, da es immer wieder passiert, dass in der Hauptverhandlung Dinge zu Tag treten, von denen man nichts wusste oder die das Gericht anders bewertet. Sicherlich hat man als Anwalt in verschiedenen Prozessen die Möglichkeit sein Plädoyer auch einmal vorzubereiten; gerade wenn es sich um einen langwierigen Prozess handelt, der es erfordert einen VerSoudry

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3. Teil Rhetorik

handlungstag für das plädieren einzuplanen. Da es aber eine wirkliche Gerichtsrede kaum noch gibt, sondern das bereits Vorgetragene allenfalls im Plädoyer zusammenfassend abgehandelt wird, brauchen wir uns für die Praxis mit der ursprünglich wichtigsten Rede im antiken Griechenland – der Gerichtsrede – nicht weiter auseinanderzusetzen. Vielmehr werden wir im Folgenden allgemein lernen, eine Rede aufzubauen und diese anschließend zu halten. Danach beschäftigen wir uns mit der Technik des Plädoyers, also mit der Frage, auf was Sie achten müssen, wenn Sie als Anwalt plädieren, damit Sie etwas erreichen können und alle wesentlichen Fragen abgehandelt haben, die während der Verhandlung aufgetaucht sind.

5.1. Schematischer Überblick über die klassische Rede Im Folgenden werden wir uns an der klassischen Gliederung zur Erstellung einer Rede orientieren. Diese passt eigentlich immer. Sie gliedert sich in drei Teile, nämlich 1. Einleitung 2. Hauptteil 3. Schluss Bevor man sich mit diesen Teilen der Rede befasst, gibt es aber noch eine Reihe von Vorbereitungen, die man treffen muss. Diese Reihenfolge soll auch dieser Abschnitt einhalten. Deshalb widmen wir uns zunächst der Vorbereitungsphase.

5.2. Die Vorbereitungsphase Will man obige Gliederung mit Inhalten füllen, so muss man bestimmte zweckmäßige Punkte beachten, die einen zum richtigen Inhalt einer solchen Rede bringen. Geht man diese nachstehenden Punkte durch, so ergibt sich der Inhalt der Rede schon meist von selbst. Die anfänglich große Angst, die Redezeit inhaltlich nicht oder nur unangemessen füllen zu können, verschwindet so – Sie bekommen Sicherheit. Außerdem besteht kaum Gefahr, dass Sie über inhaltlich Unwesentliches zu dem gegebenen Anlass sprechen könnten. Wenn der Kapitän eines Schiffes auf die Brücke geht, um die einzelnen Befehle zu erteilen, damit man auslaufen kann, dann weiß er für gewöhnlich, wohin die Reise gehen soll. Er hat sich vorher die entsprechende Seekarte herausgesucht und mithilfe der verschiedenen Instrumente genau berechnet, wie man fahren muss, um gesund an das Ziel zu kommen. Davor noch, hat er sich aber Gedanken gemacht, wohin er mit dem Schiff fahren will. Nichts anderes kann für einen Redner gelten – auch er muss sich fragen, was für ein Ziel er mit der Rede verfolgt. Nur dann ist gewährleistet, dass er überhaupt die Möglichkeit hat, an sein Ziel zu kommen. Wenn Sie den Kapitän fragen würden, warum er sich so genau überlegt, wohin er fahren will und nicht einfach mal drauf los fährt, so wird er Ihnen antworten: Wer den Hafen nicht kennt, für den ist kein Wind günstig19.

19 Seneca

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Die Rede

Überlegen Sie sich also zunächst, was Sie mit Ihrer Rede erreichen wollen. Also überlegen Sie sich z. B., ob Sie – für etwas werben, – jemanden überzeugen, – eine Situation erklären oder manipulieren, – Informationen unverfälscht oder verfälscht weitergeben, – den Zuhörer unterhalten, provozieren oder begeistern oder – die Einstellung, das Verhalten oder Wissen der Zuhörer verändern wollen. Erst wenn Sie diese Frage für sich selbst beantworten können, kann es weiter gehen, denn wer den Hafen nicht kennt… Information ist alles! Der Kapitän muss die Bedürfnisse seiner Passagiere kennen. Nur dann kann er sie so bedienen lassen, wie sie es erwarten. Der eine möchte lieber in einer Innenkabine wohnen, während der andere eine Außenkabine bevorzugt. Nichts anderes muss auch ein Redner tun – er muss seine Passagiere, sein Publikum, seinen Adressaten der Überzeugung bedienen. Um dies tun zu können, muss auch er zunächst einmal wissen, wen überhaupt er bedienen, also zufrieden stellen soll, um ihn überzeugen zu können. Was interessiert das Publikum? Nur wenn man das Publikum, also seinen Adressaten der Überzeugung gut kennt, wird man es erreichen können. Nur dann hat man die Möglichkeit zu überzeugen, ansonsten wird man in ein gähnendes und gelangweiltes Publikum blicken, während man redet. Informieren Sie sich daher als Allererstes über folgende Punkte anhand der Checkliste: – Wie setzt sich das Publikum zusammen? – Wer sind die wichtigsten Personen und was erwarten diese? – Was können die Zuhörer über das Thema bereits wissen – was auf gar keinen Fall? – Welche Basics muss ich während der Rede vermitteln, damit die Zuhörer meinen Ausführungen folgen können? – War dieses Publikum schon einmal Adressat zu diesem Thema? Wenn ja, was waren die wesentlichen Inhalte der damaligen Rede? Wer hat diese Rede gehalten? – Was interessiert den durchschnittlichen Zuhörer an diesem Thema? Wichtigste Frage bei den Zuhörereigenschaften: Wer ist mein größter Feind unter den Zuhörern? Diese Frage sollten Sie sich beantworten können. Wenn es Ihnen gelingt, Ihren größten Feind zu überzeugen, dann haben Sie die anderen auch überzeugt. Das Servicepersonal an Bord eines jeden guten Schiffes weiß auch immer Bescheid, wer von allen der pingeligste Gast ist. Nur wenn dieser zufrieden ist, sind auch alle anderen Gäste zufrieden. Soudry

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3. Teil Rhetorik

Denken wir wieder an unseren Kapitän. Mittlerweile weiß er wohin die Reise gehen soll, wer seine Passagiere sind und was deren Ansprüche sind. Er kennt auch schon seinen pingeligsten Gast. Damit die Gäste auch etwas zu essen bekommen, muss der Kapitän Vorräte an Board schaffen. Auch die Zuhörer wollen Nahrung. Nahrung in Form von Inhalten. Daher muss der Redner Inhalte sammeln – er muss sich also eine Stoffsammlung machen.

5.3. Sammeln von Inhalten und Argumenten Der Kapitän kann einfach zum Großhändler gehen und entsprechende Mengen an Nahrungsmitteln bestellen – es wird ihm sogar geliefert. Wo aber kriegen Sie die Nahrung für Ihre Gäste her? Sicherlich nicht von einem Großhändler für Redeninhalte! Dies bedeutet, dass Sie auf die Suche gehen müssen – sammeln Sie Inhalte und Argumente! Bei der Sammlung von Inhalten geht es darum, sich einen Überblick über die Thematik selbst zu verschaffen, d. h. man sollte sich – in die Thematik einlesen, – alle Gedanken zu diesem Thema immer sofort notieren, – sich zusätzlich Informationsquellen zunutze machen, die nicht jedermann nutzt, – überlegen, was die herrschende Meinung in der Gesellschaft zu dem Thema ist. Natürlich reicht es für eine Stoffsammlung noch nicht aus, dass man sich aufgeschrieben hat, was das Thema alles umfasst. Man braucht auch Argumente. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Argumenten zur Person und Argumenten zur Sache. Demzufolge gibt es hierfür auch verschiedene Fundorte. Fundorte zur Person (loci a persona) liefern uns Argumente zur Person, über die man reden will oder muss. Diese Fundorte sollte man besonders genau untersuchen, wenn es darum geht, gegen eine Person zu argumentieren. Hierzu zählen z. B. die Argumente aus – altersbedingten Denk- und Verhaltensweisen einer Person, – den schicksalhaften Ereignissen der Lebensgeschichte einer Person, – charakterlichen Eigenschaften, – Neigungen einer Person, – vorangegangen Taten oder Äußerungen einer Person, – bildungsbedingten Denk- und Verhaltensweisen einer Person. Anhand solcher Stützen kann man sich leicht helfen, wenn man überhaupt nicht weiß, wo man anfangen soll. Hierdurch erleichtert man sich die Suche nach Argumenten erheblich. Übung: Stellen Sie eine Liste mit weiteren möglichen Fundorten zur Person zusammen! 98

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Die Rede

Um aber auch etwas zur Sache selbst sagen zu können, brauchen wir auch Fundorte zur Sache (loci a re). Sucht man die Fundorte zur Sache auf, so bekommt man Argumente zur Thematik selbst. Solche sind z. B. Fundorte zur – Ursache – hier findet man Argumente aus den Ursachen von Handlungen und Ereignissen, – Definition – hier findet man Argumente aus der Abgrenzung von Handlungen oder Ereignissen, – Zeit – hier findet man Argumente aus Zeitpunkt und Dauer von Handlungen, – Art und Weise – hier findet man Argumente aus der Art und Weise des Handelns oder Geschehens, – Ähnlichkeit – hier findet man Argumente aus der Ähnlichkeit von Handlungen oder Ereignissen. Erarbeiten Sie sich einen umfangreichen Wortschatz (Synonyme) zu Ihrem Thema! Am besten lesen Sie hierzu entsprechende Literatur aus verschieden Zeitschriften und Büchern. So laufen Sie nicht Gefahr, dass bei einer Zwischenfrage ein in dem Zusammenhang verwendetes Wort Ihnen unbekannt ist und ersparen sich die unangenehme Nachfrage – man sollte niemals das Publikum unterschätzen. Übung: Stellen Sie eine Liste mit weiteren möglichen Fundorten zur Sache zusammen! Nachdem man sich auf diese Art und Weise eine sehr umfangreiche Stoffsammlung erarbeitet hat, gilt es die gefunden Argumente zu gewichten, d. h. es müssen Schwerpunkte gesetzt werden. Der Redner muss sich überlegen, auf welches Argument er den Schwerpunkt in seiner Rede setzten will. Filtern Sie daher aus Ihrer Stoffsammlung nunmehr alles heraus, was Sie nicht mehr brauchen können. Am besten streichen Sie Unwichtiges. Das Wichtige, das dann noch übrig geblieben ist, sortieren Sie. Gehen Sie beim Sortieren der Reihenfolge Ihrer Argumente immer nach der Feuerwerksregel vor: 1. Zünden Sie den Docht an (schwächstes Argument). 2. Lassen Sie die Rakete in die Luft steigen (starkes Argument). 3. Lassen Sie die Rakete explodieren (stärkstes Argument). Steigern Sie Ihre Argumentation also. Damit bauen Sie Spannung auf und können zum Schluss richtig überzeugen („Lassen Sie die Bombe explodieren“). Nichts anderes macht der Kapitän auf seiner Kreuzfahrt – am Ende lädt er noch einmal zu einem Gala-Dinner. Das Beste also immer zum Schluss! Davon wird aber noch keine Reise zum Erlebnis. Deshalb muss der Kapitän sich überlegen, wie er seine Gäste während der Kreuzfahrt unterhalten kann – er muss ihnen ein Programm anbieten. Daher wird der Kapitän als Nächstes planen, wie er seine Gäste unterhalten kann, indem er sich darüber informiert, was es für Künstler gibt, wann man welche Filme spielen könnte oder welche gesellige Veranstaltungen man noch gestalten könnte – er entwirft einen Programmplan. Während er Soudry

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3. Teil Rhetorik

dies tut, werden wir eine Rede zu entwerfen lernen – die grundlegende Gliederung haben wir oben ja schon, aber wie baue ich meine Argumente ein, wie leitet man geschickt ein und wie beendet man die Rede?

5.4. Einleitung – wir binden die Taue los Den Einleitungsabschnitt müssen Sie auswendig können – er ist der Fels in der Brandung. Er ist Ihr Ankerpunkt, wenn Sie am Anfang des Auftritts hinter dem Rednerpult plötzlich unsicher werden. Er ist es, der Ihnen im Notfall die nötige Sicherheit verschafft. Auf ihn können Sie immer wieder zurückkommen, um sich selbst zu fangen. Der erste Eindruck zählt! Ohne eine gute Einleitung keine gute Rede. Das Grundsatzziel bei der Einleitung ist es die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen. Der Beginn kann gut genutzt werden, um Zuhörerinnen und Zuhörer anzusprechen, einen ersten Blickkontakt herzustellen, das Thema zu nennen und sich für die Einladung zu bedanken. Dies sollte jedoch kurz und knapp geschehen und nicht in umständliche, langatmige Danksagungen ausarten. Nutzen Sie daher den Einstieg für sich und gewinnen Sie den Zuhörer für Ihre Sache! Nachfolgend einige bewährte Strategien, wie man den Einstieg in eine Rede wirkungsvoll gestalten kann: Erzählen Sie eine kleine passende Anekdote zu dem Thema der Rede. Sie muss ja nicht unbedingt von Ihnen sein – es kann auch ein Freund oder Bekannter sein, dem das, was Sie erzählen, widerfahren ist. „…ein guter Freund war es, der mir einmal anlässlich einer Jahresfeier sagte…“ Stellen Sie dem Zuhörer gleich zu Beginn Ihrer Rede eine Frage! Das rüttelt das Publikum wach und macht es aufmerksam für Ihren Auftritt. Gleichzeitig beziehen Sie das Publikum in das Geschehen mit ein und drängen es so aus seiner passiven Zuhörerrolle heraus. Ein weiterer Vorteil ist, dass Sie eine Frage aufwerfen, die Sie selbst so beantworten können wie Sie wollen – Sie geben so schon Ihre Zielrichtung vor. „…Was würden Sie tun, wenn…? Ich werde es Ihnen sagen…“ Beginnen Sie mit der Vorstellung der Redegliederung! So geben Sie Ihrem Zuhörer einen Überblick darüber, was ihn in Ihrer Rede erwarten wird. Er hat einen Fahrplan. Dies bedeutet für Sie aber, dass Sie pünktlich sein müssen, d. h. Sie müssen die Gliederung auch einhalten – insbesondere, wenn sie während eines längeren Vortrages eine Pause ankündigen, so muss dies auch kommen – wenn nicht, würde Ihnen das Publikum dies übel nehmen. „Als erstes werde ich Ihnen sagen, wie…, dann werde ich auf die Problematik des … eingehen um anschließend in einer Zusammenfassung noch mal die fünf wichtigsten Argumente aufzugreifen…“.

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Die Rede

Sie können auch mit einem Witz einsteigen – doch Vorsicht! Dieser Witz muss unverfänglich sein, d. h. er sollte unpolitisch und leicht amüsant sein. Ein Witz in diesem Sinn bedeutet nicht, dass Sie sich vor das Publikum stellen sollen und Ihren Lieblingswitz, den Sie schon immer mal weitererzählen wollten, preisgeben. Vielmehr geht es hier um einen lockeren Spruch – zeigen Sie Charme! Entschuldigen Sie sich nicht! Wer sich entschuldigt, verliert das Publikum. Wer sich entschuldigt, fordert das Publikum geradezu zum Weghören auf. Wenn jemand nicht selbst davon überzeugt ist, etwas zu sagen zu haben, warum sollte man ihm zuhören? „Leider habe ich erst gestern erfahren…“ „Ich möchte Sie bitten, mit mir vorlieb zu nehmen, weil Herr Professor leider…“, „Verzeihen Sie mir bitte meine geringe Erfahrung auf diesem Gebiet…“ Einzige Ausnahme: „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung…“ Dies sind nur einige Tipps, wie Sie einen guten Einstieg in die Rede bekommen und das Publikum gleich auf Ihre Seite ziehen. Sicherlich gibt es noch viele weitere Möglichkeiten einen gelungenen Einstieg zu gestalten. Machen Sie sich aber klar, dass die Einleitung die Zuhörer ansprechen muss, denn mit einem gelungenen Einstieg sind die ersten Schritte gesetzt, um das eigentliche Thema erfolgreich zu präsentieren. Ziel ist es, mit wenigen Worten die Teilnehmer in den Bann des Redners zu ziehen. Ob nun eine überraschende Aussage oder problembezogene Fragen oder ein humorvoller Einstieg gewählt wird, bleibt allein dem Redner überlassen. Übung: Überlegen Sie sich mindestens drei weitere Möglichkeiten, wie Sie einen effektvollen Einstieg in Ihre Rede bekommen!

5.5. Hauptteil – die Maschinen werden angeworfen Der Hauptteil einer Rede muss übersichtlich und informativ gestaltet sein. Wegen dieses Hauptteils halten Sie die Rede, denn er beinhaltet alle Informationen, die Sie loswerden wollen. Viele Informationen brauchen aber eine klare Struktur, denn im Gegensatz zu Ihnen weiß der Zuhörer noch nicht, was Sie sagen wollen. Es besteht also die Gefahr, dass der Zuhörer den Faden verliert und Ihnen nicht mehr folgen kann. Das würde für Sie bedeuten, dass er Ihre sorgfältig und mühevoll aufbereiteten Informationen nicht verarbeiten kann – Sie reden vergeblich. Damit dies nicht passieren kann, empfiehlt es sich, hier wie folgt vorzugehen: Als Erstes müssen Sie den Status quo darstellen – der Zuhörer muss wissen, warum und über was Sie reden. Unterrichten Sie ihn in der gebotenen Kürze auch über Entwicklung, Vorgeschichte, Folgen und Auswirkungen des jeweiligen Themas. In den Hauptteil gehört das Wesentliche zu Ihrem Thema. Hier gehören alle Informationen hin, die Sie zuvor gesammelt haben. Sie können diese Informationen verschiedenartig aufbauen – es ist Ihnen freigestellt, ob Sie chronologisch vorgehen oder argumentativ steigernd. Im Wesentlichen haben Sie die Vorbereitung hierzu Soudry

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in der Vorbereitungsphase bereits geleistet, indem Sie Argumente gewichtet haben und die Stärken der jeweiligen Argumente platziert haben („Vom Schwachen zum Stärksten“). Der Hauptteil dient dazu, Stellung zu beziehen und die Gegenpositionen zu entkräften. Hier arbeiten Sie die verschiedenen Argumentationstechniken ein, die wir oben bereits ausführlich besprochen haben. Hierfür gibt es keine Anleitung – Sie selbst müssen entscheiden, wie Sie argumentieren wollen, welche Technik Sie anwenden, um was zu erreichen. Stellen Sie aber in jedem Fall Vergleiche an, malen Sie Bilder (Metaplan) und gehen Sie nicht zu sparsam mit Ihren Argumenten um. Wechseln Sie Ihre Sprachtempi – halten Sie den Zuhörer wach: Provozieren Sie ihn – beleidigen Sie ihn aber nicht! Unterhalten Sie ihn – spielen Sie aber nicht den Clown! Dreschen Sie keine Phrasen – bilden Sie wohlklingende Sätze! Arbeiten Sie mit der deutschen Sprache – verschachteln Sie aber keine Sätze! Denken Sie kompliziert, aber reden Sie einfach! Je durchdachter und klarer die Gedanken sind, desto einfacher können Sie sie weitergeben und desto einfacher kommen Sie an. Der Zuhörer muss den Eindruck bekommen, dass er es genauso gesagt hätte – dann haben Sie ihn auf Ihrer Seite. Beweisen Sie „Volksnähe“, indem Sie dem Zuhörer signalisieren, dass Sie seine Position verstehen. Reden Sie sich in die Nähe des Zuhörers! Meiden Sie Unsicherheiten – wenn solche auftreten, dann behandeln Sie sie während der Rede als sicher gegeben – wahrscheinlich fällt es keinem auf! Rechtfertigen Sie sich nicht – wenn Sie sich rechtfertigen, rücken Sie sich selbst in eine Verteidigungsposition. Wenn Sie angegriffen werden, verteidigen Sie sich, ohne sich zu rechtfertigen.

5.6. Schluss – volle Kraft voraus! Lernen Sie auch den Schlusssatz auswendig – er ist Ihr Ankerpunkt, wenn etwas schief geht. Nur so können Sie am Ende dem Publikum tief in die Augen blicken, wenn Sie appellieren. Wenn Ihnen der Schlusssatz aus den Fingern gleitet, war die ganze Mühe umsonst. Denn das, was Sie am Schluss gesagt haben, bleibt haften – war es gut, war die Rede gut, war es schlecht, war es auch die Rede. Der gezielte Schlusssatz bringt die Botschaft der Rede nochmals prägnant auf den Punkt. Wirkungsvoll vorgetragen ermöglicht er dem Redner einen guten Abgang, indem er das Signal zum Schlussapplaus gibt. Runden Sie hier das Thema ab! Wiederholen Sie Ihre Kernaussagen! („Ich habe Ihnen gesagt, was ich will, wie ich es erreichen will und was die Vorteile sind, wenn wir es so machen“)

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Die Rede

Rufen Sie den Zuhörer auf – appellieren Sie – reißen Sie ihn mit! („Und deshalb, liebe Genossen und Genossinnen, steht mit mir auf und lasst uns in den Kampf ziehen – auf dass die Gerechtigkeit siegen werde!“) Nach einem Appell gibt es nichts mehr zu sagen – die Zuschauer sind mitgerissen – sind sie es nicht, werden Sie trotzdem beharrlich so tun, als hätten Sie soeben DIE Lösung präsentiert. Sie müssen bis zum Schluss überzeugen. Meiden Sie folgende Floskeln: „…damit komme ich auch schon zum Ende meiner Rede“ „…kommen wir nun zum Schluss“ „…ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit“ „…Danke für Ihr Ausharren“ Wirkungsvolle Schlusssätze berühmter Persönlichkeiten – eine Auswahl: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind! Und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“ (J. Wirth) „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“ (O. Wels) „Wir stehen nicht allein in der Welt, das Recht steht auf unserer Seite, und auf unserer Seite stehen die Völker der Welt, die die Freiheit lieben.“ (K. Adenauer) „Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“ (R. Herzog) „Ihr seht also, liebe Genossinnen und Genossen, (…) es gibt noch Politikentwürfe, für die wir uns begeistern können. Wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern. In diesem Sinne: Glück auf!“ (O. Lafontaine) „Wir leben vom Geschenk, das wir uns selber nicht geben können. Zuwendung und Mitmenschlichkeit sind unbezahlbar. Von diesem Unbezahlbaren leben wir.“ (J. Rau)

5.7. Vorbereitung des Manuskripts und der Hilfsmittel Oftmals trifft man Redner, die sich hinter dem Pult verstecken und sich daran festklammern – es fehlt an Dynamik und verschafft eine gewisse Distanz zum Publikum. Dieses Manko wird weiter unterstützt, indem man seine Rede von einem ausformulierten Manuskript abliest. Die Konzentration auf solch ein ausformuliertes Manuskript versperrt jeden Weg zu einer offenen Körpersprache und ermöglicht es kaum, den enorm wichtigen Blickkontakt zum Zuhörer zu halten. Das alles heißt jetzt natürlich nicht, dass Sie kein Manuskript verwenden sollen – vielmehr sollten Sie darauf achten, dass es in Stichwörtern gehalten ist und nicht

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3. Teil Rhetorik

ausformuliert ist. Nur so ist die erforderliche Flexibilität für unerwartete Stimmungslagen gewährleistet. Stellen Sie sich doch einfach mal vor, Sie haben eine elaborierte Rede auf Ihrem Manuskript stehen und wollen nichts mehr dem Zufall überlassen und Ihr Vorredner hat schon einmal Ihren Themenkreis aus dem gleichen Blickpunkt angesprochen und eventuell sogar die gleiche Wortwahl verwandt… Glauben Sie, mit einer ausformulierten Rede können Sie jetzt noch umgehen? Checkliste: " Habe ich eine ausreichend große Schrift gewählt – mindestens 14 Punkt? " Ist diese auch gut lesbar – mit Serifen, z. B. Garamond? " Doppelter Zeilenabstand eingehalten? " Genügend Platz am Rand für Bemerkungen – 5 cm? " Wichtige Stichwörter notiert? Gliederung der Rede? " Alle entsprechenden Gesten notiert, wie z. B. „hier auf Publikum zeigen“? Wenn Sie technische Hilfsmittel benutzen, wie z. B. einen Beamer für eine Powerpoint-Präsentation, dann sollten Sie dafür sorgen, dass ein technischer Betreuer vor Ort ist, der im Falle des Falles wirklich eingreifen kann. Allerdings sollten Sie sich aber auch um ein entsprechendes Ersatzmedium bemühen, falls Sie keinen Techniker vor Ort haben, wie z. B. um einen Overheadprojektor. Checkliste: " Habe ich an alle Zubehörteile (Kabel, Akkus etc.) und Ersatzteile (z. B. leere Folien, Stifte etc.) gedacht? Ist alles vor Ort oder schon gepackt? " Habe ich einen Techniker vor Ort? " Habe ich mich um ein Reservemedium gekümmert – Overheadprojektor? " Habe ich von den wichtigsten Schaubildern overheadfähige Folien gedruckt? " Welche Teile kann ich nur am Flip Chart, welche auch an einer Tafel skizzieren?

6. Kapitel Das Plädoyer Meist werden Sie im späteren Berufsleben Ihr Plädoyer spontan halten müssen – es gibt eher selten Verhandlungen, die sich über mehrere Termine erstrecken werden und bei denen vor allem schon früh klar ist, was das Urteil sein wird, wie die Richter und die Staatsanwaltschaft argumentiert haben. Wenn dem so ist, so können Sie getrost auf die Grundsätze zur Rede zurückgreifen. Ist dem nicht so, so werden Sie nach wenigen Stunden ein Plädoyer halten müssen, d. h. Sie haben weder Zeit für eine Vorbereitungsphase, noch können Sie sich besonders lange akklimatisieren – das Plädoyer ist daher eine Spontanrede. 104

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Das Plädoyer

Bei einer Spontanrede gelten alle Grundsätze und „Regeln“, die wir für die vorbereitete Rede aufgestellt haben gleichermaßen, insbesondere Einleitung und Schluss sind absolut gleich, wobei beim Plädoyer die stärkste Betonung auf dem Appell liegen muss – dies ist schließlich auch Sinn und Zweck desselben. Wenn Sie nun keine Zeit haben Ihr Plädoyer vorzubereiten – wo kommen denn dann die Informationen her? Ganz einfach: Aus der mündlichen Verhandlung und den Akten. Sie schreiben sich während der Verhandlung stichwortartig alle Punkte auf, die Sie ansprechen wollen. Gleichzeitig schreiben Sie sich auch schon die Argumente der Gegenseite, die Sie entkräften wollen, auf und setzen Ihr entsprechendes Entkräftungsargument daneben, damit Sie es nicht vergessen. „Staatsanwalt behauptet, Mandant habe das Auto gestohlen – falsch, Mandant war zum Tatzeitpunkt bereits in Untersuchungshaft.“ Wie aber bauen Sie nun ein Plädoyer auf – hat auch dieses Einleitung, Hauptteil und Schluss? Ja! Nur hat das Plädoyer andere Nuancen, d. h. Sie verfügen selbstverständlich auch über die drei Redeteile – allerdings hat es sich erfahrungsgemäß als gut bewiesen, folgende Strukturen einzuhalten, damit man in der gebotenen Kürze, sowohl in der Vorbereitungs- als auch in der Redezeit, alles Wichtige gesagt und dabei anschaulich vorgetragen hat. Denn wenn der Richter nach einer langen Verhandlung Schwierigkeiten hat, Ihren überzeugenden Ausführungen, die zum Freispruch Ihres Mandanten bzw. zur Verurteilung der Gegenseite im Zivilprozess führen sollen, so erschwert dies natürlich die Urteilsfindung in Ihrem Sinne. Als besonders gut für die Technik des Plädoyers hat sich der so genannte „Fünfsatz“ erwiesen, den wir in diesem Abschnitt in zwei Alternativen kennen lernen werden. Mit dem so genannten Fünfsatz lassen sich Diskussionsbeiträge wirkungsvoll gestalten. Er eignet sich als Planungs- und Formulierungsmodell, eine folgerichtige und „zwingende“ Argumentation einprägsam zu entwickeln. Dabei wird auf einen Ziel- bzw. Zwecksatz hingearbeitet, der das Argumentationsziel in einer strittigen Auseinandersetzung umfasst. Dieses Argumentationsziel erscheint dabei als ein Appell. Seinen Namen hat der Fünfsatz von seinem fünfteiligen Aufbau. Dieser sieht bei der Gestaltung von Plädoyers oder schriftlichen Stellungnahmen die Abfolge von fünf Schritten vor20. Folgende Grundstruktur wohnt einem jedem Fünfsatz inne: 1. Warum spreche ich? 2. Was ist…? 3. Was müsste sein? 4. Wie kann man das erreichen? 5. Appell

20 Die Redensart „Das kannst Du Dir doch an fünf Fingern abzählen!“ nimmt wahrscheinlich auf diese Argumentationstechnik Bezug.

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3. Teil Rhetorik

1. Warum spreche ich?

2. Was ist ...?

3. Was müsste sein?

4. Wie kann man das erreichen?

5. Appell

Grundstruktur des Fünfsatzes

Mit einem Fünfsatz läuft man aufgrund seiner zwingenden Struktur kaum Gefahr, etwas außer Acht zu lassen. Auch beinhaltet er die Überzeugungstechniken im Aufbau, wie wir sie bei der Rede kennen gelernt haben, quasi automatisch. Im Gegensatz zum Redeablauf, bei dem der Status quo am Anfang benannt wird, steht dabei der „Zwecksatz“, der das Argumentationsziel benennt, am Anfang der Planung. Man kommt aufgrund seiner Struktur gar nicht herum, überzeugend die Argumente anzugliedern. Auch fällt es dem Richter als Adressaten der Überzeugung leicht, Ihnen zu folgen. Die besondere Herausforderung im Plädoyer beim Strafprozess liegt daran, dass in der Verhandlung bereits alles erörtert worden ist und der Richter sein Urteil im Prinzip schon gefällt hat und nur noch Ihr Plädoyer abwartet – hier haben Sie die Möglichkeit, noch einmal alles für Ihren Mandanten herauszuholen. Denn der Richter zieht sich nach Ihrem Plädoyer unmittelbar zur Urteilsfindung zurück. Lassen Sie diese letzte Möglichkeit nicht ungenutzt verstreichen!

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Das Plädoyer

Im Folgenden werden wir zwei der zahlreichen Alternativen zum Fünfsatz bearbeiten, den so genannten Standpunkt-Fünfsatz und den so genannten Dialektischen Fünfsatz.

6.1. Der Standpunkt-Fünfsatz21 Der Standpunkt-Fünfsatz entwickelt den Zwecksatz an streng chronologischen oder logischen Prinzipien des Gedankenablaufs. Chronologisch bedeutet hierbei, dass man sich am Zeitablauf eines Sachverhaltes orientiert; logisch geht man vor, wenn man sich bei seinem Fünfsatz an der gedanklichen Folgerichtigkeit orientieren will. Der Standpunkt-Fünfsatz eignet sich für alle Verfahrensarten, in denen es darauf ankommt, eine „Entweder-oder-Position“ zu vertreten, also eine Position, die bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nur „entweder so oder so“ gesehen werden kann. Ein Kompromiss scheidet hierbei aus. Am Schluss kommen Sie in Form des Appells zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Planung eines Standpunkt-Fünfsatzes geht vom so genannten Zwecksatz aus, der zunächst formuliert werden muss. Dann wird eine Begründung (Argument) für den Zwecksatz (These) gesucht und niedergeschrieben. Diese Begründung bzw. der Begründungszusammenhang wird mit einem weiteren Satz erläutert. Danach wird das Ganze – in der Regel mit Beispielen – veranschaulicht. Zum Schluss kann man sich noch Gedanken darüber machen, an welche (aktuellen, konkreten usw.) Situationen, Sachverhalte oder Personen man evtl. anknüpfen will. Am Ende steht aber in jedem Fall die Appellfunktion im Vordergrund, sonst endet Ihr Plädoyer in einer Würdigung, die Sie zur Disposition stellen. Ziel ist es aber, wie oben bereits erwähnt, das letzte Wort noch einmal voll auszuschöpfen – hier gehört nur Ihnen und Ihrem Mandanten die volle Aufmerksamkeit. Beispiel für den Standpunkt-Fünfsatz: 1. „Hohes Gericht, mein Mandant ist freizusprechen. Er hat die Tat nämlich nicht begangen; er war noch nicht einmal am Tatort.“ 2. „Die Zeugen X und Y haben dies durch ihre Aussagen auch bestätigt. Mein Mandant kann also zum Tatzeitpunkt gar nicht am Tatort gewesen sein.“ 3. „Unterstellt, mein Mandant wäre zum Tatzeitpunkt am Tatort gewesen, warum hätte er die Beute liegen lassen sollen? Und wie kommt es dazu, dass die am Tatort gefunden Spuren allesamt nicht von dem Angeklagten stammen? Die einzigen, die meinen Mandanten am Tatort gesehen haben wollen, sind die beiden anderen Angeklagten – sollte das nicht zu denken geben? Denn ihre Spuren waren nämlich am Tatort…“ 4. „Daher kann die Anklage gegen meinen Mandanten nur schwer aufrechterhalten werden.“ 5. „Hohes Gericht, ich bin mir sicher, dass Sie den Grundsatz „in dubio pro reo“ beachten werden – zumindest hiernach ist der Angeklagte freizusprechen!“

21 Albert Thiele, Rhetorik. Sicher auftreten, überzeugend argumentieren, Gabler, Wiesbaden 1991.

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3. Teil Rhetorik

Der Standpunkt-5-Satz

1. Standpunkt nennen

5. Appell an die Zuhörer

2. Argumente zur Begründung

3. Veranschaulichen durch Beispiel(e)

4. Konsequenzen ziehen

Der Standpunkt-Fünfsatz

Ähnlich wie bei der juristischen Fallprüfung gibt es hierbei auch eine chronologische Vorgehensweise. Diese empfiehlt sich besonders, wenn es z. B. darum geht, den Tathergang zu schildern oder die einzelnen Schritte darzustellen, die schließlich zum Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages geführt haben oder aber z. B. im öffentlichen Recht darzulegen, wie etwa eine Genehmigung erteilt wurde. Chronologische Vorgehensweise: 1. Es kann nur so gewesen sein… 2. Zunächst … 3. Dann … 4. Schließlich … 5. Daher bin ich der Ansicht… Bilden Sie ein Beispiel! 108

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Das Plädoyer

Logische Vorgehensweise: Die Logische Vorgehensweise hingegen empfiehlt sich besonders dann, wenn die Grundvoraussetzungen einer Streitfrage, z. B. der wirksame Vertragsschluss, feststehen und es nun um die Konsequenzen hieraus geht. 1. Wir sind uns doch darüber einig, dass… 2. Im vorliegenden Fall kann doch nur Folgendes von den Parteien gewollt gewesen sein… 3. Wenn dies also so war, dann war es auch so, dass… 4. Dann folgt daraus, dass… 5. Deshalb sollten wir… Bilden Sie ein Beispiel!

6.2. Der dialektische Fünfsatz Der Zweck des dialektischen Fünfsatzes besteht vor allem darin, eine Streitfrage, die – im Gegensatz zum Standpunkt-Fünfsatz – „entweder so oder so“ gesehen werden kann, abwägend zu diskutieren. Mit dem dialektischen Fünfsatz kann man vom allgemeinen zum besonderen Fall ausführen, warum in diesem Fall die Lösung der eigenen Position begründet ist. Denken Sie hier auch wieder an Jura. Wenn Sie eine Streitfrage in einem besonderen Einzelfall zu beantworten haben, die vom Gesetz oder von der Rechtsprechung noch nicht gelöst wurde, erarbeiten Sie sich Ihre Position auch vom Grundsätzlichen zum Besonderen. Sie überlegen sich also immer zuerst, wie es denn wäre, wenn das Besondere des Einzelfalles nicht da wäre. Dann nehmen Sie die Lösung, die hieraus resultiert und überlegen, ob Sie für diesen Einzelfall sachgerecht ist. Wenn Sie aufgrund der besonderen Umstände nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kommen, wägen Sie die für Ihr Wunschergebnis sprechenden Gründe und Gegengründe sachgerecht gegeneinander ab und kommen zu einem Ergebnis für den Einzelfall. Immer wieder wird dies von der Rechtsprechung z. B. im Bereicherungsrecht gemacht, da Bereicherungsrecht Billigkeitsrecht ist. Die Grundstruktur sieht demnach wie folgt aus: 1. Grundsätzlich ist es so… 2. Im vorliegenden Fall jedoch… 3. Dafür spricht… 4. Dagegen spricht… 5. Daher wäre es am Besten… Es gibt eine Regelung. Diese Regelung führt in Ihrem vorliegenden Fall aber zu einem nicht sachgerechten Ergebnis. Deshalb brauchen Sie eine Ausnahme von der Regelung. Hierfür gibt es Gründe und Gegengründe. Diese werden einander abgewogen und untermauert, so dass am Ende Ihr gewünschtes Ergebnis herauskommt. Soudry

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3. Teil Rhetorik

Vom Allgemeinen ...

1. Grundsätzlich ...

2. Der vorliegende Fall

Der dialektische 5-Satz Dafür ...

dagegen

5. Deshalb ...

... zum Besonderen

Der dialektische Fünfsatz

Bilden Sie ein Beispiel! Die Argumente im Mittelteil sollen dabei dialektisch (Pro und Contra) einander gegenübergestellt werden.

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Das Plädoyer

Themenvorschläge: 1. Der Staat darf nicht mit Terroristen verhandeln! 2. Armee der Vereinten Nationen! 3. Olympische Spiele nur noch in demokratischen Staaten! 4. Todesstrafe einführen! 5. Reißverschlüsse statt Knöpfe!

6.3. Regeln für das Plädoyer Grundsätzlich gilt, wie oben bereits erwähnt, für das Halten des Plädoyers das Gleiche wie für das Halten einer Rede. Einige Besonderheiten, die sich aus der Natur des Plädoyers ergeben, gilt es aber zu beachten. Sie sollten im Einstieg eines Plädoyers vor Gericht darauf verzichten, mit einem Witz zu beginnen. Zum einen passt die Situation vor Gericht dazu nicht und zum anderen könnte der Richter es Ihnen übel nehmen, wenn er sich nicht ernst genommen fühlt. So etwas wirkt sich grundsätzlich zum Nachteil Ihres Mandanten aus, der Adressat des Urteils ist. Bleiben Sie also sachlich, wenn es um das Plädoyer vor Gericht geht! Nun erwarten einige Mandanten von Ihnen vielleicht eine Show. Sie wollen Ihren Anwalt gerne so sehen, wie Sie es aus amerikanischen Spielfilmen kennen. Dies ist wahrlich ein Konflikt, da Sie zum einen den Richter von sich und damit von der Position Ihres Mandanten überzeugen und zum anderen Ihren Mandanten von Ihrem Können überzeugen müssen. Wenn die Verhandlung zu Ihren Gunsten ausgeht, hat sich dieser Interessenkonflikt von alleine gelöst. Allerdings wissen Sie im Vorfeld natürlich nahezu nie, wie der Prozess ausgehen wird. Es gibt auch hier keine Musterlösung für diesen Interessenkonflikt, da Sie im Prinzip nunmehr zwei Adressaten der Überzeugung haben – auf zwei verschieden Ebenen. Es ist empfehlenswert, in einem solchen Fall sachlich zu bleiben und bei evidenten Fehlern oder sonstigen Offensichtlichkeiten in der Verhandlung etwas lauter zu protestieren, um dem Mandanten ein sicheres und gutes Gefühl zu geben. Entscheiden Sie dies aber von Mandant zu Mandant selbst. Nicht jeder Mandant ist der Überzeugung, dass der Anwalt vor Gericht eine Show vorführen muss. Für den Hauptteil des Plädoyers, gilt aufgrund der relativen Kürze, dass Sie sehr einfache Sätze bilden und viele „Bilder“ malen (Metaphern) müssen, damit die entsprechenden Kurzreden gut verstanden werden können. Meiden Sie komplizierten Satzbau in Ihrem Plädoyer – nach einer Verhandlung sind die Informationskapazitäten der Richter am Ende angelangt. Bewährt hat sich für das Plädoyer die Reisebustechnik. Hierbei geht es darum, den Zuhörer abzuholen und dort abzusetzen, wo man ihn gerne haben möchte. Stellen Sie sich hierzu eine Stadtführung mit einem Reisebus vor: Der Reiseführer wird Ihnen sagen, wo Sie starten und wo Sie hin wollen. „… liebe Gäste – heute werden wir uns die Stadt Heidelberg anschauen, die bereits im Jahre 1196 erstmals urkundlich erwähnt wurde, um nach der Stadtführung noch gemeinsam in

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3. Teil Rhetorik Heidelbergs ältestem und bekanntestem Kaffeehaus den berühmten Heidelberger Studentenkuss zu genießen…“ Während der ganzen Fahrt zu Ihrem Ziel wird er Ihnen die verschiedenen Stationen erklären und Sie auf deren Standpunkt hinweisen, also etwa: „Zu Ihrer rechten Seite sehen Sie nun das Heidelberger Schloss. Wichtigster Bauherr der ersten Periode war Ludwig V. Er baute im aufkommenden Zeitalter der Feuerwaffen die Burganlage wehrhaft aus. Die dickste Mauer misst sieben Meter Durchmesser und sollte davor schützen, …“ Nach der Stadtführung durch Heidelberg, angekommen in dem Kaffeehaus, unterhalten sich alle Teilnehmer angeregt über die Schönheit dieser Stadt und wie toll die Führung doch gewesen sei – ganz so, als hätte der Stadtführer das Schloss selbst gebaut und sich unglaubliche Mühe mit dem tollen Wetter gemacht hat, ganz abgesehen von den von ihm eigens für die Gäste gebackenen Studentenküssen… Diese Stimmung ist das Ziel einer jeden Rede – nehmen Sie den Zuhörer an die Hand, setzen Sie ihn in Ihren ganz persönlichen Reisebus und führen Sie ihn durch die Welt Ihrer Thematik und der Schönheit ihrer Argumente. Wenn der Zuhörer anfassen kann, was Sie sagen, dann kann er Sie verstehen. Und erst wenn er Sie verstanden hat, können Sie ihn überhaupt überzeugen.

Der Schluss eines Plädoyers ist denkbar einfach. Wiederholen Sie Ihre Forderung für Ihren Mandanten mit Appellfunktion, so wie Sie es bereits von der Rede kennen! „… nach alledem ist mein Mandant unschuldig und daher freizusprechen!“

6.4. Was tun bei Lampenfieber? Lampenfieber ist eine ganz typische Stressreaktion und hat damit auch positive Folgen, nämlich ein erhöhtes Aktivitätsniveau. Damit ist die Voraussetzung gegeben für mehr Leistungsfähigkeit. Also – was soll daran schlecht sein? Im Übrigen kennen viele erfolgreiche Redner heftiges Lampenfieber und akzeptieren es als zum Beruf gehörend. Wie sonst sollte jemand die 123. Vorstellung eines erfolgreichen Stückes bewältigen können? Nur wer sich für unfehlbar hält, wird nicht vom Lampenfieber geplagt. Das hilft: – vor Beginn gut durchatmen, – für einen guten Stand sorgen, – Blickkontakt halten, vor allem zu sympathisch wirkenden Personen, – Einstellung zum Publikum: Meist kann mit überwiegend wohlwollenden Reaktionen gerechnet werden, – eine gute Vorbereitung, – überzeugt sein vom eigenen Anliegen, – Selbstvertrauen.

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Das Plädoyer

6.5. Körperhaltung, Mimik und Gestik Für die Wirkung einer Rede ist das gesamte Erscheinungsbild eines Redners von größter Bedeutung. Die Bekleidung sollte zum Anlass und zum Thema passen, aber in erster Linie zur Person, die sie trägt. Wer sich wohl fühlt in seiner „zweiten Haut“, kommt einfach besser an. Auf folgende Punkte sollte besonders geachtet werden: – guter und sicherer Stand, gerade stehen – aber nicht stocksteif – sich nicht hinter einem Pult verstecken – gut sichtbar sein – Blickkontakt halten und – bei den meisten Anlässen – das Lächeln nicht vergessen – die Hände mitsprechen lassen statt sie zu verschränken, hinter dem Rücken oder in den Hosentaschen zu verstecken Übung: Führen Sie eine Videoanalyse durch!

6.6. Zehn Tipps für gute Reden 1. Sammeln Sie Informationen über Ihr Publikum. 2. Bereiten Sie sich gründlich vor denken Sie auch an Gegenpositionen, welche Sie entkräften müssen. 3. Starten Sie Ihre Rede effektvoll. 4. Überprüfen Sie Raum und Hilfsmittel. 5. Gestalten Sie Ihr Manuskript übersichtlich. 6. Bauen Sie Ihre Rede logisch und nachvollziehbar auf. Denken Sie an Höhepunkte und Ausruhphasen. 7. Visualisieren Sie den Inhalt der Rede. 8. Beziehen Sie Ihr Publikum mit ein: Blickkontakt, rhetorische Fragen etc. 9. Nutzen Sie die Möglichkeiten Ihrer Stimme, Mimik und Gestik. Aber: Schauspielern Sie nicht. 10. Denken Sie an einen optimalen Schluss: Das Publikum muss sich zum Handeln aufgefordert fühlen.

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4. Teil Vernehmungslehre Oder: Was ich Sie immer schon fragen wollte 1. Kapitel Vernehmungslehre – ohne Lehrlinge und Lehrer Kommunikation und Gesprächsführung, Rhetorik und nun Vernehmungslehre. Im Teil „Kommunikation und Gesprächsführung“ hat Adrian Schweizer dargestellt, wie man seine eigene Landkarte der Welt definiert und diese mit der Landkarte der Welt des Gegenübers verknüpft: Wissen was man selbst will, die richtigen Fragen stellen können, Vertrauen aufbauen, die Absichten hinter den Parolen herausfinden und die Handlungsmöglichkeiten erweitern waren dort einige Punkte, über die geschrieben wurde. Im Kapitel von Rouven Soudry ging es dann nicht um Gesprächsführung, sondern um klassische Rhetorik: Wie überzeuge ich mein Gegenüber von dem, was ich glaube, dass er überzeugt sein sollte? Dort ging es um Ethos, Logos, Pathos, Rede und Plädoyer. In diesem Kapitel will ich nun etwas vertiefen, was bereits einmal angesprochen wurde: Das Fragen stellen. Welche Fragen stelle ich, um herauszufinden, was der andere denkt? Wie stelle ich diese und wie finde ich heraus, ob ich die richtigen Antworten erhalten habe? Interessante Fragen, oder? Also lassen Sie uns beginnen! Rechtsanwendung basiert auf Tatsachenfeststellung. Weil die Tatsachenfeststellung sowohl zeitlich wie logisch vorgeht, wirken dabei gemachte Fehler richtungbestimmend. Für die Kritik an der Rechtsanwendung, etwa einem Urteil, reicht das Urteil selbst. Will man jedoch die Tatsachenermittlung hinterfragen, muss tiefer geschürft und neu oder zusätzlich recherchiert werden. Außerdem steht der unbegrenzten Vielfalt von Lebenssachverhalten und menschlichen Verhaltensweisen nur eine begrenzte Zahl juristischer Typen und Regeln gegenüber, unter die subsumiert werden kann. Aus all dem wäre zu fordern, dass der Trainingsschwerpunkt eines künftigen Rechtsanwenders auf die Tatsachenermittlung zu legen ist. Tatsächlich steht das Training der Rechtsanwendung ganz im Vordergrund. Tatsachenermittlung spielt eine so kleine Rolle im Rahmen der Gesamtausbildung eines Volljuristen, dass man sie getrost übersehen kann. Auch im juristischen Alltag arbeiten wir mit einem unrealistischen Fokus, wenn wir vor allem Rechtsprobleme sehen. Im Zivilprozess sind die Fälle reiner Rechtsanwendung deutlich in der Minderzahl. In über der Hälfte dieser Fälle wird vor allem über tatsächliche Behauptungen entschieden. Bei der größten Gruppe der Rechtsanwender, den Anwälten, steht die Ermittlung des Sachverhalts ganz im Vordergrund. Die Technik, wie man Mitmenschen Meinungen über Tatsachen entlockt und sie anschließend bewertet, um sich eine eigene Meinung über unbekannte Tatsachen zu bilden, ist also eine zentrale Aufgabe. Geübt wurde sie bisher „in der Praxis“, also dort, wo für das Lernen kaum noch Zeit vorhanden ist und man – bestenfalls – mehr an den gemachten Fehlern denn systematisch dazulernt. Die Ausbildungslücke ist offenbar. Lochmann

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4. Teil Vernehmungslehre

Die nachfolgenden Gedanken orientieren sich deswegen weniger daran, Vernehmungslehre als Sachgebiet systematisch darzustellen, sondern vielmehr daran, dem Studenten einen Einstieg zu ermöglichen. Nicht nach dem für viele Studienfächer üblichen Motto „Hab’ ich auch mal einen Schein machen müssen“, sondern als Einstieg im Sinne einer wohl verstandenen Grundlage, die als Rahmen und als Anreiz für jahrelanges Lernen in der Praxis dient. Ziel der Darstellung und jedes Trainings in Vernehmungslehre ist deswegen, nicht optimales Verhalten vorzuführen, sondern über erzählte Geschichten und praktisches Üben auch emotional verankerte Grundlagen zu schaffen, die von sich aus zur Weiterentwicklung drängen. Wer mit Interesse und Engagement – ja fast liebevoll – Mandanten befragt hat, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat Handwerkszeug, das er auch in einer förmlichen Vernehmung einsetzen kann und wird. Dieses Einfühlen in Personen und Lebenssachverhalte lernt man viel eher in Mandantengesprächen denn in förmlichen Vernehmungen vor Gericht. Deswegen stelle ich die Tatsachenerforschung zusammen mit dem Mandanten in den Vordergrund und versuche, die dabei erlangten Erkenntnisse für die Vernehmung nutzbar zu machen. Dass ich mehr Gewicht auf das Mandantengespräch gelegt habe, liegt also daran, dass ich es für grundlegend halte und für den richtigen Einstieg in die Praxis.

2. Kapitel Vernehmungslehre – in zu engen Kleidern ist schlecht leben Unsere Begriffe prägen unser Denken und deswegen ist ein zu eng geratener Begriff wie ein Korsett, das die Atmung einschränkt. Natürlich beteilige ich mich als Anwalt an Zeugenvernehmungen, und häufig genug tun die Zeugen mir dabei leid, aber genauso der vernehmende Richter, der sich darauf beschränkt, die entscheidungserheblichen Tatsachen nur abzufragen. Manches Mal taucht dann ein Gefühl auf, das könne nicht die ganze Wahrheit sein, oder gar die Vermutung, die Wahrheit liege woanders. Als Anwalt käme ich deswegen nie auf die Idee, meinen Mandanten „zu vernehmen“, und damit ist Vieles gesagt. Zeugen aber werden „vernommen“, als würden sie dadurch zu passiven Objekten einer kurzen Neugierde. Der Begriff erscheint mir sowohl zu hart als auch zu eng. Für meinen Mandanten brauche ich Zeit. Noch kein Mandant hat den Vorwurf, das Honorar sei zu hoch, damit begründet, ich hätte zu viel Zeit im Gespräch mit ihm verbracht. Und ich brauche Verständnis. Verständnis für den gegenübersitzenden Menschen und seine Meinung über die Tatsachen. Weit gefehlt, wer darin nur das Verbindende und Gemeinsame des Mandantenverhältnisses sieht. Natürlich steht ganz im Vordergrund zusammenzuarbeiten, sich zu vertrauen. Genauso gilt es aber, die erfahrene Meinung über Tatsachen kritisch zu hinterfragen und darüber zu kommunizieren. Alle dabei angewandten Techniken lassen sich auf die Vernehmung übertragen und leisten dort Dienste. Außerdem ist das Mandantengespräch für fast alle jungen Juristen in der praktischen Studienzeit und während der Referendarausbildung der Ort, an dem sie probieren, Erfahrungen sammeln und sich Feedback holen können. Dass die Autorität und Macht einer üblichen Vernehmungsperson fehlt, ist dabei ein Segen. Schon immer war es dem König am Schwersten, die Realität zu erfahren.

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Tatsachenerforschung beim Mandanteninterview

3. Kapitel Tatsachenerforschung beim Mandanteninterview Beispiel Erbfall (wird fortgesetzt): Beginnen wir also mit dem scheinbar einfachsten Fall, dass ein neuer Mandant, der sich telefonisch angemeldet hat, im Wartezimmer sitzt. Bis es so weit kam, wurden bereits Rahmen gesteckt. Der Mandant hatte sich entschlossen, sich zu offenbaren und Hilfe zu suchen. Er hatte telefonisch einen Termin vereinbart. Avisiert sind Pflichtteilsansprüche nach dem Tod seines Vaters. Dieser Erbfall soll uns immer wieder im Folgenden als Beispiel dienen.

3.1. Rahmen der Kontaktaufnahme Die Chance der ersten Eindrücke kommt nicht wieder. Der Mandant hatte erste Eindrücke bereits durch den telefonischen Kontakt mit dem Sekretariat, beim Empfang durch die Rezeptionsdame und über die Optik unserer Räumlichkeiten. Wir haben diese Eindrücke mit ziemlichem Aufwand für die Mandanten gestaltet und halten unsere Damen im Training. Für jedes positive Feedback eines Mandanten gibt es in der nächsten Bürobesprechung einen Fünf-Euro-Schein. Es ist nicht der Schein, aber das körperlich gemachte Feedback, das das Thema Mandantenempfang und -betreuung im Gespräch hält. Mit der bewussten Gestaltung des Außenerscheinungsbildes denken wir keineswegs in erster Linie an die Werbewirkung. Wir bemühen uns, eine Atmosphäre von Offenheit, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit bewusst zu kreieren, um damit einen Rahmen für das Mandat zu setzen. Dieser Rahmen ist – gut oder schlecht gesetzt – zwingend die Umgebung, in der das erste Gespräch stattfindet. Den nächsten Rahmen setzt der Anwalt beim Aufnehmen des Kontakts mit dem künftigen Mandanten. Deswegen bereite ich mich darauf vor, indem ich meine innere Bereitschaft überprüfe und den Zeitrahmen abstecke. Bin ich eigentlich bereit zu diesem Gespräch? Fortsetzung Beispiel Erbfall: Mein Kopf ist stets voll und das Zeitfenster eng. Eben habe ich nochmals die To-Do-Liste des Tages angeschaut, dann drei Telefonnotizen des Sekretariats über Mandantenanrufe mit konkreten Fragen zu laufenden Fällen. Außerdem saß ich gerade an einem Vertragsentwurf. Ich unterbreche den Fluss mehrerer halbfertiger Gedanken, um den Mandanten nicht warten zu lassen. All dies schiebe ich zur Seite, und zwar so weit weg, dass wirklich freier Raum entsteht und ich die Bereitschaft spüre, mich auf das Mandantengespräch einzulassen. Ich weiß um diesen kritischen Augenblick und atme bewusst einmal durch. Mit einem Blick auf den Baum in unserem Innenhof und nach dem Wetter hole ich mich in die konkrete Realität.

Mein Kollege, dessen Zimmer am Weg zum Wartebereich liegt, behauptet, er könne aus der Art meines Schrittes erkennen, ob mir diese Öffnung gelungen sei. Und er hat Recht: Bin ich noch in alten Aufgaben gefangen, gehe ich rasch mit hartem Auftritt. Sind meine Gedanken beim neuen Mandanten, gehe ich deutlich langsamer, sozusagen auf ihn zu, mit offenen, weicheren Bewegungen. Als der Kollege mir das zum ersten Mal erzählte, habe ich das so hingenommen. Seit er es mir aber vorgemacht hat, fällt es mir jedes Mal ein, wenn ich an seinem Zimmer vorbei gehe, um einen neuen Mandanten abzuholen. Lochmann

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4. Teil Vernehmungslehre

Das gilt für die ganze Vernehmungslehre: Das Reden darüber, wie man es machen soll, installiert Suchmuster, die aber schnell verblassen, wenn sie nicht zu praktischen Erfahrungen führen. Deswegen lernt derjenige am besten und schnellsten, der zusammen mit anderen trainiert und ausprobiert.

3.2. Die ersten zehn Sekunden geben die Richtung Fortsetzung Beispiel Erbfall: Ich sehe den Mandanten, er ist überraschend jung. Ohne dass ich etwas bewusst tue, reagiere ich ganzheitlich als Mensch. „Der Vater ist wohl früh gestorben, vielleicht war er krank“, schießt es mir durch den Kopf, während er aufsteht und wir uns mit Handschlag begrüßen. Meine Gedanken gehen weiter, nicht gesteuert, sie tauchen einfach auf: „Der Handschlag ist hart, von Trauer kann ich nichts spüren, vielleicht ist es schon länger her.“ Eine Emotion von Missbehagen, fehlender Sympathie taucht bei mir auf. Ich gehe deshalb bewusster auf ihn zu, lächle ihn an und bitte ihn in den Besprechungsraum. Alles richte ich darauf aus, die persönliche Atmosphäre zwischen uns zu gestalten, damit wir so schnell wie möglich zu einem Team zusammenfinden können. Ob und wie ich ihn abholen könnte, ergibt sich aus diesen ersten Eindrücken, die ich teils bewusst, größtenteils aber unbewusst aufnehme. Ich habe ihn vorgehen lassen. Er sucht sich an unserem rechteckigen Besprechungstisch die Mitte einer Seite aus, so dass ich nicht übers Eck sitzen kann. Ich muss ihm gegenüber Platz nehmen. Das ist die Sitzposition der Klarheit, des Raumgreifens. „Vielleicht geht es ihm mehr um Offensivität als um Schutz oder Unterstützung“, denke ich. Routinemäßig biete ich Kaffee an, er lehnt ab und das scheint zu passen. Der Mandant ergreift das Wort. Während der Mandant erzählt, kann ich ihn beobachten: Anfang 30, wenig gepflegtes, fast stumpfes Haar, einfach gekleidet, vornübergebeugt. Als er spricht, verschränkt er beide Arme vor sich auf die Steinplatte unseres Besprechungstisches. In meinenm Wunsch, auf ihn zuzugehen, mischt sich ein Empfinden von Distanz. Ich möchte mich eher zurückzuziehen, nehme das wahr, ohne der Regung nachzugeben. Bewusst passe ich meine Körperhaltung der seinen an, beuge mich etwas vorn über und lege meine Arme wie er verschränkt auf den Tisch.

3.3. Den Mandanten bei seiner Selbstdarstellung abholen Es geht mir jetzt noch nicht in erster Linie darum, Tatsachen zu erhalten, auch wenn ich sie mit dem Ohr aufnehme. Den Mandanten aufzufassen, ihn zu spüren, steht mir im Vordergrund. Deswegen habe ich auch meine Körperhaltung ihm angepasst und probiere, mich für einen Moment so zu fühlen wie er. Das ist keine kalte Analyse, sondern ein Suchen, ein Angleichen, um ihn besser spüren zu können. Damit lege ich die Grundlage, auf der Vertrauen entstehen kann. Vertrauen, das es später aushalten muss, wenn ich die aufgenommenen Tatsachen kritisch hinterfrage und darüber kommuniziere. Bleiben wir jetzt auf Distanz und geht es nur sachlich zwischen uns zu und, wird kein Funke springen. Je besser mir dieser Erstkontakt gelingt, umso größer wird meine Möglichkeit sein, auch Einfluss auszuüben.

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Tatsachenerforschung beim Mandanteninterview Fortsetzung Beispiel Erbfall: Um ihn in diesem tieferen Sinne zu verstehen, suche ich ihn. Dieses Suchen löst eine Vielzahl von Beobachtungen aus, auf die ich reagiere. Seine Stimme ist eher hoch, ohne begleitende tiefere Töne, wenig Resonanz im Körper. Er moduliert eher schmal. Er macht kurze Sätze, die wie ohne Pause ineinander übergehen.

Ich beobachte bewusst sowohl den Mandanten wie meine eigene Reaktion auf ihn. Je mehr ich aufnehme, umso mehr Verknüpfungen ergeben sich. An Erfahrungen mit ähnlichen Mandanten könnte ich mich jetzt erinnern. Dass dafür weder Platz noch Zeit ist, stört nicht. Die Vorerfahrungen leiten auch unbewusst an und begleiten mich. So entsteht in sehr kurzer Zeit eine erste Meinung über den Mandanten. Mag sein, dass daraus nur ein Vorurteil entsteht, aber es ist mir eine Hilfe. Lieber Vorurteile als keine Urteile oder gar keine Reaktion. Ich weiß, wie sehr dieses erste Urteil sich ausdifferenzieren wird. Möglicherweise bin ich nach ein paar Minuten ganz anderer Meinung. Jedenfalls ist die erste untersuchte Tatsache die des Menschen Mandant. Ich werde im Fortgang des Interviews mit ihm als Menschen arbeiten, um an die wirklichen Tatsachen heranzukommen, die mich interessieren. Fortsetzung Beispiel Erbfall: Ich nicke immer wieder, eher langsam, bedächtig, ihm signalisierend, dass ich ihn aufnehme. Als Bewegung in seine Hände kommt, bewege ich mich ebenso und beginne langsam, die Hände öffnend, mich auf dem Stuhl zurückzulehnen. Er folgt. Es ist mir nicht bewusst, ob es Gesten, Bewegungen seines Gesichtes oder die Augen waren, aber ich weiß: Wir haben uns zum ersten Mal verstanden. Jetzt kann das Gespräch beginnen. „Jetzt wäre vielleicht doch Zeit für einen Kaffee, oder“, frage ich ihn, und diesmal nickt er. Zeit für eine Pause, und dann bin ich mit dem Fragen dran.

Für den Mandanten haben sich die Verhältnisse verändert. Seine Vorstellung, er müsse dem Anwalt sagen, was Sache ist und was er wolle, ist zwar noch nicht befriedigt. Aber er hat wesentliche Dinge gesagt und möchte nun hören, was der Anwalt dazu meint. Sein Interesse an einer von beiden Seiten geführten Kommunikation ist erwacht und wird aus dem Gefühl „Man hört mir zu, mein Anliegen ist angenommen“, genährt. Er fühlt sich abgeholt und als Mensch akzeptiert. So können wir den weiteren Weg gemeinsam gehen. Hätte ich das Gespräch sofort aktiv ausfragend geführt, wären wir vielleicht auf der nackten Tatsachenseite um einiges weiter, die menschliche Brücke wäre aber nicht gebaut. Und diese menschliche Brücke brauche ich als Berater mehr als der Mandant, weil es an mir ist, zu verstehen.

3.4. Tatsachenfeststellung Nachdem zwischen uns nun klar ist, dass ich zu reden habe, fasse ich das Erfahrene zusammen. Fortsetzung Beispiel Erbfall: „Mm, ich verstehe. Ihr Vater ist früh und für alle überraschend an seinem Krebsleiden verstorben. Er war wie Sie Handwerker und hat Ihnen vor elf Jahren mit einem größeren Betrag

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4. Teil Vernehmungslehre ausgeholfen, als Sie sich selbständig gemacht haben. Leider hat das mit der Selbständigkeit nicht geklappt und das Geld ist weg. Jetzt ist Ihre Mutter durch das Testament Alleinerbin geworden und will Ihnen mit der Begründung, Sie hätten damals genügend bekommen, nichts abgeben.“ Er nickt. Beim weiteren Zusammenfassen versuche ich einige Sätze, die mir besonders wichtig erschienen waren, genau so wiederzugeben, wie sie gefallen sind. Diese Sätze werden damit zu einem Test: „Diese Anfangszeit war verdammt schwierig und hat Sie fast in die Insolvenz getrieben.“ Er quittiert den Satz mit dem Niederschlagen der Augen und fällt fast unmerklich ein wenig in sich zusammen. Sie sagen: „Die Mutter hat es mir noch nie leicht gemacht und jetzt will sie mir nichts geben.“ Diesen zentralen Satz, der das Verhältnis zur Mutter charakterisiert, wiederhole ich in der Passivform, die die Fremdbestimmung ausdrückt. Er richtet sich auf. Der klare Blick und die sich zum Zupacken öffnenden Hände zeigen, dass er etwas tun will. Ich habe den sicheren Eindruck, dass wir uns verstehen und ich das Gespräch nun gezielter führen kann. Ich markiere diese Änderung meiner Gesprächsführung: „Ich brauche einfach ein paar Informationen und möchte Sie danach fragen.“ Dann frage ich die Familienverhältnisse ab und mache mir Notizen in Form einer Strichskizze. Es folgen die Vermögensverhältnisse, die Frage nach Schenkungen, Vorempfängen und nach der Qualität der persönlichen Beziehungen untereinander, – schließlich werde ich verhandeln müssen, vermute ich.

3.5. Fragen – wonach? Wonach ich frage, ergibt sich in erster Linie aus meinem vorhandenen juristischen Gerüst. Zur Beurteilung der Pflichtteilsansprüche sind Informationen über die güterrechtliche Situation der Eltern und die Geschwister notwendig. Ich stelle die Fragen so, dass stets Verständnis mitschwingt. Fortsetzung Beispiel Erbfall: „Wissen Sie, wann Ihre Eltern geheiratet haben?“ „Waren Ihre Eltern damals beim Notar?’“ (Frage nach dem Güterstand) „Haben Sie Geschwister? Wie heißen sie? Welche Geschwister sind älter, welche jünger? Erzählen Sie mir, was für ein Verhältnis Sie zu jedem Ihrer Geschwister haben.“

Mein juristisches Gerüst, das die Fragen veranlasst hat, steht für mich aber nicht im Vordergrund. Es ist für mich wie ein Raster, das die Fragen veranlasst. Mit Hilfe dieser Fragen gelange ich in die Landschaft des Mandanten, die mich interessiert. Ich suche dort mit ihm andere Menschen, Orte, Erlebnisse auf. Meine Arbeit findet in der Landschaft des Mandanten statt, nicht in der juristischen Abteilung meines Kopfes. Mein Gegenüber ist nicht nur Lieferant von Tatsachen, die unter dem engen Blickwinkel der juristischen Relevanz geordnet werden. Nein, ich interessiere mich für ihn und seine jetzigen Umstände und wie sie durch die Vergangenheit beeinflusst werden. Fortsetzung Beispiel Erbfall: Die Mitteilung, dass die jüngere Schwester vorverstorben sei, führt zu Nachfragen: „War es ein Unfall?“’. Er bejaht. „Hatte sie Kinder?“

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Fragetechnik

Diese Frage könnte ebenso meiner eigenen Emotion entspringen, wie sie juristisch notwendig ist. Das Gespräch fördert also nicht nur relevante Tatsachen zutage. Jede Frage und jede Antwort ist zugleich Gestaltung der Beziehung zwischen uns. So weit wie diese Beziehung trägt, werde ich mehr von dem erfahren. Nur dann werde ich erfahren, was dahinter steckt, was die bestimmende Emotion war und was heute einer Konfliktlösung vielleicht im Wege steht.

4. Kapitel Fragetechnik – Fragetypen Eine Frage stelle ich, weil ich eine bestimmte Idee, eine Vorstellung von etwas habe. Die Antwort soll Informationen auf dem erfragten Feld erbringen. Manches Mal soll sie aber auch nur die Entscheidung erleichtern, ob ich mit meiner Vorannahme Recht hatte oder nicht. Je nach dem werde ich auf unterschiedliche Art fragen. Ähnliche Arten von Fragen lassen sich zu Fragetypen zusammenfassen. Man steckt einfach sich ähnelnde Fragen in eine Schublade und klebt ein Etikett darauf. Dieses Etikettieren fördert unser Verständnis für Fragetechniken.

4.1. Offene Fragen – geschlossene Fragen Je offener eine Frage ist, umso mehr schickt sie den Befragten in seine weite Landschaft und lässt ihn dort selbst auslesen und darstellen. Beispiel: „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Die geschlossene Frage zielt auf einen genau vorgegebenen Teil der Landschaft des Befragten. Sie engt sein Suchverhalten auf diesen Teil ein. Das kann graduell sehr unterschiedlich sein. Die geschlossenste Frage ist die, die nur noch mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. Beispiel: „Wollen Sie einen Kaffee?“

Probieren Sie es aus. Stellen Sie sich selbst diese Frage nach dem Kaffee – jetzt. Ihre Reaktion ist ein sofortiges „Ja“ oder „Nein“. Erst nachdem Sie dieses „Ja“ oder „Nein“ ausgedrückt haben, kommen einschränkende Zusätze. Beispiele: „Ja, vielleicht später. Ich habe gerade einen Kaffee getrunken.“ „Nein, eigentlich nicht, aber wenn Sie mir ein Mineralwasser anbieten würden, würde ich nicht nein sagen …“

Die geschlossene Frage bringt es also auf den Punkt. Sie provoziert eine Entscheidung. Das ist ihr Vorteil. Das kann aber auch ihr Nachteil sein.

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4. Teil Vernehmungslehre

Die Frage nach dem Kaffee offener gestellt könnte lauten: Beispiel: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Noch offener wird die Frage formuliert, wenn z. B. auch schon die Kekse auf dem Besprechungstisch stehen. Beispiel: „Was darf ich Ihnen anbieten?“

Die Fragepronomen der offenen Fragen beginnen alle mit „W“. Die offenen Fragen werden deswegen auch als W-Fragen bezeichnet. Sie beginnen mit wer, was, wann, wie, warum. Stehen diese Fragepronomen für sich und allein, leiten sie in ein maximal weites Feld von Antworten. Beispiel: Mandant: „…und dann kam es zum Unfall.“ Nachfrager: „Wie?“

So fordert man zur Detaillierung auf, ohne einzuschränken oder vorzugeben. So leitet man in ein kaum eingeschränktes Antwortfeld. Formal passt auf diese Frage jede Antwort, die sich mit der Unfallursache beschäftigt. Tatsächlich sind aber nur Antworten erwünscht, die das unmittelbare zeitliche Umfeld betreffen. Der Kontext der Frage schränkt also das formal weit gezogene Antwortfeld ein. Ein weiteres Beispiel: „Wie möchten Sie den Kaffee?“

Diese Frage eröffnet zwar mit dem Pronomen „wie“ sehr weit. Durch die Verbindung mit der Situation „Kaffee“, der zubereitet wird, ist die Frage aber auf die möglichen Antworten mit/ohne Milch/Zucker verengt. Es sei denn, die gesellschaftliche Überzeugung zum Kaffeetrinken ändert sich und Antworten wie „lauwarm und in einer großen Tasse“ werden zulässig. Manches Mal äußert sich der Gefragte in seiner Antwort kommentierend zur Frage selbst und eröffnet damit die Kommunikation über die Frage, über die dahinterstehenden Absichten oder über die Beziehung zwischen dem Frager und dem Befragten. Beispiel: Nachdem ich einen neuen Mandanten ins Besprechungszimmer gebeten und wir uns an den Tisch gesetzt hatten, wollte ich das Gespräch eröffnen und fragte mit Blick auf den bereitstehenden Kaffee und die Kekse: „Was darf ich Ihnen anbieten?“ Der recht selbstbewusste Mandant antwortete: „Vielen Dank, der angebotene Stuhl reicht mir im Moment noch.“ Wir tauschten ein Lächeln aus und kamen zur Sache.

Was ist in diesem Beispiel passiert? Die Frage „Was darf ich Ihnen anbieten“ führt nur scheinbar in ein weites Antwortfeld, das hier durch den Kontext tatsächlich stark eingeschränkt war. Auf dem Tisch standen zur Auswahl nur Kaffee und Kek122

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Fragetechnik

se. An diese Auswahl hielt sich der Mandant mit seiner Antwort aber nicht. Seine Antwort mit dem angebotenen Stuhl blieb aber innerhalb des scheinbar weiten Feldes der möglichen Antworten. Er schaffte so bewusst eine kleine Verwirrung, über die wir uns mit einem Lächeln verständigt haben. („Wir haben es beide gemerkt und das verbindet uns.“) Wie offen oder wie geschlossen wir Fragen stellen, hängt auch von unserer Einschätzung des Gegenüber ab. Manchen Menschen muss man die Würmer aus der Nase ziehen, dafür sind die geschlossenen Fragen da. Andere würde man mit dieser Frageweise provozieren, weil sie darauf warten, eine in sich geschlossene Geschichte von sich aus zu erzählen. Ein solcher Mandant braucht nur ein Stichwort oder eben eine weit gestellte Frage. Können wir einen neuen Mandanten nicht so richtig einschätzen, werden wir eher, weil vorsichtig, mit weiten Fragen beginnen und dann durch Nachfragen, also systematisch, das Feld einengen. So ändert sich die Frageform mit dem Informationsfortschritt. Je mehr wir zum Detail wollen, umso geschlossener, umso gezielter werden die Fragen. Entscheidend ist die eigene Flexibilität, die Art der Frage präzise der Situation anpassen zu können.

4.2. Suggestivfragen Während es bei mehr oder weniger geschlossenen Fragen darum ging, das Antwortfeld einzuengen, versuchen Suggestivfragen, zusätzlich dieses Territorium zu bewerten. Sie können emotional eingefärbt sein und etwas als richtig oder falsch darstellen. Sie üben damit auf den Befragten Einfluss aus, indem sie ihn locken, von einem Antwortfeld abschrecken oder ihm das Betreten erschweren. Suggestivfragen können positiv unterstützend oder manipulativ eingesetzt werden. Manche Suggestivfragen treiben den Befragten richtig in die Enge. Beispiel: Der Anwalt nimmt zu Beginn des Gesprächs die Kaffeekanne in die Hand und fragt den Mandanten: „Wollen Sie auch einen Kaffee?“

Die geschlossene Frage, die nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann, wurde durch den Zusatz des Wortes „auch“ zusätzlich auf ein „Ja“ hin ausgerichtet. Dass dieses Ja erwünscht ist, ja geradezu erwartet wird, wurde körpersprachlich durch das Zücken der Kaffeekanne ausgedrückt. Bewegt sich die Kaffeekanne während der Frage gar schon auf die Tasse zu, würde das freundliche Angebot mit einem „Nein“ regelrecht gestoppt. Das fällt dem Gefragten schwer. Der manipulative Charakter der Frage wird damit offenbar. Solche Manipulationen fallen oft nicht auf und werden hingenommen, zumal wenn sie gut gemeint sind. Weitere Beispiele: „Sind Sie auch der Meinung, dass …?“ „Heißt das, dass …“ „Sie wissen doch, was ich meine …“ „Sicherlich können Sie mir beipflichten, wenn ich sage …“

Die emotionale Einfärbung des Antwortterritoriums kann auch zu einem richtigen Farbklecks werden, etwa wenn man eine Frage mit einem Vorwurf verbindet.

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4. Teil Vernehmungslehre Beispiel: „Warum haben Sie in dieser Situation nicht gebremst?“

Diese Frage enthält im Schwerpunkt den Vorwurf, nicht gebremst zu haben. Die Frage nach möglichen Gründen erscheint wie nebensächlich. Beispiel: (Steigerung des Vorwurfs) „Jeder normale Mensch hätte in dieser Situation sofort gebremst. Warum haben Sie das nicht getan? Können Sie mir helfen?“

Die Frage „Können Sie mir helfen?“ ist in ihrem formalen Aufbau eine geschlossene Frage, die nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. Tatsächlich handelt es sich aber um eine rhetorische Frage. Die Frage ist nämlich gar nicht als Frage, sondern als Aufforderung zu verstehen. Dies ergibt sich aber aus dem formalen Aufbau und Inhalt der Frage gerade nicht, sondern aus unserem Sprachverständnis. Würde die Frage entgegen diesem allgemeinen Verständnis nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet, würde dies als bewusstes Missverstehen gedeutet und Emotionen freisetzen. Der Frage „Warum haben Sie das nicht getan?“ ist formal eine klassische W-Frage, weil sie mit „warum“ eingeleitet wurde. Beide Fragen erhalten aber den eigentlichen und entscheidenden Rahmen durch den vorausgehenden intensiven Vorwurf „jeder normale Mensch hätte….“. Mit diesem Vorspann ist zugleich gesagt, dass die Antwort nicht aus einem Bereich des Normalen und Vorstellbaren kommen kann. Dieses Feld wurde für die unerwünschte Antwort gesperrt. Das ist die eigentliche Suggestion. Trotz einer W-Frage und einer rhetorischen Frage in Kombination liegt also im Ganzen eine Suggestivfrage vor.

4.3. Rhetorische Fragen Rhetorische Fragen sind Floskeln, deren Frageinhalt nicht auf die Antwort zielt. Der formal weite Frageninhalt steht im Widerspruch zur allgemein erwarteten formellen Reaktion. Beispiele: „Wie geht es Ihnen?“ „Hatten Sie eine gute Fahrt?“ „Darf ich Ihnen einen Stuhl anbieten?“

Diese Fragen wollen keine ehrliche Antwort und vor allem keine lange Beschreibung. Sie dienen einem nichtssagenden und damit unverfänglichen Gesprächsaufbau. Es ist schon einmal etwas gesagt und zugleich dem Gefragten der Ball zugeworfen worden. Man hat sich bemerkbar gemacht und ein gewisses Interesse am anderen bekundet. Dahinter steckt der Ausdruck: Ich habe dich wahrgenommen, ich interessiere mich für dich und möchte mit dir unverbindlich in Kontakt sein. Intensiver der Beziehungspflege dienen in der Satzstellung nachgesetzte Fragen. Beispiele: „… oder nicht?“ „… meinst du nicht auch?“ „… könnte es nicht so gewesen sein?“

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Fragetechnik

Diese rhetorischen Schlussfragen, oft am Ende eines Monologs, signalisieren „jetzt könntest Du etwas sagen“ oder „ich könnte von Dir auch eine andere Meinung entgegennehmen, sag’ sie mir, wenn es Dir wichtig ist“. Rhetorische Fragen sind ein gutes Beispiel dafür, dass zur Bestimmung dessen, was der Fragende mit seiner Frage erreichen will, nicht nur der formale Frageinhalt zählt. Zur Interpretation ziehen wir unbewusst und mit individuell unterschiedlicher Sensibilität Rahmeninformationen heran. Dies kann die Art und Weise, wie die Frage gestellt wurde, sein. Die persönliche Stellung des Fragenden und des Befragten, der Ort der Frage oder sonstige Informationen können von Bedeutung sein. Noch ein Beispiel: „Warum kommen Sie erst jetzt?“

In Verbindung mit einem verpassten Termin ergibt sich ein Vorwurf. Selbst wenn ich als Außenstehender nichts von einem verpassten Termin weiß, kann ich den Vorwurf der Betonung entnehmen. Die Betonung ermöglicht sehr differenziert Rückschlüsse auf die Verärgerung des Fragenden. Dass der Ton die Musik macht, ist eine Feststellung, die auf rhetorische Fragen besonders zutrifft, bei allen anderen Fragen aber ebenso Bedeutung hat. Die Erwartung des Fragenden schwingt stets mit. Fragen ist immer Kommunikation mit dem Gefragten.

4.4. Sonstige Fragetypen Unser sprachliches Abstraktionsvermögen lässt es zu, dass wir unter diversen anderen Gesichtspunkten Fragen etikettieren und unter Fragetypen zusammenfassen. Es gibt Fragen, die gerade bei Vernehmungen aus Prinzip gestellt werden. Dazu gehören die Filterfragen, die erforschen sollen, ob der Befragte überhaupt aus eigener Anschauung erzählt oder seine Informationen vom Hörensagen hat. Dazu zählen auch Fragen, die die persönliche Beziehung des Befragten zum Gegenstand beleuchten sollen. Beispiele sind Fragen zu den Verwandtschaftsverhältnissen, zu Sympathie/Antipathie und zum persönlichen Interesse am Ausgang eines Prozesses. Mit Kontrollfragen werden die Antworten auf vorgehende Fragen überprüft. Beispiele für Kontrollfragen, die die Quelle der Information testen sollen: „Wo genau standen Sie, als Sie dies beobachtet haben?“ „Waren Sie später noch einmal an dieser Stelle?“ „Mit wem haben Sie über Ihre Beobachtungen gesprochen?“ „Haben Sie die Presseberichte zum Hergang gelesen und wie finden Sie diese?“ Beispiele für Kontrollfragen, die Meinungen oder Einstellungen des Befragten, die seine Wahrnehmung beeinflusst haben könnten, überprüfen: „Was für einen Autotyp fahren Sie?“ „Wie wichtig ist Ihnen die PS-Leistung Ihres Pkws?“ „Gibt es für Sie den typischen BMW-Fahrer – und was ist das für ein typisches Verhalten, das Sie ausmachen können?“ Indirekter: „Was für Autotypen fahren Raser Ihrer Meinung nach bevorzugt?“

Menschen mit einem besonderen Hang zur Typisierung von Fragen haben aus der Abfolge von Fragen eigene Typen gebildet. Dazu zählt die sokratische Ja-Straße. Sie Lochmann

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4. Teil Vernehmungslehre

ist eine Abfolge von mehreren Fragen, die erwartbar alle mit „Ja“ beantwortet werden. Diese Serie von „Ja“ hat suggestive Wirkung, so dass es dem Befragten schwer fällt, bei der am Ende der Ja-Straße gestellten entscheidenden Frage mit „Nein“ zu antworten.

5. Kapitel Wie Fragen entstehen Sitze ich nach einem Mandantengespräch an einem Schriftsatz, um aus den Tatsachen eine Aktion zu machen, behindern auftauchende Tatsachenlücken. Schlimm, wenn dies in zentralen Bereichen passiert, die ich zur Subsumtion benötige. Dann ist die Lücke ein Befragungsdefizit, das nur durch erneute Befragung geschlossen werden kann. Solche Fehler nutze ich gerne, um eine Checkliste für das nächste Mal zu erstellen. Je mehr ich beim Erstellen des Schriftsatzes meinen Gedanken freien Lauf lasse, umso mehr neue Ideen tauchen auf. Mit ihnen kommt der Wunsch, das eine oder andere noch gefragt oder besprochen zu haben. Es ist so, wie wenn man ein Foto vergrößert: Die Details kommen größer heraus, aber die Ursprungsschärfe des Bildes kann nicht gesteigert werden. Je präziser mein Bild also bereits während des Interviews wird, umso weniger muss ich anschließend – um im Bild zu bleiben – herausvergrößern. Je mehr Fantasie und Engagement ich im Interview aufbringe, umso präziser werden die Bilder. Präzisere Bilder wiederum regen die Fantasie zu weiteren Fragen an. Genauer hingeschaut, habe ich vier Quellen für meine Fragen: 1. Quelle für Fragen: Mein juristisches Bild Fortsetzung Beispiel Erbfall: Während des dargestellten Mandanteninterviews zum Erbfall wurden die Informationen „Sohn/Mutter/Alleinerbin …“ mitgeteilt. Daraus entsteht sofort in mir das Stichwort „Pflichtteilsansprüche“, das wie das kurze Aufblinken eines beschrifteten Schalters wirkt. Betätige ich den Schalter, wird das juristisches Bild Pflichtteilsansprüche beleuchtet. Dieses Bild ist nicht sehr deutlich, mir aber wohl bekannt. Es wirkt wie ein großes Wandbild, das sehr viele konkrete Details enthält, die aber im Dämmerlicht nicht genau zu erkennen sind. Ich weiß, das Bild ist schwarzweiß und voller Liebe zu differenzierenden Schattierungen, die ich aber im Dämmerlicht nicht genau erkennen kann. Die Information „‚enterbter Sohn‘“ lässt wie einen Spot aufblinken, der eine kleine Teilfläche des Bildes erhellt: Mutter? Zugewinngemeinschaft? Quote? Der juristische Spot führt weiter von Punkt zu Punkt. Über die Geschwister geht es zur gesetzlichen Erbquote, von dort zur Höhe der Pflichtteilsansprüche. Sofort, sich richtig aufdrängend und wie besonders hell und schnell erscheint: „Verjährung?“

Außerdem gibt es systematische Routinefragen, die ich aus (oft nur innerlich) angelegten Checklisten beziehe. Die Frage nach der Staatsangehörigkeit kommt aus einer solchen Checkliste.

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Wie Fragen entstehen

Sobald in einer Checkliste Punkt für Punkt abgearbeitet wird, leidet der Mandantenkontakt. Der Mandant versteht sehr schnell, dass aus einer ihm unbekannten Systematik heraus gefragt wird. Dagegen wäre das Arbeiten und sich Bewegen in seiner Landschaft für ihn ein Arbeiten auf vertrautem Terrain. Das wäre unserer Beziehung förderlich. Jedes Fragen aus einer Checkliste oder dem juristischen Bild heraus belastet die Beziehung, weil der Hintergrund der Fragen, die Zielrichtung, dem Mandanten nicht verständlich ist. Ist die Beziehung gut, reicht das Vertrauen aus und diese Belastung wird hingenommen. Spüre ich, dass das Vertrauen nicht ausreicht, verlangsame ich die Fragegeschwindigkeit oder schalte ein Gespräch über ein dem Mandanten wichtiges Detail dazwischen. 2. Quelle für Fragen: Die Landschaft des Mandanten Meine zweite Quelle für Fragen ist die Landschaft des Mandanten. Von dort kommen die Informationen. Sie hängen aber nicht einfach an Bäumen und können dort wie Äpfel gepflückt und in der mitgebrachten Kiste unserer juristischen Formen mitgenommen werden. Die Tatsachen haben dort eine mandantenspezifische Bedeutung, eine nur ihm sofort zugängliche Umgebung und sind Teil von Zusammenhängen, die ich auch bei intensivem Nachfragen nur bruchstückhaft erfahren werde. Tatsachenmitteilung und eigene Einschätzungen des Mandanten sind nicht scharf getrennt. Sie fließen ineinander. Fortsetzung Beispiel Erbfall: Für das Vervollständigen meines juristischen Bildes hat mir die Geschwisteranzahl gereicht. Fürs Verstehen und als Grundlage für künftige Verhandlungen um die Höhe des Pflichtteils brauche ich mehr: Ich will die Stellung des Mandanten in der Familie näher erfragen: „Sind Sie denn alle auf die gleiche Schule gegangen?“ „Ja.“ „Heißt das, Ihre Lehrer haben Ihnen Ihre Geschwister vorgehalten?“ „Ja, ja, das hörte erst auf, als ich in die Lehre ging.“ Tatsächlich ist der Mandant der Jüngste von vier Kindern, das Nesthäkchen. Das ist nicht nur von Bedeutung, es ist auch einfach interessant, wenn ich mich für den Mandanten interessiere und nicht nur für die Tatsachen. Mit dieser Sequenz habe ich nicht nur eine grundlegende Tatsache zur Geschwisterbeziehung aufgenommen, sondern auch die Beziehung gepflegt. Die zweite Frage enthielt nämlich eine recht spezifische Vermutung, die, weil sie ein Treffer war, als Verständnisäußerung aufgenommen wird. Wäre sie kein Treffer gewesen, ergäbe sich immerhin Gelegenheit, die Stellung innerhalb der Geschwisterfolge darzustellen.

Wenn ich müde bin oder unter Zeitdruck, kann es schon passieren, dass ich wie ein Angler vorgehe. Fragen sind dann wie der geköderte Angelhaken. Sobald die Tatsache anbeißt, ziehe ich sie schnurstracks heraus, werfe sie in den dafür bereitgestellten Korb und habe die Angel schon wieder im Wasser mit einer neuen Frage als beködertem Angelhaken. Nehme ich mir Zeit, gehe ich eher wie ein Taucher vor, der sich dorthin begibt, wo Informationen sind. Er schaut sich den Ort an und sucht aus, was er braucht. 3. Quelle für Fragen: Die Mandantenreaktion Meine dritte Erkenntnisquelle sind die bewussten wie die unbewussten Reaktionen des Mandanten auf eine Frage. Er antwortet meist sowohl auf der sachlichen

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als auch auf der emotionalen Ebene. Seine Antwort ist zugleich eine Interpretation des von ihm vermuteten Hintergrundes der Frage. Wir alle kennen den Vorgang des bewussten Suchens nach einer Antwort. So suchen wir eher selten. Antworten werden meist unbewusst gesucht. Bereits bevor eine Frage unser Bewusstsein erreicht und verstanden wird, löst sie Suchmechanismen im unbewussten Bereich aus. Wir begeben uns unbewusst sofort in das Feld möglicher Antworten. Was wir dabei (unbewusst) erleben, drücken wir körpersprachlich aus, ohne das zu wollen oder steuern zu können. Beispiel: Stellen Sie sich vor, wie jemand auf eine Frage hin rot wird. Die Frage hat ihn in einen Bereich geleitet, den er bewusst nicht betreten hätte. Das, was ihn hat rot werden lassen, will er nicht offenbaren. Entscheidend ist, dass er, ohne es zu wollen und ohne sich dagegen wehren zu können, in diesem Bereich der möglichen Antwort gelandet ist.

Die meisten Fragen lösen Emotionen aus, die zu beobachten sich lohnt. Emotionen liefern Bilder, die wie Wegweiser sein können. Sie geben auch Informationen zur Glaubwürdigkeit. Beobachtete Emotionen regen zum Nachfragen und zum Weiterfragen an. Fortsetzung Beispiel Erbfall: Die Frage nach den Geschwistern, die zu der verunfallten Schwester führte, hatte eine solche emotionale Reaktion ausgelöst. Wenn wir es uns angewöhnen, wirklich scharf zu beobachten und dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit trainieren, dann könnte einem auffallen: Die sich sofort – für den Bruchteil einer Sekunde – verengenden Pupillen des Mandanten, wie er ganz wenig und nur kurz die Augen zusammenkneift, die Lippen anspannt und Farbe im Gesicht verliert. Die Anspannung löst sich alsbald wieder mit einem Atemzug, der, wäre ich nicht dabei, ein Seufzer werden würde.

Meine Beobachtungen sind kaum vorsätzlich gesteuert. Diese Beobachtungen passieren, weil ich die Augen und Ohren offen halte und dieses Beobachten gewohnt bin. Ich habe eine Vielzahl von Vorerfahrungen, die, angetippt durch ein beobachtetes Bild, zur Information oder zu einer auftauchenden Frage werden. 4. Quelle: Meine eigene Reaktion Vierte Quelle für Fragen sind meine eigenen Reaktionen, die ich als eine Stimmung oder eine Veränderung meiner Stimmung wahrnehme. Bin ich in Emotionen, reagiere ich heftig. Heftige Reaktionen helfen mir aber wenig, weil ich dann mit mir selbst beschäftigt bin. Stimmungen sind dagegen wie die Vorstufen eines Gefühls, feine Vorboten, wie Wölkchen an einem blauen Himmel, die man getrost übersehen oder eben auch bewusst beobachten kann. Die Wahrnehmung von Stimmungsveränderungen setzt einen Fokus in diesem Bereich voraus. Ich kenne es nur zu gut, wie ich alltäglich mit wenig Aufmerksamkeit für mich oder gar meine Stimmungen Dinge tue und sie einfach erledige. Bei einem Interview bewusst sensibel zu werden heißt, diese Erkenntnisquelle aufzutun. Wahrnehmungsfähigkeit kann ich im Alltag trainieren, indem ich, statt die Dinge nur zu erledigen, (immer mehr) auf mich und die begleitenden Stimmungen achte.

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Glaub’ ich’s oder nicht?

Meine eigene Reaktion auf die Situation im Ganzen und deren feine Veränderung wird dann zur Quelle für Fragen. Fortsetzung Beispiel Erbfall: Als ich den Mandanten frage, ob er selbst Vorempfänge vom Vater erhalten habe, antwortet er mit „Ja ja, so mal 2.000 Euro.“ Sein Ton hat etwas Distanziertes. Er neigt den Kopf etwas und die wegschiebende Handbewegung scheint anzuzeigen, „Ach, das ist doch ohne Bedeutung.“ „Nein“, taucht in mir auf „nein, nein“ und, ohne lange nachzudenken, sage ich es ihm: „Das war aber nicht alles?“ War es ein Fehler, so zu fragen? Hätte ich korrekt fragen müssen „Haben Sie außer den 2.000 Euro noch mehr Geschenke erhalten?“

Der spontane Einwurf „Das war aber nicht alles“ kann sehr unterschiedlich ausgedrückt werden. Er kann als Feststellung einen Vorwurf enthalten: „Das war aber nicht alles!“ Der Vorwurf ist dann auch dem Ton zu entnehmen. Beim fragenden Einwurf „Das war aber nicht alles?“ spreche ich langsamer, am Ende in der Stimme fragend nach oben gezogen. Der Satz ist vor allem eines: Eine spontane, quasi ungefilterte Mitteilung einer eigenen Stimmungsreaktion. Diese Spontanität ist die indirekte Mitteilung, viele Filter und Sicherheitschecks ausgebaut zu haben. Sie ist ein Mittel der Beziehungsgestaltung. So spricht man nur, wenn man sich versteht und wenn es nicht nur um Information, sondern auch um Emotion geht. Der Einwerfende macht seine Gefühle zu einem Teil der Kommunikation. Die formell nicht korrekt gestellte Frage war also Beziehungspflege. Sie war die Mitteilung „Du kannst mir vertrauen, ich will dich verstehen, wir brauchen keine formell korrekte Sprache.“

6. Kapitel Glaub’ ich’s oder glaub’ ich’s nicht? An meine erste Beweisaufnahme während der Referendarzeit unter Anleitung des Zivilrichters erinnere ich mich noch genau. Ein neues Beispiel: Der Gegenverkehrsunfall Auf einer schmalen, kurvenreichen Straße, die gerne von Ortskundigen als Abkürzung benutzt wurde, kam es zu einem Begegnungsunfall. Der Kollisionsort der Fahrzeuge stand aufgrund der von der Polizei festgehaltenen Schmutzspuren eindeutig fest. Der Mercedes des Beklagten hatte danach einen unzulässigen Abstand zum rechten Fahrbahnrand von 80 cm. Er bot die Ehefrau als Zeugin dafür an, dass er so weit rechts wie möglich gefahren sei. Als Zeugin saß mir eine Frau mittleren Alters gegenüber, die meine Mutter hätte sein können. Sie machte einen durch und durch seriösen Eindruck. Lügen vor Gericht – hätte ich ihr nie zugetraut. Sie schilderte detailliert, wie ihr Mann ganz rechts gefahren sei und toppte mit dem Satz: „Kurz vor dem Unfall habe ich ihm noch gesagt, ‚fahr‘ nicht so weit rechts, du fährst noch in den Graben“. Als ich nachfragte, bestand sie darauf. Diese Äußerung sei kurz vor dem Unfall gefallen, sie habe deswegen besonders auf den rechten Rand geachtet, um zu schauen, ob ihr Mann sich jetzt daran halte. Dann sei es zu dem Unfall gekommen. Mein Vorhalt der widersprechenden Indizien veränderte nichts. „Das kann ich mir nicht erklären, ich bleibe bei meiner Aussage, so habe ich es beobachtet.“

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Über den offensichtlichen Widerspruch zwischen den Indizien und der Aussage habe ich lange nachgedacht. Hatte diese Frau mich bewusst angelogen? Bis dato glaubte ich ein ziemlich gutes Gefühl zu haben, ob ich jemandem trauen könne oder nicht. Ich begann, die Zuverlässigkeit dieses Gefühls zu hinterfragen. Das Vertrauen in meine eigene Wahrnehmungsfähigkeit war tief erschüttert. Konnte es nicht sein, dass die Frau subjektiv keineswegs gelogen hatte, sondern sich einfach nur irrte? Dann wäre meine Wahrnehmungsfähigkeit richtig gewesen. Ein Mensch, der sich irrt, sagt zwar die Unwahrheit, aber er lügt nicht. Lag hier die Lösung für meinen Konflikt?

6.1. Wahrnehmungsdefizite Als Menschen leben wir damit, die meisten Dinge, die um uns herum passieren, gar nicht wahrzunehmen, weil sie außerhalb unseres Wahrnehmungsbereiches liegen. Wir sind es gewohnt, uns über die Dinge, die passieren, aus zweiter Hand informieren zu lassen. Deswegen lesen wir Zeitung. Deswegen lassen wir uns vom Fernsehen mit Bildern und Berichten informieren oder hören gerne Fremden zu, die von ihrem letzten Urlaub erzählen. Auch innerhalb des eigenen Wahrnehmungshorizontes sehen oder hören wir nur in Ausschnitten und füllen nicht wahrgenommene Bereiche mit Interpretation. Fortsetzung Beispiel Gegenverkehrsunfall: Die objektiv falsche Einschätzung des Seitenabstandes könnte auf einem solchen Wahrnehmungsdefizit beruhen. Die Zeugin gab an, sie habe Angst gehabt, dass das Fahrzeug von der Straße nach rechts abkomme. In einer solchen Situation schaut man als Beifahrer regelmäßig nicht nach rechts aus dem Seitenfenster, sondern dorthin, wohin das Fahrzeug fährt, also in Fahrtrichtung durch die Frontscheibe. Subjektiv ging es der Zeugin nicht um Abstandsschätzungen, sondern um das Vermeiden des Grabens. Der Blickwinkel nach vorne, statt zur Seite, hatte möglicherweise eine objektiv fehlerhafte Schätzung des Seitenabstandes verursacht. Die Einschätzung könnte durch den starken Wunsch nach einem möglichst großen, rechten Seitenabstand und dem Eindruck, es sei rechts eher knapp, Unterstützung gefunden haben.

Neben solchen situationsbedingten Wahrnehmungsfehlern gibt es auch solche, die daraus entstehen, wie wir bevorzugt wahrnehmen. Die Mehrzahl der Menschen beobachtet bevorzugt mit dem Auge und hat über diesen Sinneskanal die meisten Umgebungseindrücke. Eine Minderheit bevorzugt dagegen den auditiven Kanal. Wir erwarten aber stets, dass unser Gegenüber in derselben Weise wahrnimmt wie wir. Daraus entstehen Missverständnisse. Beispiel: Begeben Sie sich, wenn Sie ein visuell orientierter Mensch sind, mit einem auditiv orientierten Menschen in ein Konzert und diskutieren Sie an schließend. Ihr Gegenüber hat nicht nur wegen des offeneren Sinneskanales mehr gehört, sondern greift in der Diskussion auch auf eine Vielzahl von gehörten Vorerfahrungen zurück. Das Hören ist seine Welt. Die umgekehrte Situation erlebt ein visuell orientierter Mensch nach dem Besuch einer Fotoausstellung mit einem eher auditiv orientierten Partner.

Wahrnehmungsdefizite haben System.

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Glaub’ ich’s oder nicht?

Innerhalb unserer Gewohnheit, wie wir wahrnehmen, legen wir fest, wonach wir bevorzugt suchen und was wir eventuell gar nicht wahrnehmen wollen. Landläufig sagt man, „Sie hatte vor diesen Tatsachen die Augen geschlossen gehalten“ oder „Er hatte seine Ohren auf Durchzug gestellt“. Beispiele: – Wenn Sie sich überlegen, die Automarke zu wechseln, fallen Ihnen plötzlich viele Fahrzeuge der neuen Marke auf. Die neue Marke ist der Ort Ihres Interesses. – Verliebte Menschen tragen oft eine rosarote Brille und nehmen die umgebende Welt rosarot wahr. – Menschen in Trauer stören sich an intensiven Farben und sind hochsensibel für Äußerungen, die auch nur entfernt mit dem Verstorbenen in Verbindung gebracht werden können.

Wir nehmen hauptsächlich wahr, was uns interessiert.

6.2. Defizite bei der Wahrnehmungsverarbeitung Das Wenigste, was wir wahrgenommen haben, merken wir uns auch. Unsere Überlebensfähigkeit hängt davon ab, dass wir zur Entlastung des Gedächtnisses unsere Wahrnehmungen vor der Einlagerung selektieren. Was wir einlagern und was nicht und warum, ist uns genauso unbewusst, wie der Selektionsvorgang selbst. Wären diese Vorgänge bewusst, wären wir auf der Stelle neurologisch überlastet. Beispiel: 300 km Autobahnfahrt liefern eine solche Fülle von Bildern, dass wir sie gar nicht abspeichern können. Wir schränken deshalb schon unsere Wahrnehmung stark ein. Interessant sind nur die Bilder im Beobachtungswinkel vor und hinter uns, begrenzt auf Bilder, die den Autoverkehr betreffen. Von den Autos interessieren uns im Wesentlichen tagsüber die Formen, nachts die Lichter. Farben oder Autokennzeichen und die uns umgebende Landschaft schauen wir an, um Pause zu machen. Realisierte Bilder dienen momentanen Entscheidungen, sie werden nicht eingelagert. Allenfalls an die eine oder andere kritische oder gar gefährliche Situation erinnern wir uns im Nachhinein, selten aber mit Details. Beispiel: Obwohl wir beim Betrachten eines Fernsehfilmes emotional voll engagiert waren, erinnern wir uns im Nachhinein kaum noch an Details. Der Film, die erlebte Emotionalität, diente von vornherein nur zur Unterhaltung.

Dass wir ein „Gedächtnis wie ein Sieb“ haben, ist das Ergebnis der systematisch nur partiellen Einlagerung von Wahrnehmungen. Speicherplatzreserven für Wichtiges hat nur der, der genügend tilgt und löscht. Aus Platzgründen wird deswegen auch die Grenze der Einlagerung nicht markiert. Wir erinnern nicht, was wir sicher wahrgenommen haben und wo die Grenzen zur blitzschnellen Rekonstruktion sind. Die Grenzen zwischen tatsächlicher Wahrnehmung in der Erinnerung und der Rekonstruktion sind fließend. Fortsetzung Beispiel Gegenverkehrsunfall: Frage an die Zeugin: „Wieviel Abstand hatte Ihr Mann zum rechten Straßenrand?“ Antwort der Zeugin: „Vielleicht 30 cm.“

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4. Teil Vernehmungslehre Aufgefordert zeigt die Zeugin den Abstand mit der gespreizten Hand (würden wir messen, wären es 17 cm). Weitere Nachfrage: „Sind Sie sich da ganz sicher?“ Antwort der Zeugin: „Natürlich, er ist fast über das Gras gefahren.“

Die Schmutzspuren (das ist herausgefallener Dreck aus den Radkästen) sprechen aber unwiderleglich für einen Seitenabstand von 80 cm. Die Zeugin schilderte vermutlich keine tatsächlichen Erinnerungen, sondern untermauerte eine erinnerte Einschätzung. Die Fragen haben also in die Irre einer angeblichen Sicherheit geführt. Wir neigen dazu, unsere lückenhaften Wahrnehmungen und die spärlichen Gedächtniseinlagerungen wie beim Puzzeln zu vollständigen Bildern zu ergänzen. Wo es Sinn macht, war es so, glauben wir. Zwischen den tatsächlich wahrgenommenen und den in der Fantasie ergänzten Teilen eines Bildes ist schwer, meistens gar nicht zu unterscheiden. Wie und was ich aber ergänze und damit fortentwickle, hängt auch von meinem eigenen Interesse ab. Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie treffen sich mit Ihrer ehemaligen Abiturklasse. Die Emotionen gehen hoch. Die Freude über das Wiedersehen nicht nur mit diesen Menschen, sondern mit der eigenen Vergangenheit, vermischte sich mit Jugenderinnerungen. Das ist der Boden fürs Geschichtenerzählen. „Weißt Du noch damals …“ Jeder erinnert an eine andere Geschichte, die wie neu klingt, als wären wir nicht dabei gewesen, weil wir alle gerade gefehlt hätten. Aber die Geschichten stimmen, sie sind wahr, weil sie gespickt sind mit Einzelheiten, die wiedererkannt werden, die typisch sind und in den Rahmen passen. Der Gleichklang der Emotionen färbt wie ein Malerpinsel die Tatsachen und verbindet sie über Lücken hinweg.

Im Beispiel des Ehemaligentreffens haben Emotionen Erinnerungen zu plausiblen Geschichten verdichtet. Die Situation war spontan und einmalig. Noch stärker wirken andauernde Widersprüche zwischen der eigenen Interessenlage und der Erinnerung. Jeder kennt unangenehme Erinnerungen, die erst mit der Zeit verblassen. Müssen wir dann, z. B. für eine Zeugenaussage, doch noch einmal uns mit dieser Erinnerung beschäftigen, erscheint uns vieles gar nicht mehr so schlimm. Wir haben erfolgreich die Erinnerung unserer Wahrnehmungen verändert. Zu unserem Beispiel vom Gegenverkehrsunfall: Die Zeugin hat die Unfallsituation vermutlich vielfach in ihrem Bekanntenkreis erzählt. Sie hat darüber geschlafen und sich immer wieder selbst damit beschäftigt. Die durch die Interessenlage systematische Veränderung der Erinnerung der Zeugin könnte so ausgesehen haben: „Er hatte nach rechts einen Abstand nach rechts von mindestens einem halben Meter.“ „Der Abstand nach rechts war doch etwa einen halben Meter.“ „Der Abstand nach rechts war nicht groß.“ „Er hatte nach rechts kaum Abstand.“ „Er hatte nach rechts fast keinen Abstand.“

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Glaub’ ich’s oder nicht? „Er hatte nach rechts so wenig Abstand, dass ich es in dieser kurvenreichen Straße fast mit der Angst zu tun bekam.“ „Ich hatte richtig Angst, so nahe fuhr er rechts und ich habe ihm das dann gesagt.“

Der Irrtum ist der größere Feind der Wahrheit als die Lüge. Dieses Sprichwort hat mich als Referendar mit der (beruflichen) Welt versöhnt.

6.3. Lügen will gelernt sein Wie man schlecht lügt, kann man bei Kindern beobachten: Sie schauen sich im Geiste die wahre Situation an, das kann man ihren Augen ansehen, und erzählen das Gegenteil. Die Diskrepanz zwischen dem, was sie selbst für wahr halten und dem Gesagten, ist für sie selbst so offenbar, dass die Diskrepanz äußerlich unverzüglich erkennbar wird. Später lernen Kinder aus Erfahrung, auf eine unangenehme Frage hin innerlich wegzuschauen, indem sie das wahre Bild unterdrücken. Erzählen sie dann die Unwahrheit, ist der Widerspruch sehr viel geringer. Er wird körpersprachlich bei Weitem nicht mehr so deutlich ausgedrückt und so das Lügen schwerer entdeckt. Kritisch wird es für den Beobachter, wenn das Stadium des vollkommenen Sichselbstbelügens erreicht ist. Wer sich selbst belügt, ist, sobald er selbst daran glaubt, über den empfundenen und körpersprachlich ausgedrückten Widerspruch nicht mehr zu entlarven. Die Auskunftsperson gibt dann mit dem gleichen Brustton der Überzeugung Wahrnehmungen wieder, wie die Person, die sich irrt. Die Übergänge zum vollkommenen Sichselbstbelügen sind fließend. Niemand beschließt, einen Sachverhalt so und nicht anders glauben zu wollen. Der Hang zum Zweifeln und kritisch Hinterfragen nagt an der Selbsttäuschung wie an jeder Überzeugung. Erreiche ich mit Fragen diesen selbstkritischen Teil der Auskunftsperson, kann dies zu deutlichen Reaktionen führen. Quelle dieser Reaktion ist der unbewusste Teil der Auskunftsperson, der sich körpersprachlich ausdrücken wird. Fortsetzung Beispiel Gegenverkehrsunfall: Der Beifahrerin als Zeugin könnte man folgende Fragen stellen: – „Sind Sie erschrocken, als Ihr Mann so weit rechts fuhr?“ – „Haben Sie ihn daraufhin nicht angesehen, als Sie ihn aufmerksam machten?“ – „Haben Sie das Auto, das Ihnen entgegen kam, vor dem Unfall gesehen?“ – „Wie weit rechts fuhr das entgegenkommende Fahrzeug oder wie weit in der Mitte?“ Ist dies alles durch weitere Fragen detailliert, drängt sich die Frage auf: – „Haben Sie eigentlich vor dem Unfall noch einmal nach rechts gesehen, um den Abstand zu beobachten oder könnte es sein, dass Sie einfach nur erschrocken sind, weil einige Zeit vor dem Unfall Ihr Mann weit rechts fuhr?“

Ist eine Aussage in sich stimmig und ergeben sich keine Hinweise auf Widersprüchlichkeiten auf der körpersprachlichen Ebene, gilt es, auf einer anderen Ebene zu suchen. Unser rationaler, beobachtender Geist vergleicht mitgeteilte Tatsachen mit dem bekannten Akteninhalt, mit eigenen Vorerfahrungen und mit den Gesetzen der Logik, um Widersprüche zutage zu fördern. Dies ist aber ein Bereich, Lochmann

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der während der Schul- und Universitätsausbildung immer wieder trainiert wird und deswegen recht gut ausgebildet ist. Nicht wenige verlassen sich deswegen vor allem auf diesen Bereich der rationalen Beobachtung und halten die anderen, beschriebenen Ebenen für eher wenig griffig oder aussagekräftig, weil sie dort wenig bewandert sind. Dabei entgeht ihnen viel.

7. Kapitel Tatsachenerforschung bei der Zeugenvernehmung Alle Probleme der Tatsachenerforschung beim Mandantengespräch finden sich auch bei der Zeugenvernehmung wieder. Sie steigern sich aber, weil Zeugen im Gegensatz zu Mandanten kein potentiell gleichgerichtetes Interesse besitzen. Sie sind nicht da, um etwas ihrerseits zu erreichen. Sie kommen und machen Angaben, weil sie müssen. Zeugenvernehmungen finden selten an einem dafür hergerichteten Ort statt. Häufig muss zuerst ein Stuhl herbeigeholt werden oder die Vernehmung findet in einem viel zu großen Saal über große Distanzen statt. Bei einer Beweisaufnahme sind oft mehrere Personen anwesend, die beobachten. Sie vertreten gegensätzliche Interessen und die Aussagen werden sicher jemandem nicht passen. Oft ist die Spannung mit Händen zu greifen. Um unter diesen erschwerten Umständen das beim Mandantengespräch Gelernte übertragen zu können, braucht es vor allem das Verständnis für den Blickwinkel des Zeugen. Kann ich die Situation mit seinen Augen betrachten, fällt mir die Kommunikation leichter.

7.1. Rahmen der Kontaktaufnahme – die Ladung Ein Richter erfährt die Dinge immer als letzter und damit am schlechtesten. Damit muss er leben. Der Versuch, durch besonders intensives Befragen den immer weit zurückliegenden Tatsachen noch einmal so richtig nahe zu kommen, hat deswegen Grenzen, die auch durch noch so gute Fragetechniken nicht zu überschreiten sind. Neues Beispiel: Der Zeuge des Autobahnunfalls Kürzlich rief mich ein Freund an, der als Zeuge in einem Zivilprozess aussagen sollte. Er war ziemlich erregt: „Jetzt soll ich von Freiburg nach Hamburg fahren wegen diesem Verkehrsunfall, den ich vor zwei Jahren auf der Autobahn beobachtet habe. Klar war die Frau schuld. Sie ist vom rechten auf den linken Streifen gewechselt. Der andere war schon so nah auf dem linken Streifen dran, er konnte einfach nicht mehr bremsen. Aber das habe ich doch alles schon bei der Polizei gesagt, warum brauchen die mich jetzt und das in Hamburg, der Unfall war doch bei Heidelberg. Ich will da nicht hin, da geht doch ein ganzer Tag drauf. Kann der Richter nicht hierher kommen oder ich hier bei einem anderen Richter aussagen?“ „Nein“, sagte ich ihm. „Der Richter muss sich selbst ein Bild machen. Er muss das Urteil verantworten.“ Mein Freund war in heller Aufregung. Dass er Fahrtkosten bekomme, hatte er gelesen. Dass eine Übernachtung notwendig würde, um rechtzeitig da zu sein, hatte er sich überlegt. „Aber den Hund? Den kann ich nicht mitnehmen, den gebe ich bei Freunden ab und die müssen mir eine Quittung mit Tagessatz ausschreiben.“

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Tatsachenerforschung bei der Zeugenvernehmung

Der Kontaktaufbau beginnt nicht erst im Gerichtssaal, sondern mit dem ersten Anschreiben, das die meisten Zeugen in ziemliche Aufregung versetzt. Das Schreiben an meinen Freund war ebenso freundlich gehalten wie ein Einberufungsbescheid: 99 % Mitteilungen über Tatsachen, Pflichten, Kostenerstattungen, verpackt in 1 % Höflichkeit, bestehend aus der Anrede, einem einleitenden Satz und den freundlichen Grüßen am Schluss. Eine solche Kontaktaufnahme ist eine vertane Chance. Zeugen können mehr sein als Auskunftspersonen, die etwas wissen. Ich komme mit ihnen und mit der Information schneller voran, wenn ich sie als Menschen sehe, die mir bei der schwierigen Entscheidung, wer Recht hat, helfen können. Es lohnt deshalb der Aufwand eines Formschreibens, das – dem Zeugen erklärt, warum er nach so langer Zeit das gleiche wie bei der Polizei nochmals sagen muss, – warum die polizeiliche Aussage nicht einfach verlesen wird, sondern gerade die persönlichen Schilderungen von Bedeutung sind. – Mit einem Satz: Warum der Zeuge als Person wichtig, ja unentbehrlich für das Finden der Wahrheit ist.

7.2. Rahmen der Kontaktaufnahme – im Gerichtsgebäude Richter haben sich an ihr Gerichtsgebäude gewöhnt. Selbst wenn es düster aussehen sollte, ist es für sie der gute Ort ihrer Berufsausübung. Richtern fällt es deswegen eher schwer, diese Örtlichkeit aus der Sicht eines Zeugen wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Anwälten haben Richter kaum Anreiz, sich um den Blickwinkel des Zeugen zu bemühen. Ihr Verhältnis zum Zeugen ist streng einseitig, zeitlich kurz und für sie ohne wirtschaftliche Relevanz. Feedback eines Zeugen ist nicht vorgesehen und träfe auf Überraschung. Fortsetzung Beispiel: Der Zeuge des Autobahnunfalls Im Gegensatz zum Richter erhielt ich von meinem Freund eine ausführliche Beschreibung der weiteren Umstände seiner Vernehmung. Er rief mich am Tag danach an und erzählte: „Also das war schon ein Stress. Ich dachte wirklich, ich käme zu spät, weil der Weg vom Bahnhof bis zum Gericht mit dem Taxi länger dauerte, als ich geschätzt hatte. Dann musste ich mich im Gebäude zurechtfinden. Ein wahres Gewirr von Gängen. Mein Gott ist das ein Apparat. Ich hatte schon deswegen die Hosen voll. Wie ich also so auf die letzte Minute ankomme und in den Saal eintreten will, finde ich ein großes Schild vor: ‚Zeugen bitte nicht eintreten, sondern auf dem Flur warten, bis Sie aufgerufen werden‘. Nett, dachte ich und habe mich gesetzt. Eine Viertelstunde lang passierte gar nichts und ich wurde plötzlich unsicher, ob ich da am richtigen Ort sei. Nachdem ich die Ladung noch einmal genau mit der Saalnummer verglichen hatte, habe ich noch einmal fünf Minuten gewartet, ohne dass irgend jemand etwas von mir wollte. Dann bin ich doch in den Saal hinein, um zu schauen, ob ich richtig sei. Aber sie haben mich einfach hinauskomplementiert, eigentlich haben sie mich rausgeschmissen. Ich solle warten. Nach einer weiteren Viertelstunde kamen dann verschiedene Leute raus, vermutlich waren das die Unfallbeteiligten und ihre Anwälte. Jedenfalls habe ich das aus ihren Gesprächen geschlossen, die ich im Übrigen sehr interessant fand. Nach einer

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4. Teil Vernehmungslehre weiteren Viertelstunde sind sie wieder in den Saal. Dann wurde ich auch hineingebeten – per Lautsprecher.“

Was war im Gerichtssaal passiert, vor dem der Zeuge gewartet hatte? Der Schadenersatzprozess war von den Anwälten durch Schriftsätze vorbereitet worden. Der Richter hatte dann einen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und zeitlich später versetzt auch den Zeugen geladen. Als der Zeuge ankam, hatten die Parteien im Saal schon längere Zeit vergeblich nach einer Lösung gesucht. Der Richter machte dann einen Vergleichsvorschlag, den die Parteien während einer Unterbrechung draußen auf dem Flur diskutiert haben, ohne sich einigen zu können. Daraufhin wurde die Verhandlung im Saal mit der Beweisaufnahme fortgesetzt. Der Zeuge wird nun für kurze Zeit zur wichtigsten Person des Prozesses. Von seiner Aussage hängt ab, wer den Prozess gewinnt und wer die Kosten des Prozesses bezahlt. Schade, wenn der Erstkontakt mit dem Richter per Lautsprecher erfolgt. Richtig wäre es gewesen, den Prozess noch während einer vom Zeugen als üblich empfundenen Warteviertelstunde zu unterbrechen, um ihn auf dem Flur zu begrüßen. Zeugen erwarten dies nach allgemeinen Anstandsregeln. Kümmert sich niemand, wirkt das desinteressiert. Viele Zeugen werden dadurch unsicher und geraten in Emotionen, die dann in die Beweisaufnahme hineingetragen werden. Umgekehrt gibt die rechtzeitige Begrüßung dem Zeugen die Sicherheit, dass er am richtigen Ort angekommen ist und erwartet wird. Er kann sich, wenn er nicht sofort an der Reihe ist, positiv auf die kommende Situation einstellen. Er hat bereits einen ersten Eindruck von der Person des Richters und der vermutlichen Atmosphäre, in der dann die förmliche Vernehmung stattfinden wird. Das nimmt Zeugen die Angst.

7.3. Die persönliche Kontaktaufnahme – im Gerichtssaal Über etwas reden ist das eine, es selbst erleben, das entscheidend andere. Ich möchte deswegen von einem eigenen Vernehmungserlebnis erzählen: Vor einigen Jahren wurde ich in meiner eigenen, streitigen Scheidungsangelegenheit als Partei vernommen. Ich kannte das Gerichtsgebäude. Bei diesem Richter und in seinem Zimmer hatte ich selbst Dutzende von Scheidungsangelegenheiten als Anwalt vertreten. Auch das Ritual, die Notwendigkeit, die zeitliche Abfolge aller Fragen, waren mir natürlich bekannt. Ich musste nicht einmal auf einen Zeugenstuhl wechseln, sondern konnte dort sitzen bleiben, wo ich mich eben noch selbst vertreten hatte. Überrascht fand ich mich gleichwohl bei der Vernehmung plötzlich in einer gänzlich veränderten Situation vor. Ich wurde über persönliche Dinge gefragt, musste mich offenbaren und wurde dabei beobachtet. Obwohl ich genau wusste, was warum passierte, kam ich in Stress. Mein Gesichtsfeld verengte sich. Ich hatte Herzklopfen und verspürte einen unerhörten Druck in mir, der sich auf meine Stimme legte. Das Denken fiel mir schwer, ich hatte keinen Platz dafür. Ich habe einfach geantwortet. Ohne jedes Abwägen, Nachdenken oder Taktieren. Es ging einfach nicht. 136

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Tatsachenerforschung bei der Zeugenvernehmung

Seit diesem Erlebnis beobachte ich Zeugen zu Beginn einer Vernehmung mit geschärfter Aufmerksamkeit. Je mehr ich den Zeugen in seiner momentanen persönlichen Situation verstehen kann, umso präziser kann ich auf ihn eingehen und ihn abholen. Wer sich als Richter sofort auf die Formalien und dann die Aussage stürzt, macht es falsch. Ein kurzes Gespräch mit dem Zeugen über belanglose Dinge sollte vorgeschaltet werden. Das ermöglicht dem Zeugen, sich als Mensch einzufinden, sich an die Stimmen und die Stimmung zu gewöhnen und sich auf die Person des Richters einzustellen. Einige belanglose Sätze, ein wenig Small Talk, wie der Zeuge angereist ist, reichen. Eine Entschuldigung für die Wartezeit wirkt genauso Wunder wie der vorausgeschickte Dank für die Mithilfe des Zeugen. Solche Vorgespräche ermöglichen es dem Richter auch, sich auf den Zeugen einzustellen. Wer einem sichtlich nervösen Zeugen die Frage stellt, ob er zum ersten Mal in dieser Rolle sei, zeigt Einfühlungsvermögen. Er baut damit eine menschliche Brücke, über die er später gehen kann. Der gute Richter hat die Hand gereicht, bevor er mit den Formalien beginnt.

7.4. Belehrung und Bericht Im Gegensatz zum Mandantengespräch, das ich zu Anfang beschrieben habe, ist der Richter in der Art des weiteren Kontaktaufbaus gebunden. Er muss Schritt für Schritt einen in der Prozessordnung festgelegten Weg gehen. Wie immer, wenn man zu zweit einen Weg geht, bietet es sich an, dem Partner zu erklären, welchen Weg man gehen wird und warum. Darin liegt eine weitere Chance, sich auf der menschlichen Ebene anzunähern. Beispiel: Richter: „… so, und jetzt sind Sie hier und werden uns gleich berichten, was Sie noch wissen“ (Ende der ersten Kontaktaufnahme durch Small Talk). „Ehe Sie aber dazu kommen, muss ich jetzt dann gleich noch Ihre Identität feststellen und Sie sehr förmlich darüber belehren, dass Sie die Wahrheit sagen müssen. Ich tue das nicht aus Misstrauen, sondern weil es Vorschrift ist. Dann werde ich in unser Beweisthema mit ein paar Worten einführen und Sie darum bitten, im Zusammenhang zu erzählen, was Sie noch wissen. Dann befragen wir Sie zu den Details.“

Der Richter hat damit dem Zeugen erklärt, was die Prozessordnung zum Ablauf einer Zeugenvernehmung vorschreibt, nämlich: – Feststellungen zur Person, – Belehrung über Rechte und Pflichten des Zeugen, – Einführung in das Beweisthema, – Bericht, – Vernehmung. Diese Abfolge ist von zwingender innerer Logik: Zuerst werden die Personalien überprüft, um festzustellen, ob die richtige Person erschienen ist. Danach wird geprüft, ob der Zeuge verpflichtet ist, etwas zu sagen. Er wird über mögliche ZeugLochmann

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nisverweigerungsrechte belehrt. Steht danach fest, dass der Zeuge aussagen muss, wird über die Verpflichtung zur vollständigen und wahrheitsgemäßen Aussage förmlich belehrt. Diese sperrige und förmliche Belehrung ist wegen der Strafbarkeit einer Falschaussage notwendig. So zwingend diese Abfolge ist, so ungewöhnlich erscheint sie dem Zeugen. Kommt es doch sonst nirgends vor, dass beim Kennenlernen der Partner mit juristischen Belehrungen, gar über Strafbarkeiten, beginnt. Dieses Vorgehen schüchtert viele Zeugen ein. Besondere Bedeutung hat deswegen die rhetorische Einrahmung dieser Belehrungen durch den Richter, der auf die Sinnhaftigkeit hinweist und um Verständnis wirbt. Die Beweisthemen sind in der Zeugenladung aufgeführt. Die Einführung in das Beweisthema durch den Richter trifft beim Zeugen deswegen auf etwas Bekanntes. Für ihn steht fest: Jetzt geht es los. Was der Zeuge dann vermutlich aussagen wird, ist den anderen Beteiligten bekannt. In den vorbereitenden Schriftsätzen war darüber diskutiert worden. Die Beteiligten kennen auch die Konsequenzen der erwarteten Aussage. Dies kann sie zu einer inneren Fixierung führen, die schnell durch einige Fragen überprüft und verfestigt werden könnte. Deswegen schreibt die Prozessordnung vor, dass Fragen erst nach einem zusammenhängenden Bericht des Zeugen zu stellen sind. Bei seinem Bericht redet allein der Zeuge. Er soll nicht unterbrochen und gestört werden. In der Praxis ist jetzt das Fingerspitzengefühl des Richters gefragt. Hat er mit seinem bisherigen Vorgehen eine gute Grundlage gelegt, wird sich der Zeuge auch trauen, zu erzählen. Erzählt er nicht von sich aus, muss durch Fragen nachgeholfen werden. Jede Frage aber ist zugleich Information für den Zeugen, und sei es nur darüber, was wichtig ist oder nicht. Den Zeugen nicht zu beeinflussen, gleichwohl aber einen zügigen und auf die relevanten Tatsachen beschränkten Bericht zu erhalten, ist die Kunst der Führung durch den Richter. Auch wenn der Zeuge nicht unterbrochen wird, ist die begleitende Körpersprache des Richters für ihn Information. Ein Kopfnicken kann von ihm als freundliche Aufforderung, weiterzuerzählen, aber auch als positive Bewertung des Aussageinhalts empfunden werden. Die Grenze zwischen Beeinflussung und Begleitung ist nicht nur fließend, sondern auch von der individuellen Interpretation des Zeugen abhängig. Vermeidet der Richter aber jede körpersprachliche Äußerung, kann dies als Distanz, Desinteresse oder Zurückweisung empfunden werden. Es gibt deshalb in der Begleitung des Zeugen ein individuell angepasstes Maß, das nicht leicht zu finden ist. Parallel werden die Informationen des Zeugen zur Vorbereitung der nachfolgenden Fragen und des späteren Urteils festgehalten. Die meisten Richter schreiben zuerst einmal mit, um den Zeugen nicht zu unterbrechen und protokollieren anschließend. Reicht dieses Mitschreiben bei längeren Berichten, oder weil es um technische Details geht, nicht, wird in Abschnitten das Protokoll diktiert. Das unterbricht aber nicht nur den Fluss des Berichtes, sondern ist auch durch die Art der Zusammenfassung Information, was wichtig und was nicht wichtig war. Die abschnittsweise Protokollierung ist deshalb zweite Wahl. Was ich aus dem Bericht heraushöre, hängt von meiner Vorinformation über den Zeugen und das Gesagte genauso wie von meiner Interessenlage ab. Je weiter ich mich davon entfernen kann, umso mehr Raum entsteht für die situative Beobachtung. Ein Zeuge berichtet nicht nur über Tatsachen. Wie er sie selbst interpretiert, 138

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Vernehmungslehre trainieren

zeigt er durch die Art der Äußerung. Dazu gehört seine Stimme, die auch seine Stimmung wiedergibt. Die Sprechweise, ob flüssig oder mit nachdenklichen Pausen an ganz bestimmten Stellen, ermöglicht Rückschlüsse. Die Körperhaltung des Zeugen und wie er sie verändert, ist Begleitinformation. Meine eigenen Mitschriften des Berichtes enthalten deswegen neben Stichworten auch bildhafte Darstellungen. Mit Kringeln, Doppelstrichen, Fragezeichen oder einer Wellenlinie setze ich Auslöser, die mich anschließend erinnern sollen. Dies können Erinnerungen an mein eigenes Empfinden wie an Beobachtungen über die Art, wie der Zeuge aussagte, sein. Was ich damit anschließend im Fragenteil nach dem Bericht tun werde, weiß ich im Moment der Notiz noch nicht.

7.5. Fragen stellen Ist der Bericht zu Ende und ggf. protokolliert worden, beginnt das Fragerecht des Richters. Die meisten Richter beginnen auch sofort. Selten wird einmal für kurze Zeit unterbrochen, um zuvor innerlich auswerten zu können. Wieviel Zeit sich der Richter für das Befragen des Zeugen nimmt, hängt nur von ihm ab. Einige Richter wollen lediglich wissen, ob der Zeuge die vorgetragenen Tatsachen so bestätigt oder nicht. Die meisten Richter bemühen sich, sowohl die Tatsachen – wie die persönliche Ebene – kritisch zu hinterfragen. Wie er fragt, warum er fragt und welche Linien er dabei verfolgt, ist für den lernenden Beobachter interessant. Das ist Lernen in der Praxis. Dass dabei aber gar nicht so viel gelernt wird, dafür sorgt die eigene, professionelle Beteiligung am Geschehen. Keiner der Beteiligten ist zum Lernen gekommen, er will bewegen und gewinnen. Wenn ich dabei gleichwohl noch ein wenig Raum und Wertschätzung für die Kunst der anderen aufbringe, lerne ich dazu. Es geht wie bei einer Geschäftsreise in eine fremde Stadt darum, nicht nur den engeren Zweck zu verfolgen, sondern die Augen für das Schöne, das scheinbar Nebensächliche, offenzuhalten. Wenn es bei einer Zeugenvernehmung ums Ganze geht, werden aber von den Anwälten nicht nur harmlose Fragen gestellt. Sie greifen dann zu allen Mitteln der Beeinflussung, der Konfrontation, manchmal auch der indirekten Einschüchterung. Aber auch dies ist eine Kunst, in der man sich auch durch Beobachten schulen kann.

8. Kapitel Vernehmungslehre trainieren 8.1. Was trainieren? Unsere technisch geprägte Umgebung fordert fortlaufend unser logisches Denken. Während der schulischen Ausbildung wurde dieser Bereich allgemein, während der Universitätsausbildung berufsspezifisch weitertrainiert. Juristen sind deshalb Spezialisten in der Fertigung und Analyse schriftlicher Informationen. Werden Informationen aber mündlich mitgeteilt wie beim Mandantengespräch oder der Zeugenvernehmung, ist das logische Denken kein hinreichendes AnalyseinstruLochmann

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4. Teil Vernehmungslehre

ment. Es erscheint dann so, als würde man sich mit dem Vergrößerungsglas im Straßenverkehr bewegen. Beim gesprochenen Wort wird zwischen dem Wortinhalt und den begleitenden Informationen unterschieden. Der Wortinhalt ist der logischen Analyse zugänglich, macht aber nur einen geringen Prozentsatz der Gesamtinformation aus. Der Ton macht die Musik. Die Körpersprache interpretiert den sachlichen Inhalt des gesprochenen Wortes und markiert auf der breiten Skala der Bedeutungen, wo der sachliche Inhalt präzise eingeordnet werden soll. Notwendigerweise besitzen wir auch in diesem Bereich eine hohe, im allgemein menschlichen Alltag trainierte Kompetenz. Ziel eines Trainings kann es sein, uns diese Kompetenz bewusst und damit gezielt beruflich einsetzbar zu machen. Im Vordergrund steht das Training der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Während ein Mensch uns sprechend informiert, „sendet“ er auf verschiedenen Kanälen. Zuerst einmal ist ein bewegtes Bild zu beobachten. Das Bild liefert nur scheinbar am Rande wichtige Informationen wie z. B. das Alter oder Geschlecht des Partners. Diese Informationen nutzen wir aber sofort zur Interpretation der erhaltenen Information. Beispiele: – Typisch Mann, typisch Frau. – Das ist der Horizont eines Jugendlichen. – Eine Rolex-Uhr, der kann sich wohl etwas leisten. – Die Krawatte ist eher von vorgestern …

Die Bewegung des Bildes enthält auch Informationen über die momentane Situation des Erzählers. Es zeigen sich z. B. Emotionen, die wir ebenfalls sofort zur Interpretation des Gesagten nutzen. Diese Informationen sind wie Bilderrahmen. Zum Bild gesellt sich das Hörerlebnis. Das „Wie“ des Sprechens charakterisiert diesen Menschen allgemein. Es verändert sich aber fortlaufend auch parallel zur jeweiligen Stimmungslage. Die Stimme interpretiert nicht nur einzelne Sätze, sondern auch die einzelnen Worte des Gesprochenen. Beispiele: – Am Ende eines Fragesatzes heben wir die Stimme, so ist das vereinbart. – Ein NEIN kann viele Ausprägungen haben, von der schroffen Ablehnung bis zur süffisanten, mit einem Lächeln vorgetragenen Einladung.

Verschärfte und differenziertere Wahrnehmung kann sich auch auf mich selbst richten. Wir reagieren nicht nur mit dem analysierenden Geist auf Sachinformationen des anderen. Wir nehmen seine Emotionen und ihn als ganzen Menschen wahr und reagieren unsererseits mit Emotionen und als ganze Menschen darauf. Wir alle haben ein feines Gespür dafür, dass das Grundlage für die Qualität unserer Sozialkontakte ist. Gelingt es uns aber, dieses Gespür bewusst zu machen und es während der Kommunikation als Informationsquelle zu nutzen, können wir lernen, es als Analyseinstrument einzusetzen. Diese Verfeinerung der Beobachtung an mir selbst ist zugleich ein Training zum Beobachten des anderen. 140

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Parallel zum Training Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit üben Sie alles, was auch nur im Entferntesten mit Kommunikation zu tun hat. Im Gegensatz zum Schachspiel hat man bei jeder Art von Kommunikation keine Zeit zum Nachdenken. Fast alle Vorgänge sind notwendigerweise als Reiz-Reaktionsmuster im unbewussten Bereich ausgebildet. Je mehr ich über diese eigenen, aus Erfahrung gebildeten Muster weiß, umso mehr kann ich beobachtend und gezielt kommunizieren. Je mehr bewusste kommunikative Erfahrungen ich mit anderen mache, umso mehr Anreiz bietet sich für die eigene Weiterentwicklung.

8.2. Wie trainieren? Mit einem Sachbuch kann ich Informationen weitergeben. Ein Roman kann Menschen auch auf der emotionalen Ebene erreichen. Diese Berührungen durch Information und Emotion bereiten den Boden vor. Training beginnt aber erst dort, wo selbst ausprobiert und geübt wird. Nur dadurch verändern wir unsere unbewussten Muster und gewinnen Erfahrungen, die so stark sind, dass sie unser Verhalten im beruflichen Alltag messbar bessern. Das ist soziales Lernen. Und das braucht Zeit und Übungen. Machen Sie Ihren privaten und Ihren beruflichen Alltag zum Trainingsort. Ihre Mitspieler sind dann voll motiviert. Sie tun nicht nur ‚so als ob‘ wie bei einer Übung. Ihr Handeln ist Realität. So können Sie immer und jederzeit üben. Als Kinder war uns diese Art des Lernens selbstverständlich, als Erwachsene haben wir sie aber verlernt und können sie wiederentdecken. Bilden Sie außerdem mit einem oder mehreren Partnern eine Übungsgruppe. Solche Gruppen haben sich als Supervisionsgruppen im beruflichen Alltag von Mediatoren oder Psychologen als Instrument der Qualitätssicherung und Weiterentwicklung etabliert. Eine solche Gruppe, die sich zu festen Zeiten trifft und übt, ist ein starkes Instrument zur persönlichen Weiterentwicklung. Es folgen deswegen einige Übungen, die Anreiz für das Bilden einer solchen Übungsgruppe sein könnten und die auszuprobieren sich lohnt.

8.3. Trainingseinheiten – Der Ton macht die Musik Setzen Sie sich zu zweit, besser als kleine Gruppe locker zusammen und diskutieren Sie über ein gemeinsames Thema, z. B. wie man am besten Interviewtechnik trainieren könnte. Schneiden Sie per Mikrofon im Einverständnis aller mit. Eine Videoaufzeichnung würde zwar über den Ton hinaus auch Bildmaterial liefern. Gerade das ist aber nicht gewünscht. Zeichnen Sie ca. 15 Minuten der Diskussion auf. Das erste Drittel der Aufnahme wird nicht viel bringen, weil die Diskussionen erst anlaufen und die Tatsache des Mitschneidens, also des Beobachtetwerdens, hemmt. Löschen Sie es einfach. Danach hören Sie den zweiten Teil der Diskussion mehrfach gemeinsam und diskutieren Sie: – Wie werden einzelne Beiträge durch die Art der Sprachführung interpretiert? – In welchen Passagen ist Stimmung und wie äußert sich das? Lochmann

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4. Teil Vernehmungslehre

– Können Sie in einzelnen Sätzen Emotionen des Sprechers festmachen? Wie äußert er diese Emotion? Durch mehrfaches Abhören und darüber Diskutieren werden Ihnen immer neue Zusammenhänge auffallen. Beobachten Sie, wie sich während Ihrer Diskussion die Qualität des Hin- und Zuhörens untereinander verändert und diskutieren Sie auch über diese Veränderungen. – Körpersprache Es ist wie bei jeder Fremdsprache: Zuerst versteht man nichts, und deswegen ist es auch wenig interessant. Sobald man etwas versteht, erwacht das Interesse und das Lernen geht wie von selbst. Die Übungen haben das Ziel, einzelne körpersprachliche Situationen nicht nur anzuschauen, sondern auszuprobieren, um deren Signalwirkung später unbewusst aufnehmen zu können. Von Indianern stammt das Sprichwort: „Du kennst einen Menschen erst, wenn Du einige Zeit in seinen Mokassins gelaufen bist.“ Fremde Schuhe vermitteln ein fremdes Körpergefühl. Damit Sie nicht zu den Indianern reisen müssen, versuchen Sie es einfach in der Fußgängerzone. Übung: Lassen Sie einen Menschen an sich vorbeigehen und gehen sie ihm hinterher. Bilden Sie sich eine Meinung. Was ist das für einer? Trauen Sie sich nur, natürlich entsteht ein Vorurteil. Ein Vorurteil ist besser als gar kein Urteil. Lassen Sie jede Empfindung, die Sie haben, einfach zu. Genießen Sie auch „inkorrekte“ oder gar „verbotene“ Einschätzungen. Wenn Sie sich ans Hinterhergehen ein wenig gewöhnt haben, fangen Sie zusätzlich an, Ihre Gehweise und Ihre Körperhaltung anzugleichen. Vergleichen Sie dabei Ihre inneren Empfindungen mit der Meinung, die Sie sich zuvor über die Person gebildet hatten. 10 oder 20 Meter reichen, aber jeder Meter mehr bringt mehr. Machen Sie bei der nächsten Person die Übung zu zweit und diskutieren Sie anschließend: – Auf was hat meine Partnerin geachtet, was hat sie imitiert? – Warum war ihr dies wichtig? – Wo sind unsere Erfahrungen parallel, wo nicht? Gewöhnen Sie sich dieses Ausprobieren mit Ihrem Körper im Alltag an. Natürlich können Sie bei Konferenzen oder bei Gerichtsterminen sich nicht mit Ihrem ganzen Körper angleichen, wie bei der Übung in der Fußgängerzone. Es geht eher um ein unauffälliges Ausprobieren. Haben Sie erst einmal Erfahrung mit dieser körperlichen Ebene, reicht ganz wenig auch. Spannen Sie z. B. einmal wie der andere die Lippen an oder kneifen Sie wie er die Augen zusammen. Schon ein verkrampftes Unterschlagen der Beine, wie Sie es beim anderen beobachten, liefert Ihnen Information. Nach einiger Zeit haben Sie sich angewöhnt, körpersprachliche Äußerungen nicht nur zu beobachten, sondern sie in der Vorstellung zu imitieren und erhalten so Ihre Information. Aber Vorsicht: Unser Kopf arbeitet trick142

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reich. Wenn Sie meinen, nur mit der Vorstellung arbeiten zu können, ohne dass Sie es zuvor körperlich ausprobiert haben, tauchen andere Informationen auf. Überspringen Sie also diese wirklich nicht ganz kleine Hürde zum körperlichen Ausprobieren. Körpersprache lernt man eben am schnellsten, indem man statt mit dem Kopf tatsächlich mit dem Körper ausprobiert. Übung: Spielen Sie eine Saison lang bei einer Laienschauspieltruppe mit, vor allem dann, wenn Sie sich für weit unterdurchschnittlich talentiert halten. Übung: Um den direkten Zusammenhang zwischen Körper und Emotion auszuprobieren: – Kauern Sie sich auf einen Stuhl und erzählen Sie in dieser Haltung einem Partner einen Witz. Tauschen Sie die Rollen und werden Sie vom Erzähler zum Beobachter. – Lachen Sie, nicht nur lächeln, laut, unmotiviert, egal warum, einfach so und nach der Uhr gestoppt drei Minuten lang.

8.4. Fragetechnik Fragen ist gar nicht so leicht. Schnell nähert man sich einem Bereich mit der Überschrift „Das kannst Du doch nicht fragen“. Unser Fragenknigge entstammt unserer Erziehung zum guten menschlichen Miteinander. Diese Grenzziehungen taugen für Mandantengespräche und erst recht für gerichtliche Vernehmungen nicht. Weil die Vermeidungsmuster aber unbewusst sind, braucht es viele Grenzübertritte mit der Erfahrung, dass solche Fragen nicht nur toleriert werden, sondern zweckdienlich sind. Übung: Die Vorstellungsrunde Für diese Übung wäre es günstig, wenn Sie nicht nur zu zweit, sondern möglichst zu viert oder noch einige mehr sind. Man kann sie auch als Partyspaß nutzen. Aufgabe: Stellen Sie Ihren Nachbarn vor. Sie haben zuvor drei Minuten Zeit, den Nachbarn durch Befragen kennenzulernen. Der Befragte erzählt Ihnen aber nichts von selbst. Nur auf Frage antwortet er kurz und nur so weit die Frage reicht. Mögliche Beobachtungen: – Es ist wirklich schwer, sich ein Bild vom anderen zu machen, wenn er nicht will. – Es fallen uns schneller keine Fragen mehr ein, als wir denken. – Fragen braucht Fantasie. – Nur rein sachlich kommen wir nicht weit. – Mutige Fragen bringen bunte Antworten. Lassen Sie beim Befragen ein wenig Hintergrundmusik laufen, sonst ergibt sich sehr schnell eine Angleichung der Fragen und der Antworten untereinander. Beobachten Sie, wie die Gruppensituation Einfluss ausübt.

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4. Teil Vernehmungslehre

Rückrunde: Tauschen Sie durch, machen Sie die Übung noch einmal mit der Erfahrung der ersten Runde. Was verändert sich? Übung: Fragebereitschaft fördern Probieren Sie zu zweit aus, wie direkt Fragen von der eigenen Vorstellungskraft abhängen. Aufgabe: Fragen Sie zu einem beliebigen Alltagsthema, z. B. „Wie hast Du Dich auf die letzte Klausur vorbereitet?“ oder „Wie bist Du heute morgen aufgestanden?“ Fragen Sie fünf Minuten lang Ihren Partner zu diesem Thema aus. Der Partner antwortet nur auf die Fragen, er neigt nicht zum Erzählen von sich aus. Anregung: Gehen Sie den Abschnitt über die vier Fragequellen noch mal durch und nutzen Sie ihn zur Vorbereitung. Mögliche Beobachtungen: – Fünf Minuten sind ziemlich lang. Interessant wird es, sobald Ihnen so ohne weiteres nichts mehr einfällt. – Wie entstehen durch bewusstes Aufsuchen der Fragequellen Fragen? Können Sie das Entstehen der Frage beobachten? – Entdecken Sie Grenzen aus dem Fragenknigge, die Sie überschreiten können. – Welche Rolle spielen erste körpersprachliche Reaktionen des Befragten, sobald eine Frage gestellt wurde? Welche haben Sie beobachtet? Besprechen Sie nach den fünf Minuten das Ergebnis mit dem Befragten. Lassen Sie ihn schildern, wo er weitere Fragen erwartet hat, die nicht gestellt wurden und wie dadurch wichtige Informationen verdeckt geblieben sind. Wenn Sie die Übung wiederholen, schreiben Sie mit und fassen Sie das Ergebnis in einem kurzen Vortrag zusammen. Übung: Fragen leiten in den Antwortbereich, ob man will oder nicht Nennen Sie das nächste Mal, wenn Sie Ihren Trainingspartner anrufen, keinen Namen. Fangen Sie unter Umgehung des Begrüßungsrituals sofort mit einem Sachthema an. Diskutieren Sie, sobald der Angerufene Sie identifiziert hat: – Wie lange hat das richtige Einordnen der Person anhand der Stimme gedauert? – Welche Elemente der Stimme oder der Art des Sprechens haben das Erkennen ermöglicht und waren vom Angerufenen als charakteristisch zur Wiedererkennung abgelegt worden?

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8.5. Glaubwürdigkeitsbeurteilung Üben Sie zu zweit und stellen Sie in schneller Folge Ihrem Partner drei Fragen aus dem Alltag, die er wahrheitsgemäß oder falsch beantwortet. Vergleichen Sie nach drei Antworten, ob Sie erkannt haben, ob die Fragen wahrheitsgemäß oder nicht beantwortet wurden. Wechseln Sie die Fragerposition hin und her und machen Sie etwa drei bis vier Runden à drei Fragen. Diskutieren Sie anschließend die Trefferquote und woran Sie bestimmte falsche Antworten erkannt haben. Wiederholen Sie die Übung und vergleichen Sie die Entwicklung der Trefferquote. Diskutieren Sie die Entwicklung Ihrer Beobachtungsfähigkeit. Manchem Antworter gelingt es, seinerseits festzustellen, ob er durchschaut wurde oder nicht. Wenn das gelungen sein sollte, diskutieren Sie, woran er es gemerkt hat.

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5. Teil Verhandlungsführung Oder: Wie bekommt jeder, was er will? „Der Verhandler wird nicht geboren. Er wird gemacht.“ (Fritjof Haft, Verhandeln, die Alternative zum Rechtsstreit, 1992) In den vorherigen Teilen ging es um Kommunikation im Allgemeinen, um Überzeugen durch rhetorische Fertigkeit oder darum, die Ziele des Gegenüber herauszufinden. In diesen bisher dargestellten „Tools“ lag der Focus vor allem auf mir selbst: Was will ich? Welche Fragen muss ich stellen, damit ich herausfinde, was der andere möchte und wie überzeuge ich ihn von dem, was ich will? Hier kommt nun vermehrt der andere, das Gegenüber ins Spiel. Der andere, der vielleicht etwas Ähnliches oder gar das Gleiche möchte, wie ich selbst! Dabei wird aber nun nicht grundsätzlich anders vorgegangen, sondern Sie sollten alles, was Sie bis jetzt erfahren haben, auch hier einsetzen: Die eigenen Ziele bestimmen, sich in den Anderen hineinversetzen, Rapport aufbauen, die richtigen Fragen stellen und ethisch, pathetisch und logisch richtig sprechen, debattieren oder eben verhandeln. Der nachfolgende Beitrag ist daher, wie die ersten, vor allem ein Beitrag, der nicht Wissen, sondern Können vermitteln will. Er soll Sie zum Ver-Handeln anleiten, denn wenn Sie Verhandeln lernen wollen, nützt es Ihnen wenig, mit Wissen über die vierundzwanzig Arten des Verhandelns und mit Ausführungen über die Geschichte des Verhandelns vollgestopft zu werden. Daher werden Sie nachfolgend nur soviel Theorie finden, wie es für die Praxis notwendig erscheint – also wenig. Über die Hinweise im Literaturverzeichnis können Sie jederzeit Bücher finden, die sich der theoretischen Aufarbeitung der Verhandlung widmen. Sie werden eine Vielzahl von Beispielen finden, aus denen Erkenntnisse für die Kunst des Verhandelns gezogen werden können oder die die vorhergehenden Ausführungen bestätigen. Viele Beispiele machen andererseits die strikte Gedankenführung oft schwer. Diese Gefahr habe ich aber bewusst in Kauf genommen, weil ich weiß, wie nützlich Beispiele sein können, an die man sich in entsprechenden Situationen erinnern kann. Die Lektüre dieses Beitrages allein wird nicht genügen, Ihnen die praktischen Fertigkeiten des Verhandelns zu vermitteln. Dazu brauchen Sie natürlich praktische Übungen in Seminaren oder Workshops. Aber in Ergänzung solcher Praxisübungen liefert dieser Beitrag das nötige Rahmenwerk zur Veranschaulichung, Vertiefung und Systematisierung solcher Übungen. Bevor Sie mit der Lektüre beginnen, habe ich noch eine Empfehlung: Bitte arbeiten Sie die Wiederholungsfragen am Ende eines Kapitels unbedingt durch, denn dadurch prägen sich die wesentlichen Aussagen viel besser ein. Es wäre gut, wenn Sie diese Fragen zu zweit oder zu dritt beantworten könnten. Das geht natürlich auch allein, jedoch in diesem Fall bitte schriftlich! Ponschab

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5. Teil Verhandlungsführung

1. Kapitel Wann liegt eine Verhandlung vor? Stellen Sie sich vor: Sie gehen am Abend durch einen Park und plötzlich spüren Sie, wie Ihnen jemand von hinten den Lauf einer Pistole in den Rücken drückt mit den Worten. „Geld oder Leben!“. Wie werden Sie sich verhalten? Insbesondere: Wie werden Sie verhandeln – oder: werden Sie überhaupt verhandeln? Wie können Sie das anwenden, was Sie in dem nachfolgenden Beitrag lesen werden? Wenn ich Ihnen einen gut gemeinten Rat geben darf: Vergessen Sie alles, was Sie über Verhandlungsführung lesen werden! Geben Sie dem Menschen Ihr Geld und retten Sie Ihr Leben. Warum steht dann dieser Rat am Anfang eines Beitrages, der den Weg zum erfolgreichen Verhandeln darstellt? Einfach deshalb, weil solche Fälle von Teilnehmern an Verhandlungsseminaren immer wieder erzählt werden, meist verbunden mit der Frage, wie man denn in dieser Situation verhandeln sollte. Solche Fragestellungen übersehen einen einfachen Grundsatz: Verhandeln Sie nur in einer Verhandlungssituation! Fragen Sie also zuerst, ob überhaupt eine Verhandlungssituation vorliegt, bevor Sie den Inhalt dieses Beitrages anwenden1. Also dann: Wann liegt eine Verhandlungssituation vor? Autoren, die sich mit dem inneren und äußeren Verhandlungskontext beschäftigen, haben herausgefunden, dass zwei Elemente gegeben sein müssen, um von einer Verhandlung sprechen zu können.

1.1. Gegenseitige Abhängigkeit Eine Verhandlungssituation ist nur dann gegeben, wenn jede Partei die andere braucht, um zum Ziel zu kommen. Das bedeutet umgekehrt, dass dann, wenn Sie ein Ziel auch ohne die Mitwirkung der anderen Seite erreichen können, keine Verhandlung vorliegt, also insbesondere dann nicht, wenn Sie das Ziel durch Einsatz von Macht oder Gewalt erreichen können. Im eingangs geschilderten Fall braucht der Täter Ihre aktive Mitwirkung nicht, um an Ihr Geld zu kommen. Etwas anderes wäre es schon dann, wenn Sie irgendwo einen Schatz vergraben hätten oder zur Bank gehen müssten, um ein Schließfach zu öffnen. Hier wäre der Täter auf Ihre Mitwirkung angewiesen und Sie könnten sicher auch durch geschicktes Verhandeln eine Verbesserung Ihrer Situation erreichen.

1.2. Ausgewogene Machtverhältnisse Weiterhin wird als Voraussetzung einer Verhandlung angenommen, dass die Machtverhältnisse zwischen den Verhandlungspartnern ausgewogen sein müssen. Das ist beispielsweise nicht der Fall, wenn ein Vermieter 40 gleichwertige Interessenten für eine Wohnung hat. Dann braucht er nicht zu verhandeln, sondern kann die Umstände der Vermietung diktieren. Es fehlt an ausgewogenen Machtverhältnissen. 1 Wie Sie eine Verhandlungssituation herstellen können, erfahren Sie im nächsten Kapitel.

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5. Teil Verhandlungsführung

Wenn wir diese Verhandlungsbedingung genauer betrachten, ist sie jedoch nichts anderes als ein Beispiel für die Kategorie „gegenseitige Abhängigkeit“. Somit kommen wir zum Ergebnis, dass eine Verhandlungssituation geprägt ist durch die Interdependenz der Parteien bezogen auf das Verhandlungsziel. Wir müssen feststellen, dass in den beiden genannten Fällen die Voraussetzungen einer Verhandlung nicht vorliegen. Deshalb brauchen, können und sollten Sie gar nicht verhandeln. Wiederholungsfrage zum 1. Kapitel: Was sind die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Verhandlung?

2. Kapitel Was tue ich, bevor ich in die Verhandlung einsteige? Was aber machen Sie, wenn Sie auf Situationen treffen, in denen Sie verhandeln wollen oder müssen, in denen aber die äußeren Bedingungen für eine Verhandlung nicht vorliegen? Dann wird es wohl Ihr Ziel sein müssen, diesen äußeren Verhandlungskontext zu verändern, um dadurch eine Verhandlungssituation zu schaffen, in der gegenseitige Abhängigkeit und ausgewogene Machtverhältnisse gegeben sind. Wie Sie das machen können, erfahren Sie in diesem Kapitel.

2.1. Ausgleich der Machtverhältnisse Die Kennecott Copper Corporation (nachfolgend KCC) hatte mit dem chilenischen Staat einen langfristigen Vertrag über die Leitung der El-Teniente-Kupfermine geschlossen, die unter anderem die Schürfrechte für eine sehr geringe Lizenzgebühr zusagte. Während der 60er Jahre veränderten sich jedoch die politischen Verhältnisse in Chile und die damalige Regierung drohte der Gesellschaft an, dass sie den Vertrag einseitig beenden würde, falls die KCC nicht mit einer drastischen Verbesserung der Vertragsbedingungen zu Gunsten des chilenischen Staates einverstanden sei.

Hier fragen wir uns auf Grund unserer bisherigen Erkenntnisse sofort, ob überhaupt eine Verhandlungssituation gegeben war, da KCC weder die Mine verlagern noch die Verwertung des Kupfers durch den chilenischen Staat verhindern konnte. Das Management hatte keine Machtmittel in der Hand, die es der Drohung der chilenischen Regierung hätte entgegensetzen können. Die Zeiten, in denen bei solchen Gelegenheiten Flottenverbände eines anderen Staates aufmarschierten, waren ebenfalls vorbei. Aber die Manager von KCC reagierten außerordentlich geschickt, und zwar nicht am Verhandlungstisch, sondern im Umfeld einer möglichen Verhandlung. Zunächst boten sie der chilenischen Regierung einen Mehrheitsanteil an der Gesellschaft an, dann schlugen sie vor, dass das Unternehmen mit dem Darlehen einer Handelsbank eine große Erweiterung der Mine finanzieren solle. Sodann brachten die Manager den chilenischen Staat dazu, für dieses Darlehen der Handelsbank zu bürgen. Zur Sicherung der eigenen Position sicherte KCC noch den größten Teil ihres Vermögens über eine Garantie des amerikanischen Staates gegen Enteignung ab und arrangierte langfristige Verträge mit amerikanischen und europäischen Kunden über die Abnahme des produzierten Kupfers. Schließlich wurden die Inkassorechte für

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5. Teil Verhandlungsführung diese Verträge an ein Konsortium aus europäischen, amerikanischen und japanischen Finanzinstituten verkauft. Durch diese Gestaltungen konnte KCC ihre eigene Machtposition gehörig aufwerten.

Was war passiert? KCC hatte das Verhandlungsumfeld fundamental verändert. Der Staat Chile sah sich als mehrheitlicher Anteilseigner einer Gesellschaft, die zukünftig eine vergrößerte Mine besitzen würde. Durch die geänderten Mehrheitsverhältnisse behielt die chilenische Regierung die Souveränität über die eigenen Rohstoffe. Andererseits war die Gesellschaft mit einer größeren Zahl von Kunden und Gläubigern konfrontiert, die alle Bedenken hatten, ob Chile wegen des politischen Wechsels die Verträge erfüllen würde. Eine Enteignung der bisherigen Gesellschafter und ein alleiniges Betreiben der Mine durch Chile hätte wohl das Ende des Unternehmens bedeutet, weil dadurch das Vertrauen von Kunden und Gläubigern in das Unternehmen zerstört worden wäre. Hätte sich KCC darauf verlassen, am Verhandlungstisch brillant zu sein, hätte das nichts genutzt, da die andere Seite die ungleichen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten ausgenutzt hätte. Da hätten auch die profundesten Kenntnisse der Verhandlungsführung nicht geholfen. Verhandeln kann man eben nur, wenn eine Verhandlungssituation vorliegt, wie wir ja inzwischen wissen. KCC hatte eine Situation, in der keine Verhandlungen stattfinden konnten, in eine Verhandlungssituation verwandelt und dadurch einen großen Erfolg erzielt. Wie wir sehen, sind Verhandlungen mehrdimensional. Zum einen gibt es den Bereich der Verhandlungsumgebung (den äußeren Verhandlungskontext) und zum anderen die Verhandlung selbst (den inneren Verhandlungskontext). Fähigkeiten, die den inneren Bereich beeinflussen, sind insbesondere Kommunikation, Wahrnehmung, das Erforschen von Interessen, das Suchen nach und Bewerten von Optionen. Die entscheidenden Weichen werden jedoch meist schon im Verhandlungsumfeld gestellt. Charlene Barshefsky, amerikanische Handelsrepräsentantin, formulierte das so: „Taktik am Verhandlungstisch, das sind nur Aufräumarbeiten. Viele Leute verwechseln Taktik mit der zu Grunde liegenden Substanz, dem großen Aufwand abseits des Verhandlungstisches, um eine möglichst viel versprechende Ausgangsposition für eine Begegnung mit dem Verhandlungspartner zu schaffen.“

Genau das hat KCC in dem vorliegenden Beispiel getan. Auf Grund der Ausgangssituation herrschten zwischen den Parteien keine ausgeglichenen Machtverhältnisse, und daher auch keine gegenseitige Abhängigkeit. KCC hat dann die Verhältnisse so verändert, dass die eigene Verhandlungssituation nachhaltig aufgewertet und die der Gegenseite verschlechtert wurde. Dadurch wurden erst erfolgreiche Verhandlungen möglich. Was kann man sonst noch tun, um die äußeren Verhandlungsbedingungen zu verbessern?

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5. Teil Verhandlungsführung

2.2. Andere Verhandlungspartner einbeziehen Als einer amerikanischen Web-TV-Firma in der Entwicklungsphase ihres Produktes das Geld ausging, wäre es üblich gewesen, sich an ein Venture Capital-Unternehmen zu wenden. Doch Risikokapitalgeber waren zu der Zeit sehr skeptisch gegenüber Produkten der Unterhaltungselektronik. Was tat der Inhaber des Unternehmens? Er versuchte, namhafte Firmen für eine Beteiligung an seinem Unternehmen zu gewinnen. Nachdem er bei Sony abgeblitzt war, verhandelte er mit Philips und konnte die Firma überzeugen, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Als aber Philips an Bord war, sah Sony die Sache plötzlich anders und beteiligte sich ebenfalls. Mit der Beteiligung dieser Unternehmen war es ein Leichtes, einen Risikokapitalgeber zu gewinnen.

Hatte sich durch die Einschaltung der beiden Weltunternehmen die Qualität des Produktes verbessert? Sicher nicht. Wohl aber die Meinung darüber. Wenn diese Weltfirmen sich beteiligten, musste doch etwas an der Sache dran sein! Edgar Bronfman, Präsident des jüdischen Weltkongresses, fragte seinerzeit bei Schweizer Banken an, ob sie bereit seien, die Holocaust-Überlebenden zu entschädigen, deren Familienvermögen seit dem 2. Weltkrieg ungerechterweise von den Banken gehalten wurden. Die Bankenmanager sahen jedoch keine Veranlassung, Bronfman entgegenzukommen, da sie sich im Recht sahen, zumal die Entschädigung schon Jahre zuvor geregelt worden war. Was machte Edgar Bronfman? Setzte er sich mit den Banken an den Verhandlungstisch? Das wäre sinnlos gewesen, da zu diesem Zeitpunkt keine Verhandlungssituation gegeben war. Bronfman und andere jüdische Organisationen begannen, auf die Meinung an den führenden Finanzplätzen in den USA einzuwirken. Nach mehrmonatiger Lobby-Arbeit schwenkte die öffentliche Meinung in den USA um und die Schweizer Banken mussten damit rechnen, dass die großen amerikanischen Pensionsfonds umfangreiche Aktienpakete von Schweizer Banken und Unternehmen abstoßen würden. Auch die geplante Fusion zwischen der Swissbank Corporation und der UBS drohte erheblich verzögert zu werden. Darüber hinaus mussten die Schweizer Banken mit teuren Prozessen, insbesondere Sammelklagen, rechnen, die spezialisierte amerikanische Anwälte in solchen Fällen führen. Nicht zuletzt war auch bei der amerikanischen Regierung, die sich als Vermittlerin eingeschaltet hatte, Unmut entstanden. Wen überrascht es dann noch, dass sich die Schweizer Bankiers letztlich verpflichteten, den Holocaust-Überlebenden 1,2 Milliarden US-Dollar zu zahlen?

2.3. Andere Verhandlungsgebiete erschließen Als AOL 1996 sehr dringend einen aktuellen Internet-Browser brauchte, gab es folgende Alternativen: Zum einen gab es den technisch überlegenen Browser von Netscape, der Marktführer war, und zum anderen den Internet-Explorer von Microsoft, der noch einige Fehler aufwies und qualitativ nicht mit dem Netscape-Browser zu vergleichen war. Was glauben Sie, welchen Browser AOL schließlich genommen hat? Theoretisch kann diese Frage ganz einfach beantwortet werden: Sicherlich war der Browser von Netscape die technisch bessere Wahl. Dieser hätte auch das Rennen gemacht, hätte Bill Gates nicht die Idee gehabt, andere Verhandlungsgebiete zu erschließen. Die Netscape-Manager boten ein ziemlich schlichtes und ideenloses Geschäft an: Browser gegen Geld. Microsoft dagegen, im Wissen, dass man technisch dem Konkurrenten unterlegen war, machte den „Kuchen“ so groß, dass AOL schließlich nicht widerstehen konnte: Zunächst stellte Microsoft den Explorer kostenlos zur Verfügung und versprach eine Reihe von technischen Anpassungen. Weiterhin sagte Microsoft zu, dass das Icon von AOL auf dem Windows-Desktop genau neben dem Icon für den Online-Dienst Microsoft Network (MSN) erscheinen sollte. Allein diese Positionierung auf dem Windows-Desktop und die dadurch erschlossene Möglichkeit, weitere 50 Millionen Menschen ohne zusätzliche Kosten zu erreichen, war viele Millionen Dollar für AOL wert. Schließlich bot Microsoft auch noch an, die

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5. Teil Verhandlungsführung AOL-Software mit dem Windows-Betriebssystem zu koppeln, wodurch ein entscheidender Wettbewerbsvorteil entstand, den Netscape nicht bieten konnte.2

2.4. Den Blick weiten Verhandlungsparteien stehen oft zu nah am Problem und sind zu sehr mit der von ihnen verfolgten Lösung verstrickt. Oft hilft es, Abstand von dem Problem zu nehmen, denn wer sich vom Problem löst, löst oft auch schon das Problem selbst. Ein führender Hersteller von Gebinden hatte sich mit seinem Repräsentanten für mehrere asiatische Länder, Josef Glockshuber, heillos überworfen und dessen Vertrag „aus wichtigem Grund“ gekündigt. Die Parteien stritten darüber, ob ein solcher „wichtiger Grund“ vorlag. Glockshuber machte neben der Forderung aus seinem laufenden Vertrag auch den Handelsvertreterausgleich geltend, so dass Forderungen in Höhe von mehreren Millionen Euro zustande kamen. Die jeweils angebotenen Vergleichssummen lagen so weit auseinander, dass eine Einigung völlig unmöglich schien, bis den Anwälten der beteiligten Parteien einfiel, dass das Unternehmen einen großen Rechtsstreit mit einem Abnehmer in Singapur führte, dessen Geschäftsführer wiederum mit Glockshuber befreundet war. Nun einigte man sich auf folgenden Vergleich: Glockshuber erhielt 1,4 Mio. Euro. Falls durch seine Vermittlung eine Beilegung des Rechtstreits mit der Firma aus Singapur gelänge, erhielte er 2,3 Mio. Euro. Was glauben Sie, wie stark Glockshuber motiviert war, den Streit in Singapur zu schlichten? Schließlich einigten sich auch das Unternehmen aus Singapur und der Gebindehersteller. Wie man aus internen Kreisen erfahren konnte, hatte auch das Unternehmen aus Singapur den „Blick geweitet“, als es von dem Deal zwischen Glockshuber und dem Gebindehersteller erfuhr: Es hatte Glockshuber einen Teil der Summe abverlangt, den er für den Fall einer Einigung erhalten sollte.

Fragen, die den Blick weiten, können folgende sein: – Wer außer den Vertragsparteien könnte noch in irgendeiner Form von dem Vertrag betroffen sein? – Gibt es außenstehende Personen, die auf die Verhandlung positiven Einfluss nehmen können? – Wie können andere Parteien und Themen wertsteigernd integriert werden? – In welchen Bereichen könnten die Beteiligten zukünftig sonst noch zusammenarbeiten? – Können Themen und Optionen miteinander vernetzt werden? Wiederholungsfragen zum 2. Kapitel: 1. Was sollten wir prüfen, bevor wir uns an einen Verhandlungstisch setzen? 2. Welche Möglichkeiten (bitte mindestens drei nennen) haben Sie kennen gelernt, um die Machtverteilung (den äußeren Verhandlungskontext) zu ändern? Beschreiben Sie deren wesentliche Merkmale!

2 Dieses und die vorhergehenden Beispiele entstammen dem Aufsatz von Lax/Sebenius, Der perfekte Deal, a. a. O., S. 21 ff.

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Verhandlertypologien

3. Kapitel Typologie der Verhandler Wenn Sie den äußeren Verhandlungskontext, also die äußeren Bedingungen einer Verhandlung, so gestaltet haben, dass eine erfolgreiche Verhandlung möglich ist, dann können Sie am Verhandlungstisch Platz nehmen, voller Spannung, welcher Typ von Verhandler Ihnen gegenübersitzen wird. Kann man Verhandler denn überhaupt klassifizieren? Und wenn das gelänge, wonach könnte sich die Einteilung richten? Wir haben vor einigen Jahren einmal eine solche Einteilung versucht, die sich daran ausrichtet, welche Bereitschaft die Verhandler zeigen, einen möglichen Gewinn zwischen sich und anderen aufzuteilen.3 Die Erfahrung zeigt, dass man mit einer solchen Einteilung eine ganze Menge anfangen kann. Sie gestattet uns, Voraussagen über den Erfolg des jeweiligen Verhaltens eines Verhandlers treffen. Natürlich verkörpert selten ein Verhandler nur einen Typ.

3.1. Der Sieger – kompetitiver Verhandlungsstil Überspitzt ausgedrückt hat sich der Sieger den folgenden Satz auf seine Fahnen geschrieben: Erfolg haben genügt nicht. Andere müssen scheitern. Für den Sieger ist die Welt wie ein sportlicher Wettkampf: „Ich gewinne so viel, wie der andere verliert.“ Die Welt ist also nichts anderes als ein Nullsummenspiel4. Sie ist für den Sieger auch ein Ort des Mangels, an dem es nicht genug für alle gibt. Deshalb muss er als Sieger hervorgehen, damit genügend für ihn und dadurch zwangsweise weniger für die anderen übrig bleibt. Diese Verhaltensweise führt zwingend zu einer Win/Lose-Situation5, in der die eine Partei Sieger und die andere Verlierer ist. Für den Sieger gibt es in Verhandlungen nur ein Ziel: den eigenen Sieg. Das hat zwangsläufig die Niederlage der anderen Seite zur Folge. Der Gedanke an Lösungen, die beide Parteien als Gewinner vom Spielfeld der Verhandlung gehen lassen, kommt ihm nicht. Solche Lösungen bringen ihm nach seinen Überzeugungen (und seinen Erfahrungen) keinen Vorteil und schwächen nur seine Position, denn nach seiner Meinung ist das Leben nun einmal hart und man sollte sich darüber keine falschen Vorstellungen machen. Um den Sieg zu erringen, setzt er Kriegslist6, Macht, Manipulation7 und Überraschungsangriffe ein.

3 Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation, S. 81 ff. 4 In einem Nullsummenspiel gewinnt der eine genau so viel wie der andere verliert. Zählt man also am Ende einer Verhandlung die Ergebnisse der Verhandlungspartner zusammen, so ergibt sich Null. 5 Vgl. hierzu auch die graphische Darstellung am Ende von 3.4. 6 Vgl. sehr anschaulich zum Thema List in Verhandlungen: von Senger, a. a. O. 7 Ein lesenswertes Buch zum Thema Manipulation: Cialdini, a. a. O.

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5. Teil Verhandlungsführung

Typische Verhaltensweisen des Siegers sind: – Extreme Anfangspositionen Sieger stellen häufig am Beginn einer Verhandlung extrem hohe Forderungen oder bieten besonders niedrige Zugeständnisse an. Diese Verhandlungen sind meist geprägt vom sogenannten „Basar-Stil.“8 Bekannte Beispiele für diesen Verhandlungstypus sind Verhandlungen über die Regulierung von Kfz-Schäden. In einem Test mit amerikanischen Anwälten über die Verhandlung eines Versicherungsschadens stellte die eine Hälfte der Testteilnehmer die Versicherungsmitarbeiter dar, die andere Hälfte Anwälte, die versuchten, für ihre Mandanten möglichst viel herauszuholen. Die besten Ergebnisse für die eine oder andere Seite wurden in den Fällen erzielt, in denen der jeweilige Vertreter einen besonders hohen oder niedrigen Preis verlangt bzw. angeboten hatte. Allerdings: Hier war auch die Zahl der gescheiterten Verhandlungen besonders groß.

Geht es also nur um die Verteilung von Gütern (und das ist weniger oft der Fall, als wir glauben) und leben die Parteien nicht in einem System, in dem sie sich wieder begegnen, dann kann Sieger – (kompetitives) Verhandeln durchaus die richtige Methode sein. – Taktischer Einsatz von Emotionen Der Sieger gerät häufig außer sich (vor Wut, vor Enttäuschung, etc.), doch diese Emotion ist oft nur gespielt und soll die andere Seite beeindrucken. – Manipulation Der Sieger ist ein Freund von Manipulationen und versucht, die andere Seite gezielt in seinem Sinne zu beeinflussen.9 Ein gutes Beispiel für eine wirksame Manipulation ist die Geschichte eines amerikanischen Touristen namens Larry.10 Bei einem Spaziergang in Mexiko City kam Larry an einem Geschäft vorbei, in dem ein Händler lederne Brieftaschen anbot: „Sind Sie an dieser Brieftasche interessiert?“ fragte der Händler. „Nein, ich betrachte nur die Auslagen.“, erwiderte Larry. Nun begann der Händler das übliche Spiel: „Sie können sie für 15 Dollar bekommen. Das ist ein guter Preis.“ Larry besaß bereits eine tadellose Brieftasche und sagte, dass er an diesem Kauf nicht interessiert sei. 8 Der Basar ist eine typische Form des Sieger-Verhandelns, das damit beginnt, dass beide Seiten völlig unvernünftige Ausgangspositionen beziehen und während der Verhandlung versuchen, mit verschiedenen kompetitiven Interventionen so viel wie möglich davon zu bewahren. Diesen Verhandlungsstil kennt jeder, der schon auf orientalischen Märkten sein Glück versucht hat. „Negotiation dance“ nennt man sehr anschaulich die Bewegungen der Verhandlungsparteien in Richtung Mitte zwischen den Ausgangspositionen der Parteien (näher unten 4.2. Regel 4). Ausführlich können Sie diese Themen nachlesen bei Haft, Mediation und Verhandlung. 9 Siehe Fn. 7. 10 Diese Geschichte stammt von Howard Raiffa, a. a. O.

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Verhandlertypologien „In Ordnung, sie können sie für 14 Dollar haben.“ Larry lehnte ab. „Wie wäre es mit 13 Dollar? Das ist ein phantastisches Geschäft.“ Langsam wurde Larry interessiert. Er wollte die Brieftasche nicht haben, aber er war neugierig, wie weit der Händler im Preis noch heruntergehen würde. So blieb er stehen und sagte nichts. „Ich verkaufe sie für 12 Dollar. Sie können zu diesem Preis nichts Vergleichbares in den Staaten bekommen.“ Larry lehnte ab. „In Ordnung, weil Sie offensichtlich ein Tourist mit begrenztem Budget sind, gebe ich sie Ihnen für 11 Dollar.“ Larry lehnte ab. „Mein letztes Angebot: Wenn Sie versprechen, es niemanden zu sagen, verkaufe ich sie Ihnen für 12 Dollar.“ „He, einen Moment“, unterbrach ihn Larry. „Eben haben Sie mir die Brieftasche für 11 Dollar angeboten.“ „Habe ich das getan? Dann habe ich einen schrecklichen Fehler begangen. Ich hätte das nicht tun sollen. Aber ein Mann, ein Wort. Ihnen, und nur Ihnen, verkaufe ich die Brieftasche für 11 Dollar.“ Larry kaufte prompt die Brieftasche für 11 Dollar.

Wiederholungsfragen zum Beispiel „Brieftaschenverkauf“: 1. Was ist hier geschehen? 2. Mit welcher Taktik hat der Verkäufer sein Gespräch begonnen, d. h. worauf hat er jeweils seine Angebote gestützt? 3. Als er merkte, dass er mit dieser Taktik nicht zum Ziel kam, irritierte er den Käufer, indem er bei ihm manipulativ eine bestimmte Eigenschaft ansprach. Welche? – Geizige Konzession Ein Sieger wird von seiner extremen Position, die er am Anfang präsentiert, nur in kleinen Schritten abrücken, gleichzeitig wird er versuchen, die andere Seite zu großen Zugeständnisses zu veranlassen. – Hohes Schutzbedürfnis Wer als Sieger durch die Lande geht, erzeugt Verlierer. Diese Verlierer werden häufig zu Rächern, deren Verhaltensweisen wir weiter unten11 noch erörtern werden. Deswegen braucht ein Sieger viel Schutz (sei es in Form von Vertragsklauseln seiner Rechtsanwälte oder in Form von Bodyguards). – Positionsdenken Der Sieger stellt regelmäßig Forderungen (Positionen) in den Raum („mindestens 400, ich kann Ihnen auf keinen Fall etwas nachlassen“). Der Kuchen wird nicht größer gemacht, sondern es wird nur um das größere Stück gerungen. – Misstrauen Ein Sieger ist im Regelfall extrem misstrauisch, weil er davon ausgeht, dass die anderen genau so sind wie er. Damit hat er auch Recht. Denn wer auf einen kompetitiven Verhandler stößt, wird sich ebenfalls im Regelfall kompetitiv verhalten (oft aus Notwehr), was wiederum den Sieger dazu veranlasst, zu sagen: „Seht ihr, die Welt ist so, wie ich sage.“

11 Vgl. 3.3.

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5. Teil Verhandlungsführung

– Zeitdruck Ein Sieger liebt es, in einer Verhandlung, die er lange Zeit gemächlich betrieben hat, plötzlich aufzuspringen, auf seine Uhr zu schauen und zu sagen: „Oh Gott, ich habe nur noch zehn Minuten Zeit“ – etwa, weil sein Flugzeug bald startet. – Unvollständige Informationen Ein Sieger hälft oft Informationen über seine Situation zurück. Wenn, dann gibt er im Allgemeinen nur unvollständige oder gar unwahre Informationen preis. Ein Meister der Geheimhaltung war Fürst von Metternich, der von 1821 bis 1848 österreichischer Staatskanzler war. Er hielt sein Leben lang alles geheim und als er 1859 starb, bewegte die europäischen Höfe nur die eine Frage: „Was führt er denn jetzt schon wieder im Schilde?“12

Wie geht man mit Sieger-Verhandlern um? Zunächst einmal ist es wichtig, sich nicht auf die Verhandlungsweise des Siegers einzulassen, das dürfte in den meisten Fällen kaum Erfolg bringen. Wenn man einem kompetitiven Verhandler streng rational begegnet, kann dies seine Strategie ziemlich durcheinander bringen, wie das nachfolgende Beispiel zeigt.13 Das beschädigte Auto – oder: Wie man mit rationalem Verhandeln Sieger-Verhandler in die Knie zwingt Sehen wir uns einen authentischen Fall an, in dem die eine Seite das Feilschen um Positionen betrieb, die andere aber das sachbezogene Verhandeln. Der geparkte Wagen von Tom war von einem Lastwagen völlig ramponiert worden. Die Höhe des Schadens musste Tom nun mit dem Sachbearbeiter der Versicherung des Lkw-Fahrers aushandeln. Sachbearbeiter

Tom

„Wir haben Ihren Fall geprüft und sind zu der Entscheidung gekommen, dass die Police den Unfall deckt. Das heißt, Sie bekommen eine Entschädigung von 3.300 Dollar.“

„Mal sehen. Wie sind Sie zu der Summe gekommen?“

„Das entspricht der Höhe, auf die wir Ihren Wagen wertmäßig schätzen.“

„Das verstehe ich schon, aber nach welchen Kriterien setzen Sie üblicherweise diese Höhe fest? Können Sie mir sagen, wo ich für den Preis einen vergleichbaren Wagen kaufen kann?“

„Wie viel wollen Sie denn an Entschädigung?“

„Genauso viel, wie die Police es vorsieht. Ich habe einen Wagen gefunden, der meinem früheren entspricht und der kostet 3.850 Dollar. Mit Mehrwertsteuer und Vermittlungsgebühr sind das über 4.000 Dollar.“

„4.000 Dollar! Das ist zu viel!“

„Ich fordere nicht 4.000 Dollar – auch nicht 3.000 oder 5.000, sondern eine faire Entscheidung. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es nur fair ist, wenn ich genug bekomme, um den Wagen zu ersetzen?“

12 Diese Anekdote verdanke ich, wie vieles andere zum Thema Verhandeln, Fritjof Haft. 13 Dieser Fall ist dem Buch von Fisher/Ury/Patton, S. 136 ff. entnommen.

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Verhandlertypologien „Einverstanden. Ich biete Ihnen 3.500 Dollar an. Das ist der höchste Satz, den ich geben kann. Das entspricht den Gepflogenheiten der Versicherung.“

„Nach welchen Kriterien berechnet die Gesellschaft das?“

„Sehen Sie, 3.500 Dollar sind das Höchste, was Sie bekommen können. Nehmen Sie’s oder lassen Sie’s.“

„Kann sein, dass 3.500 Dollar ein fairer Preis ist, ich kenne mich da nicht aus. Ich verstehe natürlich Ihre Position, wenn Sie da an die Gepflogenheiten der Firma gebunden sind. Aber solange Sie mir nicht objektiv sagen können, warum gerade diese Summe berechtigt ist, werde ich meine Sache wohl besser vor Gericht verfolgen. Vielleicht sollten wir aber beide die Sache noch einmal überprüfen und uns dann wieder sprechen. Ginge es am Mittwoch um 11 Uhr?“

„Schön, Mr. Griffith, heute habe ich eine Anzeige gefunden, einen Ford Fiesta, Modell 78, für 3.400 Dollar.“

„Ich sehe es. Wie viele km hat er?“

„70.000. Warum?“

„Der Meine hat erst 40.000 km. Wie viel Wertminderung entspricht das in Ihren Richtlinien?“

„Will mal sehen … 150 Dollar.“

„Nehmen wir die 3.400 Dollar als Grundpreis, macht das nun 3.550 Dollar. Steht etwas über ein Radio in der Anzeige?“

„Nein.“

Was macht das nach Ihren Richtlinien zusätzlich aus?

„125 Dollar“.

„Klimaanlage?“

… Eine halbe Stunde später kam Tom mit einem Scheck über 4.012 Dollar aus der Versicherungsagentur.

Wenn der Sieger allerdings nur wirkliche Macht anerkennt, gibt es keine andere Wahl, als die Machtverhältnisse zu seinem Nachteil zu gestalten. Auch Sieger können durchaus kompromissbereit werden, wenn sie die Macht der anderen Seite spüren. Der Sieger sagt: „Es ist nicht genug für alle da, also muss man schauen, wo man bleibt. Die Welt ist hart und nur wer hart sein kann, gewinnt.“ Das Lieblingswort des Siegers ist „Sorry but…“ Wiederholungsfragen zum Sieger-Verhandler: 1. Wodurch unterscheidet sich die Reaktion im letzten Fall („Das beschädigte Auto“) von der Reaktion im vorhergehenden Fall („Brieftaschenverkauf“)? 2. Was ist die Grundüberzeugung des Siegers? Wie sieht er die Welt? 3. Was sind häufige Verhandlungsattitüden des Siegers? 4. Wie kann ich den Sieger veranlassen, auf der rational-kooperativen Ebene zu verhandeln?

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5. Teil Verhandlungsführung

3.2. Der Verlierer – weicher Verhandlungsstil Der Verlierer ist das Gegenstück des Siegers. Er vermeidet die Auseinandersetzung und gibt, teilweise auch „um des lieben Friedens willen“, nach. Für dieses Verhalten gibt es zwei Ursachen: Die eine ist, dass die andere Partei so stark und mächtig ist, dass die andere Seite in die Verliererrolle gezwungen wird. Hier muss man sich fragen, ob auf Grund der Machtverhältnisse überhaupt noch eine Verhandlung vorliegt14. Die andere Gruppe von Verlierern besteht im Wesentlichen aus Personen, die Auseinandersetzungen scheuen und durch ein Nachgeben auf der Sachebene eine gute Beziehung zu erreichen versuchen. Doch dieses Verhalten ist meist nicht erfolgreich. Das zeigt auch der Versuch des damaligen britischen Premiers Chamberlain, den zweiten Weltkrieg dadurch zu verhindern, dass er Hitler und dessen territorialen Forderungen hinsichtlich Österreichs, Danzigs und des Sudetenlandes nachgab. Doch: Nachgeber werden meist die Beute von Siegern. Die Haie – oder: Wie Essen hungrig macht Ich habe das erst so richtig verstanden, als ich einmal mit einer Gruppe zum Tauchen ging, um Haie aufzuspüren, die regelmäßig an einer bestimmten Stelle schwammen. Ich hatte mir für diese Haie ein paar Fischreste in den Gürtel gesteckt. Der Tauchlehrer fragte mich, was ich damit vorhabe. Ich sagte, ich wolle die Haie füttern. Darauf antwortete mir der Tauchlehrer: „Das solltest Du sein lassen. Denn Haie werden erst recht gefräßig, wenn Du sie fütterst.“

So ungefähr muss man sich das Aufeinandertreffen von Siegern und Verlierern vorstellen. Nachgiebigkeit in Verhandlungen führt im Regelfall nur zu kurzfristigen Verschnaufpausen (während der Sieger verdaut), dann aber wird die andere Seite neue Forderungen nachschieben. Wer sich also bedingungslos auf die Positionen der anderen Seite einlässt, wird zweifellos als Verlierer aus der Verhandlung hervorgehen. Und sehr bald wird aus der Verhandlung ein Diktat der anderen Seite. Im Gegensatz zu einer bekannten Regel gibt der Klügere nicht nach! Die klugen Mitgesellschafter – oder: Wie vermeide ich teure Siege? Aber auch für kompetitive Verhandler kann es klüger sein, statt Win/Lose- eine Win/Win-Position anzustreben, wie das folgende Beispiel zeigt: Der Mitgesellschafter und Mitgeschäftsführer eines Unternehmens hatte durch waghalsige Finanztransaktionen das Unternehmen in äußerste Bedrängnis gebracht. Als die anderen Gesellschafter dies merkten, war klar, dass dieser Geschäftsführer das Unternehmen nicht länger führen konnte. Die konsultierten Anwälte stellten sogar fest, dass man das Verhalten des Mitgeschäftsführers ohne weiteres als Untreue bewerten konnte. Es wäre also ein Leichtes gewesen, ihn zu allen möglichen Zugeständnissen zu zwingen, um ihm die strafrechtliche Würdigung seines Verhaltens zu ersparen, was mit Sicherheit das Schlimmste gewesen wäre, das ihm hätte passieren können. Man hätte ihn sogar nicht nur zum Verzicht auf sein Geschäftsführeramt, sondern auch zu einer sofortigen Beendigung seines Anstellungsvertrages zwingen können. Die Gesellschafter taten dies jedoch nicht – und das trug Früchte.

14 Vgl. oben 1. Kapitel.

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Verhandlertypologien Der Geschäftsführer wurde zwar sofort abberufen, blieb aber noch eine Auslaufzeit in einem Angestelltenverhältnis mit der Gesellschaft, damit er sich in Ruhe eine andere Tätigkeit suchen konnte. Seine Anteile beließ man ihm. Kurz darauf fanden Verkaufsverhandlungen für das Unternehmen statt. Der Erwerber ließ wissen, dass er nur an einer Beteiligung interessiert sei, wenn er alle Anteile erwerben könne, also auch den Anteil des abberufenen Geschäftsführers und zwar ohne jede rechtliche Komplikation. Es war nicht schwer, die Zustimmung des ehemaligen Geschäftsführers herbeizuführen. Am Ende waren also alle Beteiligten Gewinner. Alle Gesellschafter erhielten einen guten Kaufpreis und der ehemalige Geschäftsführer konnte darüber hinaus ohne persönliche Schmach aus diesen Turbulenzen hervorgehen.

Warum steht diese Gewinn/Gewinn-Geschichte im Kapitel über Verlierer? Jeder Verlierer hat in der Regel ein schlechtes Gefühl, weil er merkt, dass er den Kürzeren zieht. Da er in der Verhandlung selbst keinen Ausgleich schaffen kann, passiert es immer wieder, dass er mit dem Wunsch nach Vergeltung aus solchen Verhandlungen geht. Der Verlierer wird in Zukunft einen Großteil seiner Energie darauf richten, es dem anderen, dem Sieger, heimzuzahlen. Und das Erstaunliche ist, dass man sich doch häufiger im Leben wieder sieht, als man denkt… Es ist wichtig, zu wissen, dass gedemütigte Verhandlungspartner oft auf Vergeltung sinnen. Dadurch wird der Verlierer zum Rächer15. Doch zurück zu unserer Geschichte: Die Mitgesellschafter haben vermieden, den Mit-Geschäftsführer zu demütigen. Dadurch hat er seinerseits keinen Anlass gesehen, den Verkauf der Geschäftsanteile zu sabotieren und sich dadurch zu rächen.

Es zeigt sich, wie erfolgreich man sein kann, wenn man einen Gegner nicht zum Verlierer macht, obwohl dies möglich wäre, wenn man also Win/Win ansteuert, statt Win/Lose. Auf dieses Thema werden wir im nächsten Abschnitt noch eingehen. Wiederholungsfragen zum Verlierer-Verhandeln: 1. Was ist der Trugschluss beim Nachgeben? 2. Wohin können Verhandler, die ständig zu Verlierern gemacht werden, tendieren? 3. Was kann man möglicherweise erreichen, wenn man einen Verhandlungspartner nicht zum Verlierer macht?

3.3. Der Rächer – nihilistischer Verhandlungsstil Der Gruppe der Rächer kommt es in Verhandlungen weniger auf ihren eigenen Vorteil an; ihr geht es vor allem darum, dem anderen zu schaden. Der Rächer will nur noch eines: Es der anderen Seite heimzahlen, koste es ihn selbst, was es wolle. Diesen gefährlichsten aller Verhandlungstypen kann man 15 Dazu später, 3.3.

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5. Teil Verhandlungsführung

weder mit Lockungen noch mit Drohungen beeinflussen. Vor allem aber kann man ihn nicht unter Druck setzen: Denn es macht ihm nichts, wenn er auch aus dieser Verhandlung als Verlierer hervorgeht. Für ihn ist nur wichtig, die erlittene Demütigung zu vergelten. Gibt es diesen Typen im Alltag des juristischen Verhandelns? Klingt das nicht alles ein wenig weit hergeholt? Die Praxis zeigt, dass solche Fälle vorkommen. Jeder, der schon mit Personen verhandelt hat, die essentielle Demütigungen erfahren haben, wird über ähnliche Erfahrungen berichten. Was wäre wohl geschehen, wenn man den Geschäftsführer in dem vorhergehenden Beispiel – aus der eigenen Situation des „Siegers“ heraus – schlecht behandelt und seinen Anteil eingezogen hätte? Gegen den Beschluss, seinen Anteil einzuziehen, hätte er sofort geklagt und bevor ein solcher Streit nach zwei oder drei Instanzen entschieden gewesen wäre, wäre der Interessent längst abgesprungen. Es ist zu vermuten, dass es dem Geschäftsführer in einer solchen Situation nicht in erster Linie darum gegangen wäre, möglichst viel für seine Anteile zu bekommen. Es wäre für ihn wichtiger gewesen, zu erreichen, dass die anderen für ihre Anteile möglichst wenig bekommen. Das ist das Ziel des „Rächers“. Der andere soll nichts bekommen, auch wenn er selbst alles verliert. Sein größtes Ziel ist es, dem anderen zu schaden. Auf solchem Boden wachsen Gestalten der Weltliteratur wie Franz Moor, der Graf von Monte Christo und andere, denen es ausschließlich darauf ankommt, der anderen Seite eine Niederlage beizubringen. Am 8. September 2001 (also genau drei Tage vor dem 11. September, an dem die Twin Towers des World Trade Centers in New York in Schutt und Asche sanken) hielt ich ein Seminar über Verhandlungsführung in Ägypten, und erläuterte auf Wunsch der Teilnehmer aus meiner höchst persönlichen Sicht die Situation vieler Menschen in Palästina so: Im Verhältnis zu Israel befinden sich die Palästinenser in einer Lose/Win-Situation. Natürlich würden sie gerne mit gleicher Macht gegenüber Israel auftreten, das ist aber faktisch nicht möglich. Die Rolle des ständigen Verlierers hat bewirkt, dass ein Teil des Volkes inzwischen von der Lose/Win auf die Lose/Lose-Position gewandert ist. Das heißt dorthin, wo es nur noch darum geht, Israel Schaden zuzufügen und koste es das (eigene) Leben. Ich sagte dann etwa sinngemäß: „Und dann könnte es passieren, dass sich einer Ihrer Landsleute einige Kilo Sprengstoff um den Bauch bindet und ein Flugzeug in die Luft jagt.“ Dem stimmten prinzipiell alle Anwesenden zu und als ich drei Tage später die Bilder des einstürzenden World Trade Centers in New York sah, wurde mir erst richtig klar, wie gefährlich Lose/Lose-Positionen sein können.

Manche dieser Rächer werden auf Grund ihres Glaubens zu Märtyrern. Reinhard Selten, Spieltheorethiker und Nobelpreisträger aus Bonn, hat das in einem Interview in Capital 17/2006 S. 20 so definiert: „Für Fanatiker ist der Crash, also der Tod, keine ernsthafte Drohung, sondern eine Ehre, ein Anreiz, ein Sieg. Wer im Kampf stirbt, wird zum Märtyrer- und dafür im Jenseits reichlich belohnt. Für solche Menschen ist es folglich rational, voll auf dem Gaspedal zu bleiben und eine Eskalation der Situation zu suchen.“

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Verhandlertypologien

Natürlich verhandeln wir in unserer Praxis kaum mit Leuten, die bereit sind, ihr Leben zu opfern. Diese Beispiele zeigen nur symbolhaft typische Verhaltensweisen. Wenn Sie den Verlust des Lebens ersetzen durch Abbruch der eigenen Karriere, Vermögensverlust oder Einleitung strafrechtlicher Verfahren, dann transformieren Sie diese Beispiele in einen täglich anzutreffenden Kontext. Der Rächer hat den Glaubenssatz: „Ich will dem anderen schaden, koste es, was es wolle“. Wiederholungsfragen zum Rächer-Verhandeln: 1. Welche Gefahr geht von Rächern aus, insbesondere wenn sie zu „Märtyrern“ werden? 2. Was kann man tun, um Rächer aus ihrer Position herauszuholen?

3.4. Der Gewinner – kooperativer Verhandlungsstil Das kooperative Verhandeln ist ein vernunftgeprägtes Verhandeln, daher bezeichnet man diesen Verhandlungsstil auch als rationales Verhandeln16. Der Gewinner trachtet danach, möglichst viel von der Verhandlung zu profitieren und dabei auch der anderen Seite die Möglichkeit zu geben, so viel wie möglich zu erreichen. Für ihn steht nicht im Vordergrund, mehr zu bekommen als der andere Verhandler. Für ihn ist es wichtig, selbst möglichst viel zu bekommen und dabei auch den anderen partizipieren zu lassen. Seine Überzeugung ist das Paradigma der Fülle: Er geht davon aus, dass grundsätzlich genug für alle da ist und wenn das doch einmal nicht der Fall ist, dann wird er gemeinsam mit dem Partner überlegen, wie man vielleicht „den Kuchen größer machen“ kann. Wenn ich als kooperativer Verhandlungspartner auf einen anderen kooperativen Verhandlungspartner treffe, dann besteht für beide Seiten die Möglichkeit, großen Gewinn zu machen. Immer wieder ist die Meinung zu hören, dass kooperatives Verhandeln ein weiches Verhandeln sei. Das ist falsch. Das kooperative Verhandeln ist im Gegensatz zum Win/Lose-Verhandeln sachbezogen und rational und nicht einfach nur nachgiebig. Um das zu verdeutlichen, finden Sie nachstehend einige Verhaltensweisen, die dem weichen und dem harten Verhandler entsprechen und dem gegenüber gestellt, wie ein kooperativ/rationaler Verhandler vorgehen würde.17

16 Vgl. Haft, a. a. O., Kapitel B. 17 Die Beispiele stammen aus Fischer/Ury/Patton, a. a. O., S. 137.

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5. Teil Verhandlungsführung

Verhandlungsstile Weich

Hart

Kooperativ/rational

Einseitige Zugeständnisse um der Übereinstimmung willen in Kauf nehmen

Einseitige Vorteile als Preis für die Übereinkunft fordern

Möglichkeiten für gegenseitigen Nutzen suchen

Auf einer Übereinkunft bestehen

Auf der eigenen Position bestehen

Auf objektive Kriterien bestehen

Starkem Druck nachgeben

Starken Druck ausüben

Vernunft anwenden und der Vernunft gegenüber offen sein; nur sachlichen Argumenten und nicht irgendwelchem Druck nachgeben

Die Teilnehmer an der Verhandlung sind Freunde

Die Teilnehmer sind Gegner

Die Teilnehmer sind Problemlöser/Partner

Konzessionen zur Verbesserung der Beziehungen machen

Konzessionen als Voraussetzung der Beziehung fordern

Menschen und Probleme getrennt behandeln

Weiche Einstellung zu Menschen und Problemen

Harte Einstellung zu Menschen und Problemen

Weich zu Menschen, hart in der Sache

Vertrauen zu den anderen

Misstrauen gegenüber den anderen

Unabhängig von Vertrauen oder Misstrauen vorgehen

Bereitwillig die eigene Position ändern

Auf der eigenen Position beharren

Auf Interessen konzentrieren, nicht auf Positionen

Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Beispiel des Gesprächs zwischen dem Versicherungsvertreter und dem Geschädigten, bei dem der Geschädigte durch rationales Verhalten den Versicherungsvertreter aus seiner Position des kompetitiven Verhandelns herausgebracht und ein gutes Ergebnis erzielt hat.18 Oder denken Sie an das Beispiel des untreuen Geschäftsführers, mit dem eine Win/Win-Verhandlung geführt wurde, was sich für alle Parteien später ausgezahlt hat. Es ist allerdings nicht immer so, dass die Fülle der Möglichkeiten ohne weiteres greifbar ist. Der Gewinner muss härter arbeiten als der Sieger. Während der Sieger einfach nur darauf achtet, das Vorhandene so aufzuteilen, dass er das größte Stück bekommt, sucht der Gewinner nach gemeinschaftlichen Lösungen, was im Regelfall einiger Anstrengungen bedarf. Der Gewinner wird auch versuchen, möglichst viele Informationen zu erhalten, denn nur, wenn er weiß, was die andere Seite wirklich bewegt (was also deren Interessen sind), wird es ihm möglich sein, nach Lösungen zu suchen, die auch die andere Seite zufrieden stellen. In einem Schiedsgerichtsverfahren warf ein Gesellschafter dem anderen Gesellschafter, der gleichzeitig Geschäftsführer war, erhebliche Verfehlungen vor. Beide Parteien waren in hohem Maße verfeindet. Der klagende Gesellschafter hatte umfangreiche Auskunftsansprüche gegen die Gesellschaft gestellt, um die erforderlichen Informationen an die Hand zu

18 Risse, Wirtschaftsmediation, S. 65, bezeichnet das Harvard-Konzept (als Prototyp kooperativen Verhandelns) als die härtere Verhandlungsstrategie, die einer asiatischen Kampfsportart gleicht, bei dem der Gegner einem Angriff zunächst ausweicht, um ihm die Wirkung zu nehmen.

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Verhandlertypologien bekommen, den Geschäftsführer als Gesellschafter auszuschließen und ihm gegebenenfalls auch aus wichtigem Grunde als Geschäftsführer zu kündigen. Das waren die Ansprüche (die wir in der Verhandlungssprache Positionen nennen), die diese Partei geltend machte. Doch was wollte sie wirklich? In getrennten vertraulichen Gesprächen, zu denen mir die Parteien die Einwilligung gegeben hatten, konnte ich Folgendes herausfinden: 1. Der klagende Gesellschafter wollte eigentlich nur eines: Er wollte den größten Teil seines in die Gesellschaft investierten Geldes zurück. Darauf hatte er aber keinen Anspruch. Interesse und Anspruch waren also, wie so oft, nicht identisch. Im Gegenteil: Durch das Vorgehen in dieser Sache hatte er den Geschäftsführer bereits so aufgebracht, dass dieser sich immer mehr einem Rächer-Verhalten annäherte, das darin bestanden hätte, notfalls die Gesellschaft in Konkurs gehen zu lassen, wodurch sich der Geschäftsführer auch selbst als Gesellschafter geschadet hätte. 2. Der Geschäftsführer-Gesellschafter vertraute mir an, dass er eigentlich nur einen Wunsch habe: Den anderen Gesellschafter so schnell wie möglich loszuwerden. Darauf hatte er seinerseits keinen Anspruch, denn der Gesellschafter hatte sich nichts zu schulden kommen lassen, was seinen Ausschluss gerechtfertigt hätte.

Interesse und Anspruch fielen also bei beiden Beteiligten auseinander: Viele Juristen glauben, sie könnten durch das Durchsetzen von Ansprüchen ihren Mandanten nützen. In all den Fällen, wo Interesse und Anspruch auseinander fallen, irren sie sich aber. Die Lösung war in diesem Falle ganz einfach: Wenn die eine Seite ihre Einlage zurück haben möchte und sich die andere Seite nichts mehr wünscht als dass der andere Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheiden möge, dann gibt es eigentlich nur noch eine Frage, über die man verhandeln muss: Wie viel kann und will der eine Gesellschafter dem anderen dafür bezahlen, dass er aus der Gesellschaft ausscheidet? Nachdem ein erstes Angebot auf dem Tisch lag, war die Sache in kürzester Zeit geregelt. Der ausscheidende Gesellschafter erhielt einen ansehnlichen Betrag und der verbleibende Gesellschafter-Geschäftsführer konnte zukünftig allein handeln. Man kann nicht sagen, dass der verbleibende Gesellschafter mit dem Ergebnis glücklich war, denn er musste einiges bezahlen. Aber er wusste jetzt, wofür er arbeitete und in wenigen Jahren brachte er das Unternehmen an die Börse. Wo wäre er geblieben, wenn er sich auf ein Lose/ Lose-Spiel mit dem anderen Gesellschafter eingelassen hätte? Tödliche Duelle sind in Western spannend, in der Wirtschaft in hohem Maße wertvernichtend.

So war aus einer Sieger/Verlierer- oder gar einer Verlierer/Verlierer-Situation ein Gewinner/Gewinner-Ergebnis geworden. Der Gewinner sagt: „Ich versuche, soviel wie möglich für mich zu gewinnen. Dabei lasse ich zu, dass auch Du möglichst viele Vorteile hast.“

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5. Teil Verhandlungsführung

Wiederholungsfragen zum Gewinner-Verhandeln: 1. Was ist das Wesen kooperativen Verhandelns? 2. Wie können wir es noch bezeichnen? 3. Erläutern Sie den Unterschied zwischen hartem, weichem und kooperativem Verhandeln! Nennen Sie Beispiele! 4. Was ist der Unterschied zwischen kooperativem Verhandeln und dem Verhandeln vor Gericht? Worauf zielt das kooperative Verhandeln, was will es vor allem erreichen? 5. Ist der Verhandlungsstil des Gewinners weich oder hart? Definieren Sie bitte das Ergebnis genauer! 6. Was sind typische Überzeugungen des Gewinners? 7. Warum ist die Gewinner-Position in der Regel zukunftsträchtiger als die des Siegers? Nach einer Tour d’Horizon durch die Arten des Verhandelns möchte ich Ihnen gerne noch einmal das, was wir besprochen haben, durch eine Grafik darstellen, in der sich alle Arten des besprochenen Verhandelns wieder finden. 100 % Verwirklichung meiner Interessen

Win/Lose Sieger

Win/Win Gewinner

Lose/Lose Rächer

Lose/Win Verlierer

50 %

Verwirklichung Deiner Interessen 50 %

100 %

Wiederholungsfragen zum 3. Kapitel/Gesamtschau: 1. Erinnern Sie sich an Personen der Zeitgeschichte oder an Freunde, Bekannte und Verwandte und versuchen Sie, diese den jeweiligen Verhandlungstypen zuzuordnen. 2. Welchen Nutzen könnten Sie persönlich daraus ziehen, wenn Sie wissen, in welche Kategorie die jeweilige Person überwiegend einzuordnen ist? 164

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

4. Kapitel Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln 4.1. Worum geht es? In dem vorhergehenden Kapitel haben wir eine Typologie des Verhandelns – oder vielleicht besser: des Verhandlers – entwickelt. Wir haben weiterhin gesehen, dass sich für jeden genannten Typ eine bestimmte Art des Verhaltens und somit auch des Verhandelns ergibt. In diesem Kapitel wollen wir nun die wichtigsten Arten des Verhandelns, nämlich den kompetitiven (Win/Lose) und den kooperativen Stil (Win/Win) gegenüberstellen. Wir sollten nicht voreilig bestimmte Verhandlungsarten als gut, andere als schlecht bewerten, denn es können sich Situationen ergeben, in denen es durchaus geboten sein kann, einen anderen Verhaltens- oder Verhandlungsstil anzuwenden als den gewohnten. Während der kooperative Stil nicht nur wertschöpfend sein kann, sondern auch in distributiven Situationen durch Einsatz neutraler Teilungskriterien angewendet werden kann, hat der kompetitive Verhandlungsstil immer einen stark einseitig verteilenden Charakter. Der kompetitive Verhandler macht sich keine Gedanken darüber, wie man den Kuchen vergrößern kann, indem man weitere Bereiche in die Lösung einbezieht, sondern achtet nur darauf und kämpft nur darum, dass er das größte Stück des Kuchens erhält. Selbst dann, wenn durch die Vergrößerung des Kuchens interessengerechte Lösungen einfach zu erzielen wären, konzentriert sich der kompetitive Verhandler darauf, dass er von dem Kuchen das größte Stück erhält. Das nachfolgende Schaubild verdeutlicht die Unterschiede zwischen den beiden Verhandlungsarten:

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Folge

Folgeschäden z. B. Umwelt/Beziehungen

Aufrechterhaltung und Aufbau von Beziehungen

Sieg zu Lasten des anderen

ICH/Independenz/ Unabhängigkeit

Schließung eines „negotiation gap“ durch faire Methoden

Lösungen für alle Interessen

Ziel

Es ist leider nicht genug für alle da, deshalb muss ich um das größte Stück kämpfen

distributiv

kompetitiv

WIR/Interdependenz/ gegenseitige Abhängigkeit

Es ist leider nicht genug für alle da, wir müssen daher fair verteilen (durch Anwendung objektiver Kriterien/ neutraler Verfahren

Es ist genug für alle da, wir müssen nur kreativ sein

Glaubenssatz

Fokus

distributiv

wertschöpfend

Verhandlungsstrategien

kooperativ/rational

Verhandlungsarten

5. Teil Verhandlungsführung

Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

4.2. Das kompetitive Verhandeln Wir haben bereits bei der Erörterung der Verhandlungstaktiken des Siegers einiges über kompetitives Verhandeln gehört19. Es gibt kompetitive Situationen, in denen wir uns dieses Werkzeuges bedienen müssen, um angemessen „über die Runden“ zu kommen. Jedenfalls müssen wir die Regeln des kompetitiven Verhandelns kennen, um die richtige Methode zum Umgang mit dieser Verhandlungsweise anzuwenden. Diese Art des Verhandelns ist ein im Kern irrationales, oder wie Haft es nennt, „intuitives“ Verhalten20. Die Bezeichnung „intuitiv“ deutet zu Recht an, dass es hierbei um ein ungeübtes (nicht willentlich eingeübtes) Verhandeln geht, das wir seit früher Kindheit angewendet haben, so beispielsweise, wenn wir mit den Eltern über die Zeit des Zu-Bett-Gehens, die Höhe des Taschengeldes oder die Zeit des Heimkommens von einer Party verhandelt haben. Das rationale (kooperative) Verhandeln muss dagegen erlernt werden, denn es widerspricht dem jahrtausendealten Verhalten der Menschen, um Güter zu feilschen, sich also kompetitiv zu verhalten. Die Technik des kompetitiven Verhandelns besteht darin, dass man mit einer extremen Position beginnt und über Zugeständnisse dann den Kompromiss sucht. Das Scheitern oder Gelingen einer kompetitiven Verhandlung hängt letztlich davon ab, ob die Parteien im Rahmen ihres „negotiation dance“21 in einen Bereich gelangen, in dem für beide Seiten eine Einigung möglich ist; diesen Bereich nennen wir „ZOPA“ (Zone of Possible Agreement). Sobald sich die Parteien mit ihren Angeboten in diesem Bereich bewegen, ist eine Einigung wahrscheinlich. Dies verdeutlicht folgender Fall: Über einen Anschlag im Hauseingang haben Sie erfahren, dass eine Bewohnerin, die demnächst auszieht, eine antike Kommode verkaufen möchte. Als Sie die Kommode besichtigen, gefällt sie Ihnen sehr gut, wobei Ihnen besonders die wertvollen Beschläge ins Auge stechen. Außerdem weist das Stück auch sehr schöne Einlegearbeiten auf und ist ganz offensichtlich echt. Allerdings ist es völlig unsachgemäß gebeizt und muss umgehend durch einen Fachmann überarbeitet werden. Auf Grund dieses Befundes sind Sie bereit, für diese Kommode maximal 7.000 Euro auszugeben. Sollte eine Einigung nur zu einem höheren Preis möglich sein, würden Sie nicht kaufen. Ihre Nachbarin dagegen hat sich ihrerseits als absolute Untergrenze 5.000 Euro vorgestellt. Sollte dies nicht zu erzielen sein, würde sie die Kommode bei ihrem Umzug mitnehmen.

Wenn wir also die Ausgangssituation einmal grafisch darstellen, sieht sie so aus:

19 Vgl. oben 3.1. 20 A. a. O., S. 20. 21 A. a. O., S. 43 ff., vgl. auch Darstellung auf S. 169.

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5. Teil Verhandlungsführung

Einigungsbereich (ZOPA)

1

2

3

4

5

Untergrenze (Reservationspunkt/ Verkäufer)

6

7

8

9

10 tausend €

Obergrenze (Reservationspunkt/ Käufer)

Grundsätzlich ist also eine Einigung zwischen 5.000 Euro und 7.000 Euro möglich. Hier gibt es eine „Zone of Possible Agreement“. Ist damit das Rennen schon gelaufen? Wenn diese Verhandlung von einem ausgebildeten Mediator begleitet würde, wäre das wahrscheinlich. Denn er würde in Einzelgesprächen mit den Parteien deren Ober- und Untergrenze herausfinden und dann die beiden Parteien behutsam mit ihren Angeboten in den Bereich zwischen 5.000 Euro und 7.000 Euro führen. Nun verhandeln die Parteien aber allein. Da zeigt sich die große Gefahr des kompetitiven Verhandelns: Denn der kompetitive Verhandler wird im Regelfall mit einem extremen Angebot beginnen, gleichzeitig birgt dies aber die Gefahr des Scheiterns in sich, wie wir gleich sehen werden. Entsprechend den Gesetzen des kompetitiven Verhandelns beginnen Sie mit einem extremen Angebot, nämlich 2.000 Euro; die Verkäuferin fordert dagegen 13.000 Euro. Sie plausibilisieren Ihr Angebot damit, dass sich das Stück durch die falsche Beizung in einem bedauernswerten Zustand befinde, während die Verkäuferin auf die absolute Echtheit, die wunderbaren Beschläge und die Einlegearbeiten hinweist. Außerdem meint sie, sei es eben ein echtes „Liebhaberstück“, für das man eben einen angemessenen Preis hinlegen müsse oder es besser sein lasse.

Aufbauend auf dem Fundament kompetitiven Verhandelns, das wir vorstehend gelegt haben, ergeben sich die Regeln, die ein kompetitiver Verhandler beachten sollte, um zum größtmöglichen Erfolg zu kommen.

4.3. Acht Regeln des kompetitiven Verhandelns 1. Bringen Sie die andere Seite dazu, das erste Angebot zu unterbreiten! Das zweite Angebot bestimmt die Größe des „Spielfeldes“ und das sollten Sie nicht der anderen Seite überlassen. Aber: … wenn die andere Seite von der Materie keine Ahnung hat, dann sollten Sie „den Anker werfen“, um den Spielverlauf zu bestimmen.

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

… wenn Sie ein Serienprodukt verkaufen, haben Sie meist keine großen Verhandlungsspielräume. Dann dürfte es besser sein, wenn Sie der anderen Seite ihren Preis (verstärkt durch die Vorlage einer Preisliste) nennen. 2. Erschüttern Sie das Erstangebot! Bevor Sie selbst ein Angebot abgeben, kann es sinnvoll sein, das Angebot der Gegenseite zu erschüttern. Aber: … wenn Sie selbst das erste Angebot abgegeben haben, und der Kunde das Produkt als zu teuer empfindet, sollten Sie den Kunden davon überzeugen, welch gutes Produkt er für diesen Preis bekomme, das zwar nicht billig, aber preiswert sei. 3. Machen Sie Ihr Gegenangebot nicht mit runden Beträgen, sondern mit KommaBeträgen oder mit Spannen! Wenn die andere Seite 450.000 Euro anbietet und Sie nach einigem Rechnen und Suchen in den Unterlagen mit 492.123 Euro antworten, macht das einen fundierten Eindruck. 4. Machen Sie Ihre Preiskonzessionen in immer kleineren Schritten Es erscheint wichtig, dass bei jeder Preiskonzession die Größe Ihres Schrittes kleiner wird, um so der anderen Seite das Gefühl zu geben, dass Sie langsam aber sicher Ihr Limit erreichen. Grafisch dargestellt sieht diese Bewegung in immer kleineren Schritten so aus:

Negotiation dance 5. Machen Sie aus großen Beträgen kleine Einheiten! Wenn Sie Bedenken haben, dass die andere Seite vor der Höhe des Betrages, den Sie verlangen, erschrickt, brechen Sie diesen Betrag einfach herunter: Wenn es um Zinsen geht, nennen Sie nicht die Beträge, sondern die Zinshöhe. Geht es um den Preis einer Sache, ist es besser, die monatlichen Zahlungen zu nennen. Bei Versicherungsprämien nennen Sie die monatlichen Raten statt der Jahresbeträge. Bei Grundstückspreisen sollten Sie den Quadratmeterpreis oder die monatliche Belastung nennen. All das sind Wege, um bei dem Verhandlungspartner den Schock des großen Betrages zu vermeiden.

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5. Teil Verhandlungsführung

6. Geben Sie es schriftlich! Das geschriebene Wort hat eine große Macht, und eine Preisliste verstärkt die Autorität des genannten Preises. Zum einen scheint er viel weniger verhandelbar, wenn Sie eine gedruckte Preisliste überreichen als wenn Sie einen Preisvorschlag für Ihre Leistung nennen. Erfahrungsgemäß ziehen Menschen Geschriebenes weniger in Frage als das, was ihnen mündlich mitgeteilt wird. Auch wenn Sie etwas mündlich äußern, ist es immer gut, wenn Sie den Inhalt Ihrer Worte gleichzeitig schriftlich überreichen, denn dann erhalten Ihre Worte eine Bestätigung. 7. Seien Sie zurückhaltend! Als zurückhaltender Käufer oder Verkäufer, der wenig Interesse am Erwerb oder Verkauf eines Gegenstandes zeigt, werden Sie meist erreichen, dass Sie die Verhandlungsspanne der anderen Seite zu Ihren Gunsten einengen. 8. Fordern Sie soviel Konzessionen außerhalb des Preises wie möglich! Das Wesen kompetitiven Verhandelns besteht nicht nur darin, dass man mit einem extremen Angebot beginnt, sondern auch darin, dass die Verhandlungspositionen im Regelfall in Geldbeträgen bestehen, also der „Kuchen“ nicht größer gemacht werden kann oder soll. Gewiefte kompetitive Verhandler erhöhen allerdings die Komplexität der Verhandlung, indem sie Zugaben anbieten oder fordern. Dadurch können Käufer einerseits der anderen Seite einen günstigen Preis anbieten, den sie aber durch Forderungen von Zusatzleistungen relativieren. Da kompetitive Verhandler meist auf Preise fixiert sind, merken sie oft gar nicht, in welchem Maße sich das Angebot der anderen Seite durch die geforderten Zusatzleistungen zu ihren Ungunsten verändert. Sie nehmen die außerhalb des Preises gemachte Konzession oft nicht wahr. Eine Chance, ohne Gegenleistung wichtige Vorteile zu erhalten!

4.4. Kooperatives (rationales) Verhandeln: Acht Schritte kooperativen Verhandelns Nachdem wir den kompetitiven Verhandlungsstil kennen gelernt haben, bleibt die Frage: Wie führt eigentlich ein kooperativer Verhandler eine Verhandlung? Wie unterscheidet sich seine Verhandlung von der des kompetitiven Verhandlers? In der nachfolgenden Darstellung werden wir Schritt für Schritt durch eine Verhandlung gehen. Natürlich muss man manchmal springen. Trotzdem sollten Sie sich am Anfang an das dargestellte Schema halten. Zu einem späteren Zeitpunkt, nach einiger Übung, gilt der Satz: „Der Meister darf die Form zerbrechen“. Lassen Sie uns also nun durch den Ablauf einer Verhandlung gehen, Schritt für Schritt22.

22 Die nachfolgende Darstellung der Schritte lehnt sich in mehreren Punkte an das HarvardKonzept (dargestellt in Fisher/Ury/Patton, a. a. O.).

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

1. Schritt Vorbereitung: Bereiten Sie sich gründlich auf die Verhandlung vor – und lassen Sie die Dinge nicht einfach laufen! Welche Schritte gehören zu einer guten Verhandlungsvorbereitung? – Informationen sammeln Informationen zu sammeln bedeutet vor allem auch, darüber nachzudenken, welche Eigenschaften des Verhandlungspartners für den Erfolg maßgebend sein könnten. Ich hatte einem jüngeren Kollegen eine Rechtssache übertragen, in der er gegen einen älteren Kollegen zu „kämpfen“ hatte. Beide zeigten sich außerordentlich aggressiv. Irgendwann fragte der ältere Kollege, ob ich nicht meinen jungen „Dobermann“ an die Kette nehmen könne. Das war für mich ein wichtiges Signal. Ich rief den älteren Kollegen an und sagte ihm, dass diese Sache wohl nur gelöst werden könne, wenn wir sie beide als „alte Haudegen“ in die Hand nehmen würden. Der Kollege zeigte sich auf einmal sehr freundlich und kam meiner Einladung zu einem gemeinsamen Gespräch in unserer Kanzlei gerne nach. Da ich erfahren hatte, dass er ein leidenschaftlicher Anhänger grünen Tees war, servierte meine Sekretärin am Beginn der Verhandlung grünen Tee. Ich ließ ihn wissen, dass wir den Tee extra für ihn organisiert hatten. Auf diese Art und Weise kam eine angenehme Stimmung zu Stande, die es uns ermöglichte, einer Einigung näher zu kommen.

Was war geschehen? Ich hatte erfahren, dass der Kollege offensichtlich einen gleichaltrigen Verhandlungspartner wünschte und dass er ein Liebhaber grünen Tees war. Damit hatte ich diese Informationen verwertet und mich durch Einsatz dieses Wissens mit meinem Kollegen synchronisiert. Was aber ist Synchronisation?23 – Synchronisation mit dem anderen Verhandlungspartner Aus der Physik kennen wir das Phänomen, dass zwei unterschiedliche Systeme, die Raum und Zeit teilen, die Tendenz haben, sich einander anzugleichen. Denken Sie beispielsweise daran, wie sich Nebel und Abgase zu Smog vermischen. Dieses Phänomen scheint auch für Menschen zu gelten. Schauen Sie sich Fußballfans an. Sie synchronisieren sich durch gleichfarbige Schals, Westen, Kopfbedeckungen, Bemalungen, etc. und versuchen hierdurch eine gemeinsame Zugehörigkeit zu erzeugen, während die „Feinde“, nämlich die andere Mannschaft und deren Anhänger beschimpft und oft auch bedroht werden. Synchronisation schafft Zugehörigkeit. Vielleicht hilft es Ihnen zum Verständnis des Synchronisierens, wenn ich die Geschichte von dem Kollegen mit dem grünen Tee noch weiter erzähle: Zur Weiterführung der Verhandlung trafen wir uns im Büro des Kollegen. Er hatte in seinem Arbeitszimmer einen CD-Player stehen und ich betrachtete die dort gestapelten CDs. Mir fiel auf, dass überwiegend Musik von Mahler vorhanden war. Daraufhin begann ich ein Gespräch über Mahler und er ging begeistert darauf ein. Nach einer dreiviertel Stunde bei grünem Tee und einem Gespräch über den Komponisten und seine Musik sagte ich zu ihm: „Würde es Sie stören, wenn wir zu unserem Gespräch ein wenig Musik hören würden?“ Er sagte: „Aber keineswegs, ich verfasse meine Schriftsätze immer auf diese Art und Weise“.

23 Näher zum Synchronisieren vgl. Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation, S. 122 ff.

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5. Teil Verhandlungsführung So verhandelten wir zu den Klängen von Mahlers 6. Symphonie die Probleme unserer Mandanten und vielleicht wundert es Sie nicht, dass wir zur Lösung nicht mehr sehr lange brauchten. Wir entwarfen einen Vertrag und präsentierten ihn unseren Mandanten, die ihn akzeptierten und natürlich sehr überrascht waren, dass wir diese Einigung zu Stande gebracht hatten.

Dieses Beispiel bestätigt die Erfahrung vieler Verhandler, dass die Einigung bei Verhandlungen selten von Sach-, häufig aber von Beziehungsfragen abhängt. „Aber ist das nicht Manipulation?“ werden Sie möglicherweise fragen. „Haben Sie diesen Kollegen nicht über den Tisch gezogen?“ Ich kann diese Frage gut verstehen; ich habe sie mir auch manchmal gestellt. Ich mag das Wort Manipulation nicht, weil es einen so schlechten Beigeschmack hat. Lassen Sie uns einfach das Wort Beeinflussung verwenden. Ja, es war Beeinflussung, zu einem für beide nützlichen Zweck. Mein Ziel war es, durch Synchronisation die aggressive Haltung zu beseitigen und gute Beziehungen zu schaffen, die Voraussetzung für eine faire Vereinbarung sind. Diese Beeinflussung richtete sich nur auf die Beziehung und ging nicht dahin, dass der Kollege eine nachteilige Einigung für seine Partei geschlossen hätte. Durch das Trinken des grünen Tees hatte er sein juristisches Wissen und seinen Sachverstand nicht verloren. Er konnte nach wie vor gut abschätzen, was angemessen für seine Klientel war. Alles, was eine gute Verhandlungsatmosphäre schafft, ist zulässig und sogar geboten. – Wie sind die Machtverhältnisse? Kann ich an diesen Machtverhältnissen etwas ändern und wenn ja – wie? Diesen Bereich der Verhandlungsvorbereitung kennen wir bereits aus dem 2. Kapitel. – Was ist der Verhandlungsgegenstand? Oft werden Verhandlungen deshalb ziemlich konfus geführt, weil sich die Parteien nicht über den Verhandlungsgegenstand geeinigt haben, so dass jede der Parteien über ihren eigenen Verhandlungsgegenstand verhandelt. Das kann natürlich keine erfolgreiche Verhandlung werden. Oft ist hierfür auch die Zurückhaltung einer Seite verantwortlich, der anderen Seite reinen Wein einzuschenken. Das mag nachfolgendes Beispiel erläutern: Der Alleingesellschafter eines Unternehmens, das von einem mit ihm befreundeten Geschäftsführer geführt wurde, war über das wirtschaftliche Ergebnis außerordentlich unzufrieden und wollte daher mit seinem Freund als Geschäftsführer ein Gespräch führen. Zu diesem Zweck bat er ihn zu einem Termin, bei dem „die Lage der Gesellschaft“ besprochen werden sollte. Der Gesellschafter hatte sich eigentlich entschlossen, den Vertrag mit dem Geschäftsführer zu kündigen und bei dieser Gelegenheit über die Modalitäten der Vertragsbeendigung zu sprechen. Der Geschäftsführer dagegen meinte, der Gesellschafter wollte allgemein über die Lage der Gesellschaft sprechen und etwas über deren Zukunftsaussichten wissen. Er war daher mit zahlreichen Folien ausgerüstet bei dem Gesellschafter erschienen. Um das von ihm ins Auge gefasste Ausscheiden des Geschäftsführers vorzubereiten, begann der Gesellschafter mit längeren Ausführungen über die außerordentlich schlechte Lage der Gesellschaft, für die der Geschäftsführer verantwortlich sei. Der Geschäftsführer antwortete natürlich darauf, dass der Markt ganz einfach keine andere Entwicklung zugelassen habe. Verschiedene äußere Umstände, für die er nicht verantwortlich sei, hätten zu dem schlechten Unternehmenserfolg geführt. Anschließend präsentierte er eine Menge Folien, die das alles beweisen sollten. Das war nun wieder Grund für den Gesellschafter, dem Geschäftsführer

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln nachzuweisen, dass alles anders sei und er natürlich die Schuld an der Misere trage. Das wiederum veranlasste den Geschäftsführer nach dem Motto: „mehr von dem Gleichen“ die Intensität der Folienschlacht zu steigern. So eskalierte die Verhandlung dadurch, dass der Gesellschafter nicht den Mut hatte, dem Geschäftsführer am Anfang klar zu sagen, worum es ging. Hätte er beispielsweise gesagt: „Franz, ich bin der Meinung, dass du die Gesellschaft nicht gut geführt hast. Ich weiß, dass man auch anderer Meinung sein kann, aber ich bin nun einmal der Gesellschafter und möchte mein Vermögen möglichst sinnvoll einsetzen. Ich möchte daher den Geschäftsführervertrag gerne beenden und heute mit dir darüber sprechen, wie wir das tun können.“

Das wäre natürlich sehr schmerzhaft für Franz gewesen, aber bei einer guten Behandlung der Ausscheidensmodalitäten hätte er sich ganz sicher mehr geschätzt gefühlt als in dem Gespräch, das tatsächlich ablief. Während bei der ersten Verhandlung der Verhandlungsgegenstand war: „Wer ist Schuld an der Misere?“ wäre der Verhandlungsgegenstand bei der anderen Verhandlung gewesen: „Unter welchen Bedingungen scheidet Franz aus?“ Wenn ich mir nicht darüber klar bin, worüber die andere Seite verhandeln will, kann ich auch den gemeinsamen Verhandlungsgegenstand nicht bestimmen. Die Verhandlungsodyssee beginnt. Zunächst ist es daher wichtig, die eigenen Verhandlungsziele zu klären. Das kann Mut erfordern, Mut zur Ehrlichkeit sich selbst gegenüber (Aber der kooperative Verhandler braucht ohnehin Mut). Nur dadurch können Sie herausfinden, was verhandelbar ist und was nicht. Sodann sollten Sie die Ziele der anderen Seite klären. Das wird fast immer noch schwieriger sein, als sich über die eigenen Verhandlungsziele klar zu werden. Eine Idee zur Klärung des Verhandlungsthemas ist es, dieses selbst zum Thema zu machen. Etwa mit folgenden Worten: „Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir festlegen, worüber wir verhandeln können und wollen. Ich habe mir über diesen Punkt einmal Gedanken gemacht und habe dabei folgende Themen herausgefunden: 1. Meine zukünftige Arbeit in diesem Unternehmen, 2. Verbesserung des gegenseitigen Informationsaustausches, 3. Weitere Investitionen seitens der Gesellschafter… Sehen Sie das auch so?“ … – Welche Vertretungsmacht hat die andere Seite? Stellen Sie sich folgende, nicht gerade seltene Situation vor: Nachdem Sie lange und zäh verhandelt und sich nach ausgiebigem Ringen geeinigt haben, sagt die andere Seite: „Ich hoffe sehr, dass ich den Vorstand von unserem Verhandlungsergebnis überzeugen kann. An mir soll es nicht liegen.“

Es sollte Sie nicht wundern, wenn Sie Ihr Verhandlungspartner nach wenigen Tagen anruft und Ihnen mitteilt, dass es ihm trotz großer Anstrengung nicht möglich Ponschab

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5. Teil Verhandlungsführung

gewesen sei, das Verhandlungsergebnis im eigenen Hause durchzusetzen. Das sei nur möglich, wenn Sie in dem einen oder anderen Punkt noch nachgeben würden. Was ist passiert? Sie haben einen kardinalen Fehler gemacht und die Gegenseite nicht nach ihrer Vertretungsbefugnis gefragt. Manche Verhandlungspartner trauen sich nicht, diese Frage zu stellen, was ein Fehler sein dürfte. Wenn Sie diese Frage nicht stellen, kann das unangenehme Folgen haben, wie Sie in dem vorstehenden Beispiel gesehen haben. Daher gehört die Frage nach der Verhandlungsmacht immer an den Verhandlungsbeginn. Sagt die andere Seite, dass sie nur bis zu einem Betrag X Verhandlungsmacht habe oder übersteigt der Verhandlungsgegenstand die Abschlussvollmacht der anwesenden Personen, sollten Sie sich in jedem Fall vorbehalten, dass das Ergebnis nur in der konkret ausgehandelten Form bindend ist. Wenn eine Seite zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas verändern will, so sind alle Verhandlungsergebnisse wieder „offen“. Nur so können Sie verhindern, dass das Fehlen der Vertretungsmacht als Waffe eingesetzt wird. – Bin ich der richtige Verhandler? Danach fragt kaum jemand. Die Auswahl der Verhandler ergibt sich meistens aus vorheriger Befassung mit der Sache. Es fragt aber keiner, ob denn dieser durch Zufall ausgewählte Verhandler auch – ein guter Verhandler ist und – ob die „Chemie“ zwischen dem Verhandler und der anderen Seite stimmt. Oft geht es gar nicht um die Frage des „Verhandelnkönnens“ sondern darum, dass sich Verhandlungspartner nicht „riechen“ können, also große Schwierigkeiten auf der Beziehungsebene haben24. Was kann man aber tun, wenn man meint, dass man mangels Sympathie der falsche Verhandler für diesen einen Fall ist? Ganz einfach: Man kann jemand anderen schicken. Aber wenn es keinen gibt? Es gibt immer jemanden. Was würde passieren, wenn Sie morgen einen Unfall hätten (Gott bewahre Sie davor!)? Würden die erforderlichen Verhandlungen nicht geführt werden? Doch, irgendjemand würde diese Verhandlungen führen. Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Verhandlungsseminar, bei dem wir eine schwierige Verhandlungssituation eines Seminarteilnehmers nachstellten. Dieser spielte in einem Rollenspiel seinen Verhandlungspartner als unkooperativen Menschen, so dass derjenige, der die Rolle des Teilnehmers spielte, keinen Millimeter vorankam. Eine erfolgreiche Verhandlung schien ausgeschlossen. Eher nebenbei sagte ich dem Seminarteilnehmer nach dieser Verhandlung: „Manchmal kann es auch ganz gut sein, jemand anders in eine Verhandlung zu schicken“. Einen Tag nach dem Seminar rief mich der Seminarteilnehmer voller Begeisterung an und bedankte sich dafür, dass das Seminar für ihn außerordentlich lohnend gewesen sei. Er habe nämlich die Verhandlung erfolgreich abgeschlossen. Nach 15 Minuten habe man sich geeinigt. Da ich immer noch diese ausweglose Situation im Seminar vor Augen hatte, fragte ich ziemlich überrascht: „Wie haben Sie denn das geschafft?“ Die Antwort des Teilnehmers: „Ich habe einen Kollegen geschickt“.

24 Vgl. unten 3. Schritt.

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

– Generalprobe der Verhandlung Wenn Sie über all diese Punkte vor der Verhandlung nachgedacht haben, dann empfiehlt es sich, die einzelnen Stationen der Verhandlung zu durchdenken, sich also selbst zu befragen, was Sie an diesen verschiedenen Stationen einbringen möchten. Diese Stationen einer Verhandlung wollen wir nunmehr gemeinsam abschreiten. 2. Schritt Wahrnehmung: Erkennen Sie die Wirklichkeit der anderen Seite – und offenbaren Sie auch Ihre Weltsicht! Ein chinesischer Weiser hat einmal den Satz geprägt: „Es gibt so viele Meinungen, wie es Menschen gibt“. Wenn das stimmte, wie wäre das möglich? Wenn die andere Seite eine andere Wahrnehmung hat, dann müssen wir doch feststellen können, was falsch und was richtig ist. Wirklich? Der Psychologie- und Jura-Professor David L. Rosenhan führte einen Versuch durch, bei dem er Versuchspersonen in verschiedene psychiatrische Kliniken „einschmuggelte“. Die „Patienten“ gaben vor, Stimmen zu hören, was ihnen eine Einweisung garantierte. Danach verhielten sie sich ganz „normal“, wie in ihrem täglichen Leben. Außerdem führten Sie deutlich erkennbar Protokoll über das Leben in der psychiatrischen Anstalt. Sie hatten den Auftrag, die Anstalt aus eigenen Kräften so bald wie möglich wieder zu verlassen. Dieser Wunsch müsste eigentlich doch angesichts der fachärztlichen und wissenschaftlichen Betreuung dazu geführt haben, dass die Patienten schnell wieder in Freiheit gewesen wären – aber es kam ganz anders: Die Versuchspersonen brauchten zwischen 7 und 59 Tagen, um wieder aus dem Hospital entlassen zu werden. Bei einer Befragung des Klinikpersonals und der Mitpatienten nach etwa einem halben Jahr waren letztere die einzigen, die die Scheinpatienten als gesund erkannt hatten, nicht aber die Ärzte und das Pflegepersonal.

Das lässt sich wohl nur so erklären, dass Gesunde nicht in das Weltbild des medizinischen Personals passen. Überspitzt könnte man auch sagen: Psychiatrische Diagnosen erzeugen Krankheiten. Erschafft also das Weltbild die Wirklichkeit? Heinz von Förster bringt das in einem provokanten Satz auf den Punkt: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.25“. An anderer Stelle hat er es noch spitzer formuliert: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.26“. Wenn wir also davon ausgehen können, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt, dann bleibt nichts anderes übrig, als die Welt des Partners als seine Wirklichkeit zu akzeptieren. Seine Wirklichkeit, aus der heraus er denkt und handelt, kann völlig anders als meine sein. Gewinne ich etwas in einer Verhandlung, wenn ich versuche, dem anderen weiszumachen, dass er die Dinge völlig falsch sehe? Das mag das Wesen der forensischen Auseinandersetzung sein, bei Verhandlungen bringt uns das nicht weiter. 25 In Watzlawick, a. a. O., S. 39. 26 So lautete der Titel eines Buches von von Förster/Pörksen (Carl Auer Systeme Verlag, 2004). Diese Aussage erläutert Heinz von Förster in diesem Buch, das ein mit ihm geführtes Interview wiedergibt.

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5. Teil Verhandlungsführung

Es ist bei einer Verhandlung wichtig, dass ich die Welt mit den Augen der anderen Seite sehe, um herauszufinden, wie sie aus ihrer Sicht beschaffen ist. Diese jeweilige „Wirklichkeit der anderen Seite“ ist eine Gegebenheit, die wir in einer Verhandlung akzeptieren und verstehen müssen, um zu den eigentlichen Problemen vorzustoßen. Bei solchen Sätzen müssen sich manchem Juristen die Haare aufstellen. Es kann doch nicht sein, Recht zu haben, ohne der anderen Seite auch zeigen zu können, dass sie im Unrecht ist! Diese Stellungnahme ist für einen forensisch tätigen Anwalt auch völlig zutreffend. Als Verhandler aber sage ich: Akzeptieren Sie die Wirklichkeit der anderen Seite, sonst werden Sie keine guten Ergebnisse erreichen können! Akzeptieren Sie unterschiedliche Weltsichten genau so, wie es Mullah Nasrudin vorgemacht hat: Eines Tages hatte ein Gericht im alten Persien eine sehr schwierige Sache zu entscheiden. Das Gericht zweifelte, ob es der einen oder anderen Seite Recht geben sollte und wollte sich daher des Beistandes des bekannten Weisen Mullah Nasrudin versichern. Als der Gerichtsschreiber den Weisen herbeigeholt hatte, hörte sich dieser zuerst den Vortrag der Klägerseite an und nickte dann dem Kläger verständnisvoll und bedächtig zu: „Du hast Recht!“ Der erboste Beklagte begann daraufhin, die Sache von seinem Standpunkt aus zu schildern, wodurch sie eine völlig andere Gestalt erhielt. Als der Beklagte geendet hatte, lächelte Mullah Nasrudin auch diesen an, nickte mit dem Kopf und sagte: „Du hast auch Recht!“ Völlig aufgeregt zog der Gerichtsschreiber den Weisen zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr: „Mullah, Sie können doch nicht sowohl der einen als auch der anderen Seite Recht geben, das ist völlig unmöglich!“ Daraufhin schaute Mullah Nasrudin den Gerichtsschreiber einige Zeit an, dann verklärte sich sein Gesicht und er nickte ihm mit den Worten zu: „Da hast auch Du Recht!“

Vielleicht müssen Sie, um ein guter Verhandler zu sein, nicht gleich ein Weiser werden, aber zumindest sollten Sie verstehen, dass es so viele Wirklichkeiten gibt, wie Menschen leben. Übungen zum 2. Schritt: – Versuchen Sie, beim nächsten Menschen, mit dem Sie ein Gespräch führen, herauszufinden, welche Ansichten er von bestimmten Dingen hat. Beginnen Sie dann, seine Wirklichkeit zu verstehen. Welche kommunikativen Werkzeuge müssen Sie einsetzen, um dies zu erreichen? Wie reagiert die andere Seite, wenn es Ihnen gelungen ist, sich in deren „Schuhe zu stellen“? – Wiederholen Sie diese Übung bei einer anderen Person und widersprechen Sie deren Wahrnehmung der Wirklichkeit. Was ist die Folge? Wie verändert sich das Verhalten der anderen Seite, wenn Sie den in der ersten Übung vorgeschlagenen Weg beschreiten?

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

3. Schritt Beziehung: Trennen Sie Sache und Beziehung – und lösen Sie jedes Problem auf der entsprechenden Ebene! Die starke Betonung der Trennung von Sache und Beziehung in der Verhandlung ist ebenso wie die Betonung des Parteiinteresses als maßgeblicher Ansatz für die Konfliktlösung ein Verdienst von Roger Fisher, der diese Verhaltensweise in seinem Buch „Das Harvard-Konzept“ beschrieben hat27. Der aus römischer Zeit stammende Satz „suaviter in modo, fortiter in re“ (weich in der Art, hart in der Sache) sagt nichts anderes, als dass man Sache und Beziehung trennen, die Person des Verhandlungspartners pfleglich behandeln, in der Sache aber fest bleiben soll. Es fällt den meisten Menschen sehr schwer, in einer Auseinandersetzung die Ebene der Sachfragen und der Beziehung auseinander zu halten. Auf der Sachebene werden die sachlichen Inhalte einer Verhandlung geklärt (Preis, Lieferfristen, Rabatte, etc.), während es auf der Beziehungsebene, wie die Bezeichnung schon sagt, um die Frage der Beziehung zwischen den Parteien geht. Oder als Postulat gefasst: „Kläre die Sachfragen auf der Sachebene und die Beziehungsfragen auf der Beziehungsebene und vermische nicht beides miteinander!“ Häufig sind wir aber in Versuchung, durch eine derartige Vermischung Druck auszuüben. Eine Mutter, die ihrem Kind sagt: „Wenn du den Mülleimer hinunterbringst, bist du mein liebes Kind“ führt ihm erstmals vor, wie man diese Ebenen „erfolgreich“ vermischen kann. Die Fortsetzung dieser mütterlichen „Sorge“ erfolgt dann im weiteren Leben durch Menschen, die bewusst die beiden Ebenen vermischen, um dadurch andere zu manipulieren28. Die Kunst guter Verhandlung und die Kunst guter Beziehungen ist es, Manipulationen durch die Entflechtung von Beziehungsund Sachebene auszuschalten. Aber was tue ich konkret, wenn ich die Beziehungsebene aufbauen oder reparieren möchte? Das Heilmittel für die Beziehungsebene heißt Vertrauen. Das Vertrauen meines Verhandlungspartners erlange ich, indem ich seine subjektive Wirklichkeit und meine eigene Wirklichkeit soweit wie möglich in Einklang bringe durch die bereits mehrfach erwähnte „Synchronisation“29. Wegen seiner Wichtigkeit soll das Thema hier noch einmal vertieft werden. Durch eine Angleichung der subjektiven Wirklichkeiten der Parteien erreicht man ein hohes Maß an Identifikation von Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Werten und Identitätsvorstellungen zwischen den Verhandlungspartnern. Es entsteht das Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer größeren Einheit, die man Freundschaft, Kameradschaft, Partnerschaft, etc. nennen kann.

27 Fisher/Ury/Patton, a. a. O. 28 Mehr dazu im lesenswerten Buch von Cialdini, a. a. O. 29 Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation, S. 122; einführende Bemerkungen zu diesem Thema finden Sie auch beim 1. Schritt

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5. Teil Verhandlungsführung Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu einer Bank, um einen Kredit zu beantragen. Dort erwartet Sie der junge und dynamische Kreditsachbearbeiter, der gerade alle drei Teile des bankinternen Lehrganges „Kredite vergeben – aber richtig“ besucht hat. Der Verhandlungspartner trägt die „Bankuniform“ (dunkler Anzug, weißes Hemd mit Krawatte). Bei diesen Voraussetzungen ist es sicherlich für den Aufbau von Vertrauen besser, wenn Sie ebenfalls in einem korrekten Anzug auftauchten. Sie erscheinen also bei der Bank in ordentlichem Anzug, durchaus leicht modisch, und tragen Ihren Wunsch vor. Sie legen befriedigende Bilanzen aus neuester Zeit zusammen mit einem Business-Plan vor. Dieser wird durch Gutachten oder Aussagen von Fachleuten bestätigt, die Sie ebenfalls in Ihrer Aktentasche mitgebracht haben. Hieraus geht hervor, dass Ihr Produkt, das durch diesen Kredit finanziert werden soll, hervorragende Marktchancen hat, etc. Der Bankangestellte wird schon freundlicher gestimmt, denn er hakt geistig die Punkte seiner Checkliste ab. Als Sie das Zimmer kurz verlassen, um auf die Toilette zu gehen, sehen Sie auf dem Schreibtisch Ihres Gesprächspartners eine Eintrittskarte zum Münchner Lokalderby (Bayern München gegen 1860 München) liegen. Da Sie den Gesprächspartner als bemühten Aufsteiger einschätzen, tippen Sie auf Bayern München, da dieser Verein Erfolg repräsentiert. Sie erzählen kurz von Oliver Kahn, den Sie gestern beim Golfen getroffen haben – und fragen natürlich, ob er ihn kenne. Seine Augen weiten sich – und die Aussichten, für die Gewährung Ihres Kredits werden immer besser …

So bauen Sie mit Ihrem Gesprächspartner Stufe um Stufe das Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Welt auf, die Sie beide teilen. Hierauf beruht Vertrauen. Warum ist Vertrauen in Verhandlungen so wichtig? Die Basis des Vertrauens liegt in der Idee der Zugehörigkeit. In längst vergangenen Zeiten konnte man nur dem vertrauen, den man kannte, der zur eigenen „Urhorde“ gehörte. Wer nicht dazugehörte, wurde meist „sicherheitshalber“ erschlagen, dann stellte er keine Gefahr mehr dar. Man befand sich gewissermaßen auf „Inseln der Zugehörigkeit“ und nur diese Zugehörigkeit gab den Beteiligten Sicherheit voreinander. Dagegen war derjenige, der nicht „auf dieser Insel“ wohnte, ein Feind. Diese Art des Denkens findet sich auch heute noch bei vielen Menschen. Wenn man sich jemanden zum Feind machen will, dann braucht man ihn nur von der Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt auszugrenzen, das heißt, ihn von der „Insel“ zu verstoßen. Dadurch verliert er seine Zugehörigkeit und wird gewissermaßen vogelfrei. Glauben Sie das nicht? Dann stellen Sie sich einmal bei einem Fußballspiel im Trikot ihrer Mannschaft in die Fan-Kurve des Gegners und feuern Sie Ihre Mannschaft lautstark an. Ihre fehlende Zugehörigkeit zu dieser „Insel“ wird Ihnen sehr schnell bewusst werden… Wenn ich also Vertrauen aufbaue, bestärke ich in dem anderen die Vorstellung, ich gehöre zu seinem Kreis, zu den Menschen, denen er sich öffnen kann. Enttäusche ich diesen Menschen, zeige ich ihm, dass ich nicht zugehörig bin. Das kann unangenehme Folgen haben. Um es ganz einfach zu sagen: Beziehung ist im Wesentlichen Vertrauen. Wenn Sie kein Vertrauen haben, werden Sie auch in der Sache nicht vorankommen. Daher: Pflegen Sie in Verhandlungen immer die Beziehungsebene und wenn es Probleme gibt, gilt ohne jede Einschränkung: Beziehungsstörungen haben immer Vorrang. 178

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

Wiederholungsfragen zum 3. Schritt: – Welches ist die dominierende Ebene in der Verhandlung – Sach- oder Beziehungsebene? Begründen Sie bitte Ihr Ergebnis. – Bauen Sie Vertrauen auf der Sach- oder Beziehungsebene auf? Begründen Sie bitte das Ergebnis. 4. Schritt Interesse: Erforschen Sie die wirklichen Ziele aller Beteiligten – und halten Sie sich nicht mit Positionen auf! In der juristischen Auseinandersetzung verharren wir in Positionen. Der typische Fall einer Position ist ein Anspruch, den ich geltend mache und der beispielsweise lautet: Sie müssen mir 100.000 Euro bezahlen! Der Grund hierfür liegt in der Überzeugung des Anspruchsstellers, dass er Recht hat, dass ihm diese Summe, aus welchem Rechtsgrund auch immer, zusteht. Wenn wir uns einmal überlegen, dass sich das Recht aus der fast unübersehbaren Zahl von Möglichkeiten zur Lösung eines Konfliktes nur einige wenige gewählt hat, dann sehen wir, dass auch viele andere Lösungen möglich sind. Oft passen die vom Recht festgelegten Lösungen nicht, weil sie nicht das eigentliche Interesse des Anspruchstellers befriedigen. Trotzdem werden Ansprüche häufig in solchen Situationen geltend gemacht, um die andere Seite in eine Zwangslage zu bringen, in der Hoffnung, dass man das eigentlich Gewünschte doch erhalten möge. Das Auseinanderfallen von Interesse und Anspruch wurde bereits im Rahmen der Darstellung des kooperativen Verhandlers erörtert30. Bei dem dort genannten Fall hatte der klagende Gesellschafter allenfalls Anspruch darauf, den Geschäftsführer-Gesellschafter aus der Gesellschaft auszuschließen und ihm eventuell auch als Geschäftsführer zu kündigen. Sein Interesse war aber einzig und allein, dass er das in die Gesellschaft investierte Geld zurück haben wollte. Also: Anspruch (Entfernung des Gesellschafters) gegen Interesse (Geld zurück). Wie könnte aber der Weg für eine allseits befriedigende Lösung heißen? Er lautet: Die Verwirklichung der Interessen aller Beteiligten. Interesse in der hier verwendeten Bedeutung ist das, was eine Person wirklich will. Der Vorteil des Ausgleiches von Interessen ist, dass die unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeiten der Parteien bestehen bleiben und sich sogar im Ergebnis niederschlagen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Brent Spar erläutern. Die Brent Spar diente 190 km von den Shetland Inseln entfernt als Zwischenlager für Rohöl, das auf den benachbarten Bohrinseln gefördert wurde. Bis 1978, als ein Unterwasser-PipelineSystem zum norwegischen und englischen Festland dieses Ungetüm überflüssig machte. Bis 1995 stand die Brent Spar als nutzloses Fossil in der Nordsee, bis die betreibende Ölgesellschaft Shell im Jahre 1995 den Entschluss fasste, die Brent Spar mit der Genehmigung der englischen Regierung zu versenken. Dies rief die Umweltschutzorganisation Greenpeace auf den Plan, die dieses Vorhaben energisch bekämpfte und mit der vorübergehenden Besetzung der Plattform auch ihre Entschlos30 Vgl. oben 3. Kapitel, 3.4.

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5. Teil Verhandlungsführung senheit zum Widerstand demonstrierten. Der Konzern hielt jedoch an seinem Vorhaben fest, was ihm Umsatzeinbrüche von bis zu 20 % bescherte. Deutsche Politiker, Prominente und sogar der Evangelische Kirchentag stellten sich gegen das Vorhaben. Am 14.6.1995 wurde eine deutsche Shell-Station mit Schusswaffen attackiert. Am 20.6.1995 ließ der Konzern unter der Berufung auf die „unhaltbare Situation“ verkünden: „Die Brent Spar wird nicht versenkt“. Wie hätte ein Vertreter von Greenpeace seine Auffassung begründen können? Vielleicht etwa so: „Unser höchstes Ziel ist es, die Umwelt zu erhalten. Dafür kämpfen wir seit Jahren und wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass ein gewinngieriger Konzern seine Bohrinseln einfach dort versenkt, wo es ihm passt, wenn wir befürchten müssen, dass dadurch die Umwelt erheblichen Schaden erleidet.“ Wie hätte etwa ein Mitglied des Board of Directors von Shell auf die Frage nach seiner Sicht der Dinge antworten können? Vielleicht so: „Da wir inzwischen das Unterwasser-Pipelinesystem zum englischen und norwegischen Festland fertig gestellt haben, brauchen wir die Brent Spar nicht mehr als Zwischenlager für das im Brent Field geförderte Erdöl. Wir haben diese Plattform stillgelegt und müssen sie nun entsorgen. Wo sollen wir denn hin mit den ausgedienten Bohrinseln? Wir können sie doch nicht einfach in Luft auflösen! Wir sind nach umfangreichen Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Art der Entsorgung umweltfreundlich ist und hierdurch keine Schäden entstehen. Wir haben alle erforderlichen Genehmigungen für die Versenkung eingeholt und handeln völlig rechtmäßig.“ So hätten etwa die Positionen der Parteien lauten können. Positionen führen aber nie zu einer Lösung des Problems, sondern zur Eskalation31 – und wenn eine Eskalation einmal so richtig in Fahrt gekommen ist, dann ist sie mit den Mitteln kooperativer Konfliktlösung oft nicht mehr in Schach zu halten. Wohin führte die Eskalation in diesem Fall? In einen Konflikt, der seinen eigenen Weg ging und von den Parteien nicht mehr beherrscht wurde. Obwohl der Vorsitzende von Greenpeace zwar jede Anwendung von Gewalt verurteilte, wurden Shell-Tankstellen blockiert, Blockadebrecher mit Plakaten bedroht („Wer Shell tankt, wird ermordet“), gaben Unbekannte Schüsse auf eine Shell-Tankstelle in MörfeldenWalldorf ab und ging der Verkaufsraum einer Shell-Station in Hamburg-Volksdorf in Flammen auf. Greenpeace-Aktivisten versuchten, die Brent Spar zu entern, während von Shell-Booten, die die Brent Spar begleiteten, mit Wasserkanonen, die in der Minute sechs Tonnen Wasser ausspucken, auf die „Greenpeace-Krieger“ „geschossen“ wurde. Das Umdenken begann, als man die wirtschaftliche Dimension dieses falschen Verhaltens erkannte. Die oberste Leitung des Shell-Konzerns beschloss – viel zu spät – die geplante Versenkung einzustellen. Zurück blieb ein Konzern-Goliath, der die Schlacht gegen David verloren hatte, mit einem Imageschaden, der größer kaum sein konnte. Der britische Premier John Major, der sich voll hinter den harten Kurs von Shell gestellt hatte, blieb düpiert auf der Strecke – und die Aktienkurse von Shell an der Londoner Börse bröckelten. Aber auch Greenpeace ging angeschlagen aus dem Konflikt hervor, weil sich herausstellte, dass man die Weltöffentlichkeit mit falschen Angaben über Schadstoffe und Ölmengen, die sich in der Brent Spar befunden haben sollten, getäuscht hatte. Statt der behaupteten 5.000 Tonnen Öl und giftiger Substanzen befanden sich in den Tanks der Brent Spar „nur“ 100 Tonnen Öl und keine Giftstoffe. Man sprach von bewussten Manipulationen durch Greenpeace. Thilo Bode, damals Leiter von Greenpeace Deutschland, bestritt das energisch, entschuldigte sich aber trotzdem bei Shell.

31 Vgl. Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation, S. 87.

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln Das Spiel ließ zwei Verlierer zurück. Spielen wir den Film noch einmal zurück: Stellen wir uns vor, die Parteien, allen voran Shell, hätten nicht ihre Positionen betont und den Weg der Konfrontation gewählt, sondern sich an Interessen orientiert und den Weg der Kooperation beschritten. Wie hätten dann die Ereignisse ablaufen können? Zunächst: Welche Interessen standen überhaupt hinter dem Verhalten der Parteien? Was wollten sie wirklich? Es ist zu vermuten, dass sich Greenpeace vom Schutz der Umwelt leiten ließ und Shell von dem Wunsch, sich kostengünstig der Bohrinsel zu entledigen, mit der man nichts mehr anfangen konnte.

Stellen wir uns einmal vor, der Vorstand von Shell hätte von Anfang an mit Greenpeace Kontakt aufgenommen und das Problem geschildert. Man hätte gesagt, dass diese Bohrinsel ausgedient habe und dass man nun dieses Relikt der Bohrtätigkeit mit angemessenem Aufwand entsorgen müsse. Man wolle aber auch die Belange der Umwelt beachten und frage sich daher, ob Greenpeace bereit sei, an der Lösung der Frage mitzuwirken, wie die Entsorgung kostengünstig und umweltschonend geschehen könne. Stellen wir uns weiter vor, Greenpeace wäre auf diesen Vorschlag nach langem Zögern eingegangen und hätte sich mit Shell getroffen, um solche Möglichkeiten zu erörtern. Da es sich hierbei um ein völlig neues technisches Problem handelte, hätte man vielleicht bald eingesehen, dass hierzu möglicherweise auch zusätzlicher Sachverstand erforderlich wäre. Man hätte sich beispielsweise entschließen können, ein Preisausschreiben zur Frage der umweltschonenden und kostengünstigen Entsorgung von Bohrinseln zu veranstalten. Stellen wir uns weiter vor, in die Jury, die über die Vergabe der Preise zu entscheiden hätte, wären neben Vertretern der Firma Shell führende Repräsentanten der Wirtschaft, technische Experten und Vertreter der Umweltschützer berufen worden. Man hätte dann aus den vielen eingegangen Vorschlägen zunächst diejenigen ausgewählt, die technisch realisierbar wären und dann am Schluss fünf Vorschläge prämiert, die den Schutz der Umwelt berücksichtigen und dabei auch noch finanziell zu verkraften wären. Das Ergebnis dieser Prämierung wäre als eine gemeinsame Aktion von Shell und Vertretern des Umweltschutzes dargestellt worden. Der Vorstand von Shell hätte aus den fünf prämierten Einsendungen diejenige ausgewählt, die ihm selbst am besten gefallen hätte und diese Entsorgung dann verwirklicht. Ziemlich sicher wäre dies aber wesentlich kostengünstiger gewesen als die von Shell gewählte Lösung. Auch für Greenpeace hätte diese Lösung einen Vorteil gehabt: Die Organisation hätte sich nicht wegen der Bekanntgabe falscher Zahlen bis auf die Knochen blamiert. Bei dieser Lösung wären zwei Gewinner zurückgeblieben, während es in der Wirklichkeit zwei angeschlagene Parteien bzw. zwei Verlierer waren. Vielleicht wenden Sie hier ein: „Das ist ja alles ganz schön, aber so läuft es in der Realität nicht.“ Warum eigentlich nicht? Interessiert es Sie, was passierte, nachdem die Sache völlig verfahren war? Zunächst einmal wurde die Brent Spar nicht dort versenkt, wo sie hätte versenkt werden sollen. Auf Grund der Auseinandersetzungen mit Greenpeace war Shell gezwungen, die Bohrinsel in einen norwegischen Fjord schleppen zu lassen. Dort dümpelte sie lange Zeit vor sich hin… bis, Sie werden es nicht glauben, Shell nach einigen Jahren auf die Idee kam, eine Ausschreibung für die besten Ideen zur Beseitigung der Brent Spar zu veranstalten! Dieser hervorragende Einfall zeigte jedoch nur geringe Wirkung, denn er kam viel zu spät und diente nicht der Konfliktlösung

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zwischen den Konfliktparteien, sondern der nachträglichen Schadensminimierung für Shell. Wir lernen daraus, dass Interessen nicht nur unser Handeln beeinflussen, sondern auch unsere Wahrnehmung. Sie beeinflussen, wie wir die Wirklichkeit konstruieren oder erfinden. Sie sind der Kern unseres Konstruktes der Wirklichkeit. Wie aber finden wir heraus, welche Ziele und Interessen die andere Seite hat? Stellen Sie sich einmal vor, Sie sitzen in einer Verhandlung und haben den Sachverhalt zwischen den Parteien halbwegs geklärt. Nun beginnen die Rechtsanwälte, ihre Rechtskanonaden abzufeuern. Der Vertreter des Lieferanten behauptet, die gelieferte Sache sei völlig einwandfrei gewesen, Konstruktionsmängel seien nicht vorhanden, zumindest keine vom Lieferanten verschuldeten. Die Konstruktionszeichnungen des Auftraggebers seien so mangelhaft gewesen, dass man zur Einhaltung des Liefertermins die Konstruktion selbst habe fertig stellen müssen etc. Der Vertreter des Auftraggebers sagt, dass selbstverständlich ein klarer Sachmangel gegeben sei, denn selbst eine fehlerhafte Konstruktionszeichnung könne nicht dazu führen, dass Roststellen aufträten und so weiter und so fort… Glauben Sie, dass in einer solchen Situation einer dem anderen Recht geben wird, etwa so: „Gut, dass Sie das sagen, Herr Kollege, jetzt sehe ich erst, wie Unrecht ich hatte. Selbstverständlich ist Ihre Meinung richtig und ich bedauere sehr, dass ich das nicht eher erkannt habe.“

Glauben Sie, dass so etwas stattfinden könnte? Natürlich nicht, das wäre Suizid für die juristische Argumentation und das wirtschaftliche Interesse dieser Seite. Also bleibt nur eines übrig: Position gegen Position zu stellen. Das führt logischerweise dazu, dass man einen Dritten bitten muss, zu sagen, wer Recht hat. Dieser Dritte ist der Richter. Was aber würde passieren, wenn Sie die andere Seite nach der Diskussion des Sachverhaltes so ansprechen würden: „Wir haben ja nun den Sachverhalt ausführlich erörtert. Ich weiß natürlich, dass wir diesen Sachverhalt in manchen Punkten unterschiedlich darstellen und in vielen Punkten unterschiedlich bewerten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie in all diesen streitigen Punkten unsere Meinung akzeptieren werden und wir die Ihre. Sonst säßen wir nicht hier. Das Einzige, was wir nach meiner Meinung hier tun könnten, ist es, nach einer für beide Seiten sinnvollen wirtschaftlichen Lösung zu suchen. Wären Sie damit einverstanden?“

Wenn die andere Seite ablehnt und Sie erneut in Rechtsargumentationen verstricken will, sollten Sie Ihre Zeit nicht weiter verschwenden. Stehen Sie auf und übergeben Sie die Sache einem Richter oder – falls möglich – einem Mediator. Es wird Sie sicher freuen, dass dieser den Gedanken Ihres letzten Satzes wieder aufgreifen wird. Folgt Ihnen die Gegenseite – das spricht für Klugheit oder mindestens Erfahrung – dann wäre es sinnvoll zu fragen, was die Interessen der Gegenseite sind, etwa so: „Was ist denn in diesem Fall für Ihre Mandantschaft besonders wichtig? Das heißt, was müsste mein Mandant tun, damit Ihr Mandant zufrieden ist? Was müsste am Ende des Tages vereinbart sein, damit wir eine gemeinsame Lösung erreichen können?“

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So oder ähnlich könnten die Fragen nach den Interessen der anderen Seite lauten. Weiterführende Fragen zu den Interessen der Parteinen sind beispielsweise: – Was würde Ihnen weiterhelfen? – Was möchten Sie erreichen/sicherstellen? – Was würden Sie gewinnen, wenn Sie sich einigen könnten? – Was macht Ihnen an dieser Situation zu schaffen? – Was ist Ihnen besonders wichtig? – Was müsste passieren, damit Sie zufrieden wären? Das wird natürlich die andere Seite zutiefst verblüffen, vielleicht wird sie auch eine besonders raffinierte Finte vermuten. Wenn es Ihnen gelingt, dieses Misstrauen zu beseitigen dann kann dies der Anfang für eine sehr erfolgreiche Verhandlung sein. Vergessen Sie aber nicht, in dem folgenden Gespräch auch klar zu machen, was Ihre Ziele sind. Wenn Sie Ihre eigenen Interessen dargelegt haben und die der Gegenseite kennen, ist der Weg frei für die Lösung. Wiederholungsfragen zum 4. Schritt: 1. Was sind Positionen und was sind Interessen? 2. Unter welche der vorstehend genannten Kategorien gehören rechtliche Ansprüche? 3. Worauf richtet sich die Durchsetzung von Positionen, worauf die Erfüllung von Interessen (auch in zeitlicher Hinsicht)? 4. Nennen Sie fünf Fragen, wie Sie beim Verhandeln nach den Interessen der anderen Seite fragen können. 5. Schritt Möglichkeiten: Finden Sie gemeinsam mit der anderen Seite Möglichkeiten zur Verwirklichung der Ziele – und achten Sie darauf, dass dabei für Sie selbst möglichst viel herauskommt! Bei diesem Schritt geht es darum, die Interessen so zu konkretisieren, dass wir Verwirklichungsmöglichkeiten für die Ziele der Parteien finden. (Lösungs-)Möglichkeiten (Optionen) sind konkretisierte Interessen (Ziele). – Konkrete Erarbeitung von Optionen durch die Parteien Der Schritt von den Interessen zu den Optionen ist besonders wichtig, weil hier Güter verteilt, Pflichten und Lasten bestimmt werden etc. Während die Frage nach den Interessen gewissermaßen „philosophischer“ Natur ist, wird jetzt konkret gefragt und festgelegt, wie man die festgestellten Ziele in die Tat umsetzen kann. Vom Plan zur Tat. Das bedeutet aber auch: Akzeptieren von Optionen, die der anderen Seite etwas bringen und mich einschränken.

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5. Teil Verhandlungsführung

Dazu folgender Fall32: Eine erfolgreiche Reiseautorin veröffentlichte einen Band mit zahlreichen Fotos über Rügen. Nach Vertriebsbeginn erhielten Verlag und Autorin ein Anwaltsschreiben eines Fotografen, der behauptete, in dem Bildband seien ohne seine Genehmigung Fotografien abgebildet, die von ihm stammten. Der Anwalt drohte an, den Vertrieb des Bandes stoppen zu lassen. Autorin und Fotograf waren früher befreundet gewesen und hatten zunächst geplant, diesen Band gemeinsam herauszugeben. Über die Art der Beteiligung des Fotografen kam es dann zum Streit, worauf die Autorin den Band allein erstellte und veröffentlichte. Die Parteien trafen sich zu einer Verhandlung.

Sie mögen vielleicht denken: Warum findet hier eine Verhandlung statt? Die Sache ist doch völlig eindeutig. Wenn die Autorenrechte verletzt sind, sind die Rechte des Fotografen eindeutig gesetzlich definiert. Soweit, so gut. Aber: – Wenn man einen Anspruch durchsetzen will, muss man die Anspruchsgrundlagen beweisen, und – oft gewährt das Gesetz mit seinen Ansprüchen nicht das, was man möchte. In beiden Punkten hapert es im vorliegenden Fall: Der Fotograf hatte nämlich versehentlich die Bilder auf seiner Festplatte gelöscht, so dass seine Autorenschaft allenfalls durch ein Sachverständigengutachten hätte nachgewiesen werden können, das sicher sehr teuer und dessen Ergebnis ungewiss gewesen wäre. Dem Fotografen ging es zunächst um die Anerkennung seiner Arbeit und daneben um eine wirtschaftliche Beteiligung an dem Ergebnis des Buches. Das waren seine Interessen und Ziele. Rechtsansprüche hatte er aber nur darauf, dass das Buch nicht weiter vertrieben würde, allenfalls auf Zahlung einer Zwangslizenz. Wie war es bei dem Verlag und der Autorin? Beide waren an dem wirtschaftlichen Erfolg des Buches interessiert und auch daran, für ihre Tätigkeit Anerkennung zu bekommen.

Rechtliche Ansprüche und Ziele der Beteiligten fielen also auseinander. Die Verwirklichungsaussichten der Rechtsansprüche waren eingeschränkt. Was wollten die Parteien wirklich? Wenn wir diese Interessen gegenüber stellen, sehen wir, dass alle Parteien den wirtschaftlichen Erfolg des Buches und die daraus erwachsende Anerkennung wünschten. Insoweit waren übereinstimmende Interessen vorhanden. Bei der Höhe der vom Fotograf gewünschten wirtschaftlichen Beteiligung konnte es natürlich Probleme geben. Keinesfalls wollten die Parteien aber das, was das Gesetz gewährt: Wirtschaftlichen Misserfolg durch „Einstampfen“ des Buches. Nach diesem Exkurs zu Anerkennung, dem eigentlichen Interesse der Parteien, kehren wir zur Frage zurück, wie wir denn Lösungen in Verhandlungen erarbeiten können. Der erste Schritt ist, Ideen zu sammeln wie Blaubeeren im Walde. Das ist die so genannte Sammelphase. Wie sammeln Sie Blaubeeren? Im Regelfall legen Sie erst einmal alles, was wie genießbare Blaubeeren aussieht, in Ihren Korb und sortieren dann später diejenigen Fundobjekte aus, die nicht für Ihren Zweck tauglich sind. 32 Dieser Fall entspricht dem Sachverhalt des vom Verfasser mit einer Gruppe junger Juristen erarbeiteten Mediationsvideos „Die Schöne in der Ostsee“, Informationen bei EUCON, Schackstraße 1, 80539 München, E-Mail: [email protected], www.eucon-institut.de.

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

Wenn Sie bereits am Anfang beginnen jede Blaubeere kritisch zu betrachten, werden Sie nie in einen guten Sammelrhythmus kommen und vor allem wird Ihr Rücken ziemlich schnell schmerzen. Ähnlich ist es auch beim Sammeln von Lösungsoptionen zur Verwirklichung von Ideen. In der Sammelphase sollten Sie alle Ideen, die etwas mit Lösungsmöglichkeiten des vorliegenden Problems zu tun haben, zulassen. Es wird im Regelfall schwer sein, die Ideen ungestört in Gegenwart der anderen Verhandlungsteilnehmer zu sammeln, weil die andere Partei die unterbreiteten Vorschläge kritisch beurteilen könnte. Es empfiehlt sich also, dass die Verhandlungsparteien getrennt versuchen solche Lösungen zu erarbeiten. Wenn Sie alle diese Lösungsmöglichkeiten gesammelt, also beispielsweise auf Kärtchen geschrieben haben, dann sollten Sie sich mit der anderen Seite wieder zusammenfinden und die Ergebnisse gut sichtbar (z. B. auf einer Pinnwand) präsentieren. Ob Sie in der Sammelgruppe selbst schon eine Vorbewertung durchgeführt haben, indem Sie die Ihrer Meinung nach völlig untauglichen Optionen ausgeschieden haben, bleibt Ihnen überlassen. Gemeinsam geht es nun darum, die Blaubeeren zu sortieren, also die Lösungsmöglichkeiten zu bewerten (Bewertungsphase). Die Interessen hatten Sie bereits vorher festgestellt. Jede der Möglichkeiten muss mindestens die Verwirklichung eines Interesses darstellen – nicht unbedingt aller. Es ist auch nicht erforderlich, dass eine Möglichkeit jeweils ein Ziel beider Seiten darstellt. Vielmehr kann es sich nur um die Verwirklichung der Interessen einer Seite handeln. Aus den vielen Möglichkeiten wird nämlich nachher ein „Strauß gebunden“, der dann insgesamt eine ausgewogene Umsetzung der Interessen der Beteiligten darstellen sollte. Da es sich bei dieser Bewertung um eine Tätigkeit handelt, die Sie alle gemeinsam vornehmen, ist dringend zu empfehlen, für diese Phase einen Moderator aus der Mitte der Gruppe zu bestimmen oder einen Moderator von außen zu holen. Dieser hat nun die Aufgabe, die Tauglichkeit der einzelnen Vorschläge mit den Anwesenden zu erörtern. Nach der Diskussion der einzelnen Lösungen kann man beispielsweise an die Teilnehmer Punkte verteilen, mit denen sie die Akzeptanz der einzelnen Vorschläge bewerten können. Das geschieht so: Jeder Teilnehmer erhält beispielsweise fünf Punkte, die er auf verschiedene Karten (jeweils nur einen Punkt pro Karte) kleben kann. Am Ende bleiben dann Karten übrig, auf denen gar keine Punkte sind; diese Karten hängen wir an den Rand der Pinnwand. Die anderen Karten werden nach Häufigkeit der Punkte sortiert und stellen nun ein Bild der von den Anwesenden favorisierten Optionen dar. – Einsatz von objektiven Kriterien und neutralen Verfahren Nun kann es aber passieren, dass die Parteien keine Möglichkeiten finden, die Interessen durch gemeinsam akzeptierte Lösungswege zu verwirklichen. Interessen, die sich nicht durch gemeinsame Optionen realisieren lassen, zeigen einen Interessenkonflikt an. Wie kann man solche Interessenkonflikte lösen, wenn es keine Möglichkeiten gibt, die die Parteien gemeinsam finden? Ist damit die Verhandlung zu Ende? In solchen Fällen muss das „Loch“ zwischen den Interessen (oder Positionen) der Parteien durch Optionen geschlossen werden, die von außen, also von dritter Seite, kommen. Hier fragt man nach den neutralen oder objektiven Kriterien. Solche Kriterien sind beispielsweise Handelsbräuche, neutrale Wertfeststellungen (z. B. Schwacke-Listen), Sachverständigengutachten, Geschäftsgepflogenheiten, etc. Ponschab

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5. Teil Verhandlungsführung Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Gebrauchtwagen kaufen und können sich mit dem Verkäufer nicht über den Preis einigen. Wenn Sie kompetitiv verhandeln, ist die Verhandlung damit beendet. Bei der kooperativen Verhandlung werden Sie beispielsweise offizielle Gebrauchtwagenlisten mit den dort angegebenen Preisen heranziehen.

Andere Beispiele: – Sie wollen Fliesen bestellen und einigen sich mit dem Verkäufer nicht über den Preis. Daraufhin vereinbaren Sie, dass man fünf Fliesenhändler anruft, die man gemeinsam aus dem Branchenbuch durch Zufall herausgesucht hat. Der Durchschnitt der Preise, die diese Fliesenhändler angeben, soll der zwischen Ihnen vereinbarte Preis sein33. – Sie verkaufen Ihr Haus, aber der Erwerber ist nicht bereit, den von Ihnen geforderten Preis zu bezahlen. Sie vereinbaren, dass ein Gutachter den Wert feststellen soll, der für Sie beide bindend ist.

Sie können für die Entscheidung in solchen Fällen auch neutrale Verfahren vereinbaren. Das einfachste Beispiel ist das Würfeln. Das macht zum Beispiel dann Sinn, wenn bei den Verhandlungen eine Lücke zwischen den Angeboten der Parteien offen geblieben ist, die durch Zufallsverfahren geschlossen werden soll. Wiederholungsfragen zum 5. Schritt: 1. Wie hängen Optionen und Interessen zusammen? 2. Welche zwei Phasen gibt es bei der Festlegung von Lösungsoptionen? 3. Was können Sie tun, wenn Sie keine gemeinsamen Lösungen finden? Nennen Sie ein paar der Lösungskriterien, die Sie hier einsetzen können. 6. Schritt Beste Alternative: Prüfen Sie, ob es bessere Lösungen gibt als die gefundenen und entscheiden Sie sich dann für oder gegen eine Einigung! Bevor Sie abschließen, wollen Sie sicher wissen, ob das vorliegende Verhandlungsergebnis, für Sie akzeptabel ist. Wie finden Sie das heraus? In dem am Anfang des 5. Schrittes geschilderten Fall „Die Schöne in der Ostsee“ könnte es, falls die Parteien die vorstehenden Ausführungen beherzigen, etwa so weitergehen: Nachdem die Parteien ihre Interessen erörtert haben, tragen sie verschiedene Lösungsmöglichkeiten zusammen, die den gefundenen Interessen mehr oder minder gerecht werden. Am Ende könnte das zu folgendem Ergebnis führen: – Der Fotograf erhält ab dem 3.000sten verkauften Buch dieser Auflage ein Drittel des Autorenhonorars; entsprechend sinkt der Anteil der Autorin von bisher 15 % auf 10 %. – Der Verlag zahlt an den Fotografen eine pauschale Abfindung von 1.500 Euro. – Die noch nicht ausgelieferten Bücher dieser Auflage erhalten Aufkleber, die über den Namen und die Mitwirkung des Fotografen unterrichten. – Ab der nächsten Auflage wird der Name des Fotografen im Buch an geeigneter Stelle genannt. – Die Autorin und der Fotograf vereinbaren die Erarbeitung eines neuen gemeinsamen Buches, zu dem die Autorin den Text und der Fotograf die Bilder liefern.

33 Dieses Beispiel stammt von Jörg Risse.

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

Nehmen wir also an, Sie wären bei den Verhandlungen im vorliegenden Fall bis zu dem Punkt gekommen, an dem sich ein Ergebnis abzeichnet. Irgendeine Stimme könnte Ihnen an dieser Stelle sagen: „Du kannst doch nicht einfach ‚ja‘ zu etwas sagen, von dem du gar nicht weißt, ob es ein guter Abschluss ist.“ Wie kann man herausfinden, ob das Ergebnis so gut ist, dass man zustimmen sollte? Es gibt Menschen, die vor einer Verhandlung für sich Ober- und Untergrenzen festlegen und dann die Verhandlung scheitern lassen, wenn das Ergebnis nicht in diesem Rahmen liegt. Das Operieren mit Ober- und Untergrenzen ist jedoch problematisch. Dieses Verhalten erinnert an einen Schiffbrüchigen, der auf der Insel sitzt und ruft: „Ich möchte einen Campari Orange mit ein wenig Eis, und zwar schnell.“ Da wird er lange auf die Erfüllung seiner Wünsche/Ziele/Interessen warten müssen. Was er aber machen könnte, um seinen Durst zu löschen, ist, auf eine in der Nähe wachsende Palme zu klettern und sich dort eine Kokosnuss zu holen, deren Inhalt den Durst auch vortrefflich löscht. Was soll diese kleine Geschichte sagen? Sie soll sagen, dass es keinen Sinn macht, irgendwelche Dinge zu verlangen oder Grenzen zu setzen, die nicht realistisch sind. Wie kann man herausfinden, was realistisch ist? Ganz einfach, indem man sich fragt, was man außerhalb dieser Verhandlung bekommen könnte. Die Frage lautet: „Was könnte ich, wenn diese Verhandlung scheitert, (zur Erfüllung meiner Ansprüche, zur Befriedigung meiner Interessen, etc.) bekommen?“ Im Regelfall wird das zu einer Betrachtung der Chancen einer gerichtlichen Durchsetzung eigener Ansprüche führen. In der Verhandlungswissenschaft wird dieser Schritt die BATNA (Best Alternative To Negotiated Agreement) genannt. Wenn ich der Meinung bin, dass ich in einem Prozess mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit Recht bekäme und mir damit ein Betrag von 1.000 Euro zugesprochen würde, wieso sollte ich dann ein Verhandlungsergebnis akzeptieren, das mir nur 500 Euro gewährt? Im vorliegenden Fall ist die BATNA, also die Lösung durch ein Gericht, keine in Erwägung zu ziehende Alternative, weil dort der Fotograf etwas bekäme, was er nicht will. Die Autorin und Verlag auf der anderen Seite sollten sich – zumindest solange sie noch nicht wissen, dass der Fotograf die Bilder auf seiner Festplatte vernichtet hat – keinesfalls auf einen Prozess einlassen, denn hier droht ihnen wirtschaftlicher Verlust durch die Einstellung des Vertriebes des schon gedruckten Buches. Da im vorliegenden Fall alle mit dem Ergebnis einverstanden sein können, unterzeichnen Sie die Eckpunkte der Lösung, damit sie anschließend eine verbindliche Grundlage haben, um selbst oder durch ihre Anwälte einen Vertragstext auszuformulieren. Wiederholungsfragen zum 6. Schritt: 1. Was bedeutet BATNA und welche Funktion hat diese im Hinblick auf die gefundene (mögliche) Lösung? Welche Alternativen prüfen Sie im Regelfall im Rahmen der BATNA? 2. Warum ist die BATNA als Entscheidungskriterium gegenüber einer von der Verhandlung festgelegten Ober- und Untergrenze vorzuziehen?

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5. Teil Verhandlungsführung

7. Schritt Visionen: Entwickeln Sie eine gemeinsame Vision für die Parteien – und verstärken Sie die Lösungen auf einer höheren Ebene! Dieser Schritt ist dann wichtig, wenn die Parteien auch zukünftig miteinander in Beziehung stehen und das Verhandlungsergebnis eine Zukunftsperspektive hat. Wenn es nur darum geht, „den vorhandenen Kuchen zu teilen“ und sich dann friedlich zu trennen, macht dieser Schritt keinen Sinn. Was aber versteht man darunter, eine gemeinsame Vision für die Parteien zu erzeugen? Dauerhafte Lösungen erfordern im Regelfall, dass man als Partei nicht nur miteinander ein gemeinsames Handeln vereinbart. Dieses Handeln braucht ein Fundament und ein solches legt man, indem man gemeinsame Visionen auf der Ebene der Werte, der Identität oder der Zugehörigkeit schafft. Eine berufliche Zusammenarbeit, die sich beispielsweise nur auf die Einsparung von Kosten beschränkt, ist gefährdeter als eine Kooperation, die eine gemeinsame Vision verwirklicht, wie beispielsweise Marktführer auf einem bestimmten Gebiet zu werden oder die Einführung bestimmter Verfahren in Europa zu verwirklichen. Gemeinsame Visionen der Vertragsparteien festigen das gefundene Verhandlungsergebnis und verleihen ihm Dauer. Denken Sie an unseren Fall „Die Schöne in der Ostsee“: Wie könnte eine gemeinsame Vision für den Fotografen und die Autorin gefunden werden? Stellen Sie sich vor, die Autorin und der Fotograf machen einen Spaziergang und erörtern dabei ihre Zukunftspläne. Welche Funktion erfüllt das gemeinsame Schreiben eines Buches? Muss es denn nur ein Buch sein? Wie könnte man sich mit diesen Büchern auf einem Teilgebiet als Marktführer etablieren? Passen diese Ideen in das Leben der Parteien? Welche Werte verbinden sie? Wozu fühlen sie sich zugehörig? War das Buch über Rügen nicht nur ein Zufall, vielleicht, weil sie Menschen sind, die sich ausgeprägt als Norddeutsche fühlen? Nehmen wir einmal an, die beiden hätten diese Fragen durchgesprochen und dann folgenden Plan beschlossen: Als typische Norddeutsche empfinden Sie das Land an Nord- und Ostsee als ihre Heimat. Sie halten sich besonders gern auf den Inseln dieser Meere auf, sie lieben den Wind, das ständig wechselnde Wetter und auch die Tatsache, dass es bei ihnen fast stets kälter ist als in Süddeutschland, macht ihnen nichts aus. Im Gegenteil. Sie sind von der Schönheit der Natur, vor allem auf den Inseln, begeistert. Sie sind beide konservativ in ihren Anschauungen. Sie werden die Schönheit aller Inseln in der deutschen Nord- und Ostsee in Bildbänden würdigen, die ihre unverkennbare Handschrift tragen werden. Unverwechselbar eben. Durch diese Tätigkeit möchten sie Marktführer im Bereich „Bücher über die Inselwelt Nord-/Ostsee“ werden.

Voll Vorfreude und Optimismus kommen sie von diesem Spaziergang zurück. Sie haben soeben eine gemeinsame Vision gefunden, die Motor ihrer zukünftigen Tätigkeit sein und die getroffene Vereinbarung festigen wird. 8. Schritt Abschluss: Schließen Sie eine bindende Vereinbarung – und konkretisieren Sie die Verhandlungsergebnisse! Wenn Sie Ihre Verhandlung gut vorbereitet, Wahrnehmung und Interessen geklärt und schließlich Optionen gefunden haben, wird sich irgendwann ein ausgewogenes Lösungspaket ergeben, mit dem alle einverstanden sind. Wenn alle dieses Paket akzeptiert ist, schreiben Sie das gemeinsam erarbeitete Ergebnis in Stichworten auf ein Flipchart und lassen Sie diese Lösung von allen Anwesenden unterschreiben. 188

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Kooperatives Verhandeln versus kompetitives Verhandeln

Das ist nämlich das Protokoll, das später nur noch ausformuliert wird. Dieses Protokoll ist bereits eine wirksame Vereinbarung, die in Stichworten niedergelegt ist. Aus den Punkten auf dem Flipchart können Sie dann eine juristisch einwandfrei formulierte Vereinbarung verfassen. Dabei zeigt sich oft, dass man bei der Einigung den einen oder anderen Punkt übersehen hat. Solche Punkte sind beispielsweise: – War der vereinbarte Preis brutto oder netto (mit oder ohne Mehrwertsteuer)? – Wer trägt die Kosten, die durch diese Einigung verursacht werden? – Für welchen Zeitraum soll die Vereinbarung gelten? – Wie kann man Dritte einbeziehen, deren Zustimmung notwendig ist? – Ist der Schadensersatz an die Gesellschaft oder den Gesellschafter zu zahlen? – Kann der Steuerberater das Ergebnis noch steuerlich optimieren? – … Diese Konkretisierungsarbeit ist die typische Arbeit des Juristen. Wenn die Parteien von Anwälten vertreten sind, werden sie diese Arbeit normalerweise übernehmen. Das sichert zwar die richtige Formulierung, löst aber nicht die bei der Umsetzung entstehenden Fragen. Je stabiler das gefundene Ergebnis ist und je mehr es durch eine gemeinsame Vision abgesichert ist, umso einfacher ist es, all diese Fragen zu lösen. Es gibt eine eherne Regel: Formulieren Sie die Vereinbarung so schnell wie möglich, am besten noch am gleichen Tag. Sehr oft ist nämlich der Kontakt der Verhandlungsparteien mit Personen, die an der Verhandlung nicht mitgewirkt haben, schädlich. Wenn Parteien das Verhandlungsergebnis zu Hause oder in ihrer Firma bekannt geben, wird man ihnen möglicherweise vorwerfen, nicht das Letzte herausgeholt zu haben. Je länger der Zeitraum zwischen Abschluss der Verhandlung und Konkretisierung des Ergebnisses durch eine ausformulierte Vereinbarung ist, umso größer ist die Gefahr, dass die Einigung wieder ins Wanken kommt. Seien Sie also schnell. Und nun noch ein Letztes: Viele Parteien, vor allem wenn sie juristisch versiert sind, wünschen sich das Verhandlungsergebnis in Form eines vollstreckbaren Titels. Wenn alle Parteien durch Anwälte vertreten sind, ist das kein Problem, dann können Sie einen Anwaltsvergleich gemäß §§ 796a bzw. 794 I Nr. 1 ZPO schließen, der zu einem vollstreckbaren Titel führt. Dieser Weg erzeugt keine zusätzlichen Kosten. Wenn die Parteien nicht durch Anwälte vertreten sind, können sie eine vollstreckbare notarielle Urkunde über das Verhandlungsergebnis erstellen lassen. Wenn Sie dann Ihr verhandeltes Resultat in eine juristisch einwandfreie Form gebracht haben und es so vor Ihnen auf dem Tisch liegt, wäre es vielleicht eine gute Idee, zum Hörer zu greifen und die andere Partei anzurufen, um sie zum Mittagessen einzuladen. Das ist gut für die Beziehungsebene und eine gute Beziehungsebene ist die Basis jeder guten Verhandlung. Denn wenn Sie weiter zusammen arbeiten wollen, werden Sie noch manche Verhandlung miteinander führen müssen. Ponschab

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5. Teil Verhandlungsführung

Wiederholungsfragen zum 8. Schritt: 1. Welche Regel gilt für die schriftliche Formulierung des Verhandlungsergebnisses in einer Abschlussvereinbarung? 2. Welche Möglichkeit gibt es, die Abschlussvereinbarung als vollstreckbare Urkunde auszufertigen, wenn die Parteien anwaltlich vertreten sind?

4.5. Schlussbemerkung Nun sind wir am Ende unserer Reise durch das Land der Verhandlungen. Sie hat sich auf die wichtigsten „Sehenswürdigkeiten“ konzentriert. Vieles blieb noch unbesprochen und wird sich erst erschließen, wenn Sie sich intensiv und längere Zeit mit der Materie beschäftigen. Jedenfalls genügt das, was Sie gelesen haben, als Grundausstattung für einen Ausflug in die Verhandlungslandschaft. Viel Erfolg bei Ihren Exkursionen!

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6. Teil Mediation Oder: Was ist Ihr Interesse? „Slow down – You move too fast.“ (Simon & Garfunkel)

1. Kapitel Was ist das Besondere an Mediation? Wie kann man jemandem nachhaltig die Eigenart der Mediation näher bringen? Ich könnte Ihnen etwa sagen, dass Mediation das Herausarbeiten der wirklichen Ziele der Konfliktparteien und die Generierung von Möglichkeiten ist, die die Parteien erreichen wollen und somit nichts anderes als das, was sie bis jetzt schon gelernt haben, also institutionalisierte Kommunikation. Ich könnte Ihnen aber auch sagen, dass Mediation Verhandeln mit einem neutralen Verhandlungshelfer ist oder ich könnte Ihnen die Kriterien schildern, die Mediation von anderen Konfliktlösungsformen abgrenzt und einiges zur Geschichte der Mediation erzählen. Doch würden Sie dadurch wirklich dem Wesen der Mediation näher kommen? Mediation erfordert hohe soziale Kompetenz. Wie alle anderen Schlüsselqualifikationen lernt man sie am besten, indem man erfahrenen Mediatoren bei ihrer Tätigkeit über die Schultern sieht. Wenn das nicht möglich ist, dann könnte ein Buch weiterhelfen, das die Tätigkeit des Mediators so genau wie möglich beschreibt und praktische Erkenntnisse an konkreten Fällen demonstriert. Unterstellen wir einmal, diese Prämissen für ein Mediations-Lernbuch seien richtig, dann wäre es wohl der beste Weg, gleich mit einem Fall zu beginnen…

1.1. War die Software fehlerhaft? Beispiel:1 Gisela Pach, die Geschäftsführerin eines großen Autoverleihers, der Firma Rent&Go (R&G) beauftragte im Juni des laufenden Jahres Harald Papp, den befreundeten Geschäftsführer der Firma SoftCom mit der Entwicklung einer Spezialsoftware für die Verwaltung des Fuhrparks. Die neue Software sollte auf Basis der bereits bei R&G vorhandenen Software weiterentwickelt werden. R&G versprach sich von der neuen Software Unterstützung bei der Lösung aller Fragen, die mit dem Einsatz der Fahrzeuge von R&G zusammenhängen, wie: – Wann ist welches Fahrzeug wo einsatzbereit? – Wie schaffe ich es, ein Fahrzeug, das in Husum bestellt wird, vom nächstmöglichen Ort aus zur Verfügung zu stellen (und es nicht etwa aus Berchtesgaden heranschaffen zu lassen)? – Wann müssen die Kfz gewartet werden?

1 Nach Haft, Yottwald, Duve und Ponschab.

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6. Teil Mediation – Wann stehen die einzelnen Fahrzeuge zum Verkauf an? – Wie groß ist der Bedarf für Neufahrzeuge? Wie so oft, wenn Freunde Geschäfte machen, waren die Vereinbarungen zwischen den beiden Partnern ziemlich unklar. SoftCom sprach von einem Zeitraum von „etwa einem Jahr“ (also Juni des nächsten Jahres) bis zum Vorliegen einer einsatzfähigen Software. Natürlich hatte man auch über die „Milestones“ gesprochen, die das Programm erfüllen sollte. Aber das vorhandene Pflichtenheft war denkbar ungenau. Alle gingen zunächst einmal davon aus, dass es schon klappen würde, denn man hatte ja gute Erfahrungen miteinander gemacht. Die Ergebnisse, die SoftCom nach 12 Monaten präsentierte, waren für R&G jedoch alles andere als zufrieden stellend. Von Einsatzfähigkeit des Programms konnte keine Rede sein. Es kam zwischen den beiden Geschäftsführern zu unerfreulichen Disputen, worunter deren freundschaftliche Beziehung erheblich litt. R&G hatte bereits 250.000 Euro bezahlt und SoftCom wollte noch weitere 200.000 Euro haben. Das brachte Gisela Pach völlig auf die Palme. Sie ließ sich einen Termin bei Rechtsanwalt Dr. Hartleiner geben Der tat, was er glaubte, als Anwalt in einem solchen Fall tun zu müssen: Er setzte eine Frist. Sein Schreiben lautete in Auszügen so: „… und erlauben uns, darauf hinzuweisen, dass Sie mit der Erbringung Ihrer Leistung längst in Verzug sind. Meine Mandantschaft setzt Ihnen hiermit eine letzte Frist von 3 Monaten bis zum 31.10. dieses Jahres. Sollten Sie bis dahin kein verwendungsfähiges Programm installiert haben, wird unsere Klientin vom Vertrag zurücktreten und Sie in vollem Umfang schadensersatzpflichtig machen. …“ Als Harald Papp diesen Brief erhielt, stieg sein Blutdruck in bisher ungeahnte Höhen. Von Freundschaft mit Gisela konnte jetzt gar keine Rede mehr sein. Ganz offensichtlich benutzte sie Dr. Hartleiner als Legionär, um ihre Aggressionen auszuleben. Wutschnaubend eilte Harald Papp zu seinem Anwalt Dr. Veither. Der verstand die emotionale Lage seines Mandanten und sagte: „Das ist ja unglaublich. Was für eine Frechheit! Warte nur, denen werden wir es zeigen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht!“ Gesagt, getan! Noch ehe die Sonne versank, hatte Dr. Veither ein beißendes Schreiben diktiert, das auszugsweise so lautete: „… und weisen wir Ihre Behauptung auf das Schärfste zurück. Angesichts der unklaren Vereinbarung, die Sie mit meiner Partei getroffen haben, kann es Ihnen in keiner Art und Weise gelingen, ein Verschulden meiner Mandantschaft oder gar einen Verzug schlüssig zu behaupten oder gar nachzuweisen. Meine Mandantin hat ordnungsgemäß gearbeitet und der Leistungsfortschritt bewegt sich innerhalb eines für derartige Projekte üblichen Zeitraums. Sollte es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen, wird es Ihrer Mandantschaft obliegen, darzutun, dass unsere Mandantin angeblich zugesagte Leistungen nicht ordnungs- und zeitgemäß erbracht hat. Darüber hinaus war das von Ihrer Partei als Basis zur Verfügung gestellte Programm derartig mangelhaft, dass unsere Mandantin zunächst erhebliche Zeit damit verbringen musste, es auf einen Stand zu bringen, der eine Weiterentwicklung überhaupt ermöglichte. Wir betrachten daher Ihre Fristsetzung als völlig unbeachtlich und fordern Sie hiermit auf, bis spätestens 15. Oktober dieses Jahres die zwischenzeitlich fällige Zahlung von 200.000 Euro auf eines unserer aufgeführten Konten zu überweisen. Abgesehen davon wird unsere Mandantin an dem inzwischen bereits fast einsatzfähigen Programm weiterarbeiten…“ Als dann Dr. Veither SoftCom um die Bezahlung eines „angemessenen Vorschusses“ bat, musste er allerdings feststellen, dass seine Mandantin in großen Liquiditätsschwierigkeiten steckte und auf die Zahlung der von R&G geforderten Summe dringend angewiesen war. Davon ließ er sich jedoch nicht beirren. Geld würde man sicher bei der Gegenseite holen können, denn das Gericht würde ja (so gut wie sicher!) in seinem Sinne entscheiden.

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Mediation – Besonderheiten

Können Sie sich vorstellen, wie diese Sache weiterging? Dazu braucht man eigentlich gar nicht viel Phantasie: Als nach Auffassung von R&G am 31.10. immer noch keine ordnungsgemäße Software vorlag, kündigte Dr. Hartleiner den Vertrag, da SoftCom nach seiner Meinung auch innerhalb der Nachfrist keine ordnungsgemäße Leistung erbracht hatte. Die ehemals freundschaftlichen Beziehungen waren, wie man sich unschwer vorstellen kann, völlig am Ende. Es ging nur noch um eine Frage, die das Recht entscheiden sollte: Muss R&G noch 200.000 Euro bezahlen oder nicht?

Durch die vorstehend geschilderte Art, das Problem „lösen“ zu wollen, eröffnet sich für beide Seiten zwingend der Weg zu Gericht. Um ihr Recht durchzusetzen, werden sie erhebliche Zeit und Kosten aufwenden. Natürlich könnten sie sich in einem Prozess immer noch vergleichen. Oft schließen Parteien in höherer Instanz einen Vergleich, den sie schon vor Beginn des Prozesses hätten schließen können. Vernunft ist eben eine Eigenschaft, die oft erst aus Erschöpfung oder Ermüdung geboren wird. Wenn man sich dann noch überlegt, was mit der Software im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung geschieht, zeigt sich erst die ganze Absurdität eines solchen Vorgehens: Die Software wird wertlos, denn sie veraltet, wird nicht mehr gepflegt und weiterentwickelt. Das ist, als ob Käufer und Verkäufer um die Qualität von Bananen streiten, während die Früchte verfaulen.2 Was haben diese Fälle gemeinsam? Am Ende eines solchen Streites geht es meist nicht mehr um die Lieferung der Ware, sondern darum, wer den Wertverlust zu tragen hat, der durch diese Auseinandersetzung erst entstanden ist. Einstige Gewinnchancen für beide Seiten werden zu gemeinsamen Verlustpositionen. Sieger ist derjenige, der weniger verliert.3,4 Was hat das aber alles mit Mediation zu tun? Auch erfahrene und gute Verhandler können in Sackgassen geraten. Dann schlägt die Stunde des Mediators. Wenn er ein kundiger Führer ist, kann er den verirrten und verwirrten Parteien den Weg aus dem Labyrinth ihrer festgefahrenen Verhandlung zeigen. Wie ein Mediator das machen kann, sollen Sie in diesem Beitrag erfahren. Lassen Sie uns aber zuvor überlegen, welche Arten von Konfliktlösungen es überhaupt gibt.

2 In einer Auseinandersetzung zwischen einem deutschen Unternehmen und dessen ausländischem Lizenznehmer ging es um die Berechtigung des Lizenznehmers zum Verkauf von hochmodischer Ware, deren Verkaufswert binnen eines Jahres um ca. 80 % fallen würde. Die Streitparteien ließen sich von mir als Mediator davon überzeugen, die im Lager liegende Ware, unabhängig vom Ausgang der Auseinandersetzung, sofort zu verkaufen, das Geld auf ein Treuhandkonto zu legen und dann „in Ruhe“ darüber zu streiten, wem das Geld zustehe. 3 Aus einer ähnlichen Situation stammt auch der berühmte Spruch des Königs Pyrrhus: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren!“ 4 Mediation ist allerdings nicht nur ein Allheilmittel für faulende Bananen, sondern für die meisten Fälle, in denen Verhandlungen in eine Sackgasse geraten sind.

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6. Teil Mediation

Wiederholungsfrage: Welche Wertverluste können den Parteien dadurch entstehen, dass wirtschaftliche Konflikte in einen Rechtsstreit eskalieren?

1.2. Wer hat Recht? Nehmen wir an, unser Ausgangsfall wäre zu Gericht gegangen. Das ist der Weg der Konfliktentscheidung durch einen Dritten, der Weg des Rechts in der Form der Anrufung eines öffentlichen Gerichtes, den wir entsprechend internationaler Gepflogenheiten als Litigation bezeichnen. Was ist die Eigenart des Gerichtsverfahrens? – Das Problem wird von den Parteien an den Richter delegiert. – Der Richter versucht, den Konflikt anstelle der Parteien zu lösen. – Das Problem wird in der Öffentlichkeit verhandelt. – Der Kosten- und Zeitaufwand ist erheblich. – Ein wesentlicher Schwerpunkt des Verfahrens liegt darin, herauszufinden, wer schuld ist, wer etwas falsch gemacht hat, etc. – Der Fokus liegt auf der Vergangenheit. – Es ist ein kompetitives Verfahren, das darauf ausgerichtet ist, Gewinner und Verlierer zu hinterlassen. – Der Verfahrensablauf wird nicht mehr von den Parteien gesteuert, vielmehr ist die Herrschaft über das Verfahren an einen Dritten (den Richter) abgegeben. – Der Dritte (Richter) wird nicht durch die Parteien bestimmt, sondern durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichtes. SoftCom könnte ohne die Zahlung von R&G den Ausgang des Gerichtsverfahrens nicht mehr abwarten, sondern müsste Insolvenzantrag stellen, was dann auch die Honorarforderungen des Dr. Veither ein trauriges Schicksal erleiden ließe. Andererseits müsste man wohl davon ausgehen, dass der Konkursverwalter angesichts der Chance, einen erheblichen Betrag zur Masse zu holen, den Prozess fortsetzen würde. Doch ein positives Ergebnis in diesem Prozess käme SoftCom und seinen Gesellschaftern ebenso wenig zugute wie dem Erblasser eine gewonnene Streitigkeit um seinen Nachlass. Was aber würde passieren, wenn die Parteien (beispielsweise, weil der SoftwareEntwicklungsvertrag es vorsieht) eine Schiedsgerichtsvereinbarung geschlossen, also den Weg der Arbitration gewählt hätten? Was wäre anders gegenüber dem Verfahren vor dem öffentlichen/staatlichen Gericht? – Die Parteien würden in einem von der Schiedsordnung bestimmten Verfahren den/die Schiedsrichter wählen, möglicherweise unter besonderer Berücksichtigung seines/ihres Sachverstandes auf dem Gebiet des IT-Rechts. – Die Verhandlung wäre nicht öffentlich.

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Mediation – Besonderheiten

– Es gäbe keine formellen Rechtsmittel, eine Berufung schiede also aus. Dadurch kann man im Regelfall rascher eine endgültige rechtskräftige Entscheidung herbeiführen. Die Praxis zeigt allerdings, dass die unterlegene Partei sehr oft versucht, im Verfahren über die Anerkennung des Schiedsspruchs vor dem zuständigen staatlichen Gericht oder über die Vollstreckbarerklärung so viele Einwendungen gegen die Gültigkeit des Schiedsspruchs vorzutragen, dass die Entscheidung über diese Einwendungen häufig die gleiche Zeit (gelegentlich auch mehr) beansprucht wie die Durchführung eines Berufungsverfahrens vor einem staatlichen Gericht. – Anders als bei einem öffentlichen Gericht kann man ein Schiedsgericht auch beauftragen, bei seiner Entscheidung nicht nur das Recht, sondern auch oder stattdessen die Gedanken der Billigkeit bei der Entscheidung zugrunde zu legen.5 – Internationale Vereinbarungen wie die New York Convention6 erleichtern die Umschreibung von Schiedssprüchen in nationale Titel und ermöglichen so eine Vollstreckung in mehr als 120 Ländern. Im Übrigen sind sich Litigation und Arbitration sehr ähnlich: – Auch bei einem Schiedsgerichtsverfahren liegt der Fokus auf der Vergangenheit; – Auch das Schiedsgerichtsverfahren ist ein kompetitives Verfahren. – Auch ohne Instanzenzug sind die Kosten für das Schiedsgerichtsverfahren hoch.7 – Wie das ordentliche Gerichtsverfahren ist das Schiedsgerichtsverfahren von den Parteien kaum beherrschbar, weil es sich aus ihrem Verfügungsbereich löst, wie ein Pfeil, der von der Sehne eines Bogens abgeschossen wurde. Wir sehen also: Rechtsentscheidungen sind die Entscheidungen eines Dritten. Die Parteien delegieren die Verantwortung für den Konflikt in einem kompetitiven, zeit- und kostenaufwendigen Verfahren an einen Dritten, der mit dem Blick auf die Vergangenheit entscheidet, welche der Parteien Recht hat. Wir nennen die Entscheidungsfindung im vorstehenden Sinne auch die juristische Methode.8 Hierbei geht es um ja oder nein, falsch oder richtig und um Fragen wie: Wer hat Recht? Wer ist schuld? Wer schuldet wem was aus welchem Rechtsgrund? Die Konfliktentscheidungsformen, in denen die juristische Methode verwendet wird, sind Litigation und Arbitration. Im vorliegenden Fall würde geklärt, ob R&G 200.000 Euro an SoftCom zahlen muss oder nicht. Was die eine Seite gewinnt, verliert die andere. Durch eine solche Lösung könnte R&G allenfalls erreichen, nicht zahlen zu müssen, ein gebrauchsfähiges Programm (sein eigentliches Ziel) würde das Unternehmen aber durch eine Gerichtsentscheidung nicht bekommen. Umgekehrt könnte SoftCom allenfalls 5 § 1051 Abs. 3 ZPO 6 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1957 7 Vgl. hierzu mit konkreten Berechnungen Ditges, Mediation und Rechtsstreit – ein Kostenund Effizienzvergleich, IPR 2/2005, S. 74; vgl. auch den Kostenrechner auf der Homepage des EUCON Europäisches Institut für Conflict Management e.V., www.eucon-institut.de. 8 Vgl. hierzu ausführlich Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation, S. 13 ff.

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6. Teil Mediation

Geld, nämlich höchstens 200.000 Euro erhalten, die Geschäftsbeziehung zu R&G wäre aber ein für allemal zerstört. Dafür zu sorgen, dass der Ruf von SoftCom erheblich leidet, dürfte spätestens nach dem Verfahren eines der vordringlichsten Anliegen von R&G sein. Die Gefahr dieses Weges ist es, dass am Ende beide Parteien als Verlierer dastehen. Welche Lösungsmöglichkeiten würden sich stattdessen ergeben, wenn die Parteien das Problem nicht an einen Dritten delegierten? Wenn die Parteien das Problem bei sich behielten und selbst lösten? Wenn sie also fragten: Wie können wir das Problem lösen? Statt: Wer hat Recht? Wiederholungsfragen zum Wesen gerichtlicher Konfliktlösung: 1. Was sind die Eigenheiten gerichtlicher Verfahren? 2. Worin unterscheiden sich Verfahren vor staatlichen Gerichten und Schiedsgerichten? 3. Wie lauten die Fragen, die Gerichte mit einem Urteil beantworten?

1.3. Was wollen die Beteiligten? Wenn die Parteien das Problem selbst lösen wollten, kämen sie zu den beiden anderen Konfliktlösungsarten, die wir als Negotiation (Verhandeln) und Mediation (Vermitteln) bezeichnen. Was die Eigenarten gerichtlicher oder schiedsgerichtlicher Entscheidungen sind, haben wir vorstehend geklärt. Mit Verhandeln beschäftigt sich der vorhergehende Beitrag dieses Buches. Wann aber setzen wir Mediation ein? Mediation bietet sich an, wenn Verhandlungen schwierig werden. Sie ist eine Verhandlung9, deren Besonderheit es ist, dass ein neutraler Dritter als Verhandlungshelfer hinzukommt. Er hat die Aufgabe, für Rationalität im Verhandlungsprozess zu sorgen und (Mit-)Verantwortung für das Verfahren zu übernehmen. Die Verantwortung für das Ergebnis bleibt allerdings allein bei den Parteien. Der Mediator entscheidet nicht. Die Mediation ist also ein informelles Verfahren, in dem ein neutraler Dritter – der Mediator – die Verhandlung zwischen den Parteien fördert, um – ohne eigene Entscheidung – mit den Parteien eine gemeinsame Lösung zu finden. Voraussetzung für erfolgreiche Negotiation und Mediation ist es, nach den Interessen der Parteien zu fragen, um dann Optionen für deren Verwirklichung zu suchen und zu finden. Wohin es in unserem Softwarefall gehen könnte, wenn er nach juristischer Methode „gelöst“ wird, haben wir bereits gesehen. Was aber könnte passieren, wenn die Parteien mit Unterstützung eines Mediators verhandelten? Wenn sie fragten: 9 Es wird in Mediatorenkreisen immer wieder übersehen, dass Mediation eine Verhandlung ist, allerdings in Begleitung kundiger Dritter. Der Unterschied zwischen Verhandlung und Mediation ist ähnlich wie zwischen einer Bergtour mit oder ohne Führer. Jede Bergtour setzt ein Mindestmaß an Fitness voraus. Über den Einsatz eines Bergführers wird man nachdenken, wenn dies zur Vermeidung von Risiken geboten erscheint, aber auch während der Tour, wenn sich die Wanderer verirrt haben. Manche Mediatoren scheinen jedoch den Touristen bereits an der Haustüre abholen und auch bei einfachen Wanderwegen begleiten zu wollen. Diese Tendenz führt zu einer Entmündigung der Klienten – allerdings auch zu einer Einkunftsquelle für Mediatoren.

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Mediation – Besonderheiten

Was wollen wir eigentlich? Dann würden sie herausfinden, dass R&G dringend ein gutes Programm für die Verwaltung ihres Fuhrparks braucht und SoftCom möglichst bald eine Geldspritze, um ihre Liquiditätsprobleme zu beheben. Es kommen völlig andere Ergebnisse zustande, wenn wir nicht fragen: Wer hat Recht? Wer hat welchen Anspruch? Sondern stattdessen: Wie können wir erreichen, dass R&G möglichst bald über ein gebrauchsfähiges Programm verfügt und SoftCom bald das nötige Geld bekommt? Welche Bedingungen müssten erfüllt sein, damit dies geschehen kann? Welche Lösungen gibt es, um diese Interessen zu verwirklichen? Wenn wir solche Fragen stellten, könnten folgende Ergebnisse herauskommen: 1. Gemeinsame Einschaltung eines neutralen Experten, um Klarheit über den Stand der Entwicklung zu bekommen. 2. Rasche Entwicklung der Basisvariante eines Programms, das auf allen wichtigen Gebieten die Bedürfnisse des Auftraggebers sicherstellt. 3. Gründung einer gemeinsamen Gesellschaft (Auto Data GmbH), in die SoftCom sämtliche Nutzungsrechte an ihrer Softwareentwicklung einbringt, während andererseits R&G durch eine Geldeinlage die wirtschaftliche Existenz dieser Firma sichert. 4. Beauftragung der Auto Data GmbH durch beide Parteien, das Programm fertig zu entwickeln und nach einer entsprechenden Weiterentwicklung an Unternehmen mit ähnlich gelagerten Problemen (z. B. Fuhrparkverwaltung von Versandhäusern und Kaufhäusern oder Beförderungsunternehmen) zu vertreiben. Wodurch unterscheiden sich nun diese Lösungen, die durch Verhandlung und Mediation erzielt werden, von dem Verfahren der Litigation und Arbitration? Die Besonderheiten der Lösungen durch Verhandlung/Mediation sind folgende: – Das Problem bleibt bei den Parteien. – Die Öffentlichkeit ist (wie bei Arbitration, anders als bei Litigation) ausgeschlossen, es herrscht volle Diskretion. – Die Parteien sparen Zeit10 und Kosten11. Unter Kosten sind nicht nur Gerichtsund Anwaltskosten zu verstehen, sondern besonders auch die Kosten, die innerhalb eines Unternehmens für die Durchführung eines Prozesses entstehen (Transaktionskosten). Diese sind teilweise ganz erheblich, wenn sich beispielsweise viele Personen im Unternehmen damit beschäftigen, die erforderlichen Beweise zu beschaffen, statt die Aufgaben zu erledigen, die in ihrer Stellenbeschreibung stehen.

10 Die Mediation im Fall Rent & Go dürfte kaum länger als einen Tag dauern. Die Sitzung könnte in einem Zeitraum von zwei bis vier Wochen nach Auswahl des Mediators durchgeführt werden. 11 Siehe Fn. 8.

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6. Teil Mediation

Nachfolgende Grafik soll zeigen, dass die Mediation aber bereits bei reiner Betrachtung der Verfahrenskosten (Kosten von Mediator und Rechtsanwälten) erhebliche Vorteile gegenüber den gerichtlichen Verfahren aufweist. Kosten des Verfahrens € Ordentliches Gericht (1. und 2. Instanz)

325.000 300.000

Schiedsgericht

175.000 150.000 125.000

Mediation mit Anwälten

100.000 75.000 50.000

Mediation ohne Anwälte

25.000

€ 0,5 1

1,5 2

2,5 3

3,5 4

4,5

5,0 Mio. Streitwert

© Dr. Reiner Ponschab

– Der Fokus liegt auf der Zukunft (unter Berücksichtigung von Vergangenheit und Gegenwart). – Verfahren und Ergebnis werden von den Parteien bestimmt. – Die Ergebnisse berücksichtigen die Interessen der Parteien. – Die Beziehungen zwischen den Parteien werden geschont. – Die rasche Lösung gibt den Parteien Planungssicherheit durch die umgehende Beseitigung der Ungewissheit über das Ergebnis der Konfliktlösung. Wiederholungsfragen zum Wesen einvernehmlicher Konfliktlösung: 1. Was sind die Besonderheiten einvernehmlicher Konfliktlösung? 2. Welche Frage liegt dieser Art der Konfliktlösung zugrunde? 3. Was ist eine Mediation? Was unterscheidet Mediation und Verhandlung?

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Mediation – Besonderheiten

1.4. Was ist der richtige Weg der Konfliktlösung?12 Das, was Sie bisher gelesen haben, könnte man so zusammenfassen: 1. Parteien können entstandene Konflikte gemeinsam lösen oder durch einen Dritten entscheiden lassen. 2. Die gemeinsame Lösung durch die beteiligten Parteien erfolgt durch Verhandlung oder Mediation. 3. Die logische Fortsetzung schwieriger oder gar gescheiterter Verhandlungen ist die Mediation und nicht, wie oft angenommen wird, das Gerichtsverfahren. 4. Gemeinsame Lösungen können interessenorientiert sein, können aber auch auf der Annäherung von kompetitiven Positionen beruhen, wenn es wie bei der Basarverhandlung13 nur ums Geld geht. 5. Die Entscheidung durch einen Dritten ist dann erforderlich, wenn Verhandlung und Mediation nicht das gewünschte Ergebnis gebracht haben oder nicht bringen können. Wann bringt die Mediation nicht das gewünschte Ergebnis? Stellen Sie sich beispielsweise folgende Fälle vor: – Der Kunde einer Bank beruft sich darauf, dass eine bestimmte Formulierung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam ist. In solchen Fällen besteht die Notwendigkeit, diese Frage, die für viele andere Kundenbeziehungen Bedeutung hat, verbindlich zu klären. Ein Bedürfnis nach Entscheidung besteht also bei klärungsbedürftigen Grundsatzfragen. – Der Geschäftsführer eines Unternehmens stellt bei der morgendlichen Zeitungslektüre fest, dass ein Konkurrent unlauter wirbt. Hier hat er keine andere Wahl als sofort, also noch am selben Tag, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um eine einstweilige Verfügung auf Unterlassung dieser Werbung zu erreichen. Gerichtliche Hilfe ist also auch immer dann erforderlich, wenn es um Eilsachen geht. – Ein großes Unternehmen setzt seine ganze wirtschaftliche Kraft ein, um einem jungen Unternehmen den Marktzugang zu versperren, weil es fürchtet, dass das dort vorhandene Know-How zu einer Überlegenheit auf einem bestimmten Marktsegment führen könnte. Auch hier wird vermutlich, wie bei den meisten Fällen von Machtungleichgewicht, die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe das angebrachte Mittel sein. – Einer Partei ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit von dem Konflikt erfährt, so beispielsweise, wenn Sie durch das Verfahren Genugtuung für erlittene Unbill suchen. Warum aber wollen viele Menschen auch in vielen anderen Fällen die Auseinandersetzung vor Gericht? Warum gehen Sie einen teuren, langwierigen Weg, indem sie die Lösung ihres Konflikts in die Hände anderer legen?

12 Vgl. hierzu die Entscheidungshilfe in Anlage 1. 13 Vgl. Beitrag Verhandlungsführung, 4.2.

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6. Teil Mediation

Die Ursachen für dieses irrationale Verhalten sind noch nicht hinreichend erforscht. Folgende Gründe könnten aber maßgeblich sein: – Die tausende von Jahren alte Übung der Menschen, Konflikte durch Kampf statt durch Vernunft zu lösen. Was so lange eingeübt ist, lässt sich nicht ohne weiteres aufgeben. Vor Gericht kann man kämpfen, hier findet der „Kampf ums Recht“14 statt. Das Gericht bietet Ersatz für den physischen Kampf, der rechtlich verboten ist. – Die Überzeugung jeder Partei, sie sei im Recht und müsse daher auch Recht bekommen. – Die falsche Einschätzung von Zeit und Kosten, die in einem solchen Prozess von den Parteien aufzuwenden sind. – Der emotionale und irrationale Wunsch, es der anderen Seite einmal „richtig zu zeigen“. – Entscheidungsschwächen im Management von Unternehmen und der damit zusammenhängende Wunsch, das Problem auf andere zu verlagern. – Die relativ zügige, preiswerte Arbeit der Gerichte im deutschen Sprachraum. – Vor allem aber wohl mangelnde Information über Möglichkeiten außergerichtlicher Konfliktlösungen. Doch scheinen Berater, die besonders intensiv mit Konflikten befasst sind, also Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater, umzudenken. Die Stimmung unter den Anwälten zeigt, dass sie sich mehr und mehr als professionelle Konfliktlöser verstehen.15 Auch die Unternehmen beginnen zunehmend, sich diesen Fragen zuzuwenden, und sogar die Gerichte haben die Mediation als „gerichtsinterne Mediation“ entdeckt, indem sie in verschiedenen Bundesländern den Prozessparteien neben gerichtlicher Entscheidung eine Mediation anbieten.16 Es scheint also, als begänne die sich alternative Konfliktlösung, die „Sleeping Beauty“ unserer Streitkultur, zu räkeln. Wiederholungsfragen zum richtigen Weg: 1. Wann ist es empfehlenswert/nötig, ein Gericht zur Lösung eines Konfliktes anzurufen? 2. Welche Gründe könnten maßgebend sein, dass auch andere Fälle vor ein Gericht gebracht werden?

14 So lautete der bekannte Vortrag von Rudolf von Ihering vor der Wiener Juristischen Gesellschaft aus dem Jahr 1872. In einer Vorrede wies er darauf hin, dass die mutige und standhafte Behauptung des Rechtsgefühls die Gesinnung sei, aus der das Recht seine letzte Kraft schöpfe. 15 So hatte beispielsweise die vom Deutschen AnwaltVerein im Mai 1998 gegründete Arbeitsgemeinschaft für Mediation innerhalb weniger Wochen mehr als 200 Mitglieder. Inzwischen ist ihre Zahl auf über 500 angewachsen. Das im Februar 2004 in Berlin abgehaltene „DAV-Forum Mediation“ zog über 400 Zuhörer an (vgl. Tagungsbericht in NJW – aktuell, Heft 13/2004 S. 4). 16 Vgl. hierzu die Website des BMJ zu diesem Thema unter: http://www.bmj.bund.de/enid/ Mediation_/_aussergerichtliche_Streitbeilegung/Gerichtsnahe_Mediation_in_den_ Bundeslaendern_p4.html.

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Mediation – Besonderheiten

1.5. Wie bringt der Mediator die Parteien zur Einigung? Wenden wir uns nun folgenden Fragen zu: Welche Rolle spielt der Mediator? Welche Mediationsstile gibt es? Lassen Sie uns das anhand des folgenden Falles klären: Auf dem Gelände des Unternehmens Tiefbrunn AG befindet sich ein Wohnhaus, das der Unternehmensgründer errichtet und bewohnt hatte. Es steht schon seit mehr als hundert Jahren auf dem Firmengelände und wird gegenwärtig von Frau Schock, der Witwe des inzwischen verstorbenen Hausmeisters, bewohnt. Dem Unternehmen liegt ein Angebot eines anderen Unternehmens vor, einen Teil des Grundstückes zu erwerben. Das einzige Problem besteht darin, dass sich auf diesem Grundstücksteil das von Frau Schock bewohnte Haus befindet. Mehrere Angebote an sie, das Haus zu räumen und dafür eine angemessene Ersatzwohnung zu erhalten, sind fehlgeschlagen. Inzwischen hat sie auch einen Anwalt aufgesucht, der sie in ihrer Haltung, das Haus nicht zu verlassen, aus rechtlichen Gründen bestärkt hat. Es findet eine Mediation zwischen dem Vertreter des Unternehmens, Herrn Just (Leiter der Grundstücksabteilung), und Frau Schock statt.

Es gibt wohl nicht den einzig richtigen Stil der Mediation, sondern verschiedene Möglichkeiten, als Meditor mit den Parteien eine einvernehmliche Lösung zu suchen. Riskin hat die Vielfalt der Mediationsstile an seinem „Modell der Mediationsstile“17 deutlich gemacht: umfassend Umfassende Beurteilung des gesamten Problemfeldes

Umfassende Moderation des gesamten Problemfeldes

Beurteilung des konkreten Problems

Moderation des konkreten Problems

eng Beurteilend

Moderierend

Mediationsstile (nach Leonard Riskin)

Dieses Modell lässt an der X-Achse ablesen, ob ein Mediator beurteilend vorgeht, indem er also eigene Bewertungen einfließen lässt, oder ob er ohne die Äußerung eigener Meinungen nur moderierend tätig wird. Beide Mediationsstile kommen

17 Riskin, a. a. O., S. 19 ff.

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6. Teil Mediation

vor und es gibt kein zwingendes „Gesetz“, das die eine oder andere Art als allein richtig ansieht. Bei Mediationsfällen, die aus der juristischen Sphäre kommen und bei denen Anwälte mitwirken, wird oft vom Mediator auch eine eigene Stellungnahme gewünscht. Ein geschickter Mediator wird eine Stellungnahme aber nicht in Form einer konkreten Beurteilung abgeben, sondern meistens in Form von kritischen Fragen, wie beispielsweise (im Hinblick auf einen möglichen Prozess): – Wie sicher sind Sie, dass Sie einen Prozess gewinnen werden? – Worauf stützen Sie diese Meinung, haben Sie hierzu schon bestimmte Präjudizien gefunden? – Wie sicher sind Sie, dass Sie die von Ihnen vorgetragenen Tatsachen auch beweisen können? – Wie beurteilen Sie die Rechtsmeinung, die genau den entgegengesetzten Standpunkt vertritt? – Sind Sie sicher, dass Sie im Falle eines Prozessgewinns einen Titel auch erfolgreich vollstrecken können? – Haben Sie schon einmal überlegt, welche Verluste durch einen jahrelangen Rechtsstreit bei Ihnen eintreten können, einerseits durch Prozesskosten, andererseits durch Beschäftigung Ihrer Mitarbeiter mit der Vorbereitung und Begleitung des Prozesses? Solche Fragen werden viel eher von Parteien akzeptiert als direkte Kritik. Noch widerstandsfreier kann der Mediator möglicherweise dadurch Nachdenklichkeit erzeugen, dass er von Dritten erzählt, denen genau das Gleiche widerfahren ist und die das Problem in einer bestimmten Art gelöst haben, also etwa: „Neulich hatten wir einen fast identischen Fall, da haben sich die Parteien für folgende Lösung entschieden… Könnte das Sinn für Sie machen?“ Auf jeden Fall wird wohl jeder erfahrene Mediator die Schwächen der jeweiligen Position mit den Parteien in Einzelsitzungen besprechen, in Gegenwart der anderen Partei (des „Gegners“) ist im Regelfall keine Partei bereit, Schwächen der eigenen Position zuzugeben. Die Y-Achse der Grafik unterscheidet, ob ein Mediator das von den Parteien vorgetragene Problem eng, also begrenzt auf die Schilderung der Parteien, oder umfassend, also unter Einbeziehung des Problemumfeldes, behandelt. Wenn man nun die zwei Achsen zusammen sieht, dann ergeben sich im Rahmen dieser schematischen Betrachtungsweise vier Grundrichtungen von Mediationsstilen, dargestellt durch die vier Quadrate in der vorstehenden Grafik. – Beurteilung des konkreten Problems Das ist die klassische Vorgehensweise des Juristen in seiner täglichen Arbeit. Der Mediator würde in einem derartigen Fall die von den Parteien vorgetragenen Sachoder Rechtsfragen erörtern, beurteilen, den Parteien und deren Vertretern seine Sichtweise erläutern und ihnen dadurch möglicherweise einen geeigneten Lösungsvorschlag unterbreiten. Ein solcher Mediationsstil hat allerdings den Nachteil, dass der Mediator durch die enge Begrenzung auf das vorgetragene 202

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Mediation – Besonderheiten

Rechts- und Sachproblem eher einem Richter ähnelt, der ein (gutes!) Vergleichsgespräch mit den Parteien führt. In unserem Fall „Witwe Schock“ hätte ein Mediator als Vertreter dieses Mediationsstiles die Parteien zunächst ihre Sichtweise vortragen lassen und anschließend mit ihnen über die rechtlichen Aussichten eines Räumungsprozesses und über die mögliche Durchsetzung eines eventuellen Titels diskutiert. Typisch für diesen Mediationsstil ist es auch, dass der Mediator auf Wunsch der Parteien ein Gutachten zur Lösung von bestimmten Rechtsfragen erstellt. – Moderation des konkreten Problems Ein Vertreter dieses Stils diskutiert das Problem, wie es von den Parteien vorgetragen wird, enthält sich aber jeder eigenen Beurteilung oder Stellungnahme. Er wird stattdessen allenfalls die Positionen der Parteien durch Fragen klären. Im „Witwe Schock“-Fall hätte sich das wohl so ausgewirkt, dass der Mediator das vorgetragene Problem mit den Parteien besprochen und dabei versucht hätte, die Grenzen jeder Partei im Hinblick auf ihre Leistungsbereitschaft auszuloten, etwa, indem er festgestellt hätte, welchen Betrag die Tiefbrunn AG bereit ist, zu zahlen, oder welche Anforderungen Frau Schock an eine Ersatzwohnung stellt. – Umfassende Beurteilung des gesamten Problemumfeldes Bei dieser Variante wird der Mediator zwar wieder beurteilend wie bei der ersten Alternative tätig, aber dieses Mal bezieht er das gesamte Problemumfeld ein. Er würde sich also nicht allein auf die Frage beschränken, welche Rechtsauffassung zur Frage einer Kündigung richtig ist, sondern durchaus eine Lösung erarbeiten, die Rücksicht auf das gesamte Problem nimmt. Er würde z. B. zu klären versuchen, wann der Auszug zu welchen Konditionen, etc. zu erfolgen hat. Entscheidend für diese Vorgehensweise ist allerdings, dass der Mediator selbst auf eine derartig umfassende Lösung hinwirkt oder den Parteien auf diesem Weg folgt. – Umfassende Moderation des gesamten Problemumfeldes Bei dieser Vorgehensweise versucht der Mediator, die Beteiligten dazu zu bringen, das gesamte Umfeld des Konfliktes in ihre Verhandlungen einzubeziehen. Dadurch kann es häufig gelingen, „den Kuchen größer zu machen“ und Bereiche einzubeziehen, die nicht unmittelbar mit dem zentralen Problem des Konfliktes zu tun haben. So könnte beispielsweise die Witwe Schock, die an Asthma leidet, neben der Finanzierung des Umzugs das Recht erhalten, sich regelmäßig in dem Erholungsheim der Tiefbrunn AG an der Nordsee aufzuhalten. Wenn Sie diese vier verschiedenen Mediationsstile betrachten, so werden Sie mit Recht vermuten, dass sie in dieser typisierten „Reinform“ in der Wirklichkeit kaum vorkommen. Die meisten Mediatoren werden keine reinen Vertreter eines einzigen der vorgenannten Idealstile sein, sondern mit einer Mischung aus diesen Stilen ihre Fälle mediieren. Durch diese Stilanalyse sollten wir uns aber bewusst werden, dass wir, wenn wir als „Fachleute“ auftreten, dazu neigen, die Lösung der Probleme zu übernehmen und uns im Bereich des „beurteilenden“ Mediationsstils zu bewegen. Auch müssen wir wissen, dass die meisten Parteien und deren AnPonschab

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6. Teil Mediation

wälte bei der Wirtschaftsmediation davon ausgehen, dass der Mediator – den man sich oft bewusst als Sachkenner aussucht – mit eigenen Vorschlägen aufwartet und dadurch die Funktion einer Autoritätsperson übernimmt. Oft üben die Parteien dadurch Druck aus, dass sie die Meinung des Mediators als Fachmann hören möchten. Diesem Druck muss der Mediator freundlich und gelassen widerstehen, denn sonst findet er sich plötzlich in der Rolle dessen wieder, der die Verantwortung für die Lösung trägt. Wiederholungsfragen zu den Mediationsstilen: Welcher der genannten Mediationsstile gefällt Ihnen am besten und wie würde das Vorgehen nach diesem Stil etwa aussehen? Bei dieser Frage lohnt es sich, sich mit einem Partner zusammenzusetzen, um sich wechselseitig bei der Erörterung des favorisierten Mediationsstiles zu helfen.

2. Kapitel Wie bereite ich eine Mediation vor? 2.1. Eignet sich der Fall für die Mediation? Viele Autoren versuchen, Kriterienkataloge aufzustellen, an denen sich die Eignung eines Falles für die Mediation ablesen lassen soll. So werden beispielsweise genannt: – Gemeinsame Zukunft – Hohe Komplexität – Vertraulichkeit – Hohe Emotionalität – Grenzüberschreitende Sachverhalte Problematisch bei diesen Einteilungsversuchen ist aber, dass „viele Konflikte, die bei einer schematischen Prüfung anhand der üblicherweise formulierten Kriterien sicher „durchgefallen“ wären, erfolgreich im Wege der Mediation beigelegt werden konnten“.18 Ich habe mehrmals bei einem amerikanischen Mediator19, der inzwischen schon über 4.000 Mediationen durchgeführt hat, hospitiert. Ein großer Teil der Fälle wird ihm von einem Gericht zugewiesen und fällt in keine der genannten Kategorien von „mediationsgeeigneten“ Konflikten, wird aber trotzdem zufriedenstellend durch Mediation gelöst. Dabei zeigt sich auch, dass Mediation selbst in kompetitiven Fällen hervorragende Ergebnisse erzielen kann, wenn der Mediator die Rolle des „Wächters der Rationalität“ in einem irrationalen Umfeld übernimmt.

18 Hacke, in: Duve, S. 284: Hacke führt als Beispiel hierfür den in Kapitel neun des Buches näher beschriebenen Mediationsfall AGIV AG gegen Hollandsche Beton Groep N. V. (HBG) auf, bei dem die Parteien eben keine gemeinsame Zukunftsgestaltung beabsichtigen, sondern lediglich eine Auseinandersetzung. 19 Peter Grilli aus Tampa, Florida

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Mediation – Vorbereitung

Es erscheint daher besser, davon auszugehen, dass sich grundsätzlich alle Konflikte für die Mediation eignen, soweit nicht ein zwingender Grund zur gerichtlichen Entscheidung dieses Konfliktes gegeben ist.20 Es ist also nicht so, dass die Mediation nur in Fällen angewendet werden kann, bei denen die Parteien eine gemeinsame Zukunft haben21. Das sind sicherlich die Fälle, in denen die Mediation ihr ganzes Repertoire entfalten kann. Doch Mediation wirkt auch dann, wenn es den Parteien nur darum geht, sich auseinanderzusetzen. Das haben Donald und Ivana Trump mit Hilfe des Mediators getan, als sie bei ihrer Scheidung ihr Vermögen mit dem so genannten Adjusted-Winner-Verfahren aufteilten22. Mediation kann also auch in Fällen ohne gemeinsame Zukunft der Parteien ein effektives Mittel zur Beilegung von Konflikten sein. Hierbei liegt naturgemäß der Schwerpunkt auf dem Einsatz distributiver Methoden, die von keiner Seite beeinflussbar sind und eine faire Auseinandersetzung ermöglichen (z. B. neutrale Verfahren oder Standards).23

2.2. Wie komme ich an den richtigen Mediator? Bevor wir dazu kommen, einen Mediator auszuwählen, müssen die Parteien natürlich bereit sein, überhaupt eine Mediation durchzuführen. Das ist relativ einfach, wenn die Parteien schon im Vertrag für den Fall eines ungelösten Konfliktes die Durchführung einer Mediation vereinbart haben24. Wenn aber die Parteien weder eine Mediationsklausel haben noch ihnen von dritter Seite die Mediation empfohlen wurde, ist es oft sehr schwierig, vom Streit zur Mediation zu kommen, so dass der Weg meist zum Gericht führt. Das liegt vor allem daran, dass viele Parteien die Mediation noch nicht oder nur unzureichend kennen und daher erhebliches Misstrauen gegenüber einem Mediationsverfahren haben, insbesondere dann, wenn dieser Vorschlag von der Gegenseite kommt. Zunächst befürchtet eine Partei, die eine Mediation vorschlägt, dass sie von der anderen Seite deswegen als „schwach“ angesehen werde und der Eindruck entstehen könnte, sie sei bereit, nachzugeben. Überwindet eine Seite diese mentale Hürde und macht trotzdem der anderen Seite den Vorschlag zur Mediation, so kann dies andererseits auch erhebliches Misstrauen erwecken, vor allem dann, wenn die andere Seite das Verfahren der Mediation nicht kennt. Verschiedene Stu-

20 Zur Unterstützung der Entscheidung über den richtigen Weg vgl. Anlage 1, am Ende dieses Kapitels und S. 199. 21 Vgl. Beitrag Verhandlungsführung, 4.3, 7. Schritt. 22 Die Adjusted-Winner-Methode ist ein Weg, um Güter neidfrei zwischen zwei Personen oder Gruppen aufzuteilen. Die Streitobjekte werden von beiden Seiten mit Punkten gemäß ihrer subjektiven Bedeutung für die jeweilige Partei bewertet und anhand dieser Einschätzung verteilt. Zum Ausgleich des unterschiedlichen Punktestandes werden dann Objekte oder Teile davon von der einen Partei an die andere Partei übergeben als sonst ausgeglichen (adjusted). 23 Fischer/Ury/Patton, a.a.O, bezeichnen diese Methode als faire Verfahrensweise und zitieren unter anderem die uralte Methode, wie man ein Stück Kuchen zwischen zwei Kindern teilen kann: Ein Kind zerschneidet den Kuchen, das andere darf sich ein Stück auswählen. Dadurch ist im Regelfall eine exakte Gleichbehandlung gesichert. Vgl. auch Beitrag Verhandlungsführung, 4.3., Schritt 5 sowie unten 3.4. 24 Vgl. hierzu Anlage 2, S. 244.

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dien, von denen Moore25 berichtet, haben gezeigt, dass die Ablehnungsrate solcher Vorschläge durch die andere Partei bei etwa 50 % liegt. Wenn man sich diese Unsicherheiten bei der Überleitung von Verhandlungen in ein Mediationsverfahren vor Augen führt, scheint es nur eine Möglichkeit zu geben, diese zu beseitigen: Die Einschaltung einer neutralen Stelle, die über das Mediationsverfahren aufklären und den Parteien dabei helfen kann, einen Mediator zu finden. Ein solches Verfahren wird beispielsweise von EUCON Europäisches Institut für Conflict Management e. V. (früher gwmk)26 allen Parteien angeboten, die in ihren Verhandlungen nicht weiterkommen und eine gemeinsame Beratung über alternative Konfliktlösungsverfahren wünschen. Da ein Mediator als neutraler Dritter die Verhandlung zwischen den Parteien unterstützen soll, ist es problematisch, wenn eine Seite den Mediator vorschlägt. Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Partei des Konfliktes und die andere Seite sagte Ihnen sinngemäß: „Ich denke, wir sollten Herrn Vorländer als Mediator nehmen.“ Wie würden Sie reagieren? Vermutlich wären Sie sehr misstrauisch und würden vermuten, dass Herr Vorländer mit der anderen Seite „unter einer Decke steckt“. Dieser wäre durch den Vorschlag gewissermaßen „verbrannt“. Konfliktsituationen zwischen Parteien führen nämlich im Regelfall zu einer reaktiven Abwertung der Vorschläge und Äußerungen der anderen Seite, mögen sie auch durchaus konstruktiv gemeint sein. Auf Grund der Konfliktsituation vermutet jede Partei, dass das Verhalten der anderen Seite für deren Sache gut und für die eigene schlecht sei. Wenn sich also die Parteien auf einen bestimmten Mediator einigen können und dieser auch nicht durch eine Mediationsklausel bestimmt wird, dürfte es das Beste sein, eine neutrale Institution einzuschalten, die bei der Auswahl eines geeigneten Mediators unterstützt. Diese unabhängige Beratung kann sowohl das Misstrauen gegenüber dem vorgeschlagenen Mediator als auch die mangelnde Kenntnis über das Mediationsverfahren beseitigen. Beides sind wohl die Hauptursachen für die Zurückhaltung gegenüber Mediationen.

2.3. Anforderungen an den Mediator Übung: Nehmen Sie an, Ihnen würden zur Lösung eines Konfliktes drei verschiedene Mediatoren vorgeschlagen. Wie würden Sie Ihre Auswahl treffen, welche Kriterien wären für Sie maßgeblich? Um Ihnen die Wahl zu erleichtern, finden Sie nachfolgend einige Kriterien, die für Ihre Entscheidung eine Rolle spielen könnten: – Alter – Geschlecht – Fachwissen – Sprachkenntnisse – Interkulturelle Erfahrungen

25 Moore, a. a. O., S. 82 ff. 26 www.eucon-institut.de.

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Mediation – Vorbereitung

– Kommunikative Fähigkeiten – Neutralität – Vertrauenswürdigkeit – Prozesskompetenz als Mediator/Erfahrung – Mediationsstil (Ist der Stil des Mediators eher direktiv/evaluativ oder überlässt er das Geschehen mehr den Parteien (faszilitativ); ist der Mediator bereit, einen Einigungsvorschlag zu unterbreiten?) Prüfen Sie Ihre Auswahl bei folgenden Konflikten: 1. Kauf eines schadhaften Motorrads von Ihrem besten Freund. 2. Auseinandersetzung mit einem chinesischen Verlag, der einen Aufsatz von Ihnen ohne Genehmigung veröffentlicht hat. 3. Streitigkeit mit Ihrem Ex-Freund/Ihrer Ex-Freundin wegen Auflösung der gemeinsamen Wohnung (Ihr Partner hat Sie wegen eines neuen Partners verlassen). Es ist natürlich unterschiedlich, was Parteien bei der Auswahl des Mediators in die Waagschale werfen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die Parteien im Regelfall häufig mehr Wert auf Fähigkeiten wie Prozesskompetenz, kommunikative Kompetenz oder Mediationsstil legen als auf Fachwissen. Normalerweise haben die Parteien das erforderliche Fachwissen, während der Mediator vor allem die Aufgabe hat, den Mediations- und Kommunikationsprozess zu betreuen. Wiederholungsfragen zur Auswahl des Mediators: 1. Welche Gründe können dazu führen, dass eine Partei das Mediationsverfahren insgesamt oder einen von der anderen Seite vorgeschlagenen Mediator ablehnt? 2. Was können Parteien tun, die Schwierigkeiten haben, sich auf das Verfahren der Mediation oder auf einen Mediator zu einigen? 3. Auf welche Eigenschaften des Mediators legen die Mediationsparteien in der Regel besonderen Wert?

2.4. Was muss ich regeln, bevor die Mediation beginnen kann? – Die Mediationsklausel Der einfachste Weg zur Mediation ist eine Mediationsklausel in dem Vertrag, der die streitigen Rechtsverhältnisse regelt.27 Mediationsklauseln legen fest, dass nach dem Scheitern von Verhandlungen ein Mediationsverfahren durchzuführen ist. Erst nach dem Scheitern der Mediation können die Parteien Hilfe durch staatliche Gerichte oder Schiedsgerichte in Anspruch nehmen. Derartige Klauseln können ohne weiteres in Gesellschaftsverträge, allgemeine Geschäftsbedingungen etc. eingefügt werden. Besonders wichtig erscheint die Vereinbarung einer Mediation in internationalen Verträgen, um sich nicht einer fremden Gerichtsbarkeit auszuliefern. 27 Vgl. Anlage 2, S. 244; weitere Beispiele finden sich bei Hacke, a. a. O., S. 111.

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– Ad hoc-Vereinbarungen Ist keine Mediationsklausel vereinbart, müssen die Parteien sich einigen, eine Mediation durchzuführen. Das ist nicht immer leicht, wenn die Beziehung bereits Schaden genommen hat. – Die Mediationsvereinbarung28 Die Mediationsvereinbarung regelt zwischen den Parteien diejenigen Punkte, die für die Durchführung einer Mediation erforderlich und noch nicht in einer Mediationsklausel geregelt sind, also insbesondere: – Bestimmung des Mediators, – Voraussetzungen für die Beendigung der Mediation, – Mitwirkungspflichten der Parteien bei und nach der Einigung (z. B. notarielle Beurkundung). In Mediationsvereinbarungen können gleichzeitig auch die Vereinbarungen mit dem Mediator aufgenommen werden, beispielsweise: – Besondere Pflichten des Mediators, – Honorar des Mediators. Im Regelfall bezieht sich eine solche Vereinbarung auf eine bereits vorliegende Verfahrensordnung für die Mediation, wodurch sich der Umfang reduziert. Nachdem nun alle Regularien und Formalien geregelt sind, lassen Sie uns mit der Mediation beginnen!

2.5. Wie bereitet der Mediator die Mediation vor? – Informationen des Mediators Sicherlich kennen wir alle die Geschichten von König Salomo oder von anderen Weisen, die sich bei der Schlichtung eines Streites gerne den Sachverhalt von den Parteien vortragen ließen, um sich über den Konflikt zu informieren. Es fragt sich, ob dieses Verhalten auch für einen Medator im modernen Wirtschaftsleben angebracht ist. Was meinen Sie? Die Erfahrung zeigt, dass man diese Frage nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten kann. Bei einem Konflikt zwischen Geschäftsführern, der im Wesentlichen ein Beziehungskonflikt ist, wird sich der Mediator in einem Gespräch mit den betroffenen Parteien ausreichend informieren können.29 Wenn es sich dagegen um einen Konflikt mit komplizierter Sach- und Rechtslage handelt, wäre es nicht professionell, dass ein unvorbereiteter Mediator erst durch Befragung der Parteien versucht, den Sachverhalt zu erfahren. Er sollte sich bereits vor der Mediationverhandlung in die Materie einarbeiten. Aus den Vorinformationen ersieht der Mediator auch, welche Beteiligten an der Mediation teilnehmen sollten. Oft ist nämlich für eine wirklich abschließende Erledigung die Teilnahme weiterer Parteien erforderlich. In einem Schadensfall wird der Mediator im Regelfall neben Schädiger und 28 Vgl. Anlage 3, S. 246. 29 So auch Duve/Eidenmüller/Hacke, a. a. O., S. 102.

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Geschädigtem auch die Versicherung zu der Mediation einladen. Dadurch können sich die Vertreter der Versicherung ein wirkliches Bild über den Streitstand und über die Möglichkeiten, die geforderte Leistung berechtigterweise zu verweigern, verschaffen. Bei einer Auseinandersetzung zwischen Geschäftsführung und einem Mitarbeiter empfiehlt es sich häufig, dass ein Vertreter des Betriebsrates anwesend ist. Diese Personen werden nicht Partei der Mediation, können aber in sinnvoller Weise an der Erledigung des Streites mitwirken. All das kann der Mediator aber nur veranlassen, wenn er sich rechtzeitig über den Sachverhalt informiert. – Zahl der Teilnehmer Weiterhin ist mit den Parteien zu vereinbaren, wie wie viele Vertreter für jede Partei anwesend sein dürfen. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Fall, in dem eine Partei durch eine Person, nämlich den Geschäftsführer, vertreten wurde, während die andere Seite vier Personen schickte. Da beide Parteien sehr unter Zeitdruck standen, konnte die Verhandlung nicht verschoben werden. Dadurch, dass ich die Gefahr des „Missbrauchs der Überzahl“ offen ansprach, konnte das Problem gebannt werden. Eine Lehre war es mir trotzdem. – Anwesenheit von entscheidungsbefugten Personen Erforderlich ist auch, dass auf jeder Seite eine entscheidungsbefugte Person anwesend (oder zumindest jederzeit erreichbar) ist, damit die Mediation wirklich zu einem verbindlichen Ergebnis führen kann.30 – Organisation Eine weitere Vorbereitungshandlung ist die Organisation der Mediation. Im Wirtschaftsleben ist Zeit im Regelfall Mangelware und es empfiehlt sich daher, für eine Mediation von Anfang an einen Tag zu „blocken“. Danach lässt sich abschätzen, ob man schon zu einem Ende gekommen ist; ansonsten beschließt man eine Vertagung. Im Regelfall dauern Wirtschaftsmediationen zwischen einem halben Tag und drei Tagen. – Ort der Mediation Als Ort für die Mediation empfehlen sich Räume mit ruhiger, grüner Umgebung. Keinesfalls geeignet sind Räume ohne Fenster, Räume, die von Lärm umtost sind oder in denen die Teilnehmer ständig von eifrigen Sekretärinnen besucht werden, die Telefaxe und Unterschriftsmappen hereinreichen. Auch Top-Führungskräfte kommen dem begründeten Wunsch, sich in ruhiger und grüner Umgebung zu treffen, stets gerne nach. Bei großen Mediationen empfiehlt es sich auch, bereits am Abend vorher anzureisen, damit der Beginn der Mediation nicht von reisegestressten Teilnehmern geprägt ist. Dadurch bietet sich auch noch die Möglichkeit zur „Synchronisation“31 unter den Teilnehmern, durch gemeinsame Aktivitäten wie Spaziergänge, Radfahren, aber auch gemeinsames Essen und Trinken, wodurch Vertrauen und Sympathie (wieder) aufgebaut werden. Der Ort sollte zumindest eine Grundausstattung an Kommunikationstechnik aufweisen, nämlich Flipchart, Pinnwand, Metaplankarten. Gut ist auch die Mitnahme einer digitalen Kamera, 30 Vgl. dazu Beitrag Verhandlungsführung, 4.3., Schritt 1. 31 Zum Begriff der Synchronisation vgl. Ponschab/Schweizer, Die Streitzeit ist vorbei, S. 124 ff.

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damit die auf Flipchart oder Pinwänden festgehaltenen (Zwischen-) Ergebnisse den Teilnehmern sofort nach Beendigung des Tages überspielt werden können.32 – Sitzordnung Wenig beachtet und oft falsch gestaltet wird die Sitzordnung der Parteien. Die Frage, wer wo sitzt, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung und hat schon oft zum Gelingen oder Misslingen einer Mediation beigetragen. Die Grundsätze lauten: Kontrahenten dürfen sich nie gegenüber sitzen! Warum nicht? Durch das Anblicken des Gegners entsteht eine Situation wie beim mittelalterlichen Fechten. Wenn ich dem „Feind“ ins Auge blicke, steigt die Emotion und macht oft vernünftige Regelungen unmöglich. Bei großer gegenseitiger Aggression kann der Mediator die Parteien auch in verschiedenen Räumen unterbringen33 Der Mediator muss sich den „Entscheidern“ gegenüber setzen! Wenn Entscheider und Mediator in Blickverbindung stehen, können sie oft „geheime Botschaften“ austauschen. Der Mediator hat so die Chance, die Entscheider auf seine Seite, zumindest aber in die Rolle des Schiedsrichters zu bringen. Bei einer Mediation hatte ich die Beteiligten an einer viereckigen Tafel so platziert, dass die Anführer der beiden Gruppen und ich jeweils an der Längsseite des Tisches (also „vor Kopf“) und die jeweiligen Mitarbeiter zwischen uns zu beiden Seiten des Tisches saßen. Während nun diese „Gladiatoren“ übereinander herfielen, suchte ich immer wieder den Blickkontakt mit den Entscheidern, um mit ihnen durch Kopfbewegungen die Botschaft auszutauschen, dass diese „streitenden Buben“ den Fall so wohl nicht lösen könnten. So entstand im Laufe der Zeit eine unausgesprochene Verbindung zwischen den Führern der beiden Gruppen und mir. Ziel dieser Verbindung wurde es, diesen Fall einvernehmlich zu lösen.

Wiederholungsfrage zur Vorbereitung der Mediation: Welche Punkte hat der Mediator zu berücksichtigen, wenn er die Mediation vorbereitet?

3. Kapitel Wie läuft eine Mediation ab? Mediation ist eine Verhandlung, bei der ein neutraler Dritter den Parteien bei der Einigung hilft. Wir haben im Teil Verhandlungsführung den Ablauf der kooperativen Verhandlung in acht Schritte eingeteilt34. Der Mediator als Verhandlungshelfer hat die Aufgabe, die Parteien bei all diesen Schritten zu unterstützen oder, wenn wir noch einmal 32 Vgl. zu Fragen des Orts der Mediation, Ausstattung etc. Ponschab/Schweizer, Die Streitzeit ist vorbei, S. 135 ff. 33 Dann muss der Mediator die Mediation in Einzelsitzungen abwickeln und zwischen den Parteien pendeln. 34 Vgl. Verhandlungsführung 4.3.

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Mediation – Ablauf

das Bild des Bergführers35 gebrauchen wollen, die Parteien sicher durch alle Gefahren, die sich auf dem Wege stellen, zu einer Einigung zu führen. Wenn also die Mediation eine Verhandlung ist, dann muss notwendigerweise der Mediator auch den acht Schritten der Verhandlung folgen, die wir bereits im Einzelnen im Kapitel über Verhandlungsführung dargestellt haben. Das nachfolgend präsentierte Mediationsmodell basiert wie alle bekannten Mediationsformen auf einem kooperativem Verhandlungsmodell, bietet aber auch genügend Werkzeuge an, wenn die Medianten zwar die Mediation, nicht aber kooperatives Verhandeln praktizieren. Wenn wir einmal die acht Schritte des kooperativen Verhandelns und die sieben Phasen der Mediation gegenüberstellen, so werden wir sehen, dass diese sich in fast allen Punkten decken: Die acht Schritte kooperativen Verhandelns und die sieben Phasen der Mediation Verhandeln

Mediation

1. Vorbereitung

1. Vorbereitung und Einführung durch den Mediator

2. Wahrnehmung

2. Sachverhaltsdarstellung durch die Parteien

3. Beziehung 4. Interessen

3. Interessenerforschung

5. Optionen/Lösungen; bzw. neutrale Kriterien/Verfahren

4 Optionen/Lösungen; neutrale Kriterien/Verfahren

6. Beste Alternative

5. Beste Alternative

7. Visionen

6. Visionen

8. Abschluss

7. Abschluss

Die Frage, wie viele Phasen eine Mediation hat, soll hier nicht vertieft werden. Überwiegend wird ein weniger genaues Modell mit fünf Schritten ohne die Schritte 5 und 6 verwendet. Lassen Sie uns nachfolgend den Mediator auf dem Weg durch die uns bereits großteils bekannte Verhandlungslandschaft begleiten. Nehmen wir einmal an, es handelte sich um folgenden Fall, der durch die Mediation gelöst werden soll: Fall „Kindsmörder“: Anton und Berta Held haben vor etwa sechs Monaten bei einem Autounfall ihren einzigen Sohn Max verloren, drei Wochen vor seinem fünften Geburtstag. Max war beim Spielen auf die Straße gelaufen und wurde dort von einem Geländefahrzeug der Marke „Great Rambler“ (GR) vom Frontschutzbügel („Kuhfänger“) am Kopf getroffen und auf die Strasse geschleudert. Er verstarb noch am gleichen Tag an einem Hirntrauma mit Schädelbruch. Der Fahrer war nur mit einer Geschwindigkeit von knapp 30 km/h gefahren, konnte aber dem plötzlich aus einer Parklücke springenden Kind weder ausweichen noch bremsen. Er erlitt ebenso wie die Eltern einen Schock und musste einige Tage im Krankenhaus bleiben. Ihn trifft an diesem Unfall keine Schuld. Die Helds sind bodenlos verzweifelt und verbittert über den Tod Ihres Sohnes. Das Gefühl, dass sie nicht helfen konnten, raubt Ihnen den Schlaf. Anton Held ist Mathematik- und Physiklehrer. Das half ihm in den nachfolgenden Wochen, den Zusammen35 Siehe Fn. 9.

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6. Teil Mediation hang zwischen technischen Gegebenheiten eines Fahrzeugs und Unfallverletzungen bei Zusammenstößen zu verstehen. Zunehmend kamen ihm Fragen in den Kopf, wie: – Warum sind manche Autos im Frontbereich besonders gefährlich für Fußgänger? – Warum sind sie vorne so hoch, dass die Stoßfänger bei Zusammenstößen zwingend auf Kinderköpfe treffen müssen? – Warum sind die Motorhauben so (eckig) geformt, das Passanten bei Unfällen nicht über die Motorhaube auf das Dach rutschen, sondern nach hinten stürzen? – Wie viele Geländewagen fahren in einem Gelände, für das sie die Bodenfreiheit des Fahrzeugs wirklich brauchen? – Wie viele Geländewagen kommen in unserem Land so eng in Kontakt mit Kühen und Kängurus, dass sie Frontschutzbügel benötigen? Anton Held stieß bei seinen Nachforschungen auf verschiedene Studien, die bewiesen, dass Geländewagen durch ihre äußere Beschaffenheit für Fußgänger erheblich gefährlicher sind als normale PKW. Eine dieser Studien stellte aufgrund des untersuchten Zahlenmaterials fest, dass bei Zusammenstößen zwischen Fußgängern und Geländewagen die Quote von Toten und Schwerverletzten etwa 10 % höher sei als bei normalen PKW; es läge auch eine besondere Gefährdung von Kindern bis zu einer Größe von etwa 1,25 m vor. Anton fand auch Versuchsergebnisse der Bundesanstalt für Straßenwesen: Bei Unfällen mit einem normalen PKW bis zu einer Geschwindigkeit von 40 km/h wird der tödliche Wert für Kinder von 1.000 HIC (Head Injury Criterium) normalerweise nicht erreicht. Geländewagen ohne Frontschutzbügel überschreiten diesen Wert schon bei 30 km/h erheblich, mit Frontschutzbügel bereits bei 20 km/h. Als Anton diese Ergebnisse las, wurde ihm klar, dass der Tod seines Kindes wegen der Beschaffenheit des Geländewagens praktisch unvermeidlich gewesen war. Sein Sohn könnte heute noch leben, wenn der Zusammenstoß mit einem normalen PKW oder einem „fußgängergerecht“ konstruierten Geländewagen passiert wäre. Er fragte sich weiter: – Warum haben diese Autos Vorrichtungen zum eigenen Schutz gegen Kühe und Kängurus, aber nicht zum Schutz von Fußgängern, die vom Fahrzeug erfasst werden? – Dürfen solche Autos überhaupt zugelassen werden? – Handeln Hersteller, die solche Autos in den Verkehr bringen, nicht fahrlässig? Nachdem er mit anderen ebenso betroffenen Eltern den „Verein zum Schutz vor Kindstötung im Straßenverkehr“ gegründet hatte, schrieb er einen Brief an die Firma AMB, die Herstellerin des Great Rambler. Hierin teilte er dieser den Tod seines Sohnes mit und forderte sie auf, zu erläutern, warum sie derart gefährliche Fahrzeuge herstelle, die durch die Gestaltung der Vorderfront akut und ohne Not Kinder bei einem Zusammenstoß besonders gefährden. In seinem Antwortbrief bestätigte das Unternehmen die technischen Feststellungen von Anton Held, gab seinem tiefen Bedauern Ausdruck und schloss so: „Ihre Gründe treffen zu. Das Rad der Geschichte lässt sich indes nicht zurückdrehen. Jede Epoche kennt ihre Risiken.“ Als Anton Held diese Zeilen las, wurde er traurig und zornig zugleich. Er nahm Kontakt mit der Presse auf und informierte sie über die Gefährlichkeit der Fahrzeuge der Firma AMB und ähnlicher Produkte. Die Presse nahm dieses Thema begierig auf und bezeichnete die Geländefahrzeuge in großer Aufmachung unter anderem als „Kindsmörder“. Gleichzeitig suchte Anton Held seinen Anwalt, Justus Krieger, auf, der ihm riet, die Firma AMB bzw. deren Importeur auf Schmerzensgeld zu verklagen. Es gebe hier zwar noch einige schwierige juristische Fragen zu klären, er rate aber auf jeden Fall wegen der Publizität dieses Verfahrens zur Klageerhebung, um AMB unter Druck zu setzen.

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Mediation – Ablauf Kurz darauf erhielt Rechtsanwalt Krieger einen Anruf vom Leiter der Rechtsabteilung von AMB, Frank Smith, der in einem längeren Gespräch mit ihm nochmals sein Bedauern über den Tod des Kindes ausdrückte und im Übrigen vorschlug, in einer Mediation die Probleme zwischen den Parteien zu klären. Man sei bereit, sich die Argumente der Eheleute Held in Ruhe anzuhören und, soweit möglich und machbar, auch darauf einzugehen. Die Eheleute Held mögen einen Mediator vorschlagen, dessen Bestellung sie nur aus schwerwiegenden Gründen widersprechen würden. Anschließend traf Rechtsanwalt Krieger die Eheleute Held und informierte sie über die überraschende Reaktion von AMB. Nachdem er ihnen das Verfahren ausführlich erklärt hatte, willigten sie trotz großen Misstrauens ein und wählten auf Empfehlung Ihres Anwalts Rechtsanwalt Noah Häberle als Mediator aus. Häberle ist ein in der Gegend bekannter Mediator, der nach Einschätzung von Justus Krieger aufgrund seiner Erfahrung die notwendigen Voraussetzungen mitbringen dürfte, diesen schwierigen Fall zu lösen. Trotzdem waren die Helds misstrausch, ob sie mit diesem Ihnen unbekannten Verfahren ihre Ziel erreichen könnten. AMB akzeptierte die Wahl Häberles, der sich seinerseits bereit erklärte, die Mediation durchzuführen. Die von ihm zugesandte Mediationsvereinbarung sah ein Stundenhonorar von 250 Euro und ein Einigungshonorar von 15.000 Euro für den Fall einer Einigung durch die Mediation vor. AMB, die vereinbarungsgemäß die Kosten zu tragen hatte, akzeptierte diesen Honararvorschlag, vor allem in Hinblick auf die bei einer erfolgreichen Mediiation vermiedenen Verluste an Kosten und Zeit, die ein Rechtsstreit brächte.

3.1. Vorbereitung und Einführung – Phase 1 der Mediation Über die Vorbereitung der Mediation haben wir bereits ausführlich berichtet. Was macht aber der Mediator, wenn die Parteien am Verhandlungstisch sitzen und die Mediation beginnt? Es ist jetzt seine Aufgabe, in seinem Einführungsstatement zu erläutern, was auf die Parteien zukommt, vor allem aber muss er Vertrauen zwischen ihm selbst und den Parteien aufbauen. Vertrauen, das sich einerseits auf seine Fähigkeit zur Durchführung einer Mediation bezieht, zum anderen aber auch auf die Einhaltung der Basisregeln für den Mediator (z. B. Neutralität und Unparteilichkeit). Fortsetzung Fall: Nehmen wir also an, dass sich die Beteiligten – also einerseits die Eheleute Held mit Rechtsanwalt Justus Krieger und andererseits die Vertreter von AMB, nämlich der Leiter der Rechtsabteilung, Frank Smith, der Leiter der Niederlassung Deutschland, Ludwig Köberl, und der Anwalt von AMB, Heiko von Nonnenkirch – mit dem Mediator Noah Häberle im Sitzungssaal des Park-Hotels Prien mit einem wunderbaren Blick auf den Chiemsees eingefunden haben. Alle schweigen und sehen Häberle erwartungsvoll an.

Mit welchen Worten könnte ein Mediator die Mediation eröffnen? Übung: Bitte versuchen Sie – aus Sicht der Parteien – diejenigen Punkte aufzuschreiben, die Ihnen für ein Eröffnungsstatement des Mediators wichtig erscheinen. Unterscheiden Sie hierbei zwischen Punkten, die Sie wissen wollen und solchen, die das Vertrauen zwischen Ihnen und dem Mediator betreffen. Fortsetzung Fall: Häberle sieht freundlich in die Runde und beginnt: „Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Mein Name ist Noah Häberle und ich weiß natürlich, dass die Lösung dieses Falles schwer ist, denn es geht nicht nur um Geld, son-

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6. Teil Mediation dern es geht vor allem um den Tod eines Kindes, um den Tod Ihres Kindes, sehr geehrte Eheleute Held. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzlich der Tod eines Kindes sein kann, da meine Schwester und mein Schwager im letzten Jahr ihre jüngste Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren haben. Das ist das eine. Als ich heute früh in mein Büro fuhr, lief plötzlich ein Kind vor mir auf die Straße. Obwohl ich noch rechtzeitig ausweichen konnte, wurde mir klar, wie schnell so ein Unfall passieren kann – das ist das andere. Wir werden später noch genügend Zeit haben, den Ablauf und die Ursachen dieses Unfalls zu besprechen. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mich beauftragt haben, Sie bei der Lösung Ihres Falles zu unterstützen. Danke für Ihr Vertrauen. In der Mediation wird jede wichtige Entscheidung von den Parteien und ihren Anwälten getroffen, nicht aber von mir als Mediator. Auch sonst verläuft die Mediation völlig anders als ein Gerichtsverfahren. Wenn Sie den Fall vor Gericht bringen, wird jede wichtige Entscheidung vom Richter getroffen. Monate und Jahre später, nicht jetzt, wird es ein Ergebnis geben, das auf einen Rechtsanspruch gestützt wird, nicht aber auf eine gemeinsam erarbeitete Lösung. Erst wenn Sie eine ganze Menge Zeit und Kosten aufgewendet haben, werden Sie das erkennen. Und obwohl die Mediation viel weniger Zeit braucht als ein Gerichtsverfahren, gibt sie Ihnen und mir mehr Zeit, um über gute Lösungen nachzudenken. Der Ablauf des Verfahrens der Mediation ist einfach: Zunächst gibt jeder der beiden Anwälte ein kurzes Eröffnungsstatement ab und stellt dabei in maximal 15 Minuten seine Sicht des Falles dar. Natürlich weiß ich, dass jede Seite diesen Fall anders sieht und ich akzeptiere diese unterschiedlichen Weltsichten, ohne darüber nachzudenken, wer Recht hat. Diese Sachverhaltsdarstellung ist für mich eine Hilfe, den Fall zu verstehen und für die Parteien ein Anlass, sich noch einmal auf die wesentlichen Elemente des Falles zu besinnen. Im Anschluss werden wir dann eine gemeinsame Diskussion führen, bei der wir die Probleme in dieser Sache erörtern und konkretisieren werden. Vermutlich danach oder auch erst später werde ich Sie bitten, mit mir Einzelgespräche36 durchzuführen. Diese Einzelgespräche werden – natürlich nur bei allseitigem Einverständnis – mit beiden Parteien geführt. Dabei kann ich auch feststellen, ob es Informationen gibt, die Sie gegenüber der anderen Partei noch nicht offenbaren möchten. Solche Informationen sind für mich besonders wichtig, weil ich dann Lösungen mit Ihnen erarbeiten kann, die die Interessen beider Seiten umfassen. Natürlich sind diese Einzelgespräche vertraulich und ich werde nur das an die andere Seite weitergeben, wozu Sie mich ausdrücklich ermächtigen. Verschwiegenheit ist für mich als Anwalt Berufspflicht und ein Verstoß dagegen kann sogar strafrechtlich geahndet werden. In unseren weiteren Gesprächen werden wir versuchen, heraus zu finden, was jede Parteien wirklich will und prüfen, ob es hierfür geeignete Lösungen gibt. Ich werde Sie auch dabei unterstützen, herauszufinden, ob die hier gefundene Lösung die beste Alternative zu anderen möglichen Lösungen ist und mit Ihnen dabei die Risiken der jeweiligen Lösung überprüfen. Falls Sie sich für eine gemeinsame Lösung entscheiden, werden wir überprüfen, ob es für diese Lösung eine gemeinsame Vision gibt. Gewöhnlich schließen wir am Ende der Mediation eine Vereinbarung, die von mir in Grundzügen auf dem Flipchart festgelegt, von allen Beteiligten unterzeichnet und dann von den Anwälten ausgearbeitet wird. Falls die Anwälte dies wünschen, bin ich selbstverständlich auch gerne bereit, an der Ausarbeitung einer umfangreichen Vereinbarung mitzuarbeiten. Die Regeln für meine Tätigkeit sind einfach. – Die erste Regel heißt: Neutralität und Unparteilichkeit. Ich habe keinerlei persönliche oder geschäftliche Beziehungen zu den Parteien oder Anwälten. Ich habe auch keine Vorlieben oder Vorurteile gegenüber den Anwälten, den Parteien oder etwa dem Fall. Ich behandle jede Partei fair und gleich. Ich werde meine eigenen Beobachtungen machen, Fragen stellen und manche Information von Ihnen fordern, die mir wichtig erscheint. 36 Die Vor- und Nachteile von Einzelgesprächen sind in Anlage 4 zusammengestellt.

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Mediation – Ablauf – Die zweite Regel ist: Vertraulichkeit. Sie können mir Informationen anvertrauen und sicher sein, dass ich diese nicht der anderen Seite ohne Ihre Erlaubnis mitteile. Alles, was Sie in Einzelgesprächen sagen, ist also geschützt. Das haben wir bereits erörtert. Auch für Sie als Teilnehmer der Mediation haben sich gewisse Regeln eingebürgert. – Auch Sie unterliegen dem Gebot der Vertraulichkeit. Nichts, was Sie in der Mediation erfahren, darf nach Außen dringen! – Eine besonders wichtige Regel lautet: Ausreden lassen! Wissen Sie, welches die häufigste Bemerkung in politischen Talkshows ist? „Bitte lassen Sie mich ausreden!“ Ich wünsche mir, dass Sie das hier nicht sagen müssen. Ich bitte Sie um Ihr Vertrauen, dass ich dafür sorge, dass jede Partei alle Zeit erhält, die sie braucht, um ihren Standpunkt darzustellen. Wir haben hier keine festen „Sendezeiten“ wie im Fernsehen. Ich bitte Sie daher, die andere Seite ausreden zu lassen, in der Gewissheit, dass auch Sie genügend Zeit haben werden, das zu sagen, was Sie wollen. – Hören Sie der anderen Seite zu! Im Englischen heißt dieser Satz: „Seek first to understand and then to be understood“37. Sie können dadurch sehr viel erreichen, ohne die Befürchtung zu haben, dass Ihnen hieraus ein Nachteil entstehen könnte. Ich bin kein Richter, ich werde nicht entscheiden, ich vergebe auch keine Schönheitsnoten für glanzvolle Ausführungen. Nutzen Sie einfach die Chance, der anderen Partei, auch wenn Sie deren Meinung nicht teilen, zuzuhören. Dadurch erhalten Sie vielleicht wichtige Informationen und es können sich Einigungschancen ergeben. Man hat bei Untersuchungen herausgefunden, dass besonders erfolgreiche Verhandler etwa 70 % der Zeit zuhören und nur 30 % reden. Seien Sie also gute Verhandler und wir werden gute Ergebnisse erzielen! Der Rest liegt an Ihnen, es ist Ihr Fall. Bevor wir mit unserer Mediation beginnen, möchte ich mich noch erkundigen, ob Sie Fragen zum zeitlichen Ablauf oder anderen Punkten haben.“

Übung: Fragen der Parteien während der Eröffnungsphase Bitte wählen Sie sich drei Fragen aus dem nachstehenden Angebot aus und versuchen Sie, diese als Mediator zu beantworten. – Was haben Sie für eine Ausbildung? – Was ist, wenn wir uns hier nicht einigen? – Verstehen Sie etwas von unserer Materie? – Was ist der Unterschied zu einem Schiedsgericht? – Was passiert während der Einzelgespräche? – Wie lange dauert denn eine Mediation erfahrungsgemäß? – Wie hoch sind denn Ihre Erfolgsquoten? – Kann das, was ich hier sage, später gegen mich verwendet werden? – Was ist, wenn Sie mich hier unter Druck setzen? – Könnten Sie in einem eventuellen späteren Prozess als Zeuge benannt werden? – Was ist, wenn Herr Dr. Maier wieder ausfallend wird?

37 „Versuchen Sie, erst zu verstehen und dann verstanden zu werden!“

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6. Teil Mediation

3.2. Sachverhaltsdarstellung – Phase 2 der Mediation Nachdem unser Mediator Noah Häberle die erste Phase der Mediation abgeschlossen hat, könnte die Überleitung zur zweiten Phase etwa so lauten: Fortsetzung Fall: „Wenn Sie keine Fragen mehr wegen des Verfahrens der Mediation haben, möchte ich Ihnen gerne vorschlagen, dass wir nun dazu übergehen, die Probleme, die Sie hierher gebracht haben, zu diskutieren. Sind Sie bereit, zu beginnen?“

Phase 2 des Mediationsverfahrens soll zu einer gemeinsamen Klärung der Konfliktursachen führen. Deshalb bittet der Mediator die Parteien um die Darstellung des Konfliktes aus ihrer Sicht. Durch Zusammenfassung der Vorträge entwickelt er ein gemeinsames Verständnis der zu behandelnden Themen und der strittigen und unstrittigen Fragen. Was sind die Gründe für diese Gestaltung? 1. Zunächst einmal soll die aktive Teilnahme der Parteien an der Mediation dadurch gefördert werden, dass sie das Recht erhalten, ihren Standpunkt frei und ungehindert darzustellen, noch dazu in Gegenwart der anderen Seite. Wie wir alle wissen, sind diese Diskussionen normalerweise so, dass sich die Parteien gegenseitig ins Wort fallen bzw. sich nicht zuhören. 2. Es soll eine Vertrauensbildung dadurch erfolgen, dass sichergestellt wird, dass die andere Partei und der Mediator der jeweils vortragenden Partei zuhören. Dies geschieht auch dadurch, dass die vortragende Partei ihren Standpunkt zunächst selbst darstellt und ihn dann in der Zusammenfassung des Mediators hört. 3. Letztlich soll sie dem Mediator auch die Möglichkeit geben, ein umfassendes Bild von dem geschilderten Problem zu erhalten. Wie wir alle wissen, führt die juristische Betrachtung eines Problems dazu, dass die Komplexität einer Auseinandersetzung so reduziert wird, dass nur noch die Ereignisse und Fakten übrig bleiben, die einen Anspruch begründen oder verneinen können. Die Mediation dagegen bietet die Möglichkeit, die volle Komplexität des Lebenssachverhaltes zu bearbeiten, der sich aus dem Umfeld des Konflikts ergibt. Lassen wir an dieser Stelle wieder Noah Häberle sprechen: Fortsetzung Fall: „In der folgenden Phase bietet sich Ihnen die einmalige Gelegenheit, dass Sie in Gegenwart der anderen Partei all das vortragen können, was Sie für wichtig halten und was Sie bewegt. Jede Partei hat hierzu die Möglichkeit und ich garantiere Ihnen, dass Sie in Ruhe zuhören können und nicht unterbrechen müssen, weil Sie ebenfalls die Möglichkeit haben, solange und so viel vorzutragen, wie Sie wollen. Wenn Sie sprechen, würden Sie sicherlich nicht gerne unterbrochen werden. Haben Sie daher Verständnis, dass ich darauf achten werde, dass Sie sich gegenseitig nicht ins Wort fallen. Sie erhalten dadurch die Chance, einmal hören zu können, wie die andere Seite das Problem sieht. Das heißt nicht, dass Sie deshalb diesen Standpunkt billigen. Konrad Lorenz hat treffend gesagt: „Gesagt ist nicht gehört. Gehört ist nicht verstanden. Verstanden ist nicht einverstanden!“ Durch Zuhören und Verstehen vergeben Sie sich nichts. Wir sind allein daran interessiert, herauszufinden, was für Sie wirklich wichtig ist, um zu sehen, ob wir hierfür gemeinsame Lösungen finden können. Wer soll nun beginnen? Wir handhaben das eigentlich immer so, dass der beginnt, der vom anderen etwas will.“

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Mediation – Ablauf Die Parteien erheben keine Einwände. Also beginnen die Helds, ihre Sicht des Problems zu schildern. Sie erzählen davon, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren und was es bedeutet, zu wissen, dass dieses Kind heute noch leben könnte, wenn dieses Auto, das es erfasst hat, nicht eine kinderfeindliche Konstruktion gehabt hätte. Dass sie Genugtuung wollen für das, was ihnen passiert ist und auch dafür, dass es offensichtlich noch immer gewissenlose Menschen gibt, die gefährliche Autos auf der Straße fahren lassen und somit den Tod von Kindern in Kauf nehmen. Die Vertreter von Great Rambler fallen an dieser Stelle den Helds ins Wort: „Also das verbieten wir uns! Sie sind auch jahrelang Auto gefahren und haben gewusst, wie viele tausend Menschen jedes Jahr durch Autos getötet werden. Sie sind also jemand, der andere Menschen bewusst gefährdet….“ An dieser Stelle hält es Häberle für nötig, einzugreifen und an die vereinbarte Regel zu erinern, den anderen nicht zu unterbrechen.

Wenn der Mediator merkt, dass die Auseinandersetzung eskaliert, kann er dazu übergehen, die Parteien ihre „Plädoyers“ in Einzelsitzungen (Caucus) vortragen zu lassen. Dies würde bedeuten, dass der Mediator jeweils mit der einen oder anderen Seite allein spricht und sich deren Schilderung der Sachlage anhört. Soweit er von den Parteien dazu ermächtigt wird, könnte der Mediator nach dem Ende der Einzelsitzungen in Gegenwart beider Parteien vortragen, was er von beiden Seiten gehört hat. Er könnte auch mäßigend auf die Parteien einwirken. So beispielsweise auf die Vertreter von Great Rambler, indem er ihnen klar macht, welch großen Schmerz die Tötung des Kindes bedeutet und empfehlen, besonders aufmerksam und zurückhaltend mit den Eheleuten Held umzugehen, wenn ihnen an einer außegerichtlichen Lösung dieser Sache gelegen sei. Es gibt amerikanische Mediatoren, die die Parteien sofort nach dem Eröffnungsstatement bzw. der Klärung des Sachverhaltes trennen und die Mediation in Einzelsitzungen durchführen, wobei der Mediator im Wege der „shuttle diplomacy“ zwischen den Parteinen hin- und hergeht. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen darauf, das aufgetretene Problem zu behandeln, weniger die Beziehung zwischen den Parteien zu festigen. Anders ist dagegen der Ansatz der so genannten transformativen Mediation38. Sie möchte gerne die Beziehung zwischen den Parteien vor der Auseinandersetzung über Inhalte oder Formfragen verbessern. Dies geschieht im Regelfall durch gemeinsame Aktionen der Parteien, wie beispielsweise gemeinsame Wanderungen oder gemeinsame Treffen, Skill Trainings usw. Das entspricht dem, was wir als Synchronisation bezeichnen39. Soweit diese Maßnahmen den Bereich der sozialen Üblichkeit für die Parteien nicht übersteigen, bereiten sie auch bei Wirtschaftsmediationen keine Probleme. So ist es durchaus wirksam und üblich, dass sich die Parteien bereits am Vorabend einer Mediation treffen, um ein gemeinsames Abendessen einzunehmen oder einige Drinks an der Bar zu sich zu nehmen. Weniger üblich in der Wirtschaftsmediation sind dagegen stark psychologisch fundierte Maßnahmen, wie Familienaufstellung, Psychodrama, etc.

38 Bush/Folger, a. a. O. 39 Vgl. hierzu Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation bzw. Die Streitzeit ist vorbei.

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6. Teil Mediation

Mit welchen Verhaltensweisen sollte oder kann der Mediator die Kommunikation fördern? Während des Vortrages der Parteien wiederholt er zu einem geeigneten Zeitpunkt den Vortrag des jeweiligen Parteivertreters. Dies empfindet die Partei als besondere Bestätigung weil sie feststellt, dass ihr jemand aufmerksam zugehört und sich bemüht hat, sie zu verstehen. Zur Klarstellung, dass er nicht seine eigene Meinung wiedergibt, wird der Mediator Worte gebrauchen wie „Sie haben gesagt“, „Ihrer Ansicht nach“ oder „Sie meinen, dass…“. Abwertungen wird der Mediator nicht wörtlich, sondern stets in „neutraler Sprache“ wiedergeben. Sagt beispielsweise die eine Seite: „Ich finde das im höchsten Maße unverschämt“, so wird der Mediator vielleicht sagen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fanden Sie das Verhalten der anderen Seite unpassend“. Gelegentlich wird der Mediator auch das so genannte „Verbalisieren“ anwenden, das darin besteht, auch das Ungesagte, also das hinter dem Gesagten Vermutete, auszusprechen bzw. nachzufragen. Fortsetzung Fall: Nachdem Noah Häberle im vorliegenden Fall beide Parteien ausführlich angehört hat, geht er zum Flipchart und schreibt mit großen Buchstaben die Überschrift: „Themen“ auf das Flipchart. Dann fährt er fort: „Sehr geehrte Frau Held, sehr geehrte Herren, ich habe mit großem Interesse Ihre Ausführungen angehört und mir dabei überlegt, welche Probleme gelöst werden müssen, damit Sie zufrieden diesen Ort verlassen können. Ich werde mir erlauben, die von mir entdeckten Themen für Sie aufzuschreiben und bitte Sie, zu protestieren, wenn Sie anderer Meinung sind. Und natürlich bitte ich Sie auch, mir weitere für Sie wichtige Themen zu nennen, falls ich etwas übersehen habe.“ Schließlich steht auf dem Flipchart folgende Themenliste: Themen: – Konstruktionsänderung Great Rambler – Aufhebung der Zulassung – Immaterieller Ersatz für Schmerz – Schutz der Kinder im Straßenverkehr – Öffentlichkeit – Wirtschaftliche Schädigung der Eheleute Held durch den Unfall „Nun haben wir festgelegt, um welche Bereiche es in diesem Verfahren geht. Von besonderem Interesse ist aber auch noch zu erfahren, welche Interessen beider Parteien hinter diesen jeweiligen Themen stecken oder mit diesen Themen verbunden sind. Wenn wir diese Interessen entdecken können, könnte dies zu einer gemeinsamen Lösung führen. Vielleicht kann ich Ihnen das am ehesten an einem Eisberg erklären, der etwa zu einem Drittel oder zu einem Fünftel aus dem Wasser ragt, während sich der eigentliche große Teil des Eisberges unter Wasser befindet, wie die Passagiere der Titanic leidvoll erfahren haben. Entscheidend für die Lösung der Probleme sind oft Dinge, die wie der Fuß des Eisbergs unter Wasser verborgen sind:

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Mediation – Ablauf

Offene Ebene Positionen

geltend gemachte Ansprüche

Unausgesprochene Erwartungen Wünsche Interessen Hoffnungen Ziele Vorstellungen Werte

Verdeckte Ebene Interessen

Damit wir aber nicht das Schicksal der Titanic erleiden, möchte ich gerne mit Ihnen gemeinsam erforschen, was sich unterhalb der Wasseroberfläche befindet. Lassen Sie uns daher nunmehr zur nächsten Phase der Mediation kommen, wo wir uns fragen: „Worum geht es uns eigentlich?“

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6. Teil Mediation Da es hierbei möglicherweise um persönliche oder geheimhaltungswerte Interessen geht, also um Dinge, bei denen Sie unter Umständen Schwierigkeiten hätten, sie sofort der anderen Seite zu offenbaren, führen wir diese Phase im Regelfall immer in einer Einzelsitzung durch. Ich möchte also mit jeder der beiden Parteien die Interessen in einer Einzelsitzung klären und dann feststellen, welche der Interessen der anderen Seite mitgeteilt werden können. Sind Sie mit diesem Verfahren einverstanden? Alle Anwesenden nicken.

Bevor wir Noah Häberle und den Parteien in die nächste Phase folgen, lassen Sie uns noch gemeinsam überlegen, welche Fragen ein Mediator verwenden kann, um die Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien zu fördern. Übung: Fragen zur Sachverhaltsaufklärung – Können Sie das näher ausführen? – Verstehe ich Sie richtig, Sie meinen also…? – Was denken Sie über diese Situation? – Was sagt Ihnen das? – Wie erklären Sie sich, was geschehen ist? – Was sagen Sie, wenn Sie das hören? (… was Herr X gesagt hat.) – Was macht Ihnen an dieser Situation zu schaffen? – Was denken Sie, würde Y sagen, wenn er auch hier wäre? Wiederholungsfragen: 1. Was ist transformative Mediation? 2. Was sind die Gründe für die Phase „Sachverhaltsdarstellung“? 3. Was könnte ein Mediator tun, wenn die Auseinandersetzung stark eskaliert? 4. Wie kann der Mediator die Mediation fördern?

3.3. Interessen40 – Phase 3 der Mediation Es ist einer der großen Verdienste der Mediation, dass sie fragt: „Was wollen die Parteien wirklich?“ oder: „Worum geht es ihnen eigentlich?“ Im vorhergehenden Teil, der Sachverhaltserforschung und Themenbestimmung, sind meist die Rechtfertigungsgründe, die die Parteien vortragen, dominierend. Diese Rechtfertigung bedeutet darzulegen, warum man selbst Recht und die andere Seite Unrecht hat. Diese Rechtfertigungsszenarien erzeugen im Regelfall Positionen, indem die Parteien ohne wenn und aber vortragen, was die andere Seite für sie zu tun habe. Doch je länger man sich mit Mediation beschäftigt, umso fraglicher erscheint es, ob die Positionen in den meisten Fällen wirklich das sind, was die Parteien sich wünschen. Um das zu ergründen, muss der Mediator die Partei40 Vgl. zum Begriff Interessen und deren Bedeutung für die Verhandlung den Beitrag Verhandlungsführung, 4.3. Schritt 4.

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Mediation – Ablauf

interessen erforschen. Anders als die Interessen gibt das Recht Standardlösungen für bestimmte Sachverhalte vor, die für einen Teil der Fälle richtig sein mögen, für viele aber auch nicht. Wie schaffe ich es als Mediator, die Interessen der Parteien herauszufinden und die Bedürfnisse zu erfahren, die das Verhalten und die Wünsche der Parteien bestimmen? Ganz einfach: Durch richtiges Fragen. Doch richtiges Fragen ist eine Kunst – aber eine Kunst, die man erlernen kann41. Diese Fragetechnik dient vor allem dazu, die Medianten durch die richtigen Fragen dazu zu bringen, dem Mediator mitzuteilen, wie etwas genau ist. Wenn etwa einer der Medianten sagt: „Das Produkt hat mir überhaupt nicht gefallen“, dann könnte der Mediator beispielsweise fragen: „Was genau hat Ihnen an diesem Produkt nicht gefallen?“ Oder: „Was verstehen Sie unter: Hat mir nicht gefallen? Woran haben Sie erkannt, dass es Ihnen nicht gefallen hat? Was genau hat die andere Seite gemacht, dass es Ihnen nicht gefallen hat? Woran hätten Sie erkannt, dass Ihnen die Sache gefällt?“ All diese Fragen dienen zur Präzisierung und müssen natürlich vorsichtig eingesetzt werden, sonst könnte sich der Mediant belehrt fühlen. Diese Fragen sind jedoch außerordentlich wirksam, weil sie den Medianten zwingen, dem Mediator genau zu sagen, was er mit dem meint, was er sagt. Oft reduzieren die Menschen ihr Weltbild auf das, was ihnen besonders wichtig erscheint und sagen dann: „Das verstehe ich nicht“ oder: „Ich mag das nicht“. In diesen Fällen macht es wenig Sinn zu fragen: „Warum nicht?“, vielmehr sind dann präzisierende Fragen angebracht wie: „Was genau verstehen Sie nicht?“, „Was mögen Sie nicht?“ Mit solchen Fragen, die zu mehr Klarheit führen, gelingt es dem Mediator, die Interessen der Parteien herauszuarbeiten. Bei Positionen gibt es im Regelfall nichts herauszuarbeiten, denn Positionen sind eben Positionen und das Gewollte und das Gesagte sind hier im Regelfall identisch. Bei Interessen jedoch kommt es darauf an, was man wirklich will. Die Bekanntgabe von Interessen geht oft mit dem Wunsch nach Diskretion einher, weil sie tiefere Beweggründe oder Dinge betreffen, die die Gegenseite nicht erfahren soll. Aufgabe des Mediators ist es, mit dem Wissen, das er in Einzelsitzungen gewonnen hat, verantwortlich umzugehen. Das schließt aber nicht aus, dass er bei der späteren Lösungsfindung sein Wissen einbringt, indem er ohne sein geheimes Wissen zu offenbaren, Lösungen mit den Parteien erarbeitet, die den Interessen (auch den geheimen!) beider Seite gerecht werden. Wenn wir bei Verhandlungen nach den Interessen und deren Verwirklichung fragen, dann wenden wir den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft.

41 Wer die Kunst des richtigen Fragens erlernen will, dem empfehlen wir, die Bücher von Bandler und Grinder zu lesen, die im Literaturverzeichnis angegeben sind. Eine kurze Zusammenfassung findet sich auch bei Ponschab/Schweizer, Die Streitzeit ist vorbei, S. 198 ff.

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6. Teil Mediation

Die Folge ist: – Aus Vergangenheitsorientierung wird Zukunftsbewältigung, – Aus der Fixierung auf Probleme wird die Suche nach Lösungen.42 Nach dieser theoretischen Einführung wollen wir aber nun Noah Häberle dabei zuhören, wie er die Parteien nach ihren Interessen fragt: Fortsetzung Fall: „Meine Damen und Herren, wir sind nunmehr in die Phase der Mediation gekommen, bei der es darum geht, herauszufinden, was Sie eigentlich wollen. Ich habe nun verstanden, wie Ihre Positionen sind und wie sich der Sachverhalt aus Ihrer Sicht darstellt. Was mich nun interessiert ist, herauszufinden, was Sie wirklich bewegt und was für Sie besonders wichtig an dieser Sache ist. Darüber sprechen wir normalerweise nicht, wenn wir uns vor Gericht sehen. Hier sind wir aber nicht in einem Gerichtssaal, sondern in diesem schönen Raum mit Blick auf den See und da ist es angebracht, dass wir darüber sprechen. Da ich weiß, wie sensibel Interessen sein können, schlage ich vor, dass wir die Interessen der Parteien zunächst in Einzelgesprächen erörtern. Ich habe Ihnen die Funktion des Einzelgespräches und wie es abläuft schon erklärt. Ich versichere nochmals, dass ich aus diesen Einzelgesprächen keine Informationen weitergebe, soweit ich nicht von Ihnen ausdrücklich dazu ermächtigt worden bin. Die eine Partei ist möglicherweise während der Zeit, in der ich ein Einzelgespräch mit der anderen Partei führe, beunruhigt. Diese Befürchtungen und Sorgen sind völlig verständlich und ich erlebe immer wieder, dass Parteien so empfinden, aber sie können sicher sein: Bei diesen Gesprächen wird nichts ‚ausgeheckt‘, sondern es geht allein darum, dass ich mit der jeweiligen Partei über Bedürfnisse und Motive spreche, um aufgrund dieser Information dann gemeinsam mit Ihnen zu überlegen, welche sinnvolle Lösung wir erarbeiten können. Sind Sie unter diesen Voraussetzungen damit einverstanden, dass wir nun Einzelgespräche führen?“ Beide Parteien und auch der Rechtsanwalt der Eheleute Held nicken. Noah Häberle beginnt das Einzelgespräch mit den Eheleuten Held und ihrem Anwalt Krieger. Auf die Frage, was ihm denn besonders wichtig sei, beginnt Herr Held: „Wir wollen erreichen, dass nie wieder ein Kind von solchen Mordwerkzeugen getötet wird und ich möchte auch, dass die ganze Welt erfährt, wie gefährlich diese Great Rambler sind, vor allem, wenn man sich einmal vorstellt, dass diese ganze Gefährdung völlig überflüssig ist, denn wir brauchen Geländewagen nicht. Die Leute fahren doch nur damit herum, um anzugeben.“ „Heißt das“, setzt Häberle ein, „dass Sie andere Teilnehmer am Straßenverkehr vor Kollisionen mit derartigen Geländewagen schützen wollen? Wenn ich von Ihnen höre, dass Sie es der ganzen Welt bekannt machen wollen, welche gefährlichen Autos die Great Rambler sind, könnte das so etwas sein wie Vergeltung für das, was man Ihnen angetan hat? Könnte das ein Interesse sein?“ Das Ehepaar Held nickt. „Wenn man das erlebt hat, dann will man es denen einfach heimzahlen, die das zu verantworten haben“, wirft Frau Held mit tränenerstickter Stimme ein. „Gibt es denn noch etwas, was Sie, Frau Held und Herr Held, erreichen wollen? Haben Sie noch weitere Ziele?“ Die Eheleute Held fangen an, herumzudrucksen. „Wissen Sie, wir haben durch diesen Unfall praktisch unsere Existenz verloren. Auf Grund meiner psychischen Belastung habe ich unkonzentriert gearbeitet und bin von meinem Arbeitgeber gekündigt worden. Meine Frau 42 Ein besonderes eindruckvolles Beispiel dafür, wie die Frage nach Interessen dauerhafte Lösungen schaffen kann, zeigen die Friedensgespräche in Camp David 1973 in Anschluss an den Jom Kippur Krieg. Vgl. hierzu Ponschab/Schweizer, Kooperation statt Konfrontation.

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Mediation – Ablauf ist ohnehin schon seit längerer Zeit arbeitslos und ist immer zuhause. Wir leben also von Arbeitslosenunterstützung. Sie können sich vorstellen, welche Wut ich auf dieses Unternehmen habe, das mir nicht nur mein Kind, sondern auch noch meine Arbeit genommen hat.“ „Bedeutet das, dass Sie von der Gegenseite auch eine wirtschaftliche Wiedergutmachung wünschen?“ fragt Häberle. „Ja, so könnte man es nennen. Wir haben nur das Problem, dass wir das ungern mit den anderen Forderungen verknüpfen, weil es dann so ausschaut, als ob wir bestechlich wären – und eins sage ich Ihnen: Lieber verhungere ich, als in dieser Sache Kompromisse einzugehen, hinter denen ich nicht stehe.“ „So, gibt es noch etwas?“ „Im Moment fällt mir nichts ein“, meinte Herr Held. „Gut, dann lassen wir es an dieser Stelle einmal bei dem bewenden, was wir erörtert haben. Wir können ja jederzeit auf diese Fragen zurückkommen.“ In ähnlicher Art und Weise unterhält sich dann Noah Häberle mit den Herren von AMB. Dabei kommt heraus, dass diese vor allem darauf Wert legen, dass der Unfall nicht in die Öffentlichkeit getragen wird, um nicht als „Kindsmörder“ dazustehen. Diesen Ausdruck hatte schon ein Zeitungsbericht als Titel getragen. Weiterhin ist es für AMB auch außerordentlich wichtig, dass der Vertrieb des Fahrzeugs nicht eingeschränkt wird. Sie glauben zwar nicht daran, dass das Fahrzeug nicht zum Verkehr zugelassen werden könnte, aber eine Erörterung des Falles in der breiten Öffentlichkeit könnte einen Umsatzeinbruch nach sich ziehen. Im Übrigen sei, wie die Vertreter von AMB mitteilten, eine Überarbeitung des Fahrzeugs ohnehin im Gange. Nachdem Häberle noch einige Diskussionen mit den Parteien in Einzelgesprächen geführt hat, kann er die erfreuliche Nachricht verkünden, dass beide Seiten damit einverstanden seien, dass die Parteiinteressen mit folgenden Worten auf das Flipchart geschrieben und anschließend erörtert werden: Interessen Eheleute Held – Andere Menschen vor der Gefahr „Great Rambler“ schützen – Genugtuung für das, was AMB (durch Great Rambler) den Eheleuten Held angetan hat. – Ausgleich des wirtschaftlichen Schadens Interessen AMB – Stillschweigen gegenüber der Öffentlichkeit – Keine Beschränkung der Vermarktung des Great Rambler – Beschränkung des Wunsches nach technischer Veränderung des Great Rambler auf das technisch und wirtschaftlich Machbare Nachdem nun diese Worte auf dem Flipchart stehen, hat jede Partei die Möglichkeit, ihre Interessen der anderen Seite zu erläutern. Als dies geschehen ist, zeigt sich vor allem bei den Vertretern von AMB leichte Zufriedenheit, denn es scheint ihnen so, als wenn sich nunmehr Möglichkeiten zur Lösung des Problems abzeichneten.

Wiederholungsfragen: 1. Wie kann der Mediator die Interessen der Parteien herausfinden? 2. In welcher Beteiligungsform der Parteien wird ein Wirtschaftsmediator im Regelfall die Interessen erörtern? Was sind die Probleme dieser Form der Mediation? Ponschab

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6. Teil Mediation

3.4. Optionen/Lösungen?43 – Phase 4 der Mediation Interessengerechte Lösungen Da wir nun die Interessen der beteiligten Parteien erfahren haben, fragen wir uns natürlich, welche Lösungsmöglichkeiten sich daraus ableiten lassen. Die Lösung eines Problems besteht im Regelfall nicht aus einer einzigen Option, sondern aus einem Bündel von Möglichkeiten, in dem sich Optionen befinden, die die Interessen beider Seite repräsentieren. Es gehört zum Wesen der Mediation, dass es nicht nur um ja oder nein, alles oder nichts geht, sondern auch um „sowohl als auch“. Was passiert aber, wenn die Parteien keine Optionen finden, denen alle zustimmen können? Dann ist es an der Zeit, objektive Kriterien und Verfahren zu suchen, die den Interessenkonflikt entscheiden können. Aber so weit sind wir noch nicht. Bleiben wir bei den Optionen und fragen wir uns: Wie können die Parteien mit dem Mediator Lösungsmöglichkeiten erarbeiten? Die Suche nach Optionen ist der Teil der Mediation, der von allen Beteiligten Kreativität erfordert, um Lösungen zu finden, auf die bisher keiner gekommen ist. Sie führen oft in eine Richtung, die eine unverhoffte Wendung in der bisherigen Auseinandersetzung bringt. Oder hätten Sie geglaubt, dass die Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel damit enden würden, dass der militärische Sieger Israel seine Truppen vollständig aus dem besetzten Gebiet zurückzieht und es dem Verlierer Ägypten zurückgibt? Das war deshalb möglich, weil man zu irgendeinem Zeitpunkt begann, das Augenmerk nicht mehr auf die Positionen (Sinai haben oder nicht haben), sondern auf die Interessen (Sicherheit für Israel und Integrität für Ägypten) und dann auf die Optionen zu richten. Es gibt ganz verschiedene Arten, wie man Kreativität in Verhandlungen einführt44. Normalerweise wird bei der Suche nach Optionen das Verfahren des Brainstormings45 angewandt. Wie aber erzeugt man diesen „Gehirnsturm“? Das Brainstorming soll den Teilnehmern ermöglichen, zu einem bestimmten Thema Lösungsmöglichkeiten zu finden und dabei frei von den üblichen Zwängen zu sein, wie sie bei traditionellen Besprechungen auftreten. Also kein Zwang! Zu Beginn des Brainstormings wird von allen Beteiligten ein Zeitrahmen festgelegt, in dem das Brainstorming stattfinden soll. Jeder darf alles sagen, Kommentare, Korrekturen und Kritik sind verboten. Die Bewertung dessen, was man im Brainstorming produziert, kommt erst anschließend. Weiterhin gilt: – Für die Einfälle der Teilnehmer gibt es keine Regeln. – Problemorientierung geht vor Lösungsorientierung, also nicht zu früh an konkrete Lösungen denken. – Quantität geht vor Qualität, zunächst kann alles „produziert“ werden, was den Teilnehmern in den Sinn kommt. 43 Vgl. zum Begriff der Optionen und deren Erarbeitung in einer Verhandlung den Beitrag Verhandlungsführung 4.3. Schritt 5. 44 Wenn Sie sich mehr für Kreativität in Verhandlungen interessieren, möchte ich Ihnen das Buch von Ivo Greiter, Kreativität bei Verhandlungen und im Alltag, ans Herz legen. 45 Die Methode des Brainstormings wurde 1953 von Alex F. Osborn in den USA entwickelt.

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Mediation – Ablauf Fortsetzung Fall: Zur Eröffnung des Brain-Stormings hat Noah Häberle zwei Arbeitsgruppen gebildet. Die eine Arbeitsgruppe ist die Gruppe Great Rambler und die andere Gruppe sind die Eheleute Held mit ihrem Anwalt. Häberle bittet nun eine der beiden Gruppen, den Raum zu verlassen und in den vorbereiteten Gruppenraum zu gehen. „Sie haben von mir gehört, welche Regeln beim Brainstorming gelten. Ich habe sie Ihnen zur Sicherheit nochmals auf Flipchartblätter aufgeschrieben, die Sie gerne mitnehmen können. Ich gebe Ihnen für das Brainstorming eine halbe Stunde Zeit. Bitte schreiben Sie jede Idee, die Sie haben, auf die Ihnen ausgehändigten Karten. Schreiben Sie bitte nur ein Stichwort auf jede Karte. Ich freue mich, beide Teams in einer halben Stunde wieder hier zu sehen. Haben Sie noch Fragen?“ Heiko von Nonnenkirch fragt mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme: „Und Sie, was machen Sie?“ Noah Häberle hört diesen Unterton und sagt beruhigend: „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich bin selbstverständlich bei Ihnen und pendle von Gruppe zu Gruppe, um Sie bei dem Finden von Lösungen zu unterstützen. Sobald ich aber höre, dass in beiden Gruppen schallend gelacht wird, werde ich meine Hilfeversuche einstellen und mir eine Tasse Kaffee genehmigen. Einverstanden?“ Alle sind einverstanden und gehen an die Arbeit. Auf der einen Seite die Eheleute Held mit ihrem Anwalt Justus Krieger und auf der anderen Seite die Gruppe AMB, die Herren Smith, Köberl und Heiko von Nonnenkirch. Häberle geht während des Brainstormings ständig zwischen den Gruppen hin und her und unterstützt sie dabei, Optionen zu finden. Die zurückhaltende Art und Weise, wie er sich einschaltet, wird von den Parteien durchaus akzeptiert. Nach einer halben Stunde kommen die Parteien wieder in den gemeinsamen Raum zurück und stellen ihre Ideen vor. Häberle befestigt die Karten beider Gruppen an der Pinnwand. Die Parteien haben folgende Ideen gesammelt, die Bestandteile einer Lösung sein könnten: – Spende von AMB an gemeinnützige Organisation, die für Sicherheit im Straßenverkehr eintritt – Verkehrserziehung für Eltern (Finanzierung durch AMB) – Sicherheitskampagne – Kindersicherheitskonzept – Stiftung zum Schutz von Kindern im Straßenverkehr – Gründung einer Arbeitsgemeinschaft „Sicherheit im Straßenverkehr“ – Konstruktive Änderung der Stoßstange und Frontpartie – Förderung der Verkehrserziehung im Kindergarten – Geheimhaltung des Unfallhergangs, dessen Ursachen und des Inhalts zwischen den Parteien mit Vertragsstrafen-Absicherung – Übergang an der Unfallstelle bauen – Job für Eltern – Gemeinsame Pressekonferenz – Gedenktafel – Einladung von Herrn Held ins Werk und Mitarbeit bei der Konstruktion – PR-Aktion „Wie mache ich mein Auto sicher?“ – Vergabe von Mandaten an Rechtsanwalt des Klägers – Gemeinsame Presseerklärung

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6. Teil Mediation – Offizielle Entschuldigung – Gutachter, der Sicherheitsstandards bei AMB untersucht – Rückruf – Stiftung zur Unterstützung von Unfallopfern – Konkrete Vereinbarung über Änderung der Frontpartie und der Stoßstange unter Berücksichtigung der technischen Machbarkeit – Keine Interventionen zur Beschränkung des Vertriebs des Great Ramblers Als Noah Häberle alle Karten befestigt hat, blickt er eine Weile auf die Karten an der Pinnwand, wobei ihm nicht entgeht, dass der weit überwiegende Teil der Vorschläge für Optionen von den Eheleuten Held und ihrem Anwalt stammt. Dann sagt er zu den Parteien: „Alle Achtung, da haben Sie sich aber große Mühe gemacht und ich habe wirklich das Gefühl, dass Sie sich nicht davon haben leiten lassen, ob jeder einzelne Vorschlag nun auch verwirklicht werden kann oder nicht. Genauso finde ich es richtig. Und ich habe fast den Verdacht, dass Sie die eine oder andere Option gar nicht mitgebracht haben, denn ihr Lachen klang so, als wenn Sie einige ziemlich böse Möglichkeiten erarbeiten hätten.“ Smith gluckst. „Das stimmt. Aber das war eben nur Quatsch.“ „Gerade dieser Quatsch“, fällt Häberle ein, „gibt oft die besten Lösungen. Nun aber kommen wir zum zweiten Teil der Optionsfindung, nämlich das, was Sie gesammelt haben, zu bewerten, um herauszufinden, was wir letztlich in der endgültigen Fassung einer Vereinbarung unterbringen können oder müssen, damit Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind.“ Häberle drückt dann jedem der Anwesenden fünf Klebepunkte in die Hand und bittet sie, diese auf die fünf Karten zu kleben, die ihnen besonders gut gefallen. Als sie damit fertig sind zählt Häberle die Punkte aus. Alle Karten, die Punkte erhalten haben, heftet Häberle in der Reihenfolge ihrer Punktzahl auf ein Pinboard und die restlichen („punktlosen“) Karten auf das andere. Auf dem Pinboard mit den „gepunkteten“ Karten befinden sich folgende Optionen: – Stiftung (zur Förderung der Verkehrserziehung im Kindergarten und zur Unterstützung von Unfallopfern)

(6 Punkte)

– Konstruktive Änderung der Stoßstange und der Frontpartie

(6 Punkte)

– Vertraulichkeit der Vereinbarung mit Vertragsstrafen-Absicherung

(4 Punkte)

– Job für die Eltern

(4 Punkte)

– Gemeinsame Pressekonferenz/-erklärung

(3 Punkte)

– Einladung von Herrn Held ins Werk und Mitarbeit bei der Konstruktion

(3 Punkte)

– Offizielle Entschuldigung

(3 Punkte)

– Vergabe von Mandaten an den Rechtsanwalt der Kläger

(1 Punkt)

„Sie sehen, ich habe die Karten, die von Ihnen Punkte erhalten haben, auf das rechte Pinboard geklebt und die restlichen auf das linke. Wenn Sie meinen, dass Sie mit den Optionen auf dem rechten Pinboard allein nicht zurecht kommen, können Sie das linke jederzeit als Fundgrube verwenden. Lassen Sie uns also versuchen, ob wir aus diesen Optionen eine Einigung schmieden können, die für beide Seiten akzeptabel ist.“

Die Lösungsbewertung geht im Regelfall schon in den Versuch über, eine Vereinbarung zu finden. Nur wenn dies nicht gelingt, wenn also für Interessen keine Lösungen gefunden werden, muss man überhaupt objektive Kriterien und neutrale Verfahren einführen. Ansonsten entsteht hier bereits die abschließende Vereinbarung, die sicherlich noch mal daran geprüft werden muss, ob sie besser ist als die 226

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Mediation – Ablauf

Alternative, die man hätte, wenn man sich hier nicht einigt46. Objektive Kriterien („wie machen das andere“?) oder neutrale Verfahren (bis hin zum Würfeln) brauchen die Parteien im vorliegenden Fall nicht, denn sie können sich anhand der gefundenen Möglichkeiten einigen. Dennoch werden wir auch diese Schritte noch beschreiben. Fortsetzung Fall: Die Eheleute Held haben sich zwar zurückgehalten, was eine Beschäftigung bei AMB angeht, aber schließlich ist ihre materielle Not doch so bedeutend, dass sie nicht widerstehen können, als ihnen AMB die Verwaltung eines Häuserkomplexes mit Werkswohnungen der AMB anbietet. Sie sind sich bewusst, dass das nach außen als Erkaufen einer bestimmten Meinung wirken könnte. Aber was sollten sie tun? Schließlich wären ihre potentiellen Kritiker auch nicht bereit, für ihren Unterhalt zu sorgen. Also gehen die Helds, wenn sie es zunächst auch nicht zugeben, innerlich darauf ein, für AMB zu arbeiten, wenn die Vereinbarung auch im Übrigen ihren Interessen entspräche. AMB setzt dagegen, dass über den Unfall absolutes Stillschweigen bewahrt würde. Das heißt, die Helds müssen auf ihre Idee von der „Vergeltung“ verzichten. Wie sich später zeigen wird, kommt ihnen AMB aber in ungeahnter Weise entgegen. Das Angebot, dass er jederzeit ins Werk kommen und bei den Konstruktionsänderungen mitarbeiten könne, nimmt Herr Held dagegen nicht an. Er will sich zukünftig nicht zu sehr als Konstrukteur betätigen, sondern eher versuchen, mit seinem Schmerz zurechtzukommen. Aber die Möglichkeit, das Werk immer wieder zu besuchen, um sich nach dem Fortgang der Konstruktion zu erkundigen, wird er gerne nutzen. Auch die offizielle Entschuldigung, die die Eheleute Held fordern, bereitet AMB kein Kopfzerbrechen. Und letztlich die Stiftung, die die Verkehrserziehung im Kindergarten ermöglichen und kindlichen Opfern von Verkehrsunfällen und ihren Eltern helfen soll die Folgen des Unfalls zu überwinden, ebenfalls nicht. Das sieht AMB sogar als eine hervorragende Möglichkeit an, um positiv in Erscheinung zu treten. Um die zukünftigen Vorhaben in der geeigneten Form nach außen publik zu machen, soll noch eine gemeinsame Pressekonferenz stattfinden. Bei dieser Pressekonferenz wird AMB den Tod des Sohnes der Eheleute Held bekannt geben, gleichzeitig aber vorstellen, was AMB dafür tun will, dass solche Fälle in Zukunft nicht mehr oder möglichst wenig vorkommen. Natürlich soll bei dieser Gelegenheit nicht darauf hingewiesen werden, dass möglicherweise auch die Konstruktion des Fahrzeuges eine besondere Gefahr für Kinder ist. Da mag man sich natürlich fragen, was die Geheimhaltungsvereinbarung sollte, wenn dann AMB selbst an die Presse geht? Nun: Das Entscheidende ist, dass bei der Pressekonferenz das Unternehmen das sagt, was es sagen will und nicht Gefahr läuft, mit den gefährlichen „Forschungsergebnissen“ von Herrn Held in die falsche Ecke gestellt zu werden. Als die Parteien dieses Lösungspaket besprochen haben, gibt es ein deutliches Aufatmen auf Seiten von AMB. Natürlich hat mit der sich abzeichnenden Lösung niemand alles erreicht, was er sich vorgestellt hat, aber diese Fülle von Möglichkeiten hätte man in einem Prozess nie erreichen können.

Wiederholungsfrage: Was ist Brainstorming? Und was sind dessen Regeln? Wenn Lösungen fehlen: Welche neutralen Kriterien und Verfahren helfen uns, trotzdem eine Einigung zu erreichen? Nun kann es aber ja auch vorkommen, dass die Parteien selbst keine Lösungen finden, die (alle) ihre Interessen verwirklichen. Oder dass sie zwar Lösungen finden, 46 Zur so genannten BATNA (Best Alternative to Negotiated Agreement) siehe 3.5.

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diese sich aber nicht „zu einem Strauß zusammenbinden“ lassen, weil sie sich diametral entgegenstehen. Dann lassen sie sich nicht unter Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite verwirklichen, ermöglichen also keine Win/WinLösung47. Hierbei geht es meist um Fälle der Distribution, Fälle in denen Geld oder auch Güter verteilt werden und die Parteien in Zukunft nicht mehr zusammenarbeiten. Typische Fälle sind Auseinandersetzungen des Vermögens von Unternehmen, Nachlässen, Ehegatten, aber auch sonstige Fälle, in denen die Nachfrage nach bestimmten Gütern (außer Geld) größer als die vorhandene Menge der Güter ist. Was macht aber nun der Mediator in einem solchen Fall? Mit welchen Mitteln führt er die Parteien durch die optionslose Verhandlungslandschaft? Einerseits können die Parteien keine Lösungen offerieren, andererseits soll aber verhindert werden, dass die Verhandlung scheitert oder sich eine Partei einseitig (z. B. durch Einsatz von Macht) durchsetzt. Dann ist die Lösung der Einsatz von Objektiven Kriterien und Neutralen Verfahren Diese Entscheidungskriterien führen durch nachvollziehbare und faire Methoden und Verfahren zu einer fairen Lösung anstelle des einseitigen Durchsetzens einer Position. In diesen Fällen kommt die Lösung gewissermaßen von außen, weil sie wegen widerstreitender Interessen nicht über Optionen der Parteien gefunden werden kann. Bei diesen Kriterien gibt es keine Sieger und „Nachgeber“, sondern nur Parteien, die sich objektiven Entscheidungskriterien oder neutralen Verfahren unterwerfen, weil diese von parteilichen Interessen unabhängig und für alle verbindlich sind. – Objektive Kriterien Objektive Kriterien wurden im Rahmen des Harvard-Konzeptes48 entwickelt. Wesentlich ist, dass die Parteien sich zunächst auf ein objektives Kriterium einigen und dieses dann im zweiten Schritt zusammen mit dem Mediator auf den Konflikt anwenden. Da also nicht eine der Parteien das Entscheidungskriterium bestimmt, sondern alle Parteien durch eine gemeinsame Entscheidung, kann man zu Recht von objektiven Kriterien sprechen. Durch diese Kriterien wird der Kuchen zwar nicht größer gemacht, aber fair verteilt. Das Wesen des objektiven Kriteriums zeigt sich an nachfolgenden Beispielen: Bildung eines Mittelwerts Es gibt einen Konflikt über den angemessen Wert für ein beschädigtes Parkett. Die Parteien einigen sich, dass sie gemeinsam aus dem Branchenverzeichnis fünf Baumärkte auswählen, dort anrufen und sich nach dem Preis des Parketts erkundigen. Der Mittelwert dieser Auskünfte wird dann als verbindlicher Preis für den Ersatz festgesetzt.49

47 Vgl. Beitrag Verhandlungsführung 4.3. 48 Vgl. Fisher u. a., Das Harvard-Konzpet, S. 121 ff. 49 Dieses Praxisbeispiel stammt von Jörg Risse.

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Mediation – Ablauf

Sachverständigengutachten Wenn es um den Wert von Gegenständen geht kann man auch festlegen, dass die Festsetzungen von Sachverständigen verbindlich sein sollen. Diese Festlegung ist dann ein Schiedsgutachten. Preislisten Bei manchen Gegenständen gibt es Listen, in denen die Preise für gleiche oder ähnliche Gegenstände erfasst sind, wie z. B. die Schwacke-Liste für Gebrauchtwagen oder die Grundstücksbewertungen der Gutachterausschüsse bei den Gemeinden. Hier kann man von vornherein festlegen, dass diese Werte gelten sollen, eventuell auch abzüglich oder zuzüglich einer gewissen Prozentzahl. Übliche Verhaltensweisen Besonders eindrucksvoll demonstriert Roger Fisher in seinem Video zu dem Buch „Getting to yes“50 die fast verbindliche Wirkung des Üblichen. Er sucht einen Bauunternehmer auf, der eine Baustelle eröffnet hat. Weil diese noch nicht von einem Bauzaun umgeben ist, ist ein spielendes Kind zu Schaden gekommen. Der Bauunternehmer versucht Roger Fisher, der fordert, dass sofort ein Bauzaun errichtet wird, damit zu vertrösten, dass nächste Woche schräg gegenüber eine Baustelle abgeschlossen und dann der Bauzaun an dieser Stelle eingesetzt werde. Fisher hatte zuvor schon die fünf größten Bauunternehmen der Stadt kontaktiert und dabei herausgefunden, dass alle sofort bei Beginn der Bauarbeiten einen Bauzaun errichten. Darauf weist Fisher hin und es gelingt ihm, den Bauunternehmer zu bewegen, sofort einen Bauzaun zu errichten Handelsbräuche etc. Hier fragt man, gegebenenfalls unter Einschaltung der IHK, danach, ob im Hinblick auf den entstandenen Konflikt Handelsbräuche, Usancen, etc. bestehen. – Neutrale Verfahren Hier geht es darum, durch bestimmte Verfahren eine Einigungslücke zu schließen. Diese Verfahren haben den Vorteil, dass die Parteien jeweils das gleiche Risiko tragen und das Ergebnis nicht auf Druck einer Seite zustande kommt. Solche neutralen Verfahren sind zum Beispiel: Würfeln Sehr oft haben sich die Parteien in den Verhandlungen bis auf einen kleinen Betrag angenähert. Erschöpft und emotional angespannt erklären sie, jetzt sei es genug, man wolle nicht weiter nachgeben. Dann drohen die Verhandlungen an kleinen Einigungsdifferenzen zu scheitern. Häufig haben die Parteien auf dem Weg zu einer Einigung aber schon einen weiten Weg zurückgelegt und nichts wäre jetzt unvernünftiger, als die Einigung an einem relativ kleinen Betrag scheitern zu lassen. In solchen Fällen ist es durchaus sinnvoll, wenn der Mediator die Parteien mit dem Vorschlag überrascht, diese Differenz einfach auszuwürfeln.

50 Das Video ist erschienen bei Nathan Tyler, Boston.

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Last-offer-Arbitration Beide Parteien unterbreiten dem Mediator schriftlich einen Vorschlag. Dieser hat das Recht, sich für den Vorschlag zu entscheiden, der seiner Meinung nach angemessener ist und der dann gilt. Dadurch werden die Parteien zu einer realistischen Sichtweise und fairen Vorschlägen gezwungen, da sie gewissermaßen die „Gunst“ des Mediators erringen müssen. Vorschlag des Mediators Der Mediator setzt einen für ihn angemessenen Betrag schriftlich fest und verschließt das Papier in einem Umschlag. Beide Parteien unterbreiten ein Angebot. Dann wird der Umschlag geöffnet. Der Parteivorschlag, der dem Betrag des Mediators am nächsten kommt, soll gelten. Unverbindliche Schlichtung durch den Mediator Die Parteien können den Mediator auch um einen unverbindlichen Schlichtungsspruch bitten. Dabei erarbeiten sie meist gemeinsam eine Sachverhaltsdarstellung und legen sie dem Mediator vor. Gelingt es dem Mediator nicht, eine Einigung herbeizuführen, erlässt er einen Schlichtungsspruch, der zwar nicht verbindlich ist, den Parteien aber sicherlich einen Anhaltspunkt für die Einigung gibt. Gewiss ist es auch für Unternehmensvertreter leichter, gegenüber dem eigenen Management zu argumentieren, man sei dem Vorschlag eines neutralen Dritten gefolgt, weil man sich dann nicht dem Vorwurf aussetzt, zu nachgiebig gewesen zu sein. Natürlich kann sich der Schlichtungsspruch auch nur auf einen Teil des Konflikts beziehen, beispielsweise den Preis einer Sache. Einer teilt, der andere wählt Dieses Verfahren kennt der eine oder andere vielleicht schon aus der eigenen Kindheit: Wenn es darum geht, Kuchenstücke zu verteilen, darf ein Kind den Kuchen zerteilen, das andere darf das erste Stück nehmen. Durch diesen ‚konditionierten Egoismus‘ (der Teilende will unbedingt sicherstellen, dass er auch ein möglichst großes Stück bekommt) erreicht man, dass der Kuchen im Regelfall gerecht geteilt wird. Dieses Verfahren kann man auch gut anwenden, wenn es um die Verteilung verschiedener Vermögensgegenstände geht, beispielsweise bei einem Nachlass. Wenn daran zwei Personen beteiligt sind, kann man die eine bitten, zwei ‚Pakete‘ von Gegenständen zusammenzustellen und die andere, sich eines der beiden Pakete auszusuchen. Wenn zwei je zur Hälfte beteiligte Gesellschafter nicht mehr zusammenarbeiten wollen, jeder aber die Gesellschaft weiterführen will können sie dieses Verfahren ebenfalls anwenden. Dann kann Gesellschafter A den Wert der Geschäftsanteile bestimmen und B hat das Recht, zu entscheiden, ob er zu diesem Preis den Anteil des B übernehmen will oder ob A seine Gesellschaftsanteile zu diesem Preis übernehmen muss.

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Mediation – Ablauf

Adjusted Winner51 Hierbei handelt es sich um eine patentierte Prozedur, die zu effizienten, neidfreien und ausgeglichenen Lösungen führt. Die Prozedur besteht aus drei Schritten: 1. Im ersten Schritt bewertet jede Partei nach ihrer subjektiven Einschätzung die zu verteilenden Güter, indem sie eine für alle Parteien vorgegebene Punktzahl (in der Regel 100) auf diese Güter nach Wichtigkeit verteilt. 2. In einem zweiten Schritt erhält jede Partei die Güter, denen sie eine höhere Punktzahl als die andere Partei gegeben hat. Danach wird ausgerechnet, wie viele Punkte auf jeder Seite auf die verteilten Güter entfallen, wie viele Punkte also jede Partei realisiert hat. 3. Im dritten Schritt werden nun die Unterschiede in den Summen der Punkte zwischen den Parteien ausgeglichen. Der Ausgleich kann entweder durch Teilung oder Austausch von Gütern erfolgen oder aber durch andere Leistungen derjenigen Partei, die mehr bekommen hat (z. B. Ausgleichszahlung). Die Besonderheit des Verteilungsverfahrens besteht darin, dass beide Parteien die Güter unterschiedlich, also nach ihrer eigenen „Wertschätzung“ bewerten. Für den Wertausgleich haben die Erfinder dieses Verfahrens eine mathematische Formel entwickelt (sog. „Formel für den Frieden“), oft genügt aber auch ein geschickter Mediator, der mit den Parteien eine faire Bestimmung des Wertunterschiedes der zugewiesenen Güter findet.

3.5. Beste Alternative Fortsetzung Fall: Wie wir schon gehört haben, sind die Helds unsicher, ob sie den sich abzeichnenden Kompromiss akzeptieren sollen. Einige der Ziele, die sie sich für die Auseinandersetzung mit AMB gesteckt hatten, können sie offensichtlich nicht erreichen, vor allem nicht die Information der Öffentlichkeit und ein Importverbot für den Great Rambler.

Wann immer Parteien sich im Unklaren darüber sind, ob sie ein Verhandlungsergebnis akzeptieren sollen, kommt die BATNA52 ins Spiel. Es hat sich gezeigt, dass es wenig Sinn macht, sich vor einer Verhandlung bestimmte Ober- oder Untergrenzen festzulegen. Was soll eine Obergrenze, die ich weder innerhalb noch außerhalb einer Verhandlung erreichen kann? Wenn ich also das Ergebnis, auch ein sich abzeichnendes hypothetisches Ergebnis, beurteilen will, so kann nur die Frage entscheidend sein: Was kann ich bekommen, wenn ich diese Verhandlung nicht weiterführe? Die Alternative zur Verhandlung ist sehr häufig der Prozess vor einem staatlichen Gericht. Generationen von Anwälten versuchen sich an der Einschätzung von Prozesschancen. Doch die – notwendigerweise – subjektive Entscheidung des Gerichts hat all diese Versuche zur objektiven Vorhersage eines Ergebnisses durch 51 Dieses Verfahren wurde erfunden von Steven J. Brams und Alan T. Taylor, vgl. dazu Fair Division: From Cake-Cutting to Dispute Resolution, Cambridge University Press, 1996. 52 Vgl. Beitrag Verhandlungsführung 4.3., 6. Schritt.

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abweichende Entscheidungen immer wieder zunichte gemacht. Aus dieser Erkenntnis stammt wohl auch der Satz, dass man „vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand“ sei. Zwar gibt es neuerdings ausgefeilte Verfahren, die durch die Berechnung von Erwartungswerten Aussagen über voraussichtliche gerichtliche Entscheidungen treffen53. Doch auch hier müssen im Rahmen dieser Risikoanalyse immer wieder Entscheidungen getroffen werden, die eine Wertung voraussetzen („Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird das Gericht annehmen, dass eine fahrlässige Körperverletzung vorliegt?“, „Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird der Zeuge aussagen, dass der rote Corsa von rechts kam?“ u.s.w.) Durch diese Aneinanderreihung von Wertungen ergibt sich am Schluss ein bestimmter Erwartungswert, dessen Validität aber davon abhängt, ob ein Gericht die gleichen Wertungen vornimmt und Zeugen sich wie vorhergesagt verhalten etc. Fortsetzung Fall: Das weiß Noah Häberle. Und er weiß auch, dass es für ihn als Mediator relativ leicht ist, an dieser Stelle Prognosen von Mediationsparteien über zukünftige Prozesse ins Wanken zu bringen. „Meine Dame, meine Herren, immer dann, wenn wir in einer Mediation Lösungsmöglichkeiten herausgearbeitet haben und die Parteien noch nicht wissen, ob Sie sich für oder gegen diese Option entscheiden sollen, kläre ich mit den Parteien in Einzelgesprächen, inwieweit es sinnvoll ist, diese Lösungen zu akzeptieren. Dies ist der Fall, wenn das, was eine Partei außerhalb dieser Verhandlung erreichen kann, insbesondere also in einem Prozess, nach Ihrer Einschätzung für sie weniger wert ist als das Verhandlungsergebnis. Einzelgespräche führen wir deshalb, weil wir hier die Grundlage Ihrer Verhandlungsposition erörtern müssen. Das tut man nicht gern, wenn der Verhandlungspartner zuhört. Sehen Sie das auch so?“ Nicken von allen Seiten. „Dann schlage ich vor, dass ich das Gespräch zunächst mit Ihnen, sehr geehrte Eheleute Held, sehr geehrter Kollege Krieger, führe, wenn die Herren von AMB keinen Einspruch erheben.“ Selbst Heiko von Nonnenkirch, der Kritische, signalisiert Einverständnis. Häberle bittet die Herren von AMB, einen kleinen Spaziergang von etwa 15 Minuten zu machen, während er mit den Helds und Krieger spricht. „Sehr geehrtes Ehepaar Held. Wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute, sind Sie mit den bisherigen Ergebnissen nicht so recht zufrieden, zumindest aber unsicher, ob diese Lösungen Ihnen das bringen, was Sie sich vorstellen.“ „Da haben Sie ziemlich recht“, sagt Anton Held und ist überrascht, wie genau Häberle seinen Gemütszustand erfasst hat. „Wissen Sie, es geht uns ja hier nicht um irgendetwas, es geht uns um den Tod unseres Kindes und wir möchten ganz sicher sein, dass wir dazu beitragen können, dass so etwas nie mehr passiert.“ Häberle nickt. „Einverstanden. Lassen Sie uns doch einmal untersuchen, wie Sie diese Ziele mit der von Ihnen ins Auge gefassten Klage erreichen könnten. Ich denke, dass Sie, Herr Kollege Krieger, hierzu am ehesten etwas sagen können.“ Wenn Häberle richtig sieht, wirkt Krieger im Hinblick auf die Prozessaussichten, die er nun schildern soll, nicht sonderlich begeistert. „Also zunächst einmal werden wir AMB auf Zahlung eines Schmerzensgeldes an Berta Held verklagen, die einen Nervenzusammenbruch erlitt, als sie sah, wie ihr kleiner Junge überfahren wurde.“

53 Wer sich näher für derartige Verfahren interessiert, sollte unbedingt den Aufsatz von Eidenmüller, Prozessrisikoanalyse, ZZP 2000, S. 5 ff. lesen.

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Mediation – Ablauf Hier meldet sich bereits Häberle: „Lieber Herr Kollege. lassen wir einmal die Frage, ob ein Schmerzensgeldanspruch überhaupt besteht, beiseite. Wie hoch meinen Sie, könnte ein solcher Anspruch sein und gegen wen könnte er sich richten?“ Krieger: „Nun, wenn ich ganz ehrlich bin, dürfte ein solcher Anspruch sicherlich höchstens im vierstelligen Bereich liegen und er kann sich nach Straßenverkehrsrecht natürlich nur gegen den Halter bzw. Fahrer des Unfallfahrzeugs richten. Allerdings würden wir auch versuchen, einen Anspruch aus Produkthaftung geltend zu machen. Hierzu kann ich aber noch nichts sagen, weil diese Frage noch ein Kollege in meiner Kanzlei prüft.“ „Sind wir uns also einig darüber, dass wir allenfalls einen Schmerzensgeldanspruch in vierstelliger Höhe erwarten könnten, wobei wir die weiteren Voraussetzungen, zum Beispiel das Verschulden, außer Acht lassen wollen. Was können Sie sonst noch erreichen?“ „Öffentlichkeit, volle Öffentlichkeit“, meldet sich Anton Held. „Ich will, dass die Öffentlichkeit erfährt, was für ein gefährliches Fahrzeug dieser Great Rambler ist.“ „Aber meinen Sie nicht, dass das ein risikoreicher und teurer Weg ist, vor allem, wenn Sie an die Prozesskosten denken?“ interveniert Häberle. „Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, denn das „Tagesjournal“ hat uns die volle Finanzierung des Prozesses zugesagt, wenn er dafür exklusive Rechte an der Berichterstattung bekommt.“ „Ich verstehe“, sagt Häberle, „wie lange müssten Sie dafür prozessieren?“ „So lange, wie es das Tagesjournal will.“ „Sie können also nicht aufhören, wann Sie es für richtig halten?“ „Nein, dafür übernehmen sie aber auch die Kosten.“ Häberle gibt zu Bedenken: „Was meinen Sie, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn sie von diesem Deal erfährt?“ Anton Held wird bleich. „Das wäre eine Katastrophe. Man könnte glauben, wir würden aus dem Tod unseres Kindes Kapital schlagen. Diese Vereinbarung darf auf keinen Fall bekannt werden.“ „Und für wie wahrscheinlich halten Sie dies, wenn Sie alle interessierten Reporter bescheiden müssen, dass die exklusiven Rechte beim Tagesjournal liegen?“ Anton Held wird sehr nachdenklich. Häberle fährt fort: „Herr Krieger, was könnten Sie noch bei Gericht erreichen?“ „Wir prüfen gerade, ob und wie wir die Einfuhr bzw. die Zulassung des Great Rambler untersagen lassen können. Der richtige Adressat hierfür dürfte wahrscheinlich nicht das Zivilgericht sein.“ „Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass eine deutsche Behörde die Zulassung eines Fahrzeugs aus einem anderen EU-Land untersagen wird, das sich im Hinblick auf seine Gefährlichkeit nicht von Fahrzeugen seiner Gattung unterscheidet? Sie wissen sicherlich selbst am besten, dass zahlreiche Fahrzeuge mit derartig gefährlichen Motorhauben und Kuhfängern herumfahren, ohne dass dies bisher zu Beschränkungen geführt hat.“ „Natürlich weiß ich das, aber es kann doch nicht sein, dass man einfach zusieht, wie hier potentielle, lassen Sie es mich einfach einmal so nennen, Mordwerkzeuge über unsere Straßen fahren. Da gibt es keine Kühe und ihre Beschaffenheit macht auch keine Geländefahrzeuge erforderlich. Wie kann es möglich sein, dass der Staat den Tod zahlreicher Menschen in Kauf nimmt, damit einige Menschen ihre Geltungssucht austoben können?“ „Ich möchte Ihnen gar nicht widersprechen“, erwidert Häberle. „Und ich kann auch verstehen, dass Sie diese Fahrzeuge wütend machen. Vielleicht kommen wir am besten weiter,

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6. Teil Mediation wenn wir uns noch einmal vor Augen führen, was Sie, liebe Eheleute Held als Ihre Interessen in dieser Sache genannt haben.“ Nachdem Häberle einige Zeit in seinen Unterlagen gekramt hat, fährt er fort: „Wenn ich mir das richtig aufgeschrieben habe, dann haben Sie vor allem Interesse daran, dass – der Schutz anderer Menschen vor der Gefahr Great Rambler sichergestellt wird – Sie Genugtuung für den Tod Ihres Kindes und – Ausgleich für wirtschaftlichen Schaden erhalten. Wenn ich das richtig sehe, würden Sie in einem Gerichtsprozess mit großer Sicherheit viel Öffentlichkeit und damit auch Genugtuung erhalten. Sind Sie, sehr geehrter Herr Kollege Krieger, sich mit mir einig, dass die Untersagung der Zulassung des Fahrzeugs und der Ausgleichs wirtschaftlichen Schadens, insbesondere durch den Verlust von Herrn Helds Arbeitsplatz, ziemlich unwahrscheinlich sind?“ „Wenn Sie es für sich behalten, sehe ich das ähnlich“, pflichtet Krieger bei. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich einmal nur unter sich überlegen – während ich einen kleinen Spaziergang unternehme – ob durch ein Angebot einer festen Anstellung, die vorgesehene förmliche Entschuldigung und die zugesagte Konstruktionsänderung am Frontbereich des Great Rambler samt der zugesagten Mitwirkung durch Herrn Held Ihre Ziele nicht viel besser verwirklicht werden können. Vielleicht könnte die in Aussicht gestellte Stiftung zusätzlich dazu beitragen, generell Gefahren des Straßenverkehrs zu vermindern. Es geht also letztlich um die Frage, ob Sie mit einer sicheren Verhandlungslösung nicht wesentlich weiter kommen können als mit dem unsicheren Ergebnis eines Zivilprozesses. Das Einzige, worauf Sie bei einer Verhandlungslösung verzichten müssten, wäre ein von Ihnen allein bestimmter Gang in die Öffentlichkeit. Wobei dieser für Sie mit dem Risiko behaftet wäre, dass Ihre Vereinbarung mit dem Tagesjournal bekannt wird und Sie dadurch in ein falsches Licht gerückt würden. „ Als Häberle nach zehn Minuten wieder den Raum betritt, ist klar: Die Eheleute Held und ihr Anwalt Krieger wollen die Verhandlungslösung. Und es scheint Häberle so, als ob es der Anwalt gewesen sei, der seinen Klienten die friedliche Lösung nahe gelegt hätte… Ein anschließendes Gespräch mit AMB ergibt in wenigen Minuten, dass das Unternehmen nur die Verhandlungslösung wünscht und zu den Zusagen steht. Einen Prozess würde AMB nur führen, wenn die Verhandlungen scheiterten und die Helds Klage erhöben. Auf Seiten von AMB sieht man deutlich die Gefahr, dass ein Prozess in Richtung einer Lose/Lose-Lösung tendiert.

Wiederholungsfrage: Was meint der Ausdruck „BATNA“ bzw. Risikoanalyse und was bedeutet dies im Rahmen der Mediation?

3.6. Visionen – Phase 5 der Mediation Die Parteien haben sich also auf eine Verhandlungslösung festgelegt. Das wäre normalerweise für einen Mediator das Signal, in den technischen Teil der Fixierung des Ergebnisses überzugehen. Aber Häberle hat da so seine eigenen Vorstellungen. Er meint, dass Lösungen ein besseres Fundament haben, wenn es gelingt, mit den Parteien eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu entwickeln. Natürlich gilt das nur dann, wenn die Parteien in Zukunft auch noch etwas miteinander zu tun

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haben, es also nicht nur um eine distributive Verhandlung geht, bei der Güter verteilt werden. Übung: Was meinen Sie? Ist dies ein Fall für eine gemeinsame Vision? Falls ja, wie könnte sie lauten? Fortsetzung Fall: „Sehr geehrte Parteien, sehr geehrte Kollegen, mit unserer Vereinbarung, die wir noch im Einzelnen ausformulieren werden, haben wir die Vergangenheit endgültig abgeschlossen und verpflichtende gemeinsame Aufgaben für die Zukunft geschaffen. Sie werden in Zukunft, sei es bei der Stiftung, sei es bei der Überarbeitung des Frontteils des Great Rambler, viel miteinander zu tun haben. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gemeinsame Aufgaben leichter zu bewältigen sind, wenn sie nicht nur auf dem Papier stehen, sondern, lassen Sie es mich einmal so sagen, von einer gemeinsamen Idee oder gemeinsamen Vision beseelt werden.“ Nachdem Häberle einen kurzen Blick durchs Fenster geworfen hat, hellt sich seine Miene auf: „Auch der Wettergott freut sich über unsere Einigung. Ich schlage Ihnen daher vor, dass die Parteien 20 Minuten miteinander spazieren gehen und ich in dieser Zeit mit den Kollegen schon einmal stichpunktartig unsere Einigung erarbeite. Bitte denken Sie während des Spaziergangs gemeinsam darüber nach, was Ihre Arbeit in Zukunft verbindet. Zu diesem Zweck möchte ich Sie, sehr geehrte Eheleute Held, bitten, so viel wie möglich an die Zukunft zu denken. Die Vergangenheit können wir leider nicht mehr verändern. Vielleicht können Sie durch eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft aber erreichen, dass vielen anderen Eltern Ihr Schicksal erspart bleibt.“ Als die Parteien nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück sind, sieht Häberle besorgt durch das Fenster. Doch seine Sorge verfliegt schnell. Er sieht, wie die Vier einträchtig und ins Gespräch vertieft – dazu im Gleichschritt – im Park vor dem Hotel auf und ab gehen. Anton Held sagt irgendetwas, was die beiden außen gehenden Vertreter von AMB sehr erfreut. Wenige Minuten später betreten sie den Tagungsraum. Inzwischen spricht auch die bisher sehr schweigsame und immer etwas gedrückt wirkende Berta Held:„Für mich war dieser Spaziergang das Beste an dieser ganzen Meditation.“ – und auf den vorwurfsvollen Blick Häberles korrigiert sie sich – „Entschuldigung, ich meine natürlich Mediation. Ich habe zum ersten Mal ein wenig den Eindruck bekommen, dass wir hier nicht nur herumfeilschen, sondern dass der Tod meines Kindes auch irgendetwas Gutes bewirken kann.“ Ihre Stimme stockt und sie bricht in Tränen aus. „Ich habe das Gefühl, dass Max irgendwie bei uns ist.“ Heiko von Nonnenkirch, der seine Gefühle irgendwo im Gefrierfach deponiert zu haben scheint, sind diese Bemerkungen und die Tränen denkbar unangenehm. Häberle hätte den Gefühle von Berta Held mehr Raum gegeben, um sie in diese Männerrunde aus ihrer Sicht besser zu integrieren, aber Heiko von Nonnenkirch platzt los: „Jetzt bin ich aber gespannt, was Sie unterwegs alles ausgeheckt haben.“ Wenn Bertas Blicke töten könnten, hätte von Nonnenkirch die Antwort auf seine Frage nicht mehr erlebt. So aber fasst Ludwig Köberl zusammen: „Ich erzähle das einmal und wenn ich etwas sagen sollte, was falsch ist, korrigieren Sie mich bitte. Wir haben lange überlegt, was das Verbindende unserer gemeinsamen Tätigkeit sein könnte. Sie nennen das ja wohl Vision. Natürlich haben wir eine ganze Menge Ideen zusammengetragen. Die Grundlagen all dieser Ideen war, dass wir unsere Autos sicherer für Passanten, vor allem aber für Kinder machen wollen. Und dann hat Herr Held einen Werbeslogan für unser Haus erfunden, den wir ganz sicher verwenden werden, sobald unsere Konstruktionsarbeiten abgeschlossen sind. Das, was hinter diesem Werbeslogan steht, ist genau das, was uns verbindet. Dieser Spruch ist einfach unglaublich gut: Unsere Autos sind sicher – selbst wenn Sie nicht darin sitzen!“ Häberle ist überrascht, wie das alles läuft. Zuerst will ein Ehepaar ein Unternehmen wegen der Tötung seines Kindes in der Öffentlichkeit als „Kindsmörder“ verunglimpfen und dann

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6. Teil Mediation erfindet der Vater Werbesprüche für das Unternehmen, die zeigen, wohin die gemeinsame Arbeit gehen soll. Er ist sehr stolz auf seinen Beruf. Allein dadurch, dass man die Parteien ausschließlich auf die Zukunft verpflichtet, kann aus einem Heerlager eine Friedenskonferenz werden. … „Habe ich Sie also richtig verstanden, dass Sie gemeinsam die Idee der Autosicherheit völlig neu definieren wollen, nämlich als eine Sicherheit von innen und von außen?“ Alle Parteien nicken. „Gut“, fährt Häberle fort, „dann möchte ich Ihnen gerne vorführen, was wir inzwischen ausgetüftelt haben.“

Wiederholungsfrage: Was ist eine gemeinsame Vision der Parteien und was bedeutet sie für das Mediationsergebnis?

3.7. Die Einigung – Phase 6 der Mediation Fortsetzung Fall: Häberle führt die Parteien an zwei Pinnwände, auf denen mehrere Blätter Flipchart-Papier angebracht sind. „Wie Sie sehen, waren ihre Anwälte und ich sehr fleißig, während Sie Werbespots gedichtet haben… Wir haben versucht, aus den Optionen, die Sie für eine Lösung ins Auge gefasst haben, eine Regelung mit den nötigen Details zu erarbeiten. Soweit Sie diese Vorschläge absegnen, werden Ihre Anwälte diese einzelnen Regelungspunkte in eine ausformulierte Vereinbarung umsetzen. Das kann natürlich noch einige Tage dauern, was ich aber heute auf jeden Fall mit Ihnen gemeinsam erreichen möchte, ist, dass wir eine Regelung mit klarem Inhalt vereinbaren, die selbst dann wirksam wäre, wenn wir nicht noch zusätzlich eine juristisch ausgefeilte Formulierung vorliegen hätten.“ Smith nickt heftig. „Für uns ist das sehr angenehm, denn dann können wir unserem Vorstand heute noch dieses Papier vorlegen, das er sicher schneller versteht, als eine verklausulierte juristische Formulierung. Hätten Sie vielleicht eine Sekretärin zur Verfügung, damit ich die englische Übersetzung gleich zu Papier bringen kann?“ „Nicht hier in diesen Räumen, aber in 15 Minuten kann meine Sekretärin hier sein. Sie wird sprachlich keine Probleme haben. Ich denke sogar, dass Sie Ihnen die Übersetzungsarbeit abnehmen kann.“ Smith ist begeistert und erstaunt: „Das ist ja ein toller Service!“ Häberle zeigt energisch auf die aufgehängten Flipchart-Blätter. „Ich werde Ihnen jetzt alle Punkte vorlesen. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn es Unklarheiten oder ergänzungsbedürftige Punke gibt.“ Häberle stellt sich neben die Pinnwand und beginnt zu lesen: „Inhalt einer Vereinbarung zwischen AMB Ltd., Großbritannien und AMB Import GmbH, Hamburg sowie Eheleute Anton und Berta Held, Kiel 1. Konstruktionsumbau Fahrzeug Great Rambler (Vorderseite und Stoßstange vorne) – Erreichen des Head Injury Criterium (HIC) von 1.000 frühestens bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h

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Mediation – Ablauf – Kein serienmäßiger Einbau von „Kuhfängern“ bei Auslieferung in Deutschland – Abschrägung der Motorhaube zur Aufnahme kinetischer Energie von Passanten bei einem Zusammenstoß 2. Errichtung einer Stiftung „Sicherheit für Kinder im Straßenverkehr“ – Dotierung 5 Mio. Euro durch AMB – AMB kann seine Beteiligung an der Stiftung angemessen bekanntmachen – Anton und Berta Held übernehmen die Schulung von KindergärtnerInnen und Kindern ohne besondere Vergütung – Schulungsveranstaltungen für Eltern durch Verkehrspädagogen (Aufklärung über das richtige Verhalten von Kindern im Straßenverkehr) – Betreuung von unfallgeschädigten Kindern zur Entlastung ihrer Eltern – Berufliche Ausbildung besonders geschädigter Kinder sowie Übernahme bestimmter Heilmaßnahmen, Beschaffung von Gerät und Installationen in Wohnungen, soweit dies nicht von Dritten aufgrund rechtlicher Verpflichtung zu leisten ist. 3. Zahlung eines Einmalbetrags in Höhe von 100.000 Euro durch AMB an Herrn und Frau Held (steuerlich optimiert).“ Ziffer 1. und 2. waren für die Eheleute Held in Ordnung, wenngleich natürlich eine große Menge an Arbeit durch die Schulung in Kindergärten auf sie zukommen würde. Aber das sind sie ihrem kleinen Max schuldig und sie sind sich ziemlich sicher, dass sie durch direkte Gespräche mit den Kindern eine ganze Menge bewirken könnten. Als sie allerdings Ziffer 3. lesen, sind sie sehr überrascht. Nach ihrer Erinnerung hatten sie diese Zahlung gar nicht vereinbart. Natürlich würden sie das Geld nehmen und es in ihrem Sinne investieren. Sie stellen sich vor, dass sie einen Verkehrsübungsplatz errichten und dort mit den Kindern unter ziemlich realistischen Bedingungen (Videos etc.) das Verhalten im Verkehr üben würden. 4. „Übernahme der Kosten des Mediators und der Anwaltskosten der Eheleute Held durch AMB (bis zur Höhe gesetzlicher Gebühren aus einem Streitwert von 5 Mio. Euro) 5. Offizielle Entschuldigung des Hauses AMB bei Anton und Berta Held mit folgendem Inhalt: – Anteilnahme und Bedauern am Tod von Max – nach Wahl der Eheleute Held in Briefform oder bei gemeinsamem Abendessen mit technischem Vorstand – Great Rambler technisch verbesserungswürdig – AMB wird alles mögliche tun, um Gestaltung der Frontpartie zu verbessern“ Als Anton und Berta Held die Ziffer 5 lesen, bitten sie um eine Auszeit und fangen an, miteinander zu flüstern. Nach einigen Minuten wendet sich Anton Held an Häberle: „Wir verzichten auf diese Entschuldigung. Wir haben durch die Gespräche mit AMB inzwischen den Eindruck gewonnen, dass ihnen der Tod unseres Max wirklich etwas bedeutet. Das genügt uns.“ 6. „Verwaltung von zwei Wohnblöcken Übernahme der Verwaltung von zwei Wohnblöcken mit 80 Werkswohnungen der AMB in Hamburg – 25 Euro pro Wohnung pro Monat ggf. zzgl. MwSt – Überlassung eines Firmenwagens (steuerlich optimiert) – Kündigung dieses Vertrags durch AMB mit Frist von einem Jahr, frühestens Ende des sechsten Jahres

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6. Teil Mediation 7. Werbeslogan AMB darf den Slogan „Unsere Autos sind sicher – selbst wenn Sie nicht darin sitzen“ nach Neugestaltung der Frontpartie kostenlos in allen möglichen Darstellungsformen benutzen und auch verändern 8. Gemeinsame Pressekonferenz Vorstellung der Stiftung „Sicherheit für Kinder im Straßenverkehr“ und der beabsichtigten Verbesserung der Außensicherheit des Great Rambler. Die Eheleute Held werden alle Äußerungen zu Tod von Max und Beschaffenheit des Great Rambler vorher mit AMB abstimmen“ Die Eheleute Held sehen ihren Anwalt an und fragen: „Wie soll das denn geschehen? Wir können doch nicht von vornherein alles wissen, was die Presseleute fragen.“ Krieger beruhigt. „So wie hier die Verhandlungen gelaufen sind, glaube ich, dass die Pressekonferenz vor allem eine Sache sein wird, die AMB betrifft. Bei unserer Diskussion während Ihrer Abwesenheit haben wir folgende Idee entwickelt. Wir gehen vorher gemeinsam mit AMB alle Fragen durch, die von der Presse gestellt werden könnten und einigen uns auf eine Antwort. Sollte dann später doch noch eine Frage kommen, die nicht vorher geklärt worden ist, dann sollten Sie einfach eine mehr oder minder nichtssagende Antwort geben. Können Sie damit leben?“ Anton Held: „Ich glaube schon. Wir wollen ja gemeinsam in der Zukunft etwas bewirken.“ 9. „Verschwiegenheitsklausel Die Eheleute Held werden über den Ablauf dieser Verhandlung und den Inhalt dieser Vereinbarung Stillschweigen bewahren. Absicherung durch Vertragsstrafe von 50.000 Euro.“ Hier erheben Anton und Berta Held lautstark Protest. Eine Vertragsstrafe von 50.000 Euro kann ja ihr gesamtes Leben zerstören. Heiko von Nonnenkirch hält dagegen, denn schließlich zahle man ja auch 100.000 Euro an die Helds und die Leistungen müssten irgendwie im Verhältnis stehen, außerdem sei dieser Punkt für seine Mandantschaft von zentraler Bedeutung. Dennoch können die geschäftlich unerfahrenen Helds mit dieser Drohung nicht leben. Auf Vermittlung von Häberle wird schließlich die Vertragsstrafe auf 25.000 Euro gesenkt und ein genauer Katalog der Punkte, die der Verschwiegenheitspflicht unterfallen, aufgestellt. Als dann die Punkte auf dem Flipchart ergänzt sind, hebt Häberle feierlich den Filzstift: „So, nun haben Sie sich ja wirklich geeinigt. Das war ein gutes Stück Arbeit und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, sehr geehrte Vertreter von AMB, wenn ich als erstes Anton und Berta Held gratulieren möchte, dass sie es geschafft haben, trotz ihres Schmerzes einen Weg zu gehen, der dazu beiträgt, anderen Eltern die Ursache dieses Schmerzes zu ersparen. Ihnen, meine Herren von AMB, gilt aber ebenfalls meine Hochachtung, dass Sie schnell die Ecke der rechtlichen Beurteilung verlassen und gemeinsam mit den Eheleuten Held positive, weiterführende Ideen für Verkehrsteilnehmer und ihr Unternehmen entwickelt haben, damit dieser Unfall nicht vergeblich geschehen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mit Ihrem Projekt ‚Fahrzeugsicherheit‘ der Konkurrenz eine Nase voraus sind. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie mit all Ihren gemeinsamen Plänen erfolgreich sein werden.“ Häberle steht immer noch mit erhobenem Filzstift da, was in Verbindung mit seinen pathetischen Worten sehr komisch wirkt. Als ob er das gemerkt hätte, fährt er fort: „Na, da hätten wir ja fast das Wichtigste vergessen, aber mein erhobener Filzstift hat mich daran erinnert. Bitte unterschreiben Sie alle noch die Vereinbarung, zum Zeichen Ihres Einverständnisses. Ihre Anwälte liefern uns dann das Ganze noch in juristischer Schönschrift“54 54 Da die stichwortartige Niederschrift alle wesentliche Punkte einer Einigung enthält, kommt so ein wirksamer Vertrag zustande, der, da er von den Parteien und Ihren Vertretern unterschrieben ist, als so genannter Anwaltsvergleich auch nach § 794 Absatz 1

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Wiederholungsfragen Wie von Geisterhand öffnen sich die Türen des Raumes und herein kommt, nein: schwebt, ein Ober mit sieben Gläsern Champagner. Als jeder ein Glas in seiner Hand hält, sieht Häberle jeden fest an, zuletzt Frank Smith und sagt feierlich: „All’s well that ends well.“55 Der Brite lächelt und denkt bei sich: „Schön, wenn wir nicht nur große Autos, sondern auch große Kultur exportieren können…“ und antwortet: „The bitter past, more welcome ist the sweet.“56

Wiederholungsfrage: Was ist ein Anwaltsvergleich?

4. Kapitel Beantwortung der Wiederholungs- und Übungsfragen Beantwortung der Wiederholungsfrage zu 1.1 Der Streit kann schnell in eine irrationale Auseinandersetzung ausarten. Dann geht es oft nur noch darum, die andere Seite zu „bestrafen“. Während des Streits um schnelllebige und verderbliche Güter, verlieren diese oft ihren Wert und am Schluss geht die Auseinandersetzung vor allem darum, wer den erst durch den Streit entstandenen Schaden zu ragen hat. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 1.2 1. Die Parteien delegieren das Problem an den Richter, den sie selbst nicht aus wählen können. Dieser versucht in einem Verfahren, auf das die Parteien kaum Einfluss haben, das Problem anstelle der Parteien zu lösen. Der Konflikt wird mit erheblichem Kosten- und Zeitaufwand öffentlich ausgetragen. Das Gerichtsverfahren ist ein Verfahren, das naturgemäß Sieger und Verlierer erzeugt; sein Fokus liegt auf der Vergangenheit. 2. Die Parteien können sich den Schiedsrichter/die Schiedsrichter wählen, der/die die Verhandlung als nicht-öffentliches Verfahren durchführen. Ein Rechtsmittel gegen Schiedsurteile gibt es nicht. Auf Wunsch der Parteien kann der Schiedsrichter seiner Entscheidung den Gedanken der Billigkeit zugrunde legen (§ 1051 III ZPO). 3. „Wer hat Recht?“, „Wer ist schuld?“, „Wer schuldet wem was aus welchem Rechtsgrund?“etc. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 1.3 1. Das Problem wird nicht delegiert, es bleibt bei den Parteien, die Verfahren und Ergebnisse der Konfliktlösung unter Berücksichtigung ihre Interessen, zu bestimmen. Dieses nicht-öffentliche Verfahren legt seinen Fokus auf die Nr. 4b der Zivilprozessordnung vollstreckbar wäre, wenn die dort genannten Angaben hinzugefügt würden. Hierauf hatten die Anwälte in einem Vorgespräch mit Häberle aber verzichtet. 55 „Ende gut, alles gut.“ 56 „Je bitterer die Vergangenheit, umso willkommener die Zukunft.“ Shakespeare, All’s well that ends well, 5. Akt, Szene 3.

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Zukunft, spart für die Beteiligten Zeit und Kosten, schont deren Beziehungen und gewährt Planungssicherheit. 2. „Was wollen wir eigentlich?“ (Frage nach den Interessen) 3. Die Mediation ist ein informelles nicht-öffentliches Verfahren, in dem ein neutraler Dritter – der Mediator – die Verhandlung zwischen den Parteien fördert, um – ohne eigene Entscheidung – eine von beiden Parteien akzeptierte Lösung zu finden. Der Unterschied zur Verhandlung liegt darin, dass eine neutrale dritte Person – der Mediator – als Verhandlungshelfer mitwirkt. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 1.4 1. Bei klärungsbedürftigen Grundsatzfragen, bei Eilsachen, bei Machtungleichgewicht und wenn eine Partei Genugtuung will. (vergleiche auch Anlage 1) 2. Maßgeblich sind vor allem: a) Die seit Jahrrausenden geübte Praxis, Konflikte durch Kampf zu entscheiden; b) die Überzeugung, vor Gericht Recht zu bekommen; c) falsche Einschätzung von Zeit und Kosten eines Prozesses; d) der Wunsch, nach „Vergeltung“; e) Entscheidungsschwächen; f) zügige Arbeit der Gerichte; g) mangelnde Infomationen. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 1.5. Wie war das Ergebnis? Schreiben Sie es bitte für sich selbst auf ein Blatt Papier und begründen Sie, warum Ihnen der gewählte Mediationsstil besonders gefällt. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 2.2 1. Die Vermutung, dass die andere Seite Verbindungen zu dem Mediator hat und der sich daraus ergebende Mangel an Vertrauen in den Mediator. 2. Sie können eine neutrale dritte Institution beauftragen, sie zu beraten und geeignete Mediatoren vorzuschlagen bzw. zu bestimmen. 3. Erfahrungsgemäß legen die Parteien vor allem Wert auf Prozesskompetenz, kommunikative Kompetenz und einen bestimmten Mediationsstil. Beantwortung der Wiederholungsfrage zu 2.4 Er muss prüfen, ob die Parteien wirksam eine Mediation vereinbart haben und dann zwischen sich und den Parteien eine Mediationsvereinbarung abschließen, ob alle, die auf das Ergebnis Einfluss haben, beteiligt sind und ob die Teilnehmer Entscheidungskompetenz haben. Außerdem wird er sich den Ort der Mediation und die Sitzordnung überlegen.

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Wiederholungsfragen

Übung zu 3.1 Das Eröffnungsstatement des Mediators in Punkten a) Vorstellung Mediator, Parteien und Berater b) Anerkennung des Einigungswillens und der emotionalen Belastung der Parteien c) Erläuterung der Charakteristika der Mediation – Kein Gerichtsverfahren, kein Urteil; Entscheidung bleibt bei den Parteien – Freiwilligkeit (auch jederzeitiger Abbruch durch die Parteien möglich) – Rolle des Mediators/Aufgaben/Pflichten Der Mediator ist Förderer des Verhandlungsprozesses, überwacht die Fairness des Verfahrens und hilft bei Lösungen. Er entscheidet nichts. – Verschwiegenheit gegenüber Dritten und gegenüber anderer Partei (bei vertraulicher Information). – Neutralität: Keine Beziehungen (geschäftlich/privat) zu den Parteien – Unparteilichkeit: Kein Interesse, dass eine Partei durch das Verfahren einen besonderen Vorteil erlangt – Möglichkeit zu Einzelgesprächen d) Ziel: Abschluss einer bindenden Vereinbarung e) Erläuterung des Verfahrens, Darstellung der einzelnen Phasen, Erläuterung Joint Session/Caucus f) Spielregeln festlegen g) Klärung äußerer Bedingungen, Zeitplan, Erörterung der Mediationsvereinbarung, Sitzordnung (am Anfang!), Kosten h) Haben Sie noch Fragen? Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 3.2 1. In der transformativen Mediation sollen die Beziehungen der Parteien zueinander vor der Auseinandersetzung über Inhalte so verbessert werden, dass sie eine bessere Lösung der Sachfragen ermöglichen. 2. Gründe: – Es soll die aktive Teilnahme der Parteien gefördert werden, – Vertrauen durch ungehinderten Vortrag der eigenen Sichtweise gebildet werden. – Der Mediator soll eine umfassende Übersicht über den Konflikt erhalten. 3. Er könnte in Einzelgespräche mit den Parteien übergehen. 4. Er kann das durch – Augenkontakt mit den Parteien, – Paraphrasieren des Vortrags der Parteien, – Wiedergabe abwertenden Vortrags in neutraler Sprache, – Verbalisieren (Versuch, das Ungesagte in Worte zu fassen). Ponschab

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Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 3.3 1. Durch richtiges Fragen. Richtiges Fragen dient der Präzisierung der Aussagen, indem der Mediator den Medianten dazu bringt, mitzuteilen, wie etwas genau ist. Fazit: Richtiges Fragen führt zu mehr Klarheit. 2. Der Mediator wird im Regelfall in Einzelsitzungen versuchen, herauszufinden, was die Parteien wirklich bewegt. Oft handelt es sich bei den Interessen um Beweggründe, von denen die Parteien nicht wünschen, dass die anderen Parteien sie – zumindest im Moment – erfahren. Daher fühlen sich die Parteien meistens in einer Einzelsitzung freier, weil besser geschützt, und sind eher bereit, über das zu sprechen, was sie wirklich bewegt. Beantwortung der Wiederholungsfragen zu 3.4 Das Brainstorming dient dazu, dass die Medianten Lösungsmöglichkeiten finden können, ohne dass irgendwelche Zwänge auf sie ausgeübt werden und ohne dass Kommentare, Korrekturen oder Kritik zu den gefundenen Optionen geäußert werden. Die Phase der Bewertung kommt erst, wenn das Brainstorming beendet ist. Die Regeln sind: – Keine Vorschriften für die Einfälle der Teilnehmer – Problemorientierung vor Lösungsorientierung – Quantität vor Qualität der Lösungen Beantwortung der Wiederholungsfrage zu 3.5 BATNA steht für Best Alternative To Negotiated Agreement. Hierbei geht es darum, herauszufinden, welche Lösungen außerhalb des Verhandlungskontextes bestehen und diese zu bewerten. Je mehr Lösungsalternativen eine Partei hat, desto stärker ist ihre Verhandlungsmacht. Das Problem liegt in der Bewertung des konkreten Verhandlungsergebnisses gegenüber sogenannten Nichteinigungsalternativen, wie z. B. bevorstehende Verhandlungen, Prozesse etc. Die Einschätzung der verschiedenen Lösungsalternativen ist natürlich subjektiv. Beantwortung der Wiederholungsfrage zu 3.6 Gemeinsame Vision ist die Vorstellung der Parteien über eine gemeinsame Zukunft im Rahmen des Verhandlungsergebnisses. Sie beschreibt was die Parteien verbindet und damit die gemeinsame Zukunft gestaltet, z. B. gemeinsame Ideen, gemeinsame Überzeugungen, Werte etc. Diese Vision führt dazu, dass das gefundene Ergebnis mit Leben erfüllt und dadurch haltbarer wird. Beantwortung der Wiederholungsfrage zu 3.7 Ein Anwaltsvergleich ist ein Vergleich, den bevollmächtigte Rechtsanwälte (in oder ohne Gegenwart der Parteien) abschließen, wobei sich der Schuldner der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwirft. Der Vergleich ist beim Amtsgericht niederzulegen, bei dem eine der Parteien ihren allgemeinen Gerichtsstand hat (§ 796a ZPO). Dieser von Anwälten abgeschlossene Vergleich hat die gleiche Wirkung wie ein Urteil oder eine notarielle Urkunde, seine Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 794 Abs. 1 Nr. 4b ZPO.

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Mediation oder Gericht

Anlage 1: Mediation oder Gerichtsverfahren? – Eine Entscheidungshilfe – Antwort 1.

Hat das Recht eine klare, eindeutige und befriedigende Lösung für Ihr Problem?

2.

Ist es für Sie wichtig, das Problem zu lösen und dabei die Beziehung aufrechtzuerhalten?

3.

Soll der Fall in die Öffentlichkeit kommen, um dadurch Druck auf die andere Seite auszuüben?

4.

Spielen Kosten für Sie eine Rolle?

5.

Möchten Sie, dass das Verfahren möglichst schnell abgeschlossen wird?

6.

Wollen Sie es der anderen Seite einmal richtig „zeigen“, wollen Sie die andere Seite „fertigmachen“?

7.

Wollen Sie wissen, wer Recht hat?

8.

Ist die andere Seite irrational oder sperrt sie sich mit allen Mitteln gegen die Mediation?

9.

Ist die andere Seite erheblich mächtiger als Sie und kann sie diese Macht gegen Sie ausspielen?

10.

Brauchen Sie die andere Partei, um Ihre Ziele zu verwirklichen?

11.

Geht es um eine rechtliche Grundsatzfrage, die im allgemeinen Interesse entschieden werden sollte?

12.

Geht es um eine Eilmaßnahme oder steht Verjährung unmittelbar bevor?

13.

Steht die Verjährung unmittelbar bevor?

14.

Wollen Sie die Verantwortung für die Lösung des Problems loswerden?

15.

Ist es für Sie wichtig, dass die Probleme des Streitfalls ausführlich erörtert werden?

16.

Sind für Sie Umstände wichtig, die nicht unmittelbar mit dem Streitfall zusammenhängen? Wünschen Sie eine „Generallösung“?

17.

Spielen für Sie Gefühle in dieser Auseinandersetzung eine wichtige Rolle? Punkte Ergebnis Gericht: Je ein Punkt, wenn Sie die Fragen 1, 3, 6–9, 11–14 mit „Ja“ oder die Fragen 2, 4, 5, 10, 15–17 mit „Nein“ beantworten Ergebnis Mediation: Je ein Punkt, wenn Sie die Fragen 2, 4, 5, 10, 15–17 mit „Ja“ oder die Fragen 1, 3, 6–9, 11–14 mit „Nein“ beantworten

Um herauszufinden, ob ein Konflikt durch Mediaton oder Gerichtsverfahren gelöst werden sollte, können Sie die vorstehenden Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Jeder dieser Antworten ist ein bestimmter Lösungsweg (Gericht oder Ponschab

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6. Teil Mediation

Mediation) zugeordnet. Bitte addieren Sie dann die Punkte für Ihre Antworten, am Ende ergibt sich eine Mehrheit für Mediaton oder Gerichtsverfahren.

Anlage 2: Mediationsklauseln Mediationsklausel 1 Allgemeine Mediationsklausel 1. Die Parteien werden versuchen, alle Probleme, die bei der Durchführung dieser Vereinbarung entstehen, gütlich durch Verhandlungen zu lösen. 2. Gelingt es den Parteien nicht, ihre Meinungsverschiedenheiten binnen 60 Tagen nach der Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen gütlich beizulegen, werden sie ein Mediationsverfahren gemäß der Verfahrensordnung der EUCON – Europäisches Institut für Conflict Management e. V. durchführen. Entsprechendes gilt, wenn die Verhandlungen nicht binnen 30 Tagen nach Zugang der Aufforderung aufgenommen werden. 3. Durch diese Vereinbarung ist keine Partei gehindert, ein gerichtliches Eilverfahren, insbesondere ein Arrest- oder einstweiliges Verfügungsverfahren durchzuführen.

Mediationsklausel 2 Mediation und Schiedsverfahren 1. Die Parteien werden sich nach besten Kräften darum bemühen, jede Streitigkeit, die sich aus (Rechtsbeziehung: näher zu bezeichnen) ergibt oder im Zusammenhang hiermit entsteht, in direkten Verhandlungen beizulegen. 2. Gelingt es den Parteien nicht, innerhalb von 60 Tagen nach dem Zugang einer Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen ihre Meinungsverschiedenheiten gütlich beizulegen, werden die Parteien eine Mediation nach der Verfahrensordnung der EUCON – Europäisches Institut für Conflict management e. V. durchführen. Dasselbe gilt, wenn Verhandlungen nicht binnen 30 Tagen nach Zugang der Aufforderung aufgenommen werden. 3. Die Parteien werden aus den auf Antrag einer oder sämtlicher Parteien von der EUCON vorgeschlagenen Personen einen Mediator bestellen. Sollte eine Einigung nicht binnen 30 Tagen zustande kommen, so wird die EUCON einen Mediator bestellen. 4. Gelangen die Parteien nicht innerhalb von 60 Tagen (oder einer anderen von den Parteien vereinbarten Frist) seit Bestellung eines Mediators zu einer einvernehmlichen Lösung, ist jede Partei berechtigt, ein Schiedsverfahren einzuleiten und ein Schiedsgericht über die Meinungsverschiedenheit, die Gegenstand der Mediation war oder hätte sein sollen, entscheiden zu lassen. Entsprechendes gilt im Falle des Scheiterns der Mediation. In diesem Falle, verpflichten sich beide Parteien, nicht vor 30 Tagen nach der Feststellung der Been-

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Mediationsklauseln

digung des Mediationsverfahrens durch den Mediator ein schiedsgerichtliches Verfahren einzuleiten. 5. Durch Vereinbarung können die Parteien das Mediationsverfahren jederzeit in ein Schiedsverfahren überleiten57. 6. Für die Einleitung eines Schiedsverfahrens, die Anzahl und Auswahl der Schiedsrichter sowie die Durchführung des Verfahren gelten die folgenden Vorschriften: (Es folgen Vereinbarungen der Parteien oder der Verweis auf entsprechende Regelungen der Verfahrensordnungen von Schiedsgerichtsinstitutionen.)

Mediationsklausel 3 Mediation und Prozess vor staatlichen Gerichten 1. Die Parteien werden sich nach besten Kräften bemühen, jede Streitigkeit, die sich aus (Rechtsbeziehung: näher zu bezeichnen) ergibt oder im Zusammenhang hiermit entsteht, in direkten Verhandlungen beizulegen. 2. Gelingt es den Parteien nicht, innerhalb von 60 Tagen nach Zugang der Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen ihre Meinungsverschiedenheiten gütlich beizulegen, werden sie eine Mediation nach der Verfahrensordnung der EUCON – Europäisches Institut für Conflict Management e. V. durchführen. Dasselbe gilt, wenn die Verhandlungen nicht binnen 30 Tagen nach Zugang der Aufforderung aufgenommen werden. 3. Die Parteien werden aus dem auf Antrag einer oder sämtlicher Parteien von der EUCON vorgeschlagenen Personen einen Mediator bestellen. Sollte eine Einigung nicht binnen 30 Tagen zustande kommen, wird die EUCON einen Mediator bestellen. Gelangen die Parteien nicht innerhalb von 60 Tagen (oder einer anderen von den Parteien vereinbarten Frist) seit der Bestellung eines Mediators zu einer einvernehmlichen Lösung, ist jede Partei berechtigt, das zuständige Gericht anzurufen. 4. Diese Vereinbarung hindert keine Partei, ein gerichtliches Eilverfahren, insbesondere ein Arrest- oder einstweiliges Verfügungsverfahren, durchzuführen. 5. Im Falle des Scheiterns einer eingeleiteten Mediation verpflichten sich beide Parteien, nicht vor 30 Tagen nach der Feststellung der Beendigung des Mediationsverfahrens durch den Mediator ein gerichtliches Verfahren einzuleiten.

57 Die Wahrnehmung des Amtes des Schiedsrichters durch den Mediator ist nur möglich, wenn die getroffene Vereinbarung als sogenannter Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut beurkundet werden soll und im Übrigen die Tätigkeit des Mediators als Schiedsrichter rechtlich zulässig ist.

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6. Teil Mediation

Anlage 3: Mediationsvereinbarung Mediationsvereinbarung zwischen 1. … und 2. … – im folgenden Parteien genannt – §1 Die Parteien vereinbaren hiermit, ein Mediationsverfahren gemäß der Verfahrensordnung der EUCON – Europäisches Institut für Conflict Management e. V.58 hinsichtlich des folgenden Konfliktes durchzuführen: (kurze Beschreibung des Streitfalles) §2 Die Parteien erkennen die Verfahrensordnung der EUCON – Europäisches Institut für Conflict Management e. V. als verbindlich an, soweit nicht in dieser Vereinbarung oder in der Mediationsvereinbarung mit dem Mediator schriftlich abweichende Regelungen getroffen werden. §3 Die Parteien vereinbaren verbindlich, während des Mediationsverfahrens erlangte Informationen vertraulich zu behandeln. Alle Dokumente, Erklärungen, Informationen sowie sonstiges Material, das vor oder während der Mediationssitzungen, schriftlich oder mündlich, gegeben oder erteilt werden, dürfen von beiden Parteien lediglich für die Zwecke der Mediation benutzt werden. Die Parteien verpflichten sich insbesondere, den Mediator in einem nachfolgenden Schiedsgerichts- oder ordentlichen Gerichtsverfahren nicht als Zeugen für Tatsachen zu benennen, die ihm während des Mediationsverfahrens offenbart wurden. …



Ort, Datum

Ort, Datum





Partei zu 1

Partei zu 2

58 Erhältlich über www.eucon-institut.de oder durch Anfrage bei EUCON, Schackstraße 1, 80539 München.

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Vor- und Nachteile von Einzelsitzungen

Anlage 4: Vor- und Nachteile von Einzelsitzungen Vorteile – Größere Offenheit der Parteien – Bessere Information des Mediators – Bessere Prozessteuerung durch Mediator – Keine Beeinflussung der Kreativität durch Gegenseite – Verhinderung der emotionalen Eskalation – Flottmachen“ steckengebliebener Verhandlungen – Bewahrung wichtiger Geheimnisse Nachteile – Vertrauensproblem der anderen Partei – Gefahr der Beeinflussung des Mediators durch die Parteien – Gefahr der Dominanz des Mediators durch Informationsvorsprung – Gefahr des Bruchs der Verschwiegenheit – Verständnis für Standpunkt der anderen Seite mangels offener Information erschwert – Wenig emotionaler Austausch zwischenâ Punkt ergänzenâ – Gefahr des Kontrollverlustes der Parteien über den Prozess – Stabilität des Ergebnisses fraglich

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7. Teil Praxis Oder: Die tägliche Kommunikation und Rhetorik für Anwälte In den ersten Teilen dieses Buches sind theoretische und praktische Aspekte der anwaltlichen Kommunikation erörtert worden. In diesem Teil geht es nur um die praktische Anwendung. Vieles geht hier auch auf Erlebnisse und Erfahrungen aus eigener Berufsarbeit als Anwalt zurück. Es ist wichtig, sowohl über die Theorie als auch über die praktische Anwendung Bescheid zu wissen und beides zu beherrschen. Nicht nur, um diese Grundlagen im anwaltlichen Alltag anzuwenden, sondern manchmal auch, um das Gegenteil zu tun. Ja, sie haben richtig gelesen: Manchmal kann auch das Gegenteil richtig sein. Wann das Gegenteil richtig sein kann, kann jedoch nur der beurteilen, der genau über die Regeln und deren Grundlagen informiert ist. Um eine möglichst schnelle Information zu ermöglichen, wurde der Text in Form von Kernaussagen, manchmal nur in Schlagworten aufbereitet. Wenn im Folgenden von Anwälten, Richtern, Mandanten etc. die Rede ist, dann sind immer auch Anwältinnen, Richterinnen, Mandantinnen etc. eingeschlossen. Ich werde häufig darauf hinweisen, wie wichtig es ist, den Gesprächspartner dort abzuholen wo er ist. Das gilt vor allem für • den eigenen Mandanten, • den Prozessgegner, • dessen Anwalt, • den Richter, • den außergerichtlichen Verhandlungspartner, • den Sachbearbeiter der Versicherung etc. In die Gesprächspraxis umgesetzt, heißt dieses Abholen, dass ich • den Fall aus der Sicht des anderen sehe, • überlege, was dessen wichtigstes Ziel ist, • eventuell danach frage, was ihm wichtig ist, • eine Lösung suche, in der auch dessen Problem gelöst wird, • dessen Problem zumindest als verständlich und wichtig betrachte, dies auch erkläre und deshalb das Problem von mir aus auch ernst nehme.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

1. Kapitel Das Gespräch des Anwalts mit dem Mandanten Das Gespräch mit dem Mandanten ist in der Regel die erste anwaltliche Tätigkeit, wenn das Mandat nicht nur schriftlich abgewickelt wird. Die Ausführungen zum Gespräch können sinngemäß auch weitgehend auf die Korrespondenz mit dem Mandanten übertragen werden. Nach einer amerikanischen Untersuchung erfolgen 75 % der Vollmachtskündigungen durch Mandanten nur deshalb, weil die Kommunikation mit dem Mandanten vom Anwalt vernachlässigt wird! Es heißt dann: Der Anwalt hat keine Zeit für mich, ich bin nicht wichtig für ihn, er informiert mich nicht, er ruft mich nicht zurück, er ist für mich nicht zu erreichen, die Sache ist für ihn nicht bedeutend. Deshalb ist das Gespräch mit dem Mandanten so ungeheuer wichtig.

1.1. Was ist das Ziel des Mandantengespräches? • Der Mandant soll sich beim Anwalt geborgen fühlen – sonst geht er zu einem anderen. • Der Anwalt soll erste Informationen über den Mandanten, seine Wünsche, seine Mentalität bekommen. • Der Anwalt soll die Grundlagen für seine Entscheidung bekommen: zum einen, ob er diesen Mandanten haben will und zum anderen, ob er dieses Mandat überhaupt übernehmen will. • Der Anwalt soll die erforderlichen Sachinformationen bekommen, um für den Mandanten arbeiten zu können. • Der Mandant soll informiert werden, was die Arbeit des Anwalts kosten wird und wie er dafür zu zahlen hat. • Die Strategie für die weitere Vorgangsweise soll erörtert und gemeinsam fixiert werden. • Der Mandant soll den Anwalt kennen lernen als den, der seine Sache mit Energie und Schwung angeht. • Dem Mandanten soll vermittelt werden, dass seine drei Hauptbedürfnisse erfüllt werden, nämlich: – sein Problem wird ernst genommen, – er wird informiert, wie es jetzt konkret weitergeht, – er sieht, dass der Anwalt ab jetzt voll für ihn engagiert ist. • Möglichst effizienter und zeitsparender Ablauf des Gespräches, ohne dass sich der Mandant gedrängt fühlt.

1.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Dem Mandanten schriftlich oder telefonisch einen konkreten Terminvorschlag unterbreiten mit dem Hinweis, dass der Termin verschiebbar ist, wenn er ihm nicht passt. 250

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Mandantengespräch

• Auch die mehr technischen Fragen wie eigene Kleidung, Bestellung von Getränken, Funktionieren des Diktiergerätes, Notizblöcke auch für den Mandanten, Ordnung im Besprechungszimmer sowie insbesondere, dass der Mandant keine anderen Akten sehen kann, gehören zu den Standards der Gesprächsvorbereitung. • Schon vor dem Gespräch genau überlegen und vorbereiten, welche Fragen man dem Mandanten stellen wird, um welche Informationen zu erhalten. Zur Erleichterung und Kontrolle eventuell auch eine schriftliche Liste zusammenstellen. • Wenn eine Verspätung des Gesprächsbeginns unvermeidlich ist, dem Mandanten durch die Sekretärin mitteilen lassen, dass sich der Anwalt voraussichtlich um 10 Minuten verspätet. • Wenn die Verspätung länger als diese 10 Minuten dauert, neuerlich durch die Sekretärin mitteilen lassen, mit welcher Verspätung wiederum gerechnet werden muss, aus welchen Gründen und dass der Anwalt angerufen (gebeten) hat, dies dem Mandanten mitzuteilen, damit er über den Grund der Verspätung informiert ist. • Den Mandanten nicht – wie manchmal bei öffentlichen Verkehrsmitteln mitten auf der (Warte-)Strecke – ohne Information über Grund und Dauer der Verspätung im Ungewissen lassen. • Zum festgelegten Zeitpunkt den Mandanten zur Besprechung holen, also keine Verspätung oder Verfrühung zulassen. • Sitzordnung vorher überlegen und den Mandanten zu seinem Platz führen. • Dem Mandanten den wichtigsten Platz anbieten. • Versuchen Sie, selbst zur rechten Hand des Mandanten zu sitzen, weil dann nicht die eigene schreibende Hand eine Barriere zum Mandanten bildet. • Linkshänder (Linksschreiber) sitzen zur linken Hand des Mandanten. • Der Anwalt beginnt mit der Frage: „Was können wir (kann ich) für Sie tun?“ oder „Was führt Sie zu uns (zu mir)?“. • Dann in der ersten Phase, mindestens 15 Minuten, nur zuhören, mitschreiben, offene Fragen notieren, aber nicht unterbrechen, auch nicht durch einfache Verständnisfragen. Der Mandant muss einfach ungestört reden dürfen. • Jede Unterbrechung in dieser ersten Phase lenkt den Mandanten von den Sachen, die für ihn wichtig sind, ab. Er wird durch jede Frage von den Themen, die für ihn wichtig sind, zu den Themen und Fragen geführt, die für den Anwalt wichtig sind. • Der Mandant ist beim frühen Nachfragen eventuell frustriert, weil er den Eindruck hat, dass auch der eigene Anwalt ihm nicht zuhören kann und dass er keine Möglichkeit hat, die ihm (!) – und nicht dem Anwalt – wichtig scheinenden Sachen mitzuteilen. • In der Körperhaltung deutliches, auf den Mandanten zentriertes Interesse zeigen: Hinwendung mit dem Körper, Augenkontakt, Gesichtsausdruck, begleitendes Kopfnicken etc.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• In dieser ersten Phase lernt der Anwalt den Mandanten kennen und kann ihn besser einschätzen. • Nach der ersten Phase, also nach ca. 15 Minuten, mit Nachfragen beginnen, die notierten Fragen abarbeiten. Wenn der Mandant schon vorher mit seiner Schilderung fertig ist, selbstverständlich früher mit den Fragen beginnen. • Dem Mandanten vorschlagen, wie man weiter vorgehen will: Genau festlegen, was der Mandant machen soll, was ich als Anwalt erledigen werde. Dazu sollte auch ein Zeitplan erstellt werden. Diese Aufteilung der Arbeit sollte auf jeden Fall auch schriftlich bestätigt werden. Aus (eventuell nur vorgeschobenen) Missverständnissen bei der Arbeitsaufteilung entstehen immer wieder unangenehme Probleme. • Möglichst in Gegenwart des Mandanten schon mit der Arbeit beginnen, z. B.: – Sekretärin kommen lassen und bitten, einen Grundbuchauszug zu besorgen, – mit Behörden, Gericht oder Gegenanwalt etc. telefonieren, wenn es sich nur um ein kurzes Gespräch handelt, – Brief an Behörden, Gericht, Gegenanwalt diktieren. • Der Mandant sieht dadurch selbst, dass sofort mit der Arbeit an seinem Fall begonnen wird. • Initiativ das zu erwartende Honorar des Anwalts ansprechen: – wenn das Honorar genau ermittelbar ist, den Betrag nennen; – wenn es abhängig vom Arbeitsumfang ist, darauf hinweisen, dass das Honorar in einem solchen Fall erfahrungsgemäß z. B. zwischen 1.000 Euro und 2.000 Euro liegt. Dabei genau festlegen, ob dies nur eine unverbindliche Schätzung oder ein garantierter Rahmen ist; – wenn die Arbeit von nicht bekannten Weiterungen und den Reaktionen der Gegenseite abhängig ist, kann vereinbart werden, dass der Mandant bei Erreichen des Betrages von z. B. 3.000 Euro informiert wird. Bis zu dieser Information kann der Mandant sich darauf verlassen, dass er nicht mehr zahlen muss; – genau besprechen, dass hierzu noch die Umsatzsteuer (Prozentsatz nennen), die eigenen Barauslagen des Anwalts und fremde Auslagen, also von dritter Seite kommen; – eigene Barauslagen genau definieren, z. B. für Telefonate, Porto, Fax, Kopien etc.; – Hinweis, mit welchen fremden Barauslagen der Mandant rechnen muss: Kosten der Notariatsakte, Gerichtsgebühren, öffentliche Gebühren, Abgaben, Steuern etc.; – eventuell Hinweis, dass eigene Barauslagen in der Regel (z. B.) mit 3 % der Höhe des Honorars pauschaliert werden und Einverständnis hierzu einholen; – es kann auch ein Stundensatz vereinbart werden. Dabei sollte sofort die Höhe festgelegt und klargestellt werden, dass das nur die juristische Tätigkeit betrifft, die Arbeit des Sekretariats damit aber auch abgegolten ist;

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Mandantengespräch

– es kann auch ein Pauschalhonorar vereinbart werden. In diesem Fall ist genau zu klären, welche Arbeiten, welche Auslagen des Rechtsanwalts und welche fremden Auslagen damit abgegolten sind. • Mitteilen, wie abgerechnet wird, z. B. monatlich, vierteljährlich, halbjährlich, am Ende jeden Jahres, bei Erreichen eines Zwischenergebnisses oder bei Beendigung der Arbeit und Erledigung der Akte. • Informieren, dass laufend Teilkostenbeträge erbeten werden und ein Teilkostenbetrag in Höhe von z. B. 1.000 Euro am Beginn überwiesen werden soll. • Teilkostenbeträge nicht als „Vorschuss“ oder „Kostenvorschuss“ bezeichnen, weil dies als Ausdruck des Misstrauens empfunden werden könnte. • Fallweise wird die Möglichkeit bestehen, für den Mandanten Prozesskostenhilfe (Verfahrenshilfe, früher Armenrecht) zu beantragen. Darüber und über die Vorund Nachteile der Beantragung ist der Mandant zu informieren, so dass er selber die Entscheidung treffen kann, ob er den Antrag stellen will. • In Gegenwart des Mandanten ein Protokoll der gerade durchgeführten Besprechung diktieren. Der Mandant kann eventuelle Missverständnisse gleich korrigieren, der Anwalt kann Ergänzungen anbringen und noch zusätzliche Fragen stellen. Auch die Arbeitsverteilung zwischen Mandant und Anwalt und der Inhalt des Honorargespräches sollten unbedingt enthalten sein. Der Mandant erhält das Protokoll zwei Tage später mit einem Begleitbrief. Aus dem Protokoll muss vor allem das Ergebnis der Besprechung klar und deutlich ersichtlich sein, also die konkreten dem Anwalt übermittelten Informationen, was entschieden wurde, wer jetzt agieren muss, wie es weitergeht, etc. • Bei Mandanten aus einem anderen Kulturkreis besonders behutsam und vorsichtig sein. Zu leicht kann ein Vorgehen, das bei uns selbstverständlich ist, in der dortigen Kultur als grober Fehltritt empfunden werden. • Juristische Fachsprache und schwierige Wörter vermeiden; dort wo sie unbedingt erforderlich sind, genau und bildhaft erklären. • Während des ganzen Gespräches immer die Interessenlage des Mandanten berücksichtigen. Was will er wirklich? Notfalls immer wieder behutsam nachfragen. • Bei Empfehlungen immer darauf hinweisen, dass die Entscheidung beim Mandanten liegt, welche Kosten, Risiken und Chancen damit verbunden sind, wie der zeitliche Rahmen aussieht etc. Der Mandant muss wissen, weshalb der Anwalt diese Empfehlung gibt, also die Gründe für die Empfehlung verstehen, damit er sich auch selber damit identifizieren kann. • Bei Empfehlungen sollten möglichst immer Alternativen aufgezeigt werden, so dass der Mandant eine echte Wahlmöglichkeit hat. • Höflichkeit und Bescheidenheit sind Eigenschaften, die die Kommunikation erheblich leichter machen. • Der Anwalt sollte lange Ausführungen vermeiden. Wenn diese unbedingt erforderlich sind, Pausen einlegen und sich durch Rückfragen und Einbindung des Mandanten in das Gespräch vergewissern, dass er alles verstanden hat.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• In der Wortwahl ganz auf den Zuhörer einstellen. Für Missverständnisse ist in der Regel immer der Absender, also der Redende, verantwortlich, nicht der Empfänger, also nicht der Zuhörende! • Wir als Anwälte müssen uns immer bewusst sein: Für den Mandanten geht es in der Regel um eine emotional belastende Ausnahmesituation, vielleicht das jetzt für ihn mit Abstand wichtigste Thema. Für den Anwalt hingegen ist es ein Mandant unter Hunderten. Trotzdem ist die Situation des Mandanten das Wichtigste, an dem sich der Anwalt orientieren muss. Mit der Bemerkung „Sie sind die 18. Ehescheidung in dieser Woche.“ wird zwar Kompetenz vermittelt, gleichzeitig aber auch ausgesprochen „Sie sind kein individueller Fall.“, was der Mandant aber gerade sein will. • Während des Gespräches darf der Anwalt nicht gestört werden, auch nicht durch eingehende Telefonate. Dies kann gegenüber dem Mandanten am Beginn deutlich demonstriert werden, indem der Sekretärin in Gegenwart des Mandanten die Weisung gegeben wird: „Bitte keine Telefonate, solange ich mit Frau Plunadi in der Besprechung bin!“. • Natürlich gibt es hierbei auch Ausnahmen: wenn es sich um einen Notfall handelt oder ein Neuauftrag telefonisch hereinkommt. Neuaufträge sind deshalb immer durchzustellen, weil der potentielle neue Mandant in der Regel eine Liste von mehreren Anwälten hat und er bei Nichterreichen einfach den nächsten Anwalt kontaktiert. In jedem Fall ist es jedoch wichtig, dass der Anwalt das trotzdem durchgestellte Telefonat als Notsituation oder Notfall bezeichnet, sich beim Mandanten entschuldigt und das Telefonat von einem anderen Raum aus führt, so dass der Mandant nicht fremde Angelegenheiten mithören kann. • Manchmal ergibt es sich, dass Mandanten bei der Schilderung des Sachverhaltes in Tränen ausbrechen. In diesen seltenen Situationen hat es sich bewährt, aufzustehen, um aus einem anderen Zimmer eine Packung Papiertaschentücher zu holen. Dadurch hat der Mandant etwas Zeit, um sich zu fassen und findet durch meine Papiertaschentücher wortlos volles Verständnis für seine Situation. Die Besprechung geht dann meist ohne Tränen weiter. • Durch intensiven Augenkontakt mit dem Mandanten merke ich sofort, ob meine Ausführungen bei ihm ankommen und verstanden werden. Ein leichtes Nicken, kurze zustimmende Äußerungen (aha, ja, richtig, genau) zeigen, dass der Mandant mich versteht. • Sobald das Gesicht des Mandanten nicht mehr „mitgeht“, er also nicht nickt, sondern das Gesicht statisch wird, sich Falten bilden, sich die Augen zusammenziehen, der Mandant nicht mehr mich ansieht, sondern an mir vorbei sieht und nachdenklich wird, in seinen Unterlagen blättert oder gar den Kopf schüttelt, weiß ich, dass er Probleme mit meinen Ausführungen hat: Entweder ich habe etwas Falsches gesagt oder ich war für ihn nicht mehr verständlich und er sucht in sich (nachdenklich) oder jenseits von mir (Blick in die Unterlagen oder an mir vorbei zu anderen Fixpunkten) Verständnis. • Bei dem geringsten Zeichen, dass etwas von mir falsch erklärt wurde, dass es nicht verstanden wurde, dass der Mandant meinen Ausführungen nicht mit voller Aufmerksamkeit folgt, unterbreche ich sofort meine Ausführungen und frage nach. Wenn dies nicht geschieht, besteht Gefahr, dass der Mandant nur mehr

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Mandantengespräch

mit einem Teil seiner Gedanken meinen Ausführungen folgt, der andere Teil aber blockiert ist durch das als falsch oder unverständlich Empfundene. • Am Ende des Gespräches muss jedenfalls völlig klar sein, wie es weitergeht, wer welche Schritte zur Erledigung übernommen hat, bei wem der nächste Schritt liegt etc. • Wenn der Mandant am Ende der Besprechung seine Unterlagen wieder eingepackt hat und aufstehen will, fragen, ob der Mandant noch etwas sagen will, oder ob noch Fragen offen sind. Meist führt dies zu einer Fortsetzung des Gespräches. Der Mandant hat dann jedenfalls das Gefühl, dass er wirklich alles besprechen konnte. • Nach Abschluss des Gespräches wird der Mandant vom Anwalt zu seinem Mantel und dann bis zur Kanzleitür begleitet.

1.3. Beispiele • Wie bereits gesagt, wissen wir aus den USA, dass 75 % der Vollmachtskündigungen deshalb erfolgen, weil der Anwalt keine Zeit für den Mandanten hat, ihn nicht wichtig nimmt und ihn nicht informiert. • Aus Hannover wurde mir von einem Anwalt berichtet, dass der Mandant nach 10 Minuten fragte, ob er noch weiterreden dürfe, ob der Anwalt noch Zeit habe. Dies wiederholte sich noch öfters im zweistündigen Gespräch. Der Mandant wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der Anwalt genügend Zeit für ihn habe. Am nächsten Tag rief die Ehefrau des Mandanten an und teilte dem Anwalt mit, dass der Mandant nach diesem Gespräch erstmals seit Monaten keine Schlafstörungen mehr gehabt habe. • Von einem Fall in Tirol ist bekannt, dass eine vermögende Bäuerin mit riesigem Grundbesitz zu einem Anwalt gekommen war, um ihr Testament zu errichten. Der Anwalt hatte die Fakten abgefragt und dann das Gespräch beendet, da er alle Informationen hatte. Die Bäuerin aber wollte im Detail ihre Lebensumstände schildern und vor allem erzählen und reden. Sie wurde aber in ihrer Erzählung einfach abgeschnitten, weil der Anwalt alle Informationen hatte, die er (!) brauchte. Die Bäuerin hätte aber das Gespräch gebraucht, um ausführlich vor einem interessierten Zuhörer zu erzählen. Sie kam nie wieder. Als Mandantin war sie verloren, bevor die Arbeit begonnen worden war. • In fremden Kulturkreisen sind leicht Brüskierungen möglich: In Japan muss die überreichte Visitenkarte mit beiden Händen entgegengenommen werden, genau studiert und dann behutsam, wie eine wertvolle Banknote, eingesteckt werden. Im Iran darf ein fremder Mann nie einer Frau die Hand geben. Der joviale Klaps einiger Amerikaner auf die Schulter des asiatischen Gesprächspartners hat schon große Geschäfte scheitern lassen.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

1.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Das Wichtigste im Gespräch mit dem Mandanten ist: zuhören, zuhören, zuhören. Manche Anwälte können es nicht, manche glauben, nicht die Zeit dazu zu haben. • Selber bewusst in Geduld und Einfühlungsvermögen üben. • Solide Kompetenz und Interesse am Menschen vertiefen und zeigen. • Bei ausufernden endlosen Gesprächen kann der Mandant eventuell darauf hingewiesen werden, dass ich jetzt alle Informationen habe und gerne bereit bin, den Sachverhalt weiter im Detail zu erörtern. Wenn die aufgewandte Zeit ein Faktor bei der Honorarberechnung ist, dem Mandanten erklären, dass ich verhindern möchte, dass er mir später, wenn er die Honorarnote erhält, Vorwürfe macht, dass die Besprechungen so lange gedauert haben. • Bei einem Gespräch Tonband mitlaufen lassen und dann selbst analysieren, wie oft ich dazwischen geredet habe und dem Mandanten das Wort abgeschnitten habe. • Einen Kollegen beiziehen, der mein Verhalten dann schriftlich analysiert. Schriftlich deshalb, weil wir in der Regel die gleichen Fehler immer wieder machen und die schriftliche Zusammenstellung die Auffrischung erleichtert. • Analysieren Sie, wie viel Prozent der Zeit der Anwalt und wie viel Prozent der Mandant gesprochen hat. Bei guten Gesprächen redet der Anwalt nicht mehr als 10 bis 20%. • Versuchen Sie, den Redeanteil des Mandanten sukzessive zu erhöhen. • Beim Verfolgen von Fernsehserien über Anwälte erhält man immer wieder Anregungen, was gut und was schlecht gemacht wird. • Bei der Vorbereitung zu jedem Gespräch kann ich mir überlegen, was das optimale Ergebnis des Gesprächs sein könnte. Ich kann für mich vorher schriftlich festhalten, was die einzelnen Themen und das optimale Ergebnis sein könnten. Damit habe ich die Sicherheit, dann beim Gespräch nichts zu vergessen, das Ziel nie aus den Augen zu verlieren. Ich habe eine Kontrolle, ob ich auch alle Unterlagen, die ich für das Gespräch benötige, vorbereitet habe. • Eine derartige schriftliche Vorbereitung könnte z. B. bei einem Autounfall folgendermaßen aussehen: – Erhebung aller Daten der beteiligten Personen; – Mandant soll Skizze machen; – Höhe der Ansprüche des Mandanten in eine vorbereitete Übersicht über alle denkbaren Ersatzansprüche eintragen; – Mandant soll Honorarteilbetrag, z. B. 1.000 Euro, bezahlen; – Entscheidung, ob gleich prozessiert wird oder ob vorher noch ein letztes Mal mit der gegnerischen Versicherung verhandelt wird; – Gibt es Vergleichsmöglichkeiten, dem Grunde nach (Alleinverschulden oder Mitverschulden) und der Höhe nach (Höhe des Schmerzensgeldes)?; 256

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Außergerichtliche Verhandlungen

– Wenn noch andere Familienmitglieder vom Unfall betroffen sind, mit dem Mandanten abklären, ob ich auch diese vertreten soll; – Vollmachtsformular vorbereiten und vom Mandant unterschreiben lassen.

2. Kapitel Außergerichtliche Verhandlungen Bei Verhandlungen außerhalb des Gerichtes zeigt sich eine der Qualitäten des Anwalts: die Streitvermeidung. Gelingt es den beteiligten Anwälten, eine für alle akzeptable Lösung zu erarbeiten? „Der Prozess ist die Bankrotterklärung der beteiligten Anwälte.“ Diese Aussage stimmt zwar nicht in jedem Fall, trifft aber doch häufig zu, einfach weil die Anwälte nicht in der Lage waren, ihre Mandanten und die Gegenpartei für eine als fair empfundene Lösung zu gewinnen.

2.1. Was ist das Ziel von außergerichtlichen Verhandlungen? • Ein für den Mandanten günstiges Ergebnis erzielen. • Ergebnis der Verhandlung so fixieren, dass keine weitere Zustimmung, Unterschrift oder sonstige Mitwirkung des Verhandlungspartners mehr erforderlich ist, dass also der Mandant das Ergebnis sofort umsetzen kann, erforderlichenfalls auch gegen den Willen des Verhandlungspartners. • Im Idealfall, dass der Verhandlungspartner alle noch erforderlichen Zustimmungen bereits im Protokoll über das Verhandlungsergebnis schriftlich gibt. • Auch der Verhandlungspartner soll das Ergebnis als fair empfinden und innerlich annehmen. • Der Weg zum Gericht soll vermieden werden. • Das Verhandlungsergebnis sollte eine gute Basis auch für die Zukunft sein, wenn diese auf Grund der Umstände gemeinsam zu gestalten ist.

2.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Festlegen, wo verhandelt werden soll: – Verhandlungsort in der eigenen Kanzlei: Dies hat den Vorteil, dass ich die Sitzordnung festlegen kann, für kulinarische Betreuung selber sorgen kann und als Hausherr den Verhandlungspartner als Gast verwöhnen kann (Zigaretten, Kaffee, Süßigkeiten, Getränke etc.). Der Verhandlungspartner wird, wenn er schon extra zu mir gekommen ist, nicht gern ohne Ergebnis weggehen, weil dies gegenüber seinen Vorgesetzten und auch für ihn selbst das Eingeständnis des eigenen Scheiterns wäre. Weiterer Vorteil ist, dass ich alle Unterlagen und Akten greifbar bei mir habe. – Verhandlungsort beim Mandanten: Da der Mandant Hausherr ist, ist er von mir nicht so leicht „steuerbar“. – Verhandlungsort beim gegnerischen Anwalt: Da ich jederzeit gehen kann, stärkt dies meine Position. Im Übrigen gilt das Gleiche wie beim VerhandGreiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

lungsort in der eigenen Kanzlei, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Ich habe weniger Kontrolle. – Verhandlungsort beim Gegner: Mein Einfluss auf die Sitzordnung ist gering, ich kann aber jederzeit die Verhandlung abbrechen und gehen. • Festlegen, wann verhandelt werden soll: Soll ein Frühstück, ein Mittagessen, eine Kaffeepause mit Imbiss, ein Abendessen eingeplant werden? • Mit Mandanten festlegen, wer die Verhandlung führt, d. h. ob es am günstigsten ist, – wenn ich als Anwalt für den Mandanten verhandle: Das hat den Vorteil, dass ich ein Verhandlungsergebnis immer vorbehaltlich der Zustimmung des Mandanten fixiere, ferner dass der Mandant nicht zu ungewünschten Konzessionen gedrängt wird oder Druck auf ihn ausgeübt wird; – wenn der Mandant allein verhandelt: Das hat den Vorteil, dass die Atmosphäre vielleicht nicht so belastet ist, weil der Anwalt nicht wie eine „Drohgebärde“ erscheint und der Mandant immer sagen kann, dass er alles noch mit seinem Anwalt besprechen muss; – wenn Mandant und Anwalt gemeinsam verhandeln: Dies hat den Vorteil, dass Entscheidungen schnell getroffen werden können; der Nachteil ist, dass eine genaue vorherige Absprache über die Vorgehensweise erforderlich ist. • Genaue Vorbereitung dessen, was der Mandant will. • Immer daran denken, dass ich den Verhandlungspartner nicht zwingen kann, meine Argumente einzusehen. Es genügt, wenn er sagt, er will nicht. • Argumente können zwar zur Stützung meiner Wünsche gebracht werden, aber ich muss immer damit rechnen, dass es auf jedes Argument ein Gegenargument gibt – manchmal nur ein völlig dummes, falsches, abwegiges oder blödes. Die Diskussion verlagert sich dadurch auf die Wertigkeit und Richtigkeit der Argumente, ohne dass ich den Verhandlungspartner zwingen kann, meine Argumente zu akzeptieren, wenn er nicht will. Der Sinn dieser Gegenargumente liegt dann einfach nur darin, die Diskussion von meinen Argumenten weg zu lenken. • Mit meiner Argumentation erkläre ich dem Verhandlungspartner, wie er denken soll. Niemand möchte aber darauf hingewiesen werden, wie er zu denken hat. Jeder hat seine eigenen Ideen. Ich darf also den Gesprächspartner nicht mit meinen Argumenten „erschlagen“, sondern muss ihm die Fakten zeigen, so dass er selber den „richtigen“ Weg erarbeiten kann. • Vorherige schriftliche Festlegung, was das optimale Verhandlungsergebnis wäre. • Wir, also mein Mandant und ich, müssen unsere Ausgangsposition und die des Verhandlungspartners ermitteln und möglichst schriftlich festhalten. • Erarbeiten, was unsere Stärken sind. • Erarbeiten, was unsere Schwächen sind. • Erarbeiten, was Stärken unseres Verhandlungspartners sind. • Erarbeiten, was Schwächen unseres Verhandlungspartners sind. • Überlegen, was unsere Spielräume sind.

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Außergerichtliche Verhandlungen

• Überlegen, was unsere Alternativen sind, wenn wir mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind. • Überlegen, wer welche Rolle und Position im Verhandlungsablauf hat, also z. B. wer beginnt womit, welche Argumente werden von wem dargelegt? • Planung des Ablaufs für das Verhandlungsgespräch. • Sollen wir oder die Gegenseite als erster eine Zahl nennen? • Wenn die Gegenseite zuerst Zahlen nennt, ist es für uns leichter zu reagieren. • Wenn wir zuerst Zahlen nennen, setzen wir den Maßstab für die Größenordnung. • Wenn der Verhandlungspartner eine Zahl nennt und ich eine darüber liegende nenne, ist der Verhandlungsspielraum bereits eingegrenzt. Wenn ich jedoch erkläre, das Angebot sei noch zu gering und es müsse höher werden, ohne eine konkrete Ziffer zu nennen, dann ist der Verhandlungsspielraum meines Mandanten offen. • Auch beim Verhandeln gilt, dass das Zuhören von besonderer Bedeutung ist. Nur wenn der Verhandlungspartner seinen Standpunkt ausführlich schildern kann und ihm genau zugehört wird, fühlt er sich ernst genommen und wird dadurch wichtig. Durch seine Wichtigkeit, zu der wir ihm verhelfen, wird er stark. Nur wer stark ist, kann leicht etwas abgeben. • Vor der Verhandlung die Sitzordnung festlegen. • Versuchen, den Sachverhalt durch Bilder, Geschichten, Vergleiche und Beispiele zu illustrieren. • Wir müssen uns vor allem überlegen, welche Vorteile unser Lösungsvorschlag für den Verhandlungspartner bietet, welchen Nutzen der Partner selbst aus meinem Vorschlag ziehen kann. • Zu Beginn einer Verhandlung eine Aufwärmphase einplanen, z. B. Getränke servieren lassen oder sich über einen geschäftlichen Erfolg des Verhandlungspartners erzählen lassen. • Es hat sich in vielen Fällen bewährt, große Streitpunkte nach hinten zu schieben und mit einfachen Punkten zu beginnen. • Zwischenergebnisse können schriftlich auf einer Flipchart fixiert werden. • Überlegen, wie ich den Verhandlungspartner aufwerten, und ihn „wichtig machen“ kann. • Das Gesamtproblem in mehrere kleine Stücke aufteilen. • Es müssen auch Pausen ertragen werden. Manchmal denkt der Pausierende nach, um eine Lösung zu finden. Wenn ich die Pause durch das Vortragen eines Argumentes unterbreche, sucht der Verhandlungspartner nicht mehr nach Lösungsmöglichkeiten, sondern überlegt sofort, wie er mein Argument entkräften kann. • Möglichst kurze Fragen stellen, kurze Antworten geben, einfache und klare Formulierungen verwenden. • Die Verhandlungsschwerpunkte sollten nicht in der Aufarbeitung der Vergangenheit liegen, sondern Lösungen für die Zukunft bringen. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• Nicht die Person des Verhandlungspartners angreifen, dann schaltet dieser nämlich sehr schnell „auf stur“. Klar festhalten, dass er als Person geschätzt wird, dass wir seinen Standpunkt auch verstehen, dass wir aber nicht in der Lage sind, seine Vorstellungen zu erfüllen, weil diese für uns zu hoch sind und wir das nicht können oder nicht wollen. • Auch Schweigen kann als Mittel der Verhandlung eingesetzt werden, ja sogar zu einem Ergebnis der Verhandlungen führen. Gerade dadurch, dass einer oder beide ungestört nachdenken können, können Lösungen erdacht werden. • Noch einige allgemeine Anregungen für die Verhandlung: – höflich und freundlich bleiben; – geduldig bleiben; – ruhig bleiben; – sachlich bleiben; – nicht unterbrechen; – zuhören; – nicht auf jeden Einwand eingehen; – auch emotionale Einwände können manchmal übergangen werden; – immer daran denken: Emotionen sind mit Argumenten nicht zu widerlegen; – bei emotionalen Einwänden führt die Frage nach dem „warum“ beim Befragten zur Suche nach Gründen und damit zur Verstärkung des Einwandes; – das Ziel flexibel verfolgen; – Beleidigungen nicht persönlich nehmen, sondern eventuell zum Thema des Gespräches machen; – durch Fragen kann eine festgefahrene Situation aufgelockert werden; – notwendige Kritik so formulieren, dass sie angenommen werden kann; – für Zugeständnisse eine Gegenleistung verlangen; – mit welchen Fragen können wir die Aufmerksamkeit des Verhandlungspartners wecken?; – bei Ablehnung darum bitten, die Gründe mitzuteilen; – es sollte eine Wahlmöglichkeit gesucht werden; – soll eine künstliche Stresssituation erzeugt werden? • Zusätzlich noch Anregungen für Formulierungen, mit denen Konfrontationen unter Umständen verhindert oder aufgelöst werden können: – statt Aussagen des Verhandlungspartners mit „völlig falsch“ zu kommentieren, besser fragen, „Könnte es nicht auch so richtig sein?“ – statt eines harten „Nein“, die weichere Formulierung: „Könnte es in diesem Fall nicht etwas anders liegen?“ verwenden. – „Was müsste geschehen, damit Sie es so annehmen können“ – „Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?“ 260

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Außergerichtliche Verhandlungen

– „Würde dies Ihren Wünschen entsprechen?“ – „Könnten Sie aus Ihren Erfahrungen etwas zu diesem Vorschlag sagen?“ – „Welche Meinung haben Sie zu diesen Überlegungen?“ – „Können Sie das detaillierter erklären?“ – „Lassen Sie uns gemeinsam überlegen.“ – „Könnte es so sein, dass…?“ – „Wie würden sie die Aufteilung machen?“ – „Aus Ihrer Sicht haben Sie da Recht, aber man könnte es auch anders sehen.“ – „Mit Ihrer Erfahrung sehen Sie es vielleicht ähnlich.“ – „Können Sie die Frage ausführlicher wiederholen? Ich habe sie nicht ganz verstanden.“ – „Es wird behauptet, dass…“ – „Ich habe nicht genug Erfahrung in derartigen Angelegenheiten…“ – „Liegt eventuell ein Missverständnis vor?“ – „Es ist nicht auszuschließen, dass…“ – „Ich würde gerne die Meinung von Herrn X dazu hören.“ – „Welchen Vorteil sehen Sie darin?“ – „Was ist hier für Sie am wichtigsten?“ – „Was könnten Sie anbieten, wenn wir hier nachgeben?“ – „Gibt es noch andere Möglichkeiten zur Lösung?“ – „Müssen wir uns wirklich für eine dieser Lösungen entscheiden?“ – „Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte, wenn wir keine Verhandlungslösung erreichten?“ – „Was wäre das Schlimmste, wenn wir diesen Vorschlag annehmen?“ – „Was würde unser Vorschlag für Sie bedeuten?“ – „Ich fahre jetzt dort fort, wo Sie mich unterbrochen haben.“ – „Ich verstehe, was Sie meinen, aber daran bin ich nicht interessiert.“ – „Was sind die Ziele, die Sie damit verfolgen?“ – „Warum ist gerade das für Sie wichtig?“ – „Was würden Sie vorschlagen, wenn Sie an meiner Stelle wären?“ • Manchmal nützt auch das größte Bemühen um eine vernünftige Verhandlungslösung nichts. Vor allem dann nicht, wenn der Gesprächspartner auf Konfrontation und Beleidigung aus ist. Dies kann dann nur noch durch Thematisieren gelöst werden, z. B.: „Bevor wir weiterreden, möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie mich mit dieser Bemerkung verletzt haben.“ Je nach Reaktion des Gesprächspartners kann dann normal weiterverhandelt oder die Verhandlung als beendet erklärt werden.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

2.3. Beispiele • Ein Verhandlungsbeispiel aus den USA (nach Gerald R. Williams, Legal Negotiation and Settlement), bei dem es um Ansprüche geht, die alle aus dem gleichen Verkehrsunfall herrühren, zeigt, wie verschieden Verhandlungsergebnisse beim gleichen Problem sein können. Es standen sich jeweils zwei Anwälte gegenüber: Einer vertrat die Interessen des Verletzten, der andere die Interessen der Haftpflichtversicherung des Schädigers. Alle 24 Anwälte bekamen identische Unterlagen, alle 12 Verhandlungspaare gingen also vom gleichen Sachverhalt aus. Die Anwälte waren einverstanden, dass die Ergebnisse der Verhandlungen unter Nennung ihrer Namen (!) veröffentlicht wurden: Erste Forderung des Rechtsanwalts des Verletzten

Erstes Angebot des Rechtsanwalts der Versicherung

Ergebnis

Verhandlung 1

$ 32.000

$ 10.000

$ 18.000

Verhandlung 2

$ 50.000

$ 25.000

kein Ergebnis

Verhandlung 3

$ 87.500

$ 15.000

$ 30.000

Verhandlung 4

$ 97.000

$ 10.000

$ 57.500

Verhandlung 5

$ 100.000

$ 5.000

$ 25.000

Verhandlung 6

$ 110.000

$ 3.000

$ 25.120

Verhandlung 7

$ 175.000

$ 50.000

kein Ergebnis

Verhandlung 8

$ 180.000

$ 40.000

$ 80.000

Verhandlung 9

$ 210.000

$ 17.000

$ 57.000

Verhandlung 10

$ 350.000

$ 48.500

$ 61.000

Verhandlung 11

$ 475.000

$ 15.000

kein Ergebnis

Verhandlung 12

$ 675.000

$ 32.150

$ 95.000

Es wird ersichtlich, wie groß die Differenzen bei den geforderten, angebotenen und als Ergebnis erzielten Beträgen sein können: Erste Forderung des Verletzten

21 × soviel

(32.000 bis 675.000)

Erstes Angebot der Versicherung

16 × soviel

(3.000 bis 50.000)

5 × soviel

(18.000 bis 95.000)

Ergebnis der Verhandlungen

Aus diesem Beispiel ist ersichtlich, wie wichtig das erste Angebot ist. • Mitunter hilft es, kreative Lösungen aus dem Alltag zu suchen, die auch im Wirtschaftsleben bei der Aufteilung von Vermögensmassen umgesetzt werden können, wie z. B. die Aufteilung eines Kuchenstückes zwischen zwei Kindern: Zwei Kinder bekommen zusammen ein Kuchenstück. Der Streit, wer den größeren Teil erhält und welcher Teil überhaupt der größere ist, ist häufig vorprogrammiert – bis der Vorschlag von den Eltern, den Geschwistern oder den Kindern selbst kommt: Einer teilt den Kuchen in zwei möglichst gleich große Teile, der andere wählt sich sein Stück aus. Sobald der Vorschlag angenommen ist, verfolgt gespannte Aufmerksamkeit aller Beteiligten den fast sakralen Akt des Teilens und dann den qualvollen Akt der Wahl.

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Außergerichtliche Verhandlungen

Wohl vielen Lesern ist dieses Modell aus eigener Erfahrung in Erinnerung. Das Problem wird in zwei Schritte aufgeteilt. Jeder übernimmt einen Teilschritt zur Lösung. Da jeder Beteiligte in die Lösung voll integriert ist, gibt es am Ende keinen, der sich benachteiligt fühlen kann. Wenn trotzdem einer das Gefühl haben sollte, er sei zu kurz gekommen, muss er sich zu Recht sagen lassen, das dies nur seine eigene Schuld ist – sei es, weil er nicht gerecht geteilt hat, sei es, weil er sich beim Wählen geirrt hat. Die Einfachheit der Lösung macht dieses Grundmuster so populär, dass es kaum noch als kreativ erkannt wird. • Ungewöhnliche Strategien einsetzen, wie z. B., wenn mit der gegnerischen Versicherung über das Schmerzensgeld verhandelt wird: Bei Unfällen mit Verletzten stellt sich dem beauftragten Anwalt immer auch die Aufgabe, die Höhe des von der gegnerischen Versicherung zu zahlenden Schmerzensgeldes auszuhandeln. Dabei geht es auf Seiten der Versicherung weitgehend auch um Ermessensentscheidungen. In einem Fall hatte der Anwalt 50.000 Euro geltend gemacht – eine überhöhte Forderung – damit in den Verhandlungen mit der Versicherung noch Spielraum blieb. Die Versicherung war nach langwierigen und mühsamen Verhandlungsgesprächen endlich bereit, 28.000 Euro zu zahlen, keinesfalls aber mehr. Wenn der Anwalt bzw. sein Mandant mit diesem Betrag nicht einverstanden sei, möge er doch prozessieren. Der Anwalt wusste, dass es fraglich war, ob er bei Gericht überhaupt die 28.000 Euro zugesprochen bekäme oder nur weniger – ganz abgesehen von der Dauer, der Mühsal und den Risken, die ein Gerichtsverfahren mit Zeugenvernehmungen, Beweisaufnahmen, Schriftsätzen, Sachverständigenkosten etc. mit sich brächte. Der Anwalt und sein Mandant waren sich einig: Sie wollten keinen Prozess. Bevor der Anwalt nun der Versicherung sein Einverständnis übermittelte, versuchte er es ein letztes Mal. Er rief den Sachbearbeiter an und bat noch einmal um eine Erhöhung. Die Versicherung war aber dazu nicht bereit: „28.000 Euro und keinen einzigen mehr!“ Da machte der Anwalt dem Sachbearbeiter den folgenden Vorschlag: Er werde zu jedem Betrag, der zwischen 28.000 Euro und 50.000 Euro liege, abschließen, damit der Fall erledigt werden könne. Der Sachbearbeiter möge den Betrag nennen, der Anwalt stimme vorbehaltlos bereits jetzt zu. Diese Verdrehung der Situation änderte die Position des Sachbearbeiters der Versicherung und löste ihn aus seiner Fixierung. Die Aussage „28.000 Euro und nicht mehr“ war nicht mehr so unveränderlich, weil der Sachbearbeiter jetzt plötzlich selbst die Macht zur Entscheidung hatte. Nach kurzer Überlegung sagte er: „Also gut: 30.000 Euro.“ und damit wurde die Akte erledigt. Der Mandant bekam 2.000 Euro mehr als er sonst bekommen hätte. Durch den Rollentausch, der den Sachbearbeiter mächtig und stark machte, konnte er jetzt leichter und ohne Gesichtsverlust etwas dazugeben.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• Es können auch neue Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden, wie sie z. B. Robert Mayer in seinem Buch „Der Verhandlungskünstler“ schildert: Eine Frau besaß eine preisgekrönte Wolfshündin. Sie wusste nur wenig über Hundezucht. Bei einer Ausstellung lernte sie einen erfahrenen Züchter und Besitzer eines Championrüden kennen. Es wurde beschlossen, die Zuchthunde zusammenzuführen und den Wurf zu gleichen Teilen aufzuteilen. Doch die Frau befürchtete, dass der Züchter mit seiner Sachkenntnis die besten Welpen aussuchen und ihr die weniger Wertvollen überlassen könnte. Was konnte Sie tun? Man einigte sich dann so: Der Züchter sollte jeweils ein Paar, also zwei Welpen auf einmal aussuchen. Die Frau sollte sodann eines der vom Züchter ausgewählten Tiere von jedem Paar nehmen. Da der Züchter nicht wissen konnte, für welchen Welpen sich die Frau entscheiden würde, musste er jeweils Paare mit ähnlichen Qualitäten zusammenstellen. Hier wurde die einfache Lösung darin gefunden, dass die Entscheidung des Fachmannes jeweils ein Paar betraf, die Entscheidung des Laien dann völlig frei, ja sogar nach Willkür und Zufall getroffen werden konnte. Im Grunde ist diese Lösung eine Weiterentwicklung des oben beschriebenen „Einer teilt, einer wählt“. • Ähnlich ging man in Wien bei einer Erbschaft vor, bei der zwei Töchter als Erben beteiligt waren: Als die seit Jahren verwitwete Mutter starb, erbten die zwei Töchter eine große Zahl von Vermögensgegenständen. Eine Aufteilung erschien extrem schwierig zu sein. Der Hausanwalt der Familie schlug schließlich Folgendes vor: Zuerst sollten alle Gegenstände derart aufgeteilt werden, dass jeweils alle gleichartigen Stücke auf einen Stoß kommen sollten: alle Teppiche auf einen Stoß, alle Bilder auf einen Stoß, alle Möbel symbolisch auf einen Stoß, etc. Dann sollte eine Tochter jeden Stoß in zwei gleiche Teile teilen. Wenn wie z. B. bei den Teppichen nur zwei Gegenstände vorhanden waren und einer aus ihrer Sicht einen Wert von 5.000 Euro und der andere einen Wert von 1.000 Euro hatte, so sollte sie den Differenzwert von 4.000 Euro auf ein Blatt Papier schreiben und dieses Papier zum billigeren Teil dazulegen. Nach Durchführung der Aufteilung gebe es dann zahlreiche Stöße, alle in zwei gleich gewichtige Teile sortiert. Alle Gegenstände, selbst das Geschirr und die Briefmarkensammlung, wären also etwa gleichgewichtig aufgeteilt. Die andere Tochter sollte dann bei jedem Doppel-Stoß eine der Hälften wählen. Auf dem Blatt Papier geschriebene Differenzbeträge sollten dann am Ende bar ausgeglichen werden. Die Töchter nahmen den Vorschlag an; man einigte sich, wer die Stöße teilen sollte und die andere Tochter wählte dann. Innerhalb kürzester Zeit war die Hinterlassenschaft aufgeteilt. Hätte man sich nicht geeinigt, wer die Aufteilung vornehmen sollte, so hätte man dies auslosen oder abwechselnd einmal die eine und dann die andere Tochter aufteilen lassen können.

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Außergerichtliche Verhandlungen

Am Ende der Aufteilung stellte sich heraus, dass einzelne Stücke von den Töchtern noch freiwillig getauscht wurden, so dass letztlich alles zur Zufriedenheit erledigt werden konnte. Der Lösungsweg folgt dem alten Muster „Der eine teilt, der andere wählt“. Im vorliegenden Fall wurde es noch ergänzt durch eine ähnliche Vorgehensweise wie beim Beispiel aus der Hundezucht.

2.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Sehr viele Anregungen bekommen wir durch Beobachtung und durch das Analysieren von Lösungen, die andere beim Verhandeln gefunden haben. Meist sind wir neidisch, wenn jemand besonders gut verhandelt hat. Lösen wir uns vom Neid und versuchen wir zu ergründen, wie der Betreffende zu diesem Verhandlungsergebnis gekommen ist! • Bemühen Sie sich also, das Verhandeln anderer zu analysieren und schreiben Sie die Schlussfolgerungen daraus auf. Auf diesem Wege bekommen Sie mehr Gespür für gutes Verhandeln. Sicher ist aus der Analyse fremden Verhandelns weder eine vollständige noch eine besonders originelle Kenntnis der Verhandlungstechnik zu erlangen. Aber das fremde Verhalten ist ein Ansatzpunkt und beinhaltet entsprechende Anregungen. Die Analyse kann von Ihnen selbst erarbeitet werden. • Am meisten lernen wir durch eigenes Üben im Alltag: Jeder von uns – sicher auch Sie – erlebt häufig, wie andere Menschen Verhandlungen führen, Probleme bewältigen und Entscheidungen treffen. Oft ist man auch selbst vor Probleme gestellt und muss Entscheidungen treffen. Die nachträglich überlegten Fragen – „Wie hätte ich diese Situation gelöst?“ oder – „Wie anders würde ich die erlebte Situation im Wiederholungsfalle lösen?“ zwingen zum Nachdenken über die vergangenen Situationen. Dadurch erwirbt man dann Übung für ähnliche Situationen, die in der Zukunft liegen. So trainieren Sie kontinuierlich Ihre eigene Verhandlungsfähigkeit. Sie werden mit Sicherheit feststellen, dass Sie diese schon nach wenigen Wochen bewusster einsetzen können. • Die rückschauende Beurteilung meines Verhaltens ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Besserwerden. Deshalb sollte, um für spätere Verhandlungen noch besser gerüstet zu sein und aus dem erlebten Verhandlungsablauf zu lernen, nach jeder Verhandlungsrunde und auch nach Abschluss der Verhandlung insgesamt Rückschau gehalten werden: – Sind wir mit dem Ergebnis zufrieden? – Was konnten wir von unserem Ziel erreichen? – Was lief gut? – Was lief schlecht? – Was hätten wir besser machen können? – Was haben wir Neues erfahren? Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

– Was lief völlig anders, als wir es geplant hatten?, – Warum? – Hätten wir etwas dagegen tun können? – Was war der Punkt, ab dem die Verhandlung in eine andere Richtung lief? – Hätten wir dies voraussehen können? – Inwieweit mussten wir ungeplante Zugeständnisse machen? – Wo musste der Verhandlungspartner ungeplante Zugeständnisse machen? – Hätten wir noch andere Ideen einbringen können? – Haben beide ein gutes Gefühl über den Verlauf der Verhandlung? • Daneben gibt es eine Vielzahl von Büchern, die sich mit Verhandlungsstrategien, Kreativität bei Verhandlungen, Kommunikation, Rhetorik etc. befassen. Schon das Durcharbeiten weniger Bücher bringt zahlreiche Informationen über Verhandlungsstrategien, -techniken, -methoden und -fehler. Darüber hinaus hält das Lesen die Erinnerung an das schon früher Gelesene und Gelernte wach. Fast monatlich gibt es Neuerscheinungen. Es wird deshalb hier davon abgesehen, einzelne Bücher zu empfehlen.

3. Kapitel Verhandlungen bei Vergleichsgesprächen im Gerichtssaal 3.1. Was ist das Ziel der Vergleichsgespräche im Gerichtssaal? • Einen für den Mandanten günstigen Vergleich abschließen. • Wenn dies nicht möglich ist, dürfen die Vergleichsgespräche keine negative Auswirkung auf die Position des Mandanten im weiterlaufenden Prozess haben. • Weder der Richter noch die Gegenpartei dürfen den Eindruck gewinnen, unsere Position sei schwach und wir seien deshalb an einem Vergleich interessiert. • Der Mandant darf auch nicht durch meine Gespräche mit ihm und dann durch die Vergleichsgespräche bei Gericht den Eindruck gewinnen, ich sei ein schwacher Anwalt, ein Anwalt, der nicht in der Lage ist, seine Interessen mit Nachdruck und Härte zu vertreten. • Der Mandant darf auch nicht den Eindruck gewinnen, dass ich als Anwalt den Prozess bereits als zumindest teilweise verloren ansehe und jetzt mit einem Vergleich zu retten versuche, was noch zu retten ist. Dies ist vor allem dann besonders wichtig, wenn der Anwalt die Prozessführung empfohlen hat.

3.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Dem Mandanten erklären, warum Vergleichsgespräche sinnvoll sind und geführt werden sollen, auch wenn ich zuvor die Prozessführung empfohlen habe.

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Vergleichsgespräche im Gerichtssaal

• Die Initiative zu Vergleichsgesprächen möglichst dem Richter oder der Gegenpartei überlassen. • Wenn die Position meines Mandanten sehr schlecht ist und ein Vergleich im Interesse meines Mandanten liegt, wird es vielleicht erforderlich sein, dass die Initiative doch von uns aus gesucht wird – aber sehr zurückhaltend. Eine Formulierung wäre z. B.: „Ich möchte nur sicherheitshalber fragen, ob Sie eine vergleichsweise Regelung von vorne herein unter allen Umständen ausschließen.“ Die Antwort ist dann häufig ein Nein. Damit ist der Weg zu entsprechenden Gesprächen offen. • Der Betrag sollte möglichst erstmals von der Gegenpartei genannt werden. Ich kann dann leichter zu Gunsten meines Mandanten auch erheblich andere Zahlen nennen. • Unser Interesse an einem Vergleich darf nicht zu deutlich gezeigt werden, da dies unsere Position schwächt. • Der große Unterschied zu Vergleichsgesprächen außerhalb des Gerichtes liegt darin, dass vor Gericht der Richter als mit Autorität ausgestatteter, neutraler Dritter in die Gespräche eingebunden ist und „mitmischen“ kann. • Hier sind also treffende und gute Argumente wichtig, weil der Richter nur damit überzeugt werden kann. Je bildhafter ein Argument ist, desto besser. • Wenn die Gegenseite erlebt, dass der Richter meinen Argumenten Gewicht beimisst, erhöht das für die Gegenseite den Druck, weil der Richter bei einer Nichteinigung möglicherweise zu unseren Gunsten entscheiden wird. • Gerade bei Verhandlungsgesprächen vor Gericht ist es wichtig, geduldig, kooperativ und freundlich zu bleiben und keinesfalls die Gegenpartei oder deren Anwalt verletzend anzureden. Wer beleidigt wurde, wird nichts hergeben, um einen für uns günstigen Vergleich zu ermöglichen. • Nur wenn ich die Person des Prozessgegners durch persönliche Wertschätzung stark mache, kann und will er etwas abgeben. • Bei Vergleichsverhandlungen vor Gericht können meist mehrere Punkte Gegenstand der Lösung sein, z. B. – die Höhe des zu zahlenden Betrages, – die Fälligkeit des zu zahlenden Betrages, – die Verzinsung oder Nichtverzinsung des Betrages, – die Festlegung der Höhe der Zinsen, – die Wertsicherung oder Nicht-Wertsicherung des Betrages, – das Beibringen einer Sicherheit wie Bürgschaft, Bankgarantie etc., – der Abschluss eines Vergleichstitels, der dann sofort vollstreckt werden kann, – die Vereinbarung von Zinsen und die Festlegung des Zinssatzes nur für die Zeit ab Fälligkeit, d. h. wenn nicht bezahlt wird, – der Verzicht auf z. B. 5 % der Forderung, wenn z. B. in 10 Tagen gezahlt wird; wird nicht fristgerecht bezahlt, ist der gesamte eingeklagte Betrag samt Zinsen und Kosten vollstreckbar. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

– Wer trägt zur Gänze oder teilweise die Gerichtskosten und die Anwaltskosten? – Wenn die Zeit knapp wird, kann auch eine Unterbrechung oder Vertagung der Verhandlungen angeregt werden, um ohne Zeitdruck weiter zu verhandeln. Es sollte aber zügig weiter verhandelt werden, so dass der Schwung der Gespräche nicht verringert wird. – Auch ein kurzes Verlassen des Gerichtssaals mit dem Mandanten ist sinnvoll, um alle Vor- und Nachteile eines Vergleichsvorschlages ungestört und offen erörtern zu können und, wenn erforderlich, auch die eigene Partei zu einer Zustimmung zu motivieren. – Der Anwalt muss während der Gespräche auch immer bedenken, wie hoch die Gerichts- und Anwaltskosten sein werden, die der Mandant zusätzlich zu tragen hat, damit dieser weiß, was unter dem Strich für ihn herauskommt. – Es gibt bei Vergleichsgesprächen oft Bereiche, in denen das Nachgeben für den Prozessgegner oder den eigenen Mandanten aus emotionalen oder „justament“ Gründen unmöglich ist. Oft findet sich dann ein Weg, wo durch Nachgeben hier ein vielleicht noch größerer Vorteil in einem anderen Bereich erzielt werden kann.

3.3. Beispiel Bei schwer einbringlichen Forderungen hat sich in der Praxis die Vorgehensweise aus dem folgenden Beispiel bewährt: Ein Schuldner hatte einen Bankkredit von 100.000 Euro aufgenommen, war jedoch – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr in der Lage, die Kreditraten zu zahlen und damit den Kredit zu tilgen. Die Bank brachte eine Klage ein. Banken können sich naturgemäß nicht auf die schlichte Aussage des Schuldners, er habe kein Geld, verlassen, sondern müssen sich ein gerichtliches Urteil verschaffen, um – eventuell auch erst viel später – zu ihrem Geld zu kommen. Dem gegenüber steht das Interesse des Schuldners, sich der Zahlungspflicht zu entziehen. Solange gegen den Schuldner kein Urteil vorliegt, hat er nichts zu befürchten. Und wenn er den Prozess mit Prozesskostenhilfe führt, so belasten ihn auch die Kosten seines Anwalts nicht. Die Bank stand vor einem Dilemma: Der Schuldner bestritt natürlich alles, was bestreitbar war, also dass es seine Unterschrift gewesen sei, dass der Saldo und die Zinsen richtig berechnet worden seien; er behauptete, man habe ihm zugesagt, die Forderung zu stunden, sie sei also nicht fällig etc. Auch wenn alle Beteiligten der Überzeugung waren, dass diese Einwände nur dazu dienten, die Urteilsfällung zu verzögern, musste die Bank sie ernst nehmen und Stück für Stück entkräften, damit der Richter den Schuldner zur Zahlung verurteilen konnte. Solch ein Prozess mit einem unwilligen Schuldner kann bis zu einem rechtskräftigen Urteil des Bundesgerichtshofes Jahre dauern. Da der Schuldner kein Geld hat, hat er nichts zu verlieren. 268

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Zeugenvernehmung

Für solche Fälle hat sich in der Praxis der sogenannte „Prämienvergleich“ entwickelt: Der Schuldner lässt ein Anerkenntnisurteil über den gesamten eingeklagten Betrag samt Zinsen und Kosten ergehen und die Bank schließt dann einen Vergleich mit ihm, wonach er z. B. nur 80 % der Schuld zahlen muss, dies jedoch entweder innerhalb von drei Monaten oder in monatlichen Ratenzahlungen. Sollte die einmalige Zahlung oder auch nur eine der Ratenzahlungen nicht fristgerecht erfolgen, so muss der Schuldner den gesamten ursprünglich eingeklagten Betrag zuzüglich Zinsen und Kosten bezahlen; die Bank kann über diesen Gesamtbetrag Zwangsvollstreckung beantragen. Für den Schuldner bietet diese Lösung die Möglichkeit, dass er bei Sofortzahlung oder Einhaltung der regelmäßigen Ratenzahlungen, also als sich bemühender Schuldner, von einem Teil der Forderung befreit wird. Für die Bank bietet diese Lösung den Vorteil, dass nicht viel Zeit und hohe Prozesskosten investiert werden müssen, die voraussichtlich vom Schuldner nicht eingetrieben werden können. Darüber hinaus bekommt die Bank schnell ein Urteil, das bei Nichtzahlung durch den Schuldner in voller Höhe vollstreckbar ist.

3.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? Es werden bei Gericht laufend Vergleiche abgeschlossen. Manche bewähren sich, manche sind der Ausgangspunkt für neue Streitereien. Daraus können wir auch für uns lernen. • Fragen Sie einfach Richter und Anwaltskollegen, mit welchen Vergleichen sie Erfolg hatten und wo es Probleme gab. • Sie können auch Gerichtsverhandlungen besuchen. Bei vielen finden Vergleichsgespräche statt. • Im Übrigen siehe Kapitel 2, 2.4.

4. Kapitel Zeugenvernehmung 4.1. Was ist das Ziel der Zeugenvernehmung? • Der Zeuge soll die Wahrheit sagen. • Er soll nichts verschweigen, was zu Gunsten meines Mandanten wichtig ist. • Er soll es so schildern, dass es klar und eindeutig protokolliert wird und er es später nicht als Missverständnis hinstellen und den Sinn verdrehen kann. • Der Zeuge soll, wenn er die Wahrheit sagt, glaubwürdig sein und darin gestützt werden. • Der Zeuge soll, wenn er die Unwahrheit sagt, in seiner Glaubwürdigkeit erschüttert werden. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

4.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Vor jeder Vernehmung genau überlegen, was mein Ziel bei dieser Vernehmung ist, dieses eventuell sogar schriftlich formulieren. Das zwingt zu genauer Überlegung. Gerade bei komplexen Sachverhalten ist eine Liste zu folgenden Punkten eine große Hilfe: – Was ist der Sachverhalt? – Was ist davon bewiesen? – Was ist davon vermutet? – Welche Beweismittel sind vorhanden? – Was ist das optimale Beweisergebnis? • Der Formulierung der eigentlichen Frage möglichst wenig Vorspann, also Vorrede, voranstellen. • Immer nur eine Frage auf einmal stellen. Dann möglichst warten, bis der Richter die Antwort protokolliert hat. • Möglichst kurze und einfache Fragen stellen; keine komplizierten Worte verwenden. • Wenn möglich, eine Frage in mehrere Teilfragen zerlegt stellen. Das bringt den Vorteil, dass bereits mehrere Antworten vorliegen, ohne dass der Zeuge aus dem Inhalt der umfassenden Frage ersieht, wohin sie führen soll, also was als Antwort erwartet wird. So wird die Absicht der Frage erst später erkennbar und der Zeuge kann nur noch mit Aufwand die bereits gegebenen Antworten verlassen. • Fragen sollten einfach formuliert sein, also keine Verneinung enthalten, wie z. B. „Stimmt es, dass Sie um 11:30 Uhr nicht im Geschäft waren?“. Beide Antworten, „Ja“ und „Nein“, geben keine völlig klare Auskunft; es muss nachgefragt werden. Um wie viel einfacher ist es zu fragen: „Waren Sie um 11:30 Uhr im Geschäft?“ • Bei kurzen Fragen hat der Zeuge nicht so viel Zeit, zu überlegen, was er als Antwort geben soll. Bei lang formulierten Fragen mit langer Einleitung oder langer nachträglicher Zusatzinformation hat der Zeuge viel Zeit, sich seine Antwort genau zurecht zu legen – er kann ja nicht gezwungen werden, mir aufmerksam zuzuhören. So konzentriert er sich während meiner umfangreichen Fragestellung auf seine Antwort. • Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Antwort, die schnell gegeben werden muss, ehrlich und richtig ist, ist größer. • Möglichst mit offenen Fragen beginnen. Eine offene Frage erfordert eine ausführliche Antwort und kann nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden, z. B. „Was war damals?“. • Bei umfangreichen Sachverhalten ist es eine große Hilfe, nicht nur den Sachverhalt, sondern auch die Fragen schriftlich auf einer Liste vorzubereiten. Man übersieht nichts und ist dadurch, dass man nicht erkennbar überlegen und nach der nächsten Frage suchen muss, in der Verhandlung stärker. • Bei von der Gegenpartei angebotenen und bei außenstehenden Zeugen ist es oft kritisch, Fragen zu stellen, wenn man die Antwort nicht sicher kennt. Das wird 270

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Zeugenvernehmung

von einigen Anwälten als so wichtig gesehen, dass sie als generelle Richtlinie formulieren: „Stelle nie einem gegnerischen Zeugen eine Frage, auf die du seine Antwort nicht kennst.“ • Wenn ich feststelle, dass ein Zeuge etwas aussagt, das im Widerspruch zu dokumentierten Fakten oder zu seiner eigenen Aussage steht, ist es manchmal günstig, diesen Widerspruch nicht sofort aufzuzeigen, sondern im Protokoll so stehen zu lassen. • Wenn der Widerspruch nämlich dem Zeugen sofort vorgehalten wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er seine Aussage möglichst schnell so abschwächt, hinbiegt oder dreht, dass der Widerspruch „weggeredet“ wird. • Ist aber der Widerspruch für jeden aus dem Protokoll ersichtlich, so kann damit leicht die Unglaubwürdigkeit des Zeugen belegt werden: Entweder der Zeuge erinnert sich falsch oder er hat bewusst die Unwahrheit gesagt. In beiden Fällen ist seine Glaubwürdigkeit erschüttert. • Wenn ein Zeuge günstig für die eigene Partei aussagt, ist es dementsprechend wichtig, den Zeugen möglichst schnell auf den Widerspruch hinzuweisen, damit er diesen Widerspruch rechtzeitig aufklärt und seine Glaubwürdigkeit nicht leidet. • Manchmal besteht die Gefahr, dass sich Zeugen im Wartezimmer oder auf dem Gang absprechen. Dies kann möglicherweise aufgedeckt werden, wenn ich die eigene Partei, deren Angehörige oder Mitarbeiter meiner Kanzlei bitte, ebenfalls im Wartezimmer oder im Gang zu sein und Augen und Ohren offen zu halten. • Ich muss bereits beim schriftlichen Vorbringen überlegen, in welcher Reihenfolge ich die Zeugen anführe. Üblicherweise vernimmt der Richter die Zeugen in dieser Reihenfolge. Am Beginn kann ich den Zeugen nennen, der am meisten weiß. Es können die Zeugen aber auch nach Sachthemen gereiht vernommen werden. • Es gilt, den Zeugen aufzuwerten: „Ihre Aussage ist für uns alle sehr wichtig“, „Ich verstehe, dass es für Sie sehr schwierig ist, das alles noch einmal erzählen zu müssen.“ • Wenn ich gegenüber dem Zeugen echtes Interesse, d. h. persönliches (nicht aggressives oder zynisches) Interesse zeige, ist die Chance, dass seine Aussage ehrlicher und vollständiger wird, erheblich größer. • Wenn ich mit dem Zeugen etwas gemeinsam mache, wie z. B. Fotos zeige und diese erklären lasse, eine Skizze zeichne, den Ablauf eines Ereignisses gemeinsam durchgehe, erhöht sich ebenfalls die Chance, dass dessen Aussage umfassender wird. • Auch während der Zeuge aussagt, kann ich deutliches und konstruktives Interesse an ihm zeigen: durch Augenkontakt, durch Mitschreiben, durch eine freundliche Stimme, durch Äußerungen wie „Hm“, „Ja“, „Aha“, „Noch einmal bitte“, „Ich kann es verstehen“. • Wenn ich einen Zeugen bei seiner Aussage durch einen Einspruch oder auch nur durch eine simple Frage zur Klarstellung unterbreche, unterbreche ich auch seinen Redegedanken, zu dem er vielleicht nur noch schwer zurückfindet.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• Man sollte keine Vorwürfe gegenüber dem Zeugen äußern, auch wenn sein damaliges Verhalten verwerflich war. Formulierungen mit „denn“ (z. B. „Warum sind Sie denn nicht eingeschritten?“) beinhalten fast immer einen Vorwurf. Durch meinen Vorwurf zieht sich der Zeuge zurück und bemüht sich noch mehr, nichts zu sagen, was für ihn eine Bloßstellung bringen könnte. Wenn ich für seine Schwächen menschliches Verständnis zeige, wird er viel mehr erzählen. • Versuchen Sie, Fragen nur nach Fakten zu stellen, die der Zeuge selbst wahrgenommen hat. Vermeiden Sie Fragen nach seinen Bewertungen. • Wenn die Frage formuliert ist, nicht mehr teilweise wiederholend nachformulieren, sondern die Antwort abwarten. Erst dann nachfragen. • Manchmal provozieren Zeugen den Anwalt mit ihrer Aussage. Hier ist Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Eine Beschimpfung des Zeugen bringt gar nichts. Sie führt häufig nur dazu, dass der Zeuge eine noch deutlichere Aussage macht und das betont, was der Fragende gerade nicht hören wollte, was aber für das Verfahren ausschlaggebend sein kann.

4.3. Beispiel In einem Prozess ging es um die Frage, ob der Verstorbene zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung noch die geistige Fähigkeit hatte, rechtswirksam zu testieren. Als Zeugin wurde auch die 23-jährige Sekretärin eines Anwalts vernommen, die, so wie der Anwalt selbst, angab, dass nach ihrer Beurteilung der Verstorbene durchaus die geistigen Fähigkeiten hatte, um zu testieren. Die Frage des anderen Anwalts, der die Gültigkeit des Testaments anfocht, lautete: „Wie können Sie in Ihrem Alter überhaupt beurteilen, ob jemand testierfähig ist?“ Darauf die Zeugin: „Ich bin jetzt seit drei Monaten bei diesem Anwalt beschäftigt. Vorher war ich seit meinem 16. Lebensjahr bei einem Psychiater als Sprechstundenhilfe tätig. Er hat mit mir fast jeden Tag einen besonderen Fall durchgesprochen und mir so Wissen vermittelt. Er musste auch viele Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit seiner Patienten erstellen und hat mir diese dann diktiert. Da mich diese Probleme sehr interessiert haben, habe ich ihn in den sieben Jahren sehr viel gefragt und er hat mir bereitwillig erklärt, wonach er bei jedem Patienten die Zurechnungsfähigkeit beurteilt hat.“ Hätte der Anwalt die 23jährige Sekretärin nicht befragt, hätte er sicher leichter deren Eignung zur Beurteilung der Testierfähigkeit in Zweifel ziehen können.

4.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Auch hier gilt, dass man viel durch Beobachtung anderer lernt. • Diese Beobachtung kann im Gerichtssaal erfolgen oder auch durch Schauen von Gerichtsfilmen. • Ich kann auch eine vertraute Person in den Gerichtssaal mitnehmen, damit ich von ihr dann eine Rückmeldung zu meinem Verhalten bekomme. 272

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Vernehmung der eigenen Partei

• Bei politischen Live-Diskussionen, bei Diskussionen oder bei Interviews im Fernsehen können aus der Art der Fragestellung viele Erfahrungen gewonnen werden. • Da man erfahrungsgemäß solche Beobachtungen sehr schnell wieder vergisst, ist es jedoch wichtig, die Erfahrungen schriftlich (unterteilt in positive und negative Erfahrungen) festzuhalten. • Im Laufe der Zeit wird aus den Notizen der eigenen Erfahrungen und der Beobachtung von anderen eine stattliche Sammlung entstehen, die einen immer umfangreicheren Grundstock für zielstrebige und erfolgreiche Methoden der Zeugenvernehmung bildet. • Im Übrigen siehe Kapitel 2, 2.4.

5. Kapitel Vernehmung der eigenen Partei Hier geht es um die Vernehmung der eigenen Partei, also des Mandanten, vor Gericht. Auf die Vernehmung der gegnerischen Partei findet der Großteil der Hinweise Anwendung, die im vorhergehenden Abschnitt festgehalten wurden.

5.1. Was ist das Ziel der Vernehmung der eigenen Partei? • Die eigene Partei soll ihr Wissen und ihren Standpunkt möglichst klar und ohne Widersprüche und Unsicherheiten dem Gericht darlegen. • Diese Darlegung soll vom Richter möglichst genau entsprechend dem Vortrag des Mandanten protokolliert werden. • Der Mandant soll sich durch aggressive und unsachliche Fragen durch die Gegenseite nicht verunsichern oder zu Widersprüchen verleiten lassen. • Der Mandant soll durch meinen Auftritt bei Gericht erleben, dass er von mir konsequent und, wenn nötig, mit entsprechender Härte vertreten wird. Der Mandant muss spüren, dass seine Angelegenheit bei mir in guten Händen ist. • Gerade weil die Vernehmung des Mandanten als Partei ihn ganz persönlich betrifft, hängt sein Vertrauen zu mir besonders vom Ablauf dieser Vernehmung ab. Ziel ist, dass der Mandant sich weiterhin bei mir geborgen und von mir optimal vertreten fühlt.

5.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Schwerpunkt ist die genaue Vorbereitung der Partei auf das Verfahren vor Gericht, also die detaillierte Besprechung folgender Umstände: Ablauf des Verfahrens, Sitzordnung, beteiligte Personen, die Tatsache, dass die Verhandlung öffentlich ist, also jeder zuhören kann, die voraussichtliche Dauer, die Funktion der Personen am Richtertisch etc.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• Wenn der Mandant seinem Anwalt berichtet, was sein Wissen und seine Standpunkte sind, kann gemeinsam erarbeitet werden, welche Punkte besonders wichtig und welche eher unwichtig sind. • Der Mandant soll sich dann bewusst werden, dass er bei Gericht nur die wesentlichen Punkte von sich aus vorträgt, und zwar so klar, dass diese für den Richter ohne Nachfragen protokolliert werden können. • Die eher unwichtigen Punkte dürfen jedoch in der Vorbereitung nicht vernachlässigt werden. Sie müssen ausführlich mit dem Mandanten erörtert werden, damit der Mandant in der Verhandlung sicher auftritt, wenn unerwartet Nebensächlichkeiten thematisiert werden. • Auch formale Details wie Zahlen, Daten, Unterlagen und Dokumente müssen erhoben und genau vorbereitet werden. Es muss ja damit gerechnet werden, dass die Gegenseite versucht, meinen Mandanten durch entsprechende Fragen in die Enge zu treiben. • Möglicherweise kann eine Gerichtsverhandlung mit dem eigenen Mandanten auch im Rollenspiel vorbereitet werden, um den Mandanten mit dem Ablauf bei Gericht vertraut zu machen. • Um in der Verhandlung nicht überrascht und dadurch unter Zeitdruck gesetzt zu werden, sollte vor der Verhandlung mit dem Mandanten erörtert werden, ob, in welchem Rahmen und zu welchen Bedingungen ein Vergleich denkbar wäre. • Gerade die unerfahrene Partei ist bei Gericht oft überrascht über den rauen Ton, der zwischen den beteiligten Anwälten als Parteienvertretern herrscht. Für die meisten Parteien, vor allem, wenn sie keine regelmäßige Gerichtserfahrung haben, ist das Verhalten „ihres“ Anwaltes vor Gericht ganz wesentliches Kriterium der Beurteilung von dessen Qualität. • Wenn ein Anwalt bei Gericht lautstark, aggressiv, durchschlagkräftig wirkend die Szene beherrscht, ist es für den ruhigeren, möglicherweise fachlich besseren Anwalt schwierig, bei seinem Mandanten entsprechend zu punkten. Es kann vorkommen, dass ein Mandant mit einer späteren Rechtssache zum ehemaligen Gegenanwalt wechselt. • Um eine solche Entwicklung möglichst zu verhindern, ist es wichtig, den Mandanten bereits vor der Verhandlung darüber zu informieren, dass vielleicht auf der Gegenseite ein als „Schreier“ bekannter Anwalt einschreitet, dass die Richter sich von der Lautstärke aber nicht beeinflussen ließen, sondern nach den Fakten und den Gesetzen urteilen würden. • Während der Verhandlung ist der Mandant dann darauf aufmerksam zu machen, dass der Gegenanwalt sich jetzt genau so benimmt, wie wir es in der Vorbesprechung erörtert hatten. Diese leise Mitteilung an den neben mir sitzenden Mandanten verhindert, dass er mit der Lautstärke des Gegenanwaltes allein gelassen wird, dadurch verunsichert wird und auch nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Die vorherige Aufklärung und die Information während der Verhandlung sichern dem Anwalt das Vertrauen seines Mandanten.

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Vernehmung der eigenen Partei

Bei der Vorbereitung der Verhandlung wird der Mandant darauf hingewiesen, dass er Folgendes berücksichtigen sollte: – Er sollte nicht zu nahe an den Richtertisch herantreten, so dass er auch die Gegenpartei und die Anwälte noch im vollen Blickfeld hat, ohne dauernd hin und her schauen zu müssen. Dann kann er nämlich auf ein Handzeichen seines Anwaltes mit der Antwort innehalten. – Dass er vor seiner Antwort auf eine Frage kurz innehält, also eine ganz kurze Pause macht, damit sein Anwalt wenn nötig intervenieren und gegen die Zulassung der Frage Einspruch erheben kann. – Dass er Fragen des Richters oder des Gegenvertreters soweit wie möglich nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten soll. – Dass er, wenn eine Frage nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann, möglichst kurz, präzise und eindeutig antworten soll, dass er nicht auf nicht gefragte nebensächliche Punkte abschweifen soll. Er soll also nicht auf die Frage „Haben Sie gesehen, dass das Auto vor dem Einfahren in die Vorrangstraße stehen blieb?“ die Antwort geben: „Ja, ich habe genau gesehen, wie das rote Auto stehen blieb.“ Wenn das fragliche Auto nämlich unbestritten blau war, verliert die gesamte Aussage dadurch ihre Glaubwürdigkeit. – Dass er nach jeder Antwort warten soll, bis der Richter die Antwort vollständig diktiert hat. Wichtig ist, dass die ganze Antwort in das Protokoll aufgenommen wird. Manchmal diktiert ein Richter nur das, was ihm wichtig erscheint, vor allem, wenn er sich seine Meinung schon gebildet hat. – Dass er mit dem Gegenvertreter, während der Richter diktiert, keine Diskussion führen soll. – Dass er nichts erzählt, während der Richter das Protokoll diktiert. – Dass er eine falsch diktierte Passage sofort nach dem Diktat des betreffenden Satzes richtig stellt. Wenn es ganz eindeutig ist, kann er sogar während des Diktats unterbrechen. Das ist zwar die Aufgabe des Anwalts, es kann aber sein, dass auch der Anwalt, so wie der Richter, die Aussage falsch verstanden hat. – Wenn der Richter nach jedem Satz diesen für das Protokoll diktiert, dann ist die Gefahr von Auslassungen und Missverständnissen viel geringer. Aber das geht nur, wenn der Mandant oder der Zeuge nicht „wie ein Wasserfall“ redet. Der Richter braucht Pausen, um zu diktieren. Manche Richter wollen aber die Aussage zusammengefasst diktieren; darauf hat man letztlich wenig Einfluss. – Dass er sich nicht durch Einwürfe des Gegenvertreters verunsichern lassen, sondern schweigen soll. Sein Anwalt wird dazu Stellung nehmen. Manche Gegenvertreter sehen es als Aufgabe, die gegnerische Partei oder den Zeugen zu verunsichern, zu unterbrechen. Dies kann je nach der Mentalität des Gegenanwaltes in mehr oder weniger qualifizierter Form erfolgen. – Dass er, wenn er etwas nicht weiß, dem Richter sagt, dass er es nicht weiß. Ebenso verhält es sich, wenn er sich nicht daran erinnern kann. Es ist besser zu sagen, dass man sich daran nicht erinnern kann als zu sagen, dass es so gewesen sein könnte.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

– Dass er, wenn der Gegenvertreter fragt, ob es z. B. sein kann, dass mit dem Verkäufer über etwas gesprochen wurde, nicht antwortet, dass dies so gewesen sein kann. Besser antwortet er, dass dies zwar so gewesen sein kann, es aber auch genauso gut möglich ist, dass eben gerade nicht mit dem Verkäufer darüber gesprochen wurde. Sonst steht im Urteil, dass die Partei selbst zugibt, dass es möglich ist, dass mit dem Verkäufer gesprochen wurde. – Dass es ganz natürlich ist, dass man bei der Vernehmung durch den Richter ein schlechtes Gewissen hat. – Vor allem dann, wenn man den Sachverhalt nicht kennt oder sich nicht mehr daran erinnert, hat man oft völlig zu Unrecht ein belastendes Gefühl. Dann besteht die Gefahr, dass man, um den Fragen des Richters oder Gegenvertreters gerecht zu werden, Sachen als möglich hinstellt, für die man überhaupt keine Anhaltspunkte hat. Wenn man von jemandem, der höher gestellt ist, etwas gefragt wird, hat man eben häufig ein ungutes Gefühl. Besonders ausgeprägt ist dies vor dem Richter. • Manche Anwälte versuchen, die Vernehmung der eigenen Partei entweder überhaupt zu verhindern oder nur auf wenige konkretisierende Fragen des Gerichts zu beschränken. Dies, weil sich fallweise zeigt, dass Mandanten so verunsichert wurden, dass sie unrichtige Angaben machten. • Wenn möglich, sollte angestrebt werden, dass der eigene Mandant nur die Richtigkeit des Vorbringens seines Anwalts bestätigt – sein Anwalt hat den Inhalt seines Vorbringens im Schriftsatz ja schließlich vom Mandanten. Gegenüber dem Richter kann vielleicht argumentiert werden, dass die komplette neuerliche Abfrage meines Vorbringens durch den Mandanten als Misstrauen des Gerichtes gegenüber dem Anwalt gedeutet wird und einen erheblichen Zeitverlust mit sich brächte.

5.3. Beispiel Ein Mandant war in einem Zivilprozess von dem exzellenten Anwalt X vertreten worden. Der Mandant berichtete später, zu dem Anwalt X werde er nie wieder gehen. Während der Gegenanwalt aufgesprungen sei, gestikulierend auf den Richter eingeredet habe, sei sein eigener Anwalt ganz ruhig und schweigsam geblieben, so dass der Mandant es kaum mehr ausgehalten habe. Nur einmal habe sich der eigene Anwalt zu Wort gemeldet und gesagt: „Ich beantrage § so und so“. Es sei unerträglich gewesen. Auf die Frage aus dem Freundeskreis, ob er denn den Prozess verloren habe, meinte der Mandant: „Nein, gewonnen habe ich schon, aber es war furchtbar. Nie mehr nehme ich den Anwalt X.“

5.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Auch hier gilt, dass man durch Beobachtung des Verhaltens anderer und kritische Fremd- und Eigenanalyse besonders viel lernen kann. 276

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Plädoyer im Strafprozess

• Wichtig ist, dass die Schlussfolgerungen und Analysen schriftlich festgehalten werden, da sonst alles sehr schnell in Vergessenheit gerät. • Fast alle Hinweise von Kapitel 4, 4.4. können sinngemäß auch hier angewendet werden.

6. Kapitel Plädoyer im Strafprozess 6.1. Was ist das Ziel des Plädoyers im Strafprozess? • Das Plädoyer soll den Richter zu Gunsten des Mandanten beeinflussen und überzeugen. • Das Plädoyer soll für den Mandanten den erhofften Freispruch erwirken. • Wenn dies aufgrund der Lage nicht erreichbar ist, erhofft sich der Mandant als Ergebnis des Plädoyers eine milde Strafe. • Das Plädoyer soll nicht nur die Richter beeindrucken und überzeugen, sondern auch dem Mandanten das Gefühl vermitteln, dass er gut vertreten ist, dass die ihm wichtigen Sachen vom Anwalt an das Gericht herangetragen wurden und dass der Anwalt sich für ihn voll engagiert hat.

6.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Der formelle Adressat meines Plädoyers ist immer das Gericht. • Der Anwalt muss sich trotzdem bewusst sein, dass faktisch mehrere Adressaten seines Plädoyers denkbar sind: – natürlich immer das Gericht mit einem oder mehreren Berufsrichtern, – sofern zuständig, die Laienrichter als Schöffen oder als Geschworene, – manchmal auch der Staatsanwalt, – immer auch, soweit anwesend, der eigene Mandant, – manchmal der Geschädigte, der sich mit oder ohne Anwalt dem Strafverfahren angeschlossen hat, – manchmal auch das Publikum, – manchmal auch die anwesenden Medienvertreter. • Je nach der Bedeutung der Adressaten für seinen Mandanten wird dies der Anwalt bei seinem Plädoyer berücksichtigen müssen. • Der Anwalt muss sich also vor dem Plädoyer genau bewusst werden, wer die tatsächlichen Adressaten seines Plädoyers sein werden und dies mit dem Mandanten besprechen. • Wichtigstes Ziel des Plädoyers ist es, den Mandanten zufriedenzustellen. Das klingt eigenartig. Dazu ein extremes Beispiel: Wenn ich einen Freispruch erreiche, indem ich den Mandanten als unzurechnungsfähig und geisteskrank erkläre, so werde ich dies nie ohne Zustimmung des Mandanten machen dürfen. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

Denn ihm ist es in der Regel lieber, z. B. zu einer bedingten, also auf Bewährung ausgesetzten Geldstrafe verurteilt zu werden, als den Rest seines Lebens als Geisteskranker behandelt zu werden. Der Mandant muss von meinem Plädoyer so überzeugt sein, dass er mir dankt und gratuliert, auch wenn er verurteilt wird. Er muss also so von mir begeistert sein, dass er mich wieder beauftragen würde. • Je nach dem Adressaten meines Plädoyers werde ich verschiedene Schwerpunkte setzen: – Bei Berufsrichtern werde ich den Schwerpunkt meines Plädoyers auf den Sachverhalt und dessen rechtliche Beurteilung legen, fast wie bei einem Fachgespräch unter Fachleuten. – Bei Laienrichtern muss ich die im Gesetz enthaltene Norm in die Umgangssprache übersetzen und mit Beispielen plastisch verständlich machen. Eventuell muss ich die Laien ermuntern, ihren Standpunkt bei der Beratung mit den Berufsrichtern weiter zu vertreten und sich nicht durch den Hinweis auf die größere juristische Erfahrung der Berufsrichter von diesen einschüchtern zu lassen. – Bei Geschworenen werde ich den ganzen Sachverhalt umfassend so aufbereiten, dass die Geschworenen alle Informationen haben, um aus eigener Überzeugung zum „richtigen“ Urteil zu kommen. – Für den eigenen Mandanten werde ich vor allem seine Sichtweise in den Vordergrund stellen, so dass er sich von mir verstanden und gut vertreten weiß. – Für den Geschädigten und dessen Vertreter werde ich – soweit angebracht – Mitgefühl und Verständnis zeigen und ihm Hilfe bei der Schadensgutmachung anbieten. – Wenn das Publikum Adressat ist – das ist bei brisanten gesellschaftspolitischen Strafverfahren, manchmal bei Ehrenbeleidigungsfällen, etc. denkbar –, dann werde ich im Plädoyer sehr stark auf die Identifikation des Publikums mit dem Angeklagten hinarbeiten. Gerade bei politischen Prozessen kann dies erforderlich sein. – Wenn die anwesenden Medienvertreter Adressaten sind, muss sich der Anwalt bemühen, komplexe Sachverhalte so zu vereinfachen, dass sie geeignet sind, in einem Bericht mit 20 Zeilen wiedergegeben zu werden. Da jeder Medienbericht eine Überschrift hat, ist es günstig, gleich mit zu überlegen, mit welchem Schlagwort man den Medien den richtigen Aufhänger liefert. Ohne plastischen, bildhaft vermittelten Sachverhalt ist auch das gewünschte Echo in den Medien schwer möglich. • Da es praktisch nie vorkommt, dass es nur einen Adressaten gibt, müssen vom Anwalt die für die einzelnen Adressaten wichtigen Überlegungen in der optimalen Mischung beim Plädoyer berücksichtigt und sinnvollerweise vorher auch mit dem Mandanten erörtert werden. • Neben der Einstellung auf die Adressaten gibt es jedoch noch zahlreiche Anregungen, die allgemeine Gültigkeit haben. Eine davon lautet: „Hole den Zuhörer dort ab, wo er ist“. Ich muss also von der Skepsis des Richters, von seiner eventuell vorgefassten Meinung ausgehen, diese akzeptieren und ihn von dort aus mit guten Argumenten und Fakten langsam zu meiner Sichtweise führen und ihn von meiner Sichtweise überzeugen. 278

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Plädoyer im Strafprozess

• Der Anwalt muss dem Mandanten klar machen, dass dessen Körpersprache von manchen Richtern genau beobachtet wird. • Gerade das Verhalten während des Plädoyers des Staatsanwaltes und während des Plädoyers des Anwalts kann dem Richter Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit des jeweiligen Plädoyers ermöglichen. Deshalb ist es günstig, wenn der Mandant während der beiden Plädoyers seine Körpersprache im Griff behält. • Jedes Plädoyer soll klar erkennbar gegliedert sein. Wenn ich die Gliederung am Beginn ankündige, erhöht dies die Bereitschaft der Zuhörer, mitzudenken. Wenn ich z. B. zehn Gründe nennen möchte, die für einen Freispruch von Bedeutung sind und jeweils ansage, z. B. „jetzt zum vierten Grund (Punkt, Abschnitt, Sachverhalt, Umstand, Argument)“ dann findet jeder Zuhörer sofort wieder zu seiner Aufmerksamkeit zurück, weil er sich nicht lange informieren muss, in welchem Umfeld der Redende sich gerade befindet, sondern präzise weiß, dass jetzt ein neuer Abschnitt kommt, bei dem er wieder von Anfang an aufmerksam dabei ist. • Das Plädoyer soll plastisch und bildhaft sein. Wenn ich meinen Vortrag mit Bildern, Geschichten, Vergleichen und Beispielen ausstatte, bleibt viel mehr bei den Zuhörern hängen als bei einer trockenen Aufzählung der Umstände. • Aus einer Untersuchung des amerikanischen Psychologen Albert Mehrabian wissen wir, dass die Wirkung eines Redners anteilsmäßig von folgenden Umständen abhängt: – 55 % der Wirkung hängen von der Körpersprache ab, also vom Auftreten, von den Bewegungen, der Gestik und der Mimik, – 38 % der Wirkung hängen von der Stimme ab, also vom Tonfall, der Geschwindigkeit, von kurzen oder langen Sätzen, der Betonung, der Artikulation, von den Pausen, Höhen und Tiefen der Stimme, Wahl der Tonlage etc. und – 7 % der Wirkung hängen vom Inhalt ab. Nur sieben Prozent! • Daraus ergibt sich, wie wichtig die Vortragsart für die Wirkung des Plädoyers ist. Wenn das Plädoyer schriftlich ausgearbeitet wurde und nur monoton abgelesen wird, komme ich nur auf höchstens 7 % der möglichen Wirkung. • Ein in zehn Stichworte gegliedertes Plädoyer, das von mir frei formuliert wird, hat hingegen die Chance, 100 % der möglichen Wirkung zu erzielen. • Da der formelle Adressat des Plädoyers immer das Gericht ist, ist das Plädoyer auch immer an den Richter gerichtet, die formelle Anrede lautet also „Herr Richter“, „Hohes Gericht“, „Hohes Schöffengericht“, etc. • Manchmal ist es als Verteidiger besonders wichtig, den Mandanten vor der Verhandlung genau zu informieren, welche Schwerpunkte man im Plädoyer setzen will, um beim Richter glaubwürdig aufzutreten. Es kann z. B. durchaus möglich sein, dass im Plädoyer ausführlich darauf hingewiesen wird, dass der Mandant bei seiner ersten Aussage gelogen habe, z. B. weil er Angst hatte, die Wahrheit glaube ihm sowieso niemand. Für eine derartige Strategie benötige ich aber unbedingt die Zustimmung des Mandanten. • Wenn ich auf Freispruch plädiere, aber doch auch mit einem Schuldspruch rechnen und deshalb Milderungsgründe aufzeigen muss, ergibt sich das Problem, wie man beide im Widerspruch stehende Ziele einbringt. Als beste Lösung hat Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

sich herausgestellt, nach Schilderung des Sachverhaltes zu erwähnen, dass das Gericht aus dem bisher Gesagten möglicherweise den Eindruck hat, ein Schuldspruch sei gerechtfertigt. Für diesen Fall gäbe es etliche Milderungsgründe, nämlich… Im Folgenden führt man sodann aus, aus welchen Gründen aber ein Freispruch die einzig richtige Lösung ist und begründet dies ausführlich. Man kann dann das Plädoyer mit dem Antrag beenden, den Mandanten freizusprechen. Die Möglichkeit des Schuldspruches liegt dann schon etliche Sätze zurück und wirkt dann psychologisch nicht mehr so stark wie der letzte Antrag auf Freispruch. • Wenn ich in meinem Plädoyer Bilder, Geschichten, Vergleiche oder Beispiele bringe, sollten diese möglichst aus der Gedankenwelt und dem Leben des Richters genommen werden, damit sie persönlich ansprechen. • Verletzende Vorwürfe persönlicher Art gegen den Staatsanwalt oder Dritte („Er steht völlig daneben“, „Er hat es nicht gelernt“, „Er soll einmal das Gesetz studieren“, etc.) führen meist dazu, dass sich andere, z. B. die Richter, mit dem Angegriffenen solidarisch fühlen. Formulierungen wie z. B. „Sie können nichts dafür, dass die behaupteten Fakten widerlegt wurden“, sind wesentlich günstiger. • Formulierungen wie „Der Staatsanwalt erinnere einen an einen juristischen Geisterfahrer“ oder er verfolge den Angeklagten mit „verbissener Härte“ belasten die Atmosphäre, ohne dass der Verteidiger oder sein Mandant irgendeinen Nutzen daraus ziehen könnte. • Vom Formalen her empfiehlt es sich, jedes Faktum deutlich vom nächsten abzugrenzen, kurze Sätze zu formulieren, rhetorische Fragen zu stellen, aufzuzeigen, was wäre wenn, etc. • Wenn der Sachverhalt vom Staatsanwalt nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, können mögliche Zweifel des Richters durch das Aufzeigen denkbarer Alternativsachverhalte verstärkt werden, also „wie könnte es denn noch gewesen sein?“

6.3. Beispiel Bei einem Strafprozess wurde die unverheiratete Frau A in 1.Instanz wegen Meineides verurteilt. Sie hatte ein Kind geboren und vor Gericht erklärt, in der fraglichen Zeit ausschließlich mit X Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Später stellte sich heraus, dass X zwar fähig zum Geschlechtsverkehr, aber völlig zeugungsunfähig war. Natürlich zog dies ein Strafverfahren wegen falscher Zeugenaussage nach sich und endete mit einer Verurteilung zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe. Im Berufungsverfahren begann ich als (Pflicht-)Verteidiger mein Plädoyer etwa wie folgt: „Hoher Berufungssenat. Vor Ihnen steht Frau A, verurteilt wegen falscher Zeugenaussage. Wäre ich an Ihrer Stelle im Berufungssenat, wäre alles völlig klar für mich: Sie ist schuldig. Ihre Aussage ist objektiv falsch. Eine Schwangerschaft von jemandem, der objektiv zeugungsunfähig ist, ist unmöglich. Alles spricht für eine strafbare falsche Aussage. Es gibt überhaupt keinen Grund, an der Richtigkeit des Schuldspruches des Erstgerichtes zu zweifeln. Und jetzt, hohes Gericht, werden Sie mich fragen, weshalb dann die Berufung? Und das möchte ich Ihnen 280

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Plädoyer im Strafprozess

jetzt darlegen: Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Frau A eine falsche Aussage abgelegt haben sollte. Sie ist nicht verheiratet und auch in keiner Lebensgemeinschaft gebunden. Herr X ist völlig vermögenslos, also das Gegenteil eines ‚reichen Zahlvaters‘, es gibt deshalb überhaupt keinen Grund, weshalb sie falsch aussagen sollte.“ Das Berufungsgericht gab in der Folge allen Beweisanträgen statt. Auch ein Sachverständiger wurde bestellt. Trotz allem blieb es beim Schuldspruch, damals mit der Konsequenz einer Strafe ohne Bewährung in der Mindesthöhe von drei Monaten. Gleich nach der Verkündung des Urteilsspruchs sprach mich der Vorsitzende des Berufungssenates an und empfahl mir, ein Gnadengesuch an den Bundespräsidenten zu richten. Der Senat würde sich in seiner Stellungnahme für die Begnadigung aussprechen. So geschah es dann auch und Frau A wurde die Strafe auf dem Gnadenweg erlassen. In diesem Fall ist es gelungen, die Berufungsrichter in besonderer Weise dort abzuholen, wo sie sind.

6.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Strafprozesse sind in den meisten Ländern Europas öffentlich. Jede Teilnahme an einer Verhandlung als Zuhörer bringt die Möglichkeit, ein Plädoyer zu hören. Aus jedem Plädoyer kann man lernen, entweder wie man es gut macht oder wie man es nicht macht. Günstig ist es, danach schriftlich festzuhalten, was gut und was schlecht war. Meist vergisst man sonst die Erfahrungen aus anderen Plädoyers sehr schnell. • Bei eigenen Plädoyers ist eine kritische Nachbetrachtung ebenfalls hilfreich. Auch hier empfiehlt sich das schriftliche Festhalten, was ich selbst als gut und was als schlecht empfunden habe. • Das Lesen der vorhandenen Aufzeichnungen vor jedem neuen Plädoyer verhindert, dass ich den gleichen Fehler immer wieder mache. • Es gibt viele Bücher, die sich mit der Kunst des Rechtsanwaltes befassen. Darin wird auch meist auf die Kunst des Plädoyers eingegangen. Die Lektüre bereits einiger weniger Bücher hilft in der Regel um vieles weiter, weil konkrete Hinweise gegeben werden. • Auch reine Rhetorikbücher bringen viele Anregungen, zwar nicht direkt für das Plädoyer des Anwalts, doch mit einigen Modifikationen können viele dort wiedergegebene Überlegungen und Anregungen auch vom Anwalt genutzt werden. • Auch im Sinne der Hinweise bei den Kapiteln 3,4 und 5, jeweils Ziffer 4, können die eigenen Fähigkeiten weiter ausgebaut und eingeübt werden.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

7. Kapitel Anwaltliche Wortmeldungen im Zivilprozess Wenn hier von anwaltlichen Wortmeldungen im Zivilprozess gesprochen wird, sind die vielen Wortmeldungen des Anwalts gemeint, die im Rahmen der 1., der 2. oder 3. Instanz stattfinden. Manchmal sind es Streitgespräche mit dem Anwalt der Gegenpartei, manchmal sind es Diskussionen mit dem Richter, manchmal sind es Plädoyers im Berufungsverfahren.

7.1. Was ist das Ziel der anwaltlichen Wortmeldungen im Zivilprozess • Der Standpunkt der eigenen Partei soll durchgesetzt werden. Dies gelingt in der Regel nur, wenn der Richter überzeugt werden kann. • Der Mandant soll von meinem Engagement als sein Anwalt so überzeugt sein, dass er auch bei einem Misserfolg im konkreten Verfahren mit dem nächsten Fall wieder zu mir kommt. • Auch Dritte, also Zuhörer, die Medien und die Gegenpartei, sollen überzeugt werden, dass ich ein ausgezeichneter Anwalt bin, der sich für seinen Mandanten in besonderer Weise einsetzt.

7.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? Bei außergerichtlichen Verhandlungen entscheiden nur die beiden Parteien, wie das Ergebnis aussieht. Im Gegensatz dazu entscheidet im Zivilverfahren bei Nichteinigung der Parteien der Richter über das Ergebnis. • Bei jeder Wortmeldung ist deshalb nicht nur immer zu überlegen, wie sie auf die Gegenpartei wirkt, sondern auch, wie sie auf den Richter wirkt. • Für den Richter ist es wichtig, mit möglichst wenig Aufwand zu einem Urteil zu kommen, welches auch im Berufungsverfahren Bestand hat. Er darf also keine formellen Verfahrensfehler machen und muss die rechtliche Beurteilung so treffen, dass sie nicht angreifbar ist. Mein Hinweis, dass die nicht durchgeführte Einvernehmung eines Zeugen vom Berufungsgericht als Verfahrensfehler gesehen werden wird, kann den zögernden Richter bewegen, den Zeugen doch zu vernehmen. • Mein Hinweis auf neue Entscheidungen eines Gerichtes im Sinne meines Mandanten, vor allem des zuständigen Berufungsgerichtes, wird den Richter eher veranlassen, ebenfalls in diesem Sinne zu entscheiden. • Manchmal ist es besonders günstig, derartige Entscheidungen bereits in zweifacher Kopie mitzunehmen: Sie können dann ein Exemplar gleich dem Richter aushändigen, so dass er nicht lange suchen muss. Vielleicht ist gerade das Heft oder der Band, in dem die von mir zitierte Entscheidung abgedruckt ist, in der Gerichtsbibliothek nicht greifbar, gerade ausgeliehen, beim Binden oder falsch eingeordnet. • Fallweise wird es auch erforderlich sein, den Richter davon zu überzeugen, dass sich die bisherige Rechtsprechung in Zukunft ändern muss. Natürlich genügt es dabei nicht, wenn ich mich nur auf meine Meinung stütze. Da müssen andere 282

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Anwaltliche Wortmeldungen im Zivilprozess

Autoritäten eingesetzt werden: Aussagen in Lehrbüchern und Festschriftenbeiträge zeigen oft neuere Entwicklungen auf, Aufsätze von Fachleuten in Zeitschriften, kritische Artikel in Medien, Ergebnisse von Seminaren und Symposien, Entwicklungen im Ausland, Stellungnahmen aus dem Bereich des EU-Rechtes etc. • Auch hier gilt: je kürzer, prägnanter und bildhafter meine Wortmeldung, desto leichter wird sie der Richter aufnehmen, umso leichter wird er sie behalten und sich auch später daran erinnern und desto eher wird er sie bei der Formulierung des Urteils berücksichtigen. • Manchmal ist mir der voraussichtliche Standpunkt des Richters bekannt. In diesem Fall ist es wichtig, den Richter an diesem vermuteten Standpunkt „abzuholen“. Das bedeutet, dass ich aufzeigen muss, warum dieser Standpunkt – in einem anderen Fall, früher – bei erster Beurteilung richtig war. Ferner welche Gründe mich erkennen ließen, warum dieser Standpunkt im vorliegenden Fall eben nicht mehr richtig ist und dass ich lange überlegt und recherchiert habe, um dies herauszufinden, aber jetzt ganz sicher bin und auch festgestellt habe, dass dies die neue herrschende Meinung ist. • Dieses „Abholen“ des Richters von dort, wo er ist, also das Eingehen auf den Standpunkt des Richters, gilt in besonderer Weise auch für das Berufungsverfahren. Die Berufungsrichter schätzen in der Regel den Erstrichter, sei es aus kollegialer solidarischer Standesverbundenheit, sei es aus persönlicher Beziehung. Wenn ich in meiner Wortmeldung im Berufungsverfahren das Bemühen des Erstrichters aufzeige und seine Genauigkeit, mit der er den Sachverhalt ermittelt hat etc. lobe, habe ich sicher mehr Glaubwürdigkeit beim Aufzeigen seiner Irrtümer, als wenn ich ihn als schlampig, faul oder völlig inkompetent für das Richteramt bezeichne. • In diese Richtung fallen auch Ausdrücke und Bezeichnungen wie „total falsche Gesetzesanwendung“, „völlig inkompetent“, „total daneben“, „Mangel jeder Logik“, etc. Wenn der Anwalt versucht, den Erstrichter auf diese Weise als Richter zu disqualifizieren, darf er sich nicht wundern, wenn das Berufungsgericht dem Anwalt zeigt, dass der Erstrichter eben nicht „völlig unqualifiziert“ entschieden hat und die bekämpfte Entscheidung bestätigt. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es für die Berufungsrichter nicht ganz klar ist, wie sie entscheiden sollen. • Auch Kritik an der Gegenpartei und deren Anwalt darf nicht in persönlich verletzender Weise geäußert werden. Man muss immer daran denken, dass viele Menschen, gerade im Gerichtsbereich, sich mit dem zu Unrecht Angegriffenen solidarisieren. Das heißt nicht, dass sie öffentlich Partei ergreifen und sich engagieren. Wohl aber genießt der so Angegriffene innerlich Sympathie. Und dies kann sich so auswirken, dass die Richter dann eben im Zweifel auch nach Gefühl und Sympathie entscheiden. • Manchmal stellt sich die Frage, ob man einen Richter, wenn Gründe dafür vorliegen, ablehnen soll oder nicht. Im Klartext: Soll man in so einem Fall lieber auf Kooperation oder Konfrontation gehen? Lieber kuschen oder lieber angreifen? Ein erfahrener älterer Anwalt hat mir auf meine diesbezügliche Frage hin erklärt: „Schauen Sie sich die Hunde an. Wer am lautesten bellt, bekommt zwei

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

Knochen. Der brav Abwartende keinen.“ Sicher wird die Entscheidung in jedem Einzelfall individuell anhand aller Umstände getroffen werden müssen. • Auch ein anderer Aspekt darf nicht übersehen werden: Im Zweifel wird der Richter vielleicht eher gegen die Partei entscheiden, von deren Berufung der Richter erwartet, dass sie nicht so scharfsinnig, kritisch und fundiert ausgeführt wird, vor deren Berufung er also weniger Angst hat und weniger Kritik erwartet. • Viele Sachverständige zitieren in ihren Gutachten aus der Literatur oder fügen dem Gutachten Literaturhinweise an. Wenn ich am Beginn meiner Frage aus einem der Bücher selber ein Zitat bringe, ist der Sachverständige in seinen Antworten sehr viel vorsichtiger. • Auch die Wirkung meiner Wortmeldungen auf den Mandanten und Dritte ist, wie bereits früher aufgezeigt, immer mit zu berücksichtigen (vgl. Plädoyer im Strafprozess 6. Kapitel).

7.3. Beispiel Ein Sachverständiger, der eher lässig und anmaßend – „Ich bin der Sachverständige“ – sein schriftliches Gutachten erörterte, änderte seinen Stil sofort, nachdem ihm ein Parteienvertreter sachlich und nüchtern erklärte: „Ich mache Sie für Ihr Gutachten haftbar.“

7.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Die genaue Vorbereitung auf die Verhandlung ist wesentliche Grundlage. Aktenkenntnis, Wissen, wo ich welches Vorbringen und welche Aussage in der Akte finde, genaue Kenntnis der Rechtslage, Zugriff zu den wichtigsten einschlägigen Entscheidungen während der Verhandlung etc. geben mir die Sicherheit, von einem sicheren Fundament aus agieren zu können. • In den USA werden wichtigere Prozesse vorher in Rollenspielen mit der eigenen (echten) Partei und einer fiktiven Gegenpartei, mit einem eigenen Anwalt und einem Anwalt der „Gegenseite“ (auch aus der eigenen Kanzlei), einem pensionierten Richter und fiktiven (oder echten) Zeugen, eingeübt. Dabei zeigen sich sehr schnell Schwächen in der eigenen Position, Schwächen im Auftreten vor Gericht etc. • In Tokyo wurde mir bei einem Besuch in einer größeren Kanzlei ein Raum gezeigt, der nur für solche Rollenspiele vorgesehen war: Richterbank, Tische für klagende und beklagte Parteien samt Anwälten, Zeugenstand und als Abtrennung zum Zuhörerraum eine Barriere aus Holz. Dahinter saßen die mit dem Fall befassten Firmenangehörigen und verfolgten kritisch den Ablauf, der in der Folge ausführlich erörtert wurde. • In den USA verschlingt so ein Probeprozess von $ 50.000 bis zu $ 1 Mio. • Auch wenn diese Dimensionen für uns kaum in Frage kommen werden, können doch bereits im Wege eines wesentlich kleineren Rollenspieles mit nur einem Partner bereits wichtige Erfahrungen gewonnen werden.

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Der Anwalt als Schiedsrichter

• Auch das Beobachten anderer Anwälte im Gerichtssaal bringt wichtige Anregungen, etwas ähnlich zu machen oder eben gerade nicht so zu machen. Jede Anregung und jedes Beispiel sollten auf einem Blatt Papier festgehalten werden. • Die eigene „Nachkalkulation“ nach jeder Verhandlung, also das Zurückdenken, was mir gut oder weniger gut gelungen ist oder was völlig schief gelaufen ist, ist ein ganz wichtiges Instrument, um selber zu lernen. Vor allem muss ich aber auch diese eigene Erfahrung schriftlich festhalten. • Vor jeder Verhandlung und auch bei der Vorbereitung ist es hilfreich, diese eigenen Aufzeichnungen wieder durchzulesen. Es ist für mich erschreckend, wenn ich feststelle, wie schnell ich Erfahrungen vergesse, die ich mir vor einem Jahr aufgeschrieben habe.

8. Kapitel Der Anwalt als Schiedsrichter Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen, die sich mit der Kunst des Richters oder im Speziellen mit der Kunst des Schiedsrichters befassen. Deshalb sollen hier nicht die selbstverständlichen Verhaltensweisen wie Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, das Bemühen, die Wahrheit zu erforschen, etc. erörtert werden. Der Schwerpunkt liegt vielmehr in den kleinen Details der Kommunikation zwischen dem Schiedsrichter, den Parteien, den Parteienvertretern, den Zeugen, den Sachverständigen und gegebenenfalls den Mitschiedsrichtern. Ein Anwalt kann in die Position eines Schiedsrichters kommen, wenn die Parteien ein Schiedsverfahren vereinbart haben und beide Parteien ihn als Einzelschiedsrichter vorschlagen oder eine Partei ihn bei einem Schiedsrichtersenat als Schiedsrichter nominiert.

8.1. Was ist das Ziel des Anwalts als Schiedsrichter? • Wie bei allen anderen Schiedsrichtern ist auch Ziel des Anwalts als Schiedsrichter, einen gerechten Schiedsspruch zu fällen. • Das Schiedsverfahren soll einschließlich aller erforderlichen Beweiserhebungen möglichst schnell beendet werden. • Der Schiedsspruch und das vorausgegangene Verfahren sollen objektiv so weit richtig sein, dass der Schiedsspruch nicht nach nationalen Rechtsordnungen erfolgreich angefochten werden kann. • Der Schiedsspruch soll im Bewusstsein der beteiligten Parteien als gerecht empfunden werden. • Wenn die Parteien vergleichsbereit sind, sollte der Abschluss eines Vergleichs gefördert werden. • Die Parteien und deren Vertreter sollen mit dem Anwalt als Schiedsrichter so zufrieden sein, dass sie sich in einem weiteren Streitfall wieder für ihn als Schiedsrichter entscheiden würden.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

8.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Voraussetzung für jeden Schiedsrichter ist es, dass er eine ausgezeichnete Kenntnis der anzuwendenden Gesetze und des gesamten Akteninhaltes hat. • Die schriftliche Kommunikation mit den Parteienvertretern soll so klar und prägnant sein, dass keine Unklarheiten oder Missverständnisse entstehen können und keine Rückfragen erforderlich sind. Dies gilt sowohl bei Senatsbesetzung als auch für die Kommunikation mit Mitschiedsrichtern. • Bei der mündlichen Verhandlung soll die Sitzordnung vom Schiedsrichter so festgelegt werden, dass sich keine Partei benachteiligt fühlt. • Es hat sich bewährt, dass der Schiedsrichter einige Zeit vor Beginn der Verhandlung im Verhandlungsraum Namensschilder mit den Namen der Beteiligten bei den vorgesehenen Plätzen aufstellt. Dadurch erübrigt sich in der Regel jede Diskussion über die Plätze. • Auch und gerade als Schiedsrichter muss ich mir immer bewusst sein, dass es in der Regel für alle Menschen, Schiedsparteien und deren Anwälte inbegriffen, von besonderer Bedeutung ist, wichtig zu sein, anerkannt zu sein. Je wichtiger der Schiedsrichter die Parteien und deren Vertreter macht, desto „reicher“ werden sie an Bedeutung, und je reicher sie werden, desto bereiter sind sie, etwas abzugeben. Sei es im Wege eines Vergleiches oder bei der Akzeptanz eines Urteils. • Bei normalen – außergerichtlichen – Verhandlungen hat es sich herausgestellt, dass die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, größer ist, wenn man schon lange Zeit gemeinsam etwas getan hat. Durch das gemeinsame Tun wächst das „Wir-Gefühl“ und das Bemühen, gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten, bei der jeder bereit ist, Konzessionen zu machen. • Als praktisch hat es sich erwiesen, wenn das Protokoll durch einen Schriftführer bereits während der Verhandlung druckfertig geschrieben und dann nach dem Ausdruck jeder Seite gleich von den Parteien und ihren Vertretern unterschrieben wird. Dadurch lassen sich spätere Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt des Protokolls völlig vermeiden. • Manchmal kann es auch günstig sein, nicht nur die Parteienvertreter, sondern auch die Parteien selbst zu Wort kommen zu lassen. Das Risiko besteht aber darin, dass eine Partei eventuell ausfällig oder aggressiv wird, was die Bereitschaft zu einer einvernehmlichen Regelung wieder erheblich reduzieren könnte. • Je mehr Verständnis der Schiedsrichter dafür zeigt, dass eine Partei ihren Standpunkt so vertritt, desto eher wird diese Partei auch bereit sein, einen für sie ganz oder teilweise negativen Schiedsspruch zu akzeptieren. • Manchmal ergibt sich während einer Verhandlung eine Möglichkeit zu einem Vergleichsabschluss. Doch leider sind die Entscheidungsträger der Parteien nicht im Verhandlungssaal und auch nicht einfach zu erreichen. Für so einen Fall ist es günstig, schon frühzeitig durch einen Hinweis an die Verhandlungsführer sicherzustellen, dass im Bedarfsfall schnell das zuständige Vorstandsmitglied per Mobiltelefon erreicht werden kann. • Wenn sich die Parteien den Abschluss eines Vergleichs noch überlegen wollen, gibt es die Möglichkeit, einen so genannten „bedingten Vergleich“ abzuschließen. Das heißt, dass der Vergleich formuliert wird und jede oder nur eine Partei 286

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Der Anwalt als Schiedsrichter

das Recht erhält, den Vergleich mit einem Schriftsatz, der z. B. bis zum 19. März des Jahres (Postaufgabedatum) an das Schiedsgericht versandt werden muss, zu widerrufen. Im Falle des Widerrufs läuft das Verfahren dann ganz normal weiter.

8.3. Beispiele Schiedsverfahren werden von den Parteien auch deshalb oft bevorzugt, weil das Abschließen von Vergleichen erleichtert wird. Ein Weg, um durch gemeinsames Tun das Wir-Gefühl zu verstärken, wird im Folgenden aufgezeigt: • In einem Schiedsverfahren kann das gemeinsame Tun am Anfang darin bestehen, dass z. B. zunächst alle von der klagenden Partei vorgelegten Urkunden erörtert, auf Echtheit geprüft und unter einer fortlaufenden Bezeichnung registriert werden. Die Gegenpartei hat zu jeder Urkunde ihre Stellungnahme abzugeben, also ob sie als echt und als mit dem Original übereinstimmend anerkannt wurde. Diese Erklärungen werden ebenfalls zu Protokoll genommen. Dann geschieht das Gleiche umgekehrt mit den Urkunden der beklagten Partei. • Wenn in der Folge der Anwalt der klagenden Partei gebeten wird, den wesentlichen Sachverhalt in 15 Minuten mündlich vorzutragen, werden sowohl der Anwalt als auch seine Partei wichtig gemacht, weil die Möglichkeit gegeben wird, ungestört die eigene Position darzulegen. Die Partei sieht, dass sich das Gericht alles wohlwollend anhört. Der anwaltliche Vertreter kann auch gegenüber seiner Partei zeigen, wie gut er mit der Angelegenheit vertraut ist und wie überzeugend er die Interessen der Partei vertritt. Durch einige wenige kritische Fragen des Schiedsrichters zu einzelnen Punkten wird der Partei und ihrem Vertreter bewusst, dass die vertretenen Standpunkte auch Schwachstellen oder zumindest kritische Stellen haben. Wenn anschließend die gleiche Aufforderung an den Vertreter der beklagten Partei gerichtet wird und bei einzelnen Punkten durch die Fragen des Richters nachgefasst wird, ist möglicherweise eine Basis für einen Vergleich vorhanden, weil sich die Parteien und deren Vertreter auch der eigenen und gegnerischen Schwachstellen bewusst werden. • Von einem Anwaltskollegen, der viel in Schiedsverfahren tätig ist, weiß ich, dass er im Anschluss an die ganze Prozedur mit Urkundenerörterung samt Protokollierung sowie den Kurzvorträgen der Parteienvertreter und seinen kritischen Fragen häufig Folgendes erklärt: Es sei zwar eine der primären Aufgaben eines Schiedsrichters, zwischen den Parteien zu vermitteln, aber im vorliegenden Falle seien die Standpunkte derart weit auseinander, dass er es nicht sinnvoll finde, über Vergleichsmöglichkeiten nachzudenken. Er meine, auch jeder der Anwälte und die Parteien seien überzeugt, dass es überhaupt keinen Sinn habe, über Vergleichsmöglichkeiten auch nur zu reden. Sehr oft sei dann von den Parteienvertretern der Hinweis gekommen, „Na, reden können wir schon darüber“. Und dann seien ernsthafte Vergleichsgespräche geführt worden, die in den meisten Fällen auch tatsächlich zu einem Ergebnis in Form einer schriftlichen, einvernehmlichen Regelung der Streitsache geführt hätten. Und das, ohne dass die Parteien oder deren Anwälte das Gefühl hatten, sie seien vom Richter zu einem Vergleich gedrängt worden. Ich bin der Überzeugung, dass ohne die lange gemeinsame Arbeit mit den Urkunden und ohne die Möglichkeit der Anwälte, sich als Parteienvertreter ins richtige Licht zu setzen, zumindest in diesem Stadium ein Vergleich kaum möglich gewesen wäre. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

8.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Man hat selten Gelegenheit Schiedsverfahren, an denen man nicht als Anwalt oder als Schiedsrichter beteiligt ist, mitverfolgen und daraus lernen zu können, weil eben Schiedsverfahren gerade nicht öffentlich sind. • Aber neben der Verwendung einer stetig wachsenden Literatur gibt es viele Möglichkeiten, bei Seminaren, Kongressen, in den Rechtsabteilungen größerer Unternehmen etc., mit Schiedsrichtern, Mitschiedsrichtern in einem Senat, mit Anwälten als Parteienvertretern oder mit Parteien zu sprechen und zu fragen, was sie selbst bei den Schiedsverfahren, an denen sie in irgendeiner Form oder Funktion beteiligt oder mitgewirkt haben, als besonders positiv oder negativ empfunden haben. Schon nach wenigen Gesprächen wird man feststellen können, wie wertvoll die erhaltenen Informationen sind. Wenn man diese schriftlich festhält, bleiben sie einem auf Dauer erhalten. • Die eigene Erfahrung als Schiedsrichter und die kritische Beurteilung der eigenen Arbeit nach deren Abschluss ist eine weitere wertvolle Möglichkeit, seine diesbezüglichen Fähigkeiten zu verbessern.

9. Kapitel Der Anwalt als Parteienvertreter im Schiedsverfahren und Mediationsverfahren Hier liegt der große Unterschied zum Anwalt als Parteienvertreter im Zivilprozess darin, dass in der Regel • Schiedsverfahren und Mediationsverfahren nicht öffentlich sind, • eine größere Vergleichsbereitschaft besteht, weil die Parteien oft auch später noch zusammenarbeiten wollen, • häufig Angehörige verschiedener Länder und Kulturen beteiligt sind und • der Umgangston zwischen den Parteien sachlicher und weniger aggressiv ist. Wenn man diese Unterschiede und ihre Konsequenzen berücksichtigt, kann man viele Anregungen aus Abschnitt VII übernehmen.

9.1. Was ist Ziel des Anwalts als Parteienvertreter im Schiedsund Mediationsverfahren? • Der Anwalt möchte auch in diesen Verfahren, dass vor allem sein Mandant mit ihm zufrieden ist. • Darüber hinaus gilt auch hier im Wesentlichen das in Kapitel 7, 7.1. Gesagte. Ein Unterschied liegt vor allem darin, dass der Anwalt nicht auf anwesende, fremde Zuhörer oder auf anwesende Medien Rücksicht nehmen muss.

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Der Anwalt als Mediator

9.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Die Zufriedenheit des Mandanten wird in der Regel erreicht, wenn er sieht, dass sich der Anwalt voll informiert und engagiert für ihn einsetzt, dass der Mandant seinen Ruf gewahrt hat und dass ein möglichst günstiges Ergebnis für den Mandanten erzielt wurde, sei es im Vergleich, sei es durch einen Schiedsspruch oder bei der Mediation durch die Einigung. • Da das Schiedsverfahren deutlich formfreier als ein Zivilprozess abläuft, kann der kreative Anwalt als Parteienvertreter viele Lösungsmöglichkeiten einbringen, die im Wege eines Vergleichs eingebaut werden können, um ein allgemein akzeptiertes Ergebnis zu erhalten. Das gilt noch mehr für das Mediationsverfahren, das fast völlig formfrei ist. • Unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen dem Anwalt als Parteienvertreter im Schiedsverfahren und im Mediationsverfahren gegenüber dem Zivilprozess gelten auch hier die Ausführungen im Kapitel 7, Ziffer 2 entsprechend.

9.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? Hier gilt sinngemäß das bereits unter Kapitel 7, 7.4 Ausgeführte.

10. Kapitel Der Anwalt als Mediator Manchmal wird Mediation von Laien noch immer mit einem Schiedsgericht verwechselt. Der Hauptunterschied liegt aber darin, dass • bei der Mediation immer die Parteien eine Lösung festlegen, der Mediator hingegen nur eine Beratungs- und Anleitungsfunktion wahrnimmt, während • bei einem Schiedsgericht immer der Richter eine Lösung festlegt, außer die Parteien einigen sich auf einen Vergleich. Trotzdem wird Mediation in einzelnen Ländern und von einzelnen Personen oft völlig verschieden gesehen. So wird unter Mediation verstanden • das gemeinsame Gespräch des Mediators mit den Parteien ohne Einzelgespräche zwischen dem Mediator und einer Partei, • das gemeinsame Gespräch des Mediators mit den Parteien in Einzelgesprächen zwischen dem Mediator und einer Partei, • nur Einzelgespräche des Mediators mit jeweils einer Partei, erst bei Vorliegen eines Ergebnisses erfolgt ein gemeinsames Gespräch, • der Mediator bringt keine eigenen Vorschläge ein, • der Mediator hilft mit eigenen Vorschlägen nur dann weiter, wenn die Parteien allein nicht mehr weiterkommen, • primär der Mediator erarbeitet Vorschläge und unterbreitet sie den Parteien, • der Mediator zwingt seine Vorschläge den Parteien auf. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

Die letzte Interpretation habe ich beim Kongress der amerikanischen Anwaltsorganisation, der American Bar Association (ABA), im Jahre 2000 in New York kennen gelernt. Ein Anwalt erzählte in kleinem Kreis, er habe eine kontinuierlich wachsende Anwaltspraxis mit dem Schwerpunkt Mediation. Er höre sich das Problem der Parteien an, dann entscheide er, wie der Konflikt zu lösen sei und die Parteien gingen wieder glücklich nach Hause…

10.1. Was ist Ziel des Anwalts als Mediator? • Ziel des Mediators ist es, die Parteien anzuleiten, durch eigenes Denken und Überlegen zu einer Lösung zu kommen, mit der sie zufrieden und glücklich sind, mit der sie vor allem auch in der Zukunft leben können. • Diese Lösung sollte zwar nicht übereilt, aber doch möglichst zügig und schnell erarbeitet werden, damit die Angelegenheit, die wohl immer einen Konflikt enthält, erledigt und abgeschlossen werden kann. • Schließlich sollen die Parteien auch mit dem Anwalt als Mediator so zufrieden sein, dass sie ihn wieder als Mediator oder eventuell auch als Anwalt beiziehen würden.

10.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Das unparteiische Akzeptieren des bestehenden Konflikts ist wesentliche Voraussetzung der Arbeit als Mediator. • In Gesprächen mit den unvertretenen Parteien und natürlich auch mit den Parteienvertretern und ihren Mandanten ist besonderer Wert darauf zu legen, dass die Unparteilichkeit von niemandem auch nur im Geringsten angezweifelt werden kann. • Diese Unparteilichkeit zeigt sich äußerlich darin, dass der Mediator – beide Parteien etwa gleich oft zu Wort kommen lässt, – darauf schaut, dass die Wortmeldungen etwa gleich lang sind, – beiden Parteien gleich interessiert zuhört, – beide Parteien etwa gleich oft etwas fragt, – keine Partei oder deren Standpunkt beurteilt oder gar abwertet, – die Vorschläge beider Parteien in gleicher Weise zur Diskussion stellt, – sich nicht immer an die gleiche Partei als erste wendet, sondern die Parteien abwechselnd als erste anspricht oder auffordert, sich zu äußern, – die Parteien fragt, wer als erster seinen Beitrag leisten will und wenn sich die Parteien nicht einigen, weiter fragt, wie man das Problem lösen könnte, – sich überlegt, ob er die Sitzordnung vorschlagen kann oder ob es noch besser ist, wenn die Parteien dies untereinander ausmachen. • Wenn es dem Mediator nicht gelingt, diese äußere Unparteilichkeit zu vermitteln, weil z. B. eine Partei immer doppelt so lange redet wie die andere, ist es wichtig, dies aufzuzeigen, um allen Parteien, insbesondere der „benachteiligten“ Partei, zu zeigen, dass dies dem Mediator bewusst ist. 290

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Der Anwalt als Vortragender

• Besonders schwierig ist es für den Mediator, wenn er erlebt, dass die Parteien sich gegenseitig beleidigen und laufend verletzen. Hier kann es helfen, wenn der Mediator den Parteien sagt, dass er Zweifel hat, ob unter diesen Voraussetzungen die Mediation mit ihm als Mediator überhaupt sinnvoll ist und ob man die Mediation abbrechen soll. Meist wird es dann schnell friedlich – zumindest vorübergehend.

10.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Hier gilt sinngemäß das im Kapitel 8 Ausgeführte. • Bei großen Mediationsverfahren, meist im Bereich des Umweltschutzes oder des Nachbarrechts, sind die Gespräche und Verhandlungen häufig öffentlich, so dass man daran als Zuhörer teilnehmen und aus direkter Erfahrung viel lernen kann. • Manche Mediationsverfahren werden über das Internet allgemein zugänglich gemacht, so dass man auch aus dem Studium der so veröffentlichen Schriftstücke lernen kann.

11. Kapitel Der Anwalt als Vortragender auf Konferenzen und in Seminaren Schon immer waren Anwälte gefordert, in der Öffentlichkeit zu reden. In den letzten Jahren ist durch die internationale Verflechtung die Zahl der Kongresse und Konferenzen sprunghaft gestiegen. Die Zahl der Seminare ist, bedingt durch die Geschwindigkeit, mit der neues Wissen entsteht, weitergegeben, gelehrt und gelernt wird, ebenfalls stark angestiegen. Bei allen diesen Veranstaltungen stellen Anwälte einen großen Teil der Referenten. Deshalb wird in diesem Kommunikationshandbuch auch auf die Funktion des Anwaltes als Vortragender eingegangen.

11.1. Was ist Ziel des Anwalts als Vortragender auf Konferenzen und Seminaren? • Ziel eines Vortrages auf Kongressen, Konferenzen und Seminaren ist es, dem Zuhörer Wissen zu vermitteln. Und zwar einerseits so spannend, dass er sich nicht langweilt oder gar einschläft und andererseits so, dass er sich auch später noch an den Inhalt des Vortrages möglichst genau erinnert. • Darüber hinaus soll der Zuhörer den Anwalt als profunden Fachmann erleben, so dass er sich gerne an diesen wendet, wenn es später fachliche Fragen zu klären gibt. • Wenn in der Kanzlei des Anwalts aus Marketingüberlegungen eigene Seminare abgehalten werden, ist das Auftreten als Fachmann natürlich besonders wichtig. • Schließlich sollte für die Vorbereitung möglichst wenig Zeit investiert werden müssen.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

11.2. Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? • Die Sammlung des Stoffs, der Unterlagen und der Beispiele für ein Sachgebiet sollte möglichst langfristig erfolgen, damit nicht erst dann eine hektische Suche beginnt, wenn die Einladung zu einem Vortrag angenommen wurde. • Während ich früher oft einen Vortrag zunächst in der Urfassung als ersten Entwurf diktiert habe, diese Fassung dann meist zu einem zweiten Entwurf umgearbeitet habe und manchmal sogar (je nach Schwierigkeit und Wichtigkeit) ein dritter und vierter Entwurf geschrieben wurde, benutze ich seit vielen Jahren ein erheblich zeitsparenderes und flexibleres System. Auf kleinen Zetteln im DIN A 6 Format, also ca. 10 × 15 cm halte ich handschriftlich jeweils einen Gedanken fest. Das hat den großen Vorteil, dass nach Vorliegen der Gliederung alle Gedanken sofort dort eingeordnet werden können, wo sie hingehören, dass Ergänzungen mit neuen Beispielen und Gedanken sofort am richtigen Ort eingebaut werden können und Streichungen das Manuskript nicht belasten, weil der gestrichene Text einfach herausgenommen werden kann. Seit Jahren halte ich viele Vorträge nur mehr gestützt auf diese kleinen handschriftlichen Zettel. • Diese kleinen Zettel haben überdies den weiteren Vorteil, dass man sie in einer Hand halten kann, dass sie die Gestik nicht behindern und sich nicht wie ein Manuskript in DIN A 4 Format als Barriere zwischen die Zuhörer und den Referenten schieben. Auch das ständige Hinunterschauen auf das Rednerpult, auf dem das Manuskript im DIN A 4 Format liegt, entfällt. Die kleinen Zettel in der Hand lenken den Redner viel weniger vom Zuhörer ab. • Aus der unendlichen Zahl der Hinweise und Anregungen aus Rhetorikbüchern nenne ich im folgenden jene, die mir besonders wichtig erscheinen: – Es sollte eine klare Gliederung erarbeitet werden. Man sollte nicht verwirrend in römisch I, A, 1 strukturieren, sondern in fünf (auch zehn oder 15) übersichtliche Punkte gliedern und die einzelnen Punkte ansagen. Dann kann nämlich jeder, der gerade geistig abwesend war, bei jedem Punkt wieder neu einsteigen. – Das Ziel, also das Anliegen der Rede, muss klar formuliert werden, so dass jeder Zuhörer weiß, wovon gesprochen werden soll. – Möglichst alle Gedanken mit einem Bild, einem Beispiel, einem Vergleich oder einer Geschichte verbinden. Vorträge, die durch Bilder, Beispiele, Vergleiche und Geschichten angereichert sind, werden fast immer ein Erfolg, weil sie den Inhalt des Vortrages so bildhaft machen, dass der Zuhörer das Bild vor sich sieht. Es bleibt lange Zeit in Erinnerung und dadurch der gesamte Vortrag. – Kurze Sätze bilden. – Abwechslung hineinbringen durch Änderung der Stimmhöhe, Geschwindigkeit, Lautstärke, Gestik, durch Pausen, rhetorische Fragen, Zitate, Wiederholungen, etc. – Nie überheblich oder belehrend auftreten. – Den Zuhörer immer dort abholen, wo er ist.

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Der Anwalt als Vortragender

• Die Zuhörer wie in einen Dialog einbinden. Bei einem großen Publikum jemanden in den ersten drei Reihen fragend anschauen oder sogar direkt ansprechen: „Vielleicht haben Sie diese Erfahrung auch schon gemacht“ oder: „Ich nehme an, Sie haben auch keine Lösung für dieses Problem gefunden“. Das Nicken des Zuhörers aufgreifen und ansprechen, so dass die Antwort durch das Nicken für alle „hörbar“ wird. • Bei einem kleinen Publikum bis etwa 100 Personen können die Zuhörer auch konkret mit eingebunden werden. „Was würden Sie in einem derartigen Fall machen?“ „Wer hat eine Lösung für dieses Problem gefunden?“ Durch dieses Einbinden der Zuhörer gestalten diese den Vortrag oder das Seminar mit. Und da es damit auch „ihr“ Seminar wird, wird es in deren Beurteilung auch gut, weil sie es ja mitgestaltet haben. • Bei einem sehr großen Publikum kann eine Einbindung auch durch breite Fragen erfolgen, z. B.: Es möge bitte aufzeigen, wer – Anwalt, – Notar, – Wirtschaftstreuhänder und Steuerberater, – Richter, – Universitätsprofessor ist. • Dadurch gelingt es meist, die Anonymität der Teilnehmer nicht nur gegenüber mir als Vortragendem zu lockern, sondern auch gegenüber ihrem Sitznachbarn. • Ein ähnlicher Erfolg ist auch mit einer Altersumfrage zu erreichen: – wer ist unter 20 Jahre alt, – wer ist 20–40 Jahre alt, – wer ist 41–60 Jahre alt, – wer ist über 60 Jahre alt. • Das Wichtigste ist jedoch, dass der Referent nicht aus einer inneren Langeweile heraus referiert, sondern dass die Zuhörer spüren, dass der Referent von dem, was er sagt, überzeugt und begeistert ist, so dass er auch begeistert darüber redet. • Um den Teilnehmern das Mitdenken und die Erinnerung an den Vortrag besonders leicht zu machen, können am Beginn Übersichten auf einem Blatt Papier ausgegeben werden, auf denen die Gliederung und eventuell einzelne markante Gedanken in Stichworten enthalten sind oder es wird das gesamte Manuskript ausgegeben. • Ob Hilfsmittel wie Folien, Beamter etc. eingesetzt werden, hängt von der Zahl der Zuhörer und davon ab, was mit den Hilfsmitteln projiziert wird usw. Für die Präsentation von Bildern, Zeitungen, Fotos, Graphiken, Tabellen etc., bringt die Projektion erhebliche Vorteile, weil sie das Vorgetragene illustriert. Wenn nur der Text des Vortrages, wenn auch gerafft wiedergegeben wird, ist die Wirkung umstritten. Denn der Blick auf die Leinwand lenkt von der Körpersprache des Vortragenden ab. Viele Vortragende geben dann auch der Versuchung nach, auf die Leinwand zu schauen, statt sich dem Blickkontakt mit den Zuhörern zu widmen. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

11.3. Wie kann ich Grundlagen und Mittel, erlernen um das Ziel zu erreichen? • „Learning by doing“, also das Lernen durch das eigene Tun, durch das eigene Sprechen, ist die beste Möglichkeit zu lernen und sich zu verbessern. Nach einem Vortrag wissen wir meistens selber recht genau, was uns sehr gut gelungen ist und was weniger. Versuchen Sie nach einem Vortrag für sich selbst schriftlich festzuhalten, was Sie als besonders gut empfunden haben und in welchem Bereich Sie besser werden wollen. • Sie können auch noch einen Schritt weitergehen und vor Ihrem Vortrag eine Ihnen nahestehende Person bitten, für Sie einen kritischen Kommentar zu Ihrer Rede zusammenzustellen. • Bei der eigenen und der „fremden“ Kritik können z. B. folgende Bereiche behandelt werden: – War das Ziel, das Anliegen des Redners klar erkennbar, – Hat die Gliederung das Mitdenken erleichtert, – Wurden die Zuhörer dort abgeholt, wo sie sind, – Waren die Gedanken mit Bildern, Vergleichen, Geschichten und Beispielen verbunden, so dass sie leicht in Erinnerung blieben, – Hat die Gestik den Inhalt unterstrichen, ohne dass sie aufgesetzt oder künstlich wirkte, – Hat die Körpersprache zum Vortrag gepasst und den Inhalt unterstrichen, – Waren die Einleitung und vor allem der Schluss spannend, – Waren Kleidung und äußere Haltung ansprechend, – Wurde Augenkontakt zu den Zuhörern gesucht und gehalten, – Wurde der Vortrag durch Abwechslung in der Stimmhöhe, Geschwindigkeit, Einsatz von Pausen, rhetorischen Fragen, Ausrufen, etc. lebendig, – Wurde mit der richtigen Geschwindigkeit gesprochen oder hatten die Zuhörer Schwierigkeiten, zu folgen, – War der Vortrag laut genug, – Wirkte der Redner voll informiert und engagiert, – War die Länge des Vortrages dem Anlass angemessen? • Eine besonders gute Hilfe ist es, wenn bei den einzelnen Punkten der Kritik auch gleich Verbesserungsvorschläge festgehalten werden. Letztlich muss aber immer jeder einzelne Redner entscheiden, was ihm persönlich liegt und wie er sich am wohlsten fühlt. Nur dann ist er authentisch und glaubwürdig. Technische Regeln und Tipps sind immer nur ein Denkanstoß. Was ich daraus für mich mache, was ich übernehme, ist allein meine Sache. Deshalb kann für mich oft auch das Gegenteil einzelner Regeln richtig sein. • Eine gute Quelle für das Lernen ist die Analyse fremder Reden. Versuchen Sie zu ergründen, warum der eine Redner farblos langweilig wirkt und der andere seine Zuhörer mitreißt und überzeugt. Allein schon durch das kritische Beobachten und Analysieren lernen wir. 294

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Umgang mit Medien

12. Kapitel Der Anwalt im Umgang mit den Medien Früher lagen die Schwerpunkte der anwaltlichen Tätigkeit vor allem im Auftreten vor Gericht, im Verfassen von Schriftsätzen, im Formulieren von Verträgen, im Verhandeln mit mehreren Parteien, im Erarbeiten von Regelungen bei Konflikten und im Suchen von kreativen und innovativen Lösungen. Heute kommt der Umgang mit Medien als weiterer Schwerpunkt dazu. Nicht für jeden Anwalt, nicht für jeden Fall. Aber bei einzelnen Rechtsfällen und in einzelnen Situationen ist die mediale Berichterstattung in den Zeitungen, im Fernsehen oder im Radio schon von gleicher Bedeutung wie die reine rechtliche Beurteilung. Gelegentlich tritt die rechtliche Bedeutung gegenüber der medialen Bedeutung sogar in den Hintergrund. Wir können dies beklagen, bejammern, doch es wird nichts daran ändern, dass auch wir als Anwälte lernen müssen, mit den Medien umzugehen.

12.1. Was ist Ziel des Anwalts im Umgang mit Medien? • Die Medien sollen überhaupt berichten. • Sie sollen wahrheitsgemäß berichten. • Sie sollen positiv und objektiv für den Mandanten berichten. • Falsche Berichte sollen richtiggestellt werden. • Manchmal sollen die Medien auch überhaupt nichts berichten. • Die Tätigkeit und das Berufsbild des Anwalts sollen in positiver Weise dargestellt werden. • Der Anwalt soll durch seine Erwähnung oder den Auftritt in den Medien möglichst so viel Vertrauen gewinnen, dass dadurch neue Mandanten kommen und bisherige sich in der Wahl bestätigt fühlen.

12.2 Mit welchen Mitteln erreiche ich das Ziel? Je nach Ziel und Situation ist der Einsatz verschiedener Mittel zu wählen: • Die Pressemitteilung: Wenn viele Medien über einen Sachverhalt informiert werden sollen, ist eine Pressemitteilung möglich. Dabei sind einige Kernpunkte zu beachten: – Je kürzer die Mitteilung, desto größer ist die Chance, dass sie zumindest teilweise veröffentlicht wird. Eine halbe bis maximal eine Seite ist genug. – Die wichtigsten Sachverhalte sollen gleich zu Beginn stehen, so dass auch bei einer Textkürzung das Wesentliche erhalten bleibt. – Juristische Fachausdrücke müssen vermieden werden.

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

– Jede Mitteilung muss einen Neuigkeitswert haben, der für eine attraktive Schlagzeile reicht. – Wenn ich mir bereits selber vier mögliche Texte für die Schlagzeile und den Zwischentitel überlege und anführe, erleichtere ich den Journalisten die Arbeit und erhöhe die Chance, dass eine von mir vorgeschlagene Überschrift verwendet wird. – Bei jeder Pressemitteilung muss ersichtlich sein, wer der Absender ist und an wen sich der Journalist telefonisch wenden kann, um weitere Informationen zu erhalten. – In der Regel findet bei Zeitungen die Redaktionssitzung am späten Vormittag statt; Redaktionsschluss ist im Laufe des Nachmittags. – Eine Pressemitteilung nur „An die Redaktion der X-Zeitung“ gerichtet, verschwindet viel leichter in den Papierstößen auf irgendeinem Schreibtisch als eine Mitteilung, die an eine konkrete Person, also z. B. Herrn Georg Depladi, gerichtet ist, der für das zuständige Ressort verantwortlich ist. Eine Möglichkeit, den zuständigen Ansprechpartner für das betreffende Thema zu finden ist die telefonische Anfrage in der Redaktion, wer für den entsprechenden Themenbereich zuständig ist. – Es muss dann im Einzelfall entschieden werden, ob vor Versand der Pressemitteilung mit den jeweils thematisch zuständigen Redakteuren Kontakt aufgenommen und die Mitteilung angekündigt wird. – Auch wenn nachgefragt werden soll, ist es auf jeden Fall eine große Hilfe, eine Person als Ansprechpartner zu haben. Sonst muss in der ganzen Redaktion herumgefragt werden, bei wem die Pressemitteilung gelandet ist. Und dies ist, wenn es kein „Knüller“ ist, meist aussichtslos. • Die Versendung an einen einzigen Journalisten Dieser Weg wird meist gewählt, wenn einem Medium eine Information exklusiv zur Verfügung gestellt werden soll. Dort wird die Information dafür in der Regel mehr hervorgehoben. Meist zeigen sich andere Medien und Journalisten dann beleidigt. Dieser Nachteil muss gegen die Vorteile abgewogen werden. • Die Pressekonferenz Eine Pressekonferenz wird meist dann angesetzt, wenn eine Information mit mehreren Journalisten besprochen werden soll. Dabei sind folgende Kernpunkte zu berücksichtigen: – Die Pressekonferenz sollte zeitlich vor den Redaktionssitzungen stattfinden und enden, also in der Regel vormittags. – Die für die Journalisten vorbereitete Pressemappe sollte auf sogenannten „Waschzetteln“ die wesentlichen Fakten, Namen, Ziffern und Daten enthalten. Die „Waschzettel“ dürfen nur einseitig und nicht eng beschriftet sein und sind in der Regel durch verschiedene Farben der Blätter leicht und schnell zu unterscheiden. – Zu einer Pressekonferenz können auch mehrere Leute beigezogen werden, auch externe Fachleute.

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Umgang mit Medien

– Die Gefahr bei einer Pressekonferenz liegt darin, dass ein Journalist eventuell mit einer Frage, einem Vorhalt oder einer Behauptung die Konferenz in eine Richtung steuert, die nicht geplant war, aber trotzdem auch von den anderen Journalisten aufgegriffen wird. Darüber hinaus muss bei Pressekonferenzen immer auch mit Fragen gerechnet werden, die nicht aus dem Stegreif beantwortet werden können. • Das Gespräch mit einem einzelnen Journalisten Dies hat den Vorteil, dass die Information leichter gesteuert werden kann. Es bleibt jedoch das Problem, dass andere Journalisten, wie bereits oben ausgeführt, beleidigt sein können, weil man ihnen eine Information nicht zukommen ließ. • Nicht alle Medienkontakte erfolgen freiwillig Es kann durchaus sein, dass ein Journalist einen Anwalt anruft und Informationen über ein laufendes Verfahren oder über die Situation eines Mandanten erhalten will. Auch dabei sind einige Kernpunkte zu berücksichtigen: – Wenn Sie sich auf die berufliche Verschwiegenheit berufen wollen oder müssen, haben Sie es am leichtesten. Sie erklären dem Journalisten einfach: „Ich bin an das Berufsgeheimnis gebunden und kann Ihnen deshalb keine Auskunft geben“. Jeder Journalist wird aber weiter fragen. Er wird eventuell über den Mandanten sehr negative Sachverhalte erzählen, um Sie aus der Reserve zu locken. Wenn Sie (wie früher bei einem Sprung in der Schallplatte) immer den obigen gleichen Satz wiederholen, wird es der Journalist nach der zehnten Frage bald aufgeben. Wenn Sie aber nur im Geringsten auf die Frage eingehen, wird er solange fragen, bis er alles aus Ihnen herausgeholt hat, was Sie nicht sagen wollten. Dadurch, dass er bei jeder Frage ein bisschen mehr Informationen erhält, weiß er, dass er nur oft und lästig genug fragen muss, um alles zu erfahren. – Wenn Sie am Telefon inhaltlich antworten wollen oder müssen, hat es sich bewährt, den Journalisten zu fragen, zu welchem Thema er welche Informationen haben will, ob die Themen jetzt vollständig genannt sind und wie lange Sie ihn noch erreichen können, weil Sie jetzt gerade in einer Besprechung sind oder eine andere Arbeit fertig stellen müssen und ihn deshalb in z. B. einer halben Stunde zurückrufen werden. Dieser spätere Rückruf gibt Ihnen die Möglichkeit, sich mit dem Thema vertraut zu machen, die Unterlagen herauszusuchen und Ihre Antworten fundiert vorzubereiten. Überdies ist es für Sie angenehmer, den Journalisten anzurufen, als von ihm angerufen zu werden. In den Empfindungen ist der, der anruft, einfach stärker. Für Sie ein Vorteil. – Es ist schwierig zu erreichen, dass überhaupt nicht berichtet wird. – Eine Drohung mit gerichtlichen Schritten wird nur in krassen Fällen erfolgreich sein können. Wenn eine Stellungnahme ohne Begründung verweigert wird, wird voraussichtlich genau das berichtet. Ob das günstiger ist, als eine Stellungnahme, die dann wiederum von der Zeitung hämisch kommentiert werden kann, muss im Einzelfall entschieden werden. • Radio- oder Fernsehinterviews Dabei ist immer darauf zu achten, dass nur ein kleiner Ausschnitt gesendet wird. Es darf also kein Satz, kein Halbsatz formuliert werden, der aus dem Zusammenhang gerissen werden kann und so eine Aussage verfälscht. Greiter

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7. Teil Kommunikation in der Praxis

• Es gibt zahlreiche Grundregeln und Tipps für den Umgang mit Medien. Hier eine kleine Auswahl: – Ich muss genau wissen, was meine zentrale Botschaft ist, die ich weitergeben möchte. – Auf einige wenige plakative Aussagen konzentrieren (höchstens drei) und wiederholt mündlich einbringen, z. B. bei einem Interview. – Versuchen Sie, Ihren Inhalt mit Bildern, Geschichten und Vergleichen so bildhaft zu verbinden, so dass das Bild oder die Geschichte beim Zuhörer hängen bleibt. – Wenn Sie die Frage nicht beantworten wollen, nennen Sie den Grund dafür. Das klingt gleich versöhnlicher. – Auf Menschen und Gefühle eingehen. – Falsche Aussagen sollte man sofort als solche bezeichnen, auch wenn Sie erst später in der Diskussion ausführlich darauf eingehen werden. – Begrenzen Sie sich auf Fakten. – Lassen Sie sich nicht auf Spekulationen ein. „Was wäre wenn, werde ich mir erst überlegen, wenn eine solche Situation eintreten sollte, aber nicht vorher“. – Versuchen Sie, möglichst positive Begriffe zu verwenden. – Kurze Antworten können vom Journalisten viel schwerer missbraucht, das heißt aus dem Zusammenhang gerissen werden. – Verwenden Sie ganz einfache Formulierungen, als ob Sie den Sachverhalt einem 12jährigen Kind erzählen. Sonst muss der Journalist ihre Aussage entsprechend vereinfachen.

12.3. Beispiele • Ein Krankenhaus feierte sein 150jähriges Bestehen. Vor Beginn der Feierlichkeiten war eine Pressekonferenz angesetzt. Ein Journalist stellte die Frage, ob eine Patientin, die frühmorgens gestorben war und tot aufgefunden wurde, an einem Kunstfehler gestorben sei. Die ganze Pressekonferenz wurde nur von diesem Thema geprägt. Auch in den Berichten war die Tote Gegenstand der Schlagzeile. Das Jubiläum mit dem Festakt, etc., wurde nur noch nebenbei erwähnt. Hier wäre eine Pressemitteilung zum Jubiläum günstiger gewesen. • Ein früherer österreichischer Kandidat für die Bundespräsidentenwahl – ein politischer Quereinsteiger – kam unter Beschuss, weil er angeblich versucht hatte, einem Abgeordneten einer kleinen Partei durch Übergabe von Geld zu bewegen, für seine Kandidatur zu unterschreiben. Das Fernsehen hatte den Kandidaten zu einem Interview gebeten. Als die Frage auf diese angebliche Geldzuwendung kam, erklärte der Kandidat, dazu werde er sich in drei Tagen in einer Pressekonferenz äußern. Der Journalist fragte aber trotzdem weiter und bekam auf jede Frage die obige Antwort, aber zusätzlich noch eine Richtigstellung zum journalistischen Vorhalt. Der Journalist fragte immer weiter und nach ca. sechs Minuten lag der ganze Sachverhalt ausgebreitet da, obwohl der Kandidat nichts sagen wollte. Sein Fehler war, dass er mit jeder Antwort eine Zusatzinformation gab. 298

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Umgang mit Medien

12.4. Wie kann ich Grundlagen und Mittel erlernen, um das Ziel zu erreichen? • Der Umgang mit den Medien ist ein Bereich, der besonders schwierig zu erlernen ist. Umso wichtiger ist es, im Fernsehen, im Radio und in den Tageszeitungen bewusst zu verfolgen, wie einzelne kritische oder auch positive Meldungen gebracht wurden. Dabei kann meist gut analysiert werden, was beim öffentlichen Auftritt gut oder weniger gut angekommen ist. Gerade aus der Beobachtung und Analyse anderer kann sehr viel gelernt werden. • Ein weiteres Mittel ist die Lektüre einschlägiger Bücher und der Besuch von Seminaren, die mit praktischen Übungen und Rollenspielen verbunden sind. • Schließlich ist auch hier die Analyse der eigenen Medienarbeit sehr wertvoll. Es ist zwar mühsam und manchmal ernüchternd, wenn man sich nach einem gelungenen oder missglückten Bemühen, mit den Medien erfolgreich umzugehen, hinsetzt und die Ursachen analysiert. Aber das Herausarbeiten und schriftliche Festhalten der Ursachen hilft im eigenen Erlernen sehr viel weiter. • Bilder, Geschichten, Beispiele und Vergleiche sind besonders wirkungsvolle Mittel, um einen Sachverhalt plastisch und einprägsam zu vermitteln. Sie sind aber schwer aus dem Stegreif heraus zu finden. Die folgende Methode hat sich sehr bewährt, um den Einsatz von Bildern, Geschichten, Beispielen und Vergleichen zu erleichtern: Wenn man das erste Mal mit einer Thematik konfrontiert wurde, überlegt man sich bewusst jeweils fünf Bilder, Geschichten, Beispiele und Vergleiche, die eventuell eingesetzt werden können, und hält diese schriftlich fest. Die Chance, aus den bereits vorbereiteten Gedanken etwas verwenden zu können, ist dann wesentlich größer, als wenn ich erst in einem Interview beginne, nachzudenken, wie ich meine Aussage plastisch vermitteln kann. • Eine andere Möglichkeit, Bilder, Geschichten, Beispiele und Vergleiche zu erarbeiten, liegt in der Analyse der Verwendung von Bildern, Geschichten, Beispielen und Vergleichen durch andere, sei es in Zeitungen, im Radio oder Fernsehen oder bei Vorträgen und Diskussionen, die ich selber anhöre. Wie ist der Redner zu diesem Gedanken gekommen? Wäre ich auch darauf gekommen? In welche Richtung hätte ich denken müssen, um darauf zu kommen? Die Erarbeitung dieser Antworten ist hart und mühsam, vergrößert aber die eigene Übung und Erfahrung.

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Herausgeber und Autoren Fürsprecher Adrian Schweizer, Rechtsanwalt und Executive Coach, berät Manager, Unternehmer und Investoren weltweit bei der selbständigen Lösung von Konflikten. Er ist Buchautor und Lehrbeauftragter an den Universitäten Hagen und Passau. E-Mail: [email protected] Rechtsanwalt Dr. Reiner Ponschab, viele Jahre in Großkanzleien tätig, zuletzt Partner bei PwC Veltins. Daneben Mediator in der Wirtschaft und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze, Lehrbeauftragter verschiedener Universitäten im Inund Ausland. E-Mail: [email protected] Rouven Soudry, Lehrbeauftragter an der FH-Heidelberg für Wettbewerbs-, Gesellschafts- und Vertragsrecht, Gründer des Debating Club Heidelberg e. V., Herausgeber und Autor verschiedener Werke zur Rhetorik, Landesmeister im Hochschuldebattieren. E-Mail: [email protected] Rechtsanwalt Dr. Ivo Greiter, Partner der Kanzlei Greiter Pegger Kofler & Partner in Innsbruck. Er vertritt regelmäßig auch deutsche Klienten in Österreich. Seine Schwerpunkte sind Wirtschaftsrecht, Schmerzensgeld, Verhandlungsvorbereitung mit Klienten, Prozessvermeidung. E-Mail: [email protected] Rechtsanwalt Gerhard Lochmann ist Partner der Kanzlei Lochmann und Petrat Rechtsanwälte in Emmendingen. Seine anwaltlichen Schwerpunkte liegen im Erb- und im Zwangsvollstreckungsrecht. E-Mail: [email protected]

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