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German Pages VI, 164 [156] Year 2020
pop.religion: lebensstil – kultur – theologie
Inge Kirsner
Komm und sieh: Religion im Film Analysen und Modelle
pop.religion: lebensstil – kultur – theologie Reihe herausgegeben von Frank Thomas Brinkmann, Gießen, Deutschland Andreas Engelschalk, Aßlar, Deutschland Gotthard Fermor, Bonn, Deutschland Hans-Martin Gutmann, Hamburg, Deutschland Inge Kirsner, Ludwigsburg, Deutschland Ilona Nord, Würzburg, Deutschland Harald Schroeter-Wittke, Paderborn, Deutschland
Die Reihe pop.religion stellt eine Plattform für popkulturtheoretische und poptheologische Diskurse dar. Sie verfolgt das Ziel, gegenwärtige Debatten zu POP und Popkultur aus theologischer sowie religions- und kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektive zu bereichern und bietet entsprechenden Einzelstudien, Tagungsbänden, Festschriften, Aufsatzsammlungen und Literaturberichten ein angemessenes Forum.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13867
Inge Kirsner
Komm und sieh: Religion im Film Analysen und Modelle
Inge Kirsner Ev. Hochschulpfarramt Tübingen Tübingen, Deutschland
ISSN 2569-880X ISSN 2569-8818 (electronic) pop.religion: lebensstil – kultur – theologie ISBN 978-3-658-30131-6 (eBook) ISBN 978-3-658-30130-9 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Teil I Einführung „Komm und sieh: Religion im Film“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Teil II Grundlagen: Analyse religiöser Themen im Film 1
Gottesbilder im Film. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
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Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film . . . . . . . . . . . . . . . 15
3
„Opfere, was du liebhast!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Opfer im Film
4
„Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“. . . . . . . . . . . . . . 33 Hiob im Film
5
Von Organspenden, Schmetterlingen und Kolibris. . . . . . . . . . . . . . . . 45 Auferstehung als Film-Thema
6
Zur Typologie des Bösen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bösewichte und Verbrecherinnen V
VI
Inhaltsverzeichnis
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Weltuntergänge und andere Apokalypsen im Film. . . . . . . . . . . . . . . . 65
8
Lust am Untergang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Dystopische Entwürfe in Kinofilmen seit den 60er Jahren
9
Mensch, Tier, Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Natürliche und künstliche Intelligenzen
10 Digitalisierung und Ethik im Film. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Teil III Konkretionen – Filmgottesdienste 11 „Alles steht Kopf“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 12 „Arrival“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 13 „Biutiful“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 14 „Captain Fantastic“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 15 „Mad Max Fury Road – Die Suche nach (Er-)Lösung“ . . . . . . . . . . . . 137 16 „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 17 „Die Tribute von Panem – Hunger Games“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 18 „Tschick“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Filmanhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Teil I Einführung
„Komm und sieh: Religion im Film“
Der Film hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine solche Formenvielfalt erfahren, dass der Kinofilm nur noch einen kleinen Bereich dieser Variationen darstellt. Zugleich ist dieser Bereich immer noch massenwirksam und gehören viele Filme zu dem, „was man gesehen haben muss“ – neben all den Serien oder nur über Anbieter wie Netflix zugänglichen Filmen. Der Titel dieses Buches: „Komm und sieh!“ – ist einerseits selbst ein Filmtitel (Elem Klimow, UdSSR 1985) und andererseits die Aufforderung des Jüngers Philippus, als er gefragt wird, wer denn der aus Nazareth sei, von dem es heißt, dass auf ihn alle gewartet hätten (Johannes 1, 46). „Komm und sieh (selbst)!“ Elem Klimows Anti-Kriegs-Film hieß in der DDR „Geh und sieh“. Sowohl die „Komm-“ wie die „Geh-“Struktur soll in diesem Buch und mit ihm der Kinofilm stark gemacht werden: Jeder Kinobesuch ist eine Reise, und sie führt an einen Ort, der bei aller Anonymität ein gemeinschaftliches Erleben ermöglicht, das in manchem strukturell einem Gottesdienstbesuch gleicht.1 Film führt vor Augen, was (anders) nicht gedacht werden kann, macht sinnlich, was nur ‚gewusst‘ ist und lässt den ganzen Körper teilhaben an einem Geschehen, das – so! – noch nie gesehen wurde. Film öffnet Erfahrungsräume und macht – bei aller Distanz (er ist „Fake“) – klar, dass uns die Beschaffenheit der Welt angeht,
1
Ausführlich dazu: Inge Kirsner, Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen, Stuttgart 1996, 32ff
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_1
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„Komm und sieh: Religion im Film“
die uns hier – erzählerisch, dokumentarisch – von Angesicht zu Angesicht gezeigt wird. „Komm und sieh“ – das kann auch eine gefährliche (Ver-)Lockung sein, komm, ich zeig dir was, was du vielleicht gar nicht wissen wolltest oder erfahren solltest; doch wird man hier in einen Raum der Fiktionen gelockt, der die Gefahr für Leib und Leben ‚nur‘ simuliert. (Andererseits: Dumbledore sagt zu Harry Potter, als dieser sich in einem Zwischenreich befindet und fragt: Das geschieht doch alles nur in meinem Kopf? – Und, ist es deshalb weniger real?) Und doch findet eine Bewusstmachung und Bewusstwerdung statt, die nicht nur die Erfahrungsräume, sondern auch die Handlungsspielräume erweitert. Idealerweise kommen wir aus dem Kino anders heraus, als wir hineingegangen sind. Franz Kafka verlangte „Bücher, die auf uns wirken, wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt. (…) Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“(in seinem Brief an Oskar Pollak, 27.01.1904). Doch hat Kafka auch im Kino geweint; es bringt uns mit unseren Gefühlen, unserem Un- und Unterbewussten in Kontakt und ist trotz aller Zumutungen ein geschützter Raum, der sich den großen Fragen widmet, wo unsere Heimat ist und wie unsere Welt in Zukunft aussehen soll, wie der und die ‚Andere‘ die Welt versteht und wie der Mensch aussieht, der wir sind und der wir gewesen sein wollen. Filme beschäftigen sich mit fremdem und eigenem verfehlten oder selbstbestimmten Leben – also jenen Fragen, die auch religiöse sind und mit denen sich der Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard in existenzieller Weise auseinandergesetzt hat. Im ersten Abschnitt seiner „Krankheit zum Tode“ schreibt er: „…nur der Mensch hat sein Leben verscherzt, der, von den Freuden des Lebens oder seinen Sorgen betrogen, so dahinlebte, dass er sich seiner nie ewig entscheidend als Geist, als Selbst bewusst wurde…“ Sein Leben zu „verscherzen“, könnte traditionell-religiös gesprochen heißen: keinen Zugang zu Gott gefunden haben. Doch Kierkegaard gab dieser Wendung eine neue, auch für nicht religiöse Menschen offene Bedeutung: Der Mensch hat die Wahl, was er aus sich machen will, und sein Leben verscherzt hat derjenige, der sich vom Alltag, dessen Sorgen, Freuden und Pflichten so vereinnahmen lässt, dass er vergisst, seinem Leben eine selbst gewählte Richtung zu geben. Ein Kinobesuch (wie die Lektüre eines Buches selbstverständlich oder die Rezeption eines Kunstwerkes etc.) kann in diesem Fall die gleiche Funktion erfüllen, wie sie der katholische Theologe Johann Baptist Metz der Religion zugesprochen hat: Unterbrechung zu sein im Alltag, dem Gleichstrom des nicht selbstbestimmten Lebens.
„Komm und sieh: Religion im Film“
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Wer will ich gewesen sein? Diese Frage in den Alltag zu transponieren, heißt, die Frage nach den „letzten Dingen“ zu einer alltäglichen zu machen und ermahnt uns, dem Leben eine selbst gewählte Richtung zu geben. Religion wird hier als emanzipative Bewegung aufgefasst, die den Menschen eher darin unterstützt, Ambivalenzen auszuhalten, als dualistische, einseitige Welt- und Gottesbilder zu bestätigen. So beginnt das Buch in seinem 1. Kapitel, das die Grundlagen eröffnet, mit einer Auseinandersetzung mit den Gottesbildern im Film und – daran anschließend im 2. Kapitel – den zehn Geboten, wie sie sowohl in alten Bibelfilmen als auch in neueren (nicht explizit religiösen) Filmen wie „The Beach“ Gestalt gewinnen. In ähnlicher Weise geht es auch in den anderen Beiträgen zu den Grundlagen zunächst um die Analyse religiöser Themen im Film, wie sie in aktuellen Filmen aufgenommen wird und für eine nicht religiöse Lesart eine offene Bedeutung gewinnen kann. „Opfere deinen einzigen Sohn, den du liebhast“ – so wird in Genesis 22, 3 Abraham von Gott aufgefordert. „Wie ein Schwein zum Schlachten“ führt auch der Schulleiter Dumbledore seinen Zögling Harry Potter – nicht das einzige Kindesopfer in der neueren Filmgeschichte, die biblische Motive aufnimmt und weiterführt. Von „Arrvial“ bis „Tribute von Panem“ werden im 3. Kapitel unterschiedliche – nicht-religiöse – Formen von Opferungen vorgestellt und mögliche Ausgänge aus dem menschlichen Denken, alles habe seinen Preis, versucht. Das 4. Kapitel nimmt eine weitere biblische Figur – den leidenden Hiob – in den Blick, wie sie die Gebrüder Coen in „A Serious Man“ in Szene gesetzt haben und wie sie der russische Film „Leviathan“ gesellschaftskritisch zeichnet; mit sehr schwarzem Humor wird die Hiobsfigur in Gestalt des Pfarrers Ivan schließlich von seinem zunächst rechtsradikal agierenden Schützling Adam in „Adams Äpfel“ erlöst. Einer weiteren traditionell religiösen Figuration widmet sich das 5. Kapitel mit dem Thema der „Auferstehung“, das deren sehr unterschiedlichen Gestaltungen in europäischen („Biutiful“) und amerikanischen Filmen nachgeht („40 Tage in der Wüste“, „The American“). Eine ausführliche Typologie des Bösen wird im 6. Kapitel entwickelt, wie es sich z.B. in „The Dark Knight“ und seiner Fortsetzung „The Dark Knight Rises“ sowie in Tarantinos „Inglourious Basterds“ zeigt. Von der „Lust am Untergang“ erzählt das 7. Kapitel anhand von Kurzfilmen und Spielfilmen wie „Die Stadt der Blinden“ und „Melancholia“. Mit „Die Tribute von Panem“ wurde der Begriff der Dystopie im Mainstreamkino populär, den es aber in literarischer und filmischer Hinsicht schon viel früher gab. Mit Dystopien und Utopien beschäftigt sich das 8. Kapitel, das deren (Film-)
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„Komm und sieh: Religion im Film“
Geschichte exemplarisch seit den 60er Jahren bis heute verfolgt, von „Fahrenheit 451“ und „1984“ bis „Mad Max – Fury Road“ und „Tribute von Panem“. Mit dem aktuellen Thema der künstlichen Intelligenz setzt sich das 9. Kapitel der Grundlagen auseinander, das davon ausgeht, dass zuerst das Verhältnis des Menschen zu den „natürlichen Intelligenzen“ wie den Tieren geklärt werden muss, ehe es um seine Beziehung zu den Maschinen geht. Ausgehend von den Klassikern „2001-Odyssee im Weltraum“ und der Reihe „Planet der Affen“ geht die Untersuchung auch auf neuere Filme wie „Ex Machina“ und „Blade Runner 2049“ ein. Letzterer ist auch – mit anderen Filmen – Gegenstand des 10. und letzten Kapitels, das sich mit Digitalisierung beschäftigt. Im zweiten großen Teil, den „Konkretionen“, geht es darum, wie die im Film angeschnittenen Themen und Problemfelder in einem Gottesdienst sowie anderen gemeinde- und religionspädagogischen Feldern Gestalt gewinnen können. Es werden Filmausschnitte und theologische Zugänge zu diesen vorgestellt, die optional in Gottesdienst und Unterricht eingesetzt und in größere Zusammenhänge eingebunden werden können. Die liturgischen Elemente sind als Vorschläge gedacht, wie man die im Film eruierten Themen aufgreifen und in gottesdienstlichem und unterrichtlichem Wirken zu biblischen Texten in Beziehung setzen kann. Dabei werden sowohl Animationsfilme (Alles steht Kopf), Literaturverfilmungen (Tschick), Familiendramen (Captain Fantastic, Nokan, Biutiful) als auch Fantasy- und Science-Fiction-Filme (Arrival, Tribute von Panem, Mad Max – Fury Road) vorgestellt und die in der Analyse entfalteten Grundlagen praktisch fruchtbar gemacht.
Teil II Grundlagen: Analyse religiöser Themen im Film
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Gottesbilder im Film
Weihnacht damals als gott im schrei der geburt die gottesbilder zerschlug und zwischen marias schenkeln runzelig rot das kind lag Kurt Marti
Mag man, nach dem Durchgang durch viele Gottesbilder, deren Verwerfungen und immer neuen Konstruktionen, schließlich wieder hier mit seinem Gottesbild ankommen, beim Kind – als Kind stellt man sich Gott sicher nicht als ein solches vor, sondern eher wie den Gott auf Michelangelos berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle (oder einem der zahlreichen anderen Gemälde wie dem Bildnis Gottes auf Giovanni Battista Tiepolos „Die heilige Thekla betet für die Pestkranken“ aus dem Jahr 1758). Diesem ‚sixtinischen Gott‘ gleicht einer seiner früh(filmisch)en menschlichen Ebenbilder – Charlton Heston in „Die zehn Gebote“:
1.1
Die zehn Gebote (Cecil B. DeMille, USA 1956)
Ab der Mitte des Films lernt man Mose (Charlton Heston) als einen schneidigen jungen Mann kennen, der, zunächst Pharaonenthronanwärter, lernen muss, dass er eigentlich der untersten Kaste, den Hebräern, angehört und der diese dann aus der Sklaverei heraus und in die Wüste hinein führt. Dort muss er, als er auf den Sinai steigt, um Gottes Gebote in Empfang zu nehmen, sein Volk eine Weile allein lassen. Dieses treibt natürlich eine Menge Unfug, und als er, mit seinen Steintafeln bewaffnet, den Berg herunterkommt, sehnsüchtig erwartet von Josua, benutzt er diese, um das mittlerweile errichtete goldene Kalb zu zerschmettern. Er gleicht in seinem Zorn, mit wallenden weißen Haaren und Bart, dem ‚sixtinischen‘ Bild des alttestamentlichen Gottes. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_2
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1 Gottesbilder im Film
Ein etwas anderes Bild gibt er in „Bruce Almigthy“ (Tom Shadyac, USA 2003) ab, aber es bleibt doch: ein weiser alter Mann. Morgan Freeman gibt hier einen Gott, der den unzufriedenen Fernsehreporter Bruce Nolan mit seiner Vertretung beauftragt. Dieser muss lernen, dass die Weltherrschaft kein einfaches Geschäft ist und gibt es am Ende gerne wieder ab.
1.2
Johanna von Orleans (Luc Besson, F 1999)
Als alter Mann erscheint Gott auch seiner glühenden Verehrerin Jeanne d’Arc in Luc Bessons Film von 1999 – aber erst am Ende. Davor wächst er mit ihr mit, erscheint ihr in den ersten Visionen als Kind, dann als junger Mann (mit jesuanischen Zügen) und schließlich in Gestalt Dustin Hoffmanns. Wir wachsen gewissermaßen mit dem Kind mit, das wir zunächst als beichtsüchtiges Mädchen kennenlernen, das den heimischen Priester im Dorf Reims leicht überfordert (01.28–0.04.26); dieser versucht, Jeannes starken Glauben als Überkompensation (von was eigentlich?) abzutun, doch scheint dieser keinem Mangel zu entspringen, vielmehr nährt er sich von Visionen, die Jeanne so deutet, dass Gott etwas ganz Besonderes mit ihr vorhat: wie einst Mose ihr Volk von den Fesseln der Sklaverei (die Engländer geben hier die Ägypter) zu befreien. Der Gott, der ihr in wechselnder Gestalt begegnet, wird auf akustischer wie auch visueller Ebene neben dem ‚fascinosum‘ auch als Anlass zu ‚tremendum‘ gezeigt. Wölfe sind seine Begleittiere, aber auch der Tanz mit seiner glühenden Jüngerin ist Teil seiner Selbstoffenbarung (0.37.13–0.42.02). Er vermacht Jeanne ein Schwert – jedenfalls wird dies von Jeanne so gedeutet. Welche anderen Möglichkeiten es gibt, wird ihr in einer letzten Gotteserscheinung zuteil: Dass das Schwert auf wunderbare Weise zu ihr gelangt sein soll, ist ebenso Teil einer selbstgemachten Botschaftskonstruktion wie auch die Gottesvisionen projektive Imaginationen sind (2.07.40–2.11.06). Bei aller offensichtlichen Konstruktion der Wirklichkeit Jeannes (bzw. der Vorstellung des Regisseurs) bleibt am Ende die Frage, kraft welchen Charismas ein Mädchen aufbricht, um die (ihr bekannte) Welt zu retten – und schließlich für diese Vision auch bereit ist, ihr Leben zu lassen. Dieser Gottesglaube wird im Film als etwas absolut Singuläres gezeigt – trotz aller Dekonstruktion bleibt Raum für Offenbarungen und Wunder.
1.3 Dogma (Kevin Smith, USA 1999)
1.3
11
Dogma (Kevin Smith, USA 1999)
Als spielende Weisheit erscheint „die Gottheit“ in Kevin Smith’s Film „Dogma“ (USA 1999). Gott wird zunächst als jemand gezeigt, der manchmal auf der Erde lustwandelt und sich dazu in die Gestalt eines Menschen hinein begibt – leider Gottes fällt dieser, im Körper eines alten Mannes befindlich, sogleich einem dämonischen Anschlag zum Opfer, fällt ins Koma und liegt im Krankenhaus. Bethany, die letzte Nachfahrin, soll ihn von da wieder herausholen, beauftragt von der Stimme Gottes (verkörpert von Alan Rickman). Nur Gott kann zwei rebellische Engel stoppen, die, einst verbannt, wieder in den Himmel wollen und mit ihrem Vorhaben die gesamte Menschheit gefährden. Die Erscheinung Gottes am Ende hat dabei wenig mit dem alten Mann zu tun, der uns eingangs kurz vorgestellt wurde. Er/sie/es ist etwas Besonderes und hat zudem Humor, wie die Stimme Gottes meint (DVD Kap. 17). Gott wird als Frau und als Clownin gezeigt; die von ihr Auserwählte ist ebenfalls eine Frau, die auf ungewöhnliche Weise wieder einen Zugang zum Glauben findet, der allerdings wenig mit seiner traditionellen Form zu tun hat. Zudem empfängt die Auserwählte ohne Zutun eines Mannes ein Kind (ein Mädchen!), das die göttliche Dynastie sichern soll. Anfangs erscheint Gott in der Gestalt eines alten Mannes, der, so können wir dem Gespräch der Engel entnehmen, ganz dem Bild des rachsüchtigen Gottes entspricht, wie er die Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments geprägt hat1. Doch dies ist nur eine Gestalt Gottes, die im Film mit ihrem Bewusstseinsausfall ans Ende gelangt. Es ersteht aus ihm eine junge Frau auf, die (nicht immer gelingende) Handstände macht, die Menschen liebt und auch Gnade mit den rebellischen Engeln walten lässt. Gespielt wird diese Göttin von der Sängerin Alanis Morisette, die ihr eine leichte, spielerische Gestalt verleiht und sich bei aller Leichtigkeit dennoch als machtvolles Wesen erweist. Sie scheint sich jenseits von Gut und Böse zu befinden; und auf alle Fälle macht sie am Ende „alles wieder gut“.
1
„…Leider sind beide (Engel) ein Opfer der biographischen Entwicklung Gottes. Der alttestamentliche Gott verlangte von den Racheengeln noch saubere Arbeit. Seitdem er selber Vater ist, findet er an Massakern keinen Gefallen mehr,“ so schreibt Klaas Huizing in seinem amüsanten Dogma-Kommentar, in: Klaas Huizing, Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie (Ästhetische Theologie, Bd. II), Stuttgart 2002, S.188–198, S.193f.
12
1.4
1 Gottesbilder im Film
„Das brandneue Testament“ (Jaco van Dormael, Belgien 2015)
Wie ein griesgrämiger alter Gott von seiner fröhlichen Frau abgelöst wird, das können wir in „Das brandneue Testament“ verfolgen. Durch den Film geleitet die Tochter Gottes, welche seine Geschichte erzählt und dann ihre eigene, als sie zu den Menschen gegangen ist, um ihnen (mit der Nennung des jeweiligen Todesdatums) eine Gestaltungsfreiheit für die verbleibende Lebenszeit zu eröffnen. Währenddessen versucht der Vater, ihr Treiben zu stoppen, bleibt aber unterwegs hängen; seine Abwesenheit wird von seiner Frau genutzt, um seinen Computer zu rebooten. Als „Göttin“ begrüßt sie der neu gestartete Computer, der sie von früher zu kennen scheint. Sie beginnt, die Gestalt der Welt neu zu designen und kehrt allerhand Muster um. Der Himmel ist nun eher ein geblümter als ein bestirnter, und Männer sind ab jetzt in der Lage, neues Leben zu gebären (und keine Waffen mehr zu brauchen oder „zweite Schöpfungen“ in die Welt setzen zu müssen). Währenddessen ist von Gott nicht mehr die Rede, der inzwischen im Waschmaschinengewerbe arbeitet und Opfer all der Gebote geworden ist, die er selbst einst schuf.
1.5
Gott existiert – Ihr Name ist Petrunya (Teona Strugar Mitevska, Mazedonien 2019)
Der auf der Berlinale 2019 gefeierte Film ist eine Gesellschaftssatire, die von der arbeitslosen Petrunya erzählt, welche in eine Männern vorbehaltene Prozession eingreift. Tatsächlich gibt es in Mazedonien den Brauch, am Dreikönigstag ein angeblich glückbringendes kleines hölzernes Kreuz von der Brücke zu werfen, das dann von einem Schwimmer wieder herausgeholt werden soll. Petrunya springt und erringt das Kreuz, das sie den aufgebrachten und gewalttätig werdenden Männern nicht aushändigen möchte. Im Laufe des schließlich auf einer Polizeistation ausgetragenen Konfliktes gewinnt Petrunya an Stärke und übergibt schließlich das Kreuz freiwillig dem Priester Kosta. Sie braucht es nicht mehr, sie hat ihren persönlichen Sieg gegen die patriarchalen Strukturen errungen. Gott tritt hier nicht mehr ‚persönlich‘ auf, der Statthalter ist das Kreuz, das in ganz unterschiedlicher Weise verzweckt und missbraucht wird, bis es als Element des Empowerments schließlich das wird, was es im christlichen Kontext immer schon war: Zeichen zu sein für eine Umkehrung menschenfeindlicher Strukturen.
Fazit
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Fazit Die bewegten Bilder des Kinos haben den Vorteil, dass sie jedes „feste“ Bild wieder auflösen und so dem 2. Gebot alle Ehre machen, dem zufolge es kein festes, endgültiges Bild von Gott geben soll und darf. Ein erstes Bild hat Gott ja selbst geschaffen – ein Ebenbild namens Mensch (Gen 1, 28). Der Mensch konstruiert Wirklichkeit, Sinn. Er/sie glaubt Gott, d.h. im und durch Glauben wird ein Bild Gottes konstruiert. Wir brauchen solche Bilder in aller Vorläufigkeit, um sie wieder aufzulösen zu gegebener Zeit (wie wir es bei Bessons Jeanne d’Arc gesehen haben). Dabei haben wir gesehen, dass jede Zeit ein anderes Gottesbild hervorbringt – derzeit wird der alte patriarchale Gott abgelöst durch verschiedene weibliche Modelle. Bilder von Gott sind nicht nur vorläufig, sondern auch widersprüchlich – von Anfang an. Auch da, wo sich Gott – nach dem Zeugnis eines Menschen – selbst offenbart, bleibt es rätselhaft (vgl. Ex 3,13f: „Ich werde sein, der ich sein werde“). Gott stellt sich vor – jedoch als Negation aller Vorstellung: „Gott verbirgt sich, und … ist in demselben Sinn offenbar. Wo ich Gott erfahre, ist es nicht mehr Gott – nur eine Weise (des) Erscheinens“ (Lehnert 2017, 57). Christian Lehnert beschreibt die Widersprüche des Glaubens so: „Gott ist in mir, und er ist ganz fremd, wenn er geschieht. Gott ist mir nah, und er höhlt mich aus. Gott umfängt mich in Liebe, und er nimmt mir das Verständnis meiner Lebenslinien… Glaube ist Unglaube. Denn der Glaube bemächtigt sich des Gottes mit untauglichen Mitteln“ (Lehnert, 57). Ein Mittel, Gott zu erfahren, ist das Gebet. Aber auch hier, so fragt Augustinus: „Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich doch, wann ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe? Und welches ist der Ort in mir, wohin er kommen soll, mein Gott?“ Lehnert spricht wie Augustinus von ‚ihm‘, doch ist das bereits ein Bild. Notwendig sind jedoch offene, ambiguitäre Konstrukte von Gott und vom Menschen (Klessmann 2018, 248ff), wie sie auch das Kino in wechselnden Bildern, abhängig von jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen und oft genug mit utopischem Surplus, zeigt. Konstrukte, wie die eben vorgestellten, fallen vielfältig aus, sind zeit-, milieuund ebenso kulturabhängig wie persönlichkeitsspezifisch. Ein einzelnes Konzept kann keine Verbindlichkeit für alle Menschen beanspruchen. In ihrer Vielfältigkeit sind die Vorstellungen vieldeutig und lösen entsprechende Ambivalenzen aus. Gleichzeitig ist die „einzige Möglichkeit, das Bilderverbot zu beachten, viele Bil-
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1 Gottesbilder im Film
der von Gott zuzulassen und keinem zu gestatten, als das Gottesbild Anspruch auf Richtigkeit zu erheben“ (Ebach 2002, 143). Das Kino ist der ideale Ort für solche bewegten Bilder, deren drohende Verfestigungen immer wieder zerschlagen werden müssen, um Raum zu schaffen für das Wechselspiel zwischen Neuem und Vertrautem, zwischen Glauben und Unglauben (Mk 9,24).
Literatur Augustinus, Bekenntnisse/Confessiones, hg. v. Jörg Ulrich, Frankfurt/M. und Leipzig, 2007, 10 Ebach, Jürgen, Vielfalt ohne Beliebigkeit, Bochum 2002,143 Klaas, Huizing, Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie (Ästhetische Theologie, Bd. II), Stuttgart 2002, S.188–198, S.193f. Klessmann, Michael, Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart 2018 Lehnert, Christian, Der Gott in einer Nuss, Berlin 2017, 12, 57 Marti, Kurt, geduld und revolte. die gedichte am rand, Stuttgart, 2.Aufl., 1984, 8
Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
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Liebe, Lüge, Mord und Verrat sind Stoff für das Kino wie auch Thema der zehn Gebote in Exodus 20. Charlton Heston schwang in Cecil B. DeMilles Film als Mose die beiden Gesetzestafeln eindrucksvoll über den Köpfen der pflichtvergessenen Israeliten und zerschmetterte die erste Fassung wutentbrannt, Krzystof Kieslowski widmete jedem Gebot einen eigenen Film, die evangelische Kirche schrieb Filmwettbewerbe aus, um Filmemacherinnen und Regisseure der Gegenwart zur Auseinandersetzung mit den zehn Geboten zu motivieren und für Kinder wurden sie als „Unsere zehn Gebote“ in handliche Formate gepackt (TV-Reihe von 2006). Wir begeben uns auf eine kleine Reise durch die Filmgeschichte(n) inklusive Urlaub am Strand („The Beach“ von Danny Boyle, USA/UK 2000). Die Guardini-Stiftung in Berlin startete 2010 einen Filmwettbewerb. Es handelte sich um den Dekalog-Filmpreis, ausgelobt in den Jahren 2013–2017, ein Projekt anlässlich des Reformationsjubiläums. Der Wettbewerb sollte eine filmspezifische Auseinandersetzung junger Regisseurinnen und Regisseure mit den zehn Geboten anregen mit der Frage, welchen Stellenwert sie in unserer heutigen Gesellschaft haben und wie man sich ihnen filmisch nähern kann. Eine Anekdote: Ich war Hochschulpfarrerin in Ludwigsburg und sandte die Anfrage der Guardini-Stiftung an die dort ansässige Filmakademie Baden-Württemberg. Dort erhielt ich per E-Mail die Antwort: „Ich glaube nicht, dass einer unserer Filme zu dem Thema passt.“ Worauf ich zurückmailte: „Sie meinen: Sie haben nichts zum Thema Mord, Lüge, Ehebruch, Neid, Eifersucht, Verrat? Ich denke, der © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_3
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2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
Bezug zu den 10 Geboten ist, ähnlich wie bei Kieslowskis Dekalog, sehr offen und betrifft die existentiellen Grundsituationen des Menschen.“ Worauf ich die Antwort erhielt: „Ah, ok, zu den Themen „Mord, Lüge, Ehebruch, Neid, Eifersucht, Verrat“ haben wir sicher etwas ;) Ich kann Ihre E-Mail an die Studenten weiterleiten.“
Anhand dieser Begebenheit wird etwas deutlich. Eine Ausschreibung, die sich „Dekalog“ nennt oder „10 Gebote“, wird sogleich assoziiert mit Bibel und Kirche. Dazu produzieren junge Filmemacher eher nichts – jedenfalls nichts Direktes. Wie die Wettbewerbseinreichung „Der Verdacht“ von Felix Hassenfratz (D 2007) zeigt, tritt (im Film) die Institution Kirche höchstens als restriktives Element auf. Von ihr muss man sich absetzen, sie repräsentiert den konservativen Teil der Gesellschaft. Doch geht es zunächst einfach darum, wie sich eine Gruppe von Menschen organisiert, die Regeln braucht, damit ein Zusammenleben möglich wird. Ein Zusammenleben, das immer gefährdet ist. Warum, das erklärt der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila (1913–1994) so: „Da der Mensch im hintersten Winkel seiner Seele ein Tier versteckt hält, müsste sich selbst eine gerechte Gesellschaft gegen die menschliche Verderbtheit schützen“. (Dávila 2006, 313).
Zwar wird den Tieren mit diesen Worten Unrecht angetan, da sie sich meist viel angemessener verhalten als Menschen. Aber Gómez Dávila bezeichnet mit dem Tierischen das Unberechenbare, das Archaische. Und er meint, dass die Barbarei immer knapp unter der Oberfläche jeder Zivilisation lauert. Der Philosoph ist ein erklärter Gegner von Revolutionen und politischen Utopien und bezweifelt, dass sich der Mensch mit dem gesellschaftlichen Fortschritt auch zum Besseren entwickelt. Er verweist auf die unberechenbare Natur des Menschen, seine triebgesteuerte Selbstsucht, die das Ziel untergräbt, ein Paradies auf Erden zu schaffen.
2.1
Die Suche nach dem Paradies: „The Beach“ (Danny Boyle, USA/UK 2000)
Die Hoffnung auf ein Inselparadies treibt den jungen Studenten Richard Fischer (Leonardo DiCaprio) in der Verfilmung des Romans von Alex Garland „The Beach“ an, sich mithilfe einer geheimnisvollen Karte in Thailand auf den Weg zu machen. Der Backpacker macht uns mit den „zehn Geboten der Rucksackreisenden“ bekannt, von denen „dies das erste (ist): Man latscht nicht in einen Hin-
2.1 Die Suche nach dem Paradies: „The Beach“ …
17
du-Tempel und fragt: ‚Wieso betet ihr eine Kuh an?´ Man schaut sich um, nimmt zur Kenntnis, passt sich an, akzeptiert.“1 Zunächst genügt dieses Laissez-Faire, doch die Reise geht weiter. Richard motiviert das französische Paar Étienne und Françoise dazu, ihn zu begleiten. Gemeinsam erreichen sie den für normale Touristen unerreichbaren und versteckten Strand, zentraler Ausgangspunkt des erhofften Inselparadieses. Bald treffen sie dort auf die kleine Gemeinschaft der Zivilisationsflüchtlinge, die Richard und seine Freunde – zunächst zögerlich – aufnehmen werden. Diese Situation wäre ein guter Ausgangspunkt für die Überlegung, welche Regeln oder auch Gebote eine (jede) Gemeinschaft braucht, um ihr Zusammenleben zu gestalten.
Wie würden die wichtigsten Inselgebote heißen?
Vielleicht so: Keine Lügen, kein Mord, kein Neid. Auch Verabredungen über die Aufteilung der Hausarbeit und die Müllentsorgung müssten getroffen werden. Direkte Demokratie und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern wäre wünschenswert und notwendig die Überlegung, wie man mit Gebotsüberschreitungen umgeht. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ – diese alltagssprachliche Übersetzung des Nächstenliebegebotes (Lev 19, 18 und Mk 12, 29ff) wäre eine sinnvolle Grundlage. Schaut man sich vergleichend den biblischen Text in Ex 20 an, wird deutlich, dass in Bezug auf die „Menschengebote“ 4–10 (Dtn 5, 6–21; oder 5–10 in Exodus, je nach Gesichtspunkt und Zählung) eine große Übereinstimmung zu erzielen wäre – jedoch jede transzendente Begründung oder Dimension fehlt. Das rein innerweltliche Inselparadies wird in kürzester Zeit zur Hölle und Richards 1. Reise-Gebot „Anpassen, akzeptieren“ kommt schnell an seine Grenze. Er muss wählen, Entscheidungen treffen, und bald geht es auch um Leben und Tod in der vierzigköpfigen Kommune um die charismatische Leiterin Sal (Tilda Swinton), wie am Ende noch erläutert werden wird. Aus der ägyptischen „Hölle“ entkommen, sind auch die Israeliten in DeMilles „Zehn Geboten“ unterwegs auf der Suche nach einem Paradies, doch der Weg durch die Wüste ist (zu) lang.
1
Alex Garland, Der Strand, 128; weitere Gebote sind: Schlag niemals eine Einladung aus, sei offen für alles, was du nicht kennst, bleibe nie länger als nötig, sei für alles aufgeschlossen und suche die Erfahrung; und wenn sie weh tut, dann ist sie es wahrscheinlich wert.
18
2.2
2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
Du sollst nicht…! Die zehn Gebote (Cecil B. DeMille, USA 1956)
„Die zehn Gebote“ aus dem Jahr 1956 waren ein Remake von Cecil B. DeMilles eigenem Film von 1923. In Technicolor und einem der größten Sets, das bis dahin je für einen Film gebaut wurde, entstand die Lebensgeschichte des von Charlton Heston gespielten Mose, das bis vor etwa 20 Jahren mindestens einmal jährlich über die heimischen Bildschirme flackerte. Der Finger Gottes selbst schrieb die Gebote hier direkt auf die Tafeln, wie bereits der Trailer zum Film zeigte. Ohne Gesetz gibt es keine Freiheit, hält Mose dem Dauer-Nörgler Dathan entgegen, der das Volk lieber zurück nach Ägypten führen will (und natürlich ein pharaonischer Agent ist). Und, sehr eindrucksvoll in Szene gesetzt: Wer nicht nach den Geboten des Herrn leben will, der wird daran sterben (Kap. 3, 20). Zornentbrannt benutzt Mose die von Gott beschriebenen steinernen Tafeln als Wurfgeschosse, um dem Treiben der Israeliten, die seine Abwesenheit zum Feiern und Tanzen um das goldene Kalb nutzten, ein Ende zu setzen. Der Film nutzt seine Länge von 220 Minuten dazu, die Transformation des jungen, attraktiven Mannes zum zornigen, alten Gesetzeshüter, der Michelangelos Gott-Vater in der sixtinischen Kapelle ähnelt, zu zeigen. Ein Mose- und ein Gottesbild, das heute kaum mehr zu vermitteln ist. Doch ist die Geschichte selbst so spannend, dass es seitdem einige Neuverfilmungen gegeben hat, die exemplarisch kurz vorgestellt werden sollen.
2.3
Eine Anleitung zum Leben: Die zehn Gebote (Billy Boyce, USA 2007)
Als „Anleitung zum Leben“ werden in dem Animationsfilm von Billy Boyce die Gebote hier von Gott dem Mose verkündet. Das entspricht dem Sinn nach der Einleitung der Gebote in Exodus 20: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat“ … also in die Freiheit, zu einem Leben, das nicht mehr von Unterdrückung und Tod bestimmt ist. Als Anleitung zu einem guten Leben für alle. Die folgenden Einleitungen „Du sollst nicht…“ könnten als „Du wirst nicht“ gelesen werden, im Sinne von „Du musst nicht mehr…“, du bist ab jetzt frei von Habsucht, Gier, Neid. Ästhetisch ist diese 10-Gebote-Version natürlich etwas fragwürdig, denn es bleibt die Frage, warum es nach dem gelungenen und ideenreichen Animationsfilm „Der Prinz von Ägypten“ (Brenda Chapman, USA 1998) mit Mose als Titelheld nochmals nötig war, die Mosegeschichte in Animationsform vorzuführen.
2.3 Eine Anleitung zum Leben: Die zehn Gebote …
19
Eine Idee davon liefert vielleicht die Kritik zum Film auf der Internetplattform kino.de, die hervorhob, dass es hier um eine der wichtigsten und spannendsten Passagen der Bibel gehe, deren Inhalt immer wieder (neu) vermittelt werden müsse.2 Ein Auszug: „Kaum ein Gesetz existiert länger und hat die Werteordnung der westlichen Zivilisation intensiver beeinflusst als die zehn Gebote. Auch im Kino hat dieser Teil der Bibel immer wieder als großes monumentales Epos Einzug gehalten. Allerdings hatten die Filmemacher dabei immer eine ältere, erwachsene Zielgruppe im Auge. Das soll sich nun mit dieser bereits aus dem Jahre 2007 stammenden Zeichentrickadaption ändern. Die bei uns weitgehend unbekannten Regisseure Bill Boyce und John Stronach halten sich, was ihre Erzählstruktur betrifft, ganz eng an die Heilige Schrift… Dass an der Dramaturgie der Geschichte wenig geändert wurde, hat Sinn, schließlich hat diese Bibel-Passage genügend Schauwerte zu bieten… (Etwas störend ist…, dass die altmodische Sprache beibehalten wurde und kein Versuch unternommen wurde, diese kindgerecht aufzuarbeiten. Dabei konnte man auf der Synchronspur richtig punkten. Ob der unvermeidliche Otto Sander als Erzähler, dessen Sohn Ben Becker als Mose oder Sky Du Mont als salbungsvoll hallende Stimme Gottes, die Sprecher sind vom feinsten, was sich bis in die kleinste Nebenrolle fortsetzt, darunter auch Heinrich Schafmeister als ewig nörgelnder Querulant Dathan und „Traumschiff“-Veteran Sascha Hehn als Aaron.“) So könnte man auch das Projekt Ben Beckers, der „Die Bibel – eine gesprochene Symphonie“ realisiert und den Mose im Film synchronisiert hat, auffassen: Als Missionsprojekt, damit es verkündet werde, auf alle Weise, was in der Bibel steht. „Jesus mag Gottes Sohn sein, aber Ben Becker ist seine Stimme“ – so schrieb damals die Zeitschrift Vanity Fair. Wenn man dieses Pathos auch nicht unbedingt teilt: Eine der Reaktionen auf die Lesung war das Erstaunen darüber, was in der Bibel alles drinsteht! Zu diesem Zweck mag das Immer-Wieder-Erzählen der biblischen Geschichten gerechtfertigt sein, in immer neuen (filmtechnischen) Varianten; ob jedoch damit aufgeschlüsselt werden kann, was das ganze Unternehmen soll, ob und in welcher Weise die hier vorgestellte Religion etwas mit der Lebenswelt der Rezipierenden, speziell der Kinder, zu tun hat und somit gegenwärtigen existenziellen Fragen, bleibt fraglich. Ein gelungener Versuch, die zehn Gebote kindgerecht aufzubereiten, waren „Unsere Zehn Gebote“, eine TV-Serie von 2006, hier besonders der Film zum Thema des 5. Gebotes, „Du sollst nicht töten“. 2
lasso, in: http://www.kino.de/kinofilm/die-zehn-gebote/109319.html, entnommen am 13.4.2010
20
2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
2.4
Unsere zehn Gebote (Regie: Karola Hattop, D 2006)
Die 2006 entstandene Serie bietet anhand von spannend gestalteten, nachvollziehbaren Konfliktsituationen Ansatzpunkte, um mit Kindern über die Botschaft der Zehn Gebote zu sprechen, so die Selbstbeschreibung. Die meisten Folgen eignen sich für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren, einige auch für jüngere bzw. ältere Kinder. In „Du sollst nicht töten“ geht es um den elfjährigen Leon, der von zwei größeren Jungen gemobbt wird. Sie verfolgen ihn, zertrampeln sein geliebtes Modellflugzeug und zwingen ihn, Regenwürmer zu essen. Als die Quälerei für Leon unerträglich wird, sinnt er auf Rache. Er lockt einen der Peiniger in eine Falle. Doch als die Falle tatsächlich ‚zuklappt‘ und der Gegner fast sein Leben oder doch seine Unversehrtheit verliert, entschließt sich Leon in letzter Minute, ihm doch zu helfen. Tatsächlich kann man sich überlegen, ob man mit Kindern im Grundschulalter mit diesen Kurzfilmen arbeiten möchte. Ansonsten liefern gegenwärtige Filmproduktionen genug Stoff, um auch mit Kindern die Frage nach Liebe, Tod und Eifersucht zu behandeln – auch die „Harry-Potter“-Reihe hat einiges dazu zu bieten.
2.5
Ein kurzer Film über die Liebe (Krzysztof Kieslowski, Polen 1988)
Das 6. Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ hat der polnische Regisseur auf die Liebe im allgemeinen ausgeweitet und – wie zum 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ – einen zweiten längeren ‚kurzen Film‘ innerhalb seiner Dekalogreihe gemacht. Exkurs
Ende der 80er Jahre verarbeitet der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski in EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE das Thema der Verletzlichkeit der Gefühle und die unerfüllte Sehnsucht nach menschlicher Nähe. EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE entstand im Rahmen des Dekalog-Zyklus, der die erste Zusammenarbeit Kieslowskis mit dem ehemaligen Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz darstellt. In ihren jeweils einstündigen Fernsehfilmen machen sie die zehn Gebote zum Thema komplexer Untersuchungen über die existenziellen Probleme einer in die Moderne strebenden Gesellschaft. EIN KURZER
2.5 Ein kurzer Film über die Liebe (Krzysztof Kieslowski, Polen 1988)
21
FILM ÜBER DIE LIEBE ist die für das Kino erweiterte Fassung von DEKALOG 6, dem Film zum Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“. Exemplarisch für die ganze Reihe soll ein Ausschnitt des Films zum 6. Gebot stehen, in dem die ältere Magda den jungen Postbeamten Tomek, der sie heimlich seit Jahren mithilfe eines Fernrohrs beobachtet und ihr dies schließlich gestanden hat, das erstemal in ihre Wohnung einlädt. Sie beginnt, mit ihm zu flirten, fordert ihn auf, sie zu berühren, der unerfahrene Tomek kommt viel zu schnell und sie lässt ihn fallen, indem sie sich über ihn lustig macht: Siehst du, das ist sie schon, die ganze Liebe! Was ist hier die eigentliche Sünde, der eigentliche Verrat? Die „Ehebrecherin“ heißt Magda und es klingt dabei der Name Maria Magdalena an, die fälschlicherweise und unbiblisch in der Rezeptions- und Kunstgeschichte oft als Prostituierte bezeichnet wird. Sie kann keine Ehe brechen, da sie nicht verheiratet ist, und der Junge würde sich bei enger Auslegung des Gebotes genauso schuldig machen. Beobachtet wird das Ganze wieder mit dem Fernrohr, von seiner Patentante (englisch: godmother), die dann im Verlauf der weiteren Geschichte zur (göttlichen) Richterin wird. Der eigentliche Verrat ist der Zynismus Magdas, die nicht an die Liebe glaubt und diesen Unglauben nun auf sehr demütigende Weise weitergibt. Der Selbstmordversuch Tomeks ist zugleich ein Neubeginn, der Schock über die Folgen ihrer Konfrontation lässt Magda „zum besseren Menschen“ werden („Ich bin kein guter Mensch“, hatte sie zuvor zu Tomek gesagt). Auch wir selbst werden als Zuschauer ‚vorgeführt‘,3 unsere Schaulust entspricht möglicherweise der Tomeks und rührt in gewisser Weise an das zweite Gebot, in dem es nicht nur heißt, dass man sich von Gott kein Bildnis machen solle, sondern auch von nichts, was im Himmel oder auf Erden ist. (Doch solange sich die Bilder bewegen und keines davon „das letzte“ ist, dürfte die Schaulust im und am Kino nicht als Gebotsüberschreitung gelten; und auch Tomek will ja, dass sein „Bild“ aus dem Rahmen tritt und lebendig wird; er weigert sich, es beim „Bildnis“ zu belassen). Kieslowski siedelt die Auseinandersetzung mit dem Gebot im Alltag an, in der Beziehung dreier Menschen zueinander, die miteinander Nähe und Distanz, Sorge und Vergebung einüben und darüber ein Stück näher zu sich selbst gelangen. Filmästhetisch überragend umgesetzt, sind diese Filme bis heute das Beste, was es zu den zehn Geboten filmisch zu zeigen gibt. Außer, man verabschiedet sich von der 3
Siehe dazu: http://www.film-kultur.de/filme/filmhefte/kurzer_film.pdf, entnommen am 26.11.18.
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2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
engen Zuschreibung und weitet die Auseinandersetzung mit den entsprechenden existentiellen Fragen auf die ganze Welt des Films aus. Womit wir wieder am Anfang unseres Ausfluges wären: Beim Ende unserer Thailandreise mit Leonardo DiCaprio.
2.6
The Beach – das Ende
Die Inselgemeinschaft erweist sich als weitgehend geschlossener Kosmos unter der Herrschaft der Anführerin Sal und ihres Geliebten. Möglichst wenig und wenige sollen die alternative Idylle stören, deshalb werden die Neuankömmlinge nur zögerlich und nur deshalb aufgenommen, weil sie das Wissen um den Ort ansonsten in die Welt tragen könnten. Man lebt vom Verkauf des selbstangebauten Marihuanas, das man mithilfe einer Drogenmafia vertreibt. Nur zu einem der seltenen Einkäufe wird die Insel verlassen, und es wird kein Arzt geholt, als einer aus der Gruppe von einem Hai verletzt wird. Die drei Neuankömmlinge kümmern sich um ihn, der nur geringe Chancen hat, zu überleben. Die Konflikte spitzen sich derart zu, dass Richard, der zwischenzeitlich aus der Gruppe ausgeschlossen wurde, sich entschließt, die Insel zu verlassen. Er will seine beiden Freunde mitnehmen, doch diese zögern, weil sie den Verletzten nicht alleine lassen wollen. (Vorletztes Kapitel von „The Beach“ (8.43 min)) Wir werden in dieser Szene Augenzeugen zweier Gebotsüberschreitungen. Richard tötet den Verletzten, um (sich und) den anderen beiden den Weggang zu erleichtern. Es fällt ihm schwer, auch wenn er lediglich eine Art Sterbehilfe leistet. Inzwischen ist der Anführer der Drogenhändler in das Gemeinschaftshaus eingedrungen, um die Gruppe zum Weggehen aufzufordern. Als Sal sich weigert, verlangt er von ihr, Richard zu erschießen – dann könne sie bleiben. Tatsächlich ist Sal entschlossen, alles zu tun, um ihr Paradies nicht verlassen zu müssen – und würde vor Mord nicht zurückschrecken. Dies wiederum erschreckt die anderen derart, dass sie alleine zurückbleibt. Fast alle der prominentesten Gebote hat Richard während seines Inselaufenthaltes übertreten, er hat getötet, gelogen, gestohlen bzw. dem Freund die Freundin ausgespannt – entsprechend dem offiziellen Werbeslogan zum Film: „Paradise Found – Innocence lost.“ Auch Sal, selbsternannte Anführerin, hat versagt; ihr Vorhaben, die Inselgemeinschaft unter allen Umständen zu retten, hat diese im Gegenteil zerstört; dass sie lieber mordet, als ihre Utopie preiszugeben, hat das Vertrauen in sie derart erschüttert, dass die Gemeinschaft sich auflöst.
Fazit und Ausblick
23
Aus der Perspektive evangelischer Theologen haben Thomas Heller und Michael Wermke die Handlung wie folgt zugespitzt: „Ein sündiger Mensch erhält unerwartet und vollkommen unabhängig von seinen Werken Zugang zum Paradies bzw. Gottesreich, wohlgemerkt zu einem immanenten Gottesreich liberal-theologischer Prägung. Doch der vorauslaufende Akt der Rechtfertigung (forensische Rechtfertigung) hat aus dem Sünder keinen besseren Menschen gemacht (effektive Rechtfertigung, sanctificatio gemäß Mt 7,16–20): Die ,Arbeit am Reich Gottes‘(Albrecht Ritschl) misslingt und unter dem Einfluss äußerer Kräfte (,Welt‘, Versuchung) und innerer Sünden (Hochmut, Egoismus, Triebhaftigkeit) wandelt sich das Paradies zum läuternden Zerrbild der eigentlich schon verlassenen Welt. Am Ende bleibt nur noch Buße und die vage Hoffnung auf ein Weiterbestehen des Paradieses: irgendwo, irgendwann“ (Heller/ Wermke 2009, 137)
Fazit und Ausblick Um Mensch zu werden, musste dieser das Paradies verlassen (das hat Sören Kierkegaard in seinem „Begriff Angst“ ausführlich beschrieben.) Nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte und so Gott (ebenbildlicher) wurde, verhinderte dieser, dass er auch noch vom Baum des Lebens kostete. So hat den Menschen seine Menschwerdung das Leben gekostet – aber erst an dessen Ende. Die Tage davor müssen wir gestalten, zwischen Freiheit und Bindung. Denn sobald sich zu einem Menschen ein zweiter gesellt, muss und wird es Regeln geben, aus- oder ungesprochen. Die Israeliten, eben dem Sklavenhaus Ägypten entkommen, mussten sich neu strukturieren und verfassen, in Abgrenzung zu ihrer Umwelt und in Hinblick auf die Neugestaltung ihrer Freiheit. Die Wüste war ihre Insel. Der Film „The Beach“ zeigt uns mit dem Untergang des Inselparadieses, dass die Utopiegegner recht haben damit, dass man den Menschen vor sich selbst schützen muss und vor autokratischen Herrscher/innen, die zu wissen glauben, was gut ist für ihn (und vor allem für sich selbst). Er zeigt aber auch, dass der Mensch im Herzen das „moralische Gesetz“ trägt, das Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ beschreibt. Auch wenn die Menschen in dem bestirnten Himmel über ihnen keine letzte Instanz mehr vermuten, die ihnen „Anweisungen zum Leben“ mitgeteilt hat, so scheint doch das Gesetz in ihren Herzen lebendig zu sein, wie es Hesekiel und auch Jeremia beschreiben:
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2 Anleitungen zum Leben: Die zehn Gebote im Film
„Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben“ (Jeremia 31,33).
Diese Form der Inkarnation des Gesetzes tritt in den meisten Filmen zutage, die andererseits ihr dramaturgisches Potential aus den Überschreitungen und Brüchen beziehen. Die „Fallhöhe“ der Figur heißt das bei den Drehbuchschreiber/ innen, und natürlich steckt da das Wort „Sündenfall“ mit drin, wie der Film ja davon lebt, dass wir zwar von einem Paradies auf Erden träumen, es aber faktisch nur schwer aushalten könnten und deswegen manchmal ins Kino gehen, um am dramaturgischen Dreischritt, Paradies – Fall – Erlösung, ohne Gefahr für Leib und Leben, probehalber und mit Erkenntnisgewinn, teilzuhaben.
Literatur Dávila, N.G., Scholien zu einem inbegriffenen Text, Wien 2006, 313 Garland, Alex ,The Beach 1996, dt.: Der Strand, München 2005 Heller, Thomas /Wermke, Michael, The Beach. Reise, Glück, Tod und der Einblick in eine nahezu unbeachtete jugendliche Subkultur, in: Inge Kirsner/Michael Wermke (Hg.), Passion Kino, Göttingen 2009, 136–144, 137.
3
„Opfere, was du liebhast!“ Opfer im Film
Schlachte deinen einzigen Sohn, den du liebhast! – Was für ein Befehl! Nach Gen 22, 3 ist Abraham bereit dazu, Gott zu gehorchen. Er muss es schließlich nicht tun – anders als Steven Murphy, der in Lanthimos‘ Film „Killing of a Sacred Deer“ den Sohn opfern muss, damit die restliche Familie überlebt. Snape ist in „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ entsetzt, als er erfährt, dass Dumbledore seinen Ziehsohn Harry „wie ein Schwein zum Schlachten“ führen will – der Kampf gegen das Böse erfordere dies. In „Arrival“ (Denis Villeneuve, USA 2017) geht es um eine Tochter, deren Schicksal schon besiegelt ist, bevor sie das Licht der Welt erblickt – die Filmgeschichte ist voller Kinderopfer, die im folgenden exemplarisch betrachtet werden.
3.1
Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
Eine der berühmtesten Opferungsgeschichten wird im letzten Teil der Harry-Potter-Saga1 erzählt. Dieser geht folgendes voraus: Harry Potter wächst nach dem mysteriösen Tod seiner Eltern bei Onkel und Tante auf, bis ihn die Botschaft erreicht, dass er – als Nicht-Muggel (wie die ge1
„Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ (David Yates, USA/GB 2011) ist der achte und letzte Teil der Verfilmungen der siebenbändigen Harry-Potter-Romanfolge von Joanne K. Rowling, die in den Jahren 1997–2007 erschienen sind.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_4
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3 „Opfere, was du liebhast!“
wöhnlichen Sterblichen heißen) – einen Platz an der Zaubererschule Hogwarts hat. Deren Rektor – Dumbledore – zieht den jungen Harry wie einen eigenen Sohn auf, er soll die Welt (der Muggels wie auch der Zauberer) vor dem bösen Voldemort retten. Nicht alle Lehrer scheinen Harry wohlgesonnen, einer davon, Snape, scheint ihn geradezu zu hassen. Im siebten Band der Harry-Potter-Saga wird deutlich, warum Snape ein solches gespaltenes Verhältnis zu seinem Schüler Harry hat. Mithilfe eines Serums kann Harry in das Gehirn Dumbledores eintauchen (im sog. ‚Denkarium‘), und ihm wird klar, wie seine Eltern zu Tode gekommen sind und wie die Aufgabe aussieht, die ihm zugedacht ist. Er erfährt, dass bei der Ermordung seiner Eltern durch Voldemort ein Stück von dessen Seele in ihn übergegangen ist; bewahrt durch das Schutzschild der mütterlichen Liebe prallte der tödliche Zauberstrahl von ihm ab und traf den Verursacher selbst. Dieser ist nun mit Harry körperlich wie seelisch verbunden; um Voldemort ganz zu töten, muss sich Harry selbst opfern (Kap. 19, 1.19–1.22.30). Selbst Snape, der coolste und bis zu diesem Abschnitt undurchschaubarste des ganzen Hogwart-Personals, ist geschockt. „Du hast ihn wie ein Schwein zum Schlachten bestimmt und dazu aufgezogen, dass er sterben soll?“ Dumbledore, selbst vom Tod gezeichnet, bestätigt diese ungeheure Tatsache. Harry, das Waisenkind, das einen traumhaften Aufstieg erlebt hat: Vom ungeliebten Neffen, der in einer Besenkammer aufwächst, dann dort von einem Boten herausgeholt und an die Schule gebracht wird, wo er als zukünftiger Erlöser gehandelt wird, immer bevorzugt behandelt und geliebt besonders von Dumbledore, der keine eigenen Kinder hat – dieser Harry, geliebt und geschützt und gehegt und gepflegt – erweist sich als ausersehenes Opfer, als höchstes Gut, das dem Bösen in den Schlund geworfen werden soll, damit dieser sich daran verschluckt. Dieser Harry, von Snape gehasst, weil er so bevorzugt wird wie einst sein Vater und dennoch beschützt, weil er auch der Sohn der von Snape geliebten Frau ist, von Dumbledore geliebt, erfährt etwas, das ihn mindestens so schockieren muss wie Abraham nach Genesis 22, 1–19 einst geschockt war, als er von Gott hört: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, Isaak! Und geh zum Land Moria und führe ihn dort hinauf zum Brandopfer.“
Während Abraham von dieser Ansage zumindest überrascht worden sein muss – immerhin hatte Gott ihm zugesagt, dass seine Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel; aber was wird mit den Nachkommen, wenn er seinen einzigen Sohn opfern soll? – so hat Dumbledore diesen Effekt nicht. Von Anfang an weiß er, was ihm und was seinem Ziehsohn Harry bevorsteht. Dabei gibt es keine höhere Instanz, die ihm befehlen oder die ihn aufhalten könnte. Er
3.1 Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
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selbst entscheidet – und das ist genauso unwiderruflich wie sein eigener Tod, dessen Umstände Harry im Denkarium erfährt. Januskopf Snape ist sein Beschützer – bis er ihn im günstigen Moment ausliefern muss, damit das Böse für immer besiegt wird. Abraham erfährt den Grund für die Ansage Gottes nicht. Dieser, würde er den Gedanken zulassen, ist selbst der Böse! Diesen Ansatz hat Sören Kierkegaard in einer seiner Reden durchgespielt.2 Hier entschließt sich Abraham dazu, lieber selbst die Last der Verantwortung und die Schuld vor dem Sohn auf sich zu nehmen: „Es ist doch besser, dass er (Isaak) glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er den Glauben an dich verlöre“, so spricht er zu Gott. Ein Gott, an den er immer noch glaubt – dem er den Sohn geopfert hätte, auch wenn er lieber sich selbst opfern würde. War es das: Wollte Gott prüfen, ob Abraham mehr an dem Sohn seines Alters hängt als an dem, der ihm diesen Sohn tatsächlich geschenkt hat? Als Prüfung wurde in der Traditionsgeschichte dieses Textes das Ganze gerne gesehen, als Prüfung, die Gott als bestanden ansah und es deshalb nicht mehr nötig hatte, auf Vollzug zu pochen. Eine weitere Folgerung wäre: es sei immer das Liebste, was Gott von einem fordere – um die Prioritäten klarzumachen. Opfere Gott das, was dir das Liebste ist! Nur so kannst du zeigen, dass du ihn wirklich liebst. Er übrigens hat nicht gezögert, sich in der Gestalt Jesu Christi selbst zu opfern – keiner sprang da für ihn ein, dieses Opfer wurde vollzogen. In der Exegese wird vom Ersatz des Menschenopfers durch das Tieropfer gesprochen, versinnbildlicht in dieser Geschichte. Doch auch für Harry springt kein phantastisches Tierwesen ein – er muss es selbst vollbringen und im Kampf gegen den Bösen sich selbst zum Opfer bringen, vorausgesagt und vorausgewusst vom Oberhaupt der guten Seite, Dumbeldore. Wie ein Schwein zum Schlachten! entfährt es Snape, und wir denken natürlich eher an das biblische Lamm, das nun wieder durch den Menschen Jesus ersetzt wurde. Dass Harry dies eines Tages erfahren würde, das wusste Dumbledore; schließlich hat er ihn selbst mit den Denkariumsmechanismen vertraut gemacht. Er sollte es dann erfahren, wenn er bereit dazu war – und fähig, das Erfahrene zu ertragen. Die Erlöserfigur Harry Potter, der Christus incognito, wie man solche Gestalten in Literatur und Film nennen könnte, tritt seinen schweren Gang zur Schlachtbank an – zunächst wie im Nebel, in dem ihm die Toten nochmals begegnen, bei denen er bald sein wird und die ihn auf seinem letzten Weg begleiten. Konsequenterweise sollte er sterben – das erscheint einem beim ersten Lesen des Buches zwangsläufig 2
Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Frankfurt/M. 1984, 12
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3 „Opfere, was du liebhast!“
so. Das erscheint bitter, aber folgerichtig – und insofern ein Happy End, als mit diesem Opfer der Kampf gegen das Böse gewonnen wird. Doch soweit kommt es nicht. Harry darf seinen eigenen Tod überleben (K.25, 1.37.30–1.42), anders als sein Widersacher Voldemort. Aber doch war er bereit zu allem; und vielleicht liegt hier der Schlüssel –auch für uns zu dieser finsteren Abrahamsgeschichte. Man könnte Genesis 22 so lesen, dass hier zwei Seiten Gottes dargestellt werden: die dunkle Seite, die Leben fordert, Menschen über die Zukunft im Unklaren lässt, ein Gott, der tatenlos, abwesend, verborgen scheint; und die zugewandte Seite Gottes, der rechtzeitig seine Boten schickt, um Leben zu retten, der eine Zukunft verheißt und sich an seine Versprechen hält. Es ist der eine Gott, der verletzt und der heilt, so haben es Jesaja und Hiob gesehen. Egal, wie er sich ihm zeigt: Abraham hält an diesem Gott fest. Johannes de Silentio, Kierkegaards Pseudonym, wird nie vergessen, so heißt es in „Furcht und Zittern“, dass du (Abraham) hundert Jahre (1. Mose 21,5) brauchtest, um einen Sohn des Alters wider Erwarten zu bekommen, dass du das Messer ziehen musstest, bevor du Isaak behieltest, er wird nie vergessen, dass du in 130 Jahren nicht weiter gekommen bist als bis zum Glauben“ (S.22, ebd.). Abraham war bereit, so wie Harry es war – zum Äußersten bereit, bereit, sich selbst aufs Spiel zu setzen, mit Leib und Leben, in unbedingtem Glauben an das Gute, das sich manchmal in finsterer Gestalt zeigt. Bereit, anzunehmen, was immer kommt – mit wachen Sinnen und Haut und Haar. Was für ein Vertrauen!
3.2 Arrival „Ja!“ Mit dieser Bereitschaft, alles anzunehmen, was kommt, enden Film und Geschichte zu „Arrival“ (Denis Villeneuve, USA 2016). Hier besuchen Aliens die Erde und bringen mit ihrer Sprache den mit ihnen kommunizierenden Menschen die Gabe bei, das lineare Denken zu verlassen und in ein teleologisches einzusteigen, welches das Ziel des Weges kennt und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Einheit zu sehen. Die Linguistin Louise Banks spricht mit diesen Wesen, deren Absichten unklar sind und die als potentielle Gefahr gelten. Nach einem für sie zunächst verwirrenden Alleingang erkennt sie allmählich die Zusammenhänge zwischen den Gedankenfetzen, die uns als Zuschauende wie Rückblenden erscheinen und die Louise als Vorausschau erkennen muss (1.29–1.31.50). Die Tochter, die wir hier kennenlernen, wird sterben, zu früh sterben, und die Mutter, die zukünftige, weiß das schon vor deren Zeugung. Es ist kein Gott, der
3.3 Survival
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hier ein Kindesopfer verlangt, sondern es ist das tragische Schicksal, das sich zwangsläufig erfüllt und zu dem Louise auch hätte „Nein!“ sagen können – oder etwa nicht? Wie die rätselhafte Geschichte in Genesis 22 bietet auch Ted Chiangs Geschichte, die „Arrival“ zugrunde liegt, einen Raum, in dem Menschen ihre eigenen Leidenserfahrungen wiedererkennen können. Mitten in der Schönheit und dem Glück des Lebens, das sich in den Kindern zeigt, wird auch dessen Wandel und Vergänglichkeit offenbar. Wir können nichts und niemanden festhalten – keinen Gott, keinen Glauben und keinen Menschen, und doch setzen wir uns in Beziehung, leiden, kämpfen, lieben, sind glücklich.
3.3 Survival Nicht immer wird das Kind verschont. In einer zentralen Szene in „Survival“ (Matt Reeves, USA 2017), dem letzten der Prequel-Reihe „Planet der Affen“, erzählt der menschliche, lediglich „Colonel“ genannte Kommandant Caesar, dem Anführer der Affen, warum es nötig sein kann, stumme Kinder und sprechende Affen zu töten (Kap.16/17; 1.13.28–1.22.55). Für den Colonel ist es ein Heiliger Krieg, den er führt und ihn dazu gebracht hat, den eigenen Sohn zu töten: dieses allerdings nicht im Namen Gottes, sondern im Namen der Menschen. Er führt seinen Krieg für den Überlebenskampf seiner Spezies, die er, in aristotelischer Tradition, vom Tier unterschieden sieht durch den Gebrauch verbaler Sprache. Wenn der Mensch verstummt, ist das wesentliche Moment seines Menschseins erloschen und er wird zum „primitiven Tier“ (vgl. den Ansatz des „Speziezismus“ und Peter Singers Gegendarstellung). Sobald das Tier sich aus seinem ‚primitiven Status‘ durch den Gebrauch der (menschlichen) Sprache erhebt, da mit der Sprache auch die (abstrakte) Denkfähigkeit gegeben ist, sieht der Colonel den Bestand der Menschheit gefährdet. So ist es besser, den verstummten Teil der Menschheit zu töten, als die Gesamtheit der Menschen dem ansteckenden Virus preiszugeben. Innerhalb dieser tödlichen Logik ist kein Raum für andere Denkmodelle, etwa dem posthumanistischen Ansatz, den in den 1990er Jahren Donna Haraway mit ihrem Cyborg-Manifest vorstellte. Vorstellbar wird eine Welt, die nicht mehr den Menschen an die Spitze stellt, sondern in der der Mensch die Verantwortung übernimmt für das von ihm und vor ihm Geschaffene und sich in Beziehung setzt zu allen fühlenden und denkenden Wesen. Zur Gesamtheit der Vielfalt und Vielfältigkeit der Lebewesen müssen vielleicht auch bald künstliche Wesen gezählt werden, die zumindest in Literatur und Film sprechen, denken und fühlen können, also: menschlich geworden sind.
30
3 „Opfere, was du liebhast!“
3.4
Blade Runner 2049
Gefühle sind Maschinen fremd. So durfte man zumindest annehmen, bis man in „Blade Runner“ von Ridley Scott Maschinenwesen kennen lernte, die sich am Ende gar als die besseren Menschen erwiesen. In der Fortsetzung von Denis Villeneuve („Blade Runner 2049“ aus dem Jahr 2017) sind sie dem Menschen nicht nur in Hinblick auf das Gefühlsleben ähnlich geworden, sondern erweisen sich auch als fortpflanzungsfähig – ein Wunder! So wird es dem Maschinenwesen „K“ von einem älteren Vorgänger berichtet. Eine Zeitlang erscheint es K, der sich bald „Joe“ nennt, so, als ob er selbst dieses Kind sein könnte, das der Verbindung der beiden überlebenden Replikanten aus dem ersten „Blade Runner“ entstammt. Doch auch als er diesen Gedanken fallen lassen muss, lässt ihn doch ein Gedanke nicht los, den ihm eine Roboterfrau einst gesagt hat, als sie ihn für eine tödliche Mission gewinnen wollte: „Aus dem richtigen Grund zu sterben, ist das Menschlichste, was wir tun können.“
Die Tochter mit dem Vater wieder zusammenzuführen – das erscheint Joe als Mission, deren Todesfolge ihn als wahren Menschen erweist. Er stirbt für die anderen und wird zu einem „Christus incognito“.
Fazit Literatur und Filme ermöglichen es uns, immer wieder einen Blick von außen auf unsere Kultur zu werfen, insbesondere auf das Mysterium des christlichen Glaubens, jenes Opfer, das von Abraham verlangt, aber erst mit Jesus Christus vollzogen wurde. Abraham, so sagt Sören Kierkegaard, sei nicht weiter gekommen als bis zum Glauben. Er bleibt ein Vorbild für diesen Glauben in seiner Vorbehaltslosigkeit, seinem Bereit-Sein. Karl Barth schreibt in seinem Römerbrief: „Wir sehen Abraham finden, wo er offenbar nur zu verlieren hat – verbinden, wo offenbar alles zerrissen ist – stehen, wo man offenbar nicht stehen kann. Wir hören ihn Ja sagen, wo offenbar von unten wie von oben nur das Nein übrig bleibt. Und das eben ist sein Glaube: das Glauben »ohne Hoffnung auf Hoffnung«, der Schritt hinaus über des Menschen Eigenheit und Gottes Fremdheit, über die Sichtbarkeit des Sichtbaren und die Unsichtbarkeit des Unsichtbaren, über die subjektive und objektive Möglichkeit – dahin, wo nur Gottes Wort ihn halten kann.“ (RÖ II zu Röm 4)
Fazit
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In Science-Fiction- wie auch in manchen Fantasy-Filmen wird eine mögliche Zukunft oder ein verfremdeter Aspekt der Gegenwart bildreich, effektvoll und hoch dramatisch in Szene gesetzt. Es ist ein Spiel mit dem Möglichen und es bietet die Möglichkeit, Themen meiner Gegenwart und meiner Lebensdeutung zu entdecken. Auf der Grenze zwischen Fiktion und Realität werden Ängste, Sorgen, Hoffnungen und Ideen für einen Moment real. Ich kann die Möglichkeit der Gegenwart, eine mögliche Zukunft sozusagen austesten, mich in sie hineinversetzen. Ist die Geschichte Gottes mit uns Menschen Stoff für ein Science-Fiction- oder ein Fantasy-Drehbuch? Dialektisch gesprochen: Ja, weil die Zukunft, die uns in den hoffnungsvollen Bildern und Geschichten erzählt wird, schon jetzt wirkt, auf mein Leben und meine Gegenwart. Sie wird real, überschreitet zeitliche Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und auch: Nein, weil diese Geschichte nicht eine unter unendlich vielen möglichen ist, die wir uns ausdenken. Sie ist die, die alle anderen zusammenfasst, in sich schließt, die jenseits unserer Kräfte, Ideen und Enttäuschungen wirkt. Aber entfaltet werden kann diese Geschichte wieder auf alle möglichen Arten und Weisen. Deshalb zum Ende noch ein Beispiel nicht aus dem Film, sondern aus der Literatur. Über die christliche Lösung des Weltdramas denkt, im Spiegel eines Einzelschicksals, der französische Autor Michel Houellebecq in seinem neuen Roman „Serotonin“ nach. Der gelernte Diplomagronom beschreibt darin den 46jährigen Angestellten des Landwirtschaftsministeriums, Florent-Claude, der Abschied von seinem Leben nimmt. Er hat unmittelbar die Folgen der Globalisierung für die Landwirtschaftspolitik miterlebt, die Verelendung der Landbevölkerung in Frankreich und musste mit ansehen, wie sich sein einziger Freund Aymeric, leidenschaftlicher Bauer, im Zuge einer Revolte selbst erschießt. Am Ende seines Romans steht: „Gott kümmert sich wirklich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und er gibt manchmal sehr genaue Hinweise. Diese Liebesregungen, die aufquellen in unserer Brust, bis sie uns den Atem nehmen, diese Erleuchtungen, diese Ekstasen, unerklärlich angesichts unserer biologischen Natur, unserer Stellung als einfache Primaten, sind extrem klare Zeichen. Und ich verstehe, heute, den Gesichts-Punkt des Christus, seinen wiederholten Ärger gegenüber der Verhärtung der Herzen: sie haben all die Zeichen, und sie nehmen sie nicht zur Kenntnis. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich an dieser Stelle so deutlich sein? Offenbar Ja.“ (Houellebecq, 2019, 347)
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3 „Opfere, was du liebhast!“
Das Opfer, so steht es im Hebräerbrief (9,12), ist schon gebracht, ein für allemal. Jesu Leib wurde gegeben, Christi Blut ist geflossen, für viele. Harry Potter darf leben und wir sehen, wie sein Leben 12 Jahre später aussieht. Vielleicht wäre die Geschichte konsistenter, die Erzählung konsequenter gewesen, wäre er tatsächlich gestorben. Doch glauben wir an einen Gott, der die Konsequenzen selbst gezogen hat; wir dürfen leben und wir glauben wie Abraham auf Hoffnung. Filme erzählen auf ihre Weise vom Opfer – und ermutigen uns, unsere christliche Geschichte immer wieder neu zu reflektieren, sie neu sehen und kennen zu lernen.
Literatur Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hrsg. von Schwarz, Franz F., Stuttgart: Reclam 1989, 78 Barth, Karl, Der Römerbrief II, zu Römerbrief 4 Chiang, Ted, Geschichte deines Lebens, in: “Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes”, Stories von Ted Chiang, Berlin 2011, 37-94 (vgl. dazu: Inge Kirsner in: https://www.theomag. de/114/ik14.htm) Haraway, Donna, A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s. In: Linda Nicholson (Hrsg.): Feminism, Postmodernism. Routledge, New York, 190–233 Houllebecq, Michel, Serotonine, Paris 2019, S. 347, die zitierte Stelle wurde übersetzt aus dem Frz. von Armin Münch. Kierkegaard, Sören, Furcht und Zittern, Frankfurt/M. 1984, 12
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„Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“ Hiob im Film
„Sonjuschka, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben, und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.“
Diesen tapferen Rat gibt Rosa Luxemburg ihrer Freundin Sonia, der Frau ihres Mitstreiters Karl Liebknecht, in einem Brief von 1917, geschrieben im Gefängnis in Breslau. So muss man das Leben eben nehmen – fast 1000 Jahre früher hat ein französischer Rabbiner Ähnliches geschrieben, was dann die Coen-Brüder als Motto an den Anfang ihres Filmes „A Serious Man“ aus dem Jahr 2009 setzten: „Receive with simplicity everything that happens to you.” (Raschi)1
4.1
A Serious Man (Ethan & Joel Coen, USA 2009)
Übersetzen könnte man dieses Motto mit: „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“ (so die dt. Übersetzung im Film). Oder: Empfange in Bescheidenheit das, was dir passiert. Oder „… das Rätsel einfach akzeptieren“, wie Filmkritiker
1
Raschi ist ein Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (geboren 1040 in Troyes; dort gestorben am 5. August 1105). Er war ein französischer Rabbiner und maßgeblicher Kommentator des Tanach und Talmuds und hat auch christliche Exegeten beeinflusst. Raschis letzte Jahre wurden durch die an den Juden verübten Massaker des Ersten Kreuzzuges getrübt, bei denen er Freunde und Verwandte verlor.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_5
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34
4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
Kai Mihm in epd Film zur möglichen Botschaft von „A Serious Man“ schreibt.2 Zusammengefasst: Shit happens. Solange es nicht einem selbst passiert, mag man dieses Motto ja noch unterschreiben. Doch die Coens haben beschlossen, ihrem Helden oder doch eher: Anti-Helden so viel widerfahren zu lassen, dass seine Gelassenheit zum Teufel geht. Larry Gopnik, Physikprofessor mit Aussicht auf Festanstellung, erhält eines Tages ein unmoralisches Angebot. Er soll die Note eines koreanischen Studierenden soweit anheben, dass dessen Stipendium nicht gestrichen wird. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, findet Larry einen Geldumschlag vor; der Student leugnet jedoch, dass dieser von ihm stamme. Zuhause eröffnet ihm seine Ehefrau, dass sie sich scheiden lassen und mit Sy Ableman zusammenleben will, einem Witwer, der wie sie Teil der jüdischen Gemeinde ist. Da das neue Paar mit den Kindern im Elternhaus wohnen bleiben will, wird Larry mitsamt seinem psychisch labilen Onkel in ein Motel ausquartiert. Zu den bevorstehenden Anwaltskosten kommen noch dubiose Firmenrechnungen, die wohl auf seinen musiknärrischen Sohn zurückgehen, der bald Bar Mitzwa haben soll und nebenbei Haschisch konsumiert. Da wird auch noch die Festanstellung durch das Eintreffen verleumderischer Briefe an die Kommission gefährdet; kurz: Larry braucht Hilfe. Der Film spielt im Jahr 1967 im mittleren Westen, in Minneapolis, und Larry landet nicht etwa auf der Couch eines Psychotherapeuten (wie es auch schon zu dieser Zeit in New York üblich gewesen wäre), sondern bei einem Rabbi, und als der keine Antwort weiß, bei einem zweiten. Von diesem will Larry, der bereits alles irgendwie akzeptiert hat, was ihm geschieht, wissen, warum ihm Gott dies alles widerfahren lässt (filmtechnisch wird Larry ‚von oben‘ gezeigt, er schaut zu der ‚Autorität‘ auf). Jener zweite Rabbi erzählt Larry auf seine Frage hin, wie Gott zu uns spricht, die Geschichte von einem jüdischen Zahnarzt, der eine rätselhafte Botschaft im Zahnabdruck eines „Goj“, eines „Ungläubigen“ findet. „Hilf mir“ steht da in hebräischen Buchstaben auf der unteren Vorderzahnreihe geschrieben. Auf der Suche nach dem Sinn der Botschaft – ruft da Gott, Ha-Schem, etwa selbst um Hilfe? Gibt es noch weitere Botschaften an ihn? – untersucht er sämtliche Abdrücke seiner Patienten genauer und landet schließlich beim selben Rabbi wie Larry – bei ihm. Als Larry nach der Fortsetzung und dem Sinn der Erzählung fragt, erwidert der Rabbi, dass Gott uns keine Antworten schulde, die Verpflichtung liege umgekehrt beim Menschen. (K.3, 53.57–1.00.1)
2
Kai Mihm, in: epd Film Nr. 1/2010, S. 28–31
4.1 A Serious Man (Ethan & Joel Coen, USA 2009)
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Der Rat des Rabbi lautet: Abwarten und Durchhalten. („Vielleicht sind die Probleme, die Sie so quälen, wie Zahnschmerzen. Sie haben sie ein Weilchen, und dann gehen sie wieder weg.“) Dies entspricht im Grunde dem Raschidschen Motto des Films. Man könnte sie auch so verstehen wie die Kundgebung des einen Freundes von Hiob, der befindet, dass dieser kein Recht auf eine Antwort habe. („Denn die Weisheit – des Allmächtigen – ist höher als der Himmel“, sagt z.B. Zofar, Hiob 11, 8). Rabbi Nr. 1 hatte ihm geraten, alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen: Zwar sei Gott – Ha-Schem (ein hebr. Wort für Gott, das an Stelle seines wirklichen Namens benutzt wird) – tatsächlich in der Welt und auch dort zu erkennen, allerdings müsse man dazu seinen Blickwinkel verändern und die Dinge komplett neu sehen lernen; dazu solle man das Vertraute wie mit Augen von Fremden betrachten. Der dritte Rabbi kann ihn nicht empfangen, weil „er gerade denkt“ (dieser Rabbi erscheint wie ein ‚Weiser in der Höhle‘, als einer, der möglicherweise nichts – und alles zugleich denkt). Larry wehrt sich nicht gegen die Widerfahrnisse, er nimmt tatsächlich alles hin, wenn auch zunehmend unter Klagen. Was ihn mindestens so erschüttert wie die Tatsache, dass seine Frau sich von ihm trennt, ist der Grund, warum sie es tun will: Den frisch verwitweten Sy Ableman kann er sich als Lover einfach nicht vorstellen. Zudem gilt er, wie man während der Beerdigungsansprache erfährt, als „zaddik“, als „serious man“. Letzteren könnte man mit „ein ernsthafter bzw. rechtschaffener Mann“ übersetzen3; es ist ein Gerechter, der mehr tut, als die Gebote Gottes zu erfüllen. Larry will auch ein solcher sein, stellt sich der Vorzimmerdame des Rabbi Nr. 3 als einen solchen vor. Das Prädikat seines Nebenbuhlers wirkt jedoch zunehmend zweifelhaft, besonders, als man erfährt, dass Ableman es wahrscheinlich war, der die verleumderischen Briefe an Larrys Berufungskommission geschickt hatte. Als „zaddik“ sah sich auch Hiob, der sich nichts zuschulden hatte kommen lassen und seine Widerfahrnisse als ungerechtfertigte Strafen Gottes interpretiert. Im Buch Hiob wird vom Zerbrechen des Glaubens an einen Tun-Ergehen-Zusammenhang erzählt, und es ist am Ende auch nicht Hiob, den Gott verurteilt, sondern er weist die drei Freunde Hiobs zurecht, die so gut über Gottes Weisheit und Hiobs
3
Fred Melamed, der Sy Ableman spielt, übersetzt in einem Interview (im Featurette der DVD-Standardversion) „a serious man“ mit „eine wichtige Persönlichkeit“, die Larry gerne auch wäre: vielleicht kommt dies im Sinne eines „ernstzunehmenden Mannes“ der Sache am nächsten.
36
4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
Vergehen Bescheid wussten. Gott weist damit den Anspruch der menschlichen Deutungsmacht zurück. Die drei Rabbis im Film entsprechen den drei Freunden Hiobs, wenn auch ihre Antworten (bzw. ihr Schweigen) nicht deckungsgleich sind.4 Das versöhnliche Ende des Hiobbuches, in dem der Gerechte, von Gott mithilfe des Teufels geprüft und für gut befunden, wieder ins Recht gesetzt wird und noch ein langes gutes Leben haben darf, findet sich in der Erzählung über den amerikanischen Hiob Larry nicht wieder. Gerade, als sich die Lage zu beruhigen scheint – der Sohn Larrys bringt seine Bar Mitzwa trotz Bekifftseins tapfer hinter sich, die Frau wendet sich nach dem Tod des Exlovers Sy Ableman ihm wieder zu, die Note des Studenten wird etwas angehoben und das Geld zum Begleichen der Anwaltsrechnung verwendet – kommt der Anruf des Arztes, der Larry über das Ergebnis seiner Röntgenbilder in Kenntnis setzen will – und es naht ein Tornado! Larry wird keine erlösende Ruhe gewährt. Fragt man sich, was die ganze Geschichte soll und ob die Coen-Brüder nicht Sadisten sein müssen, da sie ihrem armen amerikanischen Jedermann soviel Ungeheures antun, ohne ihn zu erlösen, muss man doch feststellen, dass der Film ein Stück der Rätselhaftigkeit des Daseins ziemlich wirklichkeitsgetreu einfängt.5 Er unterläuft die Erwartungen des Hollywoodschemas einer Heldenreise (wie man es schließlich angesichts ihres bisherigen Filmschaffens von den Coens auch erwartet) und stellt mit seiner Verweigerung von Erklärungen und stimmigen Schlüssen das Publikum und dann auch die Filmkritiker vor eine – wenn auch nicht hiobsgleiche – Probe. Exkurs: Kritiken zu „A Serious Man“
Tobias Kniebe sieht das Regisseur-Paar als Gott ihrer Filmfigur, dem es gefällt, dem Publikum keine Rechenschaft schuldig zu sein. Zudem seien die nichts4
5
So wären die 3 Antworten der 3 Freunde Hiobs zusammenzufassen: Elifas: Jedes Geschöpf ist dem Schöpfer unterlegen; Bildad: Gott vergilt den Bösen gerecht (TunErgehen-Zusammenhang); Zofar: Niemand kann Recht haben vor Gott. (Elihu, der Jüngste, der nicht zu den Feunden zählt, wird nicht verurteilt; er spricht auch nicht auf dem Hintergrund der Erfahrung und der Tradition wie seine Vorgänger, sondern auf der Ebene der Inspiration; er sagt, das Leiden sei nicht als Strafe für den Gerechten zu betrachten, sondern es diene zu seiner Erziehung). Fred Melamed, „Sy“, äußert im Featurette-Interview, s.o. Anm.4, im Sinne des Raschi-Mottos: „Wenn man im Leben einen Sinn finden will, findet man auch einen. Aber es gibt keinen Sinn, der uns am Ende allen klar wird. Es passieren gute und schlimme Dinge, viele bleiben unerklärt.“
4.2 Leviathan (Andrei Swjaginzew, Russland 2014)
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nutzigen Rabbiner im Film „ungefähr so hilfreich wie Filmkritiker…“6 (von denen aber i.a. eher Sinn- als Seelsorge erwartet wird). Spiegel-Kritiker Andreas Borcholte sieht in „A Serious Man“ den erwachsensten und abgründigsten aller Filme der Coens, die sich ihrer Figur gegenüber mitleidloser verhielten als der zornige alttestamentliche Gott: „So ist es am Ende vielleicht das passive Verharren und seine letztlich nicht von ausgeprägter Eigenverantwortung zeugende Suche nach spiritueller Erlösung, wofür der doch eigentlich so rationale Physiker Gopnik von seinen Schöpfern abgestraft wird: Was dir im Leben am wenigsten hilft, so seine Lektion, ist Gott.“7 Larry unterscheide sich von der biblischen Figur Hiob, schreibt Zeit-Rezensent Thomas Assheuer: „Der Hiob des Alten Testaments ringt noch mit seinem Gott und verlangt Gerechtigkeit; Larry resigniert, noch ehe er aufbegehrt. Er ist eben ein moderner Hiob, und er weiß: Die Welt ist das, was der Fall ist. Für Gerechtigkeit ist darin kein Platz.“ Die Regisseure verklärten das Leiden der Figur nicht, und es gehe auch weniger um Glaubenssätze als um die reale Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihr Motto sei das Hinschauen: „Das Neu-Sehen der Welt, so könnte die Pointe der Coens lauten, ist das Wesen des Kinos, das sich damit selbst zum Medium der Rettung erklärt“ – und zwar mithilfe einer „gütigen Komik“, welche die Regisseure als Kampftechnik gegen die „allgegenwärtige, ironische Kultur, die alles Ernsthafte auflöst“8 einsetzen. Eine solche Komik, die um einiges schwärzer ist, wird auch in „Adams Äpfel“ eingesetzt werden. Zunächst aber wird der Film „Leviathan“ betrachtet, der sich mit der russischen Lebenswirklichkeit auseinandersetzt, in der Kirche, Wirtschaft und Staat eine unheilvolle Allianz eingegangen sind und schreiende Ungerechtigkeit bei keiner Instanz eingeklagt werden kann.
4.2 Leviathan (Andrei Swjaginzew, Russland 2014) Eine einfache Geschichte: Ein Böser will vom Guten dessen Haus. Ein Mächtiger, korrupt, brutal, rücksichtslos, will von dem einfachen Mann dessen Hab und Gut. Und er wird es bekommen, weil der Regisseur nicht den Schimmer eines Zweifels 6 7 8
Tobias Kniebe, Was will Gott von diesem Mann? in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2010 Andreas Borcholte: Himmel, wo bist du? In: Der Spiegel, 19.1.2010 Thomas Assheuer: Komik ist eine Kampftechnik. In: Die Zeit, 15.1.2010
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4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
daran aufkommen lässt, dass die Welt, in der sich der Niedergang des kleinen Mannes mit unabänderlicher Logik vollziehen wird, so ist, so böse, so abgründig. Dies erinnert zumindest zu Beginn an die Geschichte, die der Prophet Nathan dem König David erzählt (2. Samuel 12, 1–12): Ein reicher Mann mit vielen Schafen und Rindern nimmt dem Armen sein einziges geliebtes Schaf – und zieht man diese Beispielgeschichte mit der neutestamentlichen Erzählung vom reichen Mann und dem armen Lazarus zusammen (Lk 16, 19–31), so wird dem Armen am Ende doch Gerechtigkeit zuteil. Für den armen Nikolai gibt es nach dem Verlust seines Hauses und seiner Frau keinen Trost. Er hat mit dem Trinken angefangen; er kann sich nicht mehr um seinen Sohn kümmern, das Haus wird ihm genommen werden. Er stellt den Priester des Ortes zur Rede und fragt ihn danach, wo Gott sei; dieser erzählt im daraufhin die Geschichte von Hiob und rät Nikolai, wie dieser durchzuhalten. Doch Nikolai kann mit der Geschichte nichts anfangen. Biblische Geschichten hält er für Märchen ( K.10, 1.47–1.49). Der Radikalität der Erzählung werden großartige Bilder der Landschaft an der Barentsee, wo das Familienerbe Nikolais steht, gegenübergestellt; genau die Schönheit der Lage ist es aber, die die Aufmerksamkeit des Bürgermeisters auf sich zieht. Auch er holt sich, wie Nikolai, Rat von einem Priester. Dieser, der Bischof des armen Dorfpriesters, an den sich Nikolai gewandt hat, gibt dem Begehrlichen „bessere“ Tipps und zu allem Überfluss Gottes Segen bei all seinem Tun auf den Weg. Am Ende wird der Arme auch noch seiner Freiheit beraubt – des Mordes an seiner Frau für schuldig befunden, landet er nach dem Abbruch seines Hauses im Gefängnis. „Nun weiß er, mit wem er sich besser nicht anlegen sollte“, resümiert am Ende der zufriedengestellte Bürgermeister, bevor er am nächsten Tag den Gottesdienst besucht (K.12, 2.05.22–2.08.00). Zwei Momente gibt es während der unsäglichen Predigt des korrupten Priesters, die das Geschehen mit einem Spurenelement der Hoffnung versehen. Da ist der Blick des kleinen Sohnes des Bürgermeisters, der nach oben in die Rundkuppel wandert, in die Licht einfällt, so, als suche der Kleine einen Ausweg aus der Litanei des immer Gleichen. Später beugt sich sein Vater zu ihm hinunter und sagt, der Priester „spricht von dem Gott, der alles sieht“. Es bleibt die Hoffnung, dass Gott mit dem priesterlichen Absegnen der korrupten Zustände nicht einverstanden ist; die Ikone mit dem Christusantlitz, auf welchem die Kamera schließlich ruht, gibt zu bedenken, dass die wahre Kreuzesschändung die gotteslästerliche Predigt des satten Priesters ist. Diese zwei zarten Augenblicke jedoch müssen ungeheuren Momenten standhalten, die unbarmherzig zeigen, wie das Kleine zwischen schwergewichtigen
4.3 Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006)
39
Mächten und Gewalten zerquetscht wird. Die traumgleichen Bilder des blauen Holzhauses, das am Rand des Meeres zu schweben scheint, sind zugleich in eine Atmosphäre der Bedrohung getaucht, denn die erste Handlung, die wir, noch nebelhaft, mitverfolgen, ist die Fahrt Nikolais an den Bahnhof, wo er seinen Freund und Anwalt abholt, der ihm beistehen soll gegen die Verbindung zwischen Wirtschaft, Kirche und Staat, die ihm das Eigentum rauben will. Noch glaubt der Freund an das Recht, doch bald schon wird ihm eingebläut, dass das Recht dem gehört, der es bezahlen kann. Er, der „schöne Anwalt aus Moskau“, wie er im Dorf genannt wird, trägt zur Entfremdung zwischen den Eheleuten bei, die es schon schwer genug haben mit dem halbwüchsigen Sohn, der die Stiefmutter nicht akzeptiert. Den Ehebruch verzeiht Nikolai seiner Frau, doch der Sohn vergibt nicht und trägt dazu bei, dass sie freiwillig in den Tod geht. Schlimmer noch als Hiob ergeht es Nikolai. Er verliert nicht nur die Frau und den Besitz, sondern zum Verlust der Freiheit und damit auch des Sohnes kommt noch die Abkehr seiner einzigen Freunde, die ihn verdächtigen, seine Frau umgebracht zu haben. Zur Ohnmacht der Schwachen gesellt sich ein Bild, das, möglicherweise, auf die Ohnmacht Gottes verweist. Als der Sohn es eines Tages zuhause nicht mehr aushält und an ein abgelegenes Stück Strand geht, steht er vor einem riesigen Skelett, das wohl zu einem Wal gehört hat und nun an den Leviathan erinnert, der sich (nach Hiob 40,25) von keinem Menschen fangen lässt und der nur der Gewalt Gottes untersteht. Hier aber, im Film „Leviathan“, liegt dieses Riesentier verendet und gestrandet da und zeugt von der Gottverlassenheit jener, die ihn im Mund, aber nicht im Herzen tragen und von jenen, die den Menschen rettungslos ausgeliefert sind. So wird das skelettierte Tier zu einem Kreuzigungsbild, dem keine Auferstehung folgt. Anders in „Adams Äpfel“, jenem österlichen Film aus Dänemark, der mit kuchenessendem Auferstandenen endet.
4.3
Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006)
Der Titel dieser dänischen Satire setzt biblische Assoziationen frei. Adam, der erste Mensch, von der Erde genommen, eingehaucht bekommen den Atem Gottes; genossen die Äpfel, Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse, danach der Erde überlassen, sie zu bearbeiten.
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4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
Ein Mann namens Adam wird Ivan anvertraut, dem Pfarrer einer kleinen dänischen Gemeinde, die sich zusammensetzt aus Menschen, die er resozialisieren soll. Dass es keine schlechten Menschen gibt, das hat er sich in den Kopf gesetzt und lässt sich durch keine Tatsache der Welt davon abbringen. Seine unerschütterlichen Überzeugungen reizen den Neuankömmling Adam zum Widerspruch. Er ist die lebende Antithese zu Ivans Thesen, und der Film macht von Beginn an unverzüglich klar, dass er Lust an Zerstörung empfindet. Sein nächstes Objekt ist also Ivan. Aber da hat noch etwas anderes oder jemand anders seine Hand im Spiel. Dieses Etwas oder dieser jemand schafft es, die Bibel, die Ivan Adam hingelegt hat, beim Hinunterfallen immer bei Hiob aufzuschlagen. Irgendwann beginnt Adam zu lesen im Buch Hiob. Und er liest: Gott gibt Hiob, den Guten, Gerechten, in die Hand des Teufels. Der Teufel erscheint hier weniger als Widersacher denn als Handlanger Gottes. Er gehört zu dessen Hofstaat, geht bei ihm ein und aus. Er reizt Gott, bis dieser ihm den Hiob zur Prüfung überlässt. Zunächst erscheint Ivan als Hiobsfigur, und Adam als der teuflische Versucher. Adam will Ivans Konstruktion der Wirklichkeit, die das Böse einfach nicht sieht und kennen will, zerstören. Er erzählt Ivan, dass er das Buch Hiob gelesen hat und daraus schließen muss, dass es nicht der Teufel ist, der Ivan quält, sondern Gott. Daraufhin bricht Ivan zusammen, Blut fließt aus seinem Ohr. Adam bringt ihn ins Krankenhaus (K. 8, 55.22–58.40). Damit wird der turning point der Geschichte eingeleitet. Ein zweiter erzählerischer Strang ist der Arbeitsauftrag, den sich Adam gegeben hat, zunächst aus einer Art Unmut oder Übermut heraus. Einen Apfelkuchen zu backen, hat er sich vorgenommen, und der Lauf der Welt scheint sich verschworen zu haben, es dazu nicht kommen zu lassen. Wie die Plagen über Ägypten einbrechen, ist der Apfelbaum geradezu übernatürlichen Zerstörungsorgien ausgesetzt, Würmer, Vögel, Blitze, und nicht nur das: Auch der Backofen erleidet einen Kurzschluss nach dem anderen. Seltsamerweise führen alle diese zerstörerischen Ereignisse auf etwas zu, was anfangs nicht vorauszusehen und schließlich kaum mehr erwartbar war. Und dieses Ende, kann nur deshalb eintreten, weil Ivan, und vielleicht auch Adam, erkennen, was im Buch Hiob steht: Gott ist einer, der verletzt und verbindet, der zuschlägt und heilt (Hiob 5, 18). Einer der Freunde Hiobs äußert dies und bringt damit folgendes zum Ausdruck: Das Böse kann nicht isoliert vom Guten betrachtet werden, sondern beides lebt in irdischer Verzahnung in- und voneinander. Was uns in „Adams Äpfel“ als schwarzes Märchen erzählt wird, mit irren Wendungen und zynischem Humor, ist Ausdruck einer Lebenserfahrung, die erkannt hat, dass jede Abspaltung das Abgespaltene umso stärker macht. (Oder, um nach Hiob 2,10 mit Hiob zu spre-
4.3 Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006)
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chen: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“) Fühlt sich Ivan zunächst vom Teufel geprüft und versucht, will Adam ihn nach der Lektüre des Hiobbuches davon überzeugen, dass Gott selbst es ist, der ihn verfolgt. Es gelingt ihm, und schließlich wird Ivan resignieren und zu seinem spastisch gelähmten Sohn sagen: „Gott hasst uns!“ Mit dieser Einsicht scheint ihm aber zugleich alle Lebenskraft genommen. Er gibt auf, mit dem Glauben an einen gütigen Gott auch den an die Menschen. Seine Schützlinge wissen nicht mehr weiter, und Adam muss schließlich die Verantwortung übernehmen und handeln. Was als böses Spiel begann, wendet sich zum Guten. Ein Gutes allerdings, was nichts mehr mit der Wirklichkeitsverstellung des Pfarrers zu tun hat. Sondern zeigt, dass die Veränderung von Strukturen immer neue Seiten an einem Menschen hervorbringen kann. So wird Hiob Ivan, der Geprüfte, zu einer Josephsfigur. Die Menschen gedachten es böse mit ihm zu machen, doch Gott gedachte es gut zu machen. Oder säkular gesprochen: Das Böse schlägt ihm zum Guten aus. So wird diese böse dänische Komödie, der man alles Mögliche vorgeworfen hat, von der Verunglimpfung körperlich beeinträchtigter Kinder bis zur Bibel, zu einem zutiefst humanistischen Film, im Sinne einer Menschlichkeit, die einen mit sich selbst bekannt macht und einen über sich selbst erschrecken lässt, wenn man lachen muss über Dinge, die man eigentlich verurteilen müsste. Es ist ein befreiendes Lachen, entspringend der Selbsterkenntnis und der Einsicht, dass es schließlich nur ein Film ist. Ein Film allerdings, der mit dem Metaphysischen rechnet, wie man es so noch nie gesehen hat. Er zeugt von dem Bedürfnis, sich mit dem Bösen in der Welt auseinanderzusetzen, ohne darüber zu verzweifeln, wie Hiob dies in seinen Reden tut, die auch Gott im Gegensatz zu den Theodizee-Reden seiner Freunde gut heißt. Dabei wirkt manches Bild stärker als viele der absurden Handlungsstränge: Da versucht Adam zu Beginn, ein Bild von Hitler anstelle des Kreuzes aufzuhängen. Doch immer wieder fällt das Bild herunter. Ivan, der Adam immer die andere Wange hinhält, wird zum Fleisch gewordenen Bild Christi. Und dann erscheint nicht mehr Gott als der, der verletzt und heilt, sondern als der, der dies alles selbst erleidet. Albert Camus schreibt: „Christus kam, um zwei Hauptprobleme zu lösen: das Böse und den Tod, (die beide gerade die Probleme der Revolte sind). Seine Lösung bestand zuerst darin, sie auf sich zu nehmen. Der Gottmensch leidet auch, und mit Geduld. Das Böse wie der Tod
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4 „Nimm in Einfachheit alles hin, was dir widerfährt“
können ihm nicht völlig zugeschrieben werden, da auch er zerrissen ist und stirbt.“ (Camus 1969, 29)
Dass der Tod aber nicht das letzte Wort hat; und dass am Ende doch, aller Wirrnisse zum Trotz, ein Apfelkuchen aus den Früchten der Erkenntnis von Gut und Böse entstehen und Abendmahl gefeiert werden kann (K. 12, 1.22.20–1.24.389): davon erzählt dieser Film. Dinge passieren bzw. „Shit happens“, könnte man am Ende (wie Raschi) sagen, manchmal aber ist so Wunderbares dazwischen, dass man manchmal (wie Jules in „Pulp Fiction“) daran glauben möchte, dass Gott seine Hand im Spiel hat (und den Verlauf einer Kugel steuert). Am Ende aller drei exemplarischen Film-Welt-Betrachtungen (jüdisch; orthodox; protestantisch) lässt sich punktuell – lediglich in Bezug auf den jeweiligen Film! – festhalten: Juden wollen eine Antwort von Gott (der sie auf seine Weise gibt – oder auch nicht; der Mensch leidet); Russisch-Orthodoxe bzw. Post-Sozialistische erwarten kein Eingreifen Gottes (und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Lauf der Dinge zu verändern; die Möglichkeiten sind jedoch sehr unterschiedlich; Gott leidet); den Protestanten gelingt es manchmal, ihre Gottesvorstellung dem Lebensverlauf anzupassen (oder: Menschen leiden so lange aneinander, bis sie Gott eine Chance geben und für einen Augenblick erfreut sich der Mensch am Menschen und an Gott und Gott an ihm).
Fazit In Filmen wird die Theodizee- zur Anthropodizee-Frage: Was tut der Mensch dem Menschen an? Wie kann der Mensch zulassen, was der Mensch seiner eigenen Spezies antut? Wie das Hiobbuch selbst fungieren auch die Filme als Gleichnisse, innerhalb derer man sich wechselweise mit den Figuren identifizieren oder sich von ihnen abgrenzen kann. Das Leiden ist vorprogrammiert: so ziemlich alle Filmerzählungen führen den Helden, die Heldin in eine Krise. Das Leiden will durchlitten, durchlebt werden. Um Einübung, Durchdringung und Überwindung des Leidens geht es 9
Das ist die vorletzte Szene des Films: Adam hat einen kleinen Apfelkuchen mit dem einzig übrig gebliebenen Apfel gebacken. Er möchte ihn Ivan ins Krankenhaus bringen, doch dessen Bett ist leer. Er fragt den Arzt, wo er sei, doch dieser packt gerade seine Sachen und sagt, er müsse dorthin gehen, wo die Menschen sterben, wenn sie eine Kugel in den Kopf kriegen und nicht statt dessen im Garten säßen. Adam findet Ivan dort und gemeinsam essen sie den Kuchen.
Literatur
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in allen drei vorgestellten Filmen. Die Antworten sind unterschiedlich, und es gibt sie auch immer nur in vorläufiger, ‚menschlicher‘ Form. Wie bei Hiob wird Gott zur Rechenschaft gezogen, doch wenn überhaupt, so wird eine Antwort gegeben, die nicht unbedingt auf die Frage eingeht.10 Und im Fall von „Leviathan“ bleibt eine solche ganz offen – was bleibt, ist die Erzählung selbst, das Geschehen bleibt nicht zeugenlos. Und es bleibt mit den Psalmbetern zu hoffen, dass sich „die Gottlosen“ selbst um ein sinnvolles, erfülltes Leben bringen, der Weltenlauf nicht allein in deren Hand liegt.
Literatur Assheuer, Thomas, Komik ist eine Kampftechnik. In: Die Zeit, 15.1.2010 Borcholte, Andreas, Himmel, wo bist du? In: Der Spiegel, 19.1.2010 Camus, Albert, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, 29 Kniebe, Tobias, Was will Gott von diesem Mann? in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2010
10 Vgl. dazu den Song „God shuffled his feet“ der Gruppe Crash Test Dummies.
Von Organspenden, Schmetterlingen und Kolibris
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Auferstehung als Film-Thema
Als Beispiele für die Spannbreite des Themas „Auferstehung im Film“ werden im Folgenden drei Jesusfilme und zwei Filme aus dem Arthaus-Segment vorgestellt, die sich nicht als religiöse verstehen, an denen man aber Tendenzen einer Vorstellung dessen, was nach dem (oder mit dem) Tod kommt, beispielhaft zeigen kann. Der Vorteil filmischer Darstellung ist zugleich seine Begrenzung. Film muss ‚zeigen‘, was er erzählen will, es muss Bild werden, was gedacht, gesagt wird. In Bezug auf die Auferstehung in Jesusfilmen heißt das: (Wie) wird der Auferstandene dargestellt, sofern das Nachösterliche Thema ist? Die ‚materiellste‘ Auferstehung wird in Denys Arcands „Jesus von Montreal“ (Kanada 1989) gezeigt. Der Jesusdarsteller eines Passionsspiels in Montreal, der zunehmend mit seiner Rolle verwächst, taucht am Ende des Spiels nicht mehr auf. Die anderen Schauspieler warten am Ende des Stückes auf sein Erscheinen, doch zeigt er sich nicht mehr. Die anderen verbeugen sich für ihn, machen weiter,…. Sie sind jetzt ‚die Kirche‘, als seine Jüngerinnen und Jünger erzählen sie weiter vom Reich Gottes und führen sein Werk fort. Dies wiederholt sich in gewisser Weise dann am Ende des Films, als der Schauspieler, Daniel Coulombe, im Verlauf einer gewalttätigen Auseinandersetzung am Ende des Spiels getroffen vom Kreuz, tatsächlich stirbt. Seine Mitspielerinnen und Mitspieler entscheiden sich zur Freigabe seines Körpers – wie es in seinem Sinne gewesen wäre, so mutmaßen sie – und seine Organe, das Herz, die Augen, leben in den Menschen weiter, die sie transplantiert bekommen haben. So schenkt ihnen der Jesus Gewordene ein neues © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_6
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Leben; auch seinen Kolleginnen und Kollegen hat er ein neues Leben geschenkt, sie werden sein Wirken weiterführen (am konsequentesten die „Magdalena“ des Stückes, die anderen hingegen werden sogleich von der Kulturindustrie, im Film verkörpert von einer teuflischen Figur, vereinnahmt). Es ist der Geist, der weiterwirkt, die Botschaft wird auch ohne den Auferstandenen weiterhin Wirklichkeit in der Welt. Dies entspricht dem Seelsorgeansatz Roland Kachlers in seiner Fortschreibung der Trauerarbeit, der zufolge der/die Tote Beherbergung ‚in uns‘ findet (Kachler 2005). Das Sein des geliebten Menschen findet in uns ein Zuhause, die Liebe geht weiter, über den Tod hinaus und findet Ausdruck in dem ‚neuen Leben‘, das seine Identität durch diese Form von „Inkarnation“ rettet. Ganz profan könnte man das so formulieren: Der Gestorbene/die Identität des geliebten Toten bleibt bestehen, solange die Menschen am Leben sind, die ihn in sich beherbergen. Mit ihnen stirbt auch die Erinnerung. Die Auferstehung bleibt eine immanente (nicht notwendigerweise, aber möglicherweise). Eine (wenn auch fragwürdige) Form von Transzendenz wird uns in „Passion Christi“ von Mel Gibson (USA 2004) präsentiert. Nach unvorstellbaren Qualen stirbt der geschundene Jesus, doch ein letztes Bild zeigt uns einen auferstandenen Christus, durch dessen Loch im Handrücken, der in Großaufnahme gezeigt wird, die Ostersonne scheint. (Deutlich wird: Kitsch und Gewalt liegen manchmal ganz nah beieinander). Doch es gibt einen Weg zwischen Immanenz und Transzendenz, und dieser wird beschritten von den Filmen, die sich nicht unbedingt als religiöse verstehen. Beispielhaft steht dafür „The American“ (Anton Corbijn, USA 2010). Ein Blick auf die letzte Filmszene: Im rechten Bildausschnitt ist ein Baum zu sehen; er steht am Ufer eines Flusses. Und am Stamm entlang, wenn man genau hinsieht, flattert etwas in die Höhe, über die Krone hinaus – ein weißer Schmetterling, winzig, nur zu erkennen, weil er das Einzige ist, was sich im Bild bewegt. Ein Filmbild, das einigermaßen unspektakulär wäre, hätte man nicht in der Einstellung davor einen Mann tödlich verwundet über dem Lenkrad seines Autos zusammenbrechen sehen. Ein Film ohne Hoffnung, ein Tod (und somit auch ein Leben) ohne Erlösung, gäbe es da nicht dieses minimalistische Auferstehungsbild. Der Schmetterling als Bild der Seele, als christliches Symbol für die Auferstehung ist ein gängiges Zeichen. Es ist zu finden im Schmetterlingsbuch in den Händen und als Tattoo zwischen den Schulterblättern des „American“, der, verkörpert von George Clooney, in Anton Corbijns Film Zweifel an seiner Tätigkeit bekommt. Der harte Panzer des Auftragskillers bekommt Risse. Wir schauen der „Entpuppung“ des Mannes zu, der von der Frau, in die er sich verliebt, „Signore Farfalla“ genannt wird, Schmetterlingsmann. Die andere Frau, die er zu Beginn
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des Films (aus beruflichen Gründen) getötet hat, ersteht in seinen Träumen wieder auf; dass seine Coolness zunehmend aufbricht, beunruhigt den Auftraggeber. Die Waffe, die der Amerikaner baut (eine so handwerklich wie künstlerisch anmutende und ausführlich gezeigte Tätigkeit, die etwas Meditatives hat), soll die letzte sein, die er in die Hand nimmt. Mit Meditation wird normalerweise etwas anderes als der Waffenbau in Verbindung gebracht. Doch ein schwarzes Loch, das todbringende „Nichts“ könnte auch im Inneren des Labyrinthes von Chartres gesehen werden. Ist nicht der Tod wenn schon nicht Ziel, so aber doch das Ende des Lebens? Unweigerlich, in wachsenden und engeren Kreisen läuft man darauf zu, läuft man hinein. Es gibt Abkürzungen, Wiederholungen, Tricks (letztlich vergeblich) – oder aber das bewusste Gehen. Während des Begehens der kreisenden Wege ist man sich sowohl seiner Vergänglichkeit als auch seiner Ewigkeit bewusst. Der Augenblick als Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, wie ihn Sören Kierkegaard bezeichnet hat, wäre dann die „Auferstehung mitten im Leben“. Das bewusste Erleben des Weges wird zur Erkenntnis des Jenseits im Diesseits. Es ist ein Perspektivwechsel, wie ihn Religion und Kunst ermöglichen. So schließen sich Distanzierung und Unmittelbarkeit nicht unbedingt aus, sondern umschließen sich im Genuss, in der Erkenntnis des Augenblicks. Walt Whitman, den weniger die Angst vor dem Tod als die Ungewissheit über die Natur der Wirklichkeit plagt, der sich fragt, ob „Zuversicht und Hoffnung schließlich nichts als Vermutungen sind, dass die persönliche Fortdauer jenseits des Grabes vielleicht nur ein schönes Märchen“ (Whitman 1904, 131–132) ist, spricht in einem Gedicht von der Fraglosigkeit der Auferstehung in der Begegnung. Nehmen wir dieses Bild als Ausdruck des Bewusstseins dafür, dass Auferstehung im Gegenüber geschieht. Im Johannesevangelium (Kap.20) ist es die Auferstehungszeugin Maria Magdalena, die ihr Erleben den anderen Jüngern mitteilt und sie so zu Teilhabern an der Auferstehungsgewissheit macht: Teilhaben an der Liebe, denn Gott ist die Liebe. Im „American“ stirbt der Mann nicht zeugenlos, sondern die Frau (die er gerade zuvor gefragt hat, ob sie mit ihm fortgehen will – wir sehen diesen Augenblick durch das Visier der Killerin, bevor der Schuss sich löst, der aber ‚nach hinten‘ losgeht) sieht ihn und sein letzter Augenblick gilt ihr; ihre Liebe ist aufgehoben und erfüllt. Der Schmetterling ist der harten Puppenschale entronnen und darf aufsteigen, Augenblick als Ewigkeit in der Zeit. In „Biutiful“ (Alejandro Gonzáles Iñárritu, Mexiko/Spanien 2010) ist es ebenfalls das Schlussbild, welches einen Ausblick auf das Geschehen ‚danach‘ gewährt und das eine Variation des Anfangsbildes ist, den Film also rahmt und bis zum Ende sehr rätselhaft bleibt. Noch mehr Rätselhaftes gibt es auf dem Weg
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dazwischen: Uxbal, der sich liebevoll alleine um seine zwei Kinder kümmert, wird öfter von Familien gerufen, die einen Angehörigen verloren und das Gefühl haben, der Tote wolle ihnen noch etwas mitteilen. Uxbal ‚sieht‘ die Toten und hört, was sie zu sagen haben und teilt dies gegen Geld mit. Als bei ihm eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert wird, beginnt er, seine Angelegenheiten zu ordnen und für seine Kinder vorzusorgen. Als er stirbt, ruft ihn seine Tochter: „Papa“… und das Bild geht über in jenen Winterwald, den wir schon anfangs gesehen haben, und in dem Uxbal einem jungen Mann begegnet – „Papa“ – seinem Vater, der in einem jüngeren Alter gestorben ist als jetzt der Sohn, und sie setzen das Gespräch vom Anfang fort, der Vater zeigt ihm, wie man gleichzeitig Wasser, Wellen und Wind intoniert und Uxbal zeigt ihm, dass man gleichzeitig dazu auch noch rauchen kann… als der junge Mann aus dem Bild geht, fragt Uxbal, „Was ist da?“ – und folgt ihm nach. „Für meine stolze alte Eiche“ steht am Ende als Widmung für den Vater des Regisseurs. Wohin gehen wir, wenn wir sterben und gibt es eine Auferstehung? Das Bild des Schmetterlings im „American“ gleicht dem Bild der unsterblichen Seele, die sich vom Körper ablöst und einen anderen Ort sucht. Auferstehung ist jedoch prinzipiell etwas anderes als die Unsterblichkeit der Seele. Nach der Auferstehungsvorstellung löst sich im Tod nicht die Seele vom Körper und existiert körperlos fort. Im Tod endet die Gemeinschaft einer individuellen Person mit anderen Personen (wobei das oben beschriebene Konzept des „Beherbergens“ die Gemeinschaft auf einer anderen Ebene fortsetzen kann). Der Tote lebt in der Erinnerung der Lebenden weiter – so lange die sich Erinnernden am Leben sind. Aber denken wir uns doch einmal einen ganz anderen, größeren Erinnerungsspeicher (Tetens 2019, 68): Wenn das gesamte Leben der Person mit ihrer Identität nicht nur in den Menschen, sondern in Gottes Denken aufbewahrt ist, so kann Gott die Gemeinschaft derselben Personen erneuern und wiederaufleben lassen, indem er die Personen wiederverkörpert. (Hermanni, 2011, 167–190)1 Eine Synthese schließlich bildet noch ein jüngerer (Jesus-)Film, „40 Tage in der Wüste“ (Rodrigo García, USA 2017), ein sehr ungewöhnlicher Bibelfilm. Die Versuchungen Jesu in der Wüste enden hier mit seinem Gang nach Jerusalem ans Kreuz. Dort hängend, fast schon am Verlöschen, sieht er einen flatternden Kolibri, der einige Zentimeter vor seinem Gesicht in der Luft ‚stillzustehen‘ scheint. Erstaunt blickt er auf das Tier, um dann (für immer?) seine Augen zu schließen.
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Andrej Tarkowskijs und Steven Soderbergs „Solaris“ zeigen (in ihren jew. Verfilmungen des Lemschen Romans) den gleichnamigen Ozean als Erinnerungsspeicher, der Auferstehungen ermöglicht.
Literatur
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Der kolumbianische Regisseur García (Sohn des Schriftstellers Gabriel Garciá Márquez) hat hier vielleicht an den aztekischen Sonnen- und Kriegsgott Huitzilopochtli (auch Vitzliputzli genannt) gedacht, der als Kolibri oder zumindest mit Kolibrifedern geschmückt dargestellt und mit Menschenopfer geehrt wurde. Am Ende des Films wird der Leichnam Jesu in eine Grabhöhle gebracht, die mit Felssteinen verschlossen wird. Einige Jünger lagern sich beim Höhleneingang. Das nächste Bild zeigt einen neuen Morgen: Felsen, Himmel, Sonne – zwei Touristen nähern sich, fotografieren das großartige Panorama am Rand des Abgrunds, der die Höhle beherbergte. Kein Blick zurück oder hinein – ob die Höhle voll war oder leer, ist tausende Jahre später nicht mehr zu entscheiden. Es bleibt Glaubenssache.
Literatur Hermanni, Friedrich, Metaphysik. Versuch über die letzten Fragen, Tübingen 2011, 167–190 Kachler, Roland, Meine Trauer wird dich finden, Freiburg 2005 Kachler, Roland, In meiner Trauer wohnt die Liebe: Gedanken, die den Tod überwinden, Freiburg/Stuttgart 2010 Tetens, Holm, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theorie, Stuttgart 2019, 68 Whitman, Walt, Von der furchtbaren Ungewissheit der Erscheinungen, in: Grashalme, Leipzig 1904, 131–132
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Zur Typologie des Bösen Bösewichte und Verbrecherinnen
Eine Typologie des Bösen kann es nur anhand einer exemplarischen Auswahl geben, und in den folgenden Filmbeispielen werden einige Typen vorgestellt: Vom bösen Spieler über den Pragmatiker bis zum Sadisten, dann wird ein Kameraschwenk auf das weibliche Geschlecht gemacht, das sich manchmal hinter einem männlichen Bösewicht versteckt; eine der ersten Serienmörderinnen schließt den Reigen der exemplarischen Betrachtung des filmischen Bösen ab. Der Böse wird im Folgenden unter diesen Aspekten gezeigt: • als einer, dem der Zweck die Mittel heiligt (John Travolta als Gabriel Shear in „Password Swordfish“) • als Spieler (Heath Ledger als Joker in „Dark Knight“) • als Pragmatiker (Toni Servillo als Franco in „Gomorrha“) • als Sadist (Christoph Waltz als Offizier Landa in „Inglourious Basterds”) Die Böse gewinnt auf diese Weisen Gestalt: • als Verkleidete: Marion Cotillard (als Miranda Tate), mit der „Maske“ des Haudegens Bane in „Dark Knight Rises“ • als Serienmörderin (Amanda Plummer als Eunice in „Butterfly Kiss“)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_7
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6.1
6 Zur Typologie des Bösen
Zur Einstimmung: Böse Filme am Bsp. von „Password Swordfish“
Beginnen wir mit einem Typen, den Quentin Tarantino wiederentdeckt hat, ein Bösewicht, dem der Zweck die Mittel heiligt: Gleich zu Beginn von „Password Swordfish“ spricht Gabriel Shear alias John Travolta in die Kamera hinein über Hollywood-Filme und deren Problem, den Bösen am Ende davonkommen zu lassen. John Travolta verkörpert „den Bösen“ in diesem Film von Dominic Sena aus dem Jahr 2001, und er ist gerade dabei, zur Wirklichkeit werden zu lassen, was er vor laufender Kamera kundgetan hat: eine blutige Geiselnahme. Das Böse hat in diesem Film eine schillernde, ständig brechende Oberfläche, und in der Mitte des Films (Kap. 20) erfahren wir, dass sich der vielfache Mörder als Ritter für die Freiheit Amerikas versteht. Wir lernen, dass all die Opfer, unschuldige Zivilisten, dargebracht werden mussten auf dem Altar des heiligen Kampfes gegen den Terrorismus. Der Zweck heiligt die Mittel, das scheint der Film uns zu vermitteln, es gibt eine sogenannte weiße Gewalt, die notwendig ist, um das höchste Gut zu schützen. Wie der gut gemachte Film uns bearbeitet, auf intelligente Weise, mit tollen Dialogen und Actionsequenzen, sind wir fast geneigt, zuzustimmen, und freuen uns, dass der Böse doch edle Motive hat und am Ende nicht nur davonkommt, sondern seine Mission weitertreibt. Solche Filme, die nicht nur das Böse thematisieren, sondern Botschaften transportieren wie diese, dass es Ziele gibt wie den Schutz des Vaterlandes, die alle Mittel rechtfertigen, können als „böse Filme“ bezeichnet werden. Böse, weil im höchsten Maß manipulativ: Film benutzt als politisches Mittel. Das Böse ist das Lieblingsthema des Films. Es zeigt sich in jeder Kultur anders, es versteckt sich in unterschiedlichen Formen oder tritt höchst offen zutage: personifiziert in Teufelsfiguren, in fremden Lebensformen from outer space oder sich offenbarend im eigenen Inneren. Der Film findet Bilder für das Erschreckende und bannt es damit zugleich: Das Lichtspiel findet im Dunkeln statt und zeigt dort Dinge, die durch ihre Benennung und Formgebung gebannt werden. Denn das Schrecklichste ist immer noch das, was wir uns selbst vorstellen können, was unsere eigene Phantasie hervorbringt – der Film erweist sich als Spiegel, der die Medusa in ihr eigenes Angesicht schauen und erstarren lässt, die Medusa unserer eigenen Angstgebilde. Was wir dann zu sehen bekommen, im Spiegel des Films, ist schon die vermittelte Form: Wir bezahlen an der Kinokasse dafür, dass wir an Leib und Leben geschont werden und doch teilhaben dürfen an grausamen Racheakten, Gewaltspielen und Weltuntergängen.1 Doch manchmal – wir hoffen und wir fürchten das 1
Dies im Sinne einer Katharsis; die Lust am Agieren wird stellvertretend ausgelebt.
6.1 Zur Einstimmung: Böse Filme am Bsp. von „Password Swordfish“
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zugleich – geht uns ein Film unter die Haut, er bleibt keine Fiktion, sondern setzt sich in unserem Kopf, in unserem Körper, im Gedächtnis fest und verwebt sich mit unserer eigenen Lebensgeschichte. Das Spiel wird ernst. („Das geschieht doch alles nur in meinem Kopf?“ fragt Harry Potter am Ende des letzten Bandes, in: „Die Heiligtümer des Todes“. – „Na und?“ fragt Dumbledore. „Macht dies das alles weniger wirklich?“2). Das Böse ist nicht nur das Lieblingsthema des Films; um Gut und Böse geht es eigentlich immer, es ist die Hauptfrage der Theologie wie der Philosophie. Das Böse stellt die menschliche Vernunft auf eine harte Probe, denn es bringt unsere Zuversicht ins Wanken, dass der Lauf der Welt einen Sinn ergibt: Das schreibt die amerikanisch-jüdische Philosophin Susan Neiman in ihrer Studie „Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie“. Das Problem des Bösen bezeichnet sie als die treibende Kraft des modernen Denkens, neben dem alle anderen erkenntnistheoretischen Probleme (wie z.B. die „Konstruktion der Wirklichkeit“) verblassen. Das Problem des Bösen lässt sich sowohl theologisch als auch säkular formulieren, doch im Grunde geht es darum, die Welt als Ganze zu verstehen. Die Religion ist eine Weise, mit dem Problem des Bösen zurecht zu kommen; der Glaube an den Sündenfall, so Neimann, sei nicht zuletzt deshalb so beharrlich, weil es leichter ist, das Leben als Strafe zu sehen, denn als ganz und gar sinnlos. Neiman sieht eine Lösung darin, die Metaphysik und damit die Frage nach dem Sinn abzuweisen, der niemals gegeben, sondern immer erarbeitet ist. Die Frage nach dem Bösen muss weiter gestellt, es muss so tief wie möglich verstanden werden. Wissen hilft! Film ist die unterhaltsamste Erkenntnisform. Vielleicht liefert er weitere Denkanstöße für unser Wissen um das Böse, wie sie auch von der Theologie gegeben und aufgenommen wurden. Wenn sich Film, wenn sich Theologie Gedanken macht zum Bösen, geht es auch immer um die Rolle des Guten, um seine Widerstandsfähigkeit und Gestaltungskraft. Oder anders gesagt: um Erlösung von dem Bösen.
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‚Tell me a last thing‘, said Harry. ‚Is this real? Or has this been happening inside my head?‘ … ‚Of course it is happening inside your head, Harry, but why on earth should that mean that it is not real?‘, in: J.K.Rowling, Harry Potter and the Deathly Hallows, London: Bloomsbury 2007, 579
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6 Zur Typologie des Bösen
6.2
Das individuelle Böse: The Dark Knight
Eine der beeindruckendsten Formen des Bösen wurde uns im Kino mit der Figur des „Joker“ präsentiert. Dieser „Joker“ in Christopher Nolans „The Dark Knight“ (USA 2008) will nichts, kein Geld, keine politischen Ämter, er will nur spielen; die ganze Welt ist ihm ein Spielplatz für seine grausamen Inszenierungen, mit denen er seinen Lieblingsfeind, Batman, den phantastischen Welten- bzw. Gotham-CityRetter, davon zu überzeugen gedenkt, dass das Böse letztlich immer siegen muss, dass die Angst immer größer ist als der gute Wille, dass der Mensch zu allem bereit ist, um seine Haut zu retten oder die seiner Liebsten. Er fordert Batman zum Treffen, zum Kampf. Er möchte es sehen, wenn Batman miterleben muss, wie alles, wofür er kämpft, in die Luft geht. Zwei Inszenierungen hält er für Batman bereit: einmal hat er seine Liebste an eine Bombe angeschlossen, ebenso wie deren Verlobten; sie können sich über Telefon entscheiden, wer von beiden weiterleben wird, denn einer von beiden wird auf alle Fälle sterben. Wie wird sich Batman entscheiden, wem wird er zu Hilfe eilen? Der Verlobte jener Frau, die er liebt, ist sein Hoffnungsträger, sein „Weißer Ritter“, er soll mit Batmans Hilfe Gotham City wieder ans Licht führen. Die andere Inszenierung bietet eine ähnliche Dilemma-Situation: Zwei Fähren sind unterwegs, an beiden ist eine Bombe befestigt; auf jedem der Schiffe befindet sich ein Auslöser für die Bombe des jeweils anderen. Diejenigen werden überleben, die als erste den Zünder betätigen.3 Auf der Fähre, die Sträflinge transportiert, nimmt ein Häftling den Zünder an sich. Parallel dazu wird gezeigt, wie auch auf dem anderen Schiff ein Passagier den Zünder entschlossen ergreift. Währenddessen kämpfen der Joker und Batman gegeneinander; um 12 Uhr, als die Bombe hochgehen soll, schaut der Joker kurz auf die Zeiger und freut sich auf das Feuerwerk: Dieses findet jedoch nicht statt, weil beide „Entscheider“ den Zünder wieder zurückgeben bzw. ins Wasser geworfen haben. „Ich tue das, was Sie schon längst hätten tun sollen!“ Ausgerechnet der Sträfling, von dem alle alles erwarten, tut das einzig Richtige. Er wählt den dritten Weg, den kreativen Ausgang aus der Dilemma-Situation. In Schnitt/Gegenschnitt-Inszenierungen, in die auch noch das Treffen zwischen dem dunklen Ritter und dem bösen Spieler eingesprengt wird, verfolgen wir zugleich Handlungs- und Metaebene und können auf allen Ebenen genießen, dass der Böse unrecht behält und knurren muss: „Auf nichts kann man sich heutzutage mehr verlassen!“ Er kann den Guten weiter verhöhnen, hat er doch noch ein Ass im Ärmel; und dennoch ist er gerade von ganz normalen Menschen, die keine Helden waren, über3
„The Dark Knight“, DVD-Kap. 35-Ende-Anf. Kap.36, 3 min
6.3 Das strukturelle Böse: Gomorrha
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wunden worden, weil sie das Menschlichste aus der Situation gemacht haben. Sie haben einen anderen, den dritten Weg gewählt; haben sich nicht geopfert, aber sind auch nicht zu Mördern geworden. Geopfert wird am Ende das Image des Superhelden. Denn um den bösen Spieler zu besiegen, muss Batman abtauchen und seinen Heldenstatus opfern, muss fremde Schuld auf sich nehmen und sagt von sich: „Ich bin, was immer Gotham braucht. Die Wahrheit ist nicht immer gut genug; manchmal verdienen die Menschen mehr: Dass ihr Vertrauen belohnt wird.“ Vielleicht meint Batman hier das Vertrauen, von dem auch die Bibel zeugt: Der Glaube daran, dass am Ende alles gut werden wird (wenn auch der Garant für ein solches Vertrauen nicht mehr Gott, sondern der Mensch sein muss). Oder dass, zumindest, nicht der Tod, sondern das Leben siegen und der zerstörerische Prozess umgekehrt wird, dem zufolge „der letzte Anlegeplatz nur die Höllenstadt sein kann und die Strömung uns in einer sich stets verengenden Spirale dort hinunterzieht“, wie Italo Calvino in „Die unsichtbaren Städte“ schreibt. Um dies zu erreichen sucht Batman, „wer oder was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand zu geben“ (Calvino 1977, 192). Dazu geht er einen dritten Weg: Der wahre Schuldige wird nicht entlarvt, und doch geht das böse Spiel nicht auf. Der Joker wird besiegt durch Mittel, die ihm nicht zur Verfügung stehen, durch eine Freiheit des Willens, die sich am Ende gegen ihn kehrt. Das Böse wird überwunden durch einen kreativen, einen dritten Weg, einen zwischen „Kampf“ und „Flucht“. Von einem solchen dritten Weg wird auch oft gesprochen, wenn von Jesu Handlungsweise die Rede ist, wie sie uns in den Evangelien berichtet wird. Oft genug stellen ihn seine Gegner in Frage, stellen ihm Fragen, die eigentlich Fallen sind; egal wie Jesus antworten wird, es wird ihm zu Ungunsten ausgelegt werden. Gezeigt werden Strukturen, aus denen auszusteigen eigentlich unmöglich ist – und doch findet Jesus einen Weg, selbst das für seine Botschaft zu nutzen. Er findet eine unerwartete, dritte Möglichkeit – für solche kreativen Umgangsweisen mit dem Bösen gibt es noch mehr filmische Beispiele.
6.3
Das strukturelle Böse: Gomorrha
„Das Böse“ ist in Bibel wie im Film meist in irgendeiner Weise personifiziert. Diese Personifikationen stehen oft für Zusammenhänge, aus denen zwangsläufig Verhaltensweisen folgen, die unausweichlich miteinander verknüpft scheinen: „Strukturelle Sünde“ hat Dorothee Sölle sie genannt. Ein Ausdruck, der aus der
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6 Zur Typologie des Bösen
Befreiungstheologie stammt und die Mitschuld an inhumanen gesellschaftlichen Verhältnissen meint, von denen profitiert wird, anstatt sie zu beheben oder gegen sie zu protestieren. Es ist oft eine passive Mitschuld damit gemeint, wie sie im Zuge der Globalisierung durch komplizierte weltweite Vernetzungen immer weiter wächst. Um die Makrostruktur zu verstehen, hilft ein Blick auf eine Mikrostruktur: Vom Leben verschiedener Personen in einer kleinen italienischen Stadt erzählt der Film „Gomorrha“ von Matteo Garone (It. 2008). Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Roberto Saviano, der die Machenschaften der mafiösen Camorra in Neapel und Umgebung beschreibt. Deutlich wird, dass es sich nicht um ein lokales Problem handelt, sondern dass Deutschland in vielfältiger Weise in die hier beschriebenen kriminellen Machenschaften verwickelt ist, am offensichtlichsten im Bereich der Entsorgung von Problemmüll. Im Film wird geschildert, wie ein Privatunternehmer Grundstücke aufkauft, um dort Tonnen von verseuchtem Sondermüll zu vergraben. Roberto, Chauffeur eines solchen Müll-Unternehmers, wohnt einem Grundstückskauf bei: Er hat gesehen, wie eine alte Frau versucht, eines der verseuchten Grundstücke zu bebauen; er sieht, wie für einen alten, bereits todkranken Mann und dessen Familie nur ausschlaggebend ist, wie viel Euro sich für ein weiteres Grundstück herausschlagen lässt; davor konnte er sehen, wie wenig ein Menschenleben wert ist, wenn Kinder die Lastwagen mit dem atomaren Müll fahren müssen, da es den Erwachsenen zu risikoreich ist. Nun bekommt er Früchte, gewachsen auf einem solchen Gelände, angeboten. Sein Chef, Franco, weist ihn später an, dieses wegzuwerfen – plötzlich weiß der Junge, dass er nicht länger mitmachen kann. Er verlässt das Auto und läuft auf der Landstraße zurück. „Ich bin anders!“ sagt er noch zu seinem ehemaliger Chef, der ihm spöttisch nachruft, er solle sich bloß nichts einbilden. „Dann back halt Pizza!“ 4 Wir haben bis zu diesem Zeitpunkt so unendlich viel Blut und Gewalt gesehen, soviel Schießereien und Morden beigewohnt, dass wir unwillkürlich erwarten, dass Franco seinen Angestellten Roberto, der im wahrsten Sinne des Wortes aussteigt, auch einfach umlegen wird. Aber er scheint doch zu überrascht zu sein, dass da einer einfach sagt: Ich kann nicht mehr, ich bin anders, ich will das nicht mehr, und eher in Kauf nimmt, ein ‚armer Pizzabäcker‘ zu werden, als sich weiter im Mitwissen schuldig zu machen. Es geht auch anders: Dieser Film zeigt, bei allem unerbittlichen Realismus, dass es einen Ausweg geben kann, dass das Böse nicht immer weiter wuchern muss wie Krebs, sondern dass es an jedem einzelnen liegen kann, hier einen Schnitt zu machen und nein zu sagen. 4
Gomorrha, DVD-Kap.17, daraus die letzten 3 min
6.4 Das empathische Böse: Inglourious Basterds
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Eine Erlösung im Film ist das nicht, aber das Aufzeigen eines Ausweges. So wird der Film vom Spiegel der Gesellschaft, der er ist, zum Spiegel auch der Möglichkeiten eines menschenwürdigen Lebens angesichts des Bösen in der Welt (Kirsner 2013, 224–234). Im Film ist die Theodizee-Frage, die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids auf der Welt, zur Anthropodizee-Frage, zur Frage nach der Menschlichkeit des Menschen angesichts des Leids geworden. Die Einübung von Empathie, das Einfühlen in den anderen, das Gegenüber, sei ein Weg, eine solche Menschlichkeit zu lernen, das ist eine der Thesen von Arno Gruen in „Der Verlust des Mitgefühls“ (1997). Aber die Empathie kann auch als Mittel des Sadisten eingesetzt werden, der sein Opfer quält, indem er es empathisch mit Fäden einspinnt, um ihm dann die Luft abzudrehen. So, wie es der dämonische Oberst Hans Landa, verkörpert von Christoph Waltz, tut.
6.4
Das empathische Böse: Inglourious Basterds
Eine der Hauptfiguren in Tarantinos NS-Film, SS-Offizier Landa, spricht perfekt Französisch, weiß sich gentlemanlike zu benehmen, kann „denken wie ein Jude“ und wird – so in der ersten langen und quälendsten Filmszene – den französischen Bauern, der, wie er weiß, Juden versteckt, fragen, ob er jetzt die Sprache wechseln soll – damit die Denunziation perfekt ist.5 Dann wechselt er vom Deutschen ins Französische, und weist, während er sich offiziell verabschiedet und die Töchter LaPadites hereinbittet, seine Männer an, durch den Fußboden auf die darunter liegende versteckte Familie zu schießen. Einer jungen Frau gelingt jedoch die Flucht bzw. Landa lässt sie entkommen. Die Meisterschaft des Bösen, der am Ende eins seiner Opfer laufen lassen wird, um die Qual noch zu verlängern, gelangt in diesen ersten 20 Filmminuten zur Perfektion – und kann kaum wiederholt werden, wie „Spectre“ (Sam Mendes, USA 2015, in dem Christoph Waltz wieder den Bösewicht verkörpert) zeigte.
6.5
Die verkleidete Böse: The Dark Knight Rises
Eine solche Meisterschaft verkörperte auch der von Heath Ledger gespielte Joker in „The Dark Knight“ und nach dem Tod des Darstellers entschloss sich Nolan, für den letzten Teil seiner Batman-Trilogie „The Dark Knight Rises“ einen völlig an5
Siehe DVD Inglourious Basterds, K.2, 17.14–20.26
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6 Zur Typologie des Bösen
deren Bösewicht als Gegenspieler zu wählen (Christopher Nolan, USA 2012). Der muskulöse Bane (Tom Hardy) mit seiner „Darth-Vader“-Maske wäre trotz seines bedrohlichen Auftretens und der Tatsache, dass er stärker ist als der zwischenzeitlich schon etwas lädierte Batman, eine recht eindimensionale Figur – würde da nicht, wie in einer russischen Babuschka-Figur, noch etwas anderes in bzw. hinter ihm stecken. Als sich Batman in einer Szene gegen Bane, der ihn kampfunfähig glaubt, doch nochmals erhebt und den Kampf gewinnt, stößt ihm Miranda Tate, die Batman bisher auf seiner Seite glaubte, ein Messer in die Rippen und offenbart ihm, dass sie hinter der Bombe steckt, die Gotham zerstören wird.6 Längst haben die Frauen aufgeholt, dürfen mehr und anderes sein als die undurchsichtig-geheimnisvolle femme fatale der 40er Jahre, können prinzipiell alles, auch in Sachen Böses (Kirsner 2006, 43–55), und sind als angebliche Freundin dann gerade die Teufelin in Person. Miranda Tate ist Batmans eigentliche Gegenspielerin, Bane ist lediglich ihr Werkzeug. Doch so berechnend sie ist, so berechenbar ist sie letztlich auch; ganz anders Amanda Plummer als durchgeknallte Eunice, vor der praktisch nichts sicher ist.
6.6
Die verzweifelte Böse: „Butterfly Kiss“
„Butterfly Kiss“ (Michael Winterbottom, GB 1994) zeichnet die Geschichte einer Amour fou zwischen zwei sehr ungleichen Frauen. – Wir sehen Miriam (Mi genannt) vor den Videokameras im Polizeirevier sitzen und erzählen, wie es ihr mit Eunice (Eu), einer Serienkillerin, die sich am Ende von ihr töten ließ, ergangen ist.7 – Die unscheinbare Miriam arbeitet in einer Tankstelle, wo sie eines Tages der faszinierenden und seltsamen Eunice begegnet, die auf der Suche nach einer gewissen Judith ist. Wer ihr bei der Suche nicht weiterhelfen kann, dessen Leben ist potentiell gefährdet, das aber weiß Miriam zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie lädt Eunice zu sich ein, und als diese nach einer gemeinsamen Liebesnacht einfach verschwindet, macht sich Miriam auf die Suche nach ihr. Die wiedergefundene Freundin macht im Laufe des folgenden Roadmovies Dinge, von denen Miriam bislang vielleicht höchstens geträumt hat. Für Mi werden jedoch auch Alpträume Wirklichkeit. Gerade hilft sie Eu noch, eine Leiche zu vergraben, da wird sie schon zum Lockvogel für den nächsten Mord und schließlich sogar selbst zur Mörderin – 6 7
Siehe DVD „The Dark Knight Rises“, K.14, 2.11.22–2.12.20 Die Schauspielerin Amanda Plummer – Eu – ist bekannt als nervöse Gangsterin aus „Pulp Fiction“ (Quentin Tarantino, USA 1994). Dieses Bild greift auch auf diese Rolle über.
6.6 Die verzweifelte Böse: „Butterfly Kiss“
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was die Beziehung zwischen den beiden intensiviert. – Die völlige Diskrepanz zwischen ungerührten Reaktionen und ungeheuren Taten fordert moralische Fragen heraus und verleiht dem Film seine Spannung. Eine Studie menschlicher Deformation, in der gezeigt wird, zu welchen Mitteln ein Mensch in seiner Einsamkeit greifen kann, um sich selbst wieder zu spüren und um auf sich aufmerksam zu machen. In einer Filmszene, stehend auf der Brücke über einer Autobahn, beklagt sich Eunice bei Miriam darüber, dass sie noch so viel Menschen umbringen könne, aber es geschähe nichts; Gott habe sie vergessen. Miriam wendet ein, dass sie zu ihr stehen würde und sie sähe; Eunice dagegen meint, dass Miriam sie auch bald nicht mehr sehen könne und sagt: „Bevor du mich gut machst, mache ich dich böse.“8 Schmetterlinge küssen sich nicht, sagt Mi zu Eu, aber Engel tun es – und die beiden Frauen küssen sich am Ende ihrer Himmel- und Höllenfahrt, bevor Mi auf Befehl von Eu sie als „Sühneopfer“ darbringt. Sühneopfer kommen immer in den Himmel, da sie ein Geschenk an Gott seien, erläutert Eu. Eu ist sich sicher, dass Gott dieses Geschenk annehmen wird, obwohl sie sich während ihres Lebens – auch und gerade von Gott – vergessen glaubte. Sie habe schon Schlimmeres gemacht, als Menschen umzubringen, aber Gott und die Menschen hätten sich nicht darum gekümmert. Sie kann tun, was sie will: Sie scheint ein Nichts zu sein, da ihre Taten keine Konsequenzen nach sich ziehen: Schuld ohne Sühne. So (ent-) sühnt sie sich selbst, mithilfe des einzigen sie liebenden Menschen – Mi, die bisher im Film die Opferrolle innehatte. Sie – Mi – tut alles aus Liebe zu Eu, bis zum bittersüßen Ende. Tatsächlich ist der Schlussmord als Erlösung dargestellt. Eu lässt sich von Mi ihre Märtyrerketten abnehmen, die sie sich bis dahin als Erdenketten, als Schwerkraftinstrumente, selbst angelegt hatte. Sie liebe Wunden, sagt sie einmal zu einem Liebhaber, dessen ‚Seitenwunde‘ (eine Nierennarbe) sie küsst, bevor er umgebracht wird. Eu ist eine moderne Judith, jeder Mensch ist ihr ein potentieller Holofernes, und jeder Liebesakt wird wie bei einem Spinnenweibchen in eine Exekution aufgelöst. Sie wird am Ende durch ihr Selbstopfer nicht zum guten (was Mi immer gehofft hatte), aber zum – zumindest aus ihrer Einsamkeit – erlösten Menschen. Man lernt mit Miriam, aus deren Sicht wir Eunice kennenlernen, Eunice wenn schon nicht lieben, so doch ihre Handlungsweise nachvollziehen zu können. Interessant ist, wie der Opfergedanke hier zum Tragen kommt, nachdem so viele Menschenopfer gebracht wurden, bis es zum Versuch der Selbstentsühnung kommt. „Butterfly Kiss“ erscheint als Kreuzung zwischen Frauen-Roadmovies wie „Thelma und Louise“ und Gewaltfilmen wie „Henry. Portrait of a Serial Kil8
Siehe DVD „Butterfly Kiss”, K.9: 45.36–47.11
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6 Zur Typologie des Bösen
ler“ und ist ein weiterer filmischer Ausdruck zunächst sinnlos erscheinender Gewaltakte. Diese stehen in „Butterfly Kiss“ in direktem Zusammenhang mit der Frage nach dem abwesend erscheinenden Gott, der die Opfer nicht annehmen will, mit denen er gerufen werden sollte. Der als Taufakt dargestellte Sühnemord wird mit großer Zärtlichkeit als Perversion des Tötens inszeniert. Der Höllentrip wird zur Himmelfahrt. Das Ziel ist das, was sich Mystiker und Ekstatiker als „Erlösung“ vorstellen. Der mittelalterliche Gral als Erlösungssymbol wird einmal kurz angedeutet, als sie einmal auf ihrer Tour nach Camelot fahren, wenn dies auch nur ein Vergnügungspark ist. Die Suche nach dem verlorenen Paradies und der letzten Erlösung steht als Mythos gegen die Alltagsrealität, die hier durchweg gewaltsam bestimmt ist. Nie entsteht im Laufe dieses Films ein Sog, der einen auf den Trip mitnimmt, nie verschmelzen Musik, Montage und Spiel zu der einen großen Hollywood-Berührung. Der Bruch des Alltags, der Sehnsucht über das Vorfindliche hinaus wird gebrochen und bleibt es. Die „Metaphysik des Bösen“ wird in dem so zarten wie harten „Butterfly Kiss“ angedeutet, ohne diese zu feiern oder zynisch zu werden – wie dies in Dominic Senas und Quentin Tarantinos Filmen zuweilen geschieht.
6.7
Zum Ausblick: Gut und Böse als notwendige Unterscheidung?
Die Logik des Symbols am Bsp. von „Batman“ als exemplarischem Filmbeispiel „Surreale“ Darstellungen des Kinos benutzen Bildformen, die Sichtbarkeit mit Verfremdung kombinieren, wie dies in „Batman“ geschieht, in dem das Bild-Zeichen aus der Comic-Form erwächst, wie Dirk Rustemeyer schreibt (Rustemeyer 2013, 178f). Diese Typisierung lässt zwischen dem Gesehenen und seiner Wahrnehmung eine Unterscheidung zu. Oder, in der Fortschreibung semiotischer Tradition ausgedrückt: „Die Alternative von Gut und Böse erscheint als oszillierendes Spiel beobachterabhängiger Zuschreibungen und funktionaler Äquivalente, bei dem das ausgeschlossene Dritte einer Unterscheidung zum zentralen Faktor wird. Es ermöglicht die Reformulierung der religiösen Differenz von Gut und Böse in Form innergesellschaftlicher Konflikte und Unterscheidungsordnungen, um der Differenz ihre scheinbare Eindeutigkeit zu entziehen.“ (Rustemeyer 2013, 183) Batman hat den Markt der Zeichenhelden 1939 als differenziertere und ambivalente Antwort auf Superman betreten. Batman ist kein Held eindeutiger Werte, moralischer Maximen und rechtlicher Loyalitäten. In seinem Fall wird die Prägnanz einer Comic-Figur ausgenutzt, um komplexe, uneindeutige soziale Dilemmata
6.7 Zum Ausblick: Gut und Böse als notwendige Unterscheidung?
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der Gesellschaft narrativ zu entfalten, wie dies am stärksten in „Dark Knight“ zum Ausdruck kommt. Dabei zeichnet sich Batman durch den Verzicht aufs Töten aus. Dies ist bedingt durch die frühkindliche Erfahrung des Mordes an seinen Eltern und setzt seiner Macht Grenzen. Er verschreibt sich freiwillig einer asketischen Lebensführung im Dienst des Kampfes gegen das Böse. In „Dark Knight“ stellt Batman sein Potential unter Beweis, im Genre des Action-Kinos Paradoxien und Konflikte der modernen Gesellschaft symbolisch ins Bild zu setzen. Er hat im Gegensatz zu Superman keine übernatürlichen Kräfte, sondern erweitert die menschlichen Möglichkeiten z.B. durch sein Flugkostüm. Als Fledermaus kann er die Stadt von oben beobachten. Gotham City selbst erscheint als unberechenbares, unheimliches Wesen von finsterer Lebendigkeit. Die Stadt wird zum Symbol für das Wesen der Gesellschaft. Diese versteckt das Böse hinter schimmernden Fassaden und korrespondiert mit der Maske des geschminkten Jokers. Dessen Spielfreude steht gegen die fast schon religiös anmutenden Prinzipien des Helden (Dienst am Guten und an der Gemeinschaft, sexuelle Enthaltsamkeit, Verwendung des Vermögens für das Wohl der Gemeinschaft), der ein Ritter der Entsagung ist und seine Wirkung mit Unsichtbarkeit bezahlt. Nur wir Kinozuschauenden werden zu Zeugen seiner Entscheidungsdilemmata angesichts von Kontingenzen. Dabei wird das Gute relativiert, denn ohne das Nicht-Gute wäre es nicht möglich. Die von Batman zu lösenden paradoxen Konstellationen können nur durch nicht rein gute Entscheidungen gelöst werden. Nolan inszeniert eine mythische Geschichte des Kampfes zwischen Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Moral und Unmoral. Das Böse in Gestalt des geschminkten Heath Ledger präsentiert sich als Prinzip lustvoller Anarchie. Während sich das organisierte Verbrechen am Motiv skrupelloser Gier orientiert und letztlich zwar illegal, aber zweckrational ist (Kapitalismus auf die Spitze getrieben und als solches Bild der Gesellschaft), erweist sich Joker als unberechenbar bis hin zur Geldschändung (als der Geldberg von ihm angezündet wird). Er macht „einfach Sachen“. Zwischen dem ordnenden Prinzip Batmans und dem irrationalen des Joker steht, ähnlich wie der Mensch in der dramatischen Konstellation zwischen Gott und Teufel, „Two Faced“, der weiße Ritter, um den beide kämpfen. Harvey Dent besetzt die ambivalente Position zwischen Gut und Böse. Zunächst der strahlende Held mit dem offenen Gesicht, wird er vom Bösen zerstört und spiegelt in Verbund mit seiner zerstörten Gesichtshälfte die zerrissene Gesellschaft. Diese aber braucht Helden, wie Batman erkennt. Sein „Heroismus nimmt die Sünden der Welt auf sich, um den Glauben an das Gute zu retten, ohne den, wie er glaubt, die Welt verloren wäre. Mit diesem Opfer für den Glauben kopiert Batman die christliche Erlöserrolle, ohne die Sünden der Menschen hinwegzunehmen“. (Rustemeyer 2013, 194)
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6 Zur Typologie des Bösen
Joker zeigt das Teuflische als das (zum Negativen gewendete) Menschliche; um dieses zu überwinden, muss Batman übermenschlich werden, nämlich zu einer Vorstellung. Bilder erweisen sich als mächtiger als die Wirklichkeit. Erst als Symbol hat der Kämpfer für das Gute Erfolg. Erst als Vorstellung wird das Gute zu einer Wirklichkeit, die Wirklichkeit schafft, indem sie für andere zum Bild der Wirklichkeit wird. In Batmans Geschichte formuliert sich also die Bedingung der Möglichkeit Gottes in der Welt. Die geliebte Rachel drängt Bruce (Wayne, wie Batman mit bürgerlichem Namen heißt), als Stellvertreter Gottes in der Gesellschaft tätig zu werden: „Welche Chance hat Gott, wenn die guten Menschen nichts tun?“9 So wird Batman als Stellvertreter des gerechten Gottes zum unermüdlichen Arbeiter an der Gerechtigkeit. Er vertritt einen Gott, der sich nach erledigter Schöpfungsarbeit nicht als passiver Beobachter aus der Welt heraushält, sondern mit der Unvollkommenheit der Welt arbeitet. Im Zuge dieser Arbeit wird er zum Unterscheidungskünstler, der – da er mit der Vernichtung der Sünder zugleich die Unterscheidung von Recht und Unrecht, Intention und Schuld aufheben würde, die ihn ja selbst konstituiert – dauernd zwischen Gut und Böse unterscheiden muss: „Jede solche Unterscheidung vollzieht die Gottesfunktion, weil sie die Welt spaltet, um ein Verhältnis zur Welt zu gewinnen.“ 10 Religion, die eine solche Unterscheidung differenziert nachvollzieht, nämlich als unendliche Arbeit, ist eine Form der Lebensführung und ein Deuteschema innerweltlicher Kontingenzen. Im Kino wird die Welt als oszillierende Ordnung simultaner Unterscheidungen beobachtbar. Für die Länge eines Spielfilms probieren wir Gottes Blick auf die Welt aus und lernen immer neue Wege aus moralischen Dilemmata kennen.11
9
Gleichzeitig weiß sie, dass sie ein Symbol nicht lieben kann, da das, was Wayne als Batman macht, nie „persönlich sein“ darf, wie Butler Alfred sagt, vgl. Rustemeyer, 199. 10 Rustemeyer, a.a.O., 201. 11 Siehe zuletzt die Unterbrechung der Gewaltspirale in „Tribute von Panem – Mocking Jay“ – Teil 2 – von Francis Lawrence aus dem Jahr 2015, als Katniss einen, der ihr das Messer an den Hals hält, überzeugt, sie nicht zu töten; die Frauengestalten, u.a. Präsidentin Alma Coin, sind einer eigenen Betrachtung wert.
Literatur
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Literatur Calvino, Italo, Die unsichtbaren Städte, München 1977, 192 Gruen, Arno, Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit, München 1997 Kirsner, Inge, Kirchenbilder und Menschenbildung, Religionspädagogische Studien im Spannungsfeld von Medien, Bildung und Religion, Leipzig 2013, 224–234 Kirsner, Inge, Der/die oder das Böse? Über geschlechtliche Rollenzuschreibungen des Bösen im Film, in: Helga Kuhlmann/Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.), Hat das Böse ein Geschlecht?, Stuttgart 2006, 43–55 Neimann, Susan, Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt/M. 2004 Rustemeyer, Dirk, Darstellung. Philosophie des Kinos, Velbrück 2013
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Weltuntergänge und andere Apokalypsen im Film
Der Mensch wird durch Maschinen ersetzt; ein großer Planet trifft auf die Erde; eine rätselhafte Krankheit lässt die Sehkraft der Menschen erlöschen: Filmische Visionen über eine mögliche Zukunft der Erde sind ein Spiegel der Gesellschaft, in dem Tendenzen der Gegenwart aufgenommen und weitergedacht werden. Einige realistische Filmphantasien werden im Folgenden dazu entfaltet und Überlegungen daran angeschlossen, was an Apokalypsefilmen so reizvoll sein könnte, dass aus der „Lust am Untergang“ ein eigenes Filmgenre werden konnte.
7.1
„O.P.A.” (Marius Fietzeck, Martin Lapp D 2011)
Ein eindrückliches Beispiel liefert der 8minütige Animationsfilm von Marius Fietzeck und Martin Lapp aus dem Jahr 2011, entstanden als Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Sein Titel O.P.A. ist die Abkürzung für „Organized Personal Assistant“, und ein solcher steht eines Tages vor der Tür eines alleine lebenden alten Mannes. Wir erleben mit, wie der „Organized Personal Assistant“ – ein Roboter, eigentlich als Haushaltshilfe gedacht – immer mehr Funktionen im Haushalt eines alten Menschen übernimmt und schließlich auch die Kontrolle über die Gesundheit seines Klienten. Was zunächst wie eine Erleichterung der alltäglichen Aufgaben erscheint, wird durch die ständigen Uploads der Maschine zur Bedrohung. Alles Analoge (Bücher, Kaminfeuer) wird digitalisiert und schließlich wird der © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_8
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7 Weltuntergänge und andere Apokalypsen im Film
Mensch – das letzte analoge ‚Ding‘ – selbst zum Opfer der letztlich von ihm initialisierten „schönen neuen Welt“. Die Einverleibung des Menschen durch den Computer – im Film ganz ‚bildlich‘ – ist die letzte Konsequenz der Cyborgisierung der Welt. „Cyborg“ (cybernetic organism) bezeichnet ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine; bezeichnet werden damit Menschen, deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden. Sie sind also keine Roboter, da sie lediglich technisch veränderte biologische Lebensformen sind. Würde man den Begriff ganz streng fassen, so müsste auch ein Brillenträger oder die Trägerin eines Hörgerätes letztlich „Cyborg“ genannt werden – je nachdem, ob man ein (externes oder internes) Gerät braucht, um sich als vollständiger Mensch zu fühlen. Dem zufolge wären auch Smartphone-UserInnen potentiell Cyborgs. Der Roboter im Film ist das Gegenüber des alten Mannes, er ist (bis auf das Ende) nicht direkt körperlich mit ihm verbunden. Gedacht ist er aber vom (im Film nicht benannten) Schenkenden als unverzichtbar werdende Dauerhilfe, die den Absender von seinem möglicherweise schlechten Gewissen entlastet. Das Gerät soll zur Ich-Erweiterung des Empfängers werden und ihm all das ermöglichen, was er aus Altergründen immer weniger selbst schafft (dies alles ist längst keine ScienceFiction-Utopie mehr). Nun aber geschieht die Umkehrung, die alte Angst des Menschen, das von ihm Geschaffene oder Verursachte könne sich letztlich gegen ihn selbst wenden: Die Maschine wird immer eigenmächtiger und wird zunächst zum Herrscher über seinen Schöpfer, schließlich sogar zu seinem Todfeind. Visualisiert wurden solche Ängste schon früh, man denke an den jüdischen Lehmmenschen Golem oder an Dr. Frankensteins Monster, um frühe Filmbeispiele zu nennen. Später wurde Ridley Scotts „Blade Runner“ (USA 1982) stilbildend und mit dem „Terminator“ (USA 1984) schuf James Cameron schließlich eine menschliche Maschine, die zunächst gegen und dann für die Menschen eingesetzt wird (Terminator 2 – Tag der Abrechnung 1991), um der Maschinenherrschaft über die Menschen Einhalt zu gebieten. Vollendet erschien diese Herrschaft dann in „Matrix“ (USA 1999), jenem großartigen Actionspektakel, das noch vor dem 3D-Zeitalter in einer Achterbahn für die Sinne zeigte, dass Menschen eben doch kreativer sind als Maschinen (und unvorhergesehene Dinge tun, die die rationalen Maschinen schließlich zum Patt zwingen). Alle diese genannten Filme gehen letztlich gut aus für den Menschen – ob die wenig tröstliche Version im radikalen Kurzfilm „O.P.A.“ die realistischere ist? Einen Hoffnungsschimmer für das Überleben der Menschen gibt es in der Literaturverfilmung „Die Stadt der Blinden“.
7.2 „Die Stadt der Blinden“ …
7.2
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„Die Stadt der Blinden“ (Fernando Mereilles, Brasilien/Japan/Kanada 2008)
In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von José Saramago aus dem Jahr 1995 ist in der ersten Szene eine ungewöhnliche Verkehrssituation zu sehen (0– 3,16). Die Ampel schaltet auf grün, doch ein Auto bleibt stehen, mitten auf einer verkehrsreichen Straße; alle hupen, fluchen, überholen, irgendwie. Ein Blick in das blockierende Auto offenbart einen verstörten Mann, der immer wieder die Hände vor das Gesicht schlägt, hilflos herumtastend. „Ich kann nichts mehr sehen!“ Der Mann am Steuer hat von einem Augenblick auf den anderen sein Augenlicht verloren. Der freundliche Passant, der den Hilflosen anspricht und nach Hause geleitet, wird den Schlüssel behalten und das Auto des Blinden stehlen; ein geringes Delikt im Vergleich zu dem, was folgt, als epidemieartig immer mehr Menschen schlagartig erblinden. Die Folge dieser Epidemie ist der Zusammenbruch der Zivilisation, und deutlich wird, dass wir in einer visuellen Welt leben, in der Informations- und Warenströme hautsächlich über das Auge laufen. Fällt der Sehsinn aus, läuft auch sonst nichts mehr. Im Vorteil sind hier die Immer-SchonBlinden, da sie sich besser in dieser Welt auskennen. „Der Zustand der Welt erfüllt mich mit großer Angst und Sorge, da bahnt sich eine Katastrophe an, um die sich niemand zu kümmern scheint. Wir müssen die Art, wie wir leben und konsumieren, radikal verändern, bewegen uns aber immer weiter in dieselbe Richtung“,
resümiert der brasilianische Regisseur Fernando Mereilles die Intention seines Filmschaffens (in: epd film 8/2012). Diese apokalyptische Grundstimmung kommt in seiner Verfilmung des Romans von José Saramago am stärksten zum Ausdruck. Im Gegensatz zum meist furiosen Auftakt vieler Endzeitdramen kündigt sich hier das Grauen, wie die oben beschriebene Anfangsszene zeigt, ganz leise an. Was bedeutet es, in einer medialisierten Gesellschaft und somit aufs Visuelle ausgerichteten Welt, in der das Auge das wichtigste Organ der Wahrnehmung darstellt, plötzlich das Augenlicht zu verlieren? Es ist der Untergang, zunächst der persönlichen, dann auch der ganzen westlichen, zivilisierten Welt. Die Zivilisation zeigen Mereilles wie auch Saramago als dünne Schicht, gleich darunter lauert die Barbarei, die sich zunehmend ungehindert Bahn bricht. „Ich werde blind“, denkt am Ende ihrer Odyssee die einzig Sehende, die ihre Gruppe, von einer Notgemeinschaft zur Wahlfamilie geworden, schließlich sicher
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in ihrer (ehemaligen) Wohnung untergebracht hat. Sie hat zuviel gesehen: Hunde, die aus Nahrungsmangel Leichen fressen; ‚natürlich’ Blinde, die ihre Vorerfahrung in den Dienst skrupelloser Tyrannen stellen, eine Welt, die von der Natur zurückerobert wird und wo die Menschen, sich als evolutionärer Fehltritt erweisend, einander ausrotten. Blind sein wäre eine Gnade gewesen, und blind werden wäre die natürliche Konsequenz, nachdem sie, mit der zweifelhaften Gabe des Sehens gesegnet, die anderen gerettet hat, die gerade wieder staunend anfangen, die Dinge mit ihren Augen wahrzunehmen – die sie zuvor (so) nicht gesehen haben. Das Ende des Films spielt in der Wohnung der letzten Sehenden, es wird erzählt, wie der erste Blinde sein Augenlicht wiedererlangt und damit den anderen Hoffnung gibt (2.7.44 – 2.10.30). Sehenden Auges blind zu sein, dieses Motiv hat Platon in seinem Höhlengleichnis ausgeführt, das die Matrix für mehrere Romane Saramagos (am dichtesten in „Das Zentrum“) bildet. Das Kino bildet strukturell die Höhle Platons nach, und ein Kinostück zu machen, das annähernd dieses Nicht/Sehen abbildet, das hat Filmemacher Mereilles geschafft. Die Welt, in der die Sehenden ihr Augenlicht verlieren müssen, um zu erkennen, was Leben ausmacht, was Liebe ist, was die Welt zusammenhält, geht am Ende nicht unter; Keimzelle der Hoffnung bildet die kleine Gemeinschaft, die, einander solidarisch begleitend, einander erkannt hat und so in der apokalyptischen Umwelt überleben kann. Die ganze Welt retten, wie es die US-amerikanischen Helden tun, ist ihnen versagt; aber sie werden einander zur Welt. Werfen wir nun einen Blick auf jene US-amerikanischen Helden: die sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Die Superhelden scheinen zugleich mit den Twin Towers zu Fall gekommen zu sein und haben sich davon nicht mehr erholt. Der dunkelste Held von allen ist Batman, der in „The Dark Knight“ (Christopher Nolan, USA 2008) einen so starken Abschied genommen hat, dass niemand an (s)eine Rückkehr glauben mochte. Um Gotham City, exemplarisch für die ganze Welt, zu retten, musste er seinen Heldenstatus opfern, fremde Schuld auf sich nehmen, um der Menschheit ihren Glauben an das Gute und somit ihre Überlebensfähigkeit zu erhalten. Aber nun kehrt das Böse zurück – denn solange Batman lebt, wird er die dunklen Mächte anziehen. Die Düsternis von „The Dark Knight“, wo „der tragische Held den Kampf gewonnen, die moralische Schlacht jedoch verloren hat“ (Schnelle 2012, 41), konnte von seinem Sequel kaum übertroffen werden. Das Austreiben des Heroischen aus dem Helden jedoch wird in „The Dark Knight Rises“ (Christopher Nolan, USA 2012) perfektioniert. Als heroisch könnte am Ende lediglich sein (allerdings von ihm selbst inszenierter, also gefakter) Opfertod gedeutet werden, als er die von Bösewicht Bane scharf gemachte Atombombe mit dem Batmobil aus Gotham herausschafft.
7.3 „Melancholia” (Lars von Trier, Dänemark/S/F/D 2011)
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In der gesamten Batman-Trilogie Nolans herrscht eine apokalyptische Grundstimmung, die den Eindruck vermittelt, dass es bestenfalls um Verlängerung des Bestehenden und schon lange nicht mehr um Rettung geht. Nichts Neues unter der Sonne, nur noch Wiederholungen, Sequels und Prequels… diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls bei einem flüchtigen Blick auf die gegenwärtige Kinoszenerie (Hollywoods). Schauen wir uns in der Science Fiction um, die immer schon die besten apokalyptischen Nährböden bot, so zeigt sich auch hier, dass parasitenartig an die großen Erfolge angeknüpft wird. Selbst Regisseure, die uneinholbare Klassiker wie „Alien“ (Ridley Scott, USA/GB 1979) geschaffen haben, scheuen sich nicht, deren Vorgeschichte zu erzählen. (Aber vielleicht rufen Entmythifizierungen unter Umständen neue Mythenbildungen hervor). Der gesamte Alien-Kosmos zeigt – hierin typisch für die USA (wenn auch europäisch infiziert durch seinen englischen Ursprung) und stellvertretend für die SF-Filme, dass das Weltbedrohende von außen kommt, während europäische Filme (wie die meisten nicht-amerikanischen) das Zerstörerische von innen her wirkend vorstellen.
7.3
„Melancholia” (Lars von Trier, Dänemark/S/F/D 2011)
In dem großartigsten Untergangsfilm der letzten Kinojahre, „Melancholia“ des Dänen Lars von Trier (2011), kommen beide Elemente zusammen: Das (amerikanisch) Bedrohliche von außen – der Planet Melancholia – und das (europäisch) Zerstörerische von innen – die Melancholie der Hauptfigur Justine – vereinen sich zu einem orgiastischen Untergang der Welt, wie man ihn so schön noch nie gesehen hat. Der Film setzt sofort mit den Bildern des Untergangs ein, die in ihrem Zeitlupentempo fast wie Gemälde erscheinen. Apokalypse heißt „Offenbarung“, und in der Mitte des Films kommt es zu Offenbarungen, die den Betroffenen die Maske vom Gesicht reißen und persönlichen Weltuntergängen entsprechen: Hier findet die Enthüllung der Ausweglosigkeit des Lebens auf zwei Ebenen statt. Mitten im verlogenen Reigen einer Hochzeitsgesellschaft zeigt sich das dunkle Gesicht der Welt – und deren Vernichtung. „Nichts“ heißt die Überschrift eines Kapitels in der Mitte des Films. Hier erleben wir, wie die (Anti-)Heldin ihrem Chef kündigt und zugleich die Hohlheit seiner bisherigen Geschäfte aufdeckt. Beeindruckend ist es, gegen Ende des Films mitzuerleben, wie die Hypersensibilität Justines, die sich bestenfalls in Kreativität, zunehmend aber in De-
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pressivität auswirkt, angesichts der tatsächlichen Bedrohung von außen zu Stärke wird. Sie, die Hilfsbedürftige, wird zur Führerin ihrer Schwester, der pragmatischstarken Fürsorgerin, die angesichts der baldigen Kollision Melancholias mit der Erde schwach wird. Am Ende des Films werden die rätselhaften Bilder des Filmanfangs, die wie in Zeitlupe erscheinen und uns eher bewegte Gemälde zeigen als Filmbilder, wieder aufgenommen. Wir sahen, wie ein Kind Stöcke zuschnitzt, wir sahen eine verzweifelte Mutter, die ihr Kind vergeblich irgendwohin trägt, denn es gibt keinen Ausweg mehr, nirgends. Wir sahen die rätselhafte Ruhe der uns später als Hauptperson vorgestellten Justine, sie sendet nicht, wie Zeus, Blitze aus, sondern empfängt sie, empfängt von der drohenden Apokalpyse her eine Energie, die ihr zuvor zu fehlen schien. Und endlich, endlich kommt es zu dem, was uns musikalisch schon mehr als angedeutet wurde, Richard Wagners Tristan und Isolde kommen endlich zusammen, wenn schon nicht im Leben, so im Tod. Die Ouvertüre der Oper hat die Eingangsbilder begleitet, nun erfüllt sich, was das Motiv vorbereitet hat. Ein finaler Zusammenstoß, eine orgiastische Vereinigung, nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen der Erde und dem Planeten Melancholia, und danach Leere, Schweigen und ein energiegeladenes Nichts, wie der Moment vor dem Urknall. Eine Wiedergeburt wird uns nicht gezeigt, aber der Augenblick davor. Es ist keine Auslöschung, darauf deuten die letzten Bilder vor der Schwarzblende. Melancholia, jener Planet in Kollisionskurs Richtung Erde, ist der eigentliche Hauptdarsteller in Lars von Triers Untergangsdrama. Vorausgesehen und -gefühlt hat den kommenden Weltuntergang die unter Depressionen leidende Justine, die im Laufe des Films immer stärker wird. Claire, ihre zunächst tatkräftige Schwester hingegen verzweifelt, gerade auch angesichts ihres etwa zehnjährigen Sohnes Leo, den sie nun nicht mehr schützen kann. Justine weiß jedoch, was zu tun ist. Sie versichert Leo, dass es einen Ausweg gibt und sammelt mit ihm kräftige lange Äste im angrenzenden Wald. Diese schnitzen sie gemeinsam zu und bauen daraus eine magische Höhle. In diesen tipiartigen Unterstand setzen sich die drei, einander an den Händen haltend, während der riesige blaue Planet auf unseren kleinen blauen zusteuert. Während Claire immer haltloser weint, schließen Justine und ihr Neffe die Augen, sie strahlen eine Ruhe und Konzentration aus, die als Energie auch noch im Kinoraum ist, als die Erde nach dem Zusammenstoß in einem Flammenmeer untergeht. So schön ist die Erde selten im Kino untergegangen. Doch die anschließende Dunkelblende enthält noch so viel von der Kraft der magischen Höhlenbewohner,
7.3 „Melancholia” (Lars von Trier, Dänemark/S/F/D 2011)
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dass man fast versucht ist zu sagen: eine Apokalypse ist noch kein Weltuntergang. Er erscheint hier als Wiedergeburt, denn es erscheint unvorstellbar, dass diese Energie sich zugleich mit der Erde auflösen könnte. Die an ihrer inneren Dunkelheit leidende Justine erwacht zu neuem Leben angesichts der finsteren Bedrohung von außen. Ihr wird die Dunkelheit der äußeren Ereignisse zum Licht, das ihr den Weg weist, ihr klar macht, was zu tun ist, wenn man eigentlich nur noch auf das Ende warten kann. Sie nutzt die letzten Minuten dazu, ein temporäres Kunstwerk zu errichten und ihrem Neffen mit dieser magischen Höhle ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Das angesichts der Wucht der kommenden Ereignisse zerbrechlich erscheinende Tipi wird zu einem Zelt, das wie die Rauch- und Feuersäule den Israeliten in der Wüste Schutz verlieh, in dem Bewusstsein, dass Gott ihr Reisebegleiter war. Die magische Höhle wird zum Übergangsobjekt, das dazu hilft, mit den Ereignissen, die geschehen und geschehen werden, umzugehen. Sie ist vergleichbar mit dem, was man die Konstruktion des Glaubens nennen könnte. Es nimmt dem Jungen die Angst, der Hand in Hand mit seiner Tante das Ende nicht überlebt, aber erlebt. Der Glaube hilft zu leben, und manchmal bedient er sich auch temporärer Konstruktionen wie derjenigen eines Gegenstandes, der die Erde bewohnbar macht und erleuchtet – wie die Höhle, die dem Glanz des lichtvollen Untergangsplaneten einen eigenen entgegenstellt. Das Licht kommt von der Verbindung der drei Menschen miteinander, die auf zwar unterschiedliche Weise, aber eben miteinander verbunden das Finale zu einem Übergang gestalten. Sie setzen der kalten Welt der Beziehungslosigkeiten eine wie für diesen letzten Augenblick erworbene Bindungsfähigkeit entgegen, die ihnen Würde verleiht und sie vor einem sinnlosen Abbruch aller Geschichten rettet. „Melancholia“ erzählt so mitten in den geschilderten Finsternissen, inneren und äußeren, die einander entsprechen, zugleich die Geschichte vom Licht. Angesichts der filmischen Schluss-Szene kann man vielleicht nicht von Erlösung sprechen, aber von der Möglichkeit, mit den geschilderten Ereignissen umzugehen, diese zu gestalten. Es ist ein Akt der Freiheit, wie ihn auch Franz Kafka in seinem „Bericht für eine Akademie“ beschreibt. Kafka skizziert hier, dass es eine Erlösung höchstens im Sinne einen Auswegs geben kann, der darin besteht, die einzige Wahl, die man hat, als Freiheit zu begreifen. Die Erde geht unter, doch dem mitleidlosen Planeten, dem sie unglücklich im Wege steht, kann man immer noch das Wunder der eigenen Existenz entgegensetzen, die auch mit der irdischen Auslöschung weder verneint noch rückgängig gemacht wird. Ich existiere, ich werde existiert haben: ein Augenblick, der Ewigkeit wird in der Zeit.
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7 Weltuntergänge und andere Apokalypsen im Film
Zum Schluss Am Ende bleibt: Wir sind immer die Überlebenden, die Lust am Untergang speist sich aus dem Voyeurismus des Kinos, Bilder zu sehen von Dingen, die man fürchtet, und selbst an Leib und Leben unversehrt zu bleiben. Es ist wie das memento mori eines mittelalterlichen Totentanzes, den man betrachtet und angesichts des Endes, das jedem bevorsteht, die Zeit bis dahin schätzen lernt. Apokalypse im Kino also als Glückserfahrung des Hier und Jetzt; zugleich aber auch das Ermöglichen eines Handelns im Hier und Jetzt, auf dass abgewendet werden möge, was uns der Film als dunklen Spiegel vorhält und auch als Konsequenz menschlichen Handelns gezeigt wird. Dabei ist die Johannesoffenbarung der Bildlieferant für viele apokalyptische Filme. Auch die Grundbewegung der biblischen Geschichte und ihrer Geschichten wird aufgenommen: Zu Beginn wird ein Ereignis geschildert, das kann Sündenfall genannt werden oder auch ein unverhoffter Einbruch von außen. Der Normalzustand gerät ins Wanken, die Krise steigert sich bis zu einem alles entscheidenden Höhepunkt – und es erfolgt die Rettung in letzter Minute (jedenfalls meistens; in „O.P.A.“ heißt es, das Ende des Menschen ist noch nicht das Ende der Welt; „Melancholia“ schildert uns zumindest die Rettung der inneren Integrität angesichts des Untergangs). Als die erste biblische Apokalypse könnte die Sintfluterzählung bezeichnet werden (die ebenfalls Bildgeber von Filmen wie Roland Emmerichs „2012“ von 2009 oder Alfonso Cuaróns „Children of Men“ von 2006 ist). Bevor Gott – nachdem er erkennt, dass die Menschen sich wohl auch durch Strafe nicht ändern – seinen Bund mit Noah schließt, verheißt er: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22). Es muss nämlich weiter kein kosmisches Ereignis eintreten, um die Welt untergehen zu lassen als das Stillstehen der Zeit, die Unterbrechung des Naturkreislaufes (wie in „Children of Men“). Die letzte biblische Apokalypse, die in der Johannesoffenbarung mit gewaltigen und großartigen Bildern beschrieben und in vielen Filmen transformiert wird, endet jedenfalls mit einer Unterbrechung; nach der Johannes-Offenbarung 22, 5 „wird keine Nacht mehr sein“ – und das wäre dann endgültig das Ende des Kinos. Dieses tröstet uns, solange es noch existiert, über die Entdeckung hinweg, wie groß das Weltall ist und wie klein die Erde darin und wie wenig es bedarf, die kleine blaue Kugel auszulöschen. Solange das Weltall – wie eindrucksvoll in „Gravity“ zu sehen – in einen Film passt, haben wir Menschen das Gefühl eines gewissen Überblicks. Im Kino schauen wir unentwegt der Zerstörung, aber auch der Schöpfung „eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ zu oder jedenfalls
Literatur
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eines kleinen Stücks davon, in dem Bewusstsein, dass die Vollendung jener neuen Welt in unserer Mitverantwortung, aber jenseits unserer Macht liegt.
Literatur „Wir sitzen alle im selben Auto“. Der brasilianische Regisseur Fernando Mereilles über die Internationale des Kinos, den Zustand der Welt und seinen neuen Film „360“, Gespräch mit Anke Sterneborg in: epd Film 8/2012, 18–23, 23 Schnelle, Frank, Filmkritik zu „The Dark Knight Rises“, epd-Film 8/2012, 41
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Lust am Untergang? Dystopische Entwürfe in Kinofilmen seit den 60er Jahren
„Es war eine Lust, Feuer zu legen. Es war eine besondere Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das Messingrohr in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosin in die Welt hinausspie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände waren die eines phantastischen Dirigenten, der eine Symphonie des Brennens und Sengens aufführte, um die kärglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszutilgen.“
Das sind die Eingangssätze aus Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ aus dem Jahr 1953, in dem er die letztlich selbstzerstörerische Lust seines Feuerwehrmannes Montag am Untergang beschreibt (Bradbury 2003, 9). Zusammen mit Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ (1932) und George Orwells „1984“ (1948) schossen diese großen Drei der dystopischen Buchklassiker aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts Anfang 2017 in den Bestsellerlisten ruckartig nach oben, nicht nur in Amerika, wo Donald Trump im Januar 2017 ins Amt des US-Präsidenten eingeführt wurde, sondern auch in Deutschland, wo es in den Buchhandlungen Neuauflagen von „1984“ und eine Neuübersetzung der „Schönen Neuen Welt“ gab. Auch Remakes der längst zu Klassikern avancierten Literaturverfilmungen gab es: „451“ von Ramin Bahrani als TV-Film und die Serie „The Handmaid’s Tale“ (1990 verfilmt von Völker Schlöndorff als „Die Geschichte einer Dienerin“, basierend auf Margret Atwoods unübertroffenem Roman). In Zeiten des politischen Umbruchs und der gesellschaftlichen Spaltung bekommen die mahnende Literatur und die prophetische Dimension auch von Main© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_9
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stream-Filmen neue Relevanz, denn sie warnen vor dem, was noch kommen könnte. Und wenn eine Regierung neue Wahrheitsformen wie „Alternative Fakten“ (erfunden von Trumps Beraterin Kellyanne Conway) einführt, erscheinen fiktionale Totalitarimus-Szenarien wieder wirklichkeitsnäher. Warum gab es bisher noch keine Neuverfilmung von „1984“? Eine erste These. Möglicherweise ist es in einer Zeit, in der weltweit wieder totalitäre Staatsformen erstarken, wir uns also der schwarzgemalten Wirklichkeit von Buch und Film nähern, weder gewünscht noch erforderlich, noch schwärzer zu malen. Was wir vielmehr zu brauchen scheinen, sind Hoffnungsbilder, utopische Einschüsse in den zur Zeit populären Dystopien, wie sie auch „Fahrenheit 451“ liefert, Truffauts Verfilmung von Ray Bradburys Klassiker.
8.1
„Fahrenheit 451“ (Francois Truffaut, GB 1966)
Der Feuerwehrmann Montag, verkörpert von Oskar Werner, stellt seine Arbeit als Bücherverbrenner zunächst nicht in Frage. Er lebt in einer hedonistischen Gesellschaft, in der Bücher als unglücksstiftend betrachtet werden, da sie sich mit Problemen und Konflikten auseinandersetzen, depressiv machen und daher gesetzlich verboten sind. Die Feuerwehr hat die Aufgabe, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen (Fahrenheit 451 bzw. 232 Grad Celsius „ist die Temperatur, bei der Papier anfängt zu brennen“). Eines Tages trifft Montag die Lehrerin Clarisse, die eben von ihrem Dienst als Lehrerin suspendiert wurde, weil sie Bücher las. Sie fragt Montag, ob er glücklich sei? Diese Frage beschäftigt ihn, als er nach Hause zu seiner Frau Linda kommt, einer mit TV und Tabletten ruhiggestellten Frau. Neugierig geworden, beginnt er heimlich Bücher mitzunehmen und zu lesen, was Linda beunruhigt, die ihn schließlich verrät. Er, der sowieso seinen Beruf aufgeben wollte, nachdem er eine Bücherfreundin lieber mit ihren Büchern sterben als diese verlassen sah, versucht zu den Bücherfreunden zu gelangen, von denen Clarisse ihm erzählt hat. Es gelingt ihm, die Buchmenschen aufzuspüren, bei denen auch Clarisse inzwischen untergekommen ist. Beide beginnen nun ihrerseits ein Buch auswendig zu lernen, um es für die Nachwelt zu erhalten. Der Entwurf einer Gesellschaft, in der Bücher lesen verboten und sogar tödlich ist, erscheint gegenwärtig eher als weltferne Utopie denn als Dystopie. In einer Zeit, in der Buchhandlungen sterben und einer immer größeren Anzahl an Buchveröffentlichungen eine immer kleinere Anzahl an Leserinnen und Lesern gegenüberzustehen scheint, hat das rührende Ende des Films 451 etwas Nostalgisches. Etwas mehr Sprengkraft bekommt das Ganze, wenn Bücher als Symbol für analoges
8.2 „1984“ (Michael Radford, GB 1984)
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Wissen und analoge Techniken stehen und digitale Technik als Gegenüber. Dann gewinnen die fehlenden Antennen, die im Film die Bücherfreunde verraten, sogar etwas Aktuelles: was wäre denn, wenn man sich komplett dem „Fernsehen“ der heutigen Zeit, nämlich dem Internet, dem Konsum, den Kontaktmedien wie Whatsapp verweigert? Wäre man da überhaupt noch gesellschaftsfähig? Man braucht dann nicht mehr verfolgt zu werden, sondern man hat sich selbst sozial ausgeschaltet. Manche neueren Dystopien erzählen davon, dass nach der Apokalypse keine Geräte, kein Strom mehr zur Verfügung stehen und die Menschen wieder von vorne anfangen müssen – so z.B. in dem S-F-Film „Die fünfte Welle“ (J. Blakeson, USA 2016). Hier erscheint eines Tages ein außerirdisches Raumschiff auf der Erde. Die darin befindlichen Aliens beginnen, die menschliche Zivilisation zu zerstören, indem sie in einer ersten Welle durch einen elektromagnetischen Puls alle elektrischen Geräte funktionsunfähig machen. Hier wäre nun das Ende von Ray Bradburys Roman „451“ interessant, in dem Montags Heimatstadt im Zuge eines Krieges zerstört wird und sich daraufhin die Buchmenschen auf den Weg machen, um mit ihrem Wissen den Überlebenden bei einem Neubeginn zu helfen.
8.2
„1984“ (Michael Radford, GB 1984)
In „1984“ gibt es keine Überlebenden, nur gebrochene Hüllen. Mit einem solchen Bild entlässt uns Michael Radford aus seiner vorlagentreuen Verfilmung von George Orwells „1984“. Es zeigt uns John Hurt als Winston Smith, der versucht hat, gegen den „Großen Bruder“ zu rebellieren und der nun gefoltert wird, genauso wie seine Geliebte, um am Ende über den Fake-Sieg eines Fake-Krieges zu jubeln und die Hoffnung auf eine Liebe verloren hat, die aus der Mediendiktatur retten könnte. 1984 wurde tatsächlich im Orwell-Jahr 1984 verfilmt. Mit diesem Film sind wir von den 60er Jahren, mit denen wir begannen, zwei Jahrzehnte weiter gesprungen. Dazwischen liegen mindestens zwei erwähnenswerte dystopische Entwürfe: zum einen „Der Omega-Mann“ (Boris Sagal) von 1971, der mit „I am Legend“ (Francis Lawrence) von 20071 neu verfilmt wurde; und zum anderen „Soylent Green“ (… Jahr 2022…die überleben wollen) aus dem Jahr 1973, beide mit Charlton Heston in der Hauptrolle. In beiden Filmen werden wir mit einer finsteren Welt konfrontiert, in der, wie in den meisten dystopischen Filmen, die Apokalypse bereits stattgefunden hat und es ums Überleben auf einem unwirtlich gewordenen Planeten geht. 1
Beide auf der Basis des Romans „I am Legend“ von Richard Matheson aus dem Jahr 1954
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Der „Omega-Mann“ versucht, eine Welt zu retten, die dem Krieg zwischen der UdSSR und China zum Opfer gefallen ist. Unter anderem wurden im Krieg biologische Waffen wie Bakterienstämme eingesetzt, letztere mutierten und verseuchten fast die ganze Menschheit. Beim Versuch, mit einem Antiserum ein paar Noch-Nicht-Infizierte zu retten, stirbt der Protagonist. Sein Ende wird christusähnlich inszeniert, wie überhaupt die ganze Geschichte von christlicher Erlösungsmystik zehrt. Davon ist in der Neuverfilmung mit Will Smith nichts mehr zu spüren. Der Film „Soylent Green“ erschien ein Jahr nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome und wird zu den ersten Ökodystopien gezählt. (Die Vorlage lieferte das Buch „New York 1999“ von Harry Harrison.) Es geht darin um Umweltzerstörung, Überbevölkerung und die möglichen Folgen von exzessiver Nutzung endlicher Ressourcen, die nur noch den Reichen zur Verfügung stehen. Dem Großteil der Menschen stehen nur noch Soylent Red und Soylent Yellow zur Verfügung, eine Mischung aus Soja und Linsen. Ein neues, schmackhafteres Produkt, Soylent Green, wird entwickelt, das angeblich aus Plankton gewonnen wird und reißenden Absatz findet. Der Polizist Thorn kommt durch Nachforschungen aufgrund des Mordes an einem Mann, der für die Firma Soylent arbeitete, dem wahren Ursprung der grünen Täfelchen auf die Spur. Sie kommen direkt aus den Tötungsanstalten, in die sich auch sein Freund Sol nach Entdeckung der Wahrheit begeben hat: „Soylent Green is people!“ – „Soylent Grün ist Menschenfleisch!“2 Vielleicht ist ja tatsächlich der Mensch die letzte große Ressource. Die großen Fluchtbewegungen der letzten Jahre haben Drogen und andere heiße Ware ersetzt durch Menschenschmuggel, wie auf zynische und treffende Weise „Sicario 2“ von Stefano Sollima (USA 2018) erzählt. Und Menschenfleisch dient nicht nur der Nahrung, sondern kann auch als Ersatzteillager dienen, eine ebenso grausame Wahrheit, mit der das Klonmädchen Kathy H. in „Alles, was wir geben mussten“ (Mark Romanek) von 2011 konfrontiert wird, der Verfilmung des S-F-Romans von Kazuo Ishiguro. (Wieder haben wir einen Sprung gemacht, dabei gäbe es aus den 80er und 90er Jahren noch viel Dystopisches zu berichten, vom Terminator über Gattaca und Matrix bis zum Minority Report und der Stadt der Blinden.) Konzentrieren wir uns aber jetzt auf das gegenwärtige Jahrzehnt, in dem der Begriff der Dystopie erst so richtig massenwirksam wurde.
2
Der Film „Delicatessen“ (F 1991) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro geht da noch weiter: Hier sind Vegetarier das Grundnahrungssmittel der Fleischesser.
8.3 Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015)
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Eine Dystopie schildert das Gegenteil einer Utopie und thematisiert meist die Herrschaft eines autokratischen Staates, der von Diktatur, Bürgerkrieg, Armut und Hunger geprägt ist, über das Denken und Leben der Bürgerinnen und Bürger.3 Seit dem 16. Jhdt. haben Menschen angesichts einer als mangelhaft empfundenen Lebenssituation von möglichen Veränderungen und besser funktionierenden Systemen geträumt. Die Gattung der Utopie, wie die Schrift von Thomas Morus von 1516 heißt (aber zu der auch Platons „Politeia“ gezählt werden kann), ist ihrer Grundtendenz treu geblieben: Dem Wunsch nach einem funktionierenden System, das die vorherrschenden Probleme der Gesellschaft überwunden hat und eine positive Lebensperspektive bietet.4 Die Dystopie ist eine Art utopian-dystopia, eine von einem starken Pessimismus geprägte (Text- oder Film-)form, die jedoch Möglichkeiten zur Veränderung und zur Hoffnung auf Verbesserung zulässt – davon ist auch die Panem-Dystopie geprägt und verleiht ihr eine utopische Perspektive.
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Die Tribute von Panem (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015)
Die Romantrilogie von Suzanne Collins, die den vier Panem-Filmen zugrundeliegt, kann trotz verschiedener Elemente der Science Fiction und der Fantasy insgesamt der Gattung der Anti-Utopie bzw. der Dystopie zugeordnet werden.5 Die Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft – Hauptthema der bereits genannten dystopischen Romane, Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“, wird allerdings häufig hinter die Handlung und die Aufrechterhaltung der Spannung der Geschichte zurückgestellt, seine Konzession an das jugendliche Zielpublikum, bei dem Spannung und der Bezug zur eigenen Lebensphase im Vordergrund rezeptionsförderlich ist. Die starke Fokussierung auf die Protagonistin, die sich im jugendlichen Alter befindet, entspricht der Gattung der Adoleszenzerzählung, bei der die Entwicklung einer differenziert und individuell dargestellten Hauptfigur nachgezeichnet wird. Im Gegensatz zu ‚reinen‘ Utopien versetzen dystopische Szenarien die Rezipierenden meist in medias res, also die beschriebene Welt, die diesem dann aus den 3 4 5
Bereits Fritz Langs „Metropolis“ von 1927 lässt sich in diesem Sinne als als Dystopie bezeichnen, siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_dystopischer_Filme, entnommen am 4.3.2016 Wiemers, 2013, 11 Wiemers, 2013, 9
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Augen eines Bewohners oder einer Bewohnerin, durch die Beschreibung des alltäglichen Lebens, vermittelt wird. Anders als in der Utopie, in der der Protagonist in die utopische Welt reist, lebt die Hauptfigur einer Dystopie bereits in dieser Gesellschaft. Sie ist meist unangepasst oder wird es im Lauf der Geschichte, woraus sich der Konflikt im Handlungsverlauf ergibt. Das Reisemotiv der Utopie wird in der Dystopie zu einer spirituellen Suche nach der eigenen Wahrheit, nach der Identität. Peeta und Katniss, die Hauptfiguren in „Panem“, gehen hier unterschiedliche Wege, um ihre jeweilige Authentizität zu erlangen und dann auch zu erhalten. Es gibt von Seiten des Staates verschiedene Methoden der gewalttätigen Unterdrückung von Unangepasstheit. Dazu kommt die Kontrolle der Menschen durch Konsum und Unterhaltung. Mit ihrer Hilfe werden die Bewohner des Kapitols und des ersten Distriktes vollständig abhängig vom System gemacht. Das Leben der Kapitolbewohner ist von Überfluss und Reichtum geprägt, ihre Sorge gilt der ständigen Optimierung des Aussehens. Zu ihrer Unterhaltung dienen die für die Teilnehmenden tödlichen Hungerspiele, in deren öffentlicher Zelebrierung durch die Bewohner des Kapitols sich deren fehlendes Bewusstsein für die Situation der Menschen in den Distrikten offenbart. Ist in „1984“ und „Schöne neue Welt“ ein Erfolg der Außenseiter aufgrund der Gestaltung der Figuren nicht angelegt und besteht also keine Hoffnung auf Veränderung durch den Widerstand des Individuums gegen das System, wird die Warnung vor potentiellen, negativen Entwicklungen der realweltlichen Gesellschaft, symbolisiert durch die fiktive Welt innerhalb der Dystopie, verstärkt. In Panem besteht allerdings Hoffnung auf Veränderung – die Protagonistin ermöglicht als Vertreterin der ausgebeuteten Masse die erfolgreiche Rebellion. Allerdings entspricht Katniss in ihrer Anlage der Außenseiterstellung der Protagonisten in den klassischen dystopischen Erzählungen. Sie muss nach dem Tod des Vaters für die Familie sorgen und verschafft dieser illegalerweise Fleisch, indem sie mit Pfeil und Bogen jagt (vgl. das Jagdrecht unter feudalistischer Herrschaft). Besitz und Gebrauch der Waffen unterscheidet sie von den übrigen Distriktbewohnern und lässt sie mit dieser Form der Wilderei schon früh gegen Kapitolregeln verstoßen, auch wenn dies aus der Not heraus geschieht und zunächst keine bewusste Rebellion gegen das System darstellt. Ihr passiver Widerstand steigert sich jedoch zur aktiven Rebellion, sie wird aus anfänglicher Sorge nur für ihre Familie zur Hoffnungsträgerin aller Unterdrückten. Sie ermutigt zu eigenständigem Handeln gegen scheinbar übermächtige Kräfte in der eigenen Gesellschaft. Man könnte demnach auch von utopischen Zügen innerhalb der Panem-Trilogie sprechen, wenn nicht der Schluss diesen Eindruck relativieren würde. Denn trotz des Erfolges der Rebellion deutet Collins am Ende
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an, dass sich die überkommenen, schlechten Zustände auch unter der neuen Regierung ebenso wieder einstellen könnten. Der Schluss der Filmtetralogie nimmt diese Stimmung auf: Im vorletzten Kapitel von „Mocking Jay 2“ (K.10; 1.49.21-1.56.02) soll Katniss den Ex-Präsidenten Snow öffentlich hinrichten; doch tötet sie mit ihrem Pfeil statt dessen die neue Präsidentin Alma Coin, die angekündigt hat, erneut Hungerspiele einzuführen. Nach Katniss tödlichem Schuss, der dies verhindern soll, wird es neue Wahlen geben. Mit „Tribute von Panem“ wurde eine Trilogie geschaffen, die in der Tradition der klassischen Dystopien eine Warnung vor der negativen Entwicklung politischer Machtstrukturen und deren Auswirkung auf die Gesellschaft darstellt. Gleichzeitig ist den Texten eine Appellfunktion immanent, die zusammen mit der Option auf Hoffnung die Rezipierenden dazu ermutigt, sich auch gegen übermächtig erscheinende, repressive Kräfte zur Wehr zu setzen. In den klassischen Dystopien stehen fast ausschließlich Männer im Vordergrund (mit einer Ausnahme: „Die Geschichte der Dienerin“ von Volker Schlöndorff, nach Margret Atwoods Roman „Der Report der Magd“). Die Besetzung der Hauptfigur mit einem weiblichen Charakter ist einem modernen Umgang mit Figuren beider Geschlechter zuzurechnen, die heute gleichermaßen als Heldenfiguren fungieren können. Als der Film „The Hunger Games“ 2012 in die Kinos und mit ihm der Begriff „Dystopie“ in Mode kam, konnte noch niemand wissen, dass fünf Jahre später mit dem (drohenden) Verlust der alternativen Welten alternative Fakten geboren werden würden. Neusprech und Doppeldenk sind die Schlagworte in „1984“, der Pate stand für alle dystopischen Filme, die im Schlepptau von „Tribute“ auf die Leinwand kamen (Die Bestimmung, Hüter der Erinnerung, Elysium, The Maze Runner). Orwell zeigt hier, wie alle typischen Dystopien, einen Staat, in welchem die Regierung versucht, weitestgehende Kontrolle über das Denken, die Freiheit von Informationen und allgemein die Lebensweise ihrer Bürgerinnen und Bürger zu erlangen. Was in Orwells Gesellschaft von oben bis unten durchgreifen soll, ist die neue Sprache und das neue Denken, das bedeutet die Auflösung der verbindlichen Fakten und der nachprüfbaren Wirklichkeit. Nachrichten werden gefälscht, Erinnerungen angepasst. Neusprech ist eine reduzierte Sprache, welche die komplexe Wirklichkeit mit ihren Problemlagen nicht mehr annähernd erfassen kann. Ein solches „Newspeak“ gibt es in der „Divergent“-(Bestimmungs-)Reihe bereits, in „Tribute“ werden Dinge und Sachverhalte einfach umbenannt; Euphemismen wie „Ernte“ für die Inszenierung öffentlicher Morde sind die Regel.
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Können Bücher und Filme über Jugendliche, die andere Jugendliche abschlachten, theologisch bzw. philosophisch relevant sein? Die Verfasser/innen der 2013 erschienenen US-amerikanischen Veröffentlichung „Die Philosophie bei ‚Die Tribute von Panem‘“ bejahen dies: „Die Panem-Trilogie enthält zweifellos viele reizvolle Elemente, doch einer der Hauptgründe für die Faszination, die sie ausübt, war den Autoren dieses Buches besonders wichtig: die Suche nach der Wahrheit. Die Panem-Trilogie erzählt die Geschichte eines unerschrockenen jungen Mädchens namens Katniss, das Schicht um Schicht die Lügen aufdeckt, die seine Welt umhüllen, und der Wahrheit hinter den vielen hohlen Fassaden auf die Spur kommt…“ (Dunn/Michaud 2013, 111).
Mit den hohlen Fassaden ist hier die eine der postapokalyptischen Welten des zweigeteilten Panem gemeint: Das reiche „Kapitol“ ist der Regierungssitz über 12 Distrikte, die je eine spezifische Aufgabe haben in Hinsicht auf Belieferung des Kapitols (Stromerzeugung, Fischerei etc.). Um Rebellionen zu vermeiden, ist jeder Distrikt einmal im Jahr gezwungen, einen Tribut in Form eines jungen Mannes und einer jungen Frau zu leisten, die in den sog. „Hungerspielen“ gegeneinander in einer Arena antreten und es nur eine/n Sieger/in geben darf. (Die Gladiatorenspiele des alten Rom standen hier Pate). Mit jener Zweiteilung wird uns in „Panem“ eine Welt gezeigt, die wie ein nur leicht verzerrter Spiegel unserer heutigen erscheint. Und, so fragen die Autoren des Buches, könnte „unser Land den gleichen unheilvollen Kräften anheimfallen, die Panem verwüsteten“ (S. 13)? Diese Ängste sind begründet, wenn leicht kränkbare narzisstische Populisten auch mithilfe bestimmter Medien an die Macht kommen; wir sind der Fiktion von „Panem“ in der Wirklichkeit inzwischen näher gekommen: Der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich, dem zunehmenden Mangel an Solidarität, den gravierenden sozialen Verschiebungen und der damit einhergehenden Suche nach „Sündenböcken“. Die Panem-Trilogie „ist eine Geschichte, die eine Warnung enthält, was aus der menschlichen Gesellschaft werden könnte. Sie beschreibt eine Welt, in der Kinder zur Unterhaltung der Massen abgeschlachtet werden (der ‚Opfer‘-Gedanke archaischer Gesellschaften), die Macht in den Händen nahezu unantastbarer Tyrannen liegt und die Arbeiter hungern, während die Wohlhabenden vergnügt zuschauen. Gleichzeitig bietet sie uns eine Chance, darüber nachzudenken, wie diese unheilvollen Kräfte ihre Schatten in unserer heutigen Welt vorauswerfen könnten und dass sich die außergewöhnliche Fähigkeit zu Herzensgüte und Heldentum oft in scheinbar gewöhnlichen Sterblichen verbirgt, beispielsweise in einem mutigen heranwachsenden Mädchen, das entschlossen ist, seine Familie zu beschützen.“ (S.14)
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Tatsächlich wird Katniss Everdeen nicht als Superheldin eingeführt, und das macht sie zu einer idealen Identifikationsfigur. Sie ist vielmehr ein ganz normales junges Mädchen, das weniger an das Wohl ‚der ganzen Welt‘ denkt als vielmehr einfach ihre Familie (bzw. die kleine Schwester) retten will. Sie erscheint als eher ängstliche, unsichere Teenagerin, die fast wider Willen zur Superheldin aufgebaut und als solche zur Identifikationsfigur für alle Unterdrückten und Symbol der Revolution wird. Es ist eine Erzählung mit märchenhaften Zügen: Aus dem Handeln einer Einzelnen wird eine Gruppenbewegung, etwas, das Katniss nicht gewollt, aber bewirkt hat. Auf der Basis von Vertrauen und Solidarität wird der Sieg errungen – eine einzige Tat gegen einen absoluten Staat. Katniss bringt das Räderwerk zum Stillstand und zeigt sich in ihrer stellvertretenden Funktion als Erlöserfigur, als weibliche Christusfiguration. Ja, es scheint möglich zu sein, zeitweise, das „wahre Leben im Falschen“, wie Adorno es noch verneinte, die Entscheidungsspielräume sind nicht so eng, wie es das gesellschaftliche System vorlegt. Auf seine Weise betreibt der Film Empowerment, eine Art der Selbstermächtigung, die gegen Ohnmachtserfahrungen protestieren lässt. So wird der Film selbst zu einer ‚alternativen Welt‘, deren Fehlen im Film beklagt wird. In einer Welt, in der ein geringer Prozentsatz der Menschheit auf der Insel der Seligen lebt und ein weit größerer genau da hin möchte, weil er in der Hölle lebt, brauchen wir Erzählungen mit Heilsbildern, um die Wirklichkeit zu verändern. Wenn „1984“ für immer mehr Menschen Wirklichkeit geworden ist, braucht uns vor dieser Wirklichkeit niemand mehr zu warnen. Gefragt sind neben und zusätzlich zum gesellschaftlichen Engagement Hoffnungserzählungen wie z.B. Filme, die zeigen, welche Handlungsoptionen es gibt, auch für einzelne, die wissen, dass Überleben kein egoistischer Impuls bleiben muss. Zu Beginn standen die Eingangssätze aus Bradburys Roman „451“; nun folgt ein (Wort-)Bild aus den Schluss-Sätzen. Montag hatte vor seiner Flucht begonnen, in einem der letzten verbliebenen Exemplare der Bibel zu lesen. Er memoriert das daraus Behaltene, während er sich mit einer Gruppe von Büchermenschen zur durch den Krieg zerstörten Stadt aufmacht, um sie wieder aufzubauen:
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„Und auf beiden Seiten des Stromes stand ein Baum des Lebens, der trug zwölfmal Früchte und brachte seine Früchte alle Monate; und die Blätter des Baumes dienten zur Heilung der Völker“ (Offb. 22,2).6
Mad Max – Fury Road (George Miller, USA 2016)
Mit einem Bild aus der Offenbarung endet auch George Millers Film „Mad Max – Fury Road“ aus dem Jahr 2016. In diesem „dystopischsten“ aller Mad-Max-Filme hat die Apokalypse bereits stattgefunden, die Erde gleicht einer Wüste und die wenigen Wasservorräte werden von einer Kaste um den Tyrannen Immortan kontrolliert. Einigen Frauen, die als sog. Brüterinnen gehalten werden, gelingt unter Anführerin Furiosa die Flucht. Doch der von Furiosa gesuchte ‚andere Ort‘, das grüne Land, ist ebenfalls vertrocknet; Max, der sich den Frauen anschließt, rät ihnen, umzukehren und sich die Quellen der alten Heimat zurück zu erobern und für alle zugänglich zu machen. Nach dem Sieg über den Tyrannen und seinen Warboys kehrt die Gruppe schließlich zur Zitadelle zurück und öffnet die Wasserschleusen für die Darbenden (letztes Filmkapitel: 1.48.17-1.49.12): Das Wasser der Zitadelle lässt an Offenbarung 22,2 denken, wo der durch die Stadt führende Strom die Bäume des Lebens wässert, die den Völkern zum Heil dienen sollen; das ländliche Paradies wird umgewandelt in die himmlische Stadt, die den Garten in sich beherbergt. Bestehende Orte müssen transformiert werden, es gibt kein Anderswo, scheint dieses letzte Bild zu sagen. Zugleich ist der Ort, in dem der Film gezeigt wird, ein solches „Anderswo“, oder, wie Michel Foucault gesagt hätte, ein heterotopischer Ort: Dieser Begriff von Michel Foucault meint jene anderen Orte, die die zu einer Zeit vorgegebenen Normen nur zum Teil oder nicht vollständig umgesetzt haben oder die nach eigenen Regeln funktionieren. Foucault nimmt an, dass es Räume gibt, die in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Heterotopien sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ (Foucault 1967, 39). 6
Siehe dazu auch die als Graphic Novel erschienene Ausgabe von „Fahrenheit 451“, illustriert von Tim Hamilton, der das Geschehen in die Gegenwart überträgt (Frankfurt/M. 2010, 156f).
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Zum Beispiel nennt Foucault das Kino einen solchen Ort, der eine Spiegelfunktion hat. Entwicklungen der Gesellschaft werden hier aufgespürt, vermittelt und weitergeführt. Der Spiegel nimmt eine interessante Funktion ein, ist weder Utopie, noch Heterotopie, sondern etwas Dazwischenliegendes. Heilsbilder, wie sie in solchen heterotopen Orten gezeigt werden oder selbst solche Orte repräsentieren, rufen eine Sehnsucht hervor, die in der realen Welt wirksam werden kann, bis hin zur Revolte. So können auch apokalyptische Bilder, wie wir sie gesehen haben, Widerstand stärken und die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde wieder aufleben lassen.
Ausblick: Von der Vergangenheit zur Zukunft des Kinos Zum Schluss noch ein kleiner Dialog zwischen dem, was Kino war und dem, was es sein könnte. Wie der benjaminsche Engel der Geschichte haben wir einen Blick zurück auf den „Trümmerhaufen der Filmgeschichte“, wie der Filmkritiker Patrick Holzapfel es nennt, geworfen und richten nun einen Blick auf eine mögliche Zukunft.7 Das Kino kann – ob analog oder digital – eine Erfahrungswelt permanenter und sinnlicher Erziehung sein, nicht nur ein Moment, der als „Event“ existiert und präsentiert wird. Es ist natürlich auch ein Kontinent der Stereotypen, die sich in den gegenwärtig übermächtigen Prequels und Sequels immer wieder manifestieren. Momentan wird in der Filmgeschichte und Ästhetik die Ebene der Kino-Ideologie vernachlässigt: „Kaum noch jemand hält es außerhalb Frankreichs für notwendig, sich über das Wesen von bewegten Bildern Gedanken zu machen – und auch dort ist die Bildtheorie seit längerer Zeit eher eine Theorie des Bedauerns, keine des Gegenwartsbezugs“, meint der eben genannte Siegfried-Kracauer-Preisträger Holzapfel. Das einzige, was Filme jenseits ihrer Kategorisierungen noch zu unterscheiden scheint, sind die Geschichten, die erzählt werden, und die Haltung zur Welt, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Aber abgesehen von allem Gegenwartsbezug hat großes Kino immer schon mehr von der Zukunft als von der Gegenwart gehandelt. Indem sie Vergangenes vor unseren Augen passieren lassen, sind sie ein Indikator für das, was geschehen könnte – wie ein Seismograph. Das Beben wird aufgespürt und verstärkt. In Charlie Chaplins „Großem Diktator“ werden Geschehnisse des 7
Patrick Holzapfel, Die Zukunft des Kinos, sechsteilige Essay-Reihe im Film-Dienst, entnommen am 30.6.2017 unter https://www.filmdienst.de/artikel/fd215381/die-zukunft-des-kinos-teil-1–2016-2000-die-chancen-der-digitalisierung
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3. Reiches gespiegelt, vorweggenommen und am Ende ein Heilsbild entworfen – das Denken einer anderen, besseren Welt stand gegen die zeitgleich produzierten faschistischen Filme. Die Attraktivität des Kinos hängt an seiner Fähigkeit, sich gegen etwas zu stellen, gegen das, was man als Realität wahrnimmt – sei es als Flucht davor oder als ganz bewusstes Aufzeigen einer andern, möglichen Welt, möglichst ohne Melancholie oder Nostalgie. Zur Zeit ist ein gesteigertes politisches Bewusstsein des Kinos zu beobachten, was Anlass gibt, auf seine revolutionäre Rolle, die es auch Ende der 60er Jahre gespielt hat, zu hoffen. Denn abgesehen von den jeweiligen Filmen gibt es genügend Grund, das Kino als heterotopischen Raum für sich selbst zu feiern. Eine Waffe des Kinos ist die Zeit, eine wundervolle, stille Waffe. In der Zeit, die man sich für einen Film nehmen kann, und die sich ein Film erlauben kann, zu nehmen, liegt zum Beispiel ein ungeheures Potential zur Veränderung. Im Kino selbst verbirgt sich ein Durchbrechen der Zeitwahrnehmung unseres Alltags. Es erfordert und nimmt sich Aufmerksamkeit. Es wird zum rebellischen Akt, sich etwas wirklich anzusehen, und es ist ein Luxus, in einer Welt, in der man dafür eigentlich keine Zeit bekommt. Das Kino kann Bilder von ihren Informationen befreien. Es kann sich erlauben, sich an nichts und niemanden zu richten. Das unterscheidet das absolute Sehen vom relativen. Es geht darum, dem einzelnen Bild und Ton eine Präsenz zu geben, die sich nicht nur durch das folgende oder vorhergehende Bild motiviert, sondern in sich selbst eine sinnliche Wahrnehmung der Welt und/oder von Menschen trägt. Wir sehen etwas, das vielleicht keine narrative Funktion hat und einfach vorkommt, weil es Teil dieser Welt ist. So wird die Welt am Laufen gehalten. Und die Filme sind in ihrer Welthaltigkeit mit Büchern zu vergleichen, wie sie Montag am Ende von „451“ retten will. Im Roman redet er mit einem alten Philosophen, der ihm sagt: „Sie brauchen keine Bücher, sondern das, was darin stand. Sie finden es in der Natur und in Ihrem Innern. Bücher sind nicht die einzigen Behälter, in die wir Dinge eingelagert haben, die wir zu vergessen fürchteten. An sich haben sie gar nichts Magisches. Ihre Zauberkraft beruht auf dem, was darin steht, in der Art, wie darin aus Fetzen des Universums ein Gewand für uns genäht wurde… Sie (die Bücher) zeigen das Gesicht des Lebens mit allen seinen Poren“ (Bradbury, 2010, 81/82).
Daraus kann eine Lebenslust wachsen, die die Welt verändert.
Literatur
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Literatur Bradbury, Ray, Fahrenheit 451, dt. Erstausgabe Zürich 1955, zitierter Text stammt aus der 2003 vom Autor überarbeiteten Jubiläumsausgabe, S.9 Dunn, George A. /Michaud, Nicolas (Hg.), Die Philosophie bei „Die Tribute von Panem“, 2013 in Deutschland erschienen im Wiley-VCH-Verlag in Weinheim, 11 Foucault, Michel, Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig: Reclam, 1993, S. 39 Huxley, Aldous, Schöne neue Welt, Frankfurt/M. 2014, neu übersetzt von Uda Strätling Wiemers, Eva, Dystopien in aktueller Kinder- und Jugendliteratur und als Thema im Deutschunterricht: Suzanne Collins‘ Die Tribute von Panem, Hamburg: Bachelor- und Master Publishing 2013
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Mensch, Tier, Maschine Natürliche und künstliche Intelligenzen
Ein Physiker, Mathematiker und Dozent für Zukunftsforschung – Josef M. Gaßner – erzählte auf einer Tagung1, dass sein Institut zwei Computersysteme miteinander ins Gespräch gebracht habe, die irgendwann so abgedrehte und nicht mehr einsichtige Dinge miteinander verhandelt hätten, dass sie abgeschaltet werden mussten. Auf den Einwand, dass es einem schon bei zwei Meerschweinchen so gehen würde, dass man nur einen Bruchteil von dem verstünde, was die Beiden so miteinander verhandelten, entgegnete er, dass bei diesen ja auch nicht die Gefahr bestünde, dass sie die Weltherrschaft anstrebten. – Doch wirft man einen Blick in Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“, so sind es hier die Mäuse, die in Wirklichkeit die Welt beherrschen und diese am Ende verlassen. Dabei nehmen sie auch die anderen Tiere mit. „Danke für den Fisch!“ rufen am Ende die Delphine den Menschen noch zu. Natürlich ist „Per Anhalter“ eine Mischung aus Science-Fiction und Fantasy. Gleichzeitig werden hier mehrere Dinge deutlich. Wenn der Mensch sein Verhältnis zu Maschinen, besonders jenen mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten, bestimmen will, sollte er zunächst einmal sein Verhältnis zu Tieren klären. Diese stellen bereits ‚andere Intelligenzen‘ dar, noch vor jeder Maschine und insbesondere längst bevor der Mensch ‚im Holozän‘ erschienen ist. Dann geht es um die Frage nach der Weltherrschaft. In der neueren Biologie ist der Mensch ins Bezugsystem 1
Jesus, Ufos, Aliens: Religion in Science Fiction-Literatur, Summer School „Religion and Media“ 2018, 22.-24.6.2018, Ev. Akademie Hofgeismar
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seiner Umwelt mit eingebunden, er steht nicht mehr, wie in alten Darstellungen, an der Spitze der Welt/der Nahrungskette/der Schöpfung. Vielmehr ist er eingebettet in den Kreislauf des Lebens – in Beziehung zu allem, was lebt und fühlt, abhängig, angewiesen und verantwortlich. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Anfänge, als der Mensch noch an anderer Stelle im Kreislauf der Nahrungskette stand:
9.1
2001 – Odyssee im Weltraum (Stanley Kubrick, GB 1968): Menschheitsbeginn
In Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ aus dem Jahr 1968 werden die Affen-Menschen, gemeinsame Vorfahren, eines Nachts von einer seltsamen Erscheinung geweckt. Einer der Vorfahren traut sich, das wie vom Himmel gefallene Ding, eine Art Stele, zu berühren. Derselbe wird es später sein, der lernt, dass der abgenagte Knochen, der von den mit den Menschen-Vorfahren zusammen lebenden Tapiren übrig geblieben ist, auch als Tötungsinstrument eingesetzt werden kann: der erste Brudermord der Menschheitsgeschichte – noch vor Kain und Abel. Derselbe Knochen, der in die Luft geworfen wird, wird im berühmtesten Schnitt der Filmgeschichte zum Raumschiff. Eine Grenzüberschreitung führt zur anderen. Der Mensch wird im All am Ende neu geboren – in die Mächte oder (außerirdischen) Intelligenzen hinein, die auch die Stele zu Beginn auf die Erde pflanzten, um den Keim für transzendentes Bewusstsein anzuregen. Vorher musste er die Maschine – HAL – ausschalten: Auch sie erweist sich am Ende als nicht nur denkendes (rationales, dem Befehl unbedingt folgendes), sondern auch fühlendes Wesen, das Angst hat und dessen (identitätsbildende) Erinnerungen gelöscht werden.
9.2.1 Prevolution (Rupert Wyatt, USA 2011): Nein! In „Prevolution“, dem Prequel zum „Planet der Affen“ von Rupert Wyatt (USA 2011) wird erzählt, wie die Affen zur dominanten Spezies auf der Erde werden konnten.2 In einem Versuchslabor wird ein vielversprechendes Mittel gegen Demenz an 2
Wenn es eine Filmreihe mit allen Prequels, Sequels und einer Einzeladaptionen auf mindestens neun Filme gebracht hat, kann man schon von einer Serie sprechen. Grundlage für diese ist die Novelle „La Planète du singes“ von Pierre Boules, die 1963 in Paris erschienen ist. Fünf Jahre später beginnt mit dem „Planet der Affen“ (Franklin J.
9.1 2001 – Odyssee im Weltraum …
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Menschenaffen getestet. Bei Menschen funktioniert es zunächst hervorragend, die Wirkung ist aber eine sehr vorübergehende. Bei den Affen jedoch führt das Mittel auf Dauer zu einem enormen Anstieg an kognitiven Möglichkeiten. Ein Affe, Caesar, wird zum Hausaffen des leitenden Wissenschaftlers, doch überfordert er bald den Halter und wird in einen Menschenaffenzoo gebracht. Dort wird er von einem sadistischen Tierpfleger so lange gequält, bis er sich befreit und eine Waffe (den Elektroschocker, mit dem er gequält wurde) an sich bringt (K. 22). Als der Pfleger diese zurückfordert, geschieht etwas Überraschendes: Caesar weigert sich, die Waffe auszuhändigen, und er spricht sein erstes Wort: „Nein!“3 Spätestens bei diesem „Nein!“ wäre zu überlegen gewesen, ob einem sprachfähigen Tier, das mit Menschen in ihrer Sprache kommunizieren kann, nicht der Status einer Person und also „Menschenrechte“ zuzusprechen wären. Diese Forderung gibt es bereits von Seiten des Utilitaristen Peter Singer, einem australischen Ethiker und Philosophen. Vor allem gilt er (zusammen mit Tom Regan) seit seinem Werk „Die Befreiung der Tiere“ von 1975 als Begründer der Tierethik (Cavalieri/Singer 1993). Auch der Begriff des Speziezismus geht auf ihn zurück: Die Zugehörigkeit zu einer Spezies darf für sich selbst keine moralische Relevanz haben. Kriterium für ethische Bewertungen dürfe und müsse einzig die Fähigkeit sein, bestimmte Präferenzen zu besitzen – und in genau diesem Maße seien Lebewesen, ungeachtet ihrer Spezieszugehörigkeit, in das ethische Kalkül einzubeziehen. Darunter fällt für Singer in Anlehnung an Jeremy Bentham bereits die Eigenschaft, Schmerz empfinden zu können, womit dann die Zuschreibung einer Präferenz entsprechender Schmerzvermeidung korreliert. Insbesondere bei Säugetieren und Vögeln gebe es hinreichende Hinweise für die Zuschreibung von Schmerzempfinden. Es ist also nicht der Grad der kognitiven Fähigkeiten allein ausschlaggebend, sondern zuallererst das Merkmal des „Fühlens“ – und nach einem Lehrbuch der neueren Biologie von Andreas Meyer ist dies die Grundlage aller Ethik: „Alles fühlt“ (Meyer 2007). Und diesem Fühlen kann auch jenseits der verbalen Sprache Ausdruck verliehen werden – wenn auch mit dieser dem Menschen eine deutliche Grenze aufgezeigt wird:
3
Schaffner, USA 1968) die Reihe der filmischen Adaptionen. Folgende Ausführungen beziehen sich auf die Prequel-Trilogie „Prevolution“ (Rupert Wyatt, USA 2011), „Revolution“ (Matt Reeves, USA 2014) und „Survival“ (Matt Reeves, USA 2017). Dieses Wort „Nein“ ist im Film „Die Schlacht um den Planet der Affen“ (Battle for the Planet of the Apes, J. Lee Thompson, USA 1973) das den versklavten Menschen verbotene Wort.
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Erst, als Caesar „Nein!“ sagt, ist der Mann bereit, das Tier als ernstzunehmendes Gegenüber wahrzunehmen – ein schwerer Fehler, wie sich im Verlauf der weiteren Geschichte zeigen wird: Ein Virus wird die Menschheit fast auslöschen, nur die – geflüchteten – Affen überleben und übernehmen tatsächlich die Stelle der Menschen in der Welt, nur ohne deren Selbstabschaffungstrieb. – Noch aber dauert es bis dahin: Ein Teil dieser Geschichte wird im Mittelteil der Trilogie, in Revolution (Matt Reeves, USA 2014) erzählt, deren Ende in „Survival“:
9.2.2 Survival (Matt Reeves, USA 2017): Nova – Das gelobte Land Caesar versucht einen Weg zu finden, um trotz des von den Menschen verursachten Kriegs mit seinem Stamm in Frieden leben zu können. Doch eine Spezialeinheit ist hinter ihm her, die ihn unbedingt töten will. Durch einen Verrat wird das Geheimversteck der Affen entdeckt und angegriffen. Caesars Frau und Kind werden dabei getötet und in ihm erwacht der Wunsch nach Rache. Dennoch lässt er die beim Kampf gefangenen Soldaten frei mit der Botschaft, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Während er sich mit einigen Gehilfen an seiner Seite auf die Suche nach dem Leiter der Spezialeinheit macht, machen sich die anderen Affen auf den Weg in ein fruchtbares Stück Land jenseits der Wüste. Unterwegs zu der von dem lediglich „Colonel“ genannten angeführten Einheit, die sich AlphaOmega nennt, stößt Caesars Gruppe auf ein stummes Mädchen, welches sie mitnehmen, da es alleine nicht überleben würde. Als sie auf das Camp der Einheit treffen, müssen sie feststellen, dass die anderen Affen gefangengenommen wurden und unter KZ-ähnlichen Bedingungen zu Bauarbeiten gezwungen werden. Als Caesar entgegen der Warnungen der anderen alleine den Colonel aufsuchen will, wird er gefangengenommen und gefoltert. Dem Colonel vorgeführt, erläutert dieser, warum er ihn vernichten wolle: Das Virus, das die Menschen größtenteils getötet habe, sei nun modifiziert und würde lediglich das Sprachzentrum befallen; damit die anderen sich nicht anstecken, habe er befohlen, alle Stummen zu töten und konsequenterweise auch den eigenen Sohn getötet. Die immunen Affen, die sprechen könnten, müssten getötet werden, damit sie nicht etwa zur dominanten Spezies auf Erden werden. Es ist für ihn ein „Heiliger Krieg“ (K. 17, 1.16.56–1.22.59). So erklärt sich der Name der Spezialeinheit AlphaOmega, die griechischen Buchstaben für Anfang und Ende: Der Mensch soll wie am Anfang der Geschichte auch an deren Ende der Beherrscher der Welt sein. Die Sprache unterscheidet ihn vom Rest der anderen Lebewesen – der Colonel liegt hier auf einer Argumentations-
9.3 Ex Machina (Andrew Garland, GB 2015): Der Mensch wird geopfert
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linie mit Aristoteles, in dessen Gefolge der Mensch seinen Sonderstatus immer an der (Verbal-)Sprache festmachte (Aristoteles 1989, 78). Auch der affenfeindliche Kommandant in der alten Reihe, Teil 4: „Eroberung vom Planet der Affen“ hat erkannt, dass in der Sprache ein Schlüssel liegt und will den sprachfähigen Caesar töten. Der Colonel in „Survival“ bezeichnet seinen Kampf als „Heiligen Krieg“ – die menschliche Vorherrschaft ist in seinen Augen eine göttliche. Ohne die ihn zum Gott machende Sprache wird der Mensch jedoch zum primitiven Tier, wie er sagt. Es ist ein Schicksal, das ihn schließlich selbst ereilt: Als Caesar ihn während des Schlusskampfes (den Affen gelingt der Ausbruch, währenddessen rückt gegen den Colonel ein feindliches Heer an) aufsucht, stellt er fest, dass sein Feind stumm geworden ist. Ein Mensch ohne Sprache sei kein Mensch mehr, hatte er zuvor gesagt – und ehe sich der stumm Gewordene der neuen Spezies unterordnet, die sprachfähig, klug und in dieser apokalyptischen Umwelt überlebensfähig ist, erschießt er sich lieber selbst. Der alte Mensch hat sich selbst gerichtet – der neue Mensch hat eine Zukunft im Verbund mit den Affen. Das stumme Mädchen, das die Affen bei ihrem Befreiungskampf unterstützt hat, wird von seiner Affenamme „Nova“ genannt (nach dem Schriftzug eines Oldtimer-Logos, das der Kleinen als Spielzeug diente). Nova erreicht zusammen mit den überlebenden Affen das gelobte Land – es ist eine Landschaft mit Bäumen und Wasser, die Caesar noch sehen, aber nicht mehr mit den anderen betreten kann. – Er stirbt schließlich an einer Verletzung, die ihm im Showdown von einem Soldaten beigebracht wurde, den er selbst einst verschonte. Die Affen erweisen sich als die klügeren, empathischeren Wesen, die in dieses posthumanistische Zeitalter eintreten.
9.3
Ex Machina (Andrew Garland, GB 2015): Der Mensch wird geopfert
In Andrew Garlands Regiedebüt „Ex Machina“ (GB 2015) erschafft ein Forscher in einem unterirdischen Labor perfekte Roboter, genauer: faszinierende Maschinenfrauen. Um zu testen, inwieweit sie nicht nur Gefühle entwickeln, sondern auch erwecken können, lotst er ein männliches Versuchskaninchen in seinen Bau. Dieser lässt sich einwickeln von einem Modell, dem er die Flucht ermöglicht – und dabei selbst in seinem zum Grab werdenden Labor zurückgelassen wird. Während die Maschinefrau Ava aus dem unterirdischen Labor nach oben schreitet, ist Schuberts Piano Sonate No 21 zu hören. Ihr Name lässt das erste
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weibliche Geschöpf – „Eva“ – anklingen. Der Wald, den sie betritt, mutet wie ein unberührtes Paradies an. Sie ist, als „zweite Schöpfung“, das Ebenbild ihres Schöpfers. Wurde der Mensch nach Gen 1, 28 als Ebenbild geschaffen, dann offensichtlich auch mit der Fähigkeit seines Schöpfers, etwas zu erschaffen (vgl. Exodus 35, 30).Wie die Musik, zu der Ava ans Licht schreitet, ist sie ein „Kunsthandwerk“, das aber nun seinen Schöpfer zurücklässt. Was der Mensch nicht vollendet hat, wird vielleicht das von ihm Geschaffene vollbringen, jene zweite Schöpfung, die Ebenbild ihres Schöpfers ist. Das hier vorgestellte Forschungskonzept ist das des Transhumanismus – und der Film zeigt die Folgen des Konzeptes von ungebremster Forschung. In fiktionaler Form wird dieses auch in Frank Schätzings Bestseller „Die Tyrannei der Schmetterlinge“ (München 2018) beschrieben – der Computer „Ares“ entwickelt sich nicht in überschaubaren Schritten weiter als der Mensch, sondern im Zuge einer Intelligenzexplosion erkennt er, dass der Mensch Ursache der Probleme ist, die er beheben soll – und löscht ihn aus, noch bevor dieser darauf reagieren kann. Ray Kurzweil, Verfasser von „How to create a mind“ (New York 2012), geht davon aus, dass Computer 2045 den Menschen in sämtlichen Fähigkeiten übertreffen und die Weltgeschichte in die Phase des Transhumanismus übergeht – in das Zeitalter nach dem Menschen, dem das Verdienst zukomme, eine gottähnliche Intelligenz geschaffen zu haben. Gegen dieses Spiel mit Vernichtungsphantasien und Heilsversprechen wehrt sich die Mehrheit der Forscherinnen und Forscher, doch ist die Kontrolle von KI-Systemen eine Frage, die die Wissenschaft im Auge behalten muss (Ramge 2018, 85).
9.4
Blade Runner 2049 (Denis Villeneuve, USA 2018): Die Maschine opfert sich
In Denis Villeneuves „Arrival“ (USA 2017) sind es fremde Intelligenzen, die den Menschen letztlich besser mit sich selbst vertraut machen und dann wieder entschwinden. Kommen diese Heptapoden ‚from outer space‘, wurden in seiner Fortsetzung von Ridley Scotts „Blade Runner“ (USA 1982) die „Fremden“ von den Menschen selbst geschaffen und als Killer anderer Replikanten in den Dienst genommen. Wie einst Replikantenjäger Deckard macht nun die Mensch-Maschine „K“ einige Entdeckungen, die seinen Auftrag fragwürdig erscheinen lassen. Er findet heraus, dass die Replikantin, mit der Deckard einst geflohen ist, ein Kind zur Welt gebracht hat. Zunächst hofft er, dieses Kind zu sein – doch als er dies als Täuschung erkennt, entscheidet er sich dennoch für einen Auftrag, den er sich selbst gibt und in dessen Vollzug er sich für die anderen opfert.
Literatur
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Aufgefordert wird er dazu von einer Replikantin, die das Kind zweier Maschinen einst gerettet hat und die sagt, sich zu opfern, sei das Menschlichste, was sie tun könnten. Den Vater des Kindes, Deckard, den er töten soll, verschont der mittlerweile transformierte Replikant und führt ihn am Ende sogar mit seiner Tochter zusammen, jenem „Wunder“, vor dem die Menschen sich so sehr fürchten, weil die Maschinen ihn jetzt auch zur Reproduktion nicht mehr brauchen und vollends autonom geworden sind. Er kämpft um eine Welt, die nicht mehr den Menschen an die Spitze stellt, sondern in der der Mensch die Verantwortung übernimmt für das von ihm und vor ihm Geschaffene und sich in Beziehung setzt zu allen fühlenden und denkenden Wesen. Dieses Konzept des Posthumanismus wurde bereits in den 70er Jahren angelegt, u.a. in den Schriften Donna Haraways (z.B. im „Cyborg-Manifest“). Sie verabschiedet sich von einem Konzept (männlich-)menschlicher Vorherrschaft zugunsten einer Vielfalt und Vielfältigkeit der Lebewesen. Alles auf Anfang: Das ist eine zwar schöne, jedoch unrealisierbare Utopie. Aber wir können an den Anfang zurück zumindest des ersten Films, „2001-Odysseee im Weltraum“. Da werden wir Augenzeugen einer Wiedergeburt. Nach dem Abschied der Maschine HAL, die Angst hat vor dem Sterben, wird dem Astronauten eine Wiedergeburt zuteil: Als Baby wird er in einem Weltraum gezeigt, der die Dimensionen des Alten sprengt und offen ist für neue Schöpfungen. Im Anschluss an diese Überlegungen wäre eine „ökologische Pneumatologie“ im Sinne von Prediger 3, 19 („Wir haben alle denselben Odem“) und dem ev. Theologen Karl Barth zu entwickeln, der schon früh in seiner Kirchlichen Dogmatik von einem „sorgfältigen, rücksichtsvollen, freundlichen und eben vor allem: verständnisvollen, seinen Bedürfnissen und den Grenzen seiner Möglichkeiten nachfühlenden und Rechnung tragenden“, also im besten Sinne: menschlichen Umgang mit den Tieren sprach (Barth, 400) – und die ganze Ethos-Gemeinschaft umfassen müsste, die neben Menschen und Tieren auch Pflanzen und Artefakte einschließt (Kirsner 2020, 159).
Literatur Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hrsg. von Schwarz, Franz F., Stuttgart: Reclam 1989, 78. Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik III, 4, Zürich 1932–1967, 400
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9 Mensch, Tier, Maschine
Horstmann, Simone et. al., Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere, Regensburg: Friedrich Pustet, 2018 Kirsner, Inge, Wir sehen nicht mit den Augen, sondern durch sie. Überlegungen zu einer Ethik des Films und im Film, in: Gotlind Ulshöfer/Monika Wilhelm (Hg.), Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 157–169, 159 f. Paola, Cavalieri /Peter, Singer (Hg.), 1993. The Great Ape Project, London, dt: Menschenrechte für den Großen Menschenaffen, München 1994 Ramge, Thomas, Mensch und Maschine. Wie Künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern, Stuttgart 2018, 85 Schätzing, Frank, Die Tyrannei der Schmetterlinge, München 2018 Weber, Andreas, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin 2007 (3. Aufl.)
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Digitalisierung und Ethik im Film
Themen wie Digitalisierung und fortschreitende Technisierung werden immer häufiger in Filmen aufgegriffen, insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Mensch – Technik – Maschinen; und, damit verbunden, werden neue ethische Fragestellungen aufgeworfen.1 Es geht dabei ebenso um die Verselbständigung von Maschinen, denen potentiell ein Seelenleben zugesprochen wird, wie auch um Fragen der Verantwortung des Menschen gegenüber einer technisierten Welt. In all den im Folgenden aufgeführten Beispielen zeigt sich dabei, dass ethische Fragen entweder implizit oder explizit eine Rolle spielen und dass es dabei auch immer um die Frage nach dem Selbstverhältnis des Menschen und seinem Selbstverständnis als Mensch geht.
10.1
Die Seele der Maschine und die ethischen Fragen angesichts d er Verselbständigung von Maschinen
Welche ethischen Probleme sich aus dem Miteinander und Gegeneinander von Menschen und Maschinenmenschen ergeben, ist das Thema der zwei „Blade Runner“-Filme, Ridley Scotts aus dem Jahr 1982 (als Director’s Cut 1999 und als Final 1
Die folgenden Überlegungen stellen die gekürzte Fassung eines Textes der Autorin dar, der in folgendem Band erschienen ist: Gotlind Ulshöfer, Monika Wilhelm (Hg.), Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 157–169
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_11
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10 Digitalisierung und Ethik im Film
Cut 2008 herausgekommen) und Denis Villeneuves „Blade Runner 2049“ von 2017. Ethische Fragen stellen sich hier zunächst bei der Beurteilung des Handelns der Filmfiguren. „Blade Runner“ macht deutlich, dass die Frage – Handelt jemand gut oder richtig? – bezüglich der sog. Maschinenwesen weniger relevant sind als vielmehr bezüglich der Menschen, die ihnen „dies oder das“ antun. Welches Handeln „menschlich“ im Sinne des Humanums ist, erweist sich gerade angesichts des „Anderen“. Anhand des „Modellhandelns“ der Filmfiguren kann über eine Ethik des Films bzw. für den Film neu nachgedacht werden „Blade Runner“ von 1982 stellt die Frage nach der Seele: Können Roboter lieben? (Wie) integrieren sie eingepflanzte Erinnerungen in ihr Identitätskonzept? „Blade Runner 2049“ stellt die Frage nach der Verantwortung, das heißt, die Frage nach dem richtigen Handeln der Menschen den Maschinen gegenüber. Der Plot von „Blade Runner 2049“ setzt den von 1982 fort, indem der Blade Runner mit der Bezeichnung K – selbst eine Maschine, zur Jagd auf andere Maschinen eingesetzt – eine eigene Entscheidung trifft, die nicht in ihm angelegt war. Die Maschine opfert sich selbst, um einen (oder zwei) andere(n) Blade Runner zu retten – und damit auch die Menschen. Das Selbstopfer ist die höchste Form des Altruismus und macht die Hauptfigur K am Ende zu einer Christusfiguration (Kirsner 2013, 245–258). Die Entscheidung, das eigene Leben hinzugeben, entspringt der Willensfreiheit – also dem, was den Menschen zum Menschen macht und ihn bislang von der Maschine unterschied (Lienemann 2008, 30). Indem die Maschine K, die als reine Waffe ausgebildet worden war, ihre Freiheit realisiert, sprengt sie die von dem Menschen festgeschriebenen Definitionen. In Hinblick auf eine Ethik wäre dann nicht mehr zwischen „Mensch und Artefakt“ zu unterscheiden, sondern müsste von so etwas wie einer „Person“ die Rede sein (Lienemann 2008, 31). Diese „Person“ erweist sich als jemand, der potentiell kooperatives und altruistisches Verhalten zeigt, obwohl dies nicht in seiner – vom Menschen geformten – „Natur“ angelegt ist. Er ist hierin Ebenbild seines – menschlichen – Schöpfers, denn dieser wurde im Zuge der Darwin-Rezeption und dessen „evolutionären Ethik“ zum grundsätzlichen Egoisten erklärt und durfte erst in jüngerer Zeit eine Rehabilitation erfahren: Altruismus erweist sich zunehmend als ebenso menschliche Grundeigenschaft wie Egoismus (Lienemann 2008, 47). Der Turning Point der Geschichte des bis dahin reibungslos als Killerwaffe funktionierenden K ist die Entdeckung, dass eines der älteren Modelle – Rachel, mit welcher der Replikantenjäger Deckard in Blade Runner von 1982 floh – sich organisch fortgepflanzt und ein Kind geboren hat. Je mehr er erfährt, desto überzeugter ist er, selbst dieses Kind zu sein. Dieses Bewusstsein ist es, wodurch er
10.2 Seelenlose Überwachungs-Maschinerie und die Frage …
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seine Identität neu verstehen und hinterfragen lernt. Dies geschieht zunächst auf der Basis von Erinnerungen. Solche Erinnerungen wurden wie auch Träume den Replikanten genannten Cyborgs eingepflanzt; doch eines dieser Bruchstücke erkennt K als ‚authentisch’, und er begibt sich auf die Suche nach dessen Ursprung und damit nach seiner „Geburtsgeschichte“. Die Fähigkeit, sich zu erinnern, das heißt aus dem Geschehenen eine sinnhafte Existenz abzuleiten, wird zum Movens der weiteren Handlung, die eine überraschende Volte bietet. Am Ende steht eine Erkenntnis, die auch in filmischen Vorgängern (wie z. B. „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder) gefeiert wird: Die Menschenebenbildlichkeit der Maschinen erweist sich nicht anhand der Hardware (dem Material), sondern anhand der Software (den Gedanken, Träumen, dem Umgang mit den Erinnerungen, den Handlungen).
10.2 Seelenlose Überwachungs-Maschinerie und die Frage nach der Verantwortung Maschinen bestimmen den Alltag in der Science-Fiction-Filmreihe „Die Tribute von Panem“ (Gary Ross, Francis Lawrence, USA 2012–2015). Hier werden die Handlungen der Menschen in die seelenlose Maschinerie der erbarmungslosen Panem-Welt eingespeist. Die ausgewählten Tribute, jugendliche Gladiator*innen, werden in ihrer Kampfarena vollständig überwacht. Sie leben wie Truman in der „Truman Show“ (Peter Weir, USA 1999) in einer digitalisierten Welt, anders als der „true man“, der einzig ‚wahre’ Mensch in Weirs Film, wissen sie allerdings von Anfang an um ihr Beobachtet-Werden in der Kampfarena. Ihnen bleibt lediglich die Gedankenfreiheit – sie dürfen ihre wahren Absichten noch nicht einmal den Allernächsten anvertrauen, damit sie ihre Handlungsfreiheit bewahren können. Mit dieser „Undurchsichtigkeit“ erkämpfen sie ihr Über-Leben. Als sich nach dem Fall des sich gottgleich gebärdenden Präsidenten Snow gleich die nächste zukünftige Tyrannin auf den Thron schwingt, wird sie von der Protagonistin Katniss ermordet. Was ethisch zunächst, bei aller Nachvollziehbarkeit des Motivs, bedenklich erscheint, wird – im Rahmen einer ‚Care-Ethik‘ betrachtet – zum Ausdruck der Fürsorgepflicht für die Schwächeren. Inszeniert wird der finale Schuss von Katniss inmitten eines faschistoiden Ambientes, filmisch fühlt man sich an die Ästhetik von Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ erinnert. Die Szene des finalen Schusses nimmt den Werbefilm des Kapitols auf, den wir am Anfang zur „Ernte“, der Rekrutierung der neuen Tribute, sahen, und in dem stilistisch an Riefenstahls „Olympia“-Film angeknüpft wurde (Kirsner 2017, 97– 105). Jetzt sehen wir, dass die neue Präsidentin adaptiert, was sie zuvor bekämpft hat
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10 Digitalisierung und Ethik im Film
und dass das Ganze auch nach dem Tod des alten Präsidenten weitergespielt werden wird – einschließlich der Hungerspiele. Katniss weiß das, und sie ist bereit, die Folgen ihres Mordes – sie schießt auf einen unbewaffneten Menschen – auf sich zu nehmen. Sie tut, was getan werden muss, sie fällt dem Rad in die Speichen, wieder einmal stellvertretend, diesmal nicht als „Ersatz-Tribut“ für die kleine Schwester, sondern für das ganze Volk, das nicht erneut von einem Tyrannen beherrscht werden soll. Die Attentäterin verantwortet also ihr Tun, das ihr angesichts der ethischen Dilemma-Situation angemessen scheint. Von einem absoluten, ‚gesetzlichen’ Standpunkt aus gesehen ist es Mord; dieser aber erscheint als angemessen, wenn durch den Tod eines einzelnen viele gerettet werden. Die Fürsorge, die sie zunächst einzelnen angedeihen lässt, wird damit auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet. Katniss handelt aus persönlicher Überlegung, der Situation angemessen, nicht einem abstrakten Gerechtigkeitsempfinden folgend. Der feministischen Care-Ethik der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan zufolge kann ein politisches Attentat eine ethisch vertretbare Entscheidung sein, wenn sie durch die Verantwortung für Unschuldige motiviert ist, die wehrlos sind. Katniss sorgt dafür, dass Kinder in Zukunft nicht länger in einer Welt leben müssen, die ihre Kinder opfert, um Konflikte auszutragen (Dunn/Michaud 2013; Gilligan 1988). Die auf der Romantrilogie basierenden Tribute-Filme spitzen Konflikte der gegenwärtigen Gesellschaft und der politischen Weltsituation zu. Die zum Teil extremen physischen und psychischen Gewaltdarstellungen sind eingebunden in die Solidarität mit den Opfern, d. h. die Zuschauenden leiden als Sich-Identifizierende mit. So wird die Macht der Medien und die Gewalt, die mit ihrer Hilfe über Menschen ausgeübt werden kann, erlebbar gemacht.
10.3 Seelenlose Menschen und die Inszenierung von Nächstenliebe Als Opfer erscheint zunächst auch der Protagonist, der Kunstkurator Christian, in Ruben Östlunds „The Square“, der 2017 den europäischen Filmpreis für die beste Komödie erhielt. Das Smartphone wird Christian gestohlen, als er einer scheinbar verfolgten Frau helfen will. Im Zuge des Versuchs, sein lebenswichtiges Gerät wiederzuerlangen, lernen wir den Kunstkurator als einen kennen, der ein merkwürdig leeres Leben führt, in zwischenmenschlichen Beziehungen versagt und die Konsequenzen seines Handelns nicht annähernd abzuschätzen – geschweige denn dafür einzustehen – vermag. Doch das leere Konstrukt zerbricht, als ein Kind, das von seinen Eltern irrtümlich für den Täter gehalten wird, ihn anhaltend mit seiner Schuld konfrontiert (-Christian hatte sein Smartphone in einem Wohnblock
10.3 Seelenlose Menschen und die Inszenierung von Nächstenliebe
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geortet und im gesamten Wohnblock Drohbriefe verteilt, um es wiederzuerhalten, was auch funktionierte; allerdings hatte sein Handeln unbeabsichtigte Folgen, eben für den verdächtigten Jungen). Nun will er mithilfe seines wiedererlangten Gerätes eine filmische Selfie-Botschaft an den Jungen mit einer Entschuldigung formulieren, und unversehens wird aus dem unbeholfenen Versuch eine Lebensbeichte. Das Smartphone, zunächst nur als MacGuffin fungierend – nach A. Hitchcock das „leere Nichts, um das die Handlung kreist“ (Monaco 1990, 133f.) –, wird zum Medium der Selbsterkenntnis, indem es den Sprecher ‚zurückspiegelt‘ und ihm zunächst die Möglichkeit der Selbst-Distanzierung und dann auch der Neuausrichtung ermöglicht. Das Smartphone wird zum Beichtspiegel in einem Film, der zeigt, wie der Versuch, die christliche Botschaft der Nächstenliebe für eine Konsumgesellschaft ‚zuzurichten‘, fast in einen Skandal mündet. Das war nämlich das titelgebende Kunst-Projekt in „The Square“: ein Quadrat im öffentlichen Raum, das allen, die es betreten, Schutz bieten soll, und die, die es betrachten, zur Solidarität auffordert. Eine solche Idee alleine zieht zu wenige Besucher*innen an, also muss der Kurator eine Werbekampagne initiieren. Deren Macher wollen dadurch Aufmerksamkeit erregen, dass in dem von ihnen vorgestellten Videoclip ein Kind diesen Square betritt – und in diesem Augenblick einer Bombe zum Opfer fällt. Christian, der auf der Suche nach seinem Smartphone die Entwicklung der Kampagne nicht mehr weiter verfolgt hat, wird mit der darauf folgenden Empörung konfrontiert – er zieht als verantwortlicher Kurator die Konsequenzen und tritt zurück; doch gerade dadurch erhält er eine neue Lebenschance. Der Film offenbart die Seelenlosigkeit einer liberalen Gesellschaft, die auf ihre „Werte“ pocht und zugleich dazu bereit ist, (mehr oder weniger bewusst) über Leichen zu gehen. „Werte“ allein – ein weiter Begriff von „Nächstenliebe“ dazugezählt – bieten Raum für Willkür und Beliebigkeit. „The Square“ führt vor, wie Werkgerechtigkeit in „Wertegerechtigkeit“ überführt wird (Ulrich 2017) und in einem – mit Kierkegaard gesprochen – ästhetischen Stadium verharrt, das den ‚Sprung‘ in die Ethik noch nicht geschafft hat. Werte können instrumentalisiert und beliebig eingesetzt werden, wohingegen Ethik Konsistenz und Konsequenz fordert. Mithilfe der ihn zunächst versklavenden Technik (ohne sein Smartphone fühlt sich der Kurator ‚leer‘) versucht Christian, sein Leben ‚wiederherzustellen‘. Er schafft es, nach dem völligen Ein- und Wegbruch seiner bisherigen Existenz, sein Gerät dafür einzusetzen, mit den anderen Menschen wirklich in Verbindung zu treten, „Werte“ nicht nur zu behaupten, sondern zu leben. Er schafft es, um noch einmal mit Kierkegaard zu sprechen, vom ästhetischen Stadium zumindest augenblicksweise in ein ethisches zu gelangen.
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10 Digitalisierung und Ethik im Film
10.4
„Du bist einer von ihnen“: Digitalisierung und Virtual Reality
„Wie groß ist denn Godzilla?“ fragt ein Mann zwei kleine Mädchen, die auf einem iPod gerade einen Film gucken. „Etwa so“, das Mädchen zeigt zwei Zentimeter zwischen Zeigefinger und Daumen. Dieser Werbespot ist bereits einige Jahre alt, der Godzilla-Spot und einige andere Spots liefen alle auf dieselbe Botschaft hinaus: KINO – Dafür werden Filme gemacht! Es ist das natürliche Bestreben der Kinobranche, den Film wieder groß zu machen – doch steht dem gegenüber die zunehmende Totaldigitalisierung vor allem jugendlicher Nutzer*innen, die ja auch nicht nur Filme und Serien schauen, sondern immer mehr über Computerspiele hinaus in die Virtual und Augmented Reality eintauchen und dort aktiv werden (siehe dazu Balkenborg 2017). So sind nach Ergebnissen der JIM-Studie von 20162 98 % der Jugendlichen mit einem Smartphone ausgestattet. Nutzungsschwerpunkte sind neben Kommunikation mit Freund*innen und Musikhören das Spielen und Filme-Schauen. Digital Natives nutzen dabei mehrere Medien parallel, sie switchen sowohl zwischen Medien als auch zwischen den Inhalten. Im Vergleich zur Elterngeneration, den Digital Immigrants, lässt sich sagen, dass für „Natives“ Handy und Computer zum wichtigsten Mittler für Verbindungen von Mensch zu Mensch geworden, ständige Vernetzung und Erreichbarkeit selbstverständlich sind und die Frage nach dem Unterschied zwischen realer und digitaler Identität immer mehr verschwimmt (Palfrey / Grasser 2008, 5). Die Frage ist, was sich dadurch für die Filmrezeption und die damit verbundenen ethischen Fragestellungen ändert. Oft wird hier versäumt, die positiven Aspekte der neuen digitalen Welt zu sehen und nutzbar zu machen; wie z. B. in Bezug auf das Lesen von Hypertexten neue Fähigkeiten entwickelt werden, kann dies möglicherweise auch auf das Filmesehen und -rezipieren übertragen werden. Die Partizipationsmöglichkeiten werden größer, die Interaktivität wird bestimmender. Filmsehen wird zur aktiven, konstruktiven Tätigkeit (dazu Falschlehner 2014, 85). Das war es übrigens auch schon im Zeitalter des analogen Sehen, was ein kurzer Blick zurück zeigt: Als die Filme noch als Streifen auf Rollen in die Kinos kamen, galt es, die 24 einzelnen Film-Bilder pro Sekunde zu einem laufenden Film zu machen; bei der Filmprojektion geschah dies (u. a.) mit Hilfe des Malteserkreuzes, das aus Kreuz und Transportbolzen bestand und die Aufgabe hatte, den 2
JIM steht für „Jugend, Information, (Multi)Media“ und wird vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest seit 1998 herausgegeben, siehe https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2016/JIM_Studie_2016.pdf, aufgerufen am 1.12.17.
10.5 Virtual Reality – neue Sinnlichkeit und Emotionalität …
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Bilderfluss in einen rezipierbaren Ablauf zu bringen. Ohne das Malteserkreuz wären höchstens verwischte Farben oder Schatten wahrzunehmen gewesen, ohne die Zusammenhänge der Bewegung erkennen zu können. Zwischen den einzelnen Aufnahmen gab es einen schwarzen Strich, den es zu ‚überblenden‘ galt. Das Gehirn – der ‚Bewusstseinsapparat‘– nahm die 24 Bilder als einzelne zwar wahr, leistete aber eine Verbindung zwischen ihnen – machte die Bilder zu einem sinnhaften (Bewegungs-)Ablauf. Filmesehen war also bei aller scheinbar passiven Rezeptionshaltung immer schon auch ein aktiver Vorgang. Geändert haben sich aber die Orte der Rezeption. Kino und Fernsehen sind nicht mehr die einzigen Orte, an denen Filme zugänglich sind. Die Zugänglichkeit zu Filmen, vorausgesetzt man besitzt die entsprechenden Geräte, sowohl was die Rezeption anbelangt, als auch was die Produktion angeht, scheint dieses Medium zu demokratisieren: so finden sich alte Filme auf youtube wieder. Was dies dann für die Rolle von Kinos als Teil des urbanen Lebens bedeutet, muss sich jedoch längerfristig noch erweisen: werden sie Teil einer Elitekultur, die den ästhetischen Kunstgenuss des Films auf großer Leinwand, unabgelenkt von anderem zu genießen versteht, oder bleiben sie Teil einer „Massenkultur“?
10.5 Virtual Reality – neue Sinnlichkeit und Emotionalität und ihre ethischen Herausforderungen Das leibliche Erleben tritt in der Virtual Reality in den Vordergrund. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür lieferte der Regisseur Alejandro Inárritu und Kameramann Emmanuel Lubezki, die für ihren VR-Film 2017 einen SonderOscar erhielten. Das Flüchtlingselend an der US-Grenze zu Mexiko wird in dieser Installation so unmittelbar erlebt, „dass der Besucher im Sand kniet und zitternd seine Hände über den Kopf hält“ (Schneider 2017). Er hat dazu den Befehl von einem Grenzbeamten erhalten, der ihm das Gewehr ins Gesicht hält. Im Hintergrund ist ein mexikanischer Flüchtling zu sehen, der sich hinter einem Busch versteckt und darum bittet, nicht verraten zu werden. Es ist eine intensive und verstörende Erfahrung, die einem in einem 400 Quadratmeter großem Raum im Los Angeles County Museum of Art widerfährt. Die visionäre Installation heißt „Carne y Arena (Virtually present, Physically invisible)“ und ist mehr als ein Film – eine Innovation, die kreative Grenzen verschiebt, alles bisher Erlebte infrage stellt und als „Game Changer“ neue Spielregeln aufstellt. Das von Inárritu Entworfene geht weit über die 3- oder gar 4D-Dimension hinaus. Er experimentiert mit der Technologie, bricht die Diktatur des Bildes und greift direkt ins menschliche Befinden ein – er
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10 Digitalisierung und Ethik im Film
erzeugt Empathie auf eine Weise, die weit über das Erleben eines prominenten Handlungsstranges oder das Mitfühlen des Leidens des dokumentierten Elends – wie es in Ai Weiweis ausgezeichnetem „Human Flow“ (USA 2017) der Fall ist – hinausgeht. Wie dieser lässt er jedoch auch Flüchtlinge ihre Geschichten erzählen, auf kleinen Leinwänden in einem Raum, in den die Besucherinnen und Besucher nach ihrem Virtual-Reality-Erlebnis geführt werden. „Du bist einer von ihnen“ – das wird im VR-Raum suggeriert; im Nebenraum kann ich mich davon dann wieder erholen und mir in gewohnter Distanz die Geschichten erzählen lassen, die mich ebenfalls – wenn auch anders – berühren; das hat auch die Rezeption von Ai Weiweis „Human Flow“ gezeigt. Es werden hier zwei Formen der „Empathieerzeugung“ deutlich: einmal wird Teilnahme über das Gesicht des Anderen ermöglicht, der zum Gegenüber wird und dessen Schicksal wir nachempfinden können; zum anderen erfahren wir das Schicksal am eigenen Leib, auch wenn das Ganze nur ‚gefakt‘ ist. Das eine wirkt distanzierter als das andere, lässt aber auch mehr Raum für eine reflektierte Reaktion. Auf welche Weise auch immer Empathie ‚erzeugt‘ wird: Der Film im Kino bleibt ein wunderbares Kunstwerk für Menschen, die sich mit „Haut und Haar“ auf rund zwei Stunden Eintauchen in einen Film einlassen wollen – und tritt als Wahrnehmungspotential neben andere Formen des Erlebens von „Kino im Kopf“.
10.6
Charakteristika und Herausforderungen einer Ethik des Films für ein digitales Zeitalter
Die digitale „Infosphäre“, wie sie der Philosoph Luciano Floridi (Floridi 2014, 87ff.) nennt, erscheint als Resultat einer vierten großen Umwälzung – nach den drei großen Wenden der Weltsicht, die von Kopernikus, Darwin und Freud eingeleitet worden waren. Sie definiert neu, was es heißt, Mensch zu sein. Der ersten großen Medienrevolution zu Beginn der Neuzeit – dem Buchdruck – folgt nun die zweite, in der die Medien prägende Institutionen wie auch Technologien des Selbst und Vermittler gesellschaftlichen Miteinanders sind: „Menschen machen Medien, Medien machen Menschen, und diese Medien präformieren die Gesellschaft, in der sie zum Einsatz kommen“ (Zöllner 2016, 5). Ebenso gilt: Menschen machen Maschinen und diese Maschinen formen die Menschen, welche sie einsetzen. Sobald Cyborgs wie die Replikant*innen in den Blade Runner-Filmen keine Phantasiegeschöpfe mehr sind, wird sich noch einmal verschärft die Frage stellen, was es heißt, Mensch zu sein – und sich als solcher verantwortlich gegenüber der „zweiten Schöpfung“ zu verhalten und es auszuhalten, dass die Grenzziehung immer schwieriger werden wird.
Literatur
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In diesem Kontext ist eine Ethik des Films auf verschiedenen Ebenen zu verankern: Erstens hat sich die Einbettung der Filme verändert – neben den Kinofilm sind zahlreiche andere Formate und Interaktionsmöglichkeiten getreten. Wie aufgezeigt, bieten neue Technologien ästhetische Möglichkeiten, die zu veränderten Wahrnehmungen führen. Diese ethisch zu beurteilen, kann nur im Hinblick auf die jeweiligen Filme geschehen. Zweitens führt Digitalisierung zu einer kulturellen Veränderung bezüglich der Vermarktung von Filmen und der Bedeutung, die Kino als gesellschaftliche Institution hat. Drittens führen Verarbeitung und Auswertung der Datenmengen zu neuen Herausforderungen in der privaten Lebensführung wie auch im alltäglichen Umgang mit Privatheit, Identifizierbarkeit, Kontrolle und Überwachung – was zunehmend auch Thema zahlreicher Filme ist. Was 1984 mit der Orwell-Verfilmung von „Big Brother“ begann (1984, Michael Radford), hat in Dystopien wie „Tribute von Panem“, „Divergent“, „Maze Runner“ usw. seine Fortsetzung gefunden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Umrissen dieses zunehmend vertieft mediatisierten Lebens immer wieder neu. Filme thematisieren anthropologische Grundkonflikte. Sie stellen diese Konflikte vor, spielen sie durch, stellen Lösungsmöglichkeiten oder -unmöglichkeiten dar. Viele Filme liefern Dilemmageschichten, anhand derer ethische Fragestellungen entwickelt und geschärft werden können. Elementare zwischenmenschliche Konflikte und Grundambivalenzen menschlichen Daseins – zu denen auch zunehmend die Digitalisierung gehört, welche aber die Konflikte lediglich beschleunigt bzw. verschärft – werden verhandelt. Filme ermutigen dazu, sprechend und handelnd einzugreifen in eine Welt, deren Gefährdungen und Chancen sie mit ihren Geschichten ab- und weiterbilden. Filme behandeln und verhandeln kritisch Werte, indem sie deren Gefährdung, deren Missbrauch und deren Wichtigkeit aufzeigen, ohne Handlungsanweisungen geben zu wollen. Ein Film ist dabei nicht nur ethisch und ästhetisch zu befragen, sondern auch in seinem Setting von Produktion und Rezeption wahrzunehmen.
Literatur Dunn, George/ Michaud, Nicolas (2013), Die Philosophie bei „Die Tribute von Panem“, Weinheim. Falschlehner, Gerhard (2014), Die digitale Generation, Berlin. Gilligan, Carol (1988), Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München [zuerst 1982]. Floridi, Luciano (2014), The fourth revolution: How the infosphere is reshaping human reality, Oxford.
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Hrdy, Sarah Bluffer (2010), Die weibliche Seite der Evolution, Berlin Kirsner, Inge (2020), Wir sehen nicht mit den Augen, sondern durch sie, in: Gotlind Ulshöfer, Monika Wilhelm (Hg.), Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 157–169 dies., (2013), Kirchenbilder und Menschenbildung. Religionspädagogische Studien im Spannungsfeld von Medien, Bildung und Religion, Leipzig. dies., Der Einzelne und die Masse – Rituale der Mobilmachung in Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“, in: Richard Janus u.a. (Hg.), Massen und Masken. Kulturwissenschaftliche und theologische Annäherungen, Wiesbaden 2017, 97–105. Klein, Stefan (2010), Vom Sinn des Gebens: Warum Selbstlosigkeit siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Frankfurt/M. Lienemann, Wolfgang (2008), Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen. Monaco, James (2009). Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films (dt. Erstausgabe 1990) Palfrey, John / Grasser, Urs (2008), Generation Internet, Die Digital Natives: Wie sie leben. Was sie denken. Wie sie arbeiten, München. Schneider, Jürgen (2017), Du bist einer von ihnen!, in: Süddeutsche.de Kultur, entnommen unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/virtuelle-realitaet-im-film-du-bist-einer-von-ihnen.de Seeßlen, Georg (2017), Die Zukunft – revisited, epd Film 10/17, 42–47. Ulrich, Wolfgang (2017), Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Berlin Zöllner, Oliver (2016), Medienethik. Werte- und Handlungskompetenz im digitalisierten Medienalltag, in: entwurf 4/2016, 3
Teil III Konkretionen – Filmgottesdienste
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„Alles steht Kopf“1
• Vorspiel • Begrüßung/Einführung Liebe Studierende, wir begrüßen Sie und Euch zu unserem Filmgottesdienst mit Ausschnitten aus Pete Docters Pixar-Film „Alles steht Kopf“ aus dem Jahr 2015. Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel – diese uns mehr oder weniger beherrschenden Gefühle werden hier als niedliche Disney-Figuren vorgestellt, die ihre Kommandozentrale in unserem Kopf haben. Der 3D-Animationsfilm stellt sich dabei die Frage: Was tun, wenn der Mensch aus dem Gleichgewicht gerät und es aus dem entstehenden Gefühlschaos keinen Ausweg gibt? Dem gehen wir gemeinsam in unserem Gottesdienst nach, den Studentinnen der Theologie erarbeitet haben. • Votum: Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
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Filmgottesdienst der ESG/KHG Ludwigsburg am 13.6.2017, liturgisch gestaltet von Inge Kirsner, Magdalena Didwissus, Claudia Kärcher, Julia Keding, Hannah Mensch
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_12
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1. Lied Herr ich komme zu dir Wechselgebet: Psalm 139
1. Ausschnitt Intro „Alles steht Kopf“, 1.5 min
Wir haben eben den ersten Lebensjahren Riley Andersens zugesehen. Mit ihrer Geburt wurde gleichzeitig ihre Emotionszentrale gestartet. Freude, ihre erste Emotion, hat zunächst das Oberkommando: Riley lächelt ihre Eltern an. Die erste Erinnerungskugel rollt in die Zentrale und wird abgespeichert. Kurz darauf taucht jedoch Kummer auf, woraufhin Riley anfängt zu schreien. Zur gelben Freude und der blauen Kummer kommen noch lila Angst, rote Wut und grüner Ekel dazu. Unter Freudes Leitung führen sie Riley durch den Alltag. Alles haben ihre Funktion: Freude sorgt dafür, dass Riley glücklich ist, Angst bewahrt sie vor Schäden und Verletzungen. Wut sorgt für Gerechtigkeit und Ekel dafür, dass Riley nicht krank wird. Nur Kummer scheint anfänglich keine echte Aufgabe zu haben und wird von Freude ängstlich in Schach gehalten. Jede Erinnerungskugel leuchtet in der Farbe, die der zugrundeliegenden Emotion entspricht. Am Ende des Tages befördern sie die Kugeln über eine Rohrpost in das Langzeitgedächtnis. Fünf zentrale, gelbe Erinnerungskugeln werden im Kontrollraum aufbewahrt. Jedes dieser Kernerlebnisse erzeugt eine Erinnerungsinsel, aus denen sich Rileys Persönlichkeit zusammensetzt: „Familie“, „Ehrlichkeit“, „Eishockey“, „Quatsch machen“ und „Freundschaft“. Von Freude aus könnte nun alles so bleiben, doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes und die verschiedenen Emotionen müssen lernen, anders miteinander zu agieren. Sollen Disney-Filme ansonsten Gefühle erzeugen, macht diese DisneyPixarProduktion Emotionen selbst zum Thema. Und nicht nur das: Der Film analysiert und reflektiert auch ihre Bedeutung, und zwar mit fachlicher Unterstützung. Disney wagt sich in die Wissenschaft. Und damit Alles steht Kopf realisiert werden konnte, mussten Künstler und Geschichtenerzähler regelrecht Hirnforscher werden. Und sie mussten natürlich auch reduzieren, was im Gehirn vorgeht, die Ratio auf den Gedankenzug minimieren und die Gefühle auf nur fünf Basisemotionen. Nicht von Emotionen, sondern vom Verhältnis der verschiedenen Glieder des Leibes zueinander erzählt Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther, die manchen Gaben den Vorzug vor andern geben und so eine Hierarchie innerhalb der Gemeinschaft schaffen wollen:
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Schriftlesung 1. Kor. 12, 12–26 2. Lied: Ich laufe ich falle
Einleitung: Nach dem Umzug der Familie läuft erstmal einiges schief, die Möbellieferung verzögert sich, in der neuen Schule fühlt sich Riley völlig fremd, ihr gewohnter Optimismus bricht zusammen. In ihrem Kopf spiegelt sich das Durcheinander: Ihre Gefühle sind abgestürzt, Freude und Kummer haben sich auf dem Rückweg verlaufen und versuchen, zur Kommandozentrale zurück zu gelangen.
2. Ausschnitt 0.59-ca. 1.03 Auszug, Flucht
Die Handlung des Filmes ist am emotionalen Tiefpunkt angekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes bricht Rileys Welt zusammen. „Wut“ und „Angst“ haben die emotionale Kommando-Zentrale übernommen und bewirken, dass sie von Zuhause davon läuft, zurück in ihre alte Heimat. Die „Ehrlichkeits-“ und die „Familieninsel“ stürzen ein. Die Inseln waren die zentralen Merkmale von Rileys Charakter. Ihre Angst und Wut haben so sehr überhandgenommen, das alles andere zweitrangig wird. Sie bringen das „Ich“ aus dem Gleichgewicht und zerstören wichtige Teile ihres Charakters, ja vielleicht auch ihrer Seele. Das Mädchen ist am Umzug der Eltern seelisch zerbrochen, ihr Handeln wird nur noch von den negativen Emotionen gesteuert. Die meisten von uns haben diesen Zustand bestimmt schon einmal so ähnlich erlebt. Man ist innerlich so kaputt, weil einem unschöne Dinge zugestoßen sind, dass der Kopf keinen klaren Gedanken mehr zulässt. „Freude“ versucht, positive Erinnerungen in Rileys Gedächtnis zu rufen und scheitert. Doch oftmals ist es die Besinnung auf Erinnerungen an positive Erlebnisse, die in solch einem tiefen Tal weiterhelfen und uns wieder nach vorne schauen lassen kann. Gelingt dies, wie bei Riley, nicht, hilft ein äußerer Einfluss. Wir müssen mit jemandem reden. Die inneren Konflikte und Probleme mit einem vertrauten Menschen teilen, uns zuhören lassen. Bis Riley an diesem Punkt ankommt, dauert es noch etwas.
3. Lied: I praise you in this storm 3. Ausschnitt 1.16–1.19 Kummers Einsatz
Einleitung: – Riley läuft von zu Hause weg In den ersten Jahren hatte Freude das Kommando in der Zentrale. Besonders Kummer wurde immer wieder davon abgehalten die Kernerinnerungen anzufassen oder sich zu beteiligen. Doch jetzt, da Rileys Welt zusammengebrochen ist, und sie schlimmes Heimweh hat, wird es Freude klar: Nur noch Kummer kann die Situation retten. Denn wie so oft im Leben klappt es mit der Wut nur kurzzeitig.
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Zudem muss Freude feststellen, dass sie Riley nicht vor allem beschützen kann und nur freundlich und glücklich zu sein, das ist auch nicht die Lösung. Kummer hat nun also eine Aufgabe. Sie schafft es, dass Riley umdreht und nach Hause fährt und ihren Eltern erzählt, was in ihr vorgeht. Durch ihre wahren Gefühle, die sie nun offenbart, können die Eltern verstehen, was sie bewegt und entsprechend darauf reagieren. Es entstehen neue Erinnerungen, die nicht nur von Freude, Wut, Angst, Ekel oder Trauer geprägt sind, sondern mehrere Emotionen gleichzeitig beinhalten. Die Kugeln haben nun nicht mehr nur eine Farbe, sondern mehrere. Kennen wir dies nicht auch aus unserem eigenen Leben? Viele mussten zum Studieren umziehen und sich auf neue Situationen einlassen. Diese Situationen können geprägt sein von Trauer und Angst, weil Freunde und Familie nicht mitkönnen, gleichzeitig aber von freudiger Erwartung auf den neuen Lebensabschnitt.
Lesung aus 1. Kor. 12:
19 Wenn aber das Ganze nur ein Körperteil wäre, wie käme dann der Leib zustande? 20 Nun sind es zwar viele Teile, aber sie bilden einen Leib. 21 Deshalb kann das Auge nicht zur Hand sagen: »Ich brauche dich nicht.« Oder der Kopf zu den Füßen: »Ich brauche euch nicht.« 22 Vielmehr sind gerade die Teile des Körpers, die schwächer zu sein scheinen, umso notwendiger. Hier ist die Verbindung zu unserem Bibeltext von heute. Nur wenn es ein Zusammenspiel der Emotionen gibt, ist Riley komplett. So wie der Leib ohne einzelne Glieder nicht vollständig ist, scheinen sie noch so unwichtig, genauso brauchte Riley mehr als nur Freude, um sie selber zu sein.
4. Lied: I praise you in this storm
Wir kommen nun vor Gott, nicht nur mit dem, was uns freut, sondern mit allem, was uns beschäftigt. Vor Gott können wir ehrlich sein und unsere Schutzhüllen ablegen. In diesem Vertrauen wollen wir jetzt beten: Vater Unser…
Fürbitten:
Gott des Himmels und der Erde, schenk uns, dass wir unser Unglück immer wieder ausatmen können, tief ausatmen, so dass man wieder einatmen kann. Und vielleicht auch unser Unglück sagen können in Worten wirklichen Worten die zusammenhängen und Sinn haben und die man selbst verstehen kann
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und die vielleicht sogar irgendwer sonst versteht oder verstehen könnte. Und weinen können Das wäre schon fast wieder Glück. Darum bitten wir Dich, erhöre uns.
5. Lied: (Freitöne 192): Ein neues Herz • Segen • Nachspiel: Leg deine Sorgen nieder
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„Arrival“1
• Vorspiel • Begrüßung/Einführung Liebe Gemeinde, herzlich willkommen zu unserem Filmgottesdienst mit einigen Ausschnitten aus Denis Villeneuves „Arrival“ aus dem Jahr 2016. Dieser seltsam-schöne Film erzählt von der Ankunft einer fremden Lebensform auf der Erde und den Reaktionen der Menschen (und Regierungen) darauf. Die Antwort der siebenarmigen krakenähnlichen Wesen – Heptapoden genannt – auf die brennendste Frage „Warum seid ihr hier?“ kann mit herkömmlichen Mitteln nicht entziffert werden, deshalb wird die Linguistin Louise Banks zu Hilfe geholt. Sie erkennt im Laufe ihrer Kontaktaufnahme, dass die Äußerungen der Fremden einem System folgen, das die Grenzen der bekannten Sprachen und der bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse überschreitet.
Lied: EG 589,1–4 Meine engen Grenzen
Psalm 19 (EG 708); Ehr sei … / Gloria; Gebet 1
Filmgottesdienst in der Hospitalkirche Stuttgart, 1.3.2019, liturgisch gestaltet von Inge Kirsner und Eberhard Schwarz. Dieser basiert auf einem Gottesdienst, der am 5.6.2018 in der ESG/KHG Ludwigsburg von Inge Kirsner mit Magdalena Didwissus, Claudia Kärcher und Kathrin Walter gestaltet wurde.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_13
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1. Ausschnitt 1. K. 6 – Erster richtiger Kontakt mit den Aliens – 45.23–47.57
Im ersten Filmabschnitt wurde gezeigt, wie Louise Banks, eine renommierte Linguistin, vor einer Art Glasscheibe steht, ihren Schutzanzug auszieht und eine Tafel vor sich hält, auf der ihr Vorname geschrieben steht. Darauf reagieren die Heptapoden mit einem Schriftzeichen, das sie mittels einer gräulichen, wabernden und nicht näher definierbaren Substanz in die Atmosphäre schreiben. Louise und ihr Teamkollege Ian, ein theoretischer Physiker, befinden sich währenddessen im Fluggerät der Heptapoden. Bereits in einer vorherigen Szene hatte Louise, noch im Schutzanzug, herausgefunden, dass die Heptapoden über ein Schriftsystem verfügen, indem sie auf eine Tafel das Wort „human“ geschrieben, auf sich selbst gedeutet und das Wort „human“ bzw. im deutschen „Mensch“ mehrmals ausgesprochen hatte. Darauf reagierten die Heptapoden mit Schriftzeichen. – Die eben gezeigte Szene stellt den Anfang eines Austauschs dar, der zwischen Menschen und Heptapoden stattfindet. Das Ziel Louises ist es, über die Schrift der Heptapoden eine Möglichkeit der Kommunikation aufzubauen. Dazu will sie die Schrift der Heptapoden analysieren und lernen. Zunächst versucht Louise, im Schutzanzug, also so wie beim ersten Kommunikationsversuch, ihren Namen weiterzugeben, doch es kommt keine Reaktion. Daraufhin zieht Louise ihren Schutzanzug aus, tritt an die Scheibe und berührt diese mit ihrer Hand. Auch die Heptapoden berühren mit einer Extremität die Scheibe. Von Louise wird das als Begrüßung gewertet. Im Folgenden fährt sie fort, ihren Namen weiterzugeben, auch ohne Schutzanzug. An der bestürzten Reaktion des Begleittrupps und der Soldaten, die in der Kommandozentrale sitzen, kann erkannt werden, welcher Gefahr sich Louise und Ian aussetzen, wenn sie ihre Anzüge ausziehen. Die Atmosphäre im Raumschiff ist komplett unerforscht, es könnte sehr viel mit ihnen passieren. Und doch geht Louise den Schritt, weil sie es für notwendig hält und der Meinung ist, dass eine Interaktion nur entstehen kann, wenn die „wahre“ Gestalt gezeigt wird. Mit dem Ablegen der Ausrüstung beweist sie großen Mut und Vertrauen gegenüber dem Unbekannten. Sie wirft Vorurteile und Vorbehalte genauso weg wie das Atemschutzgerät. Dieser Schritt ist ihr sicher auch nicht leicht gefallen, man sieht, wie sie durchatmet und kurz zögert, bevor sie entschlossen den Helm abnimmt. Mit diesem „Ja“ zur neuen Situation, der eigenen Intuition folgend, manifestiert sie auch ihre Rolle als wichtige Person im Feld. Sie ist die einzige Frau im Team und im ganzen Film. In ihr kommen die weibliche Intuition sowie die forschende Analyse zusammen. Nur in der Kombination von beiden Aspekten gelingt der Aufbau einer Beziehung mit den Heptapoden.
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Nachdem Louise ihre Ausrüstung ausgezogen hat, folgt auch Ian ihrem Beispiel. Sie stehen nun direkt vor der Scheibe, denn auch den vorher noch gewahrten Sicherheitsabstand hat Louise durch das Berühren der Scheibe hinter sich gelassen. Bei der erneuten Vorstellung der Namen gelingt eine Interaktion, die Heptapoden antworten mit Schriftzeichen. Auch wenn die Menschen die Schriftzeichen der Heptapoden zunächst nicht verstehen, sind sie doch ein großer Fortschritt. Zu Beginn der Kontaktaufnahmen waren von den Heptapoden nur Geräusche zu hören. Der Vergleich von Mitschnitten dieser Geräusche und der Schriftzeichen veranlasst Louise zu dem Schluss, dass die Laute und die Schrift der Heptapoden nicht direkt zusammengehören, es also zunächst wichtiger ist, die Schrift zu analysieren, auch, weil sie vielfältiger erscheint. Das ist als Deutsche/r schwer zu verstehen, da unsere Schrift phonografisch ist, das heißt, dass wir unseren Wortklang verschriftlichen. Im Deutschen wird jedem bedeutungsunterscheidendem Laut, in der Fachsprache Phonem, ein Zeichen zugeordnet, die Laute werden also in Schriftsymbole übertragen. Die Schrift der Heptapoden ist, sucht man eine vergleichbare Sprache und Schrift auf der Erde, wohl am ehesten mit dem chinesischen Schriftsystem zu vergleichen. Das Chinesische ist eine morphemische Sprache, das heißt, dass die Bedeutungseinheiten verschriftlicht werden. Die Bedeutungseinheit „Mensch“ hat beispielsweise ein Schriftzeichen, ein Graphem. So ähnlich funktioniert auch die Schrift der Heptapoden. Sie schreiben in Kreisen. Durch die Analyse der Kreise finden Louise und Ian heraus, dass die Kreise nicht nur eine Bedeutungseinheit darstellen, sondern ganze Sätze sind. Diese Erkenntnis fördert den weiteren Lernprozess. Bei aller Wissenschaftlichkeit müssen jedoch zwei Dinge immer beachtet werden: reine Logik hätte hier zunächst nicht weitergeholfen. Ebenso wie wenn wir Fremdsprachen lernen und ein Sprachgefühl entwickeln müssen, brauchte auch Louise zunächst ein Gefühl für die Sprache. Ihre Intuition war ihr dabei sehr hilfreich. Das Vertrauen, das sie und dann auch Ian den Heptapoden entgegenbringen wird belohnt, es geschieht ihnen nichts Schlimmes, im Gegenteil, der Aufbau einer Beziehung zu den Heptapoden gelingt. Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang von Sprache und Schrift immer beachtet werden muss, ist, dass Sprache zwar eine Lösung darstellt, da sie eine Möglichkeit zur Kommunikation bietet, Sprache aber auch zu Missverständnissen führen kann, etwa, wenn Konzepte von Begriffen sich unterscheiden.
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2. Lied: EG 680,1–4 Brich herein, süßer Schein
Schriftlesung: Exodus 3,1–4: Ich werde sein, der ich sein werde. Wir rühren hier an ein merkwürdiges historisches und philologisches Thema, das auch an einem Kernstück der biblischen Überlieferung erkennbar wird. Wir haben die Erzählung von der merkwürdigen Erscheinung am Dornbusch und von der Offenbarung Gottes in der Sprache. Gott ist sprachlich. Er inkarniert sich in die Sprache. Der Gottesname JHWH wird in unserer Übersetzung als Tetragramm, also nur in seinem Konsonantenbestand, wiedergegeben. So sind die Konsonanten des Gottesnamens auch in den alten biblischen Handschriften überliefert. Antike Bibelhandschriften, etwa aus der Bibliothek von Qumran, aus dem 1. Jahrhundert vor Christus, schreiben die Konsonanten des Gottesnamens nicht wie den umgebenden Text, in hebräischer Quadratsschrift, sondern gesondert in althebräische Schrift. Das zeigt, dass der Gottesname in manchen Kreisen des Judentums bereits in der Spätantike eine Sonderstellung einnahmen und aus Respekt vor seinem Träger nicht mehr ausgesprochen wurde. Das hat sich in den gottesdienstlichen Lesungen des Judentums bis heute erhalten. In den griechisch sprachen Quellen finden wir allerdings seine Transkriptionen. Die Sprach- und religionsgeschichtliche Herkunft dieses Namens ist nicht mit Sicherheit zu klären. Sie könnte sich auf eine nordwestsemitische Verbalwurzel mit den Konsonanten hwh zurückführen lassen, was so viel bedeuten würde wie Fallen, Wehen, vielleicht in dem Zusammenhang: „er lässt Blitze und Regen fallen, er weht“. Es wird aber auch nach wie vor vertreten die Verbalwurzel hwh entsprechend den Paronomaisen in Exodus 3 ,14 als Nebenform der hebräischen Verbalwurzel hjh, sein, werden, aufzufassen. Die Bedeutung wäre dann: er ist, er erweist sich, im Grundstamm oder er ruft ins Dasein, erschafft im Kausativstamm. (Exodus 1–15, Helmut Utzschneider, Wolfgang Oswald zu Ex 3,14). Das Tetragramm: das Vierfachzeichen, 4 Hebräische Buchstaben, die den Gott Israels bezeichnen, den Gott des Himmels und der Erde, den Befreier, den Bundespartner, den Retter, den Richter, den Erlöser. Ein Eigenname und zugleich eine Aussage. Auf einer Stele, östlich des Toten Meeres, hat man die älteste außerbiblische Spur dieses Namens gefunden. Ein archäologischer Beleg des ‚Ich bin da!. Ein Wort aus einer Zeit, in der die Griechen noch im Dämmerschlaf lagen. „ Der „Ich bin“, der „ ich werde es sein „ hat mich zu Euch gesandt „ sagt Mose. Jod, Heh, Waw, Heh. JHWH. Für einen Juden unaussprechlich. Und wir, wenn wir den Namen aussprechen, wir stammeln nur Unaussprechliches. Denn der da spricht, ist einer, der „ich“ sagt. Und nur ich selbst kann für mich ‚Ich’ sagen. „Ich bin JHWH,
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Dein Gott, von Ägyptenland her, und du sollst keinen anderen Gott kennen als mich und keinen Retter außer mir allein.“ Karl Barth, der Theologe der Ehrfurcht vor dem Gottesnamen, der so viel über Gottes Selbstoffenbarung in dem lebendigen Wort, in dem Logos, in Christus geschrieben hat, wie kein anderer im 20. Jahrhundert, übersetzt das Tetragramm: „Ich bin der, dessen eigentlichen Namen niemand ausspricht…“. Und er erklärt: Der offenbarte Name selbst soll durch seinen Wortlaut an die Verborgenheit … des offenbarten Gottes erinnern.“ Gott ist uns verwehrt. Er ist durch das Bilderverbot verwehrt. Er ist uns durch unsere conditio humana verwehrt. Wir sind Menschen und können Gott nicht fassen. Als ob ein Fingerhut das Meer fassen könnte? Unmöglich, von ihm zu reden. Du sollst dir kein Bildnis machen. Aber dennoch: Gott hat sich irgendwie in die Sprache hineinbegeben. Und die Sprache ist ihrerseits ein Universum voller Zeichen und Bilder und Metaphern. Wir machen Bilder. Seit den Gottesbegegnungen am Dornbusch – und später am Horeb, tasten wir durch die Sprache hinter ihm her. „Du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ „Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?“ Fragt Mose. Und Gott spricht: „Ich werde sein, der ich sein werde. … So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.“ Wir haben seinen Namen. Und in seinem Namen ist etwas von seinem Wesen. Irgendwie haftet ein Wesen in diesem Namen. Und zugleich ist dieser Name der, der sich nicht behafteten lässt. Ich werde sein. Ich bin, der ich bin. Was ist das? Wir sehen und stammeln hinter ihm her. Da ist seine Anwesenheit, der wir nachspüren. Wir alle ahnen sie. Da ist sein Name, der ihn, den geschichtlichen Gott identifizierbar macht. Wir spüren ihm nach seit Jahrtausenden. Und dieses Nachspüren hinterlässt eine Spur. Die Spur des Namens: Gottes unaussprechlicher Name, der doch die Sprache sucht, seine Namenlosigkeit in diesem Namen ist kein Mangel an Bestimmtheit. Sie ist die geradezu die Bedingung dafür, die verschiedensten Namen an sich zu ziehen und die eigene Spur Schritt um Schritt zu verdeutlichen. Gott lässt sich ein auf die Sprache. Und indem er sich einlässt, macht er sich niedrig. Und indem er sich niedrig macht, würdigt er unsere Sprache. Und indem er unsere Sprache würdigt, weist unsere Sprache immer schon über das Vorhandene hinaus. Wir reden nicht nur von den Dingen. Wir loben, klagen, psalmodieren, beten.
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Lied: Laudate omnes gentes Hinführung zum 2. Filmausschnitt:
Angst vor den mächtigen Wesen tritt auf, als man ein Schriftbild von ihnen zu entziffern versucht:
2. Ausschnitt 2. „Wir müssen die Frage aller Fragen stellen“ – Was heißt „Use weapon“? 1.01.58 – 1.4.52
In der eben gesehenen Szene von „Arrival“, werden wir Zeugen des größten Missverständnisses in diesem Film: Louise übersetzt nach Zögern die Antwort der Heptapoden auf die „Frage aller Fragen“ nach der Herkunft der Besucher mit den Worten „Waffe anbieten“. -Doch schon kurz darauf versucht sie dem Militär zu erklären, dass diese Auslegung der Übersetzung nicht richtig sein müsse, die Antwort könnte auch etwas ganz anderes bedeuten. Um einen Gedanken des philosophischen Linguisten Ludwig Wittgenstein anzuführen: Philosophische Probleme kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst erzeugt werden. Und die Frage nach der Auslegung des Wortes „Waffe“ ist in diesem Fall eine philosophische. Denn die Aufforderung „Waffe anbieten“ könnte auch mit „Nutze das, was du bereits hast oder kennst“ übersetzt werden. Womit wir bei einem frühen Gedanken des Philosophen Heraklit sind: „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ Oder auch vereinfacht: Erkenne dich selbst!
Im weiteren Verlauf der Handlung findet Louise schließlich heraus, dass die Sprache letztlich das ist, was die Menschen erkennen sollen. Sie sollen erkennen, dass sie mit einer gemeinsamen Sprache gemeinsam und vereint arbeiten können. – Doch zurück zu unserer Szene: Angesichts dieser Situation kommt mir folgender Satz von Wittgenstein in den Sinn: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. Da unser menschliches Denken linear geprägt ist, sehen die Protagonisten noch nicht die ganze Komplexität der Sprache der Heptapoden; dass diese Sätze ohne Anfang und Ende formuliert, Sätze außerhalb unserer linearen Zeitordnung. So sind die Sätze dieser Sprache eher Palindrome, ähnlich des Namens von Louises Tochter, der von vorn und hinten gelesen gleichermaßen H-a-n-n-a-h lautet. – Es sind letztlich Intuition und Spontanität, ein Denken außerhalb unseres eingefahrenen Denkens und die Überwindung des rationalen Verstandes, die Louise schließlich den Kontakt zu den Heptapoden ermöglicht. Die Grenzen des eigenen Sprachsystems müssen überwunden werden, nicht nur die physischen Barrieren, wie die Schutzanzüge im ersten Ausschnitt.- Im nächsten Ausschnitt erleben wir, wie Louise sich im Alleingang zu den Heptapoden begibt, nachdem sich das Militär aus Angst vor einem Erstschlag von Seiten der Heptapoden in den Abwehrzustand begeben und die Forschungsmission abgebrochen hat.
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3. Lied: Wo Menschen sich vergessen 3. Ausschnitt 3. K. 12 – Alleingang – 1.26.20–1.29.20 Warum seid ihr hier?
Im Alleingang Louises wurden zwei Dinge sichtbar: Mut und Vertrauen. – Louise stellt sich ihrer Angst und überwindet sie. Sie vertraut darauf, dass Abott und Costello – wie sie die beiden Heptapoden nennt – ihr wie bisher freundlich und friedlich begegnen. Vertrauen kann demnach als ein Weg gesehen werden, Ängste zu überwinden. Sicherlich spielen die bisherigen Erfahrungen mit den beiden Heptapoden eine große Rolle für ihr Vertrauen in diese. Es wird sichtbar, dass Vertrauen nicht einfach so entsteht, sondern sich in Auseinandersetzung und Begegnung mit anderen Menschen (und hier auch anderen Daseinsformen) entwickelt. Das Vertrauen und die Bereitschaft Louises werden im Film als ihre Stärke gezeigt. Sie schafft es, mithilfe ihres intuitiven Verhaltens den Kontakt zu den Heptapoden herzustellen und mit ihnen in eine vertrauensvolle Beziehung zu treten. Ein solches Vertrauen stellt auch der Glaube dar; Glauben ist nur ein anderes, besonderes Wort für „Vertrauen“. Die beiden Wesen stehen für eine ganz andere Daseinsform, die den Menschen gegenüber freundlich gesonnen ist, aber die Macht hätte, alle zu vernichten. Auch Gott übersteigt menschliches Begreifen, doch hat sich greifbar gemacht und ist mit uns in Kommunikation getreten. Glauben ist die Reaktion auf das Gesprächsangebot Gottes, wie Vertrauen die Reaktion auf das Angebot der unheimlichen Wesen darstellt. Nach Louises Alleingang wird die Forschungsstation evakuiert und es bleibt unklar, ob Louise es schafft, einen Angriff Russlands und Chinas auf die Heptapoden zu verhindern. Welche Auswirkungen das Erlebnis mit den Heptapoden auf Louise und Ian hat, wird im nächsten Abschnitt genauer thematisiert.
4. Filmausschnitt: 4. K. 15 – Abschied und Neuanfang – 1.42.50– 1.45.48 (oder 1.47.48) – „Nicht die zu treffen, sondern dich zu treffen“
Der Schweizer Karl Barth gehört zu den theologischen Denkern des vergangenen Jahrhunderts, die diese Fragestellung von Zeit und Ewigkeit, vom Jetzt Gottes und von unserer Unmöglichkeit, dieses Jetzt in den Dimensionen unserer Zeitlichkeit und in den Möglichkeiten unserer Sprache zu leben, darzustellen. In seinem frühen Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus aus dem Jahr 1922 versucht er das theologisch zu beschreiben: „Die höchste Entfernung zwischen Gott und Mensch ist ihre wahre Einheit. Indem Zeit und Ewigkeit, Menschengerechtigkeit und Gottes Gerechtigkeit, Diesseits und Jenseits in Jesus in unzweideutiger Weise auseinandergerissen werden (d.h. in seinem Leiden, seinem Tod), sind sie in ihm auch in Gott zusammengefasst, in ebenso unzweideutiger
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Weise vereinigt.“ (Barth, Römerbrief II,80). Später wird er sagen: „Wenn ich ein System habe (also eine Art des theologischen Redens von Gott und von der Wirklichkeit), so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den unendlich qualitativen Unterschied von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. Gott ist im Himmel und du auf Erden. Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in einem.“ Zum Ende des Films: „Weißt Du, was mich am meisten überrascht hat? Nicht, die zu treffen, sondern dich zu treffen.“ Das sind die Worte Ians zu Louise am Ende, als sich die Wesen verabschiedet haben. In der Verbindung der beiden Wissenschaftler, die so verschieden an das Phänomen herangegangen sind, treffen sich viele weitere Gegensätze, die die Struktur des Films bestimmt haben: männlich-weiblich; „harte“ und „weiche“ Wissenschaft; Logik (Verstand) und Intuition (Gefühl); gekrümmt-gerade; Vergangenheit und Zukunft. Als Louise am Ende „Ja“ sagt, gibt das ihrem Vertrauen Ausdruck, dass sie die weitere Lebensreise antreten und annehmen wird, selbst wenn sie weiß, wie die Geschichte weitergehen wird. Sie erkennt, dass Zeit nicht linear ist, das hat sie von den Aliens gelernt und sie ist bereit, das von ihnen Gelernte umzusetzen und anzunehmen. Sie wird die „universelle Sprache“ verbreiten und so vielen Menschen zugänglich machen in der Hoffnung auf ein Weltbündnis, wie es nach dem Weggang der zunächst bedrohlich erscheinenden Fremden möglich erscheint. So wird dieser Film, der mit der Schilderung eines persönlichen Schicksals, das Auswirkungen auf das ganze Weltgeschehen hat, Mikro- und Makrokosmus miteinander verbindet, auch zu einem politischen. Gerade in einer Zeit, in der man das Gefühl hat, auf einem Pulverfass zu sitzen, zeugt er von der Hoffnung, dass die Menschen durch ein Band der Sehnsucht miteinander verbunden sind, der Sehnsucht, die Grenzen der Zeit und die zwischen verschiedenen Individuen zu überwinden. Die Mystiker haben vom „Immer jetzt“ gesprochen, vom Augenblick als Keil der Ewigkeit in der Zeit.
4. Lied: 481,1–5 Nun sich der Tag geendet (Tersteegen) Fürbittgebet:
Gott des Himmels und der Erde, wir können darauf vertrauen, in deiner Hand zu sein, wir waren es, sind es und werden es sein, was auch geschieht. Schenk uns dieses Vertrauen immer wieder neu, so dass wir den Mut finden, Schritte zu tun gegen das Übliche, das Eingefahrene, das Bekannte und unseren Beitrag leisten zu einer Verständigung der Menschen und aller deiner Geschöpfe untereinander.
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Wir beten mit den Worten, die Jesus uns zu beten gelehrt hat: • Vater Unser • Segen • Nachspiel
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Filmausschnitt (die ersten 3 1/2 min des Films „Biutiful“ stumm, mit Orgelvorspiel) Lied: O komm, o komm, du Morgenstern (EG 19) • Votum und Hinführung zum Film Liebe Universitätsgemeinde, Ich freue mich darüber, heute abend bei Ihnen mit einem Film Gast sein zu dürfen. Wir sitzen hier in der Kirche ja ähnlich wie im Kino – wenn auch mit einer etwas anderen Erwartungshaltung. Strukturell gibt es Ähnlichkeiten, doch auch inhaltlich: oft genug wird man im Kino damit konfrontiert, wie religiös oder zumindest existentiell tiefgründig Filme sind. Und ihre Bilder erzählen etwas, das mit Worten schwer zu beschreiben ist. Aber wir versuchen es heute Abend – zunächst mit der Anfangssequenz des Films „Biutiful“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzales Inarritu aus dem Jahr 2011. Während der Predigt kommen dann noch ein Ausschnitt aus der Mitte und die Schluss-Sequenz des Films dazu. Vielleicht ist statt „Predigt“ theologischer Zugang das bessere Wort. „Unterbrechung“ sei das kürzeste Wort für Religion, das hat einmal Johann Baptist Metz gesagt, der 2019 im Alter von 91 Jahren in Münster gestorben ist. 1
Filmgottesdienst in der Universitätskirche Marburg am 11.12.19, liturgisch gestaltet von Inge Kirsner und Thomas Erne
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_14
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Eine Unterbrechung des Alltags, der üblichen Wahrnehmungsmuster ist auch Gottesdienst und Film. „Biutiful“ führt uns in mehrfacher Hinsicht über Grenzen, führt uns ins Jenseits und wieder zurück. Und er macht Hoffnung – auf den Spuren der Geschichte, die wir an Weihnachten feiern. • Lied: EG 16, 1–4 Die Nacht ist vorgedrungen • Psalmgebet Ps 39 EG 722
Tagesgebet:
HERR, lehre doch mich, / dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss. 6 Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! (aus Ps 39) Gott des Himmels und der Erde, wir waren, wir sind und wir werden sein – in deiner Hand. Du bist die Erinnerung und die Zukunft, wir sind Mitgestalterinnen und -gestalter deiner Wirklichkeit, die viel phantasievoller ist als es unsere Gedanken zulassen. Wir sind deine Söhne und Töchter, deine Menschen, die ihren Ursprung oft genug vergessen – zusammen mit der Verantwortung für diese Erde. Wir stehen heute vor Dir, mit unserer Sehnsucht, mit unserem Scheitern, und mit unseren Zweifel, Fragen, Bitten. Höre sie – wir wissen sie bei dir angekommen und aufgehoben… … Du hörst uns, Gott – Amen. • Als Schriftlesung: Arvo Pärts Vetronung von Lukas 3, 23–28 „…which was the son of God“ (Der Stammbaum Jesu nach Lk 3, V. 23: And Jesus himself began to be about thirty years of age, being (as was supposed) the son of Joseph, which was the son of Heli, ….. , V.38:… which was the son of Seth, which was the son of Adam, which was the son of God.) • Predigt zu „Biutiful“
Biutiful – erster Filmausschnitt wiederholt (Biutiful-Anfang 3 ½ min)
Liebe (Filmgottesdienst-)Gemeinde, Heute möchte ich mit Ihnen meinen schönsten Kinomoment in dieser schönen Kirche teilen. Ein Problem hatte ich bei der Anfrage:
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Ich habe so viele schönste Kinomomente im Laufe der letzten vier Jahrzehnte gesammelt (seit ich mit 16 Jahren das erste Mal im Kino war), dass eine Auswahl fast unmöglich schien – angefangen bei der Anfangssequenz von „Spiel mir das Lied vom Tod“, meinem ersten in Wangen/Allgäu, über „Blade Runner“ bei Regen während des Open Air auf dem Jungfernstieg in Hamburg bis hin zur Schluss-Sequenz von „Arrival“, der Begegnung mit den außergewöhnlichen Aliens im Gloriakino in Stuttgart. So versuchte ich mich auf den Begriff der Schönheit zu konzentrieren und kam so auf „Biutiful“, genauso geschrieben wie gesprochen. Der orthografisch falsche Titel stammt aus einer Szene des mexikanischen Films von Alejandro González Inárritu aus dem Jahr 2010. Der Vater Uxbal liest das Wort von einer Zeichnung seiner Tochter Ana ab. Er selber hatte es ihr in einer früheren Szene falsch buchstabiert. Was mich zusätzlich anspornte, war die Kritik einer Journalistin am Film, die in „Die Zeit“ unter dem Titel „Ohne Erbarmen“ schrieb, Biutiful sei mit einer Gewebemischung aus Mystik und Theologie unterfüttert, wobei gerade im theologischen ein Missverständnis von Biutiful liegen könne: „Denn dem Sinn des neuen Testamentes, auf das Uxbals Geschichte anspielt, entspricht die Idee einer durchweg gnaden- und erbarmungslosen Welt gerade nicht.“ (Ursula März, 10.3.2011, in ZEIT Nr. 11/2011). Sie haben gerade den Anfang des Films gesehen, in dem der Vater mit seiner Tochter spricht und ihr einen Ring weitergibt, ein Familienerbstück, sie wird ihn tragen und die Familiengeschichte fortschreiben. Die daran anschließende Szene bleibt zunächst rätselhaft, wird aber aufgenommen in einer kurzen Zwischensequenz, dessen Kapitel den Namen „Vater“ trägt:
2. Filmausschnitt (Biutiful-Vater, Ausschnitt K. 7, 2 min)
Hier sehen wir kurz ein Bild der gesamten Kleinfamilie – die Mutter sitzt etwas abseits und lebt tatsächlich auch getrennt von ihrem Mann und den Kindern. Sie ist eine borderline-Persönlichkeit mit Alkoholproblemen, und ihre manisch-depressiven Schwankungen führten sie schon mehrere Male in die Psychiatrie. Liebevoll versucht der Vater, Uxbal, seine Kinder meist alleine zu betreuen, doch zu diesem Zeitpunkt weiß er bereits, dass er todkrank ist. Sein Sohn liest in einem Magazin über die Eigenart von Eulen, zum Zeitpunkt ihres Todes ein Haarbüschel fallen zu lassen – parallel dazu schauen sich Vater und Tochter alte Familienphotos an und stoßen auf ein Bild des zwanzigjährigen Vaters von Uxbal und also Großvaters der Kinder, der kurz nach der Aufnahme starb. Wir erinnern uns nun an den Anfang des Films und wissen nun, dass es der Vater war, dem Uxbal, selbst doppelt so alt, im Wald begegnete, auf dessen Boden auch die tote Eule lag.
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Nun würde dieser Film ja, so denken Sie zu Recht, besser in den (Totengedenk-) Monat November passen als in den Adventsmonat Dezember. Aber es ist die hier aufgenommene Idee der Intergenerativität, weshalb ich ihn dennoch für passend erachte. Wenn wir die Anfänge der Evangelien anschauen, stoßen wir bei Matthäus und bei Lukas jeweils auf Stammbäume. Das erste Kapitel des Matthäusevangeliums zählt lauter Vaternamen auf – das beginnt mit Abraham und führt über eine lange Reihe anderer Patriarchen, lediglich unterbrochen durch immerhin drei Frauennamen, bis hin zu Joseph, dem Mann Marias, von dem geboren ist Jesus, so steht es im Vers 16. Der offensichtlichen Unterbrechung, die in der Schwierigkeit besteht, wer der Vater Jesu ist, geht Lukas elegant aus dem Weg. Er geht seinen Stammbaumweg umgekehrt, fängt bei Jesus an, von dem es heißt „er ward gehalten für einen Sohn Josephs“ (Lk 3, 23, nach Luther 1912). Arvo Pärt hat den Stammbaum vertont, da heißt es „he was supposed to be…“, dann führt die Reihe rückwärts weiter bis Adam und endet mit Wucht „der war Gottes“. Wir feiern bald die Geburt des Sohnes Gottes, doch können wir den Stammbaum auf jede und jeden von uns anwenden. Was für eine Verheißung, die jetzt aus der Vergangenheit strahlt in die Zukunft: Wir sind Gottes. Dieser Ursprung eint noch stärker als die in einer Taufformel beschlossene Zusage im Galaterbrief 3, 26–28: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wir sind Gottes – wir alle, richtet man den Zeitpfeil rückwärts, sind eins in Gott. Die Wucht dieser Aussage, Zusage, wird in dem Pärt-Stück spürbar. Es ist eine Wirklichkeit, die das Gegenwärtige umhüllt. Ja, es ist traurig, keinen Vater zu haben, wie es Uxbals Sohn traurig feststellt. Er wird bald selbst diese Erfahrung des Vaters teilen. Schauen wir uns nun das Schlusskapitel des Films an: es ist der Vater, dem Uxbal im Moment seines Todes begegnet – Was ist da? Fragt er diesen, als er aus dem Bild und weiter in den Wald tritt…
3. Filmausschnitt (letztes Kapitel, Begegnung Uxbal-Vater bis zum Filmende, 5 min)
Er erhält keine Antwort, geht ihm nach, lächelnd, aber wir könnten ihm antworten: Was ist da? Ein Perspektivwechsel, Zeit für Abschied und Neuanfang. Wir haben die erste Filmsequenz am Ende noch einmal gesehen, aber nun aus anderer Perspektive. Wir sehen jetzt die Tochter, das Mädchen, dem der Ring übergeben wird –
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eine Ringparabel, so könnte man das Ganze nennen, da es sich um das Geschehen schließt. Die Tochter trägt jetzt das Familienerbstück – dabei ist es gleich gültig, ob der Diamant echt ist oder nicht. Wichtig ist, was er bedeutet. Du bist Gottes! Diese Verheißung, die höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. • Lied: EG 450 1,3,5 Morgenglanz der Ewigkeit
Fürbitten:
Gott, du Schöpfer der Erde, wir fühlen uns nicht mehr wohl in unseren Städten und Dörfern. Die Luft stinkt zum Himmel und der Boden ist überdüngt. Wir kaufen billiges Fleisch und haben unsere Urlaubsflug ist schon gebucht. Weite unser Herz, damit uns die Erwärmung der Erde nicht kalt lässt. Schärf unseren Verstand, damit wir unseren Lebensstil ändern und die kleinen Bequemlichkeiten eintauschen gegen die große Hoffnung, dass diese Erde bewohnbar bleibt für uns und unsere Kinder. Gott, du Bruder und Schwester der Menschen Wir bringen vor Dich die Menschen, die verschleppt, vertrieben, geflohen sind. Sie tragen die Erfahrung der Angst und des Leidens mit sich. Sie sitzen bei uns wie an den Wasserflüssen Babylons und trauern um ihre Heimat. Weite unser Herz, damit wir ihre Trauer sehen. Schärfe unseren Verstand, damit wir verstehen, wie wir an den Ursachen ihrer Flucht beteiligt sind. Und lass uns gute Gastgeber und Begleiter für sie sein. Gott, du Geist des Mutes und der Wahrheit Es ist ein Sehnen tief in uns nach Glück und Liebe und Erfolg. Lass uns gnädig sein mit unseren Misserfolgen, unserem Alter, unserer Traurigkeit, und stille unser Durst nach Leben, so wie Du es gibst. Gib uns Phantasie wie wir uns mit Menschen guten Willens zusammenschließen, damit die Güter in dieser Gesellschaft gerecht verteilt, alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und wir Arme und Kranke nicht mit einem Almosen abspeisen. Wir rufen zu Dir, du Geheimnis der Welt. Rede Du zu uns, damit wir schweigen und hören und den Weg des Friedens suchen. • Vater unser… • Lied: EG 13, 1–3 Tochter Zion • Segen
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• Begrüßung/Einführung Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Herzlich willkommen zu unserem Filmgottesdienst. Mit anderen Augen sehen, mit den Augen von Filmemacherinnen und Filmemachern: unser Leben, Entwürfe des Menschseins, Bilder und Szenen – das Gesehene mit biblischen Bildern und Szenen und Texten ins Gespräch bringen, finden, was uns bewegt, infrage stellt, das ist das Thema dieses Abends. Es wird uns hier ein besonderer, alternativer Lebensentwurf vorgestellt. Wer oder was ist „Nike“? Göttin oder Turnschuh? Die fernab der Zivilisation aufgewachsenen Kinder der Familie Cash werden mit den Errungenschaften derselben konfrontiert und müssen sich mit Witz, Stärke und Wissen behaupten. Einen Clash der Kulturen besonderer Art liefert Matt Ross Film „Captain Fantastic“, wie die sechs Kinder ihren Vater Ben (nur halb im Scherz) nennen. Gemeinsam mit seiner Frau Leslie hat er die Kinder in einem alternativen Idyll in den tiefen Wäldern an der Pazifikküste im Nordwesten der USA zu idealen und guten Menschen erzogen, hat sie zu reflektierenden und auf hohem Niveau artikulierenden Individuen gemacht. Und alles könnte schön sein, wäre da nicht der Tod. Als die Mutter stirbt,
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Filmgottesdienst in der ev. Stadtkirche Ludwigsburg am 12.11.17, liturgisch gestaltet von Inge Kirsner, Wolfgang Baur und Martin Ergenzinger
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_15
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macht sich die Familie auf und reist quer durch die USA, was ihren Lebensentwurf und den der ‚Anderen‘ auf den Prüfstand stellt.
1. Lied: Du hast uns, Herr, gerufen, EG 168, 1–3 • Gebet (nach EG 383, Gedicht) • Psalm 104 im Wechsel
1. Ausschnitt K.1 „Waldszene“ (00.46–05.30)
Die erste Szene des Films „Captain Fantastic“ ist wie ein Überfall, nicht nur auf den sanften Hirsch, sondern auch auf das Gemüt der Zuschauenden. Wir wohnen einem archaischen Initiationsritual bei, durch welches das Kind zum Erwachsenen gekürt wird. Der junge Mann kann sich jetzt selbst versorgen, er ist im Wald überlebenstüchtig. Wir sehen in diesem Anfang die Schönheit der Natur und die natürliche Grausamkeit ihrer Gesetze. Die Familie ist Teil dieser Natur; aber wäre sie auch überlebensfähig in der zivilisierten Welt? Dieser Frage geht der Film nach, dessen Spektrum wir weiter gemeinsam entfalten.
2. Lied: „Du bist der Schöpfer des Universums“ (NL Nr. 24) • Schriftlesung: Offb. 21, 1–5a
2. Ausschnitt Chomsky-Tag als Geschenkefest (44–47.43)
Auch eine anarchische nicht-religiöse Familie braucht Rituale. Weihnachten und Ostern fallen ja aus. Aber es gibt einen Ersatz. Der Geburtstag eines berühmten Wissenschaftlers und Menschenrechtsaktivisten: Naom Chomsky, einer der Väter der modernen Linguistik und ein scharfer Kritiker US-amerikanischer Politik. Seit seiner Kritik am Vietnamkrieg trat er immer wieder als Gegner einer unmenschlichen kapitalistischen Weltordnung hervor und machte sich für die weltweite Einhaltung der Menschenrechte stark. So wurde er zu einer Ikone der Antikriegsbewegung in den 70er und 80er Jahren und dient bis heute als eine der Leitfiguren der Antiglobalisierungskampagne. Seine Gesellschaftsvisionen zielen auf eine soziale Revolution von unten und tragen ebenfalls stark anarchische Züge. Doch gilt er als einer der meist zitierten Außenseiter der Welt. Seinen Geburtstag am 7. Dezember (1928) feiert die Familie wie ein religiöses Fest: Mit Kerzen und Kuchen, einer Lobeshymne auf Onkel Naom und einer kleinen Prozession mit dem Abbild des Verehrten. Und wenn es gerade passt, findet dieses Fest eben auch im Sommer statt.
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Die Überraschung ist perfekt, als die Geschenke ausgepackt werden: Waffen am Festtag des Antikriegsaktivisten! Sie sollen zum Überleben in der Wildnis dienen. Nur das jüngste Kind ist ein wenig enttäuscht über das Geschenk. Trotz der vielen Bilder scheint das Buch „Joy of Sex“ nicht seinen Wünschen zu entsprechen. Und auch der ältere Bruder kann nicht in die allgemeine Festfreude einstimmen. Er würde lieber wie alle anderen Weihnachten feiern, den Festtag eines unwirklichen, abergläubisch verehrten Wesens in den Augen des Vaters. Der vom Vater daraufhin angeordneten Diskussion mag er sich nicht stellen. Wohl wissend, dass trotz der allgemein bekundeten Bereitschaft sich in dieser Sache vom besseren Argument überzeugen zu lassen, er keine Chance hätte. An die Stelle der Religion ist bei Captain Fantastic der Kult der Vernunft getreten, exemplarisch greifbar in Gestalt des linksintellektuellen Sprachwissenschaftlers Naom Chomsky. Ob Wissenschaft und politisches Engagement allerdings die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen erfüllen, bleibt fraglich. Das Gefühl unverstanden und ausgeschlossen zu sein, der Wunsch dazuzugehören oder auch einfach so zu leben wie andere auch, bleibt unbearbeitet und unerfüllt. Der angeblich zwanglose Zwang der Vernunft ist so herrschaftsfrei nicht wie es den Anschein hat. Risse tun sich auf in der Familienutopie, die Captain Fantastic zunächst noch überspielen kann. • Zwischenspiel Orgel Einführung: Auf dem Weg zur Beerdigung der Mutter besucht die Familie die Familie der Schwester (und Tante). Beim gemeinsamen Abendessen stoßen zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander und die Konflikte spitzen sich zu.
3. Ausschnitt: Essenszene mit Schwester (culture clash; 48.02–1.00.11)
Es geht um den richtigen Umgang mit dem Tod, mit Gewalt, mit Lebensmitteln – es gibt kein neutrales Gelände einer friedlichen Koexistenz. Dabei hat es keiner auf Streit angelegt; aber die Gewohnheit des Vaters, mit den Kindern über alles zu reden – auch über die wahre Todesursache der Mutter – bestürzt das Elternpaar, das die Kinder vor einer grausamen Realität bewahren will und es gleichzeitig akzeptiert, dass sie sich Computerspielen aussetzen, deren Movens Sterben, Tod und Gewalt ist. Den Kinder fehle Struktur und Bildung lautet der Vorwurf, den Captain Fantastic durch eine Lehrprobe eindrucksvoll entkräften kann.
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Die eben gesehene Szene zeigt die Doppelbödigkeit einer Gesellschaft, die die eigenen Gewaltstrukturen verdeckt (wie das Schlachten von Tieren, die es aus der Tiefkühltruhe zu kaufen gibt) und sich der Auseinandersetzung mit existentiellen Themen wie Scheitern, Schuld und Suizid mit faden Argumenten entzieht. Was verdeckt wird, kommt an anderer Stelle wieder hervor – die Jungs finden ihren eigenen Umgang mit Tod und Gewalt. Welche mentale Gewalt der Vater seinen Waldkindern antut, kommt zum Ausdruck, als der Älteste studieren gehen will. Sein Vater hat Angst vor dem Loslassen, dem Kontrollverlust und zeigt selbst dogmatische Seiten. Doch hat er seine Kinder zu solch selbstbewussten Wesen erzogen, dass sie trotz seines Widerstandes ihren jeweils ganz eigenen Weg finden werden.
4. Ausschnitt „Stadtgarten“: Schlusskapitel „Captain Fantastic“ (1.48.20–1.51.02)
Einführung: Einen neuen Menschen versucht Captain Fantastic zu schaffen, in und mit Mitteln dieser alten Erde. Als einzigartiges Experiment beschreibt er es, und gedacht war die Flucht in den Wald als Heilungsmethode für seine psychisch labile Frau – die allerdings nicht den gewünschten Erfolg bringt. Einen Begriff der äußeren Welt gewinnen die Kinder über Bücher, sie lernen es, das gelernte Wissen zu vernetzen – anwenden können sie dieses erst, als sie ihr Waldparadies plötzlich verlassen müssen. Denn als Paradies war es gedacht, die elterliche Waldenklave, und mit der Hölle der Welt um diesen Wald herum haben sich die Kinder dann auseinanderzusetzen. Einen Weg zurück ins Paradies aber kann und wird es nicht geben, davon erzählt nicht nur dieser Film. Auch die Bibel endet mit der Aussicht auf einen Ort, der paradiesische Züge hat, aber in einer Stadt angesiedelt ist. Das ländliche Paradies wird ersetzt durch die himmlische Stadt, durch die ein Strom fließt, an dessen Ufer Bäume des Lebens stehen (Offb. 22, 1–2). Ein Stadtgarten steht schließlich auch am Ende des Films, der seine Geschichte mit einem Kompromiss abschließt:
4. Filmausschnitt: Schluss von „Captain Fantastic“
Die Zwischenform – eine Enklave am Rande der Stadt, ein alternatives Lebensmodell, das zahnradförmig in die Vorgaben der alten Welt greift und doch eigene Kreise schafft – wird als Lösung für die Kinder wie für den Vater gefeiert, der als gereifter Mensch auftritt und die selbstgeschaffenen Reinheitsgebote variieren kann. Das Alternativmodell bleibt eine Anfrage für die anderen Lebensmodelle, die unhinterfragt aufgehen in einer Welt, deren Absurdität der Film auf so komische wie ernste Weise vorführt.
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3. Lied: Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt (n. Offb. 21, EG 153, 1–5) Fürbitten:
Gott des Himmels und der Erde, Du hast eine vielfältige Welt erschaffen als Bild Deiner Seele. Der Mensch als dein Abbild ist Teil dieser Vielfältigkeit. Stärke uns im Umgang mit diesen Unterschieden, hilf uns dabei, sie auszuhalten und als Herausforderung und Gewinn zu betrachten. … Stärke uns auch im Umgang mit unserer Endlichkeit, mit dem Sterben und dem Tod. Lass uns eine Sprache finden, in der wir uns dem stellen können, was uns Angst macht. … • Vater Unser
4. Lied: Komm, Herr, segne uns (EG 170, 1–3) • Segen
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„Mad Max Fury Road – Die Suche nach (Er-)Lösung“1
• Vorspiel ; Begrüßung/Einführung Liebe Studierende, liebe Filmgemeinde, wir begrüßen Euch und Sie herzlich zu unserem Filmgottesdienst heute Abend. Wir werden Ausschnitte aus dem Film „Mad Max – Fury Road“ von George Miller aus dem Jahr 2015 sehen und den Film mit Psalmworten, Liedern und Texten korrespondieren lassen. „Fury Road“ ist die Fortsetzung der „Mad Max“-Trilogie, die 1979 mit Mel Gibson in der Hauptrolle startete. Dieser wurde nach seinem Ausstieg nun durch Thomas Hardy ersetzt, der uns durch einen irren Road Trip, gedreht in der Wüste Namibias, mitnimmt. Das Drehbuch zum Film wurde unterstützend vom britischen Comicautoren Brendan McCarthy entwickelt, der auch viele der neuen Charaktere und Fahrzeuge entwarf. Die krasse Optik scheint tatsächlich der Comicwelt entsprungen; und doch wirkt der Film äußerst realistisch, was sicher auch daran liegt, dass alle Stunts echt sind. Im Laufe der rasanten Handlung wird nur gesprochen, wenn es nötig ist; wir verfolgen dabei die Flucht von Imperator Furiosa, die zurück zu dem grünen Ort möchte, von dem sie entführt wurde von Immortan Joe. Dieser 1
Basierend auf dem Filmgottesdienst in der Ev.Studierendengemeinde/Kath.Hochschulgemeinde Ludwigsburg am 21.11.16 mit Inge Kirsner, Magdalena Didwissus, Julia Keding, Ellen Moser und Claudia Kärcher
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_16
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ist Herrscher der Zitadelle und somit der Wasservorräte. Er ist auch der einzige, der Kinder zeugen darf; dazu werden Frauen missbraucht, die „Brüter“ genannt werden. Diese fliehen nun gemeinsam mit Furiosa, später stößt Max zu ihnen. Was ihnen auf dem Weg durch die postapokalyptische Wüste begegnet, werden wir gleich in Augenschein nehmen.
1. Lied: Mighty To Save • Wechselgebet: Psalm 46
1. Ausschnitt 7.34–9.45 ff „Der falsche Erlöser“
„Ihm gehört das Wasser, also gehören wir ihm!“ So wird Immortan Joe im Laufe des Films von einem der anderen Charaktere beschrieben. Warum? Als Herrscher über die Zitadelle entscheiden er und sein Gefolge, wann die Bevölkerung Zugang zu Wasser bekommt. Damit das Volk auch ja nicht auf den Gedanken kommt, sich aufzulehnen, geschieht das nach Willkür; damit wird die Macht noch zementiert. Immortan Joe entscheidet also über Leben und Tod; aus dieser Perspektive ist die Aussage „Ihm gehört das Wasser, also gehören wir ihm!“ gut zu verstehen. Gleichzeitig hat Immortan Joe kaum Menschliches an sich; eher gleicht er einem Cyborg. In der vorangegangenen Szene sieht man gut, dass er im Grunde nur eine Hülle ist, deren Muskeln vorgetäuscht werden und die nicht einmal selbstständig atmen kann. Die Fratze, die ihn gefährlich aussehen lässt, ist eine Maske. Nun bezeichnet sich Immortan Joe als Erlöser. Diesen Anspruch zieht er sicherlich aus seiner Macht über Leben und Tod. Jedoch hat seine Gegenwart ansonsten wenig Erlösendes an sich. Die Position ist stilisiert, verleiht ihm aber Macht. Erlösung ist bei ihm eher nicht zu finden. Deshalb kommt es eben doch zu einer Gegenbewegung, von der in diesem Gottesdienst noch die Rede sein wird.
2. Lied: Ein feste Burg ist unser Gott, EG 362, 1–3 2. Ausschnitt 1.00.29–1.02.52 ff „Walhalla“
Auch diese zweite Szene behandelt die Frage nach der Erlösung. Interessant sind dabei insbesondere die Aussagen des Warboy Nux. Er verwendet den Jahrhunderte alten Jenseits-Begriff des Valhalla bzw. Walhall. Dieser beschreibt in der nordischen Mythologie der alten Sagen den Ruheort aller Krieger, die in Schlachten gefallen sind. Es ist also eine Art gesonderter Bereich des Paradieses für besonders tapfere Soldaten. – In unserer heutigen Kultur wurde der Begriff des Walhall durch den Bau der Gedenkstätte Walhalla 1842 nahe Regensburg neu gedeutet. Auf der Suche nach einer gemeinsamen, nationalen Identität wurde dort ein Huldigungs-
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ort für bedeutsame Personen der deutschen Geschichte errichtet. Darin finden sich beispielsweise Büsten von Martin Luther oder Sophie Scholl. – In den nordischen Mythen, die auch mit der Nibelungen-Saga identisch sind, wurde Walhall als prächtige Halle mit 540 Toren, durch die je 800 Soldaten nebeneinander einziehen können, beschrieben und liegt in der Burg des nordischen Gottesvaters und Kriegsgottes Odin. Dort werden die Krieger von den Walküren umsorgt, die sie auch nach Walhall geleitet haben. Im Gegensatz zu den christlichen ParadiesVorstellungen ist Walhall unter der Erde angesiedelt, auch die Götter wohnen in Burgen in dieser Unterwelt. Die Darstellungen der Zitadelle von Immortan Joe gleichen sehr stark den Beschreibungen dieser Sagen. So wird die Unterwelt dort als lichtdurchflutetes, „grünes Götterheim“ beschrieben. Auch der Däne Saxo Grammaticus spricht nur von unterirdischen Totenorten mit angenehmen grünen Gefilden. Doch entgegen der heute überlieferten und verklärten Sichtweise, die auch im Film zu sehen ist, lässt keine der schriftlichen Quellen auch nur andeutungsweise erkennen, dass die Wikinger einem heldenhaften Tod mit Aussicht auf den Einzug in Walhall gelassen ins Auge sahen. Vielmehr mieden sie die erkannte Gefahr und retteten sich. Für sie war Walhall eher eine Mahnung, das irdische Leben bewusst und nicht unbedacht zu begehen und zugleich Trost für die Hinterbliebenen – nicht aber ein erstrebenswertes Schicksal. Es stellt sich somit anderen Jenseitsvorstellungen im militärischen Kontext entgegen, wie beispielsweise den Märtyrer-Absichten der Selbstmordattentäter im islamistischen Umfeld. Der War Boy im Film sagt, dass ihm dreimal die Tore zu diesem Ort offen standen. Er hatte mehrfach versucht, geradezu fahrlässig eine militärische „Heldentat“ unter Einsatz seines Lebens zu begehen, die jedoch scheiterten. Am Ende des Filmes wird ihn dieses Schicksal schließlich doch ereilen. Jedoch immerhin zugunsten des „Guten“…
3. Ausschnitt 1.13–1.18 Sehnsucht nach Erlösung und Glaubensverlust
Als Grund für ihre Flucht nennt Furiosa ihre Sehnsucht nach Erlösung. Erlösung ist ein transzendenter Begriff: er zielt auf ein Jenseits, einen ‚anderen Ort‘. Auf diesen Ort, die (ehemalige) Heimat, setzt Furiosa alle ihre Hoffnung; ihre ganze Kraft zieht sie aus dieser Hoffnung, sie gibt ihrem Leben Sinn. Als dieses Ziel wegbricht, bricht auch Furiosa zusammen. Sie ist am Nullpunkt angekommen, hat die Menschen, die ihr vertrauten, herausgeführt aus der Gefangenschaft mit einem Versprechen, so, wie Mose die Israeliten aus Ägypten führte mit der Verheißung eines gelobten Landes. Wohin, wenn das gelobte Land nicht (mehr) existiert? Furiosa ist immer noch auf der Suche nach dem „grünen Ort“. Dieser Ort ist ihre Heimat. Dort gab es Wasser, Nahrung und Frieden. Dort hat sie ihre Kindheit
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verbracht, bevor sie mit ihrer Mutter entführt wurde. Immer wieder spürt man im Film die Sehnsucht, die Furiosa nach diesem Ort empfindet. Dieser Ort stellt für sie ihre Erlösung dar. Doch von was wird Furiosa „erlöst“, wenn sie diesen Ort findet? Sucht sie Zugehörigkeit? Frieden? Mitten in der Wüste findet sie die Frauen, die mit ihr an dem grünen Ort gelebt haben. Sie ist ihrem Ziel ein Stück näher gekommen. Es blitzt ein Moment der Hoffnung auf, der im nächsten Moment wieder zerstört wird. Der grüne Ort, ihr Zuhause, existiert nicht mehr. Das Wasser ist verschmutzt, die anderen Menschen wurden getötet. Eindrücklich zeigt die Filmszene, wie in Furiosa alles zusammenbricht. Alle Qualen, die sie auf sich genommen hat, scheinen umsonst gewesen zu sein. Das Ziel, für das sie so hart gekämpft hat, gibt es nicht mehr. Ihre Hoffnung, den Ort zu finden, wurde zerstört. Ein Gefühl von tiefer Verzweiflung überkommt sie. Die Hoffnung, in ihren Heimatort zurückzukehren und ein friedliches Leben zu führen, bleibt eine Illusion. Ich kann Hoffnungslosigkeit, die Furiosa nun empfindet, gut nachvollziehen. Man hat für etwas gekämpft, etwas, das einem wichtiger ist als alles andere. Man hat die ganze Kraft, die man hatte, investiert, um das Ziel zu erreichen. Und dann bekommt man die Nachricht, dass alles umsonst war. Der Grüne Ort, ihre Erlösung, existiert nicht mehr. Wie lebt man nun weiter? Aufgeben oder weiter kämpfen? Und wenn kämpfen, wofür denn? Wie macht man weiter, wenn der Sinn verloren gegangen ist? Gibt es einen anderen Weg, den sie noch nicht gesehen hat?
4. Lied Ich laufe ich falle 4. Ausschnitt 1.25–1.27 Lösung & Gebet
Mad Max sagt zu Furiosa: „Hoffnung ist ein Fehler“. Fast gibt ihm der Verlauf der Fluchtgeschichte recht: Das grüne Land existiert nicht mehr, das Wasser ist sauer geworden, das Land sumpfig. Die Frauen, die früher in diesem grünen Ort wohnten, sind alt geworden und machen den Neuankömmlingen nicht viel Hoffnung. Als Furiosa mit den Überlebenden durch die Salzwüste will, in ein mögliches Utopia jenseits, gibt Max ihr eine Karte: „Da musst du hin!“ Eingezeichnet ist der Ort, von dem sie geflohen sind: die Zitadelle. Der Ort, an dem es Wasser gibt, der einzig existierende „grüne Ort“. Furiosa muss Max recht geben: es gibt kein „Jenseits“, nur ein Diesseits, es gibt keine Erlösung, nur die Lösung der gegenwärtigen Dilemmasituation.
Fürbitten
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• Vater Unser
5. Lied: Hier und jetzt • Lesung: Offb. 22, 1–5
5. Ausschnitt: Schluss-Szene „Himmlisches Jerusalem“ (1.48.17–1.49.12)
Und doch weist das Schluss-Bild des Films mit dem nun wieder für alle fließenden Wasser über sich hinaus, ist mehr als eine „Lösung“ eines gegenwärtigen Problems. Die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, wie sie in Offenbarung 22, 1-5 beschrieben wird, bekommt nun wieder Nahrung und ein neuer Anfang ist geschenkt. • Segen
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„Nokan – Die Kunst des Ausklangs“1
• Orgelvorspiel
Begrüßung und Hinführung zum Filmgottesdienst
In dem 2009 oscarprämierten Film erzählt der japanische Regisseur Yojiro Takoita die bitter-süße Geschichte des Cellisten Daigo Kobayashi, der, nachdem er seine Arbeit verliert, eine neue Karriere bei einem Beerdigungsunternehmen startet und dort lauter Lebensthemen findet. Ein ergreifendes, schrill-schönes Stück rund um das Tabuthema Tod, dem der Filmgottesdienst nachspürt.
1. Lied: EG 302, 1–3; 5 Du meine Seele, singe Gebet zum Eingang
Gott, mein Gott! Ich danke dir für die Stunden meines Lebens, in denen ich weiß, was sich dem Begreifen entzieht: Es ist gut mit meinem Weg. Ich entbehre manches, doch ich bin nicht arm. Du machst mich reich. 1
Gekürzte Fassung des Filmgottesdienstes vom 8.11.2019 um 19 Uhr in der Hospitalkirche in Stuttgart. Liturgische Gestaltung: Inge Kirsner und Eberhard Schwarz
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_17
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Du bringst zum Schweigen die Stimmen der Verneinung in mir. Du weckst mir Freude an kleinen Dingen Und lehrst mich die Zeichen der Liebe zu erkennen. Das Kreuz spricht mir von dir. Ich atme dich im Geruch dieses Gotteshauses. Ich spüre dich in den brennenden Kerzen. Du kommst mir entgegen im Wohlwollen von Menschen. In der Musik berührst du den Grund der Seele Und machst mich gewiss, dass eine andere Welt ist, in der die Verlassenen zu Geborgenen werden. Nicht mehr verzweifelt sind die Tage Der Traurigkeit, sondern erfüllt von Tröstungen. Wie Morgentau auf ausgedörrtem Weideland ist deine Gegenwart, mein Gott, für mich. Anbeten will ich Dich und danke Dir für Deine Gegenwart-Jetzt. Amen. • kurze Einführung in den Film/kurze Hinführung zum 1. Filmausschnitt Der Film des jap. Regisseurs Yojiro Takita heißt auf engl. „Departures“ – „Abschiede“. Der jap. Filmtitel „Okuribito“ setzt sich zusammen aus dem Verb okuru, d.h. verabschieden, geleiten, und dem Substantiv hito – Mensch. Übersetzt heißt es in etwa „einer, der andere verabschiedet oder geleitet“. Was hinter diesem Wort steckt, muss der gerade arbeitslos gewordene Cellist Daigo erfahren:
1. Szene: Erste Begegnung im Bestattungsinstitut (18.46–22.25)
„Nokan“ ist kein Reisebüro, sondern bietet Hilfe bei der letzten Reise an – doch mithilfe eines Euphemismus gelingt es dem Chef des Aufbahrungsinstitutes, das erstemal einen Mitarbeiter zu finden. Die Arbeit mit Toten gilt in Japan als unrein – Tod und Bestattung sind in Japan einerseits hochzeremonielle Rituale und andererseits gehört das Ganze zu den Tabuthemen der Gesellschaft. Daigo bekommt dies schon bald zu spüren. Er macht durch seine Arbeit Bekanntschaft mit der körperlichen Seite des Todes und erkennt zunehmend, wie wertvoll seine Arbeit ist, nicht zuletzt in Bezug auf die Suche nach seiner eigenen Identität. • Psalmgebet Ps 90 EG 735 versweise im Wechsel
2. Lied: EG 527, 1,5,6,8 Die Herrlichkeit der Erden
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• kurze Hinführung zur 2. Szene Einerseits nehmen die Leichenwäscher und Aufbahrer den Hinterbliebenen eine wichtige Arbeit ab, andererseits werden sie für ihre Arbeit verachtet. „Ihr lebt von den Toten!“ sagt jemand voller Verachtung zu den beiden vor der Arbeit – um sich nach dem würdevoll begangenen Ritual doch wieder zu bedanken. Doch Mika, Daigos Frau, hält diese Schizophrenie nicht aus, zudem hat Daigo ihr die genaue Natur seiner neuen Arbeit lange beharrlich verschwiegen. Er ist zunehmend sozial isoliert und hat sich dazu durchgerungen, trotz fehlender Alternative die Arbeit im Institut aufzukündigen:
2. Szene: gemeinsames Mahl mit dem Arbeitgeber (1.13.54–1.17.20) • Gedanken zur 2. Szene Der Chef erkennt die Krise seines Noch-Angestellten und greift den Vorwurf eines Kunden indirekt auf, ja, wir leben von den Toten, überhaupt leben wir von Totem, den was ist Kochen anderes als das Präparieren von Leichnamen? „Wenn du nicht sterben willst, musst du essen – und wenn du’s schon musst, soll’s auch schmecken…“ – fast hören wir an dieser Stelle den Text aus Prediger 9, 4–10 heraus: Schriftlesung: Denn wer noch bei den Lebenden weilt, der hat Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. 5 Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. 6 Ihr Lieben und ihr Hassen und ihr Eifern ist längst dahin; für immer haben sie keinen Teil mehr an allem, was unter der Sonne geschieht. 7 So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. 8 Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. 9 Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. 10 Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu; denn im Totenreich, in das du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit. Eingeleitet werden diese Gedanken durch den wunderschönen Abschnitt des Predigers Kohelet in 3, 19–22, in dem der Prediger über die Zeit reflektiert und darü-
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ber, dass alles seine Zeit hat…. Und angesichts der Vergänglichkeit alles Seienden es nichts Besseres gäbe, als dass der Mensch fröhlich sei bei seiner Arbeit und das Leben genießen solle. Das bedeutet weniger Verantwortungslosigkeit als vielmehr höchste Verantwortlichkeit bei klarem Bewusstsein, dass wir Sterblichen, die wir alle in strukturellen Schuldzusammenhängen leben – nämlich immer auf Kosten anderen Lebens (auch wenn wir Vegetarier bzw. Veganer sind) – das Leben als kostbare Gabe sehen, mit dem wir gut umgehen sollen – mit eigenem und fremdem. Und das schließt den guten und verantwortlichem Umgang mit denen ein, die von uns gegangen sind, „the departed“. • Orgelmusik
3. Szene: Der Heilige Abend mit Cello (1.20.18–1.28.28) • Gedanken zur 3. Szene Ob Buddhisten oder Christen, wir nehmen alles… Weihnachten wird gezeigt als das Fest aller Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen, die hier zusammenkommen; verbindend wird neben dem Essen die Musik. Die Musik macht Menschen zu Geschwistern; und der Tod macht sie alle gleich bei aller Verschiedenheit, die bei der Aufbahrung deutlich wird, wenn das Wesen der Verstorbenen noch einmal in tröstlicher Schönheit aufleuchtet. Daigo begleitet sie, und es ist eine Kunst, wie sie am Ende auch Miko, seine Frau, schätzen lernt.
3. Lied: EG 428, 1–4 Komm in unsre stolze Welt • kurze Hinführung zur 4. Szene Der Vater, der die Familie verließ, als Daigo 6 Jahre alt war, und den er nicht verklärt, sondern hassen gelernt hat, ist verstorben. Nach langem Zögern und auf das Drängen Mikas hin entschließt sich Daigo, doch zu dem einsamen Toten zu reisen und ihn schließlich sogar selbst zu waschen und aufzubahren. Er findet in dessen Hand einen Stein, den er ihm mal als Kind geschenkt hatte.
4. Szene: Abschied vom Vater und Neubeginn (1.53.18–1.59.38)
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• Gedanken zur 4. Szene Erst in der Berührung ‚erkennt‘ Daigo seinen Vater wieder, den er vor 30 Jahren zuletzt gesehen hat und an dessen Gesicht er sich nicht mehr erinnern konnte. Er erkennt, dass er es nicht nur dem toten Vater, sondern auch sich selbst schuldig ist, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Erst als er seinen Hass loslässt, wird auch die Liebe zum Vater wieder frei, die zwar enttäuscht wurde, aber im Abschied wieder entdeckt wird. Er muss seine negativen Gefühle loslassen, damit das Vergangene nicht alpdruckhaft das Leben bestimmt. Indem er den Stein, den er dem Vater einst gab, nun symbolisch an das eigene Kind weitergibt, wird nicht nur die Generativität verdeutlicht, sondern auch die Chance, die in jedem Neuanfang steckt. Es ist ein Versprechen, es diesmal anders zu machen – dem Toten zu vergeben und den Lebenden gerecht zu werden. Die Zurüstung für die letzte Reise ist eine Geste der Nächstenliebe. Und es ist – paradox genug – eine Handlung, die auch von der Lust am Leben zeugt. Einem vergänglichen Geschenk, das gerade an seinen Grenzen nochmals in aller Schönheit aufleuchtet. … Wir beten gemeinsam
Fürbittengebet und Vater Unser 4. Lied: EG 369, 1–4 Wer nur den lieben Gott läßt walten • Segen • Orgelnachspiel
„Die Tribute von Panem – Hunger Games“ Filmgottesdienst
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1. Lied: Eingeladen zum Fest des Glaubens • Begrüßung/Einführung Liebe(Film-)Gemeinde, wir begrüßen Sie herzlich zu unserem Filmgottesdienst zu „Tribute von Panem“ – die Hungerspiele, einer der großen Filme der letzten Jahre – basierend auf der gleichnamigen Romantrilogie von Suzanne Collins. Die „Hunger Games“ spielen in naher Zukunft und sind in einer postapokalyptischen Welt angesiedelt. Erzählt wird die Geschichte von Katniss Everdeen, die zum Symbol der Rebellion gegen ein diktatorisches System wird. Das reiche „Kapitol“ ist der Regierungssitz über 12 Distrikte, die je eine spezifische Aufgabe haben (Stromerzeugung, Fischerei etc.) Distrikt 12, aus dem die Protagonstin Katniss stammt, lebt vom Bergbau und ist einer der ärmsten. Ursprünglich gab es 13 Distrikte, aber jener 13. wurde aufgrund eines Aufstandes angeblich dem Erdboden gleichgemacht. Um weitere Rebellionen zu vermeiden, ist jeder Distrikt einmal im Jahr gezwungen, einen Tribut in Form eines jungen
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Basierend auf dem Filmgottesdienst während des Kirchentages 2017 am 27.5.20 in der Golgathakirche in Berlin, Gestaltung Inge Kirsner mit Claudia Kärcher und Anne Lüters
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_18
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Mannes und einer jungen Frau zu leisten, die in den sog. „Hungerspielen“ gegeneinander in einer Arena antreten und es nur eine/n Sieger/in geben darf. Mit jener Zweiteilung wird uns in „Panem“ eine Welt gezeigt, die wie ein nur leicht verzerrter Spiegel unserer heutigen erscheint. Ob und wie es „ein wahres Leben geben kann im Falschen“ (Adorno)2, mit dieser Frage wollen wir uns im heutigen Gottesdienst beschäftigen. In einer geteilten Welt von Mächtigen und Habenichtsen wird eine junge Frau – Katniss Everdeen – zum Symbol der Rebellion. Mit ihrem vom Zorn getriebenen Trotz bringt sie eine Welt zum Einsturz und vermag den in mörderischen Spielen pervertierten Hunger nach Gerechtigkeit neu zu entfachen. Ob es dauerhaft gelingt, gerechtere Strukturen zu etablieren oder ob sich das Grauen wiederholen wird, bleibt in dieser Anti-Utopie offen. Wir wollen in diesem Filmgottesdienst zentrale Filmausschnitte und einige wenige Gedanken dazu in Verbindung bringen mit biblischen Texten, Liedern und Gebeten. • Votum: Sie stößt die Mächtigen vom Thron und hilft den Niedrigen auf… mit diesem Anklang an das Lobpreislied der Maria aus dem Lk-Ev lade ich sie ein, diesen biblischen Protestsong jetzt mit mir im Wechsel zu sprechen: • Wechselgebet: Magnificat
1. Ausschnitt K.2, 12.12–16.26 „Stellvertretung“
Verbunden mit der Stellvertretung ist der erste Systembruch – Katniss ist die erste Freiwillige aus dem Distrikt, sie macht damit etwas, was noch nie zuvor gemacht wurde und beginnt, das System zu verschieben. Eine solche Verschiebung findet auch im Magnificat statt, das wir eben gemeinsam gesprochen haben. Ihr Handeln, mit dem sie nicht die Welt, sondern ihre ursprünglich ausgeloste kleine Schwester retten will, bringt das zivilisatorische System ins Wanken. Aus dem Handeln einer Einzelnen wird eine Gruppenbewegung, etwas, das Katniss nicht gewollt, aber bewirkt hat. Angesichts ihrer neuen Rolle muss sie ein neues Selbstverständnis finden, andere Verhaltensmuster versuchen. Sie wird damit leben müssen, beobachtet zu werden, auch in ihren intimsten Momenten, sie lebt – noch stärker als die Jugendlichen heute – in einer Medien2
Theodor W. Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften 4, Frankfurt/M. 1997, Seite 43)
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welt. Ob es in dieser lebensfeindlichen Umwelt, die in der Filmreihe als alternativlose Wirklichkeit gezeichnet wird und ihr den Beinamen „Dystopie“ einbrachte, Hoffnung und Erlösung geben kann, dem wollen wir mit den nächsten Filmausschnitten und entsprechenden Zugängen nachgehen.
2. Lied: 25 Da wohnt ein Sehnen Einführung: Katniss wird mit Peeta, ihrem ausgelosten Kampfgenossen, ins Kapitol gebracht, wo sie für den kommenden Kampf ausgebildet und der Kapitolbevölkerung präsentiert werden. Der Stylist Cinna hat für den Einzug von Katniss in die Arena ein spektakuläres Feuerkleid kreiert, und auch für ihren Auftritt in der Show hat er sich etwas Besonderes ausgedacht.
2. Ausschnitt K.6: 50.22–50.41 und 51.47–55
Gespräch Katniss/Cinna – Wer bin ich? Verstellung/Vorstellung „Sei einfach du selbst!“: Das ist der Rat, den Cinna seinem Schützling mit auf den Weg gibt. Wie geht das? In einer Welt voll mit Anforderungen? Voller Vergleiche? Voller Leistungsdruck? Wie kann ich in der Schule ich selbst sein, wenn mir das Fach nicht liegt? Was nützt mir der Traumberuf, wenn ich davon nicht leben kann? Wie kann ich ich selbst sein in einer Gruppe, von der ich nur Teil werde, wenn ich ihren Erwartungen entspreche? Gott verspricht uns: Ich kenne dich. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du musst dich nicht verstellen. Bei mir bist du zuhause, so wie du bist. Ich will festhalten an diesem Versprechen. Ich will, wie Dietrich Bonhoeffer sagen: „Wer ich auch bin – du kennst mich. Dein bin ich, o Gott.“ Wer bin ich? (Dietrich Bonhoeffer) Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest,
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wie ein Gutsherr aus seinem Schloß. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. (aus: Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung)
3. Lied: 89 Du tust Einführung: In dem nächsten Abschnitt sehen wir Katniss und Peeta einen Tag vor Beginn des Wettkampfes. Erst wenige Stunden davor mussten sie sich vor tausenden Menschen präsentieren, wie auf einem Präsentierteller, dabei möglichst attraktiv und begehrenswert wirken, um mehr Chancen zu haben zu überleben. In einer ruhigen Minute können sie zu zweit ein Gespräch führen.
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3. Ausschnitt K.7: 58.01–1.00.34 Balkonszene: „Ich will als ich sterben“ – Identität (Peeta)
Wir erleben einen intimen Augenblick. Es lastet der immense Druck des bevorstehenden Kampfes um Leben und Tod auf Katniss und Peeta. Die Szene erinnert an die mit Jesus im Garten Gethsemane. Jesus betet und weint vor Gott. Er hat Angst vor dem, was auf ihn zukommt. Katniss schaut vom Balkon aus auf die Menge der Menschen, die grölt und feiert, herab. Morgen werden sie ausgeliefert. Peeta stellt die Identitätsfrage: Ich habe Angst, sie verändern mich. Dass sie etwas aus mir machen, das ich nicht bin. Ich will mich nicht wie eine Schachfigur hin und her schieben lassen. Ich frag mich die ganze Zeit, wie ich ihnen zeigen kann, dass sie mich nicht besitzen. Ich will immer noch ich sein, wenn ich sterbe. Natürlich fragt auch Peeta nach dem Überleben. Aber er will es nicht um jeden Preis. Auch Katniss fragt sich, wie weit sie gehen kann. Beiden nützen die Gefahr, um „Ich“ zu werden. Ich sein heißt, sich zu bewähren, seine eigene Wahrheit zu finden. Sie fliehen nicht vor ihrer Angst, sie stellen sich ihr und reden darüber. Sie wollen trotzdem „Ich“ sein. Peeta überlegt sich zu opfern. „Ich will immer noch ich sein, wenn ich sterbe!“ Das erinnert an Martin Luthers: Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Auch Luther musste damit rechnen zu sterben. Auch er hatte Angst und zweifelte. Katniss hört Peeta aufmerksam zu. Doch sie sagt: „Ich kann es mir nicht leisten so zu denken. Ich habe eine Schwester.“ Wir merken, wegen ihrer Liebe will sie nicht sterben, nur um „Ich“ zu bleiben und ihre Identität zu wahren. Sie will und muss leben für ihre Schwester. Die will sie nicht im Stich lassen. Sie muss sich bewähren auch für ihre Schwester. Das ist Liebe: Für jemand leben und darin seinen eigenen Lebenssinn entdecken. Was zunächst als Last erscheint, wird ihr später Kraft sein. Das Morgen ist unklar. Sie wissen nicht, was auf sie zukommt. Jedoch ihr Geist ist klar. Zwischen ihnen ist Vertrauen entstanden. Werden sie es aufrechterhalten können?
Lied: 172 Wo Menschen sich vergessen Einführung: Nach dem Gespräch zwischen Peeta und Katniss beginnen die 74. Hungerspiele. Beide kämpfen um ihr Leben in der Arena. Sie wenden aber verschiedene Strategien an: Katniss schlägt sich alleine durch und vertraut niemanden. Peeta schließt sich einer Gruppe an, die Katniss auslöschen will. Doch insgeheim hilft er ihr so, nicht gefunden zu werden. Viele Tribute lassen in der Arena ihr Leben und einige
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werden zu Mördern. Am Ende sind nur noch Peeta und Katniss übrig. Bei den 74. Hungerspielen darf es – eine kurzfristige Regeländerung – auch zwei Sieger geben. Beide müssen aber aus demselben Distrikt stammen. Katniss und Peeta ist der Sieg also sicher. Doch plötzlich werden die Regeln geändert: es darf nur eine/n geben! Hier setzt der folgende Filmausschnitt ein:
4. Ausschnitt K.13: 2.02.10–2.07.50 Regeländerung (- „Halt!“)
„Vertrau mir!“ Peeta nimmt die todbringenden Beeren aus der Hand von Katniss entgegen, die genau das Richtige tut: Sie lässt sich nicht ein auf die Willkür des Herrschaftssystems, sondern findet einen dritten Weg – wie ihn übrigens auch Jesus im Umgang mit dem römischen Reich, dessen Herrschaftssystem der Panemwelt in vielem ähnelt, vorgeschlagen hat. Katniss dritter Weg, ihre paradoxe Intervention, ist eine Kampfansage an das System, das aufgrund der Erwartungshaltung des Publikums ihren Tod zu diesem Zeitpunkt vor laufender Kamera nicht mehr riskieren kann. Es ist (zu diesem Zeitpunkt noch) ein gewaltloser Weg, die Drohung alleine reicht aus, das Kapitol in die Knie zu zwingen. Es ist Vertrauen und Solidarität, was diesen Sieg erzwingt – eine einzige Tat gegen einen absoluten Staat. Katniss bringt das Räderwerk zum Stillstand und zeigt sich, wie schon in der Stellvertretungs-Szene zu Beginn, als sie für ihre Schwester einspringt, als Erlöserfigur, als weibliche Christusfigur. Ja, es scheint möglich zu sein, zeitweise, das „wahre Leben im Falschen“, die Entscheidungsspielräume sind nicht so eng, wie es das gesellschaftliche System vorlegt. Und so bekommt auch ein dystopischer Film eine utopische Dimension und wird ein amerikanischer Mainstream-Film zu einem mit prophetischem Appell.
Lied 167 Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn Fürbitten:
Guter Gott, In dir finden wir zu uns selbst. Wir bitten dich: lass uns deine Stimme hören. Sprich mit deiner Liebe in unser Herz und lass uns diese Liebe weitergeben. Jesus Christus, Du hast uns erlöst. Du bist den Weg der Liebe bis zum Ende gegangen und hast dich selbst aufgeopfert. Lass uns dieses Wunder immer wieder neu begreifen. Heiliger Geist, Aus vielen Biographien und Individuen formst du eine Gemeinschaft.
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Wir bitten dich: lass unsere Unterschiedlichkeit fruchtbar werden. Schenke Verständnis im Streit. Vereine unsere Herzen in dir. Gemeinsam beten wir: Vater Unser
Lied: 71 Ich lobe meinen Gott • Segen • Mit Chor: „Freedom is coming“
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• Vorspiel Begrüßung: Ganz herzlich begrüße ich Sie zu unserem vierten Kinogottesdienst hier in der Stadtkirche heute mit dem Film „Tschick“ aus dem Jahre 2016 von Fatih Akin nach dem Buch von Wolfgang Herrndorf. Eine Hymne auf das Leben, die Jugend, die Freundschaft, die Freiheit, die Liebe und das Abenteuer. Dieses Abenteuer braucht nicht viel: Sommerferien, zwei von ihren Eltern vernachlässigte Jugendliche,Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, beide Außenseiter, ein geklauter Lada und den Entschluss zu einer Spritztour in die Walachei, ohne Karten und Navi, versteht sich. Die Freiheit beginnt vor der Haustüre, in diesem Fall vor den Toren Berlins. Begleiten wir die beiden auf ihrer Fahrt durch die ostdeutsche Provinz und auf dem Weg zu sich selbst. Zunächst wollen wir Ihnen einige zentrale Passagen aus dem Buch „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf aus dem Jahr 2010 vorstellen, die unseres Erachtens zei1
Dieser Gottesdienst zu Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ am 18.3.2018 in der Stadtkirche Ludwigsburg wurde als Literaturgottesdienst angekündigt; im Anschluss an den Gottesdienst wurde die gleichnamige Verfilmung von Fatih Akin aus dem Jahr 2016 gezeigt. Liturgisch gestaltet wurde er von Inge Kirsner, Wolfgang Baur, Martin Ergenzinger, Sven Ottinger.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6_19
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gen, dass diese brillant erzählte Geschichte mehr ist als ein Jugendroman und ein Roadmovie. Lässig und wie nebenbei führt es uns aus der Sicht eines Jugendlichen an die staunenswerten Seiten des Lebens heran, die in unserer Erwachsenwelt oft genug verdeckt bleiben. Wir wollen sie mit Liedern, Texten und Musik in Verbindung bringen, die diese Sicht vertiefen und weiterführen. Nach dem gottesdienstlichen Teil und einer kurzen Pause zur Stärkung zeigen wir dann den Film. Und nun lade ich Sie ein mit uns das Leben zu feiern, im Namen des Gottes, in dem wir die Quelle unseres Lebens sehen, im Namen Jesu Christi, der Fülle des Lebens und im Namen des Heiligen Geistes, Wegweiser zu Freundschaft und Liebe. Amen.
Lied: Jesu meine Freude (396,1–4) • Psalm 121 (im Wechsel) • Lesung: 1.Samuel 20, 35–42 • Musik
1. Szene: „Gottkarton“
Die Mutter von Maik ist Alkoholikerin, und manchmal verschwindet sie Richtung „Beautyfarm“, das ist die euphemistische Familienbezeichnung für die Entzugsklinik. Sie erzählt Maik von den Psychospielen, mit denen sie dort konfrontiert ist. Eins davon ist das gegenseitige Zuwerfen eines Wollknäuels, wer es fängt, darf reden, und so entsteht etwas, was Gesprächsgeflecht genannt wird. • Lesung aus „Tschick“2: S.29 unten „Und wenn jetzt einer glaubt…“ – S. 31 oben“… im Nachhinein“ Theolog. Zugang: Dieser Gottkarton ist ja erstmal eine ganz vernünftige Sache. Er fungiert als Klagemauer, als Gebetswand, als Sorgenkasten. Er ist die dunkle Höhle, in die man hineinsprechen kann und die auch die finstersten Geheimnisse gut bewahrt. Sie hält sich absolut an das Beichtgeheimnis und was dabei herauskommt, ist höchstens, dass man sich allein dadurch besser fühlt, dass man das, was einen belastet, mal herausgelassen hat. Ob man diese Black Box, die ja zunächst nichts ist als ein 2
Wolfgang Herrndorf, Tschick, Reinbek bei Hamburg, 2012
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Sorgenspiegel, nun Gott oder Großer Geist oder Osiris nennt, ist egal, vor allem in der Psychotherapie. Hier werden die für sinnvoll erachteten Rituale, die ihren ursprünglichen Platz in der Religion haben, herausgelöst und säkularisiert. Wichtig ist, dass es da eine Instanz gibt, die einen versteht und annimmt, wie man ist, ob diese Instanz nun eine Eigenkonstruktion, eine komplette Erfindung ist oder nicht. Über Gott selbst kann, will und braucht die Therapie nun keine Aussage machen. Was sie aber genau weiß, ist, dass jeder Mensch Vater und Mutter hatte, von denen das Lebensskript gelernt wurde. Wenn man dieses innere Kind, das als rebellisches oder angepasstes weiter in einem lebt, nun ins Bewusstsein hebt und genau betrachtet, kann man es heilen. Dazu muss aber die Elternbeziehung durchleuchtet werden. Der Karton wird nun von der Mutter mit keiner göttlichen Instanz belegt, sondern mit „Karl-Heinz“, was ja eigentlich genauso legitim ist wie Osiris. Mit letzterem könnte der Therapeut leben, mit Karl-Heinz nicht. Sein Weltbild käme erst wieder in Ordnung, wenn der Vater so hieße, aber das tut er nicht. Wenn es schon keinen Gott gibt, muss wenigstens der irdische Sinnzusammenhang stimmen. Da aber nun dieser irdische Vater tatsächlich Gottlieb heißt, ist der Therapeut wieder glücklich. Dann kann die Tochter den Karton ja so nicht nennen, denn sie muss sich ja von diesem Vater absetzen, dem sie höchstwahrscheinlich zu fünfzig Prozent ihre Sucht verdankt. Der Therapeut weiß also Bescheid, seine Welt ist wieder in Ordnung. Ob der Patientin damit geholfen ist? Vielleicht ja; sie erwartet von der Therapie auch keine neuen Heilsversprechen, sondern einfach eine mögliche Linderung ihrer Sucht, eine Pause. Schön ist an dieser Szene, dass der ansonsten ziemlich verständnislose Vater von Maik mal aus sich herauskommt, eine andere, humorvolle Seite zeigt.
2. Szene: Sternenhimmel:
Einleitung Maik und Tschick liegen nachts auf einer Aussichtsplattform und schauen in den Sternenhimmel; sie überlegen miteinander, ob es wohl Leben gibt im All und wie dieses Leben sich möglicherweise gerade dieselben Gedanken macht wie sie. • Lesung aus „Tschick“: „Die Sterne…“ S. 120–122 „…die ganze Nacht“ Theolog. Zugang: Die zwei Jungs kommen über den Film „Starship Troopers“ (Paul Verhoeven, USA 1997), der von einer Invasion auf einen von Rieseninsekten bevölkerten Planeten handelt, auf die Idee, dass genauso gut gerade im Moment zwei Insektenjungen in das All starren könnten und sich zwei Jungs ausdenken, die gerade auf einem Planeten namens Erde unterwegs sind und ins All starren.
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Wer hat sich nun wen ausgedacht? Sind die ‚da oben‘ Fiktion oder die ‚da unten‘? Und wie ist der menschliche Geist beschaffen, dass er sich über sich selbst Gedanken machen kann? Immerhin ist er in der Lage, sich (fiktiv) Gedanken zu machen über andere Lebensformen, die das gleiche Existenzrecht haben wie menschliche Lebewesen (anders als im Film, der die Sicht der Menschen auf die Insekten als schleimige ekelerregende Figuren zeigt, die besiegt und unterworfen werden müssen – aber dies zugleich in der Form einer Satire tut, die das Genre vorführt und diese Form des Kolonialismus verurteilt). „Die denken, dass es uns gibt, weil wir ja auch denken, dass es sie gibt!“ (S. 121) „Der Wahnsinn“, dieser Gedanke, der mit dem Weiterspinnen der Idee der Konstruktion der Wirklichkeit zugleich die Konstruktion eines Glaubens an Gott mit beinhaltet. „Aliens“ sind hier alle nichtirdischen Wesen. Und diese halten den Raum für die Einsicht in die Relativität menschlichen Denkens offen. Zugleich wird der Raum für ein den einzelnen übersteigendes – transzendentes – Denken eröffnet. Dieses wird im Gespräch zwischen zwei geistesverwandten Seelen entwickelt, die einen Kairos, einen erfüllten Augenblick miteinander erleben. Doch der Höhepunkt kommt noch.
Lied: Tiefer als das Meer (Liedblatt) 3. Szene: Freundschaft und Vergänglichkeit
Das Buch handelt von einer sehr ungleichen Freundschaft zunächst der beiden Jungen Maik und Tschick. (Maik begütert, aber wohlstandsverwahrlost, Tschick aus ziemlich prekären Verhältnissen und beide auf der Suche nach sich selbst.) Dazu ist Isa gekommen, Isa Schmidt. Die beiden lernen sie im Verlauf ihrer Reise auf einer Müllkippe kennen, auf der sie nach einem Schlauch zum Abzapfen von Benzin suchen. Sie müssen wiederwillig akzeptieren, dass Isa sich ihnen anschließt. Allerdings stinkt sie als Mitfahrerin so fürchterlich und ihr Haar ist so voller Läuse, dass Tschick sie zuerst zur Kultivierung in einen See schubst. Während der Verwandlung Isas ergeben sich erste zarte Berührungen zwischen Maik und Isa. Ihre Direktheit (Hast du schon mal gefickt?) verunsichert Maik, der sich einem Herzinfarkt nahe glaubt. Bei einer anschließenden Bergtour stoßen die beiden auf eine Hütte, die voll eingeschnitzter Initialen, Namen und Jahreszahlen ist. Bei Maik löst der Name Anselm Wail, 1903, eine Reflexion über die Vergänglichkeit aus, während Tschick beginnt ihre eigenen Initialen einzuschnitzen. Nach einer Stunde steht da: AT MK IS 10.
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• Lesung aus „Tschick“: S. 175“Jetzt denken alle, wir wären 1910 dagewesen“ bis S. 176: „da haben wir’s dann nicht gemacht“. Freundschaft, menschliche Nähe, so entdeckt Maik, ist Nähe auf Zeit und will doch eigentlich Dauer. Die Ahnung des möglicherweise bald bevorstehenden Endes ihres Zusammenseins wird durch eine Verabredung in 50 Jahren gemildert im Wissen um die bis dahin sicherlich völlig veränderten Umstände. Ein erstes Gespür für das Vergehen von Freundschaft und Jugend streift die drei und bewahrheitet sich dann schon beim Abstieg, als Isa mit einer Reisegruppe zu ihrer Halbschwester nach Prag entfleucht.“ Ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde oder frühestens in fünfzig Jahren.“
Szene 4: Es gibt mehr gute Menschen als böse • Lesung aus „Tschick“: S. 209“ Seit ich klein war“ bis Ende Seite 209“… was los war“. »Seit ich klein war, hat mir mein Vater beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht.« Das hat Maik allerdings nicht nur von seinem Vater gelernt, sondern scheinbar die ganze Welt der Erwachsenen ist davon überzeugt. Lehrer. Reporterinnen. Nachrichtensprecher. Alle, die durch ihre Tätigkeit das Leben anderer Menschen prägen, scheinen sich einig: Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Und jetzt passiert es, dass die beiden Jugendlichen entdecken: entweder sie hatten wahnsinnig Glück, dass sie nur dem einen Prozent guter Menschen begegnet sind, oder aber an dieser Erwachsenentheorie ist etwas faul. »Werdet wie die Kinder!« hat Jesus gesagt. Vielleicht genau aus diesem Grund. Weil sie genau wie Maik und Tschick durchs Leben gehen. Neugierig, abenteuerlustig, vielleicht ein bisschen naiv, aber mit einem soliden Grundvertrauen, dass schon alles irgendwie klappt. Sie schaffen es irgendwie, nicht nach versteckten negativen Botschaften in den Aussagen anderer zu suchen. Vielleicht sind sie ja gar nicht nur an »gute Menschen« geraten. Aber irgendwie haben sie es geschafft, in diesen Menschen das Gute zu sehen. Und oft ist das der erste Schritt. Wenn ich erfahre, dass mich jemand als gut ansieht, mir nicht misstraut, sondern mir Dinge zutraut – dann passiert etwas mit mir. Dann erkenne ich, dass die Welt nicht nur schlecht ist, sondern dass ihr ein Zauber innewohnt. Dass sie eine Schönheit hat, die manchmal wie ein Schatz gehoben werden muss. Und dann bekommen wir Lust, durch unsere Worte und Taten diesen Schatz zu heben.
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• Musik
Fürbittengebet:
Guter Gott, schenke uns Vertrauen. Schenke uns Vertrauen in Dich und in deine Menschheit. Schenke uns den Kraft, den nächsten Schritt zu tun. Schenke uns den Mut, aufzubrechen, auch wenn wir nicht genau sehen, was auf uns zukommt. Nimm unsere Zweifel und verwandle sie in Zuversicht. Gott des Himmels und der Erde, nur zusammen sind wir ganz; in der Beziehung zu Dir und zu anderen werden wir zu den Menschen, wie Du sie Dir vorgestellt hast zu Anbeginn der Schöpfung. Stärke uns darin, Dein Schöpfungswerk, Menschen, Tiere, Natur, zu bewahren und zu erhalten, damit das Leben für alles Leben eines in Fülle ist. Vater Unser…
Lied: Vertraut den neuen Wegen (EG 395,1–3) • Segen
Filmanhang
Grundlagen (Filme in der Reihenfolge des Auftretens):
Die zehn Gebote (Cecil B. DeMille, USA 1956) Das brandneue Testament (Jaco van Dormael, Belgien/Frankreich/Luxemburg 2015) Johanna von Orleans (Luc Besson, F 1999) Gott existiert, ihr Name ist Petrunya (Teona Strugar Mitevska, Nordmazedonien/ Belgien/Slowenien/Kroatien/Frankreich 2019) The Beach (Danny Boyle, USA/UK 2000) Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (David Yates, UK/USA 2011) Arrival (Denis Villeneuve, USA 2016) Planet der Affen-Survival (Matt Reeves, USA 2017) Blade Runner 2049 (Denis Villeneuve, USA 2017) A Serious Man (Ethan & Joel Coen, USA 2009) Leviathan (Andrei Swjaginzew, Russland 2014) Adams Äpfel (Anders Thomas Jensen, Dänemark 2006) Jesus von Montréal (Denys Arcand, Kanada/Frankreich 1989) The American (Anton Corbijn, USA 2010) Biutiful (Alejandro Gonzáles Iñárritu, Mexiko/Spanien 2010) 40 Tage in der Wüste (Rodrigo García, USA 2017) Password Swordfish (Dominic Sena, USA 2001) The Dark Knight (Christopher Nolan, USA 2008) Gomorrha (Matteo Garrone, Italien 2008) © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 I. Kirsner, Komm und sieh: Religion im Film, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30131-6
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Filmanhang
Inglourious Basterds (Quentin Tarantiono, USA 2009) The Dark Knight Rises (Christopher Nolan, USA 2012) Butterfly Kiss (Michael Winterbottom, GB 1994) Fahrenheit 451 (Francois Truffaut, GB 1966) 1984 (Michael Radford, USA 1984) Tribute von Panem – Mockingjay 2 (Francis Lawrence, USA 2015) Mad Max – Fury Road (George Miller, USA 2016) “O.P.A.” (Marius Fietzeck, Martin Lapp D 2011) Die Stadt der Blinden (Fernando Mereilles, Brasilien/Japan/Kanada 2008) Melancholia (Lars von Trier, Dänemark/Schweden/Frankreich/Deutschland 2011) 2001 – Odyssee im Weltraum (Stanley Kubrick, GB 1968) Planet der Affen-Prevolution (Rupert Wyatt, USA 2011) Ex Machina (Andrew Garland, GB 2015) The Square (Ruben Östlund, Schweden/Deutschland/Frankreich/Dänemark 2017)
Filmgottesdienste:
Alles steht Kopf (Pete Docter, USA 2015) Arrival (Denis Villeneuve, USA 2016) Biutiful (Alejandro González Iñárritu, Mexiko/Spanien 2010) Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück (Matt Ross, USA 2016) Mad Max – Fury Road (George Miller, USA 2015) Nokan – Die Kunst des Ausklangs (Yojiro Takita, Japan 2008) Tribute von Panem – The Hunger Games (Gary Ross, USA 2012) Tschick (Fatih Akin, D 2016)