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German Pages 284 Year 2022
Koloniale und postkoloniale Mikrotoponyme
Koloniale und Postkoloniale Linguistik Colonial and Postcolonial Linguistics Herausgegeben von Stefan Engelberg, Peter Mühlhäusler, Doris Stolberg, Thomas Stolz und Ingo H. Warnke
Band 15
Koloniale und postkoloniale Mikrotoponyme Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Bezüge Herausgegeben von Verena Ebert, Tirza Mühlan-Meyer, Matthias Schulz und Doris Stolberg
ISBN 978-3-11-076872-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076877-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076879-4 Library of Congress Control Number: 2021948891 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Verena Ebert, Tirza Mühlan-Meyer, Matthias Schulz und Doris Stolberg Koloniale und postkoloniale Mikrotoponyme. Strukturen, Funktionen und Verwendungen | 1
Teil I:
Kolonialismus und Karten
Winfried Speitkamp Akteure und Praktiken kolonialer Raumaneignung. Funktionen und Transformationen | 15 Wolfgang Crom Der Quellenwert von Karten als Träger sprachlicher Landschaften | 33
Teil II: Fallstudien Fernando Hélio Tavares de Barros, Lucas Löff Machado und Angélica Prediger Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus | 63 Marie A. Rieger Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet | 95 Wolfgang Crom Benennungen, Umbenennungen und Übersetzungen von kolonialen Namen in ihrer Repräsentation auf Karten | 121 Sandra Herling Hotelnamen in den französischen Kolonien Afrikas und Asiens | 141
VI | Inhalt
Paolo Miccoli Italokoloniale Urbanonyme im Vergleich. Tripolis und Rom während Liberalismus und Faschismus | 167 Lenka Kalousková Kolonial intendierte Urbanonyme in Böhmen und Mähren nach der Eroberung durch das nationalsozialistische Regime | 189 Inga Siegfried-Schupp Kolonial intendiert oder vom Kolonialismus geprägt? Zu den Auswirkungen der europäischen Kolonialdiskurse in der Mikrotoponymie der Nordwestschweiz | 209
Teil III: Postkoloniale Perspektiven Kim Sebastian Todzi Von der „Wißmannstraße“ zu „Freedom Roads“. Koloniale Urbanonyme in Hamburg und erinnerungspolitische Kontroversen der Gegenwart | 225 Tirza Mühlan-Meyer Argumentationen und Einstellungen in Diskursen um Umbenennungen kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen | 245 Autoren- und Personenregister | 269 Sachregister nebst geografischen Bezeichnungen | 274
Verena Ebert, Tirza Mühlan-Meyer, Matthias Schulz und Doris Stolberg
Koloniale und postkoloniale Mikrotoponyme. Strukturen, Funktionen und Verwendungen 1 Fachliche Verortung. Überblick über die Disziplin Toponyme spielen in kolonialen wie postkolonialen Diskursen eine relevante Rolle, da sie sich in besonderer Weise für die Versprachlichung von Herrschaftswünschen und -ansprüchen und die Fixierung von Macht durch Sprache eignen. Der Zusammenhang zwischen Toponymen und Kolonialismus ist zentraler Forschungsgegenstand der Kolonialen und Postkolonialen Toponomastik, einem Gebiet, das sich in zwei Forschungsrichtungen verortet: der Onomastik und der Koloniallinguistik. Forschung im Bereich der Onomastik beschäftigte sich lange Zeit vorrangig mit Fragen nach Herkunft und Bedeutung im Rahmen der Familiennamenforschung sowie mit Namensschichten und Siedlungsgeschichte im Rahmen der historischen Ortsnamenforschung. Seit einigen Jahren werden jedoch neue Ansätze entwickelt, die nach mit Namen verbundenen Konnotationen, nach Namenfunktionen, nach der (vergleichenden) Morphologie von Namen, nach Namenorthographie, Namengrammatik und der Verwendung von Namen in Texten und Diskursen fragen (u. a. Nübling 2012, 2018; Dräger et al. 2021). Onomastische Themen machen mit diesen Schwerpunktsetzungen ihre linguistische Relevanz und ihren starken Bezug zu aktuellen linguistischen Forschungsdiskussionen sichtbar (vgl. Engelberg und Stolz 2016) und werden daher zunehmend auch in thematisch übergreifenden linguistischen Zeitschrif-
|| Verena Ebert, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected] Tirza Mühlan-Meyer, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected] Matthias Schulz, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected] Doris Stolberg, Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, R 5, 6-13, 68161 Mannheim, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-001
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ten und auf allgemeinlinguistischen Tagungen verhandelt (z. B. Stolz und Warnke 2016; 41. DGfS-Jahrestagung 2019). Die Koloniallinguistik ist im Vergleich zur Onomastik ein noch junges linguistisches Fachgebiet. Mit system- und gebrauchsorientierten Fragen nach Funktionen von Sprache in kolonialen Machtkonstellationen und den dadurch bedingten nach- und postkolonialen Effekten, also mit der übergeordneten Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Kolonialismus, hat sie sich im vergangenen Jahrzehnt rasch etabliert (vgl. u. a. Warnke 2009; Stolz et al. 2011; Dewein et al. 2012; Schmidt-Brücken et al. 2015). Wissenschaftliche Aktivitäten umfassen zahlreiche Workshops und Tagungen, die Entstehung einer Forschungsgruppe Koloniallinguistik sowie institutionalisierte Schwerpunktprogramme (u. a. Creative Unit Koloniallinguistik – Language in Colonial Contexts, Universität Bremen; Study Group Koloniallinguistik, Hanse-Wissenschaftskolleg; abgeschlossenes DFG-Projekt Digitale Sammlung Deutscher Kolonialismus, Universität Bremen/ Staatsbibliothek Bremen). Wichtige programmatische Beiträge und Einzelstudien zu den Zusammenhängen von Sprache, Linguistik und Kolonialismus liegen in der Reihe „Koloniale und Postkoloniale Linguistik“ vor, zu der auch dieser Band gehört. Das Journal of Postcolonial Linguistics legt darüber hinaus einen besonderen Fokus auf postkoloniale Aspekte von Sprache und Linguistik. An der Schnittstelle zwischen diesen beiden Forschungsbereichen ist die Koloniale und Postkoloniale Toponomastik (im Weiteren auch: Kolonialtoponomastik) angesiedelt. Ihr Gegenstand ist mit der Erhebung und Analyse von kolonialen Mikro- und Makrotoponymen weit gespannt. Es geht in einer Kombination von strukturell-systemlinguistischen und diskursbezogenen Zugriffen um Untersuchungen zu Namengebungspraktiken, Namenstrukturen, Namenverwendung und -wirkung von Benennungen und Umbenennungen, die in einer doppelt verschränkten Perspektive stehen: Einerseits liegt der Fokus auf dem Sprachhandeln mit Namen, das von Akteuren und Akteurinnen europäischer Kolonialmächte in der faktischen Kolonialzeit in den Kolonien ausgeht. Zugleich wird aber auch das Sprachhandeln mit Namen in den europäischen Metropolen, also den Kolonialmächten Europas selbst, in den Blick genommen, und zwar sowohl in der Kolonialzeit als auch in der Zeit nach dem Ende des faktischen Kolonialismus; dies in der Erkenntnis, dass Kolonialismus nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt beendet war, sondern dass das Thema ein grundlegendes Epistem der Neuzeit darstellt, das bis heute das Denken, Sprechen und Handeln auf beiden Seiten beeinflusst und prägt (vgl. Warnke und Schmidt-Brücken 2011). Die Art des Forschungsgegenstandes schlägt sich in den Methoden und analytischen Zugängen kolonialtoponomastischer Studien nieder. Die Kolonialtoponomastik greift die seit einigen Jahren von den Critical Toponomies (vgl.
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Berg und Vualteenaho 2009) herausgestellten Argumente zur Relevanz von Namen in Hinblick auf die Versprachlichung von Herrschaftswünschen und -ansprüchen und die Fixierung von Macht durch Sprache auf. Sie fordert aber zugleich einen streng empiriebasierten und von sprachwissenschaftlichen Methoden geprägten Zugriff auf kolonial intendierte Verfahren der sprachlichen Raumdeskription und Raumaneignung und unterscheidet sich darin von stärker kulturwissenschaftlich orientierten Disziplinen (vgl. Schulz 2018). In kolonialtoponomastischen Studien werden – auf der Grundlage von kriterienbasierten Erhebungen und Inventarbildungen – in system- und diskurslinguistischen Zugriffen Strukturen, Funktionen und Verwendungen von Makro- und Mikrotoponymen mit belegbar intendiertem, aber auch mit kollektiv zugesprochenem oder lediglich behauptetem kolonialen Bezug analysiert. Wichtige Aspekte sind dabei die kontrastive Analyse der morphologischen Strukturen kolonialer Namen, Untersuchungen zu ihrer Verbreitung, zu der mit ihnen verbundenen Konnotationen, die Auswertung der jeweiligen Namenfunktionen, die Modellierung des Stellenwerts von Toponymen in historischen und aktuellen Diskursen und schließlich die Erhebung und Untersuchung von toponymischen Clusterbildungen und ihrer Präsenz als sprachliche Zeichen im Raum. Die Beantwortung von solchen Fragestellungen setzt die linguistische Identifizierung und die strukturierte Erhebung der kolonialzeitlichen und kolonialzeitbezogenen Toponyme voraus: Eine linguistische Korpusbildung also, bei der nach Möglichkeit objektivierbare und seriell anwendbare sprachliche Kriterien Verwendung finden. Für die systematische Erhebung ist eine Auswertung von Texten in einem weit gefassten Textverständnis erforderlich; es geht unter anderem um Zeitungen, Verordnungen, Adressbücher, Postkarten, aber gerade auch um kartographische Werke. Für Untersuchungen zum aktuellen Gebrauch von Namen sind zudem gesprächsanalytische Studien von hohem Interesse.
2 Zu diesem Band Toponymische (Um-)Benennungen waren Teil des Sprachhandelns der Kolonisatoren sowohl im kolonisierten Raum als auch in den sogenannten kolonialen Metropolen.1 Diese sprachlichen Praktiken werden seit einigen Jahren in kolo-
|| 1 Der Terminus Metropole wird hier, wie in koloniallinguistischem und kolonialhistorischem Fachdiskurs üblich, verwendet, um das Kerngebiet bzw. die herrschaftsausübende politische Entität kolonialer Aktivitäten zu bezeichnen (vgl. u. a. Schulz und Ebert 2016: 357; Speitkamp 2005: 11). Es soll jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Verwendung
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niallinguistischer und onomastischer Perspektive eingehend erforscht. Dazu wurden in Fallstudien zur Produktion kolonial motivierter Toponyme und zu (historischen) Benennungs- und Umbenennungspraktiken Nameninventare erhoben, analysiert und verglichen. In solchen Zusammenhängen wurden auch Fragen zu strukturellen und funktionalen Besonderheiten (oder Übereinstimmungen) zwischen Benennungspraktiken im kolonisierten Raum und Benennungspraktiken in den sog. kolonialen Metropolen sowie nach dem Vorhandensein übergreifender sprachlicher Strukturen bei Benennungs- und Umbenennungspraktiken unterschiedlicher europäischer Kolonialmächte aufgeworfen (vgl. Stolz und Warnke 2018). Neben sprachstrukturellen Analysen werden aktuell auch Fragestellungen zu Repräsentation, Verwendung und zu den semantischen Strukturen kolonialer Mikro- und Makrotoponyme in Texten und Diskursen in den Blick genommen. So wird unter anderem untersucht, inwiefern von Seiten der Metropole, z. B. durch kommemorative Benennungen, eine Einschreibung kolonialer Machtstrukturen in die kolonisierten Gebiete erfolgte. Neben Benennungen werden dabei nun auch Umbenennungen als musterhafte, system- und diskursanalytisch zu untersuchende onymische Einheiten erfasst. Analysen von sprachlichen Benennungs- wie auch Umbenennungsprodukten werfen dabei auch Fragen nach sprachlicher Wahrnehmung und sprachlichen Einstellungen auf. Gesprächsanalytische Verfahren erweitern das Spektrum koloniallinguistischer Untersuchungsmethoden. Sie können Befunde zur Identifizierbarkeit und zur sprachlichen Bewertung onomastischer Einheiten als koloniale Toponyme aus zeitlicher Distanz heraus erbringen, usuelle Argumentationsmuster aufdecken und womöglich auch strukturelle Hinweise zur Wahrnehmung und Bewertung endonymischer und exonymischer Einheiten und der Priorisierung bestimmter Typen von Modifikatoren und Klassifikatoren liefern. Diskurse um toponymische Benennungen und Umbenennungen im postkolonialen Kontext spiegeln unterschiedlicher Positionierungen in Bezug darauf wider, sich mit kolonialbezogener Kommemoration kritisch auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls zu überschreiben. Umbenennungen können sowohl in der Metropole als auch in ehemaligen Kolonialgebieten stattfinden (vgl. Ebert 2018, 2021; Schulz und Aleff 2018; Schulz 2018) und eine unterschiedliche toponymische Granularität aufweisen. So können Entitäten auf makrotoponymischer Ebene, z. B. Städte oder Gebirge, umbenannt werden, aber auch kolo-
|| bzw. Angemessenheit des Terminus in jüngster Zeit kritisch diskutiert wird, da eine klare Grenzziehung, zumindest hinsichtlich toponymischer Muster, sachlich nicht immer eindeutig begründbar ist.
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niale Urbanonyme und Mikrotoponyme2 wie Straßen- und Hotelnamen oder Bergflanken werden überschrieben (vgl. u. a. Stolz und Warnke 2015; Schulz und Ebert 2016). Unter anderem in Deutschland, als einer historischen kolonialen Metropole, ist es in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Art des kolonialen Erbes gekommen. Verschiedene Akteursgruppen vertreten hinsichtlich von Umbenennungen eine Bandbreite an Interessen, wobei ein handlungsbefähigender Konsens teilweise erst nach komplexen diskursiven Auseinandersetzungen erreicht werden kann (vgl. Schulz 2018; Todzi in diesem Band; Mühlan-Meyer in diesem Band). Die aktuelle Kolonialtoponomastik kann sich in der erreichten Vielfalt methodischer Zugriffe damit der Frage nähern, welche Rolle koloniale Toponyme (als Benennungen und Umbenennungen) bei sprachlicher Kolonisierung, aber womöglich auch bei angestrebten sprachlichen Dekolonisierungsprozessen einnehmen. Diese Fragestellungen werden in den hier versammelten Beiträgen datenbasiert und einzelsprachübergreifend erörtert.
3 Die Beiträge In den hier zusammengestellten Beiträgen3 werden drei übergeordnete Fragestellungen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet: – Auf welche Weise und in welcher Form spiegeln Benennungen und Umbenennungen eine koloniale Weltsicht wider? – Wie tragen Praktiken und Prozesse der Benennung und Umbenennung zur Fixierung einer kolonialen Weltsicht bei? – Wie können derartige Prozesse und (Um-)Benennungen andererseits dieser Fixierung entgegenwirken bzw. sie aufheben und damit zu (raumsprachlicher) Dekolonisierung beitragen?
|| 2 Zur Funktion und Einordnung von Mikrotoponymen im kolonialen Kontext vgl. Schulz und Aleff (2018). Eine Bedeutungsklärung in Bezug auf die Termini Urbanonym und Mikrotoponym nehmen Schulz und Ebert (2016) vor. 3 Die zugrundeliegenden Beiträge wurden auf koloniallinguistischen Tagungen (Würzburg 2016, Bremen/DGfS-Tagung 2019) erstmals diskutiert. Wir danken allen Beitragenden für ihre Vorträge, den anschließenden umfangreichen (auch schriftlichen) Diskussionsprozess sowie den externen Begutachterinnen und Begutachtern für ihre freundliche Unterstützung, die zur Verbesserung des Bandes beigetragen hat.
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In allen Beiträgen geht es dabei um Mikrotoponyme, z. B. für Straßen, Hotels, landwirtschaftliche Betriebe oder naturräumliche Geo-Objekte, und der jeweilige Bezug zu kolonialem Handeln, kolonialem Habitus oder kolonialem Interesse wird herausgearbeitet. Die Beiträge widmen sich den Themen anhand unterschiedlicher Methodiken und bezogen auf verschiedene Schwerpunkte. Betrachtet werden Benennungen und Umbenennungen in Kolonialgebieten ebenso wie in kolonialen Metropolen aus synchroner und diachroner Perspektive, schriftsprachbasiert, interviewbasiert oder auf der Grundlage von Einträgen in Karten. Praktiken der (Um-)Benennung, Funktionen von Toponymen oder die Effekte mehrsprachiger Parallelbenennungen werden in den verschiedenen Beiträgen fokussiert. Die hier versammelten Beiträge zeigen auf diese Weise exemplarisch die Breite des Spektrums kolonialtoponomastischer Studien und verbinden dabei geschichtswissenschaftliche und kartographiegeschichtliche mit genuin linguistischen Perspektiven. Der Band ist in die Abschnitte (I) Kolonialismus und Karten, (II) Fallstudien und (III) Postkoloniale Perspektiven gegliedert. Der erste Abschnitt umfasst zwei Beiträge, die zunächst aus nicht spezifisch linguistischer Sicht ein Schlaglicht auf Fragen von Kolonialismus und Namenvergabe werfen und so die Vernetztheit der Kolonialtoponomastik im größeren Rahmen der Colonial and Postcolonial Studies widerspiegeln. Winfried Speitkamp untersucht in seinem Beitrag „Akteure und Praktiken kolonialer Raumaneignung. Funktionen und Transformationen“ die Motive und Funktionen von Raumbenennungen in den deutschen Kolonialgebieten in Afrika. Unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens unterschiedlicher deutscher und afrikanischer Akteure zeichnet er in geschichtswissenschaftlicher Perspektive nach, dass die Konkretisierung kolonialer Raumaneignung nicht durchweg als ein vollständig intendierter Prozess verlief, dass jedoch die Strukturen der kolonialen Raumordnung eine Demonstration kolonialer Leistungen des Kaiserreichs darstellten und langfristige Auswirkungen entfalteten. Während hier der Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von toponymischen Benennungen und kolonialhistorischen Interaktionen liegt, nimmt Wolfgang Crom im folgenden Beitrag zu dem Thema „Der Quellenwert von Karten als Träger sprachlicher Landschaften“ kolonialkartographische Aspekte in den Fokus. Er zeichnet die Interdependenz zwischen der Erschließung der Kolonien und dem Entstehen einer zunehmend differenzierten Kolonialkartographie, einschließlich der Erhebung, Dokumentation und Vergabe von Toponymen, nach. Davon ausgehend zeigt er auf, in welcher Hinsicht kolonialzeitliche Karten wertvolle toponomastische Quellen darstellen und welche Überlegungen bei ihrer linguistischen Nutzung zu berücksichtigen sind.
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Im zweiten Abschnitt wird in insgesamt sieben Fallstudien Formen, Funktionen und Mustern kolonialer und kolonial intendierter Mikrotoponymien nachgegangen. Geographisch breit aufgestellt (Europa, Afrika, Asien und Südamerika), nehmen sie teils die Perspektive der Kolonialgebiete und teils die der Metropole ein, ziehen diachrone Vergleiche und diskutieren das Auftreten kolonial motivierter Benennungspraktiken auch in Abwesenheit einer konkreten kolonialen Machtstruktur. In den ersten beiden Beiträgen steht die Inventarisierung und Klassifizierung kolonialzeitlicher deutschsprachiger Toponyme im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Der Beitrag „Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus“ von Fernando Hélio Tavares de Barros, Lucas Löff Machado und Angélica Prediger befasst sich mit kolonialzeitlicher Toponymie in Brasilien, einem Land, das nicht offiziell deutsch kolonisiert wurde, jedoch seit dem 19. Jahrhundert Ziel deutscher Siedlungsmigration war. Infolgedessen finden sich bis heute neben portugiesischsprachigen auch deutschsprachige Toponyme, die bisher jedoch nur unvollständig inventarisiert wurden. In einer Methodenkombination aus semistrukturierten Interviews und der Analyse unterschiedlicher Arten von schriftlichen Quellen soll das Gesamtinventar deutschsprachiger Toponyme in Brasilien erhoben werden. Der Beitrag stellt den aktuellen Stand dieser Erhebung dar, identifiziert noch bestehende Forschungslücken und verweist auf den Erkenntnisgewinn einer solchen Inventarisierung in Bezug auf eine mehrsprachigkeitsorientierte Toponomastik. Auch der Beitrag von Marie A. Rieger zum Thema „Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet“ befasst sich mit der Inventarisierung von kolonialzeitlichen Toponymen, hier mit Bezug auf das deutsche Kolonialgebiet. Das Usambaragebiet war Teil der deutschen Kolonie DeutschOstafrika, die im Gegensatz z. B. zu Deutsch-Südwestafrika nicht als Siedlungs-, sondern als Beherrschungskolonie konzipiert war. Im Usambaragebiet entstand dennoch eine nicht unbedeutende Zahl deutscher Landwirtschaftsbetriebe. Auf der Basis ihrer toponomastischen Analysen kann Rieger zeigen, dass die Namenmuster im Usambaragebiet interessante Parallelen zu denen der Siedlungskolonie Deutsch-Südwestafrika aufweisen und dass sich so die Art der Kolonisierung in den kolonialtoponymischen Strukturen widerspiegelt. Ein weiterer Aspekt der kolonialen Toponymie Deutsch-Ostafrikas steht im Zentrum des Beitrags „Benennungen, Umbenennungen und Übersetzungen von kolonialen Namen in ihrer Repräsentation auf Karten“ von Wolfgang Crom. Karten sind nicht nur eine wichtige Informationsquelle für kolonialzeitbezogene toponomastische Untersuchungen; sie stellen auch für ihre jeweilige Zeit ein Medium der Machtrepräsentation dar, dessen Wirkmächtigkeit nicht zuletzt an
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das Prestige des geschriebenen Wortes geknüpft ist. In diesem Beitrag geht es um Benennungen des Kilimandscharo und mehrere seiner Teilbereiche, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im kolonialen Kontext vorgenommen wurden und Eingang in geographische Karten fanden. Crom zeichnet nach, welche Entwicklungen und Dynamiken von Benennungen und Umbenennungen sich anhand dieser Karten rekonstruieren lassen und welche der Namen bis in die Gegenwart Verwendung finden. Die beiden anschließenden Beiträge betrachten koloniale Mikrotoponyme einerseits in Bezug auf ihre morphologische Struktur, andererseits fragen sie nach der Motivik der Benennungen. In ihrem Beitrag „Hotelnamen in den französischen Kolonien Afrikas und Asiens“ nimmt Sandra Herling im Kontext des sich entwickelnden französisch-kolonialzeitlichen Tourismus einen Vergleich zwischen Benennungsmustern von Hotels vor. Dabei arbeitet sie heraus, dass sich systematische Unterschiede zwar nicht in der Struktur der Hotelnamen, jedoch in der Motivik nachweisen lassen, die unter anderem durch die geographische Verortung in den verschiedenen Kolonien und im Vergleich zur Metropole erklärt werden können. Da es sich bei den Hotels überwiegend um Gebäude handelt, die seitens der Kolonialmacht errichtet wurden, beschäftigt sich diese Untersuchung in doppelter, nämlich sprachlicher wie architektonischer, Hinsicht mit der Sichtbarmachung des kolonialen Herrschafts- und Verfügungsanspruchs. Paolo Miccoli untersucht in seinem Beitrag „Italokoloniale Urbanonyme im Vergleich. Tripolis und Rom während Liberalismus und Faschismus“ ebenfalls Strukturen und Benennungsmotiviken kolonialer Mikrotoponyme, hier in Bezug auf Italien als Kolonialmacht. Im Fokus stehen dabei primär Hodonyme (Straßennamen) in italienischen Kolonien und der Metropole, und zwar einerseits während der liberalen und andererseits während der faschistischen Epoche. Auf der Grundlage von historischen Stadtplänen erhebt und analysiert Miccoli exonymische Straßen- und Platznamen in Tripolis (für die Kolonien) und koloniale Hodonyme in Rom (für die Metropole). Anders als Hotelnamen sind Hodonyme das Ergebnis administrativer Beschlüsse und können so Auskunft über staatliche Strategien der kolonialen Repräsentation geben, die, wie Miccoli zeigt, in den Kolonien und der Metropole unterschiedlich ausgestaltet wurde. In den folgenden beiden Beiträgen geht es um kolonial intendierte Toponyme in Zusammenhängen, die nur mittelbar dem imperial-kolonialen Kontext zuzurechnen sind. Eine zeitliche Parallele zur faschistischen Epoche Italiens weist der Beitrag von Lenka Kalousková auf, der sich auf die nationalsozialistische Besetzung des Sudetenlandes bezieht. In ihrem Beitrag „Kolonial intendierte Urbanonyme in Böhmen und Mähren nach der Eroberung durch das nationalsozialistische Regime“ analysiert Kalousková die Motivik der in diesem
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politisch-historischen Kontext vorgenommenen Umbenennungen. Sie geht der Frage nach, ob die Umbenennungen koloniale Muster aufweisen und damit als kolonial intendiert zu klassifizieren sind, und legt auf der Basis der analysierten Daten dar, dass dies nur in einzelnen Fällen zutrifft. Namen mit kolonialem Bezug finden sich auch in der Schweiz, die nicht als koloniale Metropole in Erscheinung trat. Inga Siegfried-Schupp untersucht in ihrem Beitrag „Kolonial intendiert oder vom Kolonialismus geprägt? Zu den Auswirkungen der europäischen Kolonialdiskurse in der Mikrotoponymie der Nordwestschweiz“ Formen von Benennungen im Basler Raum, die kolonial motiviert erscheinen. Auch hier geht es um die Frage, ob eine koloniale Intention bei den Benennungen vorlag, obgleich der machtpolitische Kontext nicht im engen Sinne dem Kolonialismus zugerechnet werden kann. Auf der Grundlage ihrer Analysen differenziert Siegfried-Schupp zwischen verschiedenen Formen kolonial beeinflusster Motivik, die zu einer Erklärung der vorliegenden Benennungspraktiken beitragen können. Im dritten Abschnitt, Postkoloniale Perspektiven, wird der Blick schließlich auf Umbenennungen bzw. Substituierungen kolonial motivierter Mikrotoponyme in der Bundesrepublik Deutschland, d. h. in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, gelenkt. In den zwei abschließenden Beiträgen werden Diskurse und Einstellungen untersucht, die in direktem Zusammenhang mit kolonialen Toponymen und postkolonialen Umbenennungen stehen. Im Fokus des Beitrags „Von der ‚Wißmannstraße‘ zu ‚Freedom Roads‘. Koloniale Urbanonyme in Hamburg und erinnerungspolitische Kontroversen der Gegenwart“ von Kim Sebastian Todzi stehen Benennungs- und Umbenennungsdiskurse in Bezug auf koloniale Toponyme in der Hansestadt. Todzi zeichnet vergleichend den Verlauf und die Perspektivierung verschiedener Umbenennungsprozesse nach. Indem er auf verschiedene Akteursgruppen und ihre Argumentationslinien eingeht, kann er zeigen, dass nicht nur erinnerungs-, sondern auch identitätspolitische Aspekte in diesen Debatten eine Rolle spielen. Ebenfalls in den Bereich der postkolonialen Toponomastik ist der Beitrag zu „Argumentationen und Einstellungen in Diskursen um Umbenennungen kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen“ von Tirza Mühlan-Meyer einzuordnen. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung sind Umbenennungen in Berlin und Bremen und die darauf bezogenen Debatten. Als Datenbasis dienen Radiodiskussionen und Vor-Ort-Interviews. Auf dieser Grundlage analysiert MühlanMeyer, welche Argumentationen sowohl von Passanten als auch von verschiedenen Akteursgruppen zur Unterstützung oder Ablehnung von Umbenennungen formuliert werden, welche Einstellungen zu toponymischen Umbenennungen geäußert werden und wie deren diskursive Aushandlung stattfindet.
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Der Band bietet einen breiten Einblick in aktuelle Forschungsthemen der Kolonialen und Postkolonialen Toponomastik. Er zeigt sowohl die interdisziplinären Verbindungen des Forschungsgebietes, z. B. zu Geschichte und Kartographie, als auch vielfältige Fokussierungen in Bezug auf koloniale, kolonial intendierte und postkoloniale Kontexte. Herzlich danken möchten wir allen Beitragenden für ihre Bereitschaft, sich an diesem Band zu beteiligen und für ihre Geduld im Vorbereitungsprozess der Bandherausgabe; Cornelia Stroh für ihre wie immer äußerst professionelle Unterstützung bei der Vorbereitung des Bandes; und dem Verlag de Gruyter für die freundliche Aufnahme in die Reihe Koloniale und Postkoloniale Linguistik.
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Schulz, Matthias & Maria Aleff. 2018. Mikrotoponyme in der Kolonialtoponomastik: DeutschSamoa und Deutsch-Neuguinea. In Thomas Stolz & Ingo H. Warnke (eds.), Vergleichende Kolonialtoponomastik, 125–160. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Schulz, Matthias & Verena Ebert. 2016. Wissmannstraße, Massaiweg, Berliner Straße. Kolonial intendierte Urbanonyme. Befunde, Perspektiven, Forschungsprogramm. Beiträge zur Namenforschung 51(3/4). 357–386. Speitkamp, Winfried. 2005. Deutsche Kolonialgeschichte. Stuttgart: Reclam. Stolz, Thomas, Christina Vossmann & Barbara Dewein (eds.). 2011. Kolonialzeitliche Sprachforschung. Die Beschreibung afrikanischer und ozeanischer Sprachen zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Berlin: Akademie Verlag. Stolz, Thomas & Ingo H. Warnke. 2015. Aspekte der kolonialen und postkolonialen Toponymie unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Kolonialismus. In Daniel SchmidtBrücken, Susanne Schuster, Thomas Stolz, Ingo H. Warnke & Marina Wienberg (eds.). Koloniallinguistik, 107–176. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Stolz, Thomas & Ingo H. Warnke. 2016. When places change their names and when they do not. Selected aspects of colonial and postcolonial toponymy in former French and Spanish colonies in West Africa – the cases of Saint Louis (Senegal) and the Western Sahara. International Journal of the Sociology of Language 239. 29–56. Stolz, Thomas & Ingo H. Warnke (eds.). 2018. Vergleichende Kolonialtoponomastik. Berlin & Boston: De Gruyter Mouton. Warnke, Ingo H. (ed.). 2009. Deutsche Sprache und Kolonialismus: Aspekte der nationalen Kommunikation 1884–1919. Berlin & New York: De Gruyter. Warnke, Ingo H. & Daniel Schmidt-Brücken. 2011. Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele – Linguistischer Sprachgebrauch als Ausdruck von Gewissheiten. In Thomas Stolz, Christina Vossmann & Barbara Dewein (eds.), Kolonialzeitliche Sprachforschung: Die Beschreibung afrikanischer und ozeanischer Sprachen zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft, 31–54. Berlin: Akademie Verlag.
| Teil I: Kolonialismus und Karten
Winfried Speitkamp
Akteure und Praktiken kolonialer Raumaneignung. Funktionen und Transformationen Zusammenfassung: Koloniale Herrschaft über Raum entstand im Zusammenwirken einer Vielzahl deutscher und afrikanischer Akteure vor Ort, die sich je eigene Vorteile versprachen. Im Dreischritt von Bewegung, Ordnung und Belegung konkretisierte sich koloniale Raumaneignung, ohne dass dies ein durchweg intendierter Prozess gewesen wäre. Die Belegung durch Namen und Denkmäler diente dabei nicht primär der Herrschaftssicherung. Vielmehr ging es darum, Zusammenhalt und Identität der Deutschen in der Kolonie zu festigen und die Leistungen gegenüber dem Reich zu demonstrieren. Auf lange Sicht waren es weniger die Namen und Symbole als die Strukturen und Elemente der kolonialen Raumordnung, die bis in die nachkoloniale Zeit hineinwirkten. Schlagwörter: Akteure; Belegung; Bewegung; Ordnung; Raum
1 Einleitung Kolonialismus ist Herrschaft über Raum. Koloniale Raumaneignung steht daher im Folgenden im Mittelpunkt. Schon mit der Begrifflichkeit wird allerdings eine gewissermaßen koloniale, jedenfalls eurozentrische, wenn nicht sogar germanozentrische Perspektive eingenommen: Europäer bzw. Deutsche eignen sich Raum an; andere Akteure scheinen nicht beteiligt. Tatsächlich wurde nicht nur damals, zur Zeit der europäischen Expansion im 19. Jahrhundert, sondern wird bis heute die Geschichte der kolonialen Raumaneignung als konsequenter, quasi determinierter, jedenfalls kaum zu bremsender Strom von Europa nach Übersee – bzw. nach Afrika, auf das dieser Beitrag sich weitgehend konzentriert – dargestellt. Auch die Deutung ist bis heute von kolonialen Mustern durchzogen, selbst wenn manche Fallstudien über Reisen und Expeditionen in Afrika stärker den Aushandlungsaspekt von Herrschaft in den Blick nehmen (jüngst zum Themenbereich Gräbel 2015; Fischer-Kattner 2015). Doch bis heute zeigen
|| Winfried Speitkamp, Bauhaus-Universität Weimar, Geschwister-Scholl-Straße 8, 99423 Weimar, E-Mail:[email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-002
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Karten in Schulbüchern und Handbüchern Afrika im 19. Jahrhundert als weißen Fleck, der langsam durch Europäer erschlossen und besetzt wurde und dadurch erst Namen erhielt, also dadurch erst in eine erkennbare Geschichte eintrat, gewissermaßen beseelt wurde (Reinhard 1990: 39, 55, 77). Selbst afrikanische Schulbücher spiegeln diese Sichtweise des fremden Eindringens in einen leeren Raum (Secondary History and Government 2005: 3, Fig. 1.1). Der Raum vor dem europäischen Zugriff war demnach amorph, unstrukturiert, scheinbar unbekannt, unbenannt und unbemannt. Und auch die Symbolik der Herrschaftsübernahme spiegelt dies: Berühmt wurde in Deutschland ein Foto, das einen afrikanischen Soldaten mit deutscher Reichsflagge auf einer Anhöhe zeigt (Unvergessenes Heldentum 1924; zur Deutung kolonialer Abbildungen auch Michels 2009). Es ist in seiner Ikonographie mit der Chiffre der Herrschaftsübernahme verbunden. Hier wird Herrschaft über Raum demonstriert, und zwar deutsche Herrschaft, wie die Fahne ausdrückt. Trotzdem irritiert, dass es kein deutscher Eroberer ist, der die Fahne hält; Akteur ist ein indigener Soldat, ein sogenannter Askari. Askaris waren in den eigenen Kolonien oder z. B. im Sudan angeworben worden; es handelte sich um Söldner, die meist heimatfern eingesetzt wurden (Morlang 2008). Die Deutschen waren, besonders nach 1918, nach dem Verlust der Kolonien, besonders stolz auf „ihre“ Askari, die sie nach preußischem Modell disziplinierten und ausbildeten und die angeblich treu auch in der Niederlage zu ihnen gehalten hätten. Noch bis in die NS-Zeit hinein und darüber hinaus wurde der Mythos, die Kolonien seien mit Hilfe der indigenen Bevölkerung, zumindest der Askari, erworben und verteidigt worden, keineswegs als Ehrkränkung angesehen – vorausgesetzt, die Führungsrolle der Deutschen wurde dabei anerkannt. Dennoch: Der Prozess der kolonialen Raumaneignung in Afrika, des Vordringens in vermeintlich weiße Flecken der Erde, war schwieriger, als Karten und Abbildungen vermuten lassen. Umso wichtiger ist es, genauer hinzuschauen. Der folgende Beitrag betrachtet zunächst Akteure, dann Praktiken sowie schließlich – knapper und resümierend – Funktionen und Transformationen der Raumaneignung.
2 Akteure Der Erwerb der deutschen Kolonien in Afrika war ein höchst unwahrscheinlicher Prozess (zur deutschen Kolonialerwerbung und Kolonialherrschaft in Afrika: Gründer 2012; Speitkamp 2017, 2021). Nur eine kleine Zahl von Personen aus Europa war beteiligt. Und diese Gruppe war außerordentlich heterogen: Die
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Beteiligten hatten unterschiedliche Motive und Gründe, nach Afrika zu reisen oder zu gelangen, sie hatten unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Verhaltensweisen. Der erste größere Personenkreis, der im 19. Jahrhundert Afrika südlich der Sahara erreichte, waren Reisende, manchmal eher Abenteurer, manchmal Personen mit geographischen oder ethnographischen Interessen, aber oft Autodidakten, auch Personen, die derart ihre wissenschaftliche Karriere vorantreiben wollten, einen kommerziellen Erfolg mit Reiseberichten anstrebten oder schlichtweg die Herausforderung des Unbekannten und des Abenteuers suchten. Von Mungo Park über Heinrich Barth und Henry Morton Stanley bis Carl Peters – es handelte sich um eine wiederum höchst heterogene Gruppe, die auch unterschiedliche Vorstellungen über afrikanische Gesellschaften mitbrachte. Anfangs dominierten noch ein gewisser Respekt, jedenfalls für Teile afrikanischer Kultur, dann setzte sich mehr und mehr am Vorabend der Kolonialzeit neben dem Gefühl kultureller Überlegenheit auch eine Vorstellung quasi rassischer Überlegenheit durch, bevor im 20. Jahrhundert zumindest einige Stimmen der entstehenden Afrikawissenschaft wieder ein ethnologisches und damit auch erhaltendes Interesse entwickelten. Die Reisenden kamen in einen Kontinent, der als unberührt galt, der „entdeckt“ werden musste. Besonders eindringlich ist eine Afrika-Karte aus dem Jahr 1873, die den Raum Afrika gleich mit den europäischen Personen benennt, die hier gereist waren (vgl. FischerKattner 2015: Karte 1). Und bis heute spiegeln Karten diese Vorstellungswelt (Putzger – Historischer Weltatlas 2001: 151). Mit den Reisen verdichtete sich das Wissen über Afrika, am Ende des Jahrhunderts zeigten zeitgenössische Lexika schon ein recht differenziertes Bild des Kontinents – mit Ortsbezeichnungen, die von den Reisenden vermittelt worden waren und die wiederum auf Erzählungen indigener Gesprächspartner zurückgingen. Die zweite Gruppe, die seit den 1820er Jahren nicht mehr nur an den Küsten und punktuell aktiv war, sondern ins Landesinnere drängte, waren Missionare (Fage und Verity 1978: Karte 61). Für die vorkoloniale Zeit ist das interessanteste und aus deutscher Sicht bekannteste Beispiel die Rheinische Missionsgesellschaft. Gegründet 1828, sandte sie schon 1842 Missionare in das Nama-Gebiet im südwestlichen Afrika (später Namibia). Das war eine Zone der Unruhe. Nama-Oorlam-Kommandos durchstreiften das Land und lebten von Gewalt und Raub bis in das Herero-Gebiet hinein. 1868 wandte sich die Mission an Großbritannien um Schutz, das zu diesem Zeitpunkt der naheliegende Ansprechpartner war: vor Ort präsent und militärisch hinreichend stark, um den Schutz der Europäer in der Region sicherzustellen. Später richteten sich Unterstützungsgesuche an die deutsche Reichsregierung. Bei der Vereinbarung von Schutzverträ-
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gen zwischen Vertretern des Reichs und örtlichen Großen in Südwestafrika wirkten Missionare nicht nur als Dolmetscher, sondern auch als Vermittler mit. Mission und koloniale Expansion waren hier eng verzahnt. De facto aber blieben viele Missionsstationen eher ephemer, mussten wegen Widerstand, Krankheit oder aus anderen Gründen wieder aufgegeben werden. Die Inbesitznahme stellte sich als beständiger Prozess der Expansion und Kontraktion dar, abhängig von der Konstellation vor Ort. Dies verlief ganz parallel zur kolonialen Expansion – Kolonialisierung war keine En-bloc-Übernahme, sondern der oft behinderte oder verzögerte Versuch, Ansprüche durch Präsenz zu realisieren. Allerdings betraf dieser Prozess im Fall der Missionare auch die Verbreitung des eigenen Glaubens: Denn bereits Getaufte lösten sich nicht selten wieder von der europäischen Kirche, wie es im Fall von Nama-Führern in Südwestafrika überliefert ist. Auch in Westafrika, hier zum Beispiel in Togo, war die Expansion der Mission, nämlich der Norddeutschen Missionsgesellschaft, von Rückschlägen gekennzeichnet. Auch hier war man schon vor der formellen Kolonialisierung seit 1884/85 aktiv, aber mehrfach mussten Missionsstationen wieder aufgegeben werden, infolge von Widerständen, Kriegen und wiederum auch Krankheit. Und tatsächlich etablieren konnte die Mission sich nur in der Küstenregion. Hier wie anderenorts blieb das Landesinnere den europäischen Missionaren vorerst verschlossen. Die nächste Gruppe von Akteuren waren Militärs, die manchmal als Reisende, wie Hermann Wissmann (Wissmann 1889, 1890), manchmal zur Unterstützung des Abschlusses von Überlassungsverträgen, manchmal zur Niederschlagung von Aufständen, wie wiederum Hermann Wissmann oder auch Lothar von Trotha, schließlich zur Sicherung der Herrschaft nach Afrika gelangten. Die gesamte Zeit der deutschen Kolonialherrschaft war von Versuchen geprägt, die in Afrika angeeigneten Territorien, nämlich Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika, militärisch zu sichern. Überall gab es Rückschläge, Widerstände, Steuer- oder Arbeitsverweigerungen. Militärische Expeditionen wurden dann in Marsch gesetzt. Für Militärs war das nur attraktiv als Bewährungsprobe und Aufstiegschance, oder es handelte sich um überzeugte Kolonialkämpfer wie im Fall des in China, Ostafrika und Südwestafrika aktiven Lothar von Trotha. Sie ließen ihre preußische Ausbildung hinter sich und entwickelten aus ihrer Sicht ortsangemessene, quasi „afrikanische“ Strategien, wie sie meinten, unter Vernachlässigung der Regeln des europäischen Kriegsvölkerrechts und im Kontext eines kolonialen Rassenkriegs, wie sie ihn verstanden (Bührer 2011). Aber auch sie blieben vor Ort eine kleine Minderheit. In Ostafrika waren am Maji Maji-Krieg nur wenige Tausend Soldaten beteiligt, nur 15 deutsche Soldaten kamen zu Tode – aber mehrere Hundert afrikanische Soldaten im
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deutschen Dienst und vermutlich Zehntausende afrikanische Gegner; an den Folgen der Kämpfe und der Zerstörung der Landschaft in einer Politik der verbrannten Erde starben bis zu 300.000 Afrikaner. Eine weitere deutsche Akteursgruppe in Afrika waren die Verwaltungsbeamten. An der Verwaltung der europäischen Kolonien in Afrika war nur eine kleine Zahl von Europäern beteiligt; die deutsche Administration verfügte über minimales Personal. 1896 bestand die Kolonialverwaltung zum Beispiel in Kamerun aus 15 Beamten, 1904 waren es 29, 1912 immerhin 81. Damit regierte man ein Territorium von rund vier Millionen Einwohnern und einer Fläche, die der des Deutschen Reiches entsprach. Im ausgehenden 19. Jahrhundert kamen noch technische Beamte und Ingenieure hinzu, welche die Eisenbahn und andere Infrastrukturmaßnahmen planten, auch sie nicht am Land, sondern an ihrer Aufgabe interessiert und auf die Rückkehr nach der Erledigung des Auftrags eingestellt. Deutsche Siedler, eine gleichermaßen wichtige Gruppe kolonialer Akteure, ließen sich nur in Deutsch-Südwestafrika nieder. Vor den Aufständen von 1904 lebten dort rund 4.600 Europäer, bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl auf knapp 15.000. In Ostafrika gab es allerdings eine kleine Gemeinde von Plantagenbesitzern und Plantagenpersonal, die ebenfalls eine gewisse Zeit in der Kolonie blieben und sich dort einrichteten, dabei eine eigene Kultur mit Freizeiteinrichtungen, Klubs, Sportvergnügungen und Feiern etablierten. Hinzu kamen andere Berufsgruppen, die vor allem in den Küstenstädten anzutreffen waren: Seeleute, Wirte, Händler von durchaus unterschiedlicher Herkunft und Nationalität, die in der Regel nur begrenzte Zeit blieben. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Reisenden, die noch von wissenschaftlichem Interesse, Jagdleidenschaft oder Abenteurertum getragen waren, dann schließlich abgelöst von den ersten Touristen, die nicht zuletzt, vor allem in der Zwischenkriegszeit, mit der Bahn durch Afrika reisten und die, gesichert durch die Panoramascheiben des Bahnwaggons, das Land nur als Amalgam von menschlicher, pflanzlicher und tierlicher Natur wahrnahmen. Sie waren nur periphere Gäste auf dem Kontinent. Ähnlich verhielt es sich mit denen, die das Land für bestimmte Aktivitäten und Sensationen aufsuchten, etwa indem sie mit dem Automobil durch Afrika fuhren und davon einer staunenden europäischen Öffentlichkeit berichteten (Graetz 1910). Am Kontinent selbst hatten sie kein Interesse; er blieb bloß Kulisse und schien quasi austauschbar. Die Gruppe der Europäer in den deutschen Kolonien war, wie dargestellt, klein, aber äußerst heterogen und recht mobil, teilweise blieben die Europäer nur kurz, teilweise lang in den Kolonien. Sie waren von unterschiedlicher sozialer Herkunft und hatten unterschiedliche Erwartungen. Manche waren akademisch gebildet, manche eher von handwerklicher oder bäuerlicher Herkunft,
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dazu zählten auch viele Missionare. Es handelte sich vor allem, nämlich zu zwei Dritteln, um Männer, und zwar um jüngere Männer. Das prägte ihre Erwartungen, ihre Verhaltensweisen und ihren ambivalenten Ruf und provozierte auch Kollisionen mit den Sittenvorstellungen und dann Rasseidealen in der Heimat. Kolonialvereine versuchten, für die Siedler in Südwestafrika gezielt Frauen anzuwerben und diese auszubilden für ein Leben als Ehefrauen der Siedler, um gewissermaßen Stabilität und Sittlichkeit zu importieren, aber das war nur von begrenztem Erfolg. Bei der deutschen Kolonialisierung handelte sich, wie eingangs betont, um eine ganz unwahrscheinliche Form von Erwerb und Herrschaft. Sie konnte nur gelingen, weil es auch zahlreiche afrikanische Akteure gab (vgl. Speitkamp 2013b): Kriegsherren vor Ort, mit denen man Schutz aushandelte oder jedenfalls zeitweise kooperierte, wie Tippu Tip (Autobiographie 1902/1903; Hahner-Herzog 1999) oder Mirambo (Bennett 1971; Wissmann 1889: 257), Chiefs, mit denen man Landabtretungs- oder Schutzverträge abschloss, regionale Führer, die man durch Vasallenvereinbarungen integrierte wie Hendrik Witbooi oder Samuel Maharero, afrikanische oder arabische Händler, die Waffen, Tauschware, Verpflegung, Übersetzer, Träger und Söldner an die europäischen Karawanen verkauften bzw. vermieteten. Vor allem diese Träger und Söldner waren lebenswichtig; Zehntausende Afrikaner dienten hier, ganze Regionen stellten sich auf den neuen Markt um, die jungen Männer verließen ihre Dörfer und verdingten sich an die Karawanen, so dass man die Gruppe der Nyamwezi in Inneren Tansanias sogar als Volk von Trägern bezeichnet hat (Rockel 2000). Letztlich waren es so auch Afrikaner, die das Eindringen ins Landesinnere ermöglichten. Das gilt ebenso für die Missionen, die ohne indigene Katecheten und andere Vermittler nicht ins Landesinnere hätten vordringen können. Kolonialisierung beruhte insofern auf dem – in der Regel nicht intendierten – Zusammenwirken vieler Akteure vor Ort, die sich je unterschiedliche Vorteile versprachen. Die Europäer bzw. Deutschen interagierten in kleinen, voneinander getrennten Gruppen, abgeschottet in einer besonderen Mikrokultur, die durch Vereine, Clubs, Beziehungen, Erzählungen aufrechterhalten wurde und von der Distanzierung vom Land und seinen indigenen Bewohnern zehrte. Gerade bei längerer Distanz zur Heimat wuchs das Misstrauen, das Gefühl, für die Nation in feindlicher Umgebung allein einzustehen, während zuhause Bürokraten und Parlamentarier aus sicherer Position kleinliche Kritik an Übergriffen und Skandalen übten. Eine Art Wagenburgmentalität konnte sich zumindest unter den Siedlern ausbreiten, die auch symbolisch ihren Ausdruck fand.
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3 Praktiken der Raumaneignung Vor diesem Hintergrund interessieren die konkreten Praktiken der Raumaneignung. Vereinfacht ausgedrückt sind das dreierlei: Bewegung, Ordnung, Belegung. Kolonialherrschaft bedeutete permanente Bewegung: von Menschen, Nachrichten, Waren, Waffen, Maschinen. Die beständigen militärischen Expeditionen gegen Widerstände wurden schon erwähnt; im Grunde gelang es bis 1914 nicht, alle Kolonien in einem stabilen Zustand zu halten. Angesichts der geringen Zahl an Personen herrschte man da, wo man präsent war, durch Soldaten, Steuereinnehmer und Beamte, die oft exekutive und judikative Funktionen verbanden. Die deutschen Bezirksamtleute, die Territorien von der Größe eines heutigen deutschen Bundeslandes verwalteten, mussten quasi als Reisekönige mit einem kleinen Tross unterwegs sein, dort Steuern einziehen, Konflikte regeln und Recht sprechen, bevor sie zum nächsten Ort weiterzogen (anschaulich Pesek 2005; auch Schaper 2012). Ganze Teile der Kolonien wurden ohnehin nicht direkt verwaltet, sondern durch Residenten, so Burundi und Ruanda sowie der Norden Kameruns und Togos. Die bestehenden Strukturen ließ man dabei weitgehend unangetastet und sicherte nur durch Beratung, Tributeinforderung und erforderlichenfalls Militärpräsenz die Loyalität der Unterverworfenen, die sich als Vertragspartner fühlen mochten. Kolonialherrschaft war also unfertige und mobile Herrschaft, fluide in der Realisierung der Grenzen, und nur durch ständige Erreichbarkeit aller Teile des Landes überhaupt zu garantieren. Deshalb setzte man große Hoffnungen auf die Eisenbahn, Sinnbild der Mobilität im technischen Zeitalter überhaupt und nun auch Sinnbild des Kolonialismus: Das Reich, das wir herbeiwünschen, ist das Reich der Technik. Die Bestimmung der Länder am Kilimandscharo ist klar, es sind Besiedelungsländer für Weiße, voll glücklicher Zukunft. Doch nicht die Fundi der Wadschagga und Wangoni brauchen uns Eisen für die Schienen zu schmieden, unsere großen Werke werden die Schwellen und Schienen aus Stahl auf deutschen Schiffen fertig hinaussenden. Einmal begonnen, wird der Bahnbau in Deutsch-Ostafrika nicht mehr aufhören, die Ingenieure dürfen das Land nicht mehr verlassen. Die Zeiten sind vorbei, wo man glaubte, das Land mit Kokosfaserstricken zusammenhalten zu können, wie die Lasten auf unsern Eselskarren; nur durch stählerne Stränge kann es in allen seinen Teilen festgefügt werden. (Müllendorff 1910: 179f.)
Das war Ausdruck der neuen, sogenannten rationalen Kolonisation, wie sie nach den Kriegen von 1904 bis 1907 der neue Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg proklamierte. De facto allerdings kam das Eisenbahnprogramm in der deutschen Zeit vor 1914 nicht zur Vollendung. Unkenntnis über die topographischen und klimatischen Bedingungen, Planungsfehler, Probleme, die Arbeiter
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bei der Baustelle zu halten, und vieles andere kamen zusammen. Wie ein deutscher Kolonialbeamter dazu äußerte, „wurden die eröffneten Strecken immer kleiner und die Einweihungsfeierlichkeiten immer größer“ (Allmaras 1933: 41). Erst in der Zwischenkriegszeit waren die Eisenbahnprogramme weitgehend fertiggestellt, aber es waren Eisenbahnen, die den Charakter der Kolonialherrschaft als partiale und fluide Herrschaft eher bestätigten. Sie dienten vor allem dem Transport von Waren aus dem Land heraus. Zudem wurden die Eisenbahnen von Karawanenhändlern genutzt, um Strecken abzukürzen, von reisenden Händlern – und schließlich von Touristen (Tanganyika Guide 1936; Travel Guide Kenya & Uganda 1930). Die Eisenbahn galt nun als attraktives und sicheres Verkehrsmittel, um unbeschadet das Land zu besichtigen und es wieder zu verlassen, aber nicht als Instrument einer Infrastrukturpolitik, die dazu gedient hätte, das Land zu vernetzen. Zur Erschließung, Integration und Festigung der Kolonien trugen sie nicht bei. Ein weiterer wesentlicher Teil kolonialer Aneignungspraktiken war die Ordnung, hier an erster Stelle der Versuch, eine neue Raumordnung zu schaffen. Aus europäischer Sicht kam man in einen Kontinent, der durch unzählige Volksgruppen und Sprachen geprägt war und der folglich in zahllose potentiell miteinander verfeindete Ethnien („Stämme“) zersplittert war. Reisende, Missionare und Forscher trugen dazu bei, diesen Eindruck zu verfestigen. Sie beschrieben und erforschten die Ethnien, zeichneten deren Traditionen, Rechte, Volksgeschichten auf und schufen so erst das Bild eines in viele klar abgrenzbare Stämme gegliederten Kontinents (siehe die „Tribal map of Africa“ in Gann und Duignan 1969), das die Kolonialzeit überdauerte. Derartige ethnographische Arbeiten legten dadurch zugleich die Notwendigkeit eines rigoros ordnenden europäischen Zugriffs nahe. Karten afrikanischer Autoren der Kolonialzeit verzichteten dagegen auf solche Raumvorstellungen und zeigten den Raum eher in Netzwerkstruktur ohne trennende Grenzlinien, sondern mit verbindenden Grenzzonen (siehe z. B. Johnson 1937). Zur Etablierung einer europäischen Grenzordnung und eines europäischen Grenzregimes in Afrika diente zunächst die Berliner Westafrika- oder Kongokonferenz von 1884/85, welche die Regeln der Grenzziehung garantierte. Zur neuen Raumordnung gehörten zudem bilaterale Verträge der europäischen Mächte über Grenzkonflikte oder Territorientausch; am bekanntesten ist der HelgolandSansibar-Vertrag von 1890. Dazu zählten ferner die zahlreichen Schutzverträge zwischen lokalen und regionalen Großen einerseits, europäischen Reisenden und Eroberern andererseits, die manchmal wie Carl Peters quasi auf eigene Rechnung arbeiteten und nachträglich dadurch den Schutz des Reiches erzwangen, oder die wie Stanley oder Gustav Nachtigal im Auftrag eines europäi-
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schen Herrschers, hier des belgischen Königs, agierten. Damit wurden Rechtstitel geschaffen, die zwar völkerrechtlich eher unbedeutend waren, aber vor der europäischen Öffentlichkeit Suggestivwirkung entfalteten. Und sobald sie formalrechtlich anerkannt waren, konnten sie mit einem neuen importierten Bodenrecht und römisch-rechtlichen Eigentumstiteln verkoppelt werden und erwiesen sich als hochbrisant, wenn sie mit indigenen Vorstellungen von Bodenrecht und Bodennutzung kollidierten. Wichtiger aber war die Raumordnung in den neuen Territorien. Immerhin war neue Grenzen auf dem Reißbrett geschaffen worden, die nicht selten tradierte kulturelle und ökonomische Verbindungen kappten. Dafür waren heterogene Bevölkerungsteile zusammengefasst worden; der Kolonialstaat blieb ein Patchwork-Staat. Das erforderte nun eine neue Raumordnung, neue Mittelpunkte, neue Verkehrswege, neue Stationen im Binnenland und die wenigstens ephemere Präsenz von Herrschaft durch das erwähnte „Reisekönigtum“ und auch durch bauliche Zeichen. Dennoch blieb die Bevölkerung mobil, auch über die Grenzen hinweg. Manche Gruppen wie die Massai wanderten weiterhin mit ihren Viehherden über die Grenze von Deutsch-Ostafrika in das britische Ostafrika (Kenia). Zudem setzten einerseits Fluchtbewegungen ein – im Versuch der einheimischen Bevölkerung, sich den kolonialen Lasten und Bedrohungen, nämlich Rekrutierung, Abgaben und Steuern sowie Zwangsarbeit, zu entziehen –, andererseits Bewegungen hin zu den Arbeits- und Handelsangeboten entlang der Eisenbahnlinien, zu den Plantagen und später Bergwerken, vor allem aber in die entstehenden Städte. Auf die ungeregelte Mobilität – Arbeitsmigration und Verstädterung – reagierten die Deutschen mit dem Versuch ordnender und separierender Eingriffe gemäß den imaginierten Rasselinien, wie sie auch im Recht durchgesetzt wurden. Daher wurden neue Grenzen nach Rassenvorstellungen und Siedlungsräumen gezogen. Dazu zählen die Reservatsbildungen. Sie dienten dem Schutz der Europäer vor indigener Konkurrenz um Boden, dem Gefühl der Sicherheit, auch der Garantie eines Arbeitskräftereservoirs – denn in den Reservaten reichte der Boden oft in der Regel nicht einmal für eine Subsistenzwirtschaft –, aber manchmal zumindest aus Sicht der Missionen auch dem Schutz der Afrikaner vor dem Zugriff auf deren letzte Rückzugsräume (für das Beispiel Südwestafrika siehe Reinhard 1990: 181f.). Reservate benötigten die Deutschen dort, wo es Siedler gab und der koloniale Raum insgesamt geteilt werden musste. Die Ordnung des Raumes betraf zudem die städtischen Siedlungen in Afrika, die zunächst ungeregelt wuchsen. In Europa des späten 19. Jahrhunderts stand Deutschland für eine obrigkeitliche Stadtplanung. Seit den Tagen der Sozial- und Wohnungsreform diskutierte man die Durchmischung der Stadtvier-
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tel und Wohnblöcke. Der Hobrecht-Plan für Berlin von 1862 mit seinen tiefen Bauflächen appellierte an das Zusammenwohnen: Die Oberschichten wohnten im Vorderhaus zugleich als Ansporn für die Ärmeren, diese im Hinterhaus als Mahnung für die Oberschichten, wohin nachlassender Fleiß führen könne. Auch in den Kolonien wurden die neuen Städte oder Siedlungen nach anfänglichem Wildwuchs zunehmend durch Bauordnungen auf dem Reißbrett geplant. In den Kolonien kam dabei zum Tragen, was auch in der deutschen Großstadtplanung diskutiert wurde: der Aspekt der Hygiene, der sauberen Luft, der Gesundheit. Nur nahm dies in Afrika eine rassistische Wendung an. Städte sollten so geplant werden, dass die europäische Bevölkerung nicht durch die vermeintlich ansteckenden Krankheiten der Afrikaner bedroht würden. Daher erörterte man in Doula in Kamerun die Flugweite der Tsetse-Fliege und die davon drohende Ansteckungsgefahr, da die Afrikanerviertel als Brutstätte von Krankheiten gesehen wurden. Entsprechend musste ein Cordon sanitaire zwischen deutschen und afrikanischen Vierteln liegen, den die Afrikaner nur tagsüber zum Zweck der Diensttätigkeit für Weiße überwinden dürften. Und auch in Ostafrika pries man den ordnenden Zugriff als hygienischen, aber auch ästhetischen Gewinn – dies übrigens nicht anders als auch bei der Assanierung der Städte in Deutschland im späten 19. Jahrhundert. So hieß es in einem deutschen Bericht aus dem Jahr 1900: Wer Tanga früher gekannt hat und es jetzt sieht, der staunt, was in so kurzer Zeit aus dieser Stadt geworden ist. War es früher ein winkeliger und schmutziger, dicht zusammengedrängter Haufen von halbzerfallenen Neger- und Inderhütten mit wenigen festeren Araberhäuschen dazwischen, und ging man früher nur ungern hinein, weil es zu unangenehm roch, […] so ist es unter dem deutschen Regiment ganz anders geworden. Die alte Stadt ist völlig verschwunden, und ein ganz neues Tanga ist an ihre Stelle getreten. (Zitiert nach Becher 1997: 64f.)
Auch bei Neuanlagen von Städten in Ostafrika wurde auf Distanz geachtet. Immer ging es dabei neben dem Ordnungsideal an sich und neben Sauberkeit und Gesundheit auch um Sicherheitsmaßnahmen, um die militärische Kontrolle der indigenen Viertel. So signalisierten die Planungen eine Ordnung der Siedlung sowie die Segregation der Rassen und die Aufteilung der Funktionen in der Stadt, wie an Beispielen aus den ostafrikanischen Städten Dodoma, Musoma oder Arusha nachvollzogen werden kann (Gründer und Johanek 2001: Abb. 14, 15, 21). In Daressalam, seit 1890 Sitz des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, erging 1891 eine Bauordnung (Schneider 1965). Die Stadt wurde jetzt zur Hafenund Hauptstadt ausgebaut. Vor dem Weltkrieg lebten in Daressalam gut 22.000 Menschen, davon knapp 1.000 Europäer und 2.500 Inder. In der Plananlage stach neben der präzisen Aufteilung und Straßenziehung (in Kombination von
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geometrischen Elementen, künstlerischem Städtebau und Gartenstadt) auch die Straßennamenpolitik hervor. Auffällig ist, dass die deutschen Straßennamen, Kaiserstraße, Wilhelmsufer, Bismarckstraße sowie die nach Reisenden benannten Straßen, im Verwaltungssektor und deutschen Siedlungsbereich lagen. Die Afrikanerviertel hatten dagegen weniger schmückende Namen: BagamoyoStraße, Neue Straße, Ringstraße, Sultanstraße. Innerhalb der afrikanischen Viertel war eine Straßenziehung ohnehin wenig sinnvoll; hier fanden sich eher Agglomerate von Gebäuden. An der Grenze der Siedlungsgebiete lag die Straße „Unter den Akazien“. Das heißt auch: Der Appell an das Deutsche Reich sollte nach innen wirken, im Blick auf die Deutschen vor Ort. Deren Heimat endete, wo die deutschen Namen verschwanden. Das lenkt hin zum dritten Aspekt der Raumaneignung, der Belegung, d. h. der realen und symbolischen Besetzung des Raums durch Bauten und Symbole. Die ersten Stationen im Binnenland der Kolonien waren noch aus Holz errichtet. Mit den ersten Steinbauten bestand die Möglichkeit, die neue Raumordnung auch dauerhaft und sichtbar zu verankern, an markanten Punkten festzumachen und Straßen zu schaffen, die als solche erkennbar waren. Zur sichtbaren Raumordnung zählten neben den Festungen die Kirchen, die als Christuskirchen in Daressalam und Windhoek (Walther 1910) weithin von der Verbindung von Herrschaft und neuem Glauben zeugten, und die Verwaltungsgebäude (Lauber 1988). Gerade bei den Wohngebäuden beanspruchten die deutschen Architekten, einen eigenen kolonialen Stil entworfen zu haben, der für die Tropen besser geeignet sei als der indigene Baustil, nämlich durch umlaufende Balustraden und Balkone vor der Sonne abgeschattete und durch Oberlichter rundum durchlüftete Gebäude. Oftmals handelte es sich um Häuser mit zwei bis vier Wohnungen, weil eben meist alleinstehende junge Männer nach Afrika kamen, keine Familien. Hier spielte sich das Leben der kleinen deutschen Gemeinden vor Ort ab, hier hatten Afrikaner nur als Dienstpersonal Zutritt. Sichtbare Zeichen der Inbesitznahme und Belegung des Raumes waren zudem Symbole, Denkmäler und Benennungen (vgl. Zeller 2000; Speitkamp 2000; 2013a). Die Denkmäler erinnerten an Bismarck – seltener an Kaiser Wilhelm I. –, sodann an einzelne Personen der Kolonialgeschichte wie Hermann Wissmann (Denkmal von 1911 abgebildet in Sutton 1970), Carl Peters oder Hans Dominik, schließlich an Kriege und Siege, besonders an den Herero-Nama-Krieg in Südwestafrika. Im öffentlichen Raum platziert, hatten sie eine mehrfache Aufgabe: Sie unterstrichen Dauer und Stabilität deutscher Herrschaft, und sie dienten als Sammelpunkte bei Feiern, Kaisergeburtstagsfesten und anderen offiziellen Anlässen und schweißten die koloniale Gemeinde zusammen. Häufig dienten sie als Motiv auf Postkarten, hier und auf anderen Fotografien arrangierte man
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gern die indigene Bevölkerung am Denkmal, so wie man auch gern afrikanische Schüler deutsche Nationallieder wie die Wacht am Rhein singen ließ. Das wurde durchaus als Kuriosität auf Postkarten kommentiert, aber sollte eben doch den Erfolg der Bemühungen zeigen, die Sinne und Herzen der unterworfenen Bevölkerung zu gewinnen und die beanspruchte Zivilisierungsmission voranzutreiben. Besonders nach außen, in Berichten an die Heimat, verkündeten die markanten Objekte und ihre bildliche Inszenierung, dass man sich das Land tatsächlich angeeignet habe. Angesichts der zahlenmäßig geringen deutschen Bevölkerung in Ost- und Westafrika kann man nur für Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, von einer wirklichen symbolischen Durchdringung sprechen, und auch dies nur für die Städte, Viertel und Siedlungsräume der Deutschen. Das Ovambo-Land im Norden blieb ihnen beispielsweise ganz verschlossen. Dennoch aber wurden Schlüsselorte und auch Schlüsselereignisse mit deutschen Namen belegt. Wichtiger aber war vielleicht noch die aneignende Verschmelzung von Indigenem und Importiertem. Und immer wieder wurden Zeichen gesetzt: BismarckArchipel, Caprivi-Zipfel, Wilhelmsfeste, Wilhelmstal, Kaiser-Wilhelm-Höhlen, Kaiserstuhl als Berggruppe in Kiautschou (China), der Wilhelmberg als höchster Berg des Bismarck-Gebirges im Kaiser-Wilhelmsland (Neuguinea) waren sicher Demonstrationen an die anderen europäischen Kolonialmächte, aber sie schufen auch Verbindung zwischen Übersee und Heimat, Orientierung in der Entwurzelungserfahrung, die sich in vielen Berichten eben auch spiegelt. An die unterworfene Bevölkerung konnten sich solche Namen und Denkmäler nicht wirklich richten, selbst wenn manche Objekte wie das Wissmann-Denkmal in Daressalam z. B. eine Inschrift auch in Kisuaheli aufwiesen. Doch auch das war wohl mehr eine Botschaft an die Europäer, nicht an die indigene Bevölkerung, die zum größten Teil noch kaum des Lesens kundig war.
4 Funktionen, Repräsentationen, Transformationen Es wäre zu kurz gegriffen, in den Aneignungspraktiken, die den Prozess der Kolonialisierung nicht nur begleiteten, sondern tatsächlich konstituierten, eine bloße Überformung fremden Territoriums zu sehen. Angesichts der Vielfalt der Akteure und ihrer Motive und Interessen verbietet sich ohnehin eine Nivellierung der Vorgehensweisen und Erfahrungen. Auffällig ist vielmehr das Bemühen, den Zusammenhalt der kolonialen Gesellschaft symbolisch zu wahren, durch Abschottung und Selbstrechtfertigung, und zugleich die Verbindung zur Heimat zu halten. Die europäischen Akteure vor Ort fühlten sich in einem stän-
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digen Prozess der unfreiwilligen Afrikanisierung, der Adaption und Verschmelzung mit dem fremden Kontinent. Sie kreierten gewissermaßen Inseln der deutschen Heimat in Übersee, die weniger mit der afrikanischen Umgebung als vielmehr mit dem Mutterland durch Namen, Symbole, Rituale, Feste, Werte verbunden waren. Anliegen der Deutschen in den Kolonien war es zugleich, im Reich den beanspruchten Respekt zu erhalten für ihre Leistungen jenseits der Reichsgrenzen. Auch daher bemühten sie sich, die Kolonien allenthalben als deutsches Territorium darzustellen, sich selbst als Vorkämpfer und Verteidiger des Deutschtums in Übersee. Gleichzeitig stilisierten sie sich aber auch als Afrikaner, eben als deutsche Afrikaner. In den zeitgenössischen europäischen Quellen taucht die indigene Bevölkerung Afrikas als „Eingeborene“, „Natives“ bzw. „Indiginés“ auf. Wenn in den kolonialeuropäischen Quellen dagegen von „Afrikanern“, „Africans“ etc. die Rede ist, sind in der Regel die in Afrika tätigen Europäer gemeint, so wie im Fall der Buren, die sich gleichermaßen als „Afrikaaner“ oder „Afrikander“ bezeichneten, ihre Sprache als „Afrikaans“ – eine Begrifflichkeit, die bis in die gegenwärtige wissenschaftliche Literatur erhalten geblieben ist. Die indigene Bevölkerung Afrikas wurde gewissermaßen symbolisch enteignet, ihrer eigenen territorialen Identität beraubt und auf ihren quasi raumlosen Status der Vorzivilisiertheit zurückgeworfen, also in eine zeitliche Vorstufe zurückversetzt, um ihren Anspruch auf afrikanischen Boden zu delegitimieren. Wissmann galt nachweislich eines zeitgenössischen Buchtitels als „Deutschlands größter Afrikaner“ (Becker et al. 1914). Und der Kilimandscharo wurde vor 1914 in deutschsprachigen Erdkundeschulbüchern als höchster Berg des Deutschen Reiches geführt; der höchste Punkt des Vulkankraters hieß im Übrigen passend „Kaiser-Wilhelm-Spitze“. Die zahllosen Postkarten, die Afrikaner vor deutschen Gebäuden und Denkmälern, afrikanische Missionsschulklassen beim Unterricht mit weißen Missionaren oder beim Musizieren und Singen deutscher Lieder zeigten, dokumentieren, was dahinterstand: Suggeriert und produziert wurde eine virtuelle Verbindung zwischen Afrika und Deutschland, eine transnationale Heimat der Deutschen, eine globalisierte Nation. Die gesamte Belegungs- und Benennungspraxis spiegelt freilich zugleich eine tiefe Verunsicherung, eine Verlustangst, die man durch den Appell an vertraute Symbolik zu kompensieren versuchte – ebenso wie durch die vertrauten kulturellen Praktiken vor Ort, die Vereinsgründungen, Klubabende, Kaisergeburtstagsfeiern und Jagdausflüge. In Daressalam traf sich der deutsche Offiziersklub abends im Hotel „Kaiserhof“. Der Kampf um eine Kolonialsymbolik in Deutschland nach 1918 spiegelt die Kehrseite. Nach der Rückkehr zahlreicher Kolonialbeamter und Offiziere seit Kriegsende zeigte sich, wie schwer es vielen von ihnen fiel, wieder in der Heimat
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Fuß zu fassen. In den krisenreichen 1920er Jahren ging es ihnen materiell schlechter als zuvor, und sie genossen nicht die erwartete Anerkennung. Vielmehr richtete sich das Augenmerk einer künftigen Expansion immer stärker nach Südosteuropa und Osteuropa. Zwar wurde in Reden, Ausstellungen oder Schulbüchern das Recht auf die Rückgewinnung der Kolonien proklamiert, aber dafür wollte keiner in den Krieg ziehen. Revision des Versailler Vertrags – das bezog sich auf die Reparationsbestimmungen und die Beschneidungen des Reichsterritoriums in Europa sowie auf die Kriegsschuld-Anklage. Wollte man dagegen wie in Hamburg Denkmäler wiedererrichten, die in den Kolonien von den Mandatsmächten gestürzt worden waren, so stieß das keineswegs auf einhellige Begeisterung, sondern wurde im Fall eines Carl-Peters-Denkmal sogar verhindert, im Fall des Wissmann-Denkmals erst nach Kritik und im engen Kreis der Kaisertreuen und Revisionisten ausgeführt. Und auch der Errichtung neuer revisionistischer Kolonialdenkmäler wie des 1932 eingeweihten Bremer Reichsehrenmals, eines aus Klinkern gemauerten monumentalen Elefanten, gingen längere Kontroversen voraus; am Ende blieben die Kolonialheimkehrer und Kolonialverbände bei der Einweihung weitgehend unter sich. Was Straßennamen anging, so blieben die Erinnerungen an die Kolonien marginal im Vergleich zum Rückgriff auf Helden und Taten des Ersten Weltkriegs, auf Langemarck, auf Tannenberg und Hindenburg oder auf die verlorenen Gebiete im Osten. Auch auf der anderen Seite, auf dem Territorium der ehemaligen Kolonien, erscheint die Nachgeschichte der kolonialen Aneignungspolitik ambivalent. In Tansania sind heute die deutschen Denkmäler und Namen der Kolonialzeit weitgehend verschwunden. In Daressalam wurden Verweise auf Kaiser Wilhelm, Bismarck oder Wissmann gegen Ehrungen der Kämpfer der afrikanischen Befreiung oder der tansanischen Geschichte ausgetauscht. Der Gipfel des Kilimandscharo hieß fortan Uhuru, das Kisuaheli-Wort für Freiheit, Unabhängigkeit, und war nicht mehr nach Kaiser Wilhelm benannt. Wo einst Wissmann stand, steht seit den 1920er Jahren das Denkmal für einen afrikanischen Soldaten in britischen Diensten (Abbildung in Sutton 1970). Bemerkenswert ist, dass die nachkolonialen Erinnerungsstätten die Form der Erinnerungskultur der Kolonialherren wählten, wenn sie nicht, wie in anderen ehemaligen Kolonien, auf die Monumentalsymbolik des Staatssozialismus wechselten, so in Namibia. In Namibia blieb das Denkmal, das an die Niederschlagung des Herero-Aufstands erinnerte, ein Reiterstandbild in Windhoek, lange stehen, wenn auch zunehmend umstritten und manchmal verfremdet (Zeller 2004: 136). Mittlerweile ist dort, wo er stand, das sogenannte Independence-Museum errichtet und 2014 eröffnet worden. Der Reiter wurde zunächst um 150 Meter verrückt, dann erneut versetzt, nämlich in den Innenhof der Alten Feste, und dort kontextlos, quasi
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musealisiert, deponiert. Die sichtbaren kolonialen Hinterlassenschaften kommen immer wieder in die Diskussion, wie zuletzt auch die Denkmäler für Cecil Rhodes in Großbritannien und Südafrika während der „Rhodes-must-fall“Bewegung. Die Abkehr von europäischen Symbolen und Benennungen vollzog sich in mehreren Schüben der Geschichtsverarbeitung und Reinigung. Vor allem die kolonialen Straßennamen verschwanden – außer in Namibia – weitgehend. Im Rahmen einer Politik der Afrikanisierung und Authentizität suchten zahlreiche afrikanische Staaten nach einer neuen postkolonialen Identität. Dabei wurden vermeintlich spezifisch afrikanische Traditionen wiederentdeckt, in der politischen Kultur, der Kleidung, der Symbolik oder der Wirtschaftsweise (vgl. Speitkamp 2005a, b). Das erschien aus westlicher bzw. europäischer Sicht oft bloß als eine Maskierung von Herrschaftsambitionen, traf aber doch einen Nerv der Bevölkerung und genoss zeitweise beträchtliche Popularität. Mehr als Denkmäler und Straßennamen spiegelt heute die Struktur der Länder, Siedlungen und Städte, die Anlage von Siedlungsvierteln und Infrastruktureinrichtungen, von Wohnfläche und Nutzfläche, von Herrschaftsarchitektur und Markträumen die kolonialen Muster der Raumordnung. Subkutan werden hier koloniale Hierarchien von nachkolonialen Eliten angeeignet, kolonialer Freiraum dagegen wird zum Feld der Aushandlung von heutigen Interessen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Kolonialismus ist Herrschaft über Raum – das ist bis heute den ehemaligen Kolonien eingeschrieben.
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Wolfgang Crom
Der Quellenwert von Karten als Träger sprachlicher Landschaften Zusammenfassung: Die Erschließung der Kolonien ist unmittelbar mit ihrer Kartierung verbunden, um für die administrative wie wirtschaftliche Infrastruktur eine planerische Grundlage zu erhalten. Von anfänglich einfachen Routenaufnahmen ausgehend wurde durch die Einrichtung des Kolonialkartographischen Instituts in Berlin ein kartographisches Zentrum geschaffen, das mit dem Großen deutschen Kolonialatlas und flächendeckenden Kartenwerken wegweisende Produkte hervorgebracht hat. Neben den Übersichtskarten sind in den Kolonien zahlreiche wissenschaftliche Spezialkarten und Katasterkarten von kleineren Gebieten in größeren Maßstäben entstanden. Wegen der oft ersten systematischen Erfassung der Toponyme in diesen Karten gelten sie als bevorzugte Quellensammlung für das geographische Namensgut der Kolonien. Schlagwörter: Kartographiegeschichte; Kolonialkartographie; Straßenname; Toponym
1 Einleitung Seit einigen Jahren versuchen die Regierungen Japans und Koreas eine Debatte über eine international anerkannte Bezeichnung des Seegebietes zwischen ihren Ländern voranzutreiben. Je nach Standpunkt werden dabei kolonialgeschichtliche Zustände zitiert oder ausgeklammert, zur Untermauerung der Argumente werden hierfür Karten und Atlanten statistisch ausgewertet, die die Häufigkeit der Benennung Japanisches Meer, Koreanisches Meer oder Ostmeer bestimmten geschichtlichen Epochen zuweisen (Pelletier 2000; Ministry of Foreign Affairs of Japan 2002; Kim 2005; Yi 2007).1 Eine Analyse der Herkunft, wie die Benennungen in die Karten gelangten, findet dabei nicht statt. Den Karten wird demnach a priori sowohl eine Objektivität als auch eine Autorität zugeschrieben, die keinerlei Zweifel am Zustand des Karteninhalts aufkommen || 1 Der Streit hat bereits seinen Niederschlag in der freien Enzyklopädie Wikipdia gefunden: https://de.wikipedia.org/wiki/Namensstreit_um_das_Japanische_Meer (aufgerufen am 14.04. 2020). || Wolfgang Crom, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Unter den Linden 8, 10117 Berlin, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-003
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lässt und präjudizierende Wirkung haben soll (Radding und Western 2010; Harley 1988). In Deutschland konnte Anfang der 1970er Jahre ein ähnliches Phänomen beobachtet werden, als in Folge der Ostverträge die Darstellung der Grenzen zwischen der Bundesrepublik, der DDR, Polen und der Sowjetunion zum Streitobjekt wurde. Hielten einige Bundesländer an der bislang gewohnten Darstellung der Grenzen des Deutschen Reiches vom 31.12.1937 fest, so befürwortete die Mehrzahl der Kultusminister für ihre Schulatlanten die Darstellung der neuen politischen Situation. Dabei wurde die Grenze zwischen beiden deutschen Teilen weiterhin als gebrochene Linie, die Grenzen Polens oder der Sowjetunion aber als Staatsgrenze eingezeichnet. Die bislang als Staatsgrenze markierte Linie des Deutschen Reiches wurde nur noch punktiert dargestellt (Vonhoff 1979). Auf die suggestive Wirkung des Kartenbildes setzte auch die Regierung Russlands mit dem Großauftrag an einen Globenhersteller. Schon kurz nach der Annexion der Krim wurde ein Globus auf den Markt gebracht, der die neue politische Zugehörigkeit durch die entsprechende Flächenfarbe anzeigt und als Belegdatum den 1. April 2014 anführt.2 Die Karte bekommt damit eine doppelte Zuschreibung, sie bildet nicht nur den Raum graphisch ab, sondern sie drückt gleichzeitig aus, wer die Macht über diesen Raum hat. Die Karte gilt als Symbol von Macht, einerlei ob sie diese Macht als schmückende Repräsentanz oder als Herrschaftsanspruch ausdrückt.3 Nicht zuletzt wird die Verbindung zwischen Karte und Macht auch in der staatlichen Aufgabe der behördlichen Kartographie zum Ausdruck gebracht. Die Einrichtung amtlicher und militärischer Vermessungs- und Katasterämter insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert spiegelt die hoheitliche und territorialpolitische Bedeutung wider, die Karten zugemessen wurde und bis heute wird. Nicht allein das Attribut der exakten, verkleinerten Wiedergabe von Raumausschnitten mit einer direkten Nutzanwendung für Verwaltung und Militär sowie der Orientierung im Raum wird den Karten zugeschrieben, sondern die gesellschaftliche Ordnung, der territoriale Besitz oder die Herausbildung von Nationalstaaten werden mit ihnen gleichermaßen zum Ausdruck gebracht (Schlögel 2003; Harley 2004; Branch 2014). Im militärischen Bereich kann diese Vielschichtigkeit von Karten sogar zur Geheimhaltung oder beabsichtigten Fälschung führen (Monmonier 1996; Unverhau 2002).
|| 2 Mir: politiko-fizičeski globus. Političeskie belenie c 1 aprelja 2014. 1:40.000.000. – Garwolin: Zachem-Głowala, 2014. 3 Die Verbindung zwischen Macht und Karten spiegelt sich im Titel mehrerer monographischer Publikationen aus jüngerer Zeit wieder, so bei Schneider (2004), Clark (2006), Tzschaschel et al. (2007) oder Koller und Jucker-Kupper (2009).
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Diese Aspekte gelten in besonderem Maße auch für Karten im Zeitalter des Kolonialismus, da sie einerseits als zwingend notwendiges Hilfsmittel für die verwaltungstechnische und wirtschaftliche Erschließung wie für militärische Präsenz und Operationen in den unerschlossenen Überseeterritorien gesehen wurden, andererseits aber auch die hegemonialen Ansprüche bzw. die daraus abgeleitete Verantwortung für die Schutzgebiete bekunden sollten. Neben der unmittelbaren Nutzanwendung kommt als weiteres Moment die mit der Karte zum Ausdruck gebrachte Ideologie im zeitgenössischen Verständnis hinzu. Wenn die Kartographie auch keine Kolonialreiche als politischen Akt entstehen lassen kann, so bilden Karten diese jedoch ab, sie gelten als Symbol der wissenschaftlichen Erschließung, der kolonialwirtschaftlichen Entwicklung und schließlich der Identifikation mit diesen Territorien bzw. dem kolonialen Unternehmen. Territorien werden in Karten oft durch ein farblich zugeordnetes Grenzkolorit oder eine Flächenfarbe4 manifestiert, in Kolonialkarten lassen sich aber auch andere Elemente finden, die das Postulat der Herrschaft zum Ausdruck bringen. Hierzu zählen die in den Karten enthaltenen geographischen Benennungen. Adressaten sind dabei nicht allein die verschiedenen Akteure und sozialen Gruppen in der Kolonie selbst, sondern die Karten dienen in gleichem Maße der heimischen Bevölkerung in den so genannten Mutterländern zur Identifikation mit und zur Teilhabe an dem kolonialen Unternehmen, sie schaffen eine Legitimierung nach innen (Bassett 1994). Bildlich gesprochen kommt die Kolonie über die Karte ins Wohn- oder Klassenzimmer.5 Das endonyme Namensgut vermittelt dem Betrachter der Karten dabei die Exotik des Fremden, während das exonyme meist die wirtschaftspolitische, militärische oder wissenschaftliche Überlegenheit bzw. die imperiale Zugehörigkeit und das koloniale Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Im Beitrag soll es gemäß der Intention des interdisziplinären Workshops Koloniale Urbanonyme: Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Bezüge6 um einige Aspekte gehen, die zum Verständnis und zur Interpretation von Karten beitragen mögen. Im Fokus stehen Fragen wie: Gibt es eine Kolonialkartographie? Wie entstehen Karten aus Kolonialgebieten und was ist in ihnen enthalten? Wie sind die in kolonialen Karten enthaltenen Informationen zu lesen
|| 4 Meist werden für das Deutsche Reich blaue, für Großbritannien rötliche oder für Frankreich violette Farbtöne gewählt (Grindel 2012). 5 Eine Untersuchung zur Darstellung des Kolonialismus in aktuellen Geschichtsatlanten gibt Renz (2014). 6 Dem Organisationteam sei an dieser Stelle für die Möglichkeit, in einem sprachwissenschaftlichen Diskurs Aspekte der Kartographiegeschichte einbringen zu dürfen, herzlich gedankt.
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und zu deuten? Schließlich werden aber auch Hinweise zur Interpretation von Stadtplänen mit kolonialgeschichtlichen Toponymen zur Diskussion gestellt. Zunächst aber ist folgender Frage nachzugehen: Wie kommen Orts-, Gewässeroder Flurnamen in eine Karte?
2 Geographische Namen in Karten Karten und Ortsnamenslisten bilden bereits seit der Antike eine dauerhafte Symbiose. Schon Klaudios Ptolemaios (um 100–nach 160) hat seiner Geographia einen Ortskatalog zu Grunde gelegt und veröffentlicht (vgl. Stückelberger und Graßhoff 2006–2009). Mit dem Aufkommen der modernen Atlanten im 16. Jahrhundert wurde diese Tradition übernommen, so dass Ortsnamensregister seit jeher ein Merkmal kartographischer Werke geblieben sind. Diese Register wurden im 19. Jahrhundert um eine pragmatische Suchfunktion erweitert, so dass entweder mittels Koordinatenangaben oder Angaben eines Suchgitters die Ortslage in der Karte schnell zu identifizieren war. Sogar die unter militärischer Prämisse entstandenen Landesaufnahmen des 18. Jahrhunderts, die Vorläufer der amtlichen topographischen Landesvermessung, zeichneten sich (neben den Orts-, Landschafts- und Flurnamen im Kartenbild selbst) teilweise durch eine marginale Auflistung der Örtlichkeiten mit Besitzverhältnissen oder Viehbestand aus. So verwundert es nicht, dass bis zur Herausbildung der Statistischen Ämter die Kartographie als Autorität für Toponyme angesehen wurde. Diesem Umstand trägt die Geschäftsstelle des Ständigen Ausschuss für Geographische Namen (StAGN) bis heute Rechnung, da sie beim Bundesamt für Kartographie und Geodäsie angesiedelt ist.7 Eine ihrer Hauptaufgaben besteht heute darin, den kartographischen Verlagen Handreichungen für die Schreibweise geographischer Namen zu geben. Doch wie kam ein Kartograph ursprünglich an die Orts- und Flurnamen des von ihm kartierten Gebietes? Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die in der Karte ausgewiesenen Objekte bereits Eigennamen bzw. eindeutige Eigennamen besitzen. Auch können Gebirge oder Seegebiete, wie eingangs skizziert, mehrere Namen von unterschiedlichen Anrainern erhalten, oder die Bezeichnung eines Gebietes zwischen zwei Orten wird mit jeweils richtungsweisendem
|| 7 https://www.stagn.de/DE/Home/home_node.html (aufgerufen am 09.06.2021). Die Geschäftsstelle ist zudem in den internationalen Gremien EuroGeoNames und UNGEGN (http://unstats.un.org/unsd/geoinfo/UNGEGN/) vertreten (aufgerufen am 14.04.2020).
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Bezug unterschiedlich benannt. Ein bekanntes Beispiel liefert der uns unter dem Namen Mount Everest geläufige höchste Berg der Erde. Auf Nepali wird der Berg Sagarmatha (‘Stirn des Himmels’) und auf Tibetisch Qomolangma (‘Mutter des Universums’) genannt. Daraus leitet sich die englische Transkription Chomolungma ab, eine Form, die inzwischen auch in Deutschland verbreitet ist. Die Namensgebung Mount Everest ist Mitte des 19. Jahrhunderts während der britischen Kolonialzeit als Würdigung des Vermessungsingenieurs und langjährigen Leiters der trigonometrischen Vermessung Indiens Sir George Everest (1790–1866) durch seinen Amtsnachfolger vorgenommen worden. Für welchen dieser Namen sich ein Kartograph entschied, hing also von verschiedenen gesellschaftspolitischen Faktoren, aber auch von seinem Wissensstand und seinen Quellen ab. Die Quellenlage ist je nach Gebiet und Maßstab sehr unterschiedlich zu bewerten. Das betrifft sowohl die topographische Information an sich als auch die Benennung der Objekte. Gewährsleute der Kartographen in frühen Zeiten waren in erster Linie Reisende und Seeleute, deren mündliche oder schriftliche Reiseberichte mit tradiertem Wissen abgeglichen wurden. Ergänzend wurden Logbücher hinzugezogen, wenn die Möglichkeit zur Einsichtnahme bestand, denn mit ihren Positionsbestimmungen eigneten sie sich für eine erhöhte Präzision der Lagegenauigkeit geographischer Objekte. Es muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass eine kritische Überprüfung der Angaben meist nicht möglich war. Vielmehr wurde im Zeitalter der Aufklärung die Güte der Karten durch Nennung der Quellen in den Titelkartuschen manifestiert. Die durch Reisende vorgenommene Benennung ganzer Territorien oder einzelner Topographien, insbesondere auf Entdeckungsreisen, war meist ein bewusst durchgeführter Vorgang, um dabei das Erreichen eines Zieles zum Ausdruck zu bringen. Ungeachtet bereits bestehender Namen wurden dabei führende Persönlichkeiten (Van Diemensland), zeitliche Ereignisse (Osterinsel) oder emotionale Motive (Kap der Guten Hoffnung, ursprünglich Kap der Stürme) zur Namensgebung herangezogen, ein Vorgang, der oft mit der Besitznahme durch die Setzung von Herrschaftszeichen (z. B. Standarten oder Fahnen) einherging. Die Mehrzahl der Toponyme wurde jedoch aus indigenen Bezeichnungen abgeleitet. Ormeling (2003) unterscheidet mehrere Phasen der durch die europäischen Eroberungen seit der Frühen Neuzeit vorgenommenen Namensgebungen. Seine Kriterien orientieren sich dabei vor allem an den jeweils vorherrschenden methodischen Verfahren der Einschreibungspraxis, so dass er insgesamt neun Modelle zur Diskussion stellt. Wo nur eine orale Überlieferung stattfindet, kann es jedoch zu Hör- und Übertragungsfehlern kommen, insbesondere bei einer Sprachbarriere, die zu-
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dem Transkriptions- oder Transliterationsfehler hervorrufen kann. Schließlich können auch beabsichtigte Falschaussagen zu fehlerhaften Bezeichnungen führen. Ebenso kann dasselbe Objekt in verschiedenen Karten eine unterschiedliche Benennung oder Schreibweise aufweisen, wenn jeweils andere Gewährspersonen befragt worden sind. Es ist zu bedenken, dass Karten in vielen Fällen die erste schriftliche Hinterlegung einer bis dato oralen Überlieferung geographischer Namen belegen. Alfred Hettner beschreibt den nicht systematischen Vorgang der Kartierung unerforschter Gebiete durch Reisende und beurteilt sogleich die Qualität der Information: Der Reisende befragt den Eingeborenen über den Lauf der Flüsse, die Lage der Ortschaften, die Verteilung von Wald und offenem Land und über vieles mehr. Was er so erfährt, hängt von der Geschicklichkeit des Fragens und der Intelligenz des Befragten ab. (…) Die Karte kann sich so auch abseits vom eigenen Reiseweg füllen. Die Bedeutung mancher Reisenden hat hauptsächlich in der Kunst des Fragens bestanden. (Hettner 1927: 172f.)
Das Verfahren der Befragung und Benennung geht von der Prämisse aus, dass Siedlungen respektive markante Landschaftselemente grundsätzlich endonyme Eigennamen haben. Ferner werden nicht wissenschaftlich ausgebildete Reisende (vgl. Jones und Voigt 2012) die den Europäern gängigen Siedlungsformen erwartet haben. Dabei dürfte die oft kurze Aufenthaltsdauer an einem Ort zu Fehleinschätzungen geführt haben, so dass beispielsweise nur temporäre Siedlungsplätze als solche nicht immer richtig erkannt worden sind. Dennoch finden sich in den Karten die für Siedlungen gängigen Ortssignaturen, so dass eine gewisse Vorsicht bei der siedlungsgeographischen Interpretation geboten ist.8 Diese Praxis der Einschreibung trifft gleichfalls auf das Namensgut überseeischer Gebiete und der Kolonien zu. Für die Namensgebung in Kolonialkarten ist neben der häufig ersten Verschriftlichung des bis dato nur mündlich tradierten toponymischen Vokabulars weiter zu berücksichtigen, dass sowohl bereits vorhandene indigene Namen durch neue Benennungen ersetzt, als auch von den Vertretern der Kolonialmächte neue Namen für bislang unbekannte bzw. unbenannte Objekte vergeben wurden. Die Umbenennungen können aus Übersetzungen entstanden sein oder aber es handelt sich um Neuschöpfungen. Die
|| 8 Mangelhafte Kenntnis über regionale Idiome hat selbst innerhalb Europas zu fehlerhaften Übertragungen geführt. Erwähnenswertes Beispiel ist der Nachdruck durch das Dépôt de la Guerre in Paris des 1774 von Peter Anich und Blasius Hueber erstellten Atlas Tyrolensis. Die mundartlich gefärbte Bezeichnung eines temporär durch eine Gletscherzunge aufgestauten Sees als Gewester See wurde im französischen Plagiat (Carte du Tyrol, 1801) zu Le Lac de Gewester (vgl. Hye 1976).
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Schwierigkeit der korrekten Namensgebung in fremden Gebieten wird eindrucksvoll durch den von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes herausgegebenen Großen deutschen Kolonialatlas belegt. In dem als Lieferungswerk angelegten Atlas wurden manche Kartenblätter in zeitlich kurzen Abständen mehrfach überarbeitet, um den jeweils neusten Kenntnisstand der geographischen Erkundungen kartographisch zu manifestieren. Der identische Kartenausschnitt aus dem Blatt Nr. 2 Tschad der Karte von Kamerun 1:1.000.000 aus den Jahren 1901 und 1909 zeigt schon bei einem flüchtigen Blick auffällige Änderungen in der Dichte der dargestellten Landschaftselemente und Toponyme (Karten 1a und b). Die verschiedenen Bearbeitungszustände weisen neben der Änderung in der Grenzziehung zu benachbarten Schutzgebieten auf eine sehr dynamische Phase der Kartierung bzw. Erhebung der Toponyme hin. Die Änderungen des enthaltenen Namensgutes beziehen sich nicht nur auf die möglicherweise veränderte Lage des bezeichneten Objekts, auf eine andere Schreibweise oder auf ein erwartetes Mehr an Toponymen, sondern sie betreffen auch Neubenennungen oder sogar das Entfernen von Ortsnamen, nachdem eine Überprüfung alter Reiseberichte als bisherige Quelle stattfinden konnte. Dieses Phänomen belegt nicht nur die Problematik der Gewissenhaftigkeit von Gewährsleuten, sondern auch die Akribie der Kartographen in ihren Werkstätten. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Beschriftung. Die Reisenden liefern oft für dasselbe Objekt die verschiedenartigsten Namenfassungen. Ursachen dafür sind einmal die größere oder geringere Kenntnis der Landessprachen des Aufnehmers selbst, sodann die Unzuverlässigkeit der Führer, die auch, je nach ihrer Stammesangehörigkeit, häufig für denselben Fluß, Ort usw. ganz verschiedene Namen haben, und endlich Mißverständnisse aller Art,
klagen die hauptverantwortlichen Bearbeiter des Kolonialkartographischen Instituts und schlagen sogleich eine Lösung vor, um bereits im Vorfeld eine möglichst einheitliche Schreibweise zu erreichen: Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn in allen Kolonien, wie es in den Besitzungen im Stillen Ozean zum Teil schon geschehen ist, die Schreibweise der geographischen Namen von der Schutzgebietsverwaltung amtlich festgesetzt wird. (Sprigade und Moisel 1914: 540)
Die Kartographen forderten keine exakte sprachwissenschaftliche Analyse, sondern eine pragmatische, aus der Landeskenntnis gewonnene Ableitung und Festlegung, um zu schnellen und verbindlichen Ergebnissen kommen zu können. Den in den Kolonien tätigen Verwaltungen sollte dabei die Aufgabe übertragen werden, die von den Reisenden erfassten geographischen Namen nach einheitlichen Kriterien und nach Möglichkeit unter Ausnutzung der vor Ort
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erworbenen indigenen Sprachkenntnisse in die deutsche Sprache umzusetzen und eine gültige Schreibweise festzulegen. Dadurch wäre automatisch eine amtliche Schreibweise erfolgt, die Verbindlichkeit hätte und für weitere Zwecke anderen Einrichtungen zur Verfügung stünde. Damit wird der Kolonialmacht eine Rolle zugeschrieben, Festlegungen über bislang nicht verschriftlichte Sprachen treffen zu können und ihre eigene Landessprache als Ausgangspunkt für die Erfassung endonymer Namen zu bestimmen. Insgesamt ist festzuhalten, dass die große Fläche der verschiedenen afrikanischen und anderen kolonialen Territorien nicht flächendeckend mit neuen Toponymen versehen werden konnte und sollte. Vielmehr war man seit 1892 durch die Einrichtung der Kommission zur Regelung der einheitlichen Schreibund Sprechweise der geographischen Namen in den deutschen Schutzgebieten um einen sinnvollen Umgang mit dem erfassten Namensgut bemüht, der Auftrag an diese Kommission wurde im 3. Band des Deutschen Kolonialblattes unter den amtlichen Mitteilungen angezeigt (Deutsches Kolonialblatt 1892: 407ff.). In Band 14 derselben Zeitschrift erschienen 1903 die Grundsätze für die Namengebung, Namenübersetzung, Schreib- und Sprechweise der geographischen Namen in den deutschen Schutzgebieten (Deutsches Kolonialblatt 1903: 453f.), die insbesondere Endonyme bevorzugten und die Übertragung der Lautfolge in die deutsche Schreibweise vorschrieben (Moser 2007: 7ff., Stolz und Warnke 2015).9 Inwieweit diese Vorgaben aber im kartographischen Prozess aufgrund der vielen beteiligten Personen von der Erfassung der Namen vor Ort bis zur kartographischen Realisierung im Verlag umgesetzt wurden, muss nach dem obigen Zitat von Sprigade und Moisel aus dem Jahr 1914 hinterfragt werden. Das Thema wurde schließlich erneut während der revisionistischen Phase des Dritten Reiches virulent, als Deutschland wieder als Kolonialmacht etabliert werden sollte (Sawade 1941).
3 Kolonialkartographie Die Kolonialkartographie ist aus deutscher Sicht erwartungsgemäß eng an die imperiale Phase zwischen der Kongokonferenz und dem Ende des Ersten Weltkriegs gebunden. In dieser Zeit waren in der Kartographie die wichtigsten Stan-
|| 9 Eine Anzeige und kurze Kommentierung mit dem Hinweis auf die nationale Bedeutung erfolgte unmittelbar in der Geographischen Zeitschrift 9, 1903: 581 sowie in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 38, 1903: 629.
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dards bereits weitestgehend entwickelt, so dass zunächst zu klären ist, was eine Kolonialkartographie auszeichnet, woraus ihre definitorische Eigenständigkeit besteht, ob die Verwendung dieses Begriffes ähnlich wie Atlaskartographie oder Hochgebirgskartographie einen eigenständigen Arbeitszweig der Kartographie mit klar umrissenen Vorgängen im Entstehungsprozess der Karten begreift. Bei einem Blick in die allgemeinen Lexika und Enzyklopädien der betreffenden Zeit wird Kolonialkartographie nicht als eigenes Lemma geführt. Dank der inzwischen online verfügbaren Ausgaben dieser Lexika10 ist eine Recherche nach Begriffen auch unter anderen Lemmata schnell möglich. Doch auch hier wurden, gleichfalls wie beim Begriff Kolonialgeographie, keine Treffer erzielt. Immerhin zeigt die Recherche des Begriffs Kolonialatlas in der Volltextbibliothek acht Einträge unter anderen Lemmata. Im 1920 von Heinrich Schnee herausgegebenen Deutschen Kolonial-Lexikon finden sich dagegen Eintragungen unter Landkarte (mit Verweisungen von Karte, Kartographie der Schutzgebiete und Kolonialatlanten), Routenaufnahmen (mit Verweisung von Wegeaufnahmen), Triangulation, Höhenmessung, Küstenvermessung sowie einige als Kolonialkartographen bezeichnete Personen wie Richard Kiepert (1846–1915), Max Moisel (1869–1920) und Paul Sprigade (1862–1928). Die Lemmata Kolonialkartographie oder Kolonialkartographisches Institut sucht man jedoch auch hier vergeblich. Die im Lexikon eingetragenen Lemmata zur Kartographie sind in ihren inhaltlichen Darlegungen jedoch unabhängig von kolonialen Aufgaben zu sehen, da sie grundlegende kartographische Tätigkeiten und Merkmale beschreiben. Beispielsweise beschreibt der Eintrag zur Routenaufnahme mehr an Entdeckungs- und Forschungsreisen determinierte Verfahren, deren kartographische Anwendungen jedoch nicht ausschließlich an Kolonien gebunden sind, sondern gleichfalls der Expeditions- oder Überseekartographie zugeordnet werden können. In der kartographischen Fachliteratur ist die Kolonialkartographie dagegen sehr präsent. Gräbel (2015: 103f.) relativiert jedoch die immer wieder anzutreffenden stereotypen Formulierungen zum Nutzen dieser angewandten Wissenschaft. Während der kolonialen Phase sind die Ausführungen zur Kolonialkartographie stark an den praktischen Arbeitsabläufen zur Datengewinnung und deren kartographischen Umsetzung ausgerichtet (Sprigade und Moisel 1914). Erst mit der zeitgenössisch als Verlust gedeuteten Abtretung der Kolonien an den Völkerbund und dem alsbald einsetzenden Revisionismus mehren sich die Publikationen mit dem Tenor der großartigen Leistungen der deutschen Kolonialkartographie (Obst 1921; Eckert 1924; Behrmann 1936; Pillewizer 1941; Eggers
|| 10 http://www.zeno.org/Zeno/-/Lexika (aufgerufen am 14.04.2020).
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1943; Finsterwalder und Hueber 1943). Eine definitorische Klärung des Begriffs bleibt dabei jedoch aus. Durch Routenaufnahmen wurden in erster Linie bandförmige Streifen in Sichtweite des Reiseweges kartiert. Die dabei angewandten Methoden waren mit einfachsten Mitteln möglich und auch von Laien durchzuführen: Regelmäßige Kompasspeilungen, Entfernungsmessungen und Richtungswechsel wurden mit Geländeinformationen notiert, die allmählich eine ungefähre Skizze der zurückgelegten Strecke ergaben. Mit zunehmender Dichte und sich kreuzenden Routen konnte zunächst ein netzförmiges und bei fortschreitender Kartierung schließlich ein flächiges Kartenbild erreicht werden. In den kartographischen Verlagen wurde das eingehende Material ausgewertet, mit vorherigen Zuständen abgeglichen und schließlich zu neuen Karten zusammengestellt. Erste Lieferanten waren Forschungsreisende und Missionare. Mit Beginn der kolonialen Aktivitäten wurde jedoch eine systematische Materialsammlung angestrebt, um eine zunehmend homogene Grundlage an Informationen zu erhalten. Diesbezüglich wurden schließlich Schulungen für Reisende, Siedler, Händler oder Kolonialbeamte und Musterbögen für Routenaufnahmen in den Kolonien angeboten (Sprigade und Moisel 1914). Eine andere Vorgehensweise war aufgrund der riesigen Flächen der kolonialen Territorien im Verhältnis zum Mutterland kaum möglich. Es gab nur wenige Vermessungsingenieure und Kartographen vor Ort, auch wenn sich deren Zahl im Verlauf der kolonialen Phase stetig steigerte. Der Prozess kulminierte im Deutschen Reich in der Gründung des Kolonialkartographischen Instituts, wodurch der in Berlin ansässigen Geographischen Verlagshandlung Dietrich Reimer gegenüber der Justus Perthes’ Geographischer Anstalt in Gotha im Rennen um die kartographische Vorherrschaft der Vorzug gegeben wurde (Demhardt 2000: 65ff., 2003; Gräbel 2015: 75ff.). Seit 1899 konnte die kartographische Arbeit unter der Leitung von Max Moisel und Paul Sprigade im Auftrag und auf Rechnung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts (ab 1907 des Reichskolonialamts) konzentriert durchgeführt werden, so dass seit diesem Zeitpunkt von einer Kolonialkartographie mit amtlichem Mandat gesprochen werden kann (Crom 2003). Die quantitativ wie qualitativ hohe Produktivität des Instituts war dabei primär auf Übersichtskarten für einen großen Absatzmarkt ausgerichtet. Andererseits wurden für die exakte Bestimmung der Grenzen zwischen den Herrschaftsgebieten der Kolonialmächte und für die Vermessung des Grundbesitzes in großmaßstäbigen Katasterkarten zunehmend trigonometrische Grundlagen benötigt, die von den Militärbehörden oder der Geodätischen Abteilung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes zu leisten waren. Dabei unterstand das für die großmaßstäbige Grundstücksvermessung zur Festlegung und
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Dokumentation der Eigentumsverhältnisse zuständige Katasterwesen den jeweiligen Gouverneuren der Schutzgebiete. In Deutsch-Südwestafrika war ab 1904 jedoch hauptsächlich das Militär die kartographisch tätige Einrichtung, da aufgrund der Entwicklungen, die mit der Niederschlagung des Herero-Aufstandes und dem daran anschließenden Völkermord begannen, eine kolonialamtliche Kartierung durch den Einsatz entsandter Feldvermessungstrupps abgelöst wurde, wodurch die Erstellung eines flächendeckenden Kartenwerkes angestrebt wurde (Moser 2004: 45ff., 2008).11 Nochmal anders stellte sich die Situation in Kiautschou dar, da dieses Gebiet nicht vom Auswärtigen Amt, sondern vom Reichsmarineamt verwaltet wurde. Ziel war eine Land-, Küsten- und Seevermessung sowie eine großmaßstäbige Kartierung des Gebietes (Hafeneder 2008: 155ff.). Schließlich entstanden für Publikationen in Fachzeitschriften, aus denen die in Gotha erschienenen Petermanns Geographischen Mitteilungen mit verlagseigenem Kartendienst herausragen, sowie an den universitären Forschungsinstituten etliche wissenschaftliche Spezialkarten in großem Maßstab zu meist sehr detaillierten thematischen Untersuchungen, auch zur Geologie oder Botanik. Einen kurzen Überblick über den Weg von der skizzierten Routenaufnahme über kleinmaßstäbige Übersichtskarten bis zur flächenhaften Kartierung sowie die Entwicklung der angewandten Methoden zur Verbesserung des Ausgangsmaterials geben Eckert (1924), Pillewizer (1941), Finsterwalder und Hueber (1943) und zuletzt Demhardt (2000). Trotz der sehr heterogenen Ausgangslage, den unterschiedlichen Aufnahmemethoden und kartographischen Verfahren, den nicht immer miteinander kooperierenden Einrichtungen und den sehr unterschiedlichen, den jeweiligen Anforderungen entsprechenden Maßstäben, wird in der einschlägigen kartographischen Fachliteratur subsumierend von einer Kolonialkartographie gesprochen, sobald die Kartographie aus einer oder über eine Kolonie behandelt wird. Der Begriff Kolonialkartographie ist aber weder inhaltlich noch methodisch oder organisatorisch einfach zu fassen. Demhardt sieht in ihr die Fortführung der Expeditionskartographie, “die sowohl der ideell-wissenschaftlichen Tilgung der Kenntnislücken durch die Übertragung wissenschaftlicher Aufnahmemethoden diente, als auch als angewandtes Hilfsmittel der kolonialen Herrschaft” (Demhardt 2006: 61). Eine Gegenüberstellung mit den kartographischen Aktivitäten und den verantwortlichen Organisationen anderer Kolonialmächte (Finsterwalder und Hueber 1943; Edney 2009) dürfte für weitere Schwierigkeiten einer definitorischen Fixierung sorgen. Immerhin hat die Interna-
|| 11 Die beim Aufstand erlittenen militärischen Niederlagen wurden teilweise auf mangelhaftes bzw. fehlendes Kartenmaterial zurückgeführt.
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tionale Kartographische Vereinigung12 zeitweilig eine eigene Workinggroup on the History of Colonial Cartography in the 19th and early 20th Centuries unterhalten, die inzwischen in der Commission History of Cartography organisiert ist. Zumindest wird damit die aktuelle kartenhistorische Bedeutung belegt, die man der Kartographie dieser politischen Phase beimisst.
4 Das Beispiel Kilimandscharo Die enorme Leistungsfähigkeit des Kolonialkartographischen Instituts manifestiert sich in der großen Anzahl an Karten für diverse Publikationen wie den Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten (MadDS), für den schon genannten Großen deutschen Kolonialatlas oder in den umfangreichen Kartenwerken. Ein stetig wachsender Mitarbeiterstab mit einer hohen Spezialisierung, aus Rohdaten hunderter Routenaufnahmen und aus Höhenangaben, die mit sehr unterschiedlichen Methoden erfassten worden waren, die richtigen Schlüsse für eine kartographische Umsetzung zu ziehen, hatte in wenigen Jahren ein quantitativ wie qualitativ nachhaltiges Œuvre geschaffen. Herausragendes Beispiel ist das aus 35 Blättern bestehende Kartenwerk Karte von Deutsch-Ostafrika 1:300.000, das im Jahre 1911 nach 16-jähriger Bearbeitungszeit fertiggestellt werden konnte (Passarge 1912; Brunner 1989; Demhardt 2000: 172ff.; Brunner 2004). Mit der Bearbeitung hatte Richard Kiepert begonnen, sie wurde unter Max Moisel und Paul Sprigade fortgeführt und beendet. Zu jedem Kartenblatt erschien ein Begleitheft mit einer Liste aller verwendeten Routenaufnahmen und geodätischen bzw. astronomischen Höhenmessungen. Das in diesem Kartenwerk enthaltene Blatt B 5 Kilimandscharo soll aufgrund der Fokussierung der wissenschaftlichen Erforschung des Gebirgsmassivs näher beleuchtet werden (Karte 2). Dabei weist eine Legende um die Namensgebung des höchsten Bergmassivs Afrikas selbst auf die oben genannten Probleme der Übertragung durch Befragung hin. So spekuliert Simo (2002) über die mögliche Übersetzung Kleiner Hügel von Njaro als Folge eines mittelbaren und damit mangelhaften FrageAntwort-Dialogs (s. a. Hamann und Honold 2011: 59). Nachdem 1885 das Ringen unter den Kolonialmächten über die Aufteilung Ostafrikas entschieden war, gehörte der Kilimandscharo zum Deutschen Reich. Sogleich wurde die Erstürmung des Gipfels als große nationale Aufgabe gesehen und als wissenschaftliches Erforschungsprojekt in Angriff genommen, bei dem die geowissenschaftli-
|| 12 International Cartographic Association (ICA): www.icaci.org (aufgerufen am 14.04.2020).
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chen Institute der Universität Leipzig die führende Rolle übernahmen. Dieser wissenschaftliche Anspruch manifestierte sich dabei eindrucksvoll im Namensgut der zahlreichen bislang unbekannten und deswegen auch unbenannten Landschaftselemente wie Gletscher bzw. Gletscherzungen, Täler, Scharten, Felsen etc. Bei der Vergabe griff man gerne auf Personen des Leipziger Umfelds zurück, die in irgendeiner Form maßgeblich an der Erforschung beteiligt waren, beispielsweise: Credner-Gletscher (Hermann Credner 1841–1913), Ratzel-Gletscher (Friedrich Ratzel 1844–1904), Meyer-Scharte (Hans Meyer 1858–1929).13 Doch kamen auch andere Personen zu Ehren, wie die Lentgruppe (Carl Lent 1867–1894) oder die Purtscheller Spitze (Ludwig Purtscheller 1849–1900) belegen.14 Die Bedeutung der als nationales Unternehmen verstandenen Erforschung des Bergmassivs und der Erstbesteigung des Gipfels ist durch den Rückgriff auf hochrangige Personen der Kolonialpolitik mit dem Bismarck-Hügel (Otto von Bismarck 1815–1898) oder der Wissmann-Spitze (Hermann von Wissmann 1853–1905) abzulesen. Betrachtet man Karten der Gipfelregion in einem größeren Maßstab, so sind weitere Benennungen von Gletschern mit Protagonisten des deutschen Kolonialwesens oder dessen Wegbereitern zu finden. In der 1920 von Fritz Klute veröffentlichten Karte der Hochregion des Kilimandscharo-Gebirges15 im Maßstab 1:50.000 (Karte 4) lassen sich Drygalski-, Penck-, Uhlig-, Heim-, Kersten-, Decken- und Rebmann-Gletscher ablesen.16 Der Gipfel des von Hans Meyer gemeinsam mit dem österreichischen Bergsteiger Ludwig Purtscheller 1889 erstmals erklommenen, nun höchsten Berges des Reiches aber wurde nach dem höchsten Repräsentanten der Kolonialmacht, dem Kaiser benannt: Kaiser-Wilhelm-Spitze (heute Uhuru-Peak = Freiheitsspitze). Jedoch haben nicht alle in den Karten eingetragenen und morphologisch klassifizierten Elemente auch Eigennamen erhalten, sondern es finden sich zahlreiche beschreibende, in kursiver Schrift gesetzte Hinweise wie roter Schlackehügel oder domförmiger Felsturm, die Appellativa verwenden. Manche dieser Namensgebungen mögen einem spontanen, zufälligen oder pragmatischen Impuls gefolgt sein. So könnten sich die großen Expeditionsgruppen in unbekanntem Gelände orien-
|| 13 Dabei mussten sie nicht zwingend in Afrika in Erscheinung getreten sein. 14 Der Geologe und Vermesser Lent ist in Rombo ermordet worden, Purtscheller war Bergsteiger. 15 Die Karte wurde von Fritz Klute und Eduard Oehler bereits 1912 erstellt, konnte aufgrund des Ersten Weltkriegs aber erst 1920 sowie 1921 veröffentlicht werden (Demhardt 2000: 180). 16 Erich von Drygalski (Geograph und Polarforscher, 1865–1949), Albrecht Penck (Geograph, 1858–1945), Carl Uhlig (Meteorologe und Geograph, 1872–1938), Albert Heim (Geologe und Glaziologe, 1849–1937), Otto Kersten (Chemiker und Geograph, 1839–1900), Carl Claus von der Decken (Forschungsreisender, 1833–1865), Johannes Rebmann (Missionar, 1820–1876). Insgesamt zur Rolle der Geographie und der Geographen an der kolonialen Erforschung s. Gräbel (2015).
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tierende Markierungen geschaffen haben, über die man sich leicht verständigen konnte. Auffallend ist jedoch die Häufung an kolonialen Eigennamen im Bereich der Aufstiegswege und des Gipfelplateaus im Verhältnis zu den sonst in der Karte enthaltenen Endonymen, was die als nationale Aufgabe begriffene Eroberung des Bergmassivs unterstreicht und die unternommenen Anstrengungen dem heimischen Betrachter als Beweis für die Leistungsfähigkeit der Kolonialmacht eben nicht nur aus wirtschaftspolitischer oder militärischer, sondern aus wissenschaftlicher Sicht diente. Die Fülle der populären Publikationen aus der Feder von Expeditionsteilnehmern mag dies bekräftigen. Die Qualität dieses unter teils schwierigen Umständen und wohl auch inneren Querelen (Passarge 1912) entstandenen Werkes, das insbesondere aufgrund der herausragenden plastischen Geländedarstellung17 große Anerkennung fand, war zum Zeitpunkt seiner Entstehung derartig hoch, dass noch vor der Abtretung des Gebietes an den Völkerbund mit dem Nachdruck durch den britischen Generalstab und der britischen Vermessungsbehörde begonnen wurde (Geographical Section General Staff 1915ff.). Anerkennend hebt der Vermerk auf den Kartenblättern hervor: „NOTE [Fettdruck und Majuskeln im Original]: Copied from a German map on the same scale“. Somit gibt ein Vergleich zwischen diesen beiden Ausgaben Auskunft über die Nachhaltigkeit der von deutscher Seite vergebenen Toponyme. Das Kartenbild der britischen Ausgabe ist auf den ersten Blick identisch, weist aber insgesamt erheblich weniger Toponyme auf, auch weniger Endonyme (Karte 3). Verständlicherweise ist die höchste Stelle unbenannt, jedoch findet sich im Gipfelbereich aber der Credner-Glacier, WissmannPeak und der Bismarck-Hill. Einigen Vertretern des deutschen Kolonialreichs hat man von britischer Seite durchaus Respekt gezollt, seien es nun die wissenschaftlichen oder die kolonialpolitischen Verdienste, die mit der Beibehaltung des Eigennamens Akzeptanz gefunden haben. Die Gattungsbezeichnungen des Namens wurden dabei, wie auch bei anderen Toponymen des Kartenblattes, übersetzt (Brunner 1989: 221). In aktuellen Trekkingkarten des Kilimandscharo ist abzulesen, dass diese Toponyme bis heute Bestand haben (Loch 2007; Greulich 2008; Wirth 2011; Szyczak 2012). Ein Blick auf die ihnen beigefügten Nebenkarten der Gipfelregion mit größerem Maßstab weist auch die in der Karte von Klute (Karte 4) eingetragenen Namen als noch heute gültige Toponyme aus. Allerdings ist anzumerken, dass bei dem fortschreitenden Rückzug der Gletscher in absehbarer Zeit eine natürliche Auslöschung dieser Toponyme stattfinden wird.
|| 17 Hieran trägt H. Nobiling großen Anteil, die Reliefdarstellung hat er mit Formlinien (eine Art Höhenlinien), unterstützt durch Schummerung, sehr plastisch gestaltet (Finsterwalder und Hueber 1943: 270).
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Die Übernahme deutscher Toponyme in britischen Karten ist jedoch nicht zu verallgemeinern, denn Ormeling sieht im “replacement of German names by English names after WW I” (Ormeling 2003: 50) eine eigene Phase markanter Namenswechsel, die einer intensiven Untersuchung zu unterziehen ist.
5 Stadtpläne Das von den Kolonialmächten auf dem afrikanischen Kontinent angetroffene Siedlungswesen war bis zu deren Ankunft sehr heterogen. Für Westafrika wird eine autochthone Stadtentwicklung konstatiert, während diese für Ostafrika ausgeschlossen wird (Manshard 1977). Araber, Perser, Portugiesen oder Inder hatten bereits in verschiedenen afrikanischen Regionen ihre Einflüsse hinterlassen, diese aber meist nur punktuell in ihren Stützpunkten ausbilden können. Die Erschließung einer Siedlung durch Straßenzüge und deren Benennung ist das Erbe der kolonialen Phase. Der Prozess der Vergabe von Straßennamen war auch in den heimatlichen Siedlungen erst im 19. Jahrhundert zu einer allgemein verbreiteten Anwendung gekommen. Ausgehend von den großen mittelalterlichen Handels- oder Residenzstädten war nun auch bei den durch die Industrialisierung schnell wachsenden Städten die eindeutige Benennung für eine effiziente Verwaltung und für einen schnellen Warentransport notwendig geworden. Mit dieser Entwicklung geht gleichfalls die Entstehung des modernen Stadtplans als Orientierungshilfe einher. Die bislang erschienenen Stadtkarten hatten mehr die Funktion der Repräsentation von Herrschaft oder Demonstration von Macht und Schutz zu erfüllen, als eine Orientierung im Stadtraum zu geben. Mit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Tourismus wurde jedoch erstmals ein neuer Kartentypus notwendig, der einen guten Überblick und ein schnelles Zurechtfinden erlaubte. In diesen zunächst in Reiseführern enthaltenen, unselbständig erschienenen Plänen waren meist nur die Stadtzentren mit den sehenswerten oder bedeutenden Bauwerken berücksichtigt, nicht jedoch die gesamte Siedlungsfläche einer Stadt. Schnell wurde von verlegerischer Seite das wirtschaftliche Potential dieses Informationsmediums erkannt, so dass sich der Stadtplan, wie er noch heute im Gebrauch ist, als Produkt am Markt durchsetzen konnte. Dabei haben ihm die Verlage einerseits Eigenschaften wie Ordnung und Orientierung zugrunde gelegt, andererseits aber auch dem Kartenbild individuelle Gestaltungsmerkmale mitgegeben, die als qualitative Werte und der Wiedererkennung dienten, berühmte Beispiele sind die als Mausefalle bezeichnete dreidimensionale Darstellung der Bahnhöfe in Stadtplänen des Pharus-
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Verlags (Drauschke et al. 2002) oder die Hyperboloid-Projektion und die patentierte Faltung des Falk-Verlags. Stadtpläne zeichnen sich durch ihre klaren Strukturen aus, die mit Farben, Linien oder besonderen Signaturen einen intuitiven Gebrauch ermöglichen. Meist bilden sie die Stadt im Grundriss mit einem Maßstab im Bereich zwischen 1:12.000 und 1:20.000 ab, wobei unter Verlust einer exakten Strecken- und Flächenmessung das Straßennetz meist durch Farbe und Breite deutlich hervorgehoben und zugleich in Haupt- und Nebenstraßen klassifiziert ist. Zu den durch Signaturen oder Farben hervorgehobenen Informationen gehören auch öffentliche Bauwerke, Kirchen, Krankenhäuser oder sonstige Einrichtungen einer städtischen Infrastruktur, die sich dadurch leicht aus der meist verwendeten Blockdarstellung der städtischen Bebauung erkennen lassen. Die Zweckgebundenheit ist zudem daran erkennbar, dass Stadtpläne keine Geländedarstellungen enthalten. Dafür ist ihnen ein umfangreiches Repertoire an orientierenden Hilfsmitteln beigegeben, wozu ein Straßenregister mit einem Suchgitter kombiniert gehört. Die Beschriftung von Straßen ist in den Plänen an ihrem Verlauf ausgerichtet. So kann die Leserichtung bei mehr oder weniger senkrecht ausgerichteten Straßenläufen von oben nach unten oder von unten nach oben ausgeführt sein. Für Großstädte mit zahlreichen sich überlagernden Funktionen haben sich schließlich Stadtpläne mit einem Spezialbedarf für einzelne soziale Gruppen herausbilden können, die durch die gezielte Hervorhebung bestimmter Elemente und Informationen eine fokussierte Handhabung ermöglichen (z. B. Stadtplan für Menschen mit Behinderungen, Stadtplan für Radfahrer oder aktuell Stadtplan für Flüchtlinge). Auf das Thema Kolonialkartographie bezogen avancieren Stadtpläne aus der kolonialen Phase, wie auch amtliche Adressbücher, zu Dokumenten der heimischen Teilnahme an der kolonialen Sache. Im Gegensatz zu den Adressbüchern aber visualisieren die Pläne das Gefüge der Straßen zueinander und zeigen deren Klassifizierung nach der beabsichtigten Verkehrsführung auf, der möglicherweise eine weitere Bedeutungsebene zugeschrieben werden kann. Aufschlussreich ist darüber hinaus die leider oft schwer zu ermittelnde Datierung der Pläne, die Rückschlüsse über den Gebrauch des enthaltenen Namensgutes zulässt. Darüber hinaus lassen sich aus manchen Stadtplänen auch Planungszustände ablesen, die Hinweise auf den Prozess der Namensgebung bei längerer Realisierungsdauer geben können. Die chronologische Perspektive ist insbesondere am Beispiel des so genannten Afrikanischen Viertel Berlins eindrucksvoll, da die Umsetzung zeitlich über das Ende des Kolonialzeitalters hinaus wirksam blieb.
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Die Planungen für das im Ortsteil Wedding gelegene Wohngebiet gehen bis ins Jahr 1899 zurück. In unmittelbarer Nachbarschaft der am östlichen Rande der Jungfernheide projektierten Hagenbeck Tierschau (Karte 5)18 sollte das Quartier mit Straßennamen entstehen, die den europäischen Initiativen in Afrika Nachdruck verliehen. Dabei wurden nicht nur Namen gewählt, die die Kolonien des Deutschen Reichs betrafen, sondern auch anderer Kolonialmächte. Ergänzend kamen drei Personen zu Ehren, die sich im Vorfeld der staatlich sanktionierten Kolonisation durch wissenschaftliche, kaufmännische oder politische Aktivitäten hervorgetan hatten (van der Heyden 2002; Honold 2003; s. a. Schulz und Ebert 2016).19 Der unmittelbare Vergleich von chronologisch aufeinander folgenden Stadtplänen zeigt, dass die Erschließung in mehreren Abschnitten voranging, ebenso die Benennung der Straßen. Die frühen Pläne zeigen die projektierte Fläche mit dem vorgesehenen Straßenraster, lediglich die Hauptachsen sind bereits mit Straßennamen versehen. Doch hat es im weiteren Verlauf der Bebauung auch hierbei Änderungen gegeben. Die Petersallee war ursprünglich die Verlängerung der Londonstraße, da sie aus dem angrenzenden britischen Namenscluster in das Afrikanische Viertel hineinreichte. Die Lüderitzstraße verlief ursprünglich durchgehend bis zum geplanten Bebauungsende, wurde aber zu einem späteren Zeitpunkt durch die Anlange von Kleingartenkolonien20 unterbrochen und somit verkürzt. Das Ende jenseits der Kleingartenanlage erhielt die Bezeichnung Usambarastraße. Gauglitz (2015) legt mit seinem Themenstadtplan von Berlin durch farblich gekennzeichnete Beschriftungen eine graphische Umsetzung von zusammengehörigen Quartieren und bisherigen Straßennamen mit ihren Umbenennungen vor (Karte 6). Dieser Plan lässt auf den ersten Blick erkennen, dass das schnelle Wachstum der Stadt zur Clusterbildung bei Straßennamen geführt hat, die für die Bewohner zudem eine identifizierende Wirkung haben. Das Afrikanische Viertel in Berlin-Wedding ist dabei eines von vielen. Auf den zweiten Blick lässt er erkennen, dass manche Namen nicht von Dauer, sondern als Zeitzeugen gesellschaftspolitischen Wahrnehmungen unterworfen sind.
|| 18 In anderen Stadtplänen findet sich auch die Bezeichnung Hagenbecks Tierpark. 19 Nachtigalplatz: Afrikaforscher Gustav Nachtigal (1834–1885), Lüderitzstr.: Großkaufmann Adolf Lüderitz (1834–1886), Petersallee: Kolonialpolitiker Carl Peters (1856–1918). Aufgrund einer Neubewertung von Peters’ aggressivem Auftreten und Verhalten ist die erst 1939 nach ihm benannte Straße 1986 inhaltsseitig umbenannt worden. Namensgeber ist seitdem der Jurist, Politiker und Widerstandskämpfer Hans Peters (1896–1966). 20 Die Einschreibung kolonialer Toponyme wurde mit den Bezeichnungen der Kleingartenanlagen Dauerkolonie Togo, Klein-Afrika und Kamerun fortgesetzt.
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6 Fazit Karten dienen als wichtige Quelle kolonialer Toponyme, da sie zumeist deren erste schriftliche Fixierung beinhalten. Darüber hinaus geben ihre Entstehungsgeschichte und die bei ihrer Entstehung angewandten Verfahren Aufschlüsse über die sich wandelnde Qualität der Rohdaten, was sich insbesondere in einer chronologischen Betrachtung erschließt. Die Erhebung der endonymen Namen ist unter der Prämisse der angewandten Methoden und der Übertragung in die Sprache der Kolonialmacht zu sehen. Die in ihren Werkstätten arbeitenden Kartographen fühlten sich bei der Verschriftlichung der Namen in den Karten auch deswegen häufig überfordert, da sie mit ihrer Veröffentlichung durch das Kolonialkartographische Institut einen amtlichen Charakter bekamen. Demzufolge wurden die amtlichen Vorgaben zur Vereinheitlichung der Schreibweise begrüßt, während aber die wenig pragmatische Umsetzung bemängelt wurde. Neben der zunehmend flächenhaften Kartierung der Kolonien in Übersichtsmaßstäben mit einer stark wachsenden Zahl an Endonymen zeigen die großmaßstäbigen Spezialkarten wissenschaftlicher Expeditionen häufig neue Namensschöpfungen für geomorphologische Landschaftselemente, mit denen beteiligte Personen zu Ehren kommen sollten. Ehrungen wurden Personen auch bei der Benennung von Straßen zuteil, sowohl in den Kolonien, als auch in besonderem Maße in den Städten der Kolonialmächte. Für die neuen Wohnquartiere der nach der Industriellen Revolution schnell wachsenden Städte war die Verwendung von inhaltlich zusammenhängenden Straßennamen eine gängige Vergabepraxis, die zudem an einer zentralen Einrichtung ausgerichtet werden konnte. Für deren Analyse bieten Stadtpläne das geeignete Ausgangsmaterial. In günstigen Fällen lassen sich aus ihnen auch Planungs- und Realisierungsphasen ableiten. Der Vergleich aus verschiedenen Erscheinungsjahren wiederum lässt eine chronologische Interpretation im Umgang mit dieser Form des kolonialen Erbes zu. Die Bedeutung einzelner Orte und ihrer Bezeichnungen lässt sich an ihrer Verwendung in bestimmten Maßstabsebenen ablesen. Die bei kleineren Maßstäben notwendige Generalisierung verlangt eine Auswahl und Gewichtung aufzunehmender Informationen, die Anzahl der in einer Karte enthaltenen Toponyme zeigt diese Abhängigkeit und lässt entsprechende Rückschlüsse auf deren Stellenwert zu. Einen besonderen Aspekt liefern dabei von anderen Staaten nachgedruckte Kolonialkarten, die Aufschluss über die Internationalisierung von Exonymen geben können. Karten erhalten durch derartige Betrachtungen das Attribut eines zeitkritischen und gesellschaftspolitischen Dokumentes. Zur richtigen Einschätzung sind hierfür ihr Zweck, ihr Auftraggeber
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und ihre Zielgruppe zu kennen, Kenntnisse, die jenseits des Kartenbildes mit der Darstellung des räumlichen Gefüges und der Orientierung darin liegen.
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Der Quellenwert von Karten als Träger sprachlicher Landschaften | 55
Karte 1a: Ausschnitt aus dem Großen deutschen Kolonialatlas, Karte von Kamerun 1:1.000.000 Blatt 2 Tschad von 1901 und 1909 (SBB: 2° Kart. L 3732).
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Karte 1b: Ausschnitt aus dem Großen deutschen Kolonialatlas, Karte von Kamerun 1:1.000.000 Blatt 2 Tschad von 1901 und 1909 (SBB: 2° Kart. L 3732).
Der Quellenwert von Karten als Träger sprachlicher Landschaften | 57
Karte 2: Ausschnitt aus der Karte von Deutsch-Ostafrika 1:300.000, Blatt B 5 Kilimandscharo von 1911 (SBB: Kart. C 16739).
Karte 3: Ausschnitt aus der Karte German East Africa 1:300.000, Blatt B 5 Kilimanjaro von 1915 (SBB: Kart. C 16740).
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Karte 4: Ausschnitt aus Karte der Hochregion des Kilimandscharo 1:50.000 von 1921 (SBB: GfE Kart. J 5, 479).
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Karte 5: Ausschnitt aus Lowe (1919): Pharus-Plan Gross-Berlin 1:25.000 von 1919 (SBB: Kart. X 18276 ).
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Karte 6: Ausschnitt aus Gauglitz: Stadtplan Berlin Themenstadtplan 1:16.666 von 2015 mit freundlicher Genehmigung des Verlags (SBB: 2K17018).
| Teil II: Fallstudien
Fernando Hélio Tavares de Barros, Lucas Löff Machado und Angélica Prediger
Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus Zusammenfassung: Die deutschsprachige Besiedlung Brasiliens fand ab dem 19. Jahrhundert unter der Initiative des brasilianischen Kaiserreichs, der regionalen Regierung und durch Privatleute statt. Heute noch weist das Land aufgrund seiner Einwanderungsgeschichte neben portugiesischen Ortsnamen auch deutschsprachige auf, welche oft parallel verwendet werden. Im Fokus dieser Beschreibung stehen deutschsprachige Toponyme in Brasilien und ihre Strukturbeschreibungen, Benennungsmotiviken sowie Sprachkontaktphänomene. Hierzu werden über die bisherige Forschung hinaus Einwandererbriefe, Fotos sowie synchronische dialektologische Datenerhebungen in Form von semistrukturierten Interviews vor Ort herangezogen. Es wird gezeigt, dass für den Bereich parallel existierender portugiesisch- und deutschsprachiger Toponyme (insbesondere Oikonyme) nach wie vor Forschungslücken zu konstatieren sind, die ein ergiebiges Forschungsfeld für die Onomastik und die Mehrsprachigkeit darstellen. Schlagwörter: Brasilien; deutschsprachige Einwanderung; Kolonialtoponomastik; Ortsnamen; parallele Benennungspraktiken
1 Einführung Deutschsprachige Toponyme (weiter TOP) im portugiesischen Lateinamerika umfassen Ortsnamen in einem Raum, der historisch der Kolonialmacht des portugiesischen Königsreiches unterworfen war.1 Die von Deutschen eingenommenen Siedlungsgebiete wurden in der Zeit des brasilianischen Kaiserreichs (1822–1889)2 in einer Region errichtet, die unter portugiesischer Kontrolle || 1 Diese Regionen umfassen das heutige Brasilien und einen Teil Uruguays. || Fernando Hélio Tavares de Barros, Av. Perimetral Santo Agostinho, 41, Bairro Boa Nova III., 78580-000 Alta Floresta, Mato Grosso, Brasilien, E-mail: [email protected] Lucas Löff Machado, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Gundekarstr. 14, 85072 Eichstätt, E-mail: [email protected] Angélica Prediger, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Hornthalstraße 2, 96047 Bamberg, E-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-004
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stand. Das liegt daran, dass der politische Einfluss der königlichen Familie Bragança über Brasilien auch nach dessen Unabhängigkeit fortgesetzt wurde. Letztendlich wurde unter anderem die Kolonisierung dieses Raums durch das „Kaiserreich, die Provinz und von Privatleuten“ (Dreher 2013: 120) begründet. Kolonisierung, pt.3 colonização, wird als der Prozess der Ansiedlung verstanden, wobei die Siedlung selber als pt. colônia ‘Kolonie’ und der Siedler als pt. colono ‘Kolonist’ bezeichnet wird (vgl. Delhaes-Guenther 1980: 157). Dabei wurden Ortsnamen von neu entstandenen Siedlungen meistens von Landvermessern in Würdigung des brasilianischen Kaisers Dom Pedro I (1798–1834), aber auch durch die Praxis der ortsansässigen Sprecher_innen vergeben.4 Die ersten deutschsprachigen Kolonien in Brasilien wurden 1818 im Nordosten und 1819 in derselben Provinz der ehemaligen nationalen Hauptstadt Rio de Janeiro jeweils Leopoldina und Neu-Freiburg genannt. Danach wurde 1824 die erste Ansiedlung in Rio Grande do Sul (weiter RS) in der heutigen Stadt von São Leopoldo gegründet (vgl. Fröschle 1979: 184–185). Dorthin wanderten Siedler seit Anfang des 19. Jahrhunderts aus unterschiedlichen dtspr.5 und nicht-dtspr.6 Regionen des heutigen Europas aus. Die Gründe für die Auswanderung aus dem Herkunftsland (push effects) sind vor allem wirtschaftlicher, politischer und religiöser Art: Sie umfassen Auswirkungen der Industrialisierung wie Landknappheit für einen großen Anteil der Bevölkerung, die Besetzung (West-)Deutschlands durch französische Truppen sowie die Revolution im Jahr 1848 und mangelnde Religionsfreiheit. Zuvor waren bereits unterschiedliche dtspr. Gruppen in den Osten Europas ausgewandert, die später mit der kommunistischen Wende zum Teil nach Südamerika auswanderten. Von den früheren Kolonien in Rio Grande do Sul siedelten Nachfahren dieser Gruppen am Ende des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts über || 2 Vgl. Fausto (1995). 3 Abkürzungen im Rahmen dieser Arbeit: pt.: portugiesisch; dtspr.: deutschsprachig. 4 „Portugieserschneiz (port. Linha São Jezó [José] do Hortêncio, war bis 1829 Privatland des Brasiliers Hortêncio Leite, dieser kolonisierte sein Land mit Deutschen; die Deutschen nennen alle Brasilier weißer Hautfarbe Portugieser“ (Barsewisch 1905: 141). 5 Neben Luxemburg und Österreich gelten als Herkunftsregionen Hamburg, MecklenburgSchwerin, die Pfalz, Hessen, Sachsen-Coburg, Württemberg, das Rheinland, Pommern, Schlesien, Sachsen, Böhmen und Westfalen. Die Anzahl von dtspr. Einwanderer_innen nach Brasilien zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert schwankt zwischen 200.000 und 253.846 Personen (vgl. Schulze 2016: 21). Diesbezüglich beruft sich Schulze (2016) auf die Studien von Witter (1990), Carneiro (1950) und Luebke (1985). 6 Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Frankreich, aus den Niederlanden, Polen, Portugal, Spanien, Schweden, aus der Ukraine. Man geht davon aus, dass die Mehrheit der Nachfahren in diesen kolonialen Gebieten heutzutage zweisprachig in Deutsch und Portugiesisch ist.
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nach Zentral- und Nordbrasilien sowie in die Nachbarländer Argentinien und Paraguay. Die Binnenmigration innerhalb Brasiliens und über die Landesgrenzen hinaus führte zu neuen Sprachkontaktsituationen, die durch regionale Sprachvarietäten des Portugiesischen sowie durch weitere Mehrheitssprachen wie Spanisch in Argentinien und in Paraguay und durch andere Sprachen wie Italienisch, Polnisch, Guaraní u.a. gekennzeichnet waren. Die autarke Struktur der in unbesiedelten Gebieten gegründeten Ansiedlungen ermöglichte deren Entwicklung im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts in mittelgroße Städte. Über den familiären Bereich hinaus wurde die deutsche Sprache auch in sozialen Institutionen wie in Kirchen, Schulen sowie Turn-, Gesangs- und Lesevereinen genutzt. Zwischen 1937 und 1945 fand eine systematische und oft serielle Umbenennungspraxis im Rahmen der Nationalisierungskampagne unter dem damaligen Präsidenten Getúlio Vargas statt. Eine große Zahl von dtspr. TOP wurde entweder durch Lehnübersetzung (Milchbach wurde bspw. zu pt. Arroio do Leite) oder durch Ersetzung und Einführung neuer Namen (Neu Hamburg wurde bspw. zu pt. Linha General Osório) getilgt (vgl. Staub 1983: 187).7 Benennungsmotiviken derartiger Umbenennungsprodukte waren oft einheimische Namen in der Sprache Tupi, etwa Panambi8 ‘blauer Schmetterling’ statt Neu-Württemberg.9 Auf inoffizieller Ebene wurden trotzdem meistens auch die frühen dtspr. TOP aufrechterhalten (vgl. u.a. Müller 1999). Karte 1 veranschaulicht die heutige Verteilung der dtspr. Gemeinschaften in Südamerika. In Anlehnung an die Karte von Blancpain (1994: 99) sind einerseits geschlossene Kolonien als homogene Ansiedlungen zu interpretieren, welche zur Zeit ihrer Gründung andere ethnische Gruppen ausschlossen. Gemischte Kolonien gehen wiederum aus Ansiedlungen hervor, an die sich weitere Gruppen (z. B. aus skandinavischsprachiger, romanisch- oder slawischsprachiger Bevölkerung) angesiedelt haben. Hinzu treten einzelne Siedlungen, die sich erst im Laufe der Zeit durch Binnenmigration gebildet haben und ursprünglich kein Einwanderungsziel waren. Es sei angemerkt, dass es heute keine Stadt gibt, in dem lediglich dtspr. Personen wohnhaft sind.
|| 7 Beide Beispiele beziehen sich auf die Region von Santa Cruz do Sul (RS). 8 panamoby (Navarro 2013: 370) oder panambi (pt. borboleta) ist eine Bezeichnung aus dem Guaraní für Schmetterling, Falter (Tibiriçá 1985: 92; Boudin 1978: 184; Furtado 1969: 134; Peralta und Osuna 1950: 109). 9 Vgl. Fischer (2005: 176) und die kurz gefasste Geschichte der Stadt auf: https://cidades. ibge.gov.br/brasil/rs/panambi/historico (aufgerufen am 23.05.2021).
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Karte 1: Dtspr. Siedlungen in Südamerika. (Quellen: Basiert auf Blancpain 1994: 99 und ergänzt nach Rosenberg 2018, Altenhofen und Morello 2018, Beilke 2013, Dück 2011, Fröschle 1979 und Roche 1969).
Der vorliegende Beitrag fasst die Ergebnisse bisheriger Studien zu dtspr. TOP in Brasilien zusammen und diskutiert zugleich die noch immer bestehenden Forschungslücken. Dabei werden die wichtigsten Arbeiten inklusive der dabei seit dem letzten Jahrhundert bis heute erhobenen Nameninventare dargelegt.10 Danach wird eine linguistische Kategorisierung dieser Namensbestände nach
|| 10 Aufgrund der geographischen und politischen Entwicklung der Ortschaften im 20. Jahrhundert wird hier zunächst auf eine Distinktion zwischen Choronymen und Oikonymen verzichtet (vgl. Nübling et al. 2015: 206–208).
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Strukturmustern in Bezug auf prototypische Geoklassifikatoren (weiter KLASS) bzw. Grundwort und Modifikatoren (weiter MOD) bzw. Bestimmungswort vorgenommen. Erstmalig werden auch multimodale Daten (vgl. Dunker et al. 2017: viii) in Form von Einwandererbriefen, Fotos sowie Interviews vor Ort herangezogen, welche aus dem Projekt Sprachkontaktatlas der deutschen Minderheiten im La Plata-Becken – Hunsrückisch (weiter ALMA-H)11 und aus eigenen Erhebungen der Autor_innen dieses Beitrags stammen.
2 Bisherige Studien zu dtspr. TOP in Brasilien Die meisten einschlägigen Forschungen haben sich nicht mit der etymologischen und sprachlichen Beschreibung der dtspr. TOP beschäftigt, sondern weitgehend mit der Dokumentation der noch gegenwärtig existierenden dtspr. TOP. Im Folgenden werden die Beiträge von Julius v. Barsewisch (1905), Gustav v. Barsewisch (1908)12, Kadletz (1937), Rabuske (1980), Staub (1983), Dick (1988), Müller (1999) und Engelmann et al. (2004) kurz zusammengefasst. Barsewisch (1905) weist in seinem Artikel Deutsche Ortsnamen in Rio Grande do Sul darauf hin, dass ein Großteil der dtspr. TOP aus parallelen Ortsnamen besteht. Nicht selten war der gebräuchliche Ortsname deutsch, während der amtliche Ortsname portugiesisch war.13 Dieses Phänomen gilt im Wesentlichen
|| 11 Das ALMA-H Projekt ist unter Betreuung von Cléo V. Altenhofen und Harald Thun im Rahmen einer Partnerschaft zwischen der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul (UFRGS) und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) entstanden. Das Projekt wurde zwischen 2008 und 2012 von der Alexander von Humboldt Stiftung finanziert. Das Korpus umfasst 800 Stunden Audiomaterial aus insgesamt 128 Interviews in 41 Ortschaften. Über das Tonmaterial hinaus verfügt das Projekt über ikonographisches Material in Form von Briefen (zirka 1.000), Fotos und Videos, welche bei den Datenerhebungen gesammelt wurden (vgl. Altenhofen 2016: 106). Die halbstrukturierten Interviews wurden auf der theoretischen und methodologischen Grundlage der Pluridimensionalen und Relationalen Dialektologie durchgeführt (vgl. Radtke und Thun 1996). 12 Die homonymen Autoren gehen auf die Namen Julius v. Barsewisch und Gustav v. Barsewisch zurück. Aufgrund der Einheitlichkeit werden hier die Quellen anhand des Jahres ausdifferenziert, jeweils 1905 und 1908. Biografische Angaben zu beiden Autoren konnten wir bis dato leider nicht finden. 13 So erklärt auch Rabuske (1980: 364), dass „das häufigste Phänomen, das wir nun feststellen, […] die doppelten geographischen Benennungen [sind], nämlich eine offizielle und lusische und die andere populär und deutschsprachig“ [eigene Übersetzung]. Kadletz (1937) schreibt dazu: „Für die meisten dieser deutschen Ortsnamen gibt es allerdings auch portugiesische bzw. brasilianische Bezeichnungen. Letztere sind aber nicht allgemein bekannt und selbst
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bis heute. Der Autor gliedert seine Zusammenstellung von TOP folgendermaßen: Erstens die Kolonien aus dem nördlichen Teil von Rio Grande do Sul, nämlich in den Talgebieten der Flüsse Caí, Sinos und Taquari; zweitens die Ortsnamen in den Kolonien im Süden des Landes bei São Lourenço do Sul und Pelotas; und drittens die Gewässernamen und Berg- bzw. Gebirgsnamen. Zu den aufgelisteten Namen werden zum Teil auch Benennungsmotiviken hinzugefügt. Dieselbe Vorgehensweise wiederholt Barsewisch (1908) in seiner Studie Die Namen der deutschen Siedelungen in Rio Grande do Sul. In Barsewischs (1905) und Barsewischs (1908) Erhebungen zu den deutschen Ansiedlungen lassen sich Ortsnamen feststellen, die sich vorwiegend auf Personennamen stützen (Schmidtpikade, Lenzpikade, Schwerinpikade14, Franzpikade, Gauerneck, Leonerhof, Haßlocherland15, Winterschneiß). Diese Ortsnamen gehen auf Pioniere oder politische bzw. militärische Persönlichkeiten zurück. Eingedeutschte Toponyme aus dem Portugiesischen finden sich häufig ebenso in ihrem Korpus. Weiterhin kommen auch TOP vor, die von den deutschen Kolonisten eingeführt wurden, und Lehnübersetzungen, die aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzt wurden.16 Theodor Kadletz (1937) legt in seinem Aufsatz Deutsche Ortsnamen in Brasilien zum ersten Mal eine Liste der dtspr. TOP nach alphabetischer Sortierung an. In seinem Korpus stützt sich nahezu die Hälfte dieser TOP auf Personennamen. Der Beitrag basiert unter anderem auf der Arbeit von Barsewisch (1905) und auf dem geografischen Postkatalog Brasiliens in zwei Bänden.17 Seine Aufzählung || den Bewohnern der betreffenden Orte keinesfalls immer geläufig“ (Kadletz 1937: 423). Laut Barsewisch (1905: 139) „ist eine hierzulande allgemein bekannte Tatsache, daß die Pikaden (Koloniestraßen) im nördlichen wie im südlichen deutschen Siedlungsgebiet doppelte Namen tragen: einen amtlichen (und deshalb von der amtlichen Kartographie anerkannten) und einen nichtamtlichen, volksmundlichen. Jener ist portugiesisch, dieser ist deutsch“. 14 „nach v. Schwerin, Koloniedirektor, a. [um] 1860 gegründet, in Munizipium Santa Cruz – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 160). 15 „nach österreichischen Einwanderern, G. Hasslocher war a. [um] 1897 Staatsparlamentsabgeordneter, M. S. Cruz“ (Delhaes-Guenther 1980: 159). 16 In dem vorliegenden Korpus verweist Kadletz (1937) auf das TOP St. Wendel in der Region von Montenegro, Caí-Tal, das ins Portugiesische durch Lehnübersetzung als São Vendelino übersetzt wurde: „Doch darf letzteres z.B. bei St. Wendel (amtlich São Vendelino, Mzp. Montenegro RGS) angenommen werden. Die Hunsrücker Siedler haben den Namen, der sonst in Brasilien nicht vorkommt und unbekannt ist, aus ihrer Heimat mitgebracht, wo der heilige Wendelin (vgl. St. Wendel mit den Reliquien des Heiligen, südlich von Birkenfeld) große Verehrung genießt. São Vendelino, die amtliche Form des Ortsnamens, ist also nur eine Übersetzung des ursprünglich deutschen Namens ins Portugiesische“ (Kadletz 1937: 426–427). St. Wendel ist der Schutzheiliger der Hirten und Landleute (vgl. Delhaes-Guenther 1980: 161). 17 Pt. Guia Postal (geográfico) da República dos Estados Unidos do Brasil organizado pela Directoria Geral dos Correios Rio de Janeiro 1930-1931). „In nachstehender Ausstellung sind die
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beträgt insgesamt 591 Ortsnamen aus 22 brasilianischen Provinzen. Rio Grande do Sul enthält den größten Anteil der TOP gefolgt von Santa Catarina und São Paulo mit jeweils 300, 137 und 32 Ortsnamen. Im Rahmen des Dritten Kolloquiums der Teuto-Brasilianischen Studien legt Rabuske (1980) in seinem Beitrag „Algo sobre a gênese dos nomes geográficos na região colonial alemã do Rio Grande do Sul“18 ausführliche Beschreibungen zu den unterschiedlichen TOP lusitanischer beziehungsweise autochthoner sowie deutscher Herkunft in RS dar. Diese befinden sich in den Alten Kolonien19 am Fuß des Gebirges Serra Gaúcha.20 Dem Autor zufolge bewahrt diese geographische Zone einen wirklichen „toponomastischen Urwald“21, der bis dato wenig erforscht wurde. Rabuske stellt Daten aus Archiven sowie von Forschungsreisen, bei denen er Volksetymologien zu den TOP bei ortskundigen Sprecher_innen erhob, zusammen. Die Arbeit von Staub (1983) setzt sich mit den lexikalischen Entlehnungen aus dem Portugiesischen in das Hunsrückische auseinander, das in der Ortschaft von São Martinho in Santa Cruz do Sul (RS) gesprochen wird. Dabei liefert Staub eine große Zahl von onomastischen und phonetischen Elementen bezüglich dieser Region in Form einer ausführlichen Liste. Hinsichtlich deren Struktur legt der Autor Einzelfälle der parallelen Toponyme und Mischformen dar. Dick (1988) belegt und diskutiert sorgfältig anhand ihres Aufsatzes „Toponímia e imigração no Brasil“ die möglichen Benennungsmotiviken der Ortsnamen mit einem fremden Ursprung – vorwiegend einem italienischen oder deutschen – in den Einwanderungsregionen Brasiliens. Ein besonderer Fokus wird auf die Nachahmungen von fremden Strukturen22, Konstruktionen aus dem Bereich der Anthroponyme wie die Stadt Blumenau in Santa Catarina sowie die Reproduktion von dtspr. TOP wie Neu Bremen, ebenfalls in Santa Catarina, gelegt.
|| Ortsnamen, die im Guia Postal aufgeführt werden, durch ein Sternchen vor dem Ortsnamen gekennzeichnet” (Kadletz 1937: 424). 18 [Etwas zu der Entstehung geographischer Benennungen in der deutschen kolonialen Region Rio Grande do Suls], eigene Übersetzung. 19 Die Alten Kolonien entstehen zu der Zeit des Kaiserreichs und verzeichnen ab 1824 die ersten Einwanderungsbewegungen. Im Gegensatz dazu werden die Neuen Kolonien erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der brasilianischen Republik gegründet. 20 Gaucho-Bergkette. 21 „mata virgem de nomenclatura geográfica“ (Rabuske 1980: 390). 22 „Por mimetismo ou espírito de imitação, vontade de se contar com o ‘estranho’ na nomenclatura nativa“ [Unter Mimikry oder Nachahmungsbildung versteht man die Hinwendung zu einem fremden Element zugunsten dessen Integration in den eigenen Namenbestand] (Dick 1988: 86).
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Müller (1999) veröffentlichte das Wörterbuch Dicionário Histórico e Geográfico da Região de Santa Cruz do Sul, in dem der Autor das Namenkorpus der ländlichen Region von Santa Cruz do Sul (RS) herausarbeitet. Müller stellt eine Liste von 746 TOP zusammen. Den Einträgen liegen oft diachronische Kommentare zugrunde – z. B. zur Ersetzung des dtspr. TOP durch pt. bzw. autochthone Sprachen. Hintergrundinformationen über den Status der jeweiligen Formen im Sprachgebrauch werden gelegentlich vornehmlich den dtspr. TOP beigelegt. Engelmann et al. (2004) stellen in dem dreibändigen Werk A Saga dos Alemães: do Hunsrück para Santa Maria do Mundo Novo eine Liste von TOP aus der Region des Paranhana Tals und Umgebung, 100 km von der Hauptstadt von RS entfernt, zusammen. TOP werden in dem Werk als ein wichtiger Teil der lokalen Geschichte und deren Beschreibung betrachtet. Die Autoren präsentieren 506 TOP im ersten Band, unter denen mindestens 51 TOP eine dtspr. Konstituente aufweisen. Benennungsmotiviken werden oft genannt. Darunter sind historische Ereignisse oder durch die Einwanderung überführte dtspr. TOP. Nicht immer liegen parallele TOP vor. Die bisherige Forschung hat sich bislang auf die ersten Siedlungsnamen in verschiedenen Regionen Brasiliens bzw. in dem sog. Gebiet der Alten Kolonien konzentriert. Dabei wurde häufig der Fokus auf parallele TOP gelegt und zum ersten Mal überhaupt eine Kategorisierung der jeweiligen Zusammenstellungen vorgenommen. Hauptergebnis dieser bisherigen Forschungen ist die Herausstellung von Personennamen als häufige Elemente der Ortsnamenbildung sowie überführte Ortsnamen, die im dtspr. Raum Europas zuvor existierten. Leider erweisen sich dabei zumeist methodologische Lücken, die einerseits die Quellen und andererseits den Status dieser TOP im aktuellen Sprachgebrauch der jeweiligen Gemeinschaften betreffen. Eine systematische oder partielle Offenlegung der Quellen des Materials wird beispielsweise nur von Dick (1988) und Müller (1999) vorgenommen.
3 Strukturtypen der Ortsbenennungen Die Etablierung einer komplexeren Taxonomie für die jeweiligen TOP ist immer noch ein Desiderat der internationalen Toponomastik. Hierbei nimmt unsere Untersuchung eine sprachliche Klassifizierung der häufigsten TOP aus der bisherigen Literatur auf der theoretischen Grundlage der vergleichenden Kolonialtoponomastik (Stolz und Warnke 2018: 22) vor. In der Regel weisen die untersuchten Ortsnamen eine mehrgliedrige Struktur auf. Diese Struktur zeigt meistens einen KLASS (Grundwort) appellativischer Art (dt. Schneiz, Hof, pt. picada, linha
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usw.) und MOD, also eine determinierende Konstituente (Bestimmungswort), welche sowohl ein Appellativ (Portugieser, Einfach, Alt, Neu) als auch ein Eigenname (s. Anthroponymen oben) sein kann. Die folgenden Kapitel sind in zwei Hauptteile untergliedert, indem zuerst die KLASS und danach die MOD analysiert werden.
3.1 Deutsch-portugiesische Geoklassifikatoren Den Ortsbezeichnungen in Südbrasilien liegen mehrere Formen zugrunde. Variationsreich sind unter anderem die KLASS. Diese tragen die allgemeine Bedeutung in dem Namen von unter anderem Gemeinden, Dörfern, Flüssen bzw. Bäche, Bergen bzw. Gebirgen, Tälern, Straßen (Stolz und Warnke 2018) und betreffen vornehmlich Appellativa wie dt. Schneise, Straße sowie pt. picada, linha. Hinzu treten – in der Mündlichkeit – die jeweiligen Varianten Schnees und die eingedeutschten Formen Pikade, Pikode, Pick23 und Linie.24 Karte 2 entstammt dem Projekt ALMA-H (vgl. Altenhofen 2004) und zeigt die Kenntnis von Gewährspersonen aus verschiedenen Altersgruppen und Bildungsniveaus in dem Ortspunktnetz über den KLASS Schneise auf. Der Sprachkontaktatlas der deutschen Minderheiten im La Plata-Becken (ALMA-H) untersucht die Varietät des Deutschen, welche von den Sprecher_innen selbst als Hunsrückisch (mit Varianten: Hunsbucklisch, Deitsch, Deutsch) gekennzeichnet wird.25 Die Erhebungen des ALMA-H orientieren sich an der Pluridimensionalen und Relationalen Dialektologie: Die halb-strukturierten Befragungen basieren auf einer Fläche von 41 Ortspunkten und werden mit Gewährspersonen aus verschiedenen Profilen durchgeführt. Dadurch entstehen soziolinguistische Interviews mit lokalen Personen aus älteren und jüngeren Gruppen bzw. mit mehr oder geringerer Bildung. Der Fragebogen beinhaltet unter anderem Fragen onomastischen Interesses, etwa „wemma den Wald ufmache will, was mussme mache?“, womit
|| 23 Pick unterliegt wohl der pt. Basis pique. Pique ist auch im Portugiesischen mit der Bedeutung von picada belegt (vgl. Karte 103 in dem Ethnografischen Sprachatlas Südbrasiliens – ALERS) und wird vorwiegend in Orten genannt, in denen lediglich luso-brasilianische Bevölkerung belegt ist bzw. die dtspr. Gruppe nicht überwiegend ist. 24 Barsewisch (1905: 140): „In den neueren Regierungskolonien, die vorherrschend mit Polen und Deutschrussen besetzt sind, sagt man Linie statt Pikade, da ja auch im europäischen Russland Kolonien angelegt sind, die in Linien eingeteilt werden. So hat jeder deutsche Stamm die in seiner engeren Heimat gebräuchliche Bezeichnung für Pikade eingeführt“. 25 Die Bezeichnung Hunsrückisch bezieht sich auf das Gebirge Hunsrück im Rheinland-Pfalz, woher eine große Zahl von Einwander_innen stammte.
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gemeint war ‘Wenn man den dichten Wald erschließen möchte, was müsste man machen?’, sowie zur Charakterisierung des jeweiligen Erhebungsortes, wobei wiederum onomastische Daten hervorgebracht werden, etwa „Wie nennt man den hiesigen Ort?“.
Karte 2: Karte zur Kenntnis von dt. Schneise (Quelle: ALMA-H Daten).
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Es ist davon auszugehen, dass Schneise der erste von den dtspr. Einwander_innen in dieser Region gebrauchte KLASS war. Die Sprachkarte von ALMA-H in Karte 2 zeigt, dass die Kenntnis bezüglich dieser Form in Richtung Westen abnimmt. Seine aktive beziehungsweise spontane Verwendung wurde lediglich in Igrejinha (RS), Ortspunkt RS05, bei der älteren Generation mit hoher Schulbildung belegt. In den Interviews im Rahmen der Datenerhebung wird sie meistens von Gewährspersonen mit hohem Bildungsniveau akzeptiert. Schneise wird bei TOP wie Baumschneise, Kaffeeschneise und Neuschneise verwendet. In den ALMA-H Daten deuten die passiven Kenntnisse dieser Form darauf hin, dass sie künftig in dem lexikalischen Repertoire der dtspr. Sprecher_innen in Vergessenheit geraten wird. Zahlreiche TOP mit Schneise sind nach wie vor registriert. In Tab. 1 wird eine Auswahl der Ortsbenennungen gezeigt: Tabelle 1: Lexem Schneise mit Literaturangabe.
TOP (Auswahl)
Literaturangabe
Baumschneis
„Dois Irmãos, gegründet a. 1825, nach P. Baum aus Stipshausen, Hunsrück, Munizipium von São Leopoldo – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 159). Barsewisch (1905: 140) berichtet: „Baumschneiz […] erster Ansiedler Baum aus Moselgegend; die Dois Irmãos (zwei Bruder) heißen bei den Deutschen Königsberge“. Offiziell trug die Ortschaft die portugiesische Bezeichnung Linha São Miguel dos Dois Irmãos. Dois irmãos geht auf die zwei Berge am Bergfuß der Ortschaft zurück (Rabuske 1980: 399). Die Länge des offiziellen Namens motiviert dann wiederum das parallel gebrauchte Toponym Baumschneis. So berichtet der Autor: ‚sicherlich kam solcher Name äußerst kompliziert für die Aussprache der colonos sein, welche entschlossen, ihre picada in Kongruenz mit ihrem ersten Einwohner Namens Baum zu taufen‘ [eigene Übersetzung] (Rabuske 1980: 399).
Berghahnerschneis
„Bom Jardim, F. und J. Berghahn wanderten a. 1824 aus Holstein beziehungsweise Mecklenburg ein. Munizipium von São Leopoldo – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 159). ‘Bom Jardim aber bis heute (!) in dem Mund der colonos Berghahnerschneis aufgrund der ersten Einwohner’ [eigene Übersetzung] (Rabuske 1980: 400).
Böhmerschneis
Böhmerschneiz (port. Linha dos Bohemios, erste Ansiedler Deutschböhmen aus der Bezirkhauptmannschaft Reichenber). (Barsewisch 1905: 141)
Doppelschneiz
Den Interviews von ALMA-H zufolge ist in der Ortschaft eine lutherische und eine katholische Gruppe vorhanden. Paralleles TOP pt. picada dupla, dt. Doppelpikade. Das amtliche TOP ist Novo Paraíso, früher Picada Grande (Gregory 2020). Das TOP Doppelschneiz (parallel Linha da Esperança)
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TOP (Auswahl)
Literaturangabe benennt weiterhin einen anderen Ort in der damaligen Kolonie Santa Anna do Sertão, Ortsteil von Porto Alegre (Barsewisch 1905: 141).
Einfache Schneiz
Einfache Schneiz wird dreimal belegt, nämlich in São Leopoldo (São José do Herval in der heutigen Stadt), in Estrela (Linha Carlos Retin) und in Sant‘Anna do Sertão, Ortsteil von Porto Alegre (Kadletz 1937: 431; vgl. Barsewisch 1905: 141)
Franzosenschneis
‘Picada der Franzosen – Ortschaft in Montenegro’ [eigene Übersetzung] (Fischer 2005: 169).
Hortencienschneis
„J. José do Hortêncio, Munizipium Caí – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 162). Aktuell São José do Hortêncio (RS).
Kaffeeschneis
„Picada café wegen des hohen Kaffeekonsums der dortigen Bewohner, Munizipium São Leopoldo – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 161). Möglicherweise sind die Anmerkungen von Delhaes-Guenther (1980) bezüglich der Benennungsmotivik von Kaffeeschneis als laienlinguistische Deutung zu interpretieren.
Kapiwaraschneiz
Kapiwara pt. capivara ‘Wasserschwein oder Capybara’ stammt aus dem Tupi „kapii´üara < ka´pii ‘capim’ [dt. ‘Gras’] + ´üara ‘comedor’ [dt. ‘fresser’]“ (Cunha 1978: 97). Dieser im brasilianischen Portugiesischen eingegliederte Tupinismus ist die Bezeichnung für die Ordnung der Nagetiere, eine Säugetierart aus der Familie hidroquerídeos – Hydrochoerushydrochaeris (Cunha 1978: 97). Tibiriçá (1984) belegt die Form capií-guara sowohl als Äquivalent zu ‘capivara’; ‘comedor de capim’ dt. ‘Grasfresser’ (Tibiriçá 1984: 80) als auch für eine Art Grass aus dem Amazonien, nämlich ‘sororoca’ oder ‘sururuca’ (Tibiriçá 1984: 80). Navarro (2013: 36) belegt die Form kapibara in dem alten Tupi, Boudin (1978: 69) kapi-war im modernen Tupi. Andererseits weisen Peralta und Osuna (1950: 38) in ihrem Guaraní-Spanisch Wörterbuch die Form capi’ivá als Synonym ‘carpincho’, ‘chigüire’, (...), ‘capihuava’, etc., ‘Hydrochoerus h.’ nach.
Kartoffelschneis
s. Schwabenschneis
Katharinenschneis
‘In der ehemaligen Kolonie von Teutônia’ [eigene Übersetzung] (Fischer 2005: 172).
Leonerschneis
Rabuske (1980: 398).
Neuschneis
„Neuschneiz (Linha nova), diese Schneiz wurde im Jahre 1856 angelegt, die meisten Kolonien waren damals schon älter“ (Barsewisch 1905: 140)
Prozeß-Schneis
„port. São Paulo; dieses Land war Privatland, die Besitzer konnten aber kein dokumentarisch festgelegtes Recht nachweisen, deshalb kamen in der ersten zeit der Besiedlung viele ärgerliche Prozesse vor, daher Prozeßschneiz“ (Barsewisch 1905: 140; vgl. Delhaes-Guenther 1980: 161).
Schwabenschneis
‘Da sich dort viele colonos aus dem liebwürdigen Schwaben angesiedelt hatten’ [eigene Übersetzung] (Rabuske 1980: 399). Laut dem Pfarrer Ambrósio Schupp (1899 apud Rabuske 1980: 409–410) war Schwaben-
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TOP (Auswahl)
Literaturangabe schneis auch als Kartoffelschneis (pt. picada da batatinha) bekannt, denn die Ortschaft gehört zur Pfarrei von Dois Irmãos, wo am meisten Kartoffeln gepflanzt wurden. Kartoffelschneis ist ein humoristischer Beiname sowie der Spitzname Kartoffelkönig für einen der Einwohner_innen (pt. rei das batatinhas) für einen ihrer Einwohner” (Schupp 1889: 521 apud Rabuske 1980: 409–410). Barsewisch (1905: 140) berichtet über Schwabenschneiz „ursprünglich von Württembergern angelegt“.
Sommerschneis
„von H. Sommer gegründet“ (Delhaes-Guenther 1980: 160).
Winterschneis
„Winterschneis (von W. Winter a. 1844 gegründet)“ (Delhaes-Guenther 1980: 159).
Die KLASS Schneise und linha – beide Äquivalente zu picada – sind laut der Historiographie geographisch aufgegliedert. Schneise wird vorrangig in den Alten Kolonien um São Leopoldo gebraucht (vgl. Staub 1983: 186). Je nach Quelle treten verschiedene Schreibvarianten für Schneise auf.26 In der Linguistic Landscape der Stadt São José do Herval werden die parallelen TOP São José do Herval und Einfachschneiß gegenübergestellt.
Abbildung 1: KLASS Schneise am Beispiel der Ortschaft Einfachschneiß in RS (Foto: Privat).
In dem alten Siedlungsgebiet findet man zwar den KLASS linha, allerdings vorwiegend als offizielle Bezeichnung neben anderen Formen und nicht selten || 26 Rabuske (1980) nimmt an, dass die geläufigste Variante Schneis ist: ‘in Bezug auf graphische Auswertung des Wortes Schneise – in Sinne unserer Picada – wird das Problem umso komplexer. Es ist davon auszugehen, dass die häufigste Variante Schneis ist. Es gibt nichtsdestotrotz die Varianten Schneiss, Schneiß, Schneisse, Schneiße, Schneitz – in der dialektalen Aussprache auch Schneetz – Schneize und einschließlich Schneids. Bis auf Schneetz liegen alle in unseren ausgedruckten Texten vor’ [eigene Übersetzung] (Rabuske 1980: 398).
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neben Schneise.27 Die Assoziation von Schneise mit picada und linha wird anhand der metasprachlichen Kommentare der Gewährspersonen hervorgehoben (vgl. Tab. 2). Diese Kommentare wurden auf der Grundlage der Pluridimensionalen und Relationalen Dialektologie erhoben, indem über die dialektalen Formen hinaus ebenfalls die diareferentielle Dimension28 mitberücksichtigt wird. Folgende Tabelle veranschaulicht die jeweiligen Aussagen der Teilnehmer_innen zu der Frage: „wenn man den Wald ufmache will, was mussme mache?“, womit gemeint war ‘Wenn man den Wald erschließen möchte, was müsste man machen?’29 Die Ortsnamen hinter den Abkürzungen sind auf der Website von ALMA-H30 zu finden: Tabelle 2: Metasprachliche Kommentare der Gewährspersonen zu Schneise (Quelle: ALMA-H Daten).
Antwort
CaGII
CaGI
CbGII
CbGI
18
RS10, RS05, RS06, RS07, RS11, RS12, RS13, RS19
RS05, RS06
RS05, RS06, RS19, SC01, SC05, PY02
AR01, RS05
Schneise wird mittels eines bereits 13 existierenden TOP gekannt (Kaffeeschneis, Baumschneis, Neuschneis, Winterschneis, etc.)
RS10, RS04, RS15, RS18, RS21
RS06, RS01, RS04, RS04 RS18
RS02, RS04, PR03,
Schneise ist wie linha, picada
Schneise ist ein Dorf
1
RS12
Die Abkürzungen beziehen sich jeweils auf die Interviewgruppen höherer (Ca) und niedrigerer (Cb) Schulbildung, älterer (GII) sowie jüngerer Generation (GI).
|| 27 Vgl. Fn. 45 (Linha São Jozé do Hortêncio) und Tab. 3 (Linha Botão, Linha Um). 28 Die diareferentielle Dimension geht auf die metasprachliche Ebene der Sprachformen zurück. Dabei werden Kommentare gesammelt und dementsprechend in die Auswertung der Daten einbezogen (vgl. Thun 2004: 133). Thun erklärt: „Das Besondere der Aufnahme dieser Dimension in das Programm der Pluridimensionalen und Relationalen Dialektologie ist nun, dass objekt- und metasprachlicher Bezug systematisch im gesamten dreidimensionalen Varietätenraum untersucht werden“ (Thun 2004: 133). 29 Je nach Interviewer_in der Datenerhebung lässt sich die folgende Fragevariante finden: „Wenn sich die deutschen Pioniere in dem dichten Wald angesiedelt haben, was haben sie zuerst gemacht?“. 30 https://www.ufrgs.br/projalma (aufgerufen am 28.04.2020).
Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus | 77
Die Äquivalenz zwischen Schneise und den Lusismen linha und picada wird von den Sprecher_innen kommentiert, wenn der Interviewer im Rahmen der Befragung nach der Bedeutung des Lexems Schneise fragt. Im Korpus des ALMA-H Projekts ist die Gleichsetzung zwischen diesen KLASS für 18 Gruppen belegt. Laut Barsewisch (1905) wurde der KLASS picada im Vergleich zu den deutschen Formen selten verwendet.31 Trotzdem kann für picada und entsprechende Varianten anhand der Interviews (s. Karte 3) gezeigt werden, dass diese heute im Bewusstsein der hunsrückischen Gruppen im nahezu gesamten Kolonisierungsgebiet verankert sind. Auf der folgenden Karte wird das Wissen derselben Befragten über die vier häufigsten mündlichen Formen Pikad, Pick, Schneise und Linhe im Rahmen des Interviews des ALMA-H dargestellt. Bei picada handelt es sich dabei um die erste Gemeinde (vgl. Dreher 2013: 122) nach der Gründung der Siedlungen.32 Sie weist zunächst die Bedeutung eines Weges durch den Wald und später eines Nukleus auf, wo zentrale institutionelle Räume, etwa Kirchen, Schulen oder Vende ‘Laden’ (pt. venda), errichtet wurden. Die Vende war „das Tor der Kommunikation mit der Außenwelt“ (Dreher 2013: 124) bei den ersten Einwanderer_innen. In einem Brief von einem dtspr. Ansiedler namens Wolf aus dem Jahr 1858 ist allerdings picada bereits belegt.33 Der häufige und mehrfache Gebrauch des Lexems sowie sein semantischer Inhalt, eng verbunden mit der Entwicklung des Ortes (Einrichtung von Kirchen, Friedhöfen, Schulen, Läden und Vereinen), können zu seiner Etablierung in der lokalen Sprache beigetragen haben. Kommentare der lokalen Sprecher_innen, etwa „da ist ja en deitsch Pikood hierum“, die durch eigene Feldforschung z. B. in Alto Feliz erhoben werden konnten, deuten auf eine Bedeutungserweiterung des Lexems hin.
|| 31 „Das Wort Pikade (portugiesisch picada ist Partizipium Perfektum von picar = hauen, schneiden, stechen; picado, picada = gebaut, geschnitten, gestochen) wird von den deutschen Kolonisten nicht gebraucht; man sagt stattdessen auf Deutsch Schneiß, Schneiz und Straße“ (Barsewisch 1905: 140). 32 „Die picada, die anfänglich nichts anderes als ein Zugangsweg zu den Grundstücken war, wurde in kurzer Zeit zum geographisch erkennbaren Orientierungs- und Organisationszentrum des kommunalen Lebens. Sie war der Bereich, in dem sich die Kirche befand (katholischer oder lutherischer Konfession, welcher die deutschen Einwanderer jeweils angehörten) sowie die Schule (eine Tradition, die mit den Einwanderern kam und die für die Entwicklung Südbrasiliens fundamentale Bedeutung haben sollte), der Friedhof (Raum der Pflege des kommunalen Gedächtnisses), die Wohnung des Lehrers oder Pfarrers und der Gemeindefestsaal (auch als Verein oder Klub bezeichnet)“ (Dreher 2013: 124; zur initialen Organisationsform der Ansiedlungen vgl. auch Roche 1969: 320; Schulze 2016: Fn. 943). 33 Der Brief wird von Peter Wolf aus der damaligen picada do Hortêncio, heute São José do Hortêncio, an seinen Bruder Christoph geschrieben (vgl. Altenhofen et al. 2019: 110).
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Karte 3: Varianten des KLASS pt. picada. (Quelle: ALMA-H).
Dieses Wort hat mittlerweile die Bedeutung sowohl einer größeren geographischen als auch einer identitätsstiftenden Einheit, indem es die eigene Gemeinschaft von anderen Ortschaften abgrenzen kann. Als KLASS kommt picada bei
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amtlichen Ortsnamen wie Picada Café, Picada Verão und Picada Cará vor, während ihre deutschsprachigen Pendants Kaffeeschneis, Sommerschneis, Tawakstal (Erstglied dialektal zu Tabak) jeweils die KLASS -schneis bzw. -tal34 enthalten. In Tab. 3 werden häufige von Fischer (2004), Staub (1983), Rabuske (1980), Barsewisch (1908) und Barsewisch (1905) angegebene KLASS mit entsprechenden Beispielen dtspr. TOP und der pt. Übersetzung bzw. parallelen TOP in Klammern aufgeführt. Sie beziehen sich insbesondere auf die ersten Siedlungsgebiete in der Umgebung der Hauptstadt von RS, Porto Alegre, in den sogenannten Alten Kolonien. Tabelle 3: Dtspr. KLASS.
-loch
-eck
-wald
-bach
-tal
Käfers Loch (Grota dos besouros)
Alleser-Eck (Canto ou Rincão dos Alles)
Hervawald (Paredão)
Antabach (Arroio da Anta)
Backestal (Vale dos Backes)
Knopfloch (Linha Botão)
Bayrer-Eck (Canto ou Rincão dos Bávaros)
Kaiserwald (Mato Imperial)
Backesbach (Arroio dos Backes)
Badensertal (Vale dos Badênios)
Sankt-WendelerLoch (Sankt Wendel)
Deufelseck (Canto ou Rincão dos Deufel)
Langer Wald (Mato Comprido ou do Lang)
Heidrichsbach Blumental (Arroio (Ort in d‘Areia) Montenegro)
Krebsloch (Toca dos caranguejos)
Fuchser-Eck Plumpswald (Canto ou esquina (Ort in Rio dos Fuchs) Pardinho)
Kauterbach (Arroio do Kauter)
Krochloch (Ort in São Leopoldo)
Käseeck (Canto ou Rincão do Queijo)
Ritterwald (Morro Ritter)
Lindenmanns- Jakobstal bach (Arroio (Vale do Jacó ou do Porco do Jakobs) Branco)
Rauberloch (Toca do Rauber)
Kisteneck (Linha Um)
Tannenwald (Pinhal)
Milchbach (Arroio do Leite)
Rückers Loch (Grota Kraemer-Eck do(s) Rücker) (Canto ou Rincão Kraemer)
Teewald (Erveiras) Silberschlagbach (Arroio dos Silberschlag)
|| 34 Hier bezieht sich der KLASS -tal auf die geographische Lage der Gemeinde.
Bohnental (Vale dos Bohn)
Jammerstal (Quarta Linha Nova Baixa) Rosental (Linha Primavera)
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Die Benennungsmotiviken lassen sich jedoch nicht immer eindeutig feststellen. Laut Fischer (2005: 172) kann Kisteneck sowohl auf das Appellativum Kisten als auch auf das Anthroponym (Familie) Kist zurückgehen. Müller (1999: 54), der auf eigene Erhebungen zugreift, erwähnt nur die deanthroponymische Variante „Recanto dos Kist“ (vgl. auch Käfers Loch). Für Rauberloch räumt zwar Müller (1999: 89) die Basisform Räuberloch ein, setzt dennoch das TOP in Bezug zu der Familie Rauber, die dort gelebt haben soll. Wie vorher erwähnt, wiederholen sich Orte mit einer dtspr. und pt. Ortsbenennung. Dieser Fall darf als Folge der Diglossie Deutsch-Portugiesisch angesehen werden, die sich im Kolonisationsraum der dtspr. Einwanderer_innen durchgesetzt hat. Während der deutsche Ortsname von der dtspr. Gemeinschaft ausgewählt wurde, gelangt meistens in Nachhinein der portugiesische auf der amtlichen Ebene in die Gemeinschaft. Dieses Phänomen kommt häufig vor, stellt aber keine feste Regel in dem Namenkorpus dieser Regionen dar. Es ist auch wichtig zu betonen, dass einige der portugiesischen Ortsnamen schon vor der dtspr. Besiedlung vorhanden waren und später eingedeutscht wurden, bspw. pt. Estrella (dt. Strehle), pt. Linha Isabel (dt. Linhe Isabelle), pt. Serrinha (dt. Serrinhe Pickaad). Dies geht aus aktuellen Datenerhebungen der Autor_innen hervor.
3.2 Lexikologisch-onymische Modifikatoren In diesem Kapitel werden die zahlreichen MOD der dtspr. TOP in den Blick genommen. Es sei hier angemerkt, dass die nachfolgenden Belege nicht nur auf der Ebene der Synchronie anzusiedeln sind, sondern historische und gegenwärtige Aspekte der dtspr. Kolonisierung dieser Region umfassen. Die Diskussion der folgenden TOP bezieht sich vornehmlich auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Dick (1984), Delhaes-Guenther (1980), Cunha (1978), Lacmann (1906) und Barsewisch (1905). Die Formen Portugieserschneis und Leonerhof veranschaulichen das zweisprachige toponomastische System. Die Benennungsmotivik des Ortsnamens Leonerhof – pt. ‘Fazenda dos Leão’ – geht auf den luso-brasilianischen Familiennamen Leão35 ‘Löwe’ bzw. ‘Leo’ zurück, den Manoel José Leão, der Besitzer des Grundstücks, wo sich die dtspr. Einwander_innen angesiedelt haben, trägt
|| 35 Leão ‘Löwe’ bzw. Leo ist ein üblicher portugiesischer Familienname (vgl. Machado 1984: 862–863).
Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus | 81
(vgl. Barsewisch 1905: 140).36 Leonerhof ist das parallele TOP für Sapiranga37, früher Sapyranga (Lacmann 1906: 160) geschrieben, welche aus der autochthonen Sprache Tupí-Guaraní in Brasilien stammt. Sapiranga beruht etymologisch auf der tupinischen Basis essá-pi-ranga38, welche offenbar benennungsmotivisch auf eine sehr verbreitete Frucht der Region, araçá vermelho ‘rotes Araça’ (bot. Psidium cattleianum39), zurückzuführen ist.40 Abbildung 2 veranschaulicht beide dtspr. Ortsbenennungen in Grabinschriften. Hier Ruht in HIER RUHT
Frieden.
PETER
Anton Müller
WALTER
geboren am
GEB. 22. Juli 1853 I.D.
Leonerhof
PORTUGIESERSCHNEIS.
dn 18 Juli
GEST. 16. DEZ. 1938
1838 gst. dn 9 Juli 1908
Abbildung 2: Dtspr. TOP Leonerhof und Portugieserschneis in Grabinschriften (Quelle: Grabsteine auf Friedhöfen in dem Korpus ALMA-H).
Portugieserschneis41 ist die parallele Form für pt. São José do Hortêncio.42 Familien portugiesischer Herkunft wurden von den Deutschen Portugieser genannt
|| 36 „Leonerhof (port. Sapyranga, ist eigentlich Guaraní und bedeutet Ça-pirangeira, d.h. Wald des roten Besenstrauchs, war eine fazende [deutsch: Gutshof], welche einem gewissen Leão [deutsch: Leo] gehörte, daher Leonerhof)“ (Barsewisch 1905: 140). „eine Niederlassung, die die Brasilier Sapyranga nennen, hat den Namen ‚Leoner Hof‘ erhalten“ (Lacmann 1906: 160) [eigene Hervorhebung im Kursiv]. 37 Die Stadt liegt in RS und ihre Einwohnerzahl beläuft sich auf 81.198. Quelle: IBGE Cidades. Link: https://cidades.ibge.gov.br/brasil/rs/sapiranga/historico (aufgerufen am 29.04.2020). 38 ‘Sapiranga – Bindehautentzündung; aus essá-piranga ‘rotes Auge’’ [eigene Hervorhebung]‘ [eigene Übersetzung] (Tibiriçá 1984: 170). Cunha (1978) verweist auch auf sapiranga als Tupinismus: [esapiiraɲa]: [eisa] olho ‘Auge’ + [piiraɲa] vermelho ‘rot’. VLB II. 56: Olho, ou olhos = Teçâ. Teçacoara, blefarite ‘Entzündung des Augenlids’ [eigene Übersetzung] (Cunha 1978: 258). 39 Lorenzi (1992: 268). 40 Vgl. IBGE Cidades. (Link: aufgerufen am 30.04.2020). 41 Delhaes-Guenther (1980: 158). Auch Portugieserschneiss (s. Karte 2). 42 Stadt in Rio Grande do Sul mit 4.739 EinwohnerInnen. Quelle: IBGE Cidades. https://cidades.ibge.gov.br/brasil/rs/sao-jose-do-hortencio/historico (aufgerufen am 29.04.2020).
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(vgl. Barsewisch 1905: 141). Familie Hortêncio Leite besaß das Land, das später von den deutschen Einwander_innen besiedelt wurde.43 Die portugiesische Form beinhaltet zwei Anthroponyme, nämlich das Hagionym44 São José, das auf den Schutzpatron der Ortschaft referiert, und Hortêncio, den Familiennamen einer der Altansässigen.45
Abbildung 3: Die parallelen TOP Portugieserschneiss und São José do Hortêncio auf dem Banner der Tanzgruppe – RS (Quelle: ALMA-H Projekt).
MOD-Konstruktionen
wie Portugieserschneiss (Portugieser- = MOD, -schneis = KLASS) weisen nicht selten eine appellative Basis auf. In der einschlägigen Literatur finden sich vielfältige appellative MOD-Konstruktionen, die sich auf Bevölkerungsgruppen beziehen, so etwa Holland (vgl. Baserwisch 1905: 140), Schwabenschneiz (vgl. Barsewisch 1905: 140), Bayrer-Eck (vgl. Barsewisch 1905: 140), ÖsterreicherPikade (vgl. Barsewisch 1908: 24), Böhmertal (vgl. Barsewisch: 1908: 24), Italienerberg (vgl. Fischer 2005: 171), Schweizertal (vgl. Barsewisch 1905: 141), Badenserberg (vgl. Barsewisch 1905: 141), Franzosenschneis (vgl. Barsewisch 1905: 141). Bayrer-Eck befindet sich in Linha Nova, dtspr. Neuschneis, wurde
|| 43 „Portugieserschneiz Pt. ‚Linha São Jozé do Hortêncio‘ war bis 1829 Privatland des Brasiliers Hortêncio Leite, dieser kolonisierte sein Land mit Deutschen; die Deutschen nennen hier alle Brasilier weißer Hautfarbe Portugieser“ (Barsewisch 1905: 140–141). 44 Unter Hagionymen werden (Orts)Namen verstanden, welche auf heilige Benennungsmotiviken zurückgehen (Greule 2016). „Ein HeiligenN/Hagionym ist ein im Martyrologium Romanum (oder im Ökumenischen Heiligenkalender) verzeichnetet, mit dem Attribut heilig versehener PersonenN“ (Greule 2016: 295). 45 ‘Der Name São José do Hortêncio stammt von São José, zu Ehren des heiligen Patrons der Pfarrei, und Hortêncio, zu Ehren an Herrn Hortêncio, dessen Land im Eingangsweg der Ortschaft lag. Insofern wurde es üblich zu sagen, dass man nach São José geht und am Land Hortêncios vorbeigeht. Dadurch setzte sich die Benennung São José do Hortêncio durch.’ Vorhanden unter: https://cidades.ibge.gov.br/brasil/rs/sao-jose-do-hortencio/historico [eigene Übersetzung]. Wie der Leser feststellen kann, stimmt diese Erklärung aus IBGE-Cidades nicht mit dem Bericht von Barsewisch überein (vgl. Barsewisch 1905: 140–141, s. Fn. 39).
Deutschsprachige Toponyme in Brasilien. Beschreibung eines Namenkorpus | 83
durch ein hybrides TOP, d.h. durch ein deutschportugiesisches TOP, ersetzt, indem der KLASS Eck in Canto übersetzt und das Appellativum auf Deutsch beibehalten wurde. Das heutige offizielle hybride TOP Canto Bayer scheint eine partielle Übersetzung ins Portugiesische mit -n Apokope zu sein. Laut Barsewisch (1905) wanderten viele Ansiedler aus dem ehemaligen Rheinbayern46 nach Canto Bayer aus, worauf das dtspr. TOP Bayrer-Eck verweist: „Bayrer-Eck, hier wohnen meist Rheinbayern“ (Barsewisch 1905: 140). Die Inschrift auf dem Grabstein in Canto Bayer47 untermauert Barsewischs (1905) Annahme. Diese wurde für den Verstorbenen Johann Hessinger angelegt, der am 3. Januar 1832 in Spesbach48, im ehemaligen Rheinkreis, geboren wurde.
Abbildung 4: Grabstein mit Verweis auf das Herkunftsland (Foto: privat).
|| 46 https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Pfalz_(19./20._Jahrhundert) (aufgerufen am 29.04.2020). Von 1816 bis zum Zweiten Weltkrieg zählte ein Teil der Pfalz zu einem der Regierungsbezirke Bayerns. Das Gebiet wurde als Rheinbayern bezeichnet (vgl. etwa Buchtitel wie Kolb, Statistisch-topografische Schilderung von Rheinbayern, 1833). Nachfolgend wurden auch die Bewohner_innen so bezeichnet und das TOP möglicherweise nach Brasilien übertragen. 47 Die Variante Baÿern geht möglicherweise auf eine handschriftliche Konvention zurück, die die damals erlaubte Verschriftlichung des gedehnten i (z. B. beyde) von dem griechischen y (z. B. System) durch unterscheiden mochte (vgl. Adelung 1793–1801: 1640–1641). Es lässt sich annehmen, dass die etablierte Schriftform Bayern dem Autor der Inschrift nicht vertraut war und er sich wohl an die genannte Konvention gehalten hat. 48 im heutigen Landkreis Kaiserslautern.
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Hinzu kommen Konstruktionen mit Verweis auf nationale Bezugseinheiten: AltFrankreich (vgl. Barsewisch 1905: 141) und Neu-Frankreich (vgl. Barsewisch 1905: 141). Die Konstruktion mit dem Adjektiv Neu als MOD und einem TOP (vgl. unten Nova Renânia ‘Neu Rheinland’) wird von Stolz und Warnke (2018: 31–32) am Beispiel des kolonialen Makrotoponyms Neu-Pommern für DeutschNeuguinea belegt. Das TOP Frankreich entspricht heute der Stadt Brochier (RS), früher picada Brochier49, dessen anthroponymischer MOD auf zwei Brüder der ersten Familie französischer Staatsangehörigkeit zurückgeht. In der Gegenwart beschränkt sich die französische Komponente höchstens auf mehrsprachige Schilder im öffentlichen Raum (vgl. Gilles und Ziegler 2019; Blommaert 2013), etwa am Stadttor der Stadt. Zur Gruppe toponomastischer Benennungsmotiviken zählen nationale Landesbezeichnungen, wie etwa Deutschland,50 Frankreich,51 Russland,52 Neu Rußland53und Österreich54 sowie Ländernamen wie bspw. Nova Renânia,55 Neu Württemberg.56 Hinzu treten dtspr. Städtenamen ohne Klassifikatoren, etwa das TOP Witmarsum, das in zwei mennonitischen Ortschaften in der Provinz von Santa Catarina (vgl. Kadletz 1937: 445) und Paraná zu finden ist. Laut Dück (2011) basiert das TOP auf dem Geburtsort von Menno Simons, Gründer der mennonitischen Religion, in Friesland, Niederlanden (vgl. Dück 2011: 10).57 Formen mit einer toponomastischen Basis sind sowohl in der Literatur als auch in der heutigen sprachlichen Landschaft (Linguistic Landscape) festzustel-
|| 49 „Von Neu-Hamburg ritt ich über Kampland nach Sao Joao do Monte Negro, einer kleinen freundlichen Kolonienstadt am Cahy, am folgenden Tage von dort über die Ortschaft Vittoria der im Jahre 1855 von Privatleuten angelegten Kolonie Maratá nach der Picada Brochier, die von den Deutschen ‚Frankreich‘ genannt wird. Die Gründer dieser Kolonie waren zwei Franzosen, zwei Brüder Brochier“ (Lacmann 1906: 167). 50 Delhaes-Guenther (1980: 156). 51 Lacmann (1906: 167); Delhaes-Guenther (1980: 156). 52 „Ebenso wie Frankreich und das durch einen Russen besiedelte benachbarte ‚Rußland‘ sind auch viele andere Kolonien entstanden“ (Lacmann 1906: 167). 53 Barsewisch (1905: 141). 54 „dann die Österreicher-Pikade (von Deutschböhmen angelegt, amtlich Linha Nova)“ (Barsewisch 1908: 24). 55 „N. Rhenania (Munizipium Nova Petropolis – RS und Taquara – RS), Rhenania (Munizipium Caxias – RS)“ (Delhaes-Guenther 1980: 156). 56 Delhaes-Guenther (1980: 156); Lacmann (1906): „Meine weitere Reise sollte mich westwärts nach Santa Maria und von dort nach Cruz Alta und Neu-Württemberg führen“ (Lacmann 1906: 155). 57 Zur Form Wittmar in Deutschland vgl. Bahlow (1965: 542).
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len. Sie werden in der bisherigen Literatur als TOP der „Sehnsucht“58 beschrieben. Entsprechende detoponymische Konstruktionen verweisen auf den Herkunftsort. Diese Verbindung mit einer Stadt oder einem Land kann entweder auf die kollektive Herkunft der Siedler, etwa Canto Bayer, oder auf die Einstellung des Koloniegründers beziehungsweise Landmessers zurückgeführt werden. Neumann (2015) beschäftigt sich mit Toponymen für die Ortschaft von NeuWürttemberg, welche später im Rahmen der Nationalkampagne des EstadoNovo zwischen 1937 und 1945 ins Portugiesische Panambi umbenannt wurden.59 Bei der Gründung dieser Ortschaft 1898 zielte der Koloniegründer Herrmann Meyer darauf ab, Benennungen für Neugründungen in Brasilien nach deutschem Vorbild zu versprachlichen (vgl. Meyer 1913). Weitere kleinere, meist ländliche Orte weisen unter anderem die dtspr. Benennungen Leipzig, Stuttgart und Berlin auf. Diese heißen heute jeweils Iriapira, Ibagoby und Timbará (vgl. Neumann 2015: 97–98).60 Die Überlegungen der Kolonialisten vor Ort zeigen, dass die damaligen dtspr. TOP in strengem Gegensatz zu bereits bestehenden TOP vor Ort wie 7 de Setembro61 standen. Bestimmte Ortsteile hatten schon portugiesische Namen, die die Portugiesen ihnen selbst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts gegeben hatten. Mit der Einwanderung wurden viele von ihnen von den dtspr. Ansiedlern ins Deutsche umbenannt oder eingedeutscht. Ein weiteres paralleles TOP ist Teewald und seine offizielle Form Santa Maria do Herval. Anscheinend handelt es sich bei Teewald zunächst um eine Lehnformung aus der Bezeichnung für die Anbauregion des typischen Aufgussgetränks aus Südbrasilien. Im brasilianischen Portugiesischen steht Erval ‘Teewald’ für einen Ort, an dem Matetee verbreitet ist. Teewald sei also auf Picada Herval zurückzuführen. Herval ist die erste portugiesische Benennung der Ort-
|| 58 Vgl. pt. toponímia da saudade ‘TOP der Sehnsucht’ bei Dick (1990: 102) und Nascentes (1960: 102–107). 59 In Rahmen geo-politischer Kampagnen des Estado-Novo wurde von dem geographischen Nationalrat unter anderen die Eliminierung der fremdsprachigen Ortsnamen erlaubt und die Einschreibung der einheimischen Namen, wie etwa Panambi, oder der nationalen Feiertage im Fall der Namenersetzung angeregt (Schwartzman 1983: 189). In diesem Zusammenhang wurde nicht selten das politisch aufgeladene Anthroponym Getúlio Vargas, ehemaliger militärischer Präsident und Leiter des Estado-Novo, als Determinans, etwa bei Straßen, Orten, Plätze, Schulen, eingeschrieben. Daher findet man heute mehrere Ortsnamen, etwa Presidente Getulio, Getulandia, Getulina, Getulio Dorneles Vargas, welche auf die Relevanz des Anthroponyms verweisen (Dick 1984: 44). 60 Mögliche Bedeutungsherkunft aus dem Tupi iriapir ‘Quelle des Flusses’ (Boudin 1978: 79). Für die zwei weiteren Lexeme wurden bis dato keine gesicherten etymologischen Daten gefunden. 61 Nationalfeiertag in Brasilien, an dem die Unabhängigkeit Brasiliens gegenüber der Metropole (seit 1822) zelebriert wird.
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schaft. Diese Interpretation legt auch Lacmann (1906) in seinem Reisebericht nahe.62 Das hagionymische MOD Santa Maria geht auf die Schutzpatronin der ersten katholischen Kirche des Ortes zurück. Santa Maria do Herval besteht schließlich aus der Zusammenstellung des alten TOP und der Bezeichnung für die Jungfrau Maria. In Anbetracht der Sichtbarkeit des TOP im öffentlichen Raum lässt sich annehmen, dass das TOP Teewald ziemlich bewusst im kollektiven Gedächtnis der Einwohner_innen von Santa Maria do Herval (RS) ist. In der unmittelbaren Raumdeskription der Stadt ist das TOP Teewald an verschiedenen Geschäften und Firmen angebracht, unter denen auch eine Transportfirma zu zählen ist. Geschäfte und Firmen, die das TOP Teewald verwenden, werden schon von Lacmann (1906: 161) während seines Aufenthalts in der Region beobachtet: „Gegen Abend langte ich an einer Vende der Kolonie an, die den Namen Teewald trägt“ (Lacmann 1906: 161). Deanthroponymische Konstruktionen stellen den häufigsten Typ der in Brasilien eingeschriebenen deutschen Ortsnamen dar. Über die Orientierungsfunktion hinaus tragen deanthroponymische Konstruktionen eine kommemorative Funktion: Aus diskurslinguistischer Hinsicht sollte durch die jeweiligen TOP eine Erinnerung oder (nationale) Identifikation mit bekannten Persönlichkeiten versprachlicht werden. Der größte Anteil mit Personennamen als MOD geht auf die Familiennamen der eingewanderten Familien zurück, etwa Baumschneis oder Bannach.63 (vgl. Delhaes-Guenther 1980: 159–160). Weiterhin stechen zwei Typen von Benennungsmotiviken heraus: (1) die auf historische politische Persönlichkeiten oder Autoritäten zurückgehenden Anthroponyme, etwa Bismarck, Hermann64, Lauro Müller65, Felippe Schmidt.66 Diesen Typ findet man auch im Portugiesischen in Bezug auf die brasilianischen Kaiserreiche von Dom Pedro I (1822–1831) und Dom Pedro II (1840–1889) (beziehungsweise als Hagionym mit Bezug auf den Heiligen São Pedro de Alcântara), etwa São Pedro do Paredão || 62 „Die picada herval, die ihren Namen von den ehemals in ihrem Bereich vorhandenen ausgedehnten herval, d. i. Mate-Wälder, herleitet, heißt bei den deutschen Kolonisten ‚Teewald‘ […]“ (Lacmann 1906: 160). 63 Die Stadt Bannach liegt im Norden Brasiliens, dem Bundesland Pará. Der Ortsname geht auf die erste angesiedelte Familie zurück (https://cidades.ibge.gov.br/brasil/pa/bannach/ historico) (aufgerufen am 29.04.2020). 64 „nach Hermann dem Cheruskerfürsten, in Munizipium Estrela – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 157). 65 „war 1912/1917 mehrfach Staatsgouverneur von Santa Catarina und brasilianischer Außenminister, [TOP in] Munizipium von Camboriu und Canoinhas – SC“ (Delhaes-Guenther 1980: 160). 66 „War 1898/1901 zweimal Staatsgouverneur von Santa Catarina und brasilianischer Außenminister, [TOP in] Munizipium von São Borja – RS und Orleans und Xanxeré – SC“ (DelhaesGuenther 1980: 160).
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(Staub 1983: 187) und Nova Petrópolis in RS, Petrópolis in Rio de Janeiro sowie São Pedro de Alcântara in SC. (2) Ortsnamen mit Verweis auf die Koloniegründer, etwa Blumenau67 und Elsenau68 oder Koloniedirektoren, etwa Schwerin und Sellin.69 Eine weitere deanthroponymische Konstruktion referiert darüber hinaus auf ein Nicht-Oikonym, und zwar auf das Oronym Johannesfels. Deanthroponymische Benennungen im Deutschen wurden auch als Benennungspraxis in nicht-dtspr. Gebieten angewandt, wie etwa in der italienischsprachigen Siedlung in Bento Gonçalves (RS). Es wurde bspw. das Anthroponym Jansen70 zur Benennung einer Siedlungsortschaft genutzt, die bezeichnungsmotivisch auf eine Person mit prestigeträchtiger Position referieren sollte. Die Kolonie wurde von italienischen Einwander_innen gegründet. Es lässt sich daraus schließen, dass diese Benennungspraxis der deutschen Einwander_innen sogar in einem nicht dtspr. Gebiet stattfand, was teilweise auf das Prestige des Deutschen zurückgeht – als eine Sprache, die bereits vor der italienischen Einwanderung vorhanden war und sich in manchen öffentlichen Bereichen durchgesetzt hatte. Durch den wachsenden Sprachkontakt zum Portugiesischen haben sich mit der Zeit immer mehr hybride Kolonialtoponyme entwickelt. Ihre Konstruktionen umfassen Elemente aus verschiedenen Sprachen.71 Es gibt nicht wenige Belege in Brasilien, welche dieses Phänomen nachweisen. Eine wiederkehrende Form stellt der Lusismus picada, der das KLASS schneise ersetzt hat, in seinen verschiedenen Formen dar: Alte-Pikade, Theewalds-Pikade, Mühlenpikade, HartzPikade usw. Ein weiteres Phänomen ist der pt. MOD anta ‘Tapir’ und seine Realisierung als Antabach (vgl. Fischer 2005: 166), Antapikade (vgl. Fischer 2005: 166, Barsewisch 1908: 26), Antaberg (vgl. Fischer 2005: 166).
|| 67 „nach H. Blumenau, 1819-1899, Koloniegründer aus Hasselfelde“ (Delhaes-Guenther 1980: 157). Der Ort liegt in Santa Catarina. 68 „nach der Frau des Leipziger Verlegers und Koloniegründers H. Meyer, Munizipium Cruz Alta – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 157). 69 „nach A. Sellin, Koloniedirektor, in Munizipium Blumenau – SC“ (Delhaes-Guenther 1980: 160). 70 „Nach K. Jansen, Ende 1870 Spezial Inspekteur der öffentlichen Kolonien in RS, [TOP in] Munizipium Bento Gonçalves – RS“ (Delhaes-Guenther 1980: 159f). Die Stadt heißt heute Pinto Bandeira. „Karl Jansen aus Köln war 1851 als Offizier mit den Brummern [vgl. Cunha 1996: 104105] nach Brasilien gekommen, war dann Regierungsdolmetscher auf den deutschen Kolonien in RS und zuletzt ordentlicher Professor der deutschen Sprache am Landesgymnasium Dom Pedro II in Rio, wo er eine noch heute gebrauchte „Grammatica allemã“ herausgab. – Ein anderer Jansen wird als Soldat des 27. Jägerbataillons (2. Komp) der Fremdentruppe (1823– 1828) erwähnt“ (Kadletz 1937: 434). 71 Man vgl. zum Thema hybrider Konstruktionen die Beiträge von Stolz und Warnke (2018), Glück und Rödel (2016: 276), Dubois et al. (2012: 235), Beccaria (1996: 377), Xavier und Mateus (1992: 202–203), Cardona (1988: 163) und Phelizon (1976: 106).
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4 Sprachkontaktphänomene am Beispiel der Kolonialtoponyme Bisher wurden im vorliegenden Aufsatz Kolonialtoponyme in Brasilien mit Fokus auf usuelle Benennungsmotiviken und Strukturtypen im Laufe der Einwanderung behandelt. Da es sich um einen Ausblick auf ein weiteres Forschungsthema in diesem Zusammenhang handelt, werden hier nur erste Einblicke gegeben. Nun werden noch mithilfe einer exploratorischen Auflistung Belege für den historischen Sprachkontakt herausgearbeitet, der sich in lexikalischen und phonologischen Prozessen widerspiegelt (vgl. Endruschat und SchmidtRadefeldt 2008: 137). Dadurch, dass die Datenquelle für die Mehrheit der TOP nicht zu rekonstruieren ist, sind die folgenden Phänomene momentan weder chronologisch noch in einer bestimmten Sprachenreihenfolge, sondern vielmehr als ein Überblick über die Struktur der toponymischen Landschaft der dtspr. Gemeinschaften zu verstehen (siehe Tab. 4). Tabelle 4: Beispiele des Sprachkontakts in der Struktur von dtspr. und pt. TOP in Brasilien.
Hybridbildung
dtspr. TOP
pt. TOP
Antabach (MOD + KLASS) Paralleles TOP von Arroio das Antas
Canto Bayer (KLASS + MOD) Paralleles TOP von Bayern Eck
Lautliche Integration Strehle72 (MOD) Entlehnung durch Vokalreduktion, Apherese und Palatalisierung von parallelen TOP pt. Estrela ‘Stern’ Lehnbedeutung
Schuhschlappeeck73 (MOD + KLASS) Paralleles TOP von Canto Chuchu
Lehnformung
Teewald (MOD + KLASS) Paralleles TOP von Herval Leonerhof (MOD + KLASS) Paralleles TOP von Sapiranga/Fazenda do Leão
Picada Café (KLASS + MOD) Paralleles TOP von Kaffeeschneis
|| 72 „Von Teutonia ritt ich nach Estrella oder, wie die Deutschen sagen, ‚Strehle‘, einem Städtchen am linken Ufer des Taquari“ (vgl. Lacmann 1906: 169). 73 Bot. Sechium edule, pt. Chuchu (Tavares de Barros 2019: 163).
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Reduktion der Konstituente
dtspr. TOP
pt. TOP
Winterschneiss74 (MOD + KLASS) Reduktion aus dem TOP Wintersohnschneiss
Noia (MOD) Paralleles TOP und Reduktion von Neu Hamburg
Die Mehrheit dieser Phänomene wurde im Laufe dieses Beitrags behandelt. Ihnen liegen meistens Lehnprozesse zugrunde, die auf Entlehnungen der lexikalischen Formen und/oder Bedeutungen stattfinden. Insofern ist zu vermuten, dass die Auswirkungen des Sprachkontakts in Südbrasilien auf onomastischer Ebene, wie bei Sprachkontakt generell (vgl. Riehl 2014: 97), ein graduelles Phänomen sind. Während Strehle phonetische Anpassungen der ehemaligen pt. Form Estrella (vgl. Lacmann 1906: 169) an das Deutsche darstellt, zeigen andere TOP eine partielle Hinwendung des dtspr. an das pt. Material, indem entweder KLASS oder MOD durch Hybridisierung des Kompositums übernommen werden (Lehnwörter). Hinzu treten Lehnprägungen, etwa bei der Lehnbildung Schuhschlappeck. Eine Erklärungsmöglichkeit führt das MOD Schuhschlappe auf das südhessische Wort für einen alten ausgetretenen Schuh bzw. Hausschuhe oder Pantoffeln zurück (vgl. SHW, Band 5, 798). Durch die semantische Erweiterung habe sich das Wort für die Pflanz pt. chuchu durchgesetzt. Die Pflanzenart (Chuchu) war für Einwander_innen zuvor nicht bekannt, worauf die volksetymologische Form Schuhschlappe hinweist (vgl. Tavares de Barros 2019: 266– 267). Kommentare von lokalen Gewährspersonen verweisen auf eine Assoziation der Form des Gemüses in halbierter Form mit der Form eines Schuhes. (vgl. Tavares de Barros 2019: 267). Die lautliche Ähnlichkeit zwischen dt. Schuh und pt. chuchu mag hier auch eine Rolle gespielt haben. Bei den Lehnformungen befinden sich die Lehnbildungen Teewald aus pt. Herval und Leonerhof aus pt. Fazenda do Leão. Leo war wohl eine bekannte Form für Eigennamen in der deutschen Sprache. Bei Leonerhof lässt sich allerdings eine lautliche Integration der portugiesischen Basis Leão nicht ausschließen, zumal Entnasalisierung des Diphthongs pt. ão /ãw/ zu /on/ ein üblicher Prozess vor Ort ist. Darüber hinaus finden Prozesse innerhalb der jeweiligen Sprachen statt. Die Reduktion des dtspr. TOP Winterschneiss lässt sich heutzutage nur anhand historischer Belege erschließen. Die Kategorie der Reduktion umfasst weiterhin das Lexem Noia (pt. Aussprache [nɔɪ̑ɐ]) ‘Neuer’ im Portugiesischen, welches mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Lusitanisierung der Konstituente Neuer aus
|| 74 Quelle: IBGE Cidades. Link: https://cidades.ibge.gov.br/brasil/pa/bannach/historico aufgerufen am 29.04.2020).
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der Zusammensetzung Neuer Hamburg zurückzuführen ist (vgl. Barsewisch 1905: 140, Neu Hamburg). Der ältere Ortsname war nämlich Der Hamburg, ein Kosename für Hamburger Berg (vgl. Barsewisch 1905: 140). Das TOP Noia trägt heute eine affektive (hypokoristische) Funktion für die Einwohner_innen der Stadt, welche zwischen der vollständigen (Novo Hamburgo) und der kürzeren Variante (Noia) wechseln. Dies spiegelt sich beispielsweise im Namen der lokalen Fußballmannschaft und zahlreicher Läden wider.
5 Zusammenfassung Mit dem bisherigen Forschungsansatz konnten in ersten Schritten einige Lücken in der Forschung der dtspr. Toponomastik in Brasilien gefüllt werden. Der Vergleich zwischen den bislang belegten und den selbst erhobenen TOP zeigt, dass diese toponomastische Welt durch den Kontakt zwischen den Sprachen der Einwanderer_innen und den Sprachen der zu diesem Zeitpunkt bereits in Brasilien lebenden Bevölkerungen vielfältig geprägt ist. Daraus resultiert eine beträchtliche Anzahl von parallelen TOP in der ehemaligen Kolonialzone. Dtspr. TOP kommen großenteils auf der inoffiziellen Ebene der Mündlichkeit vor, während die portugiesischen TOP mit ihren unterschiedlichen Substraten (autochthone, italienische Sprachen usw.) auf der offiziellen Ebene angesiedelt sind. Nicht nur der sprachliche Aspekt, sondern die ganze außersprachliche Erfahrung beeinflusste die Benennungsprozesse. Diese TOP verfügen über mehrere sprachlich-diskursive Funktionen: außersprachliche Faktoren wie das Zusammenleben mit anderen ethnischen Gruppen, mit einer physisch und geographisch unbekannten Umwelt sowie die Sehnsucht nach dem verlassenen Land haben dazu geführt, dass oft MOD durch Appellativa auf der Basis von Völkerund Gruppennamen ausgedrückt wurden. Dabei steht die toponymische Benennung des Raums in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den (gesellschafts-)politischen Gegebenheiten. Bis heute finden sich deanthroponymische Konstruktionen zur Würdigung des Kaisers oder der Kaiserin in der ältesten Phase der Kolonisierung. Der Anteil an TOP, die bezeichnungsmotivisch auf das Tupi-Guaraní zurückgeht, stieg im Rahmen der Nationalisierungskampagne von Getúlio Vargas deutlich an. Die Benennungsmotiviken der dtspr. TOP gehen ebenso auf vielfältige Benennungspraktiken zurück: Während beispielsweise der Bezug auf den privaten Koloniegründer Hermann Meyer eine auf Deutschland bezogene Motivik demonstriert, kommen in anderen Ortschaften weitere semantische Spenderbereiche wie etwa die Nachbarbevölkerungen sowie die lokale Natur und Tiere zum Ausdruck.
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Eine weitere Erkenntnis ist die diachrone Dynamik dieser TOP. In den Alten Kolonien, welche unter dem brasilianischen Kaiserreich ab 1824 gegründet wurden, befinden sich deutsche KLASS wie etwa Schneise, die zugunsten portugiesischer Formen, etwa picada, im gesamten Gebrauch abnehmen. Wir halten es insofern für eine Aufgabe allgemeiner Mehrsprachigkeitsforschung, die parallelen Ortsnamen ortsübergreifend aus kontrastiver und soziolinguistischer Perspektiven zu dokumentieren. Hierzu ist eine empirische Zugriffsweise auf schriftliche Quellen, aber auch auf Interviews mit lokalen Akteur_innen (z. B. im Sinne des ALMA-H Projekts), deren alltägliche Kommunikation durch den Kontakt Deutsch-Portugiesisch geprägt ist, unabdingbar. Dieser Beitrag hatte zum Ziel, dieses Thema aus dtspr. Perspektive wieder aufzunehmen und mithin die toponomastische Forschungsfrage zum Deutschen in Brasilien mit Hinblick auf zukünftige romanistisch-germanistische Studien zu aktualisieren.
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Marie A. Rieger
Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet Zusammenfassung: Kolonisierung besteht nicht nur in militärischer Eroberung. Auch die Übertragung von Ordnungs- und Deutungssystemen trägt dazu bei, dass kolonialer Raum entsteht. In diesem Zusammenhang stehen auch koloniale Benennungspraktiken. In diesem Rahmen untersucht der vorliegende Beitrag deutschsprachige Kolonialtoponyme in Usambara. Das Usambaragebiet war Teil von Deutsch-Ostafrika, das – als Ganzes gesehen – dem Typus der Beherrschungskolonie zuzurechnen ist. Die Analyse der Kolonialtoponyme kann dagegen zeigen, dass die in Usambara vorkommenden Namenmuster Merkmale aufweisen, die für die Siedlungskolonie Deutsch-Südwestafrika als typisch gelten. Dieser Befund steht in Einklang mit der Tatsache, dass das Usambaragebiet ein Zentrum deutscher Besiedlung mit einer hohen Dichte an landwirtschaftlichen Betrieben war. Schlagwörter: Deutsch-Ostafrika; Kolonialtoponyme; Toponomastik; Usambara
1 Einleitung Verlässt man Lushoto, das ehemalige Wilhelmstal, in nordwestlicher Richtung, so begegnet man einem Wegweiser nach Jegestal. Dieser Name war mir neben Hoheni genannt worden, als ich während meines Aufenthalts in West-Usambara im Mai-Juni 2019 eine Reihe von Informanten u. a. danach fragte, ob in diesem Teil der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika (DOA) noch deutsche Namen in Gebrauch oder doch zumindest im Gedächtnis wären.1 Wie sich aus den lokalen
|| 1 Während des Forschungsaufenthalts wurde ich von zahlreichen Personen unterstützt. Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle den Anthropologen Dickson J. Shekivuli und den katholischen Priester Father Jerome Mkwama, beide in Usambara geboren und aufgewachsen, sowie den seit vielen Jahren in Usambara ansässigen schwedischen Dokumentarfilmer und Autor Lars Johansson (s. Literaturverzeichnis). || Marie A. Rieger, Università di Bologna, Dipartimento LILEC, Via Cartoleria, 5, 40124 Bologna, Italia, E-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-005
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Gegebenheiten ableiten lässt, gehen beide Namen tatsächlich auf deutsche Kolonialtoponyme zurück, nämlich auf Jägertal und Hohenfriedeberg.2 Stolz und Warnke definieren neuzeitlichen Kolonialismus als „eine globale raumgreifende Praxis der vor allem europäischen Expansion“ (Stolz und Warnke 2018c: 4). Den damit einhergehenden Besitzanspruch versuchten gerade auch die deutschen Kolonisatoren nicht nur durch machtpolitische Maßnahmen durchzusetzen, sondern „sie übertrugen auch ihre territorialen Ordnungskonzepte vor allem nach Afrika“ und versuchten „mithilfe ritualisierter Praktiken des räumlichen Ordnens wie Vermessen, Zählen und Kartographieren deutsche Herrschaft über koloniales Land [zu] stabilisieren“ (Jureit 2012: 23). Dieses Vorgehen war oft alternativlos, denn „die begrenzten Ressourcen [der Kolonisatoren] machten die kartographische Visualisierung zu einer Art Ersatzhandlung der ansonsten allenfalls oberflächlichen Raumerfassung“ (Jureit 2012: 24). Zu den ritualisierten Praktiken der symbolischen Aneignung des fremden Raums gehört auch die Ausübung des droit de nommer (Stolz und Warnke 2015: 133): Im Akt der Namengebung wird der Besitzanspruch der fremden Macht sprachlich fixiert. Kolonialtoponyme, also „Ortsnamen, deren Gebrauch im Rahmen kolonialer Machtausübung üblich war“ (Stolz und Warnke 2018c: 1), können im Hinblick auf die Herkunft ihrer Bestandteile klassifiziert werden, wobei es drei Möglichkeiten gibt: Erstens kann es sich um einen indigenen Namen, also ein Endonym, handeln. Ein Beispiel dafür ist aus Usambara das Oronym Kwamongo (Karstedt 1914: 187). Zweitens gibt es die Möglichkeit hybrider Bildungen wie Kwamongoberg (Baumann 1890: 100). Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie mindestens ein endonymes Bildungselement (Kwamongo-) und eines aus der Sprache des Kolonisators enthalten (-berg), wobei Letzteres in der Regel dazu dient, die ontologische Klasse des bezeichneten Ortes anzuzeigen. Schließlich kann der Name gänzlich aus der Sprache des Kolonisators stammen. Ein Beispiel aus Usambara für ein solches Exonym ist Ganßerberg (Karstedt 1914: 183). Für die beiden Gruppen der hybriden und exogenen Kolonialtoponyme „lässt sich ein Mehrheitsmuster identifizieren, das mit knapp 2.400 Belegen rund 83 % des außerhalb von Deutsch-Südwestafrika ermittelten Bestands an deutsch-kolonialen Toponymen ausmacht“ (Stolz und Warnke 2018a: 76–77). Die Analyse der deutsch-südwestafrikanischen Toponymie zeigt dagegen,
|| 2 Eine tabellarische Aufstellung der untersuchten Namen, zu denen auch Jägertal und Hohenfriedeberg gehören, findet sich im Anhang. Zur Entstehung des noch heute gebräuchlichen Namens Hoheni schreibt Wohlrab: „Auf Anregung aus der Heimat gaben wir dem Platz [der zukünftigen Missionsstation] später den Namen Hohenfriedeberg; leider können die Eingeborenen ihn […] nicht aussprechen, bei ihnen heißt er Hoheni“ (Wohlrab 1915: 32).
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dass nicht alle außerhalb von Deutsch-Südwestafrika beobachteten Präferenzen ihre Bestätigung finden. Darüber hinaus ergeben sich typisch deutsch-südwestafrikanische Vorlieben bei der Bildung von deutsch-kolonialen Exonymen, die in anderen ehemaligen deutschen Schutzgebieten selten oder gänzlich unbekannt sind. (Stolz und Warnke 2018a: 81)
Die beiden Autoren sehen das Sonderverhalten Deutsch-Südwestafrikas […] ganz eindeutig darin begründet, dass nur Deutsch-Südwestafrika als einzige Siedlungskolonie des Kaiserreichs nicht nur eine ansehnliche Zahl von reichsdeutschen Einwohnern hatte, sondern eine weite Teile des Landes umfassende (wenn auch eher sporadische) Besiedlung durch deutsch-sprachige, Landwirtschaft betreibende Familien zuließ. (Stolz und Warnke 2018a: 97)
Im Gegensatz zu Deutsch-Südwestafrika (DSWA) ist DOA eher dem Typus der Beherrschungskolonie zuzurechnen. Beherrschungskolonien sind u. a. gekennzeichnet durch eine „zahlenmäßig relativ geringfügige koloniale Präsenz primär in Gestalt von entsandten, nach dem Ende ihrer Tätigkeit ins Mutterland zurückkehrenden Zivilbürokraten, Soldaten sowie von Geschäftsleuten, nicht: von Siedlern“ (Osterhammel und Jansen 2009: 17). Dies trifft im Großen und Ganzen auf die Kolonie DOA zu, wo mehr als 7,5 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern nur etwas mehr als 4000 Deutsche gegenüberstanden, wie dem Deutschen Koloniallexikon (DKL) von 1920 zu entnehmen ist (DKL I. Bd.: 386–387). Dies entsprach nach Stolz und Warnke (2018a: 87) einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 0,0041 Deutschen pro Quadratkilometer, wobei knapp 35 % der erwachsenen europäischen Männer Regierungsbeamte, Schutztruppenangehörige, Geistliche und Missionare waren (DKL I. Bd.: 386).3 Gezählt wurden aber auch „882 Ansiedler, Pflanzer, Farmer und Gärtner“ (DKL I. Bd.: 386). Für Usambara gibt das DKL die Gesamtzahl der Europäer mit „annähernd 500“ (DKL III. Bd.: 592) an, was bei einer Größe von 2900 km2 (DKL III. Bd.: 589) einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von etwa 0,17 Europäern pro Quadratkilometer entspricht und damit einen vergleichsweise hohen Wert darstellt. Dazu passt, dass Ende der 1890er Jahre das „in Deutsch-Ostafrika untergebrachte Kapital […] hauptsächlich im Usambaragebirge angelegt [war]“ (Hassert 1899: 258), denn zu dieser Zeit galt Usambara als „das Zukunftsland für den deutschen Kolonialkaffee“ (Hassert 1899: 251). Auch wenn sich schon bald herausstellen sollte, dass es aus einer ganzen Reihe von Gründen kaum möglich war, Landwirtschaft gewinnbringend zu betreiben,4 so steht in einem Reiseführer von 1911 doch Folgendes zu lesen: „Es würde zu weit führen, alle an der 130 km || 3 Die weiße Gesamtbevölkerung wird mit 5336 angegeben (DKL I. Bd.: 386). 4 Zu den Gründen siehe Conte (2004: Kap. 3).
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langen [Eisenbahn-]Strecke Tanga-Mombo liegenden Pflanzungen aufzuführen“ (TB DOA 1911: 291). Aus dieser Sonderstellung von Usambara5 ergibt sich die Frage, ob sich die „koloniale Präsenz […] in Gestalt permanent ansässiger Farmer und Pflanzer“ (Osterhammel und Jansen 2009: 17) in der Namengebung widerspiegelt und es ggf. Parallelen zur deutsch-südwestafrikanischen Toponymie gibt. Zur Beantwortung dieser Frage untersucht die hier vorgelegte Studie 51 exogene Toponyme, die während der deutschen Kolonialzeit in Usambara in Gebrauch waren. Die Namen dieses Usambara-Inventars (im Weiteren: UI) stammen aus einer Reihe unterschiedlicher Quellen wie Erfahrungs- und Reiseberichte, Reiseführer, Adressbücher, koloniale Zeitungen und Zeitschriften.6 Die Arbeit gliedert sich wie folgt: Im Anschluss an diese Einleitung werden in Abschnitt 2 historische Hintergrundinformationen zum Untersuchungsgebiet präsentiert. Neben einigen Hinweisen zur vorkolonialen Zeit finden sich hier Angaben zur kolonialen Inbesitznahme und der landwirtschaftlichen Nutzung Usambaras durch Siedler. Abschnitt 3 klassifiziert das UI im Hinblick auf die bezeichneten geographischen Objekte und die entsprechenden Ortsnamentypen. Dadurch lässt sich zeigen, welche Örtlichkeiten deutschsprachige Namen erhielten. In Anlehnung an Stolz und Warnke (2018c) werden in Abschnitt 4 die im UI vorkommenden Bildungsmuster herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage wird in Abschnitt 5 schließlich aufgezeigt, welche Parallelen zur Toponymie von DSWA bestehen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit und Ausblick (Abschnitt 6).
|| 5 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass Ähnliches auch für das Kilimanjaro- und Merugebiet galt: „Ende der [18]90er Jahre begannen auch europäische Ansiedler in die höheren Teile von West-U[sambara] vorzudringen. Hier sitzen nächst dem Kilimandscharo und Meru die meisten Europäer“ (DKL III. Bd.: 592). 6 Die detaillierte Aufstellung des Quellenmaterials findet sich im Literaturverzeichnis. Der Rückgriff auf viele verschiedene Quellen ist notwendig, da für die Toponymie Usambaras gilt, was Schulz und Aleff in Bezug auf Mikrotoponyme feststellen: „Während das Inventar kolonialer Makrotoponyme verhältnismäßig gut in etablierten Produkten der kolonialzeitlichen wissenschaftlichen Kolonialkartographie dokumentiert ist und erhoben werden kann, müssen von unterschiedlichen Akteuren der deutschen Kolonialmacht gebildete und verwendete Mikrotoponyme erst in umfangreichen Recherchen aus unterschiedlichsten Quellenbeständen ermittelt werden“ (Schulz und Aleff 2018: 127). Tatsächlich sind nur neun der 51 Namen in dem Referenzwerk der deutschen Kolonialkartographie, dem Großen deutschen Kolonialatlas (GDKA) verzeichnet. In der bereits erwähnten Namensliste im Anhang sind die neun Namen mit Asterisk gekennzeichnet. Zu korpuslinguistischen Aspekten im Zusammenhang mit dem deutschen Kolonialismus siehe Schulz (2016).
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2 Historische Hintergrundinformationen Das Usambaragebirge liegt im Nordosten des heutigen Tansania und ist Teil der Eastern Arc Mountains, also der etwa tausend Kilometer langen Kette von urzeitlichen Gebirgszügen, die das östliche Tansania halbmondförmig von Nord nach Süd durchzieht. Durch das breite Tal des Lwengera wird es in einen kleineren Ost- und einen größeren Westteil geteilt. Für die dort ansässigen Menschen war es jahrtausendelang ein ideales Siedlungsgebiet, das aufgrund seiner Lage und Beschaffenheit zum einen ein relativ stabiles Ökosystem mit regelmäßigen Niederschlägen bot, zum anderen aber auch guten Schutz vor kriegerischen Raubzügen, denn das Usambaragebirge ist eine große Ansammlung von ineinandergeschobenen Bergen und Thälern. Hat man eine Höhe erklommen und hofft nun ebener gehen zu können, so sieht man zu seinem Schrecken, daß ein tiefes Thal vor einem liegt, zu dem man mehr hinabstolpert als hinabgeht. Unten angekommen überschreitet man einen Bach oder Fluß, und nun geht es wieder in die Höhe, so steil wie nur möglich. (Döring 1901: 78–79)
Der erste Europäer, der das Usambaragebirge zumindest von Weitem gesehen hat, war wohl Vasco da Gama 1498 auf dem Weg nach Indien. Er benannte es nach dem Schutzheiligen seiner Expedition Serras de San Rafael (Wohlrab 1915: 2). Der Missionar Johann Ludwig Krapf war mutmaßlich der erste Europäer, der das Gebirge tatsächlich betrat. Auf der Suche nach Wegen „ins Innere [Afrikas] zur Ausbreitung des Evangeliums“ (Krapf 1858a: IV) durchstreifte Krapf fast zwei Jahrzehnte lang Ostafrika und kam dabei im Jahr 1848 auch nach Usambara, wobei er das Gebiet bereits unter diesem Namen kannte (Krapf 1858b: 89).7 Etwa 40 Jahre später war Oskar Baumann8 davon überzeugt, Usambara werde sich „zu einer Perle deutscher Colonien“ (Baumann 1890: 177) entwickeln: Denn alle Reisenden, die den Süden des Landes oder selbst nur die umliegenden Ebenen durchzogen, sind voll des Lobes von Usambara. Die ‚ostafrikanische Schweiz‘ nennt es der Eine und Andere erklären es als ein wahres Paradies an Schönheit, Fruchtbarkeit, gesundem Klima und freundlicher Bevölkerung. (Baumann 1890: 55; Hervorhebung im Original).
|| 7 Der Name Usambara kommt aus dem Swahili. In der Sprache der Shambaa heißt das Gebiet Shambaai (persönliche Mitteilung Dickson Shekivuli). 8 Der österreichische Geograph Oskar Baumann bereiste Usambara zweimal, nämlich 1888 als Teil der Kilimanjaro-Expedition von Hans Meyer und 1890 im Auftrag der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft. In beiden Fällen war seine Hauptaufgabe, das Gebiet kartographisch zu erschließen.
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Die mutmaßlich ersten Europäer, die sich in den Usambarabergen niederließen, waren die Bethel-Missionare Ernst Johanssen und Paul Wohlrab, die im Mai 1891 die erste Missionsstation, Hohenfriedeberg, nahe der im Nordwesten von West-Usambara gelegenen Siedlung Mlalo gründeten.9 Mit Carl Peters’ Usagara-Expedition von 1884 hatte die Kolonisierung des zukünftigen Deutsch-Ostafrika zwar ihren Anfang genommen, doch konzentrierten sich die Aktivitäten bis etwa 1890 auf die nördliche Küstenzone zwischen Dar es Salaam10 und Tanga. Zu dieser Zeit war die einzige deutsche Militärstation im Untersuchungsgebiet in dem in der südlichen Ebene gelegenen Ort Mazinde untergebracht und hatte keinen Einfluss auf das Kernland Usambaras (Baumann 1891: 196). Da das Hinterland von Dar es Salaam „ziemlich weithinein wenig fruchtbar, der Süden der Kolonie zu abgelegen [war]“ (Samassa 1909: 7), geriet der Norden des Landes zunehmend in das Blickfeld der Kolonialisten, „denn hier lag, nur wenig von der Küste und dem Hafen Tanga entfernt, die Landschaft Usambara, deren Fruchtbarkeit bekannt war und deren Höhenklima die Ansiedlung von Europäern zu gestatten schien“ (Wettich 1911: 3).11 Doch erst der 1893 begonnene Bau der Usambarabahn machte das Gebiet für landwirtschaftliche Betriebe und damit für die Ansiedlung ökonomisch interessant.12 Die auch Nordbahn genannte Linie war die erste in Deutsch-Ostafrika gebaute Bahnlinie und wurde 1912 in ihrer ganzen Länge von Tanga bis Moshi im Kilimanjaro-Gebiet eröffnet. Die für die koloniale Ausbeutung West-Usambaras entscheidende Strecke Tanga-Mombo (Fitzner 1901: 280–281), die das Gebiet verkehrstechnisch an den östlich gelegenen Hafen von Tanga anschloss, wurde 1905 in Betrieb genommen (Baltzer 1916: 36). Sinnbild der hohen Erwartungen, die in die landwirtschaftliche Nutzung Usambaras gesetzt worden waren, sind die im Zentralmassiv von West-Usam-
|| 9 Die Gründung von Hohenfriedeberg wird detailliert beschrieben in Wohlrab 1915. Ein kurzer Überblick findet sich auf der Webseite der Bethel-Mission: http://www.bethel-historisch.de/ index.php?article_id=33 (aufgerufen am 17.04.2020). 10 Dar es Salaam wurde 1891 Hauptstadt der Kolonie DOA. Die genaue Herkunft des Namens der um 1865 gegründeten Stadt ist bis heute umstritten (Brennan und Burton 2007: 16; Kohlert 2005: 52). Auf einem der wohl ersten deutschen Lagepläne aus dem Jahr 1888 findet sich die Schreibung DAR ES SALAAM (DARCH 2017: 22; Majuskeln im Original) und im Baulinienentwurf von 1891 DAR-ES-SALAAM (DARCH 2017: 32; Majuskeln im Original). Im Laufe der Zeit hat sich in deutschen Kolonialtexten die vereinfachte Schreibung Daressalam durchgesetzt. Wie in Texten zur (Stadt-)Geschichte üblich benutze ich die endonyme Form des Namens. 11 Ähnlich äußern sich z. B. auch Döring (1901: 94) und Hassert (1899: 84). 12 Zum Zusammenhang zwischen dem Bau der Usambarabahn und der gewinnbringenden landwirtschaftlichen Nutzung siehe Wettich (1911).
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bara gelegene landwirtschaftliche Versuchsstation Kwai sowie die Forschungsstation Amani (Ost-Usambara). Die 1896 gegründete Station Kwai konnte – anders als im DKL (II. Bd.: 408) beschrieben – die in sie gesetzten Erwartungen jedoch nicht erfüllen und wurde bereits nach wenigen Jahren an einen privaten Siedler veräußert.13 Auch die Wissenschaftler des 1902 als Kaiserlich BiologischLandwirtschaftliches Institut gegründeten Forschungszentrums Amani „failed to provide agriculture’s silver bullet“ (Conte 2004: 55). Die Institution an sich hat aber im Gegensatz zu Kwai sowohl die deutsche als auch die britische Kolonialzeit überlebt und ist „bis heute im Prinzip aktiv […], als subsidiäre Feldstation des [tansanischen] nationalen medizinischen Forschungsinstituts, NIMR (Geißler 2019: 12).14
3 Geo-Objekte und toponymische Klassen In diesem Abschnitt werden die 51 Toponyme des UI im Hinblick auf die bezeichneten Örtlichkeiten und die entsprechenden toponymischen Klassen analysiert. Dies erlaubt Rückschlüsse darauf, welche Arten von Orten auch sprachlich als kolonialer Besitz markiert wurden. Alle Namen waren während der deutschen Kolonialzeit im Usambaragebiet15 in Gebrauch und stammen – wie in der Einleitung bereits erwähnt – aus einer Reihe unterschiedlicher Quellen, deren Gros zwischen 1890 und 1920 erschienen ist. Das erste und in den von mir ausgewerteten Texten für längere Zeit einzige deutschsprachige Toponym, nämlich Deutschenhof, erwähnt Baumann auf seiner ersten Reise durch Usambara: „Bald darauf erreichten wir unser heutiges Ziel, die Tabaksfarm Deutschenhof (Lewa) der Deutsch-ostafrikanischen Plantagen-Gesellschaft“ (Baumann 1890: 42). Interessanterweise benutzt Baumann auf seiner nur zwei Jahre später erfolgten zweiten Reise ausschließlich den – auch in späteren Quellen üblichen – indigenen Namen Lewa: „Die Plantagengesellschaft begann ihre Thätigkeit 1887, wo durch Herrn Schroeder die Tabakplantage Lewa gegründet wurde“ || 13 Ausführlich zur Geschichte von Kwai siehe Conte (2004: 47–55). 14 Eine Übersicht zum heutigen Amani Centre findet sich auf: http://www.nimr.or.tz/nimramani-center/ (zuletzt aufgerufen am 03.04.2020). Zur Geschichte der Station von ihren Anfängen bis heute siehe Geißler et al. (2019). 15 Das Usambaragebirge ist eher von Osten und Süden her zugänglich, da der westliche und nördliche Rand überwiegend aus schroffen Steilabfällen besteht, wodurch sich die große (verkehrstechnische) Bedeutung der im Süden gelegenen Pangani-Ebene erklärt. Die Süd- und Ostgrenze des Untersuchungsgebiets wird deshalb im Bereich der südlich verlaufenden Usambarabahn gezogen.
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(Baumann 1891: 154).16 Danach finden sich in den ausgewerteten Quellen erst im Deutschen Kolonialblatt (DKB) von 1899 drei weitere deutschsprachige Plantagennamen sowie die Namen von drei Missionsstationen. Erst ab der Jahrhundertwende nahm zusammen mit der zunehmenden Besiedlung die Zahl deutschsprachiger Ortsnamen zu. Das hier vorgelegte und analysierte Inventar umfasst die folgenden 51 Namen:17 Bethanien, Deutschenhof, Drachenberg, Feenlust, Frankenwald, *Friedenstal18, Friedrich-Hoffmann Pflanzung, Fritzwald, Ganßerberg, Gol(t)zhof, Grunewald, Hedderode, Hermannsplatte, Himmelsleiter, Hoffmannstropfen, *Hohenfriedeberg, Holstenzahn, Ilsenstein, Jägertal, Joachim-Albrechtstal, Kaiser-Wilhelmshöhlen, Kap Holm, Kirchturmfels, Kurt Hoffmann-Fälle, Lienhardt-Sanatorium, *Margareten-Fälle, Margaretenhöhe, Marienhof, Massowien, Massowtal, *NeuBethel, Neu-Danzig, Neu-Gütersloh, Neu-Hornow, *Neu-Köln, Neu-Sagan, NeuThüringen, Pflanzung Steinbruch, Philippshof, Princenau, Prinz-AlbrechtPlantage, Reichenau, *St. Peter, *Schöller, *Steinbruch19, Union, Waldheil, Wilhelmshöhe, *Wilhelmstal, Wilhelmstal, Zanettiberg.20
|| 16 In den untersuchten Quellen findet sich das Exonym Deutschenhof nur zweimal, nämlich in Baumann (1890: 42) und TB DOA (1911: 320), wobei in beiden Fällen der exonyme zusammen mit dem endonymen Namen genannt wird. Dass sich der Name Deutschenhof während der Kolonialzeit nicht etablierte, könnte damit zusammenhängen, dass die Unmenschlichkeit des ersten Leiters, eines gewissen Friedrich Schroeder, zuerst zu einem Boykott durch die lokale Arbeiterschaft führte und schließlich sogar zu einem Attentatsversuch auf Schroeder. Offiziell wurde der Neuanfang unter neuer Leitung – und dem endonymen Namen – durch die Verwüstungen während des sogenannten „Araberaufstandes“ 1889 begründet (Baumann 1890: 42 und 1891: 154; Fitzner 1901: 298; TB DOA 1911: 320). Zur Geschichte der Plantage siehe Bückendorf (1997: 316). 17 Auch wenn hier keine verlässlichen Zahlen genannt werden können, so zeigt doch ein Blick auf zeitgenössische Karten (z. B. DOA Blatt 6 im GDKA; Kartenblatt C6. Tanga der Karte von Deutsch-Ostafrika, abrufbar unter: http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/90065225; zuletzt aufgerufen am 17.04.20) oder in Adressbücher (z. B. Adressbuch für Deutsch-Ostafrika von 1913, abrufbar unter: https://core.ac.uk/download/pdf/14525209.pdf; zuletzt aufgerufen am 17.04.20), dass auch in den Bezirken Wilhelmstal und Tanga indigene Namen bei Weitem überwogen. Stolz und Warnke (2018a: 76, Fn. 6) gehen für die deutsche Kolonialtoponymie von einem Verhältnis von Endonymen zu Exonymen von mindestens 20 zu 1 aus. Als grober Anhaltspunkt mag hier dienen, dass Oskar Baumann auf seinen Reisen 1888 und 1890 etwa 240 indigene Namen notierte, obwohl er jeweils nur einen sehr kleinen Teil des Gebiets erforschte (siehe dazu Rieger 2020). 18 Der Asterisk markiert die neun Toponyme, die auch im GDKA verzeichnet sind. 19 Der Eintrag im DOA-Register sowie auf DOA-Blatt 6 des GDKA lautet Steinbrück. Gemeint ist aber wohl die Bahnstation Steinbruch. 20 Schumewald und Schume-Gau (vgl. DKL USAMBARA) werden bereits von Baumann (1891: 176) erwähnt („Schumme“), existierten also vor der tatsächlichen Besiedlung durch deutsche
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Die aufgelisteten Ortsnamen (OrtsN) beziehen sich alle auf „Objekte der Erdoberfläche“ (Nübling et al. 2015: 206), die auch als Geo-Objekte bezeichnet werden. Diese kann man wiederum unterscheiden in natürliche und in von Menschen gemachte Orte (UNGEGN 2002: 11). Dies ist im vorliegenden Zusammenhang insofern interessant, als nur 12 der 51 Namen einen natürlichen Ort bezeichnen, also ein „[t]opographic feature not made or significantly modified by man. Examples: river (but not canal); forest (but not plantation)“ (UNGEGN 2002: 11; Hervorhebungen im Original). Die restlichen 39 Namen, also über 76 %, referieren dagegen auf Geo-Objekte, die erst durch die koloniale Inbesitznahme des Gebiets entstanden sind. Bei sechs der elf natürlichen Orte21 handelt es sich um Berge bzw. Felsformationen, auf die mit folgenden Oronymen referiert wird: Drachenberg, Feenlust, Ganßerberg, Holstenzahn, Ilsenstein, Kirchturmfels. Die beiden Hydronyme KurtHoffmann-Fälle und Hoffmannstropfen bezeichnen dasselbe Geo-Objekt, nämlich die auf der Friedrich-Hoffmann-Plantage gelegenen kleinen Wasserfälle des Pangani, das Hydronym Margareten-Fälle bezeichnet dagegen die weiter östlich gelegenen großen Pangani-Fälle. Weitere natürliche Geo-Objekte sind ein Höhlensystem, auf das mit dem Speleonym Kaiser-Wilhelmshöhlen referiert wird. Schließlich gibt es noch einen Aussichtspunkt und eine Wegstrecke, auf die mit den Hodonymen Hermannsplatte22 bzw. Himmelsleiter23 Bezug genommen wird. Zur Gruppe der 39 Namen, die sich auf koloniale Geo-Objekte beziehen, gehört das Choronym Wilhelmstal, das den erst 1905 gegründeten Verwaltungsbezirk bezeichnet. Sieben Oikonyme referieren auf Ansiedlungen, wobei das 1898 gegründete Bezirksamt Wilhelmstal die einzige nicht-missionsinitiierte Siedlung ist, die im Usambaragebiet einen deutschen Namen erhielt. Die Namen Friedenstal, Hohenfriedeberg, Neu-Bethel, Neu-Köln und Sankt Peter bezeichnen dagegen fünf Stationen verschiedener Missionsgesellschaften und der Name Bethanien ein im Bereich der Missionsstation Hohenfriedeberg gelegenes sogenanntes einheimisches Christendorf: „Auf einem Hügel gerade gegenüber der Kapelle […] entstand ein Christendörfchen […] Noch näher der Kapelle bauten sich die Jünglinge an […] und dieses Dörfchen nannten sie Bethanien, weil || Kolonialisten. Das Erstglied muss daher als Endonym betrachtet werden, das auch heute dieselbe, ehemals waldreiche Hochebene („Shume“) bezeichnet. 21 Eine natürliche Örtlichkeit hat zwei Namen. 22 Das Geo-Objekt Aussichtspunkt wird in Anlehnung an Debus (2012: 29) als ein zu den Anoikonymen zählender Wege- und Platzname (Hodonym) klassifiziert. 23 Diese Wegstrecke wird zu den natürlichen Orten gezählt, da es sich dabei um einen abkürzenden Trampelpfad handelt, dessen Verlauf sich dem Gelände anpasst und der im Gegensatz zur angelegten befahrbaren Straße steht (TB DOA 292–293).
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Bethanien so nahe bei Jerusalem war“ (Döring 1901: 117). Dazu kommen einige Gebäude bzw. Gebäudekomplexe, auf die mit den Oikodomonymen Waldheil (Forsthütte), Lienhardt-Sanatorium, Neu-Hornow (Sägewerk) und Steinbruch (Name einer Bahnstation der Usambarabahn) Bezug genommen wird. Die mit knapp 53 % des gesamten Inventars größte und damit für das Untersuchungsgebiet auch bedeutendste Gruppe bilden jedoch die folgenden 27 Plantagennamen (PlantagenN): Deutschenhof, Frankenwald, Friedrich Hoffmann-Pflanzung, Fritzwald, Goltzhof, Grunewald, Hedderode, Jägertal, Joachim-Albrechtstal, Kap Holm, Margaretenhöhe, Marienhof, Massowien, Massowtal, Neu-Danzig, Neu-Gütersloh, NeuSagan, Neu-Thüringen, Pflanzung Steinbruch, Philippshof, Princenau, PrinzAlbrecht-Plantage, Reichenau, Schöller, Union, Wilhelmshöhe, Zanettiberg Die onymische Klassifizierung von Plantagen ist nicht unumstritten. Stolz und Warnke rechnen die Namen von Farmen in Deutsch-Südwestafrika zu den Flurnamen (FlurN), „da sie nicht die Hofgebäude allein, sondern den gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Besitz bezeichnen“ (Stolz und Warnke 2018a: 91). Der International Council of Onomastic Sciences (ICOS) zählt Farmnamen dagegen zu den Siedlungsnamen bzw. settlement names, wobei in der englischen Version neben farms auch ranches genannt werden.24 Da die hier erfassten PlantagenN in Siedlungs- und Personenverzeichnissen als Wohnortangaben fungieren, werden sie in Anlehnung an ICOS als Oikonyme klassifiziert. Doch unabhängig davon, zu welcher OrtsN-Klasse man PlantagenN zählen möchte, zeigt sich, dass der prototypische Ort, der im Usambaragebiet einen deutschsprachigen Namen erhielt, die Plantage ist. Darauf komme ich in Abschnitt 5 zurück.
4 Konstruktionsmuster Nach der Bestimmung der im UI benannten Geo-Objekte und der entsprechenden toponymischen Klassen geht es in diesem Abschnitt um die strukturellen Eigenschaften der Namen. Grundlage der Analyse ist die von Stolz und Warnke (2018c) präsentierte Typologie der Kolonialtoponyme, deren zentraler Bestandteil acht Konstruktionsmuster sind, die „repräsentativ für das sind, was sich für gewöhn-
|| 24 Die Liste Onomastischer Schlüsseltermini kann in einer englischen, französischen und deutschen Version heruntergeladen werden: https://icosweb.net/publications/onomastic-terminology/ (zuletzt aufgerufen am 16.04.2020).
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lich in den […] konsultierten kolonialzeitlichen Quellen belegt findet“ (Stolz und Warnke 2018c: 23).25 Analysekategorien sind zum einen die Merkmale Eingliedrigkeit vs. Zweigliedrigkeit des Namens sowie die Präsenz endonymer und exonymer Bildungselemente (Stolz und Warnke 2018c: 22–27). Zum anderen werden die Bildungselemente einer von drei funktionalen Kategorien zugeordnet: Erstens können Konstituenten, die auf ortsbezeichnende Appellativa zurückgehen, „funktionell als Klassifikator angesehen werden […], weil sie Klassen von Geo-Objekten bezeichnen können“ (Stolz und Warnke 2018c: 25; Hervorhebung M. R.). Die zweite Kategorie bilden Elemente mit individualisierender Funktion, die als Modifikator bezeichnet werden. Als Kopf gelten nicht-klassifizierende appellativische Elemente in mehrgliedrigen Konstruktionen (Stolz und Warnke 2018c: 27). Von den acht Konstruktionsmustern, die sich für Kolonialtoponyme als repräsentativ herausgestellt haben, kommen für das deutschsprachige UI grundsätzlich nur die eingliedrigen Typen A und B26 sowie der zweigliedrige Typ C in Frage, da die Typen D bis H mindestens ein endonymes Element enthalten. In Betracht kommt außerdem noch die heterogene Klasse der sonstigen Konstruktionsmuster (gekennzeichnet durch das arbiträre Symbol ₡ mit den passenden Indices) […]. Diesen Konstruktionen fehlt für gewöhnlich ein Klassifikator, weshalb wir bei der strukturellen Analyse unspezifisch von Kopf (und Modifikator) sprechen. (Stolz und Warnke 2018c: 26–27)
Wie die folgende Tabelle zeigt, können alle Namen des UI diesen vier Konstruktionstypen zugeordnet werden:27
|| 25 Es wäre eine Überlegung wert, inwieweit (und bei welchen Untergruppen) die Konstruktionsmuster selbst typisch kolonial sind und inwieweit erst soziopragmatische Aspekte das typisch Koloniale daran ausmachen. 26 Eingliedrige Toponyme werden in einen Typ A unterschieden, bei dem die realisierte Konstituente „funktionell als Klassifikator angesehen werden kann“ (Stolz und Warnke 2018c: 25). Dem steht Typ B gegenüber mit Namen, deren realisierte Konstituente „das Geo-Objekt in starkem Maße [individualisiert]“ (Stolz und Warnke 2018c: 25). 27 Da es in der Tabelle um Muster geht, ist Wilhelmstal nur einmal verzeichnet. Bei den folgenden Häufigkeitsangaben ist der Grundwert aber 51, d. h. der Name wird zweimal gezählt. Der Grund für die Unterstreichungen und die Grauschattierung wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitts erläutert.
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Tabelle 1: Die im UI vorkommenden Konstruktionsmuster.
Typ
Muster
A
[-{Klass}] TOP
B
[{Mod}-] TOP
C1
Varianten
Belege Steinbruch
[{Anth}MOD-]TOP
St. Peter, Schöller, Massowien
[{Top}MOD-]TOP (direkte Übernahmen)
Bethanien, Ilsenstein, Frankenwald, Grunewald, Reichenau, Wilhelmshöhe
[{App}MOD-]TOP
Feenlust, Himmelsleiter, Union, Waldheil
[{Mod}-{Klass}] TOP [{Anth}MOD-{Klass}]TOP
Ganßerberg, Kaiser-Wilhelmshöhlen, Kurt Hoffmann-Fälle, LienhardtSanatorium, Margareten-Fälle, Goltzhof, Friedrich-Hoffmann Pflanzung, Philippshof, Prinz-Albrecht-Plantage Fritzwald, Hedderode, Joachim-Albrechtstal, Margaretenhöhe, Marienhof, Massowtal, Princenau, Wilhelmstal, Zanettiberg
[{Ethn}MOD-{Klass}] TOP
Deutschenhof
[{App}MOD-{Klass}]TOP
Drachenberg, Kirchturmfels Friedenstal, Hohenfriedeberg, Jägertal
C2
[{Klass}-{Mod}] TOP [{Klass}-{Anth}MOD]TOP
₡
[{Mod}-{Kopf}] TOP
Kap Holma
[{Klass}-{Top}MOD] TOP
Pflanzung Steinbruch
[{Anth}MOD-{App}Kopf] TOP
Hermannsplatteb, Hoffmannstropfen,
[{Top}MOD-{App}Kopf] TOP
Holstenzahn
[{Adj}MOD-{Top}Kopf] TOP
Neu-Bethel, Neu-Danzig, Neu-Gütersloh, Neu-Hornow, Neu-Köln, Neu-Sagan, NeuThüringen
a
Das Benennungsmotiv konnte nicht geklärt werden. Deshalb muss letztendlich offen bleiben, ob Holm auf den gleichlautenden schwedischen FamilienN oder das Bildungselement -holm ‘kleine Insel’ (Nyström 2016: 42) zurückgeht. Aufgrund des Klassifikators Kap wird der Modifikator unter Vorbehalt als Anthroponym klassifiziert. b Mit dem Zweitglied -platte wird auf kein Geo-Objekt referiert (siehe dazu Abschnitt 5).
Unabhängig von den vorkommenden Konstruktionsmustern bestätigt das UI zunächst den für die deutsche Kolonialtoponymie insgesamt geltenden Befund, dass neben den notwendigerweise mehrsilbigen Hybriden28 auch rein exogene deutsche Kolonialtoponyme tendenziell mehrsilbig und polymorph sind (Stolz
|| 28 Da hybride Toponyme aus mindestens einem endonymen und einem exonymen Element bestehen, sind sie per definitionem mehrsilbig.
Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet | 107
und Warnke 2018a: 83). Ganz im Gegensatz zur Toponymie in der Metropole mit zahlreichen einsilbigen OrtsN (Stolz und Warnke 2015: 134; Debus 2012: 186) sind bisher nur zwei Monosyllaba bekannt, und zwar Kranz und Pütz in DSWA (Stolz und Warnke 2018a: 82). Musterhaft ist das UI auch insofern, als knapp 50 % der Namen dem kolonialtoponymischen Mehrheits-Typ C 1, also dem Muster eines Kompositums mit einer binären, rechtsköpfigen Grundstruktur und einem Klassifikator-Element als Zweitglied entsprechen (Stolz und Warnke 2018a: 77). Ebenfalls eine binäre Grundstruktur mit einem Klassifikator, allerdings als Erstglied, zeigen die beiden Namen Pflanzung Steinbruch und Kap Holm.29 Im Fall von Letzterem handelt es sich um eine systemkonforme Bildung, denn im „Normalfall besetzt der Geo-Klassifikator Kap die linke Leerstelle“ (Stolz und Warnke 2015: 141). Der Klassifikator Pflanzung tritt dagegen sowohl in rechtsköpfigen (Friedrich-Hoffmann-Pflanzung) als auch in linksköpfigen Komposita (Pflanzung Steinbruch) auf.30 Auch die zwar repräsentativen, aber weniger prominenten Konstruktionsmuster A und B (Stolz und Warnke 2018c: 26) sind im UI – auch hier in weit geringerer Anzahl – vertreten, ebenso wie es auch Belege in der Klasse ₡ gibt. Aus Tab. 1 geht auch eine klare Präferenz für deanthroponymische Modifikatoren hervor. Tatsächlich sind diese „of utmost importance for the coining of col[onial toponyms]” (Stolz et al. 2018: 190), was sich in einem Anteil von 43 % an deanthroponymischen Bildungen in der deutschen Kolonialtoponymie niederschlägt (Stolz und Warnke 2018a: 77, 2018c: 34): Allein dies verweist schon auf die diskurslinguistisch wichtige Beobachtung, dass im kolonialen Namenprojekt Personalität lokalisiert wird. Dieses Muster begegnet uns immer wieder. Die machtvollen Repräsentanten der kolonialen Ordnung verräumlichen sich strukturell, weil Anthroponyme als Konstituenten von Toponymen regelmäßig gebraucht werden. (Stolz und Warnke 2018c: 13)
In diesem Punkt zeigt das UI mit einem Anteil von 49 % eine etwas größere Präferenz.31 Komplexe deanthroponymische Modifikatoren wie Kaiser-Wilhelms und || 29 Um die beiden Namen visuell vom rechtsköpfigen Mehrheitsmuster abzusetzen, wurde – abweichend von Stolz und Warnke (2018a) – der Typ C in C 1 und C 2 unterteilt. 30 Eine diesbezügliche Recherche im Adressbuch für Deutsch-Ostafrika (AB DOA) von 1913 zeigt, dass der Klassifikator dann bevorzugt als Erstglied fungiert, wenn der Modifikator ein Toponym ist, z. B. Pflanzung Ngomeni (1913: 31), Pflanzung Kwafungo (1913: 52), Pflanzung Petershof (1913: 67), aber Otto-Pflanzung (1913: 31) und Auguste-Viktoria-Pflanzung (1913: 67). Dass es sich bei der Distribution um eine Tendenz und keine Regel handelt, zeigen (seltene) Gegenbeispiele wie Konga-Pflanzung (1913: 52) und Pflanzung Friedrich Frech (1913: 59). 31 Personennamen als Bestimmungswort finden sich auch in OrtsN der Metropole. Deren Vorkommen und Häufigkeit hängt allerdings von verschiedenen Faktoren wie dem Alter des
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Prinz-Albrecht sind „in der Regel der Fall, wenn als Namenspatron ein gekröntes Haupt, ein Mitglied der Herrscherfamilie, ein Landesfürst o. Ä. gewählt wurde“ (Stolz und Warnke 2015: 144).32 Dass dieses Muster „in den afrikanischen Kolonien, die wir hier berücksichtigen, eher eine randständige Erscheinung ist“ (Stolz und Warnke 2015: 144), zeigt sich auch im UI. Denn trotz des hohen Anteils deanthroponymischer Bildungen gibt es nur die beiden gerade genannten Belege für Modifikatoren, die Adelstitel enthalten, und insgesamt nur fünf Namen mit komplexen deanthroponymischen Modifikatoren.33 Mit einem Vorkommen von weniger als 1 % (Stolz und Warnke 2018b: 61) sind auch Heiligennamen in der deutschen Kolonialtoponymie eine „randständige Erscheinung”, ein Befund, der mit einem einzigen Beleg im UI (St. Peter) durchaus bestätigt wird.34 Bei den mehrgliedrigen Namen des UI, also den Namen in den Klassen C 1 und C 2, kommen folgende Klassifikatoren vor: -au (1 Beleg), -berg (4), -Fälle (2), -fels (1), -höhlen (1), -hof (4), Kap (1), Pflanzung/Plantage35 (3), -Sanatorium (1), -t(h)al (6), -wald (1). Im weitesten Sinn kann auch das einmalig vorkommende Bildungselement -rode als Klassifikator betrachtet werden, denn es übernimmt ein im deutschen Sprachgebiet beliebtes Namengebungsmuster, mit dem auf den Ursprung des entsprechenden Ortes verwiesen wurde. Dieser Ortsnamentyp „ist durch das Wort roden […] geprägt, das die Urbarmachung von Land durch das Fällen der Bäume und das Ausgraben der Wurzelstöcke bezeichnet“ (Debus 2004: 3499), eine Aufgabe, die auch die deutschen Siedler im stark bewaldeten Usambaragebirge erwartete. Im Hinblick auf die Repräsentativität des hier untersuchten Teilinventars der exogenen Toponyme kann festgestellt werden, dass von den acht in allen deutschen Kolonien belegten Geo-Klassifikatoren (Stolz und Warnke 2018a: 84) vier, nämlich -berg, -fels und -höhe sowie die Pluralform von -fall, also -fälle, auch im UI vorkommen, nicht aber Spitze, Gebirge und Hügel (zum einen ist || Namens, dem Grundwort oder dem geographischen Gebiet ab. Vgl. ausführlich dazu Debus (2004). 32 Vorlagen für dieses Muster finden sich in der Metropole: „F e u d a l i s t i s c h - a b s o l u t i s t i s c h geprägte O[rtsnamen] werden für Neusiedlungen jeder Art, bes. für Dörfer des Ostens, seit der frühen Neuzeit immer häufiger vergeben. Sie erhalten als B[estimmungswort] Namen der adligen Grundherren, ihrer Familienmitglieder, Vorfahren, Verwandten, Beamten oder auch Namen herrschender Regenten“ (Debus 2004: 3506; Hervorhebung im Original). 33 Die entsprechenden Belege sind in der Tabelle durch Unterstreichung gekennzeichnet. Ich werde darauf in Abschnitt 5 zurückkommen. 34 Rein rechnerisch macht dieser eine Beleg zwar 2 % aus, dies ist aber der geringen Größe des Inventars geschuldet. 35 Pflanzung und Plantage werden auch in Bezug auf dasselbe Geo-Objekt synonym verwendet, weshalb sie hier als eine Kategorie gezählt werden.
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Usambara-Gebirge ein Hybrid; zum anderen besteht das Gebirge eher aus einer Abfolge von bewaldeten Bergzügen mit langgezogenem Berggrat als aus herausstechenden Bergspitzen oder auffälligen Hügeln).36 Die außer für Deutsch-Ostafrika jeweils nur noch in einer weiteren Kolonie belegten Klassifikatoren -hof, -t(h)al und -wald (Stolz und Warnke 2015: 138) sowie das sogar nur für DeutschOstafrika belegte -höhle (Stolz und Warnke 2015: 138) finden sich ebenfalls. Zu betonen ist hier, dass der im UI häufigste Klassifikator -t(h)al ein in der Metropole beliebtes Bildungsmuster übernimmt: „Bereits im 17. Jh. zeichnete sich eine Bevorzugung des Grundworts -thal ab (Klarenthal, Ernstthal)“ (Nübling et al. 2015: 219; Hervorhebungen im Original; auch Debus 2004: 3505). Abgesehen von der Frage der Repräsentativität zeigt sich gerade bei den mit -t(h)al gebildeten Namen des UI ein wichtiger Unterschied zu hybriden Kolonialtoponymen, dass nämlich bei exonymen OrtsN nur ein Teil der Klassifikator-Elemente tatsächlich „expliziert zu welcher ontologischen Klasse das jeweils bezeichnete Geo-Objekt gehört“ (Stolz und Warnke 2018c: 25). So zeigt bei 14 (in der Tabelle grau schattierten) Namen der insgesamt 27 Belege für Typ C der Klassifikator nicht an, welches Geo-Objekt das Toponym bezeichnet. Im Fall von hybriden Kolonialtoponymen haben Klassifikatoren dagegen die Funktion anzuzeigen, auf welches Geo-Objekt ein ursprünglich endonymer Name verweist.37 In diesem Abschnitt konnte gezeigt werden, dass das UI im Hinblick auf die vorkommenden Konstruktionsmuster im Großen und Ganzen als repräsentativ für das deutsch-koloniale Toponymikon gelten kann. Auffällig ist allerdings zum einen die Häufung direkter Übernahmen von Toponymen der Metropole (s. Typ B) und zum anderen die relativ große Zahl der mit dem Adjektivstamm neugebildeten Determinativkomposita (Klasse ₡). Auf beide Punkte werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.
5 Besonderheiten Auch wenn sich das UI im Hinblick auf die vorkommenden Konstruktionen tendenziell musterhaft verhält, so lassen sich doch Merkmale feststellen, die denjenigen ähneln, die die DSWA-Toponymie kennzeichnen. Im Folgenden
|| 36 Der achte in allen Kolonien vorkommende Klassifikator, nämlich Insel, ist im DOA-Register des GDKA 94 Mal belegt (Stolz und Warnke 2015: 136), kommt in dem im Landesinneren gelegenen Usambaragebiet aber erwartungsgemäß nicht vor. 37 Vgl. dazu im Hinblick auf das Usambaragebiet Rieger (2020). Ausführlich zum Begriff Klassifikator siehe Döschner (2018).
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werde ich zunächst die Parallelen zwischen dem Usambara- und dem DSWAInventar aufzeigen. Welche außersprachlichen Faktoren zu diesen Übereinstimmungen geführt haben könnten, wird am Ende des Abschnitts diskutiert. Zu den auffälligen Merkmalen gehört die Häufung von direkten Übernahmen von Toponymen der Metropole.38 Dazu schreiben Stolz und Warnke aufgrund der Auswertung des GDKA mit Bezug auf DSWA: Diese Klasse von deutsch-südwestafrikanischen Ortsnamen entspricht einem Anteil von 7 % am Gesamtbestand der deutsch-kolonialen Exonyme dieser Kolonie. Außerhalb von Deutsch-Südwestafrika kommen im deutsch-kolonialen Toponymikon Ortsnamen der Metropole stets nur als Teil einer mehrgliedrigen Konstruktion vor“. (Stolz und Warnke (2018a: 89)
Mit 6 Belegen (Bethanien39, Ilsenstein40, Frankenwald41, Grunewald, Reichenau, Wilhelmshöhe42) haben direkte Übernahmen im UI einen Anteil von knapp 12 %.43 Auch im Hinblick auf OrtsN der Metropole als Teil mehrgliedriger Konstruktionen zeigen sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem UI und dem DSWA-Inventar. Zwar bestätigt die ausschließliche Nutzung von Neu- als Erstglied die außerhalb von DSWA festgestellte Präferenz von „temporalen Adjektivstämmen (= alt- und neu-) [gegenüber] den dimensionalen Adjektivstämmen (= groß- und klein-)“ (Stolz und Warnke 2018a: 85), und die mit 36 % große Beliebtheit des strukturellen Musters in DSWA wird bei Weitem nicht erreicht. Doch mit knapp 14 % liegt die Häufigkeit deutlich über dem außerhalb von DSWA festgestellten Wert von 5 % und nähert sich dem Wert von DSWA an, der für temporale Adjektivstämme bei 17 % liegt (Stolz und Warnke 2018a: 85). Stolz und Warnke nehmen nur im Fall der direkten Übernahmen „für die Ortsnamenvergabe die persönliche Verbundenheit eines Individuums mit der || 38 Dazu Debus: „Andererseits existiert die Übertragung eines bodenständigen O[rtsnamen] auf eine andere Siedlung im Zusammenhang mit Um-, Aussiedlung oder Kolonisation. Hier könnte man von M i g r a t i o n s n a m e n sprechen“ (Debus 2004: 3470; Hervorhebung im Original). 39 Das Toponym ist zwar kein OrtsN der Metropole, aber eine direkte Übernahme. 40 Bei dem Namengeber für den „schroffe[n] Ilsenstein“ (Karstedt 1914: 172) handelt es sich vermutlich um die im Oberharz gelegene Felsformation Ilse[n]stein. 41 Hier könnte es sich um die Übertragung des Namens des mittleren Teils des ThüringischFränkischen Mittelgebirges handeln. 42 Hier könnte es sich um eine Übertragung des Namens der bei Kassel gelegenen kaiserlichen Sommerresidenz handeln. 43 Das von Stolz und Warnke (2018a) untersuchte südwestafrikanische Inventar ist mit 580 Einträgen mehr als zehnmal so groß wie das UI und setzt sich – im Gegensatz zum rein exonymen UI – aus hybriden und rein exogenen Toponymen zusammen, so dass keine direkte Vergleichbarkeit besteht. Die Prozentangaben sind deshalb im Sinne einer Tendenz zu verstehen.
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namengebenden reichsdeutschen Gemeinde“ (Stolz und Warnke 2018a: 89; Hervorhebung M. R.) als Benennungsmotiv an. Die persönliche Verbundenheit mit dem ursprünglich namengebenden Ort kommt m. E. aber auch in Bildungen mit dem Adjektivstamm neu- zum Ausdruck, wie der Name Neu-Hornow zeigt, denn Erwin Wilkins, einer der beiden Besitzer des gleichnamigen Sägewerks, stammt aus Hornow (Niederlausitz).44 Ähnliches gilt für Neu-Bethel, das auf das Mutterhaus der Missionsstation referiert „in dankbarem Gedächtnis an den reichen Segen, den [die Missionare] in ihrer Heimat in Bethel bei Bielefeld […] empfangen hatten“ (Wohlrab 1915: 44).45 Verallgemeinernd lässt sich daraus ableiten, dass eine Benennung mit dem Adjektiv neu im Toponym eine besondere Verbundenheit zu dem, was man als alt bzw. bekannt voraussetzt, indiziert. Nach Stolz und Warnke wird die „persönliche Note, die im deutschsüdwestafrikanischen Toponymikon eine große Rolle spielt, […] noch deutlicher, wenn wir die Verwendung von Personennamen in toponymischer Funktion in Betracht ziehen“ (Stolz und Warnke 2018a: 90). Diese Aussage gilt auch für das UI. Zwar gibt es – wie in DSWA auch – einige wenige Fälle, die „als Referenz gegenüber Autoritäten und Persönlichkeiten zu werten sind“ (Stolz und Warnke 2018a: 90). Zu dieser Gruppe gehören eindeutig die Namen KaiserWilhelmshöhlen und Wilhelmstal sowie vermutlich der PlantagenN JoachimAlbrechtstal46. Referenz im Sinne von ehrendem Andenken ist das Benennungsmotiv bei Ganßerberg47 und Lienhardt-Sanatorium. Dieses Erholungsheim in Wugiri in den Usambarabergen, etwa 1000 m über dem Meere in schöner Urwaldgegend gelegen, hat seinen Namen nach einem Stuttgarter Kaufmann, welcher durch ein testamentarisches Vermächtnis zum Bau des Sanatoriums den Grundstock gegeben hat. (DKL I. Bd.: 574)
|| 44 Siehe dazu den Artikel mit dem etwas irreführenden Titel Das neue Hornow am Kilimandscharo auf: https://www.lr-online.de/lausitz/spremberg/das-neue-hornow-am-kilimandscharo _aid-3442465 (zuletzt aufgerufen am 27.04.2020). Tatsächlich wird in dem Artikel behauptet, die Usambaraberge lägen am Fuße des Kilimanjaro. 45 Für die restlichen fünf Namen dieses Musters, nämlich Neu-Danzig, Neu-Gütersloh, NeuKöln, Neu-Sagan, Neu-Thüringen, konnte das Benennungsmotiv bisher nicht geklärt werden. 46 Der Bezug auf Joachim Albrecht Prinz von Preußen (1876–1939) liegt deshalb nahe, weil als Besitzer der Plantage ein Kommerzienrat Müllensiefen und als Leiter Horst von Horn genannt werden (AB DOA 1913: 47), also offensichtlich kein direkter persönlicher Bezug besteht. 47 Dauber schreibt zu Rudolf Ganßer: „1896–97 arbeitet er in West-Usambara, dem späteren Bezirk Wilhelmstal, einem der wichtigsten Plantagen- und Ansiedlungsbezirke, als Vermessungsoffizier und Vertreter des Bezirksamts. […] 1904 wird er als Kompagniechef nach DeutschSüdwestafrika abkommandiert, um an dem Feldzug gegen die Hereros teilzunehmen. In der ersten bedeutenden Schlacht am Waterberg fällt er am 11.8.1908“ (Dauber 1991: 28).
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In diese Reihe gehört auch Margareten-Fälle, denn so wurden die Großen Pangani-Fälle „vom Gouvernement nach der Gattin des ersten Bezirksamtmanns von Tanga W. v. St. Paul Illaire, welche als erste Dame die Fälle besucht hat, benannt“ (TB DOA 1911: 321).48 Doch bei elf deanthroponymischen Belegen des UI ist der persönliche Faktor ausschlaggebend für die Namengebung. So referiert der Name PrinzAlbrecht-Plantage zwar auf ein Mitglied der kolonialen Herrscherfamilie, das Toponym weist die Plantage aber auch als Besitz „Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Albrecht von Preußen“ (Fitzner 1901: 285; DKB 1900: 499) aus. Autoreferenziell sind auch Philippshof, die „Ansiedlung des Dr. Philipps einige Stunden oberhalb Wilhelmstal“ (Baltzer 1908: 217); Hedderode, die Plantage des Herrn Hedde (TB DOA 1911: 345) und Zanettiberg, die des Herrn Ugo Zanetti (AB DOA 1913: 74); Princenau, „Kaffeeplantage des Herrn von Prince“ (AB DOA 1913: 302). Der Familie von Prince gehörten auch die Plantagen Massowtal in Westusambara (AB DOA 1913: 302) und Massowien bei Maurui an der Usambarabahn (AB DOA 1913: 261), die beide wohl auf Magdalene von Prince, geb. von Massow, referieren. Schließlich gibt es noch die Friedrich-Hoffmann Pflanzung, die „umfangreiche Besitzung (30 000 ha) des Regierungsbaumeisters a. D. Kurt Hoffmann“ (DKL I. Bd.: 666).49 Auf Letzteren verweist der Name Kurt-Hoffmann-Fälle, ein anderer Name für die kleinen Pangani-Fälle, die auf dem Gebiet der FriedrichHoffmann Pflanzung liegen und die außerdem „scherzhaft nach dem Besitzer der F[riedrich Hoffmann-Pflanzung] ‚Hoffmannstropfen‘ genannt“ (TB DOA 1911: 322) werden. Hier wie bei Hermannsplatte, – „so benannt nach drei den Vornamen Hermann führenden deutschen Männern, die sämtlich eine ‚Platte‘ besitzen“ (Baltzer 1908: 217; Hervorhebung im Original), – handelt es sich um Spottnamen, die als Paradebeispiele nähesprachlicher Namengebungspraxis gelten dürfen. Weitere in den Quellen ausdrücklich als inoffiziell gekennzeichnete Namen sind „‚Himmelsleiter‘“ (TB DOA 1911: 293; Hervorhebung im Original), „‚Holstenzahn‘“ (TB DOA 1911: 345; Hervorhebung im Original), „der soge-
|| 48 Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Enge des europäisch-rassistischen Blickwinkels ist bemerkenswert, selbst wenn man dem Verfasser zugesteht, dass ihm die jahrtausendealte Siedlungsgeschichte des Gebiets nicht bekannt war. 49 Hier dürfte es sich um verschiedene Mitglieder derselben Familie handeln. Regierungsbaumeister Kurt Hoffmann wird als Besitzer der Friedrich-Hoffmann-Plantage angegeben, Alfred Hoffmann als deren Leiter (TB DOA 1911: 258). Friedrich Hoffmann dürfte der Vater von Kurt sein (siehe dazu: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Friedrich_Eduard_Hoffmann?uselang=de; zuletzt aufgerufen am 29.04.20). Das im Namen zum Ausdruck kommende ehrende Andenken ist hier persönlicher Natur.
Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet | 113
nannte Ilsenstein“ (TB DOA 1911: 330) und der „sogenannte Kirchturmfels“50 (TB DOA 1911: 327). Dass es sich dabei sozusagen um Insider-Namen handelt, ergibt sich auch daraus, dass sie aus einem Reiseführer (TB DOA 1911: 270–356) stammen, der von verschiedenen, vor Ort ansässigen Autoren zusammengestellt wurde.51 Mit den inoffiziellen Namen hat das UI einen nähesprachlichen Typ, der m. W. noch nicht Gegenstand der (deutschen) Kolonialtoponomastik war und dessen Vorkommen auch in der südwestafrikanischen Toponymie noch nicht untersucht wurde. Parallelen zwischen der DSWA-Toponymie und dem UI lassen sich aber nicht nur im Hinblick auf Konstruktionsmuster und emotional aufgeladene Benennungsmotive feststellen, sondern auch hinsichtlich der Häufigkeit von Plantagen- bzw. FarmN.52 Zu diesem Punkt stellen Stolz und Warnke fest, dass Farmnamen für das deutsch-südwestafrikanische Toponymikon recht charakteristisch sind. Wegen der Ansässigkeit der deutschen Farmer auf ihrem kolonialen Besitz kann vermutet werden, dass die Beziehung zwischen benanntem Objekt und benennender Person von letzterer als relativ eng empfunden wurde. (Stolz und Warnke 2018a: 92)
Wie in Abschnitt 3 festgestellt, sind PlantagenN auch für Usambara charakteristisch, denn 27 der 51 Toponyme des UI referieren auf Plantagen, von denen acht nachweislich autoreferenziell sind (Friedrich Hoffmann-Pflanzung, Hedderode, Massowien, Massowtal, Philippshof, Princenau, Prinz-Albrecht-Plantage, Zanettiberg) und 12 weitere aufgrund der Bildungsmuster einen persönlichen Bezug vermuten lassen.53
|| 50 Die Originalstelle lautet „durch den sogenannten Kirchturmfelsen“ (TB DOA 1911: 327). 51 Einige dieser Namen werden außerdem im Reiseführer von Karstedt (1914) genannt, der sie ebenfalls vor Ort erfahren haben könnte (Karstedt 1914: VIII). Auch bei Hermannsplatte handelt es sich um einen vor Ort erfahrenen Namen (Baltzer 1908: 217). Auch bei den charakterisierenden Namen Drachenberg (TB DOA 1911: 337) und Feenlust (TB DOA 1911: 295) könnte es sich um inoffizielle Namen handeln. 52 Im Usambaragebiet wird Farm nicht verwendet, sondern ausschließlich Pflanzung und Plantage. 53 Gemeint sind hier die direkten Übernahmen Frankenwald, Grunewald, Reichenau, die Determinativkomposita Neu-Danzig, Neu-Gütersloh, Neu-Sagan, Neu-Thüringen sowie die deanthroponymischen Fritzwald, Goltzhof, Margaretenhöhe, Marienhof und Schöller. In den bisher ausgewerteten Quellen konnten keine Hinweise auf Benennungsmotive gefunden werden.
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6 Fazit und Ausblick Dieser Beitrag untersuchte deutschsprachige Toponyme, die während der deutschen Kolonialzeit im Usambaragebiet in Gebrauch waren. Wie gezeigt werden konnte, entsprechen die hier analysierten Namen und ihre Strukturen tendenziell dem bisher bekannten Befund zum deutsch-kolonialen Toponymikon. Im UI finden sich aber auch Merkmale, die innerhalb der deutschen Kolonialtoponymie als charakteristisch für die Siedlungskolonie DSWA gelten. Da Usambara ein wichtiges deutsches Siedlungsgebiet war, bestätigt dieser Befund, dass sich „das Wirken bestimmter außersprachlicher Faktoren“ (Stolz und Warnke 2018a: 74) in der Toponymie widerspiegelt, denn das UI zeigt ähnlich wie die DSWAToponymie „wegen der Ansässigkeit der Siedler vor Ort in viel stärkerem Maße […] eine emotional-sentimentale d. h. persönliche Note“ (Stolz und Warnke 2018a: 74). Abschließen möchte ich den Beitrag mit einem Ausblick auf endonyme und hybride Kolonialtoponyme in Usambara, von denen zum einen einige ebenfalls aus dem Rahmen fallen. Denn die Verwendung von endogenen Klassifikatoren in Kombination mit einem exogenen Modifikator ist im Gesamtkontext des Eurokolonialismus sehr auffällig. Wir haben es mit einem Rarum zu tun. Wenn endogene Klassifikatoren zur Bildung von kolonialen Toponymen herangezogen werden, dann geschieht dies fast ausnahmslos nur in Verbindung mit ebenfalls endogenen Modifikatoren. (Stolz und Warnke 2018c: 29)
Dieses Rarum findet sich in der Kolonialtoponymie von Usambara und zwar sowohl als reines Endonym wie bei Umba-Nyika (Baumann 1890: 108)54, als auch in der Form der hybriden Bildung Vorlands-Nyika (Baumann 1891: 120).55 Zum anderen kann bei einigen Namen beobachtet werden, wie das vorkoloniale Endonym allmählich von einem exonymen Namen verdrängt wird: „Kwamkusu […], die Pflanzung des Herrn HEDDE“ (Kaiserliches Gouvernement 1903: 516; Hervorhebung im Original); „Ansiedlung Hedde (Kwamkusu)“ (Kaiserliches Gouvernement 1904–1906: 42); „Pflanzung Kwamkusu (Hedde)“ (Kaiserliches Gouvernement 1904–1906: 450); „Rechts geht es nach Hedderode“ (TB DOA 1911: 342). Wie das Eingangsbeispiel Deutschenhof zeigt, kommt auch die Rückkehr vom Exonym zum Endonym vor (s. Abschnitt 3). Dies wirft zudem die ge|| 54 Auch Rudolf Ganßer verwendet in seinem Tagebuch Umba Nyika (Dauber 1991: 103). 55 Siehe dazu Rieger (2020). Das aus dem Swahili stammende Substantiv nyika bedeutet ‘Steppe’ und bezeichnet – mit wechselnden Modifikatoren – einen großen Teil der das Usambaragebirge umgebenden Ebene.
Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet | 115
nerelle Frage auf, welche exonymen Namen durch einen Namengebungsakt vergeben wurden und welche innerhalb der Siedlergemeinschaft mit der Zeit entstanden sind. Diese beiden Fragestellungen, nämlich zum einen nach der Art, Richtung und Häufigkeit von Namenwechseln sowie zum anderen nach der Unterscheidung in offizielle und inoffizielle Namen, systematisch zu untersuchen, muss allerdings zukünftigen Studien vorbehalten bleiben.
Abkürzungen Adj Anth App Ethn Klass Mod Top
Adjektiv Anthroponym Appellativ Ethnonym Klassifikator Modifikator Toponym
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116 | Marie A. Rieger
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118 | Marie A. Rieger
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Sprachliche Besetzung. Deutschsprachige Toponyme im Usambaragebiet | 119
Anhang Toponym
Geo-Objekt
OrtsN-Klasse
Belegstellea
1
Bethanien
Siedlung
Oikonym
Döring 1901: 117
2
Deutschenhof
Plantage
Oikonym
Baumann 1890: 42
3
Drachenberg
Berg
Oronym
TB DOA 1911: 337
4
Feenlust
Fels
Oronym
TB DOA 1911: 295
5
Frankenwald
Plantage
Oikonym
AB 1913: DOA 45
6
*Friedenstalb
Mission
Oikonym
Fitzner 1908: 218
7
Friedrich-Hoffmann Pflanzung
Plantage
Oikonym
Fitzner 1901: 280
8
Fritzwald
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 45
9
Ganßerberg
Berg
Oronym
TB DOA 1911: 294
10
Gol(t)zhof
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 257
11
Grunewald
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 268
12
Hedderode
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 342
13
Hermannsplatte
Aussichtspunkt Hodonym
Baltzer 1908: 217
14
Himmelsleiter
Wegstrecke
Hodonym
TB DOA 1911: 292
15
Hoffmannstropfen
Wasserfall
Hydronym
TB DOA 1911: 322
16
*Hohenfriedeberg
Mission
Oikonym
DKB 1899: 370
17
Holstenzahn
Berg
Oronym
TB DOA 1911: 345
18
Ilsenstein
Fels
Oronym
TB DOA 1911: 330
19
Jägertal
Plantage
Oikonym
KHA 1910: 71
20
Joachim-Albrechtstal
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 47
21
Kaiser-Wilhelmshöhlen
Höhle
Speleonym
Karstedt 1914: 161
22
Kap Holm
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 48
23
Kirchturmfels
Fels
Oronym
TB DOA 1911: 327
24
Kurt Hoffmann-Fälle
Plantage
Hydronym
Karte von DeutschOstafrika
25
Lienhardt-Sanatorium
Sanatorium
Oikodomonym DKB 1906: 512
26
*Margareten-Fälle
Wasserfall
Hydronym
KHA 1907: 23
27
Margaretenhöhe
Plantage
Oikonym
KHA 1910: 64
28
Marienhof
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 321
29
Massowien
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 261
30
Massowtal
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 302
31
*Neu-Bethel
Mission
Oikonym
Berichte 1903: 523
32
Neu-Danzig
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 64
120 | Marie A. Rieger
Toponym
Geo-Objekt
OrtsN-Klasse
Belegstellea KHA 1911: 98
33
Neu-Gütersloh
Plantage
Oikonym
34
Neu-Hornow
Sägewerk
Oikodomonym Berichte 1906–1911: 302
35
*Neu-Köln
Mission
Oikonym
DKB 1899: 483
36
Neu-Sagan
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 64
37
Neu-Thüringen
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 75
38
Pflanzung Steinbruch
Plantage
Oikonym
Schlikker 1915: 26
39
Philippshof
Plantage
Oikonym
Baltzer 1908: 217
40
Princenau
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 302
41
Prinz-Albrecht-Plantage
Plantage
Oikonym
DKB 1901: 7
42
Reichenau
Plantage
Oikonym
TB DOA 1911: 269
43
*St. Peter
Mission
Oikonym
DKB 1900: 214
44
*Schöller
Plantage
Oikonym
Fitzner 1901: 284
45
*Steinbruch
Bahnstation
Oikodomonym DKB 1900: 711
46
Union
Plantage
Oikonym
47
Waldheil
Forsthütte
Oikodomonym TB DOA 1911: 340
48
Wilhelmshöhe
Plantage
Oikonym
KHA 1910: 71
49
Wilhelmstal
Bezirk
Choronym
Berichte 1904–1906: 41
50
*Wilhelmstal
Siedlung
Oikonym
DKB 1899: XXXII
51
Zanettiberg
Plantage
Oikonym
AB DOA 1913: 74
a
DKB 1900: 500
Hier wird die Belegstelle angegeben, an der der Name in den untersuchten Quellen zum ersten Mal auftritt. b Der Asterisk kennzeichnet die Toponyme des UI, die sich auch im GDKA finden.
Wolfgang Crom
Benennungen, Umbenennungen und Übersetzungen von kolonialen Namen in ihrer Repräsentation auf Karten Zusammenfassung: Nachdem 1885 das Ringen unter den Kolonialmächten über die Aufteilung Ostafrikas entschieden war, gehörte auch der Kilimandscharo zum Kolonialbesitz des Deutschen Kaiserreichs. Sogleich wurde die Erstürmung des Gipfels als große nationale Aufgabe gesehen und als wissenschaftliches Erforschungsprojekt in Angriff genommen. Hans Meyer hat in der nicht bewirtschafteten und unbewohnten Gipfelregion zahlreiche neue Benennungen von Landschaftselementen vorgenommen, die verschiedenen Motivationen entsprungen sind und die Eingang in die internationale Nomenklatur gefunden haben. Neben beschreibenden Toponymen finden sich in seinen Karten vor allem Personennamen mit angefügter Gattungsbezeichnung. Nachfolgende Forscher haben die von Meyer eingeführten Verfahren zur Benennung markanter Landschaftselemente fortgesetzt, die auch Eingang in die amtlichen topographischen Karten gefunden haben und sich noch in aktuellen Trekkingkarten finden. Schlagwörter: Benennungspraxis; Kartographiegeschichte; Kilimandscharo; Kolonialkartographie; Toponym
1 Einleitung Die auf Karten der Kolonialzeit fixierten Toponyme lassen insbesondere bei einer chronologischen Betrachtung Rückschlüsse auf ihre Entstehung, Ermittlung oder auch Verwendung zu. In der Regel füllten sich die Karteninhalte aus zunächst linienhaften Routenaufnahmen, so dass erst allmählich eine flächenhafte Erfassung der Territorien und Landschaften mit ihren Elementen und Namen erfolgte, die zum vollständigen Kartenbild führte.1 Dies wird insbeson-
|| 1 Allgemeine Informationen zur Kolonialkartographie s. a. Sprigade und Moisel (1914); Obst (1921); Eckert (1924); Finsterwalder und Hueber (1943); Crom (2003); Demhardt (2006); Hafeneder (2008) und Crom (in diesem Band). Zum hier behandelten Thema vgl. auch Crom (2019). || Wolfgang Crom, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Unter den Linden 8, 10117 Berlin, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-006
122 | Wolfgang Crom
dere in den Karten Deutsch Ostafrikas ersichtlich, da in den kleinmaßstäbigen Darstellungen die Fokussierung auf den Kilimandscharo und seine Umgebung hervortritt. Das weithin sichtbare Bergmassiv mit einer Ausdehnung von ca. 75 x 50 km² bildet bereits in den frühen Karten eine markante Erscheinung. Die Besiedlung des Gebietes durch unterschiedliche Ethnien und verschiedene Sprachgruppen führte dabei aufgrund von geographischen wie sprachlichen Unkenntnissen der Forschungsreisenden und Kolonialbeamten immer wieder zu sprachlichen Überlagerungen von Toponymen, insbesondere bei der Benennung von Flüssen oder größeren Landschaftselementen. Schließlich beklagte Hans Meyer (1900: 101) die Planlosigkeit der Namensgebung sowie eine Vermischung der Namensbelegung und strebte in seinen Karten eine konsequente Zuordnung der Toponyme nach Volksgruppen bzw. Sprachen an. Damit zielte er auf die bislang noch nicht zur Wirkung gekommenen Maßnahmen und Grundsätze ab, mit deren Ausarbeitung die Kommission zur Regelung der einheitlichen Schreib- und Sprechweise der geographischen Namen in den deutschen Schutzgebieten beauftragt worden war (Crom in diesem Band). Auch die führenden Kartographen am Berliner Kolonialkartographischen Institut bemängelten noch 1914 die Unzulänglichkeiten der ihnen überlieferten Toponyme (Sprigade und Moisel 1914: 540), die Eingang in ihre Karten finden sollten. Gerade deshalb und aufgrund der relativ dichten zeitlichen Folge von Berichten und Karten verschiedener Autoren ist die Region des Kilimandscharo für eine chronologische Betrachtung der fortschreitenden Erschließung, der Zunahme der enthaltenen Informationen und der Verwendung geographischer Namen für eine nähere Betrachtung geeignet. Die Karten dieses Raumes spiegeln diese Entwicklungen wider und sind aufgrund des Nebeneinanders von Endonymen der verschiedenen Volksgruppen und Exonymen, die die Akteure der Kolonialzeit neu geschaffen haben, sowie deren anschließenden Übersetzungen ins Englische als Quelle zu analysieren. Für das Untersuchungsgebiet des Kilimandscharo kommt als weiterer Punkt hinzu, dass die oberen Bereiche des Gebirgsmassivs nicht bewirtschaftet oder besiedelt wurden und somit keine Endonyme zu erwarten sind. Das trifft auch auf die Landschaftselemente der unzugänglichen Gletscher und deren Umgebung zu, die jedoch insbesondere durch Hans Meyer erstmals mit Namen belegt wurden. Die hier untersuchten Toponyme aus Karten in mittleren bis kleinen Maßstäben betreffen demnach Landschaftselemente als ‚kleinste‘ Einheit. Sie lassen jedoch Rückschlüsse auf die insbesondere von dem Forschungsreisenden Meyer angewandte Vergabepraxis zu.
Koloniale Namen in ihrer Repräsentation auf Karten | 123
2 Kilimandscharo oder Kibo Der aus dem schwäbischen Gerlingen stammende und in Diensten der britischen Church Missionary Society stehende Missionar und Sprachforscher Johannes Rebmann war im Mai 1848 der erste Europäer, der den Kilimandscharo gesehen und über die imposante Erscheinung des mit einer Schneedecke überzogenen Gipfels berichtet hatte (Hoffmann 2015). Seinen Ausführungen über das Vorkommen von Schnee im tropischen Afrika wurde im gelehrten Europa zunächst heftig widersprochen und sie wurden als Sinnestäuschung abgetan, nicht jedoch die Benennung des Gebirgsmassivs. Rebmann hat somit den Namen Kilimandscharo, wie wir ihn bis heute kennen, nach Europa gebracht. Doch es muss die Frage gestellt werden, ob diese überlieferte Bezeichnung (als vermeintliches Endonym) überhaupt korrekt ist. So führte er den Namen auf seine ersten Gewährsleute zurück, die Suaheli des Küstengebietes um Mombasa, wo er als Missionar stationiert war. In seinem Tagebuch findet sich unter den Eintragungen vom 7. April 1848, also noch vor der ersten Sicht auf den Berg, folgende Begriffserklärung: „Die Ableitung des Bergnamens Kilimandaro wäre also zu machen von Kilima da Aro, d. h. Berg der Größe, großer Berg“ (Rebmann 1997: 13). In den von seinem Amtsbruder und Kollegen Johann Ludwig Krapf publizierten Reiseerlebnissen Rebmanns fügte dieser als weitere Deutung hinzu, dass Kilimandscharo als „‘Berg der Karawane’ (Kilima = Berg, Dscharo = Karawane)“ zu verstehen sei. Diese Lesart sollte darauf hinweisen, dass der Berg Karawanen als weit sichtbare Landmarke dient (Krapf 1858: 73). Dass die Küstensuaheli möglicherweise die falschen Informanten waren, hat Rebmann bald selbst erkannt und führte in seinem Bericht weiter aus: Auf der ersten Reise hatte mich mein Führer falsch berichtet [sic], wenn er sagte, die Leute haben gar kein Wort für Schnee, noch wissen sie, was jenes weiße Ding eigentlich sei. Jetzt fragte ich die Dschaggas selbst, und ihre verschiedenen Erzählungen, die sie machten, z. B. wie der Kibo, wenn man ihn in das Feuer bringe, zu Wasser werde, gaben mir den Beweis, daß sie sehr wohl um die Sache wissen. (Krapf 1858: 73)
Zu diesen verschiedenen Erzählungen gehört auch die Version, der Berg sei unzugänglich, weil er ein im Innern von bösen Geistern bewohnter Gold- und Silberberg sei. Stattdessen führte Rebmann einen weiteren Namen ein: Kibo, wie ihn nach seiner nunmehrigen Einschätzung die Dschagga, die Bewohner des südlichen Bergmassivs, nennen. Kibo übersetzte er mit „Schnee“ bzw. „Kälte“, was auf die Schneebedeckung hindeutet (Rebmann 1997: 33). Dies ruft jedoch die Interpretation hervor, dass Kibo möglicherweise nicht zwingend als Toponym gelten muss. Eine Eingrenzung des Begriffes auf den Hauptgipfel wird
124 | Wolfgang Crom
von Rebmann namentlich nicht vorgenommen, denn seine Kartenskizze (Rebmann 1850) zeigt und benennt das schneebedeckte Gebirgsmassiv Kilimandjaro ohne weitere landschaftsnamentliche Gliederung der Gipfelzone. In seinen Aufzeichnungen finden sich auch keine Hinweise über die Benennung des zweiten Gipfels, den er aber ebenfalls beschreibt und der in der Karte von Petermann von 1859 gut erkennbar ist. Hingegen wird der dritte Gipfelbereich der SchiraKette bei Rebmann als eigenständiger Berg Mt. Shira abgebildet. Die oft unklare Zuordnung ist sicherlich nicht zuletzt auch eine Frage der Wahrnehmung durch die europäisch geschulten Filter der Missionare, was sowohl den Aufbau und die Verwendung der indigenen Sprachen als auch die Landschaftsbeschreibungen betrifft. Die Verständigung über Landschaftselemente zwischen den Europäern und ihren Gewährsleuten musste vielerorts scheitern, da Begriffe und, mehr noch, Toponyme nur bedingt in der erwarteten Form zur Verfügung standen oder sich entsprachen. Vielmehr waren die gewünschten Informationen, die schließlich Eingang in Karten gefunden haben und darüber verbreitet wurden, aus mündlichen Umschreibungen beider Seiten herauszulesen. Voigt (2012: 34) spricht in diesem Zusammenhang von der Umwandlung der „Sprachbilder in adäquate Kartenelemente“. Das von Rebmann und Krapf erstmals beschriebene Phänomen der verschneiten und vereisten Berge in Äquatorialafrika wurde durch die Reisen von Carl von der Decken bestätigt, die er 1861 zusammen mit dem Geologen Richard Thornton bzw. 1862 in Begleitung des Naturwissenschaftlers Otto Kersten zum Kilimandscharo unternahm. Auch wenn durch ihre Arbeiten die geomorphologischen Strukturen des Vulkanmassivs erstmals präzisiert werden, so bleibt die Unsicherheit in der Namensgebung bzw. -zuordnung. Sowohl in der von Heinrich Kiepert (1863) gezeichneten Karte zu von der Deckens ersten Reise, als auch in der Karte von Bruno Hassenstein (1868), basierend auf den Arbeiten von der Deckens mit Thornton und Kersten, wird dieser Hinweis auf den Schneeberg Kilima-Ndscharo entweder im Titel oder direkt beim Namen in der Karte wiedergegeben. In der Karte von Hassenstein wird der Kilima-Ndscharo mit dem Kibo der Wadschagga gleichgesetzt. Es werden bereits die beiden Hauptgipfel unterschieden, jedoch ohne ihnen eigene Toponyme zuzuordnen. Stattdessen werden sie schlicht als Grosser und Kleiner Kilima-ndjaro bzw. Gipfel bezeichnet. In der ebenfalls von Hassenstein nach Reiseberichten verschiedener Autoren erstellten Karte aus dem Jahr 1864 findet sich dagegen noch eine andere Zuschreibung: Schneeberg Kilima-Ndscharo der Wateita. Die von Rebmann bereits angesprochene Problematik der Benennung eines Objektes durch verschiedene Gruppen ist für geographische Namensforscher ein nur zu gut bekanntes Phänomen, das sich auch in den Karten der frühen
Koloniale Namen in ihrer Repräsentation auf Karten | 125
Forschungsreisenden in Ostafrika manifestiert. So findet sich in der von Oscar Baumann und Bruno Hassenstein 1894 konstruierten Karte zur Bezeichnung Kilima-Njaro noch das weitere, in Klammern gesetztes Toponym Dónyo Ebor i. e. Weisser Berg, nämlich ein geographischer Name der Massai. Damit wären drei Begriffe von vier verschiedenen Sprachgruppen für den höchsten Berg Afrikas überliefert: Kilima Ndscharo der Suaheli und Teita, Kibo der Dschagga und Dónyo Ebor der Massai. Es bleibt jedoch die Frage offen, ob mit den als Toponyme verwendeten Begriffen jeweils das gesamte Gebirgsmassiv oder nur der Gipfelbereich bzw. der Hauptgipfel gemeint ist. Die in den ersten Karten anzutreffenden Schreibweisen Kilima Ndscharo oder Kilima Njaro zeigen noch den Versuch der etymologischen Ableitung und der Aussprache an. Bis heute gibt es jedoch keine eindeutige Klärung des Toponyms Kilimandscharo. So spekuliert zuletzt Simo (2002) über die mögliche Übersetzung Kleiner Hügel von Njaro als Folge einer mittelbaren und damit fehlerhaften Informationserhebung (s. a. Hamann und Honold 2011: 59). So trifft wohl auch für die Benennung des höchsten Bergs Afrikas der häufig festzustellende Fall von Desinformation und Missverständnis durch Befragung zu: Was wurde Rebmann gesagt und was hat er verstanden? Es lässt sich wohl nicht mehr klären, ob Kilimandscharo ursprünglich überhaupt ein Toponym war, ob die Bewohner tatsächlich einen Namen für das gesamte Bergmassiv hatten, aber der für Europäer so exotisch klingende Name hat sich für die imposante Erscheinung des gesamten Vulkanmassivs etabliert.
3 Benennungspraxis von Hans Meyer Nachdem das Ringen um die Aufteilung Ostafrikas 1885 ein vorläufiges Ende genommen hatte, gehörte der Kilimandscharo zum Schutzgebiet des Deutschen Reiches. Neben dem Aufbau einer Verwaltung, der wirtschaftlichen Erschließung oder der militärischen Kontrolle war in Ostafrika insbesondere die wissenschaftliche Eroberung der schneebedeckten Berge in den Fokus geraten. Die Erstürmung des Gipfels wird durchaus als große nationale Aufgabe gesehen und als wissenschaftliches Forschungsprojekt unter der Leitung von Hans Meyer2 in Angriff genommen (vgl. Hamann 2008). Dieser wissenschaftliche Anspruch manifestiert sich dabei eindrucksvoll im Namensgut für die zahlreichen bislang unbekannten
|| 2 Hans Meyer (1858–1929) entstammte dem Verlagshaus Meyer in Leipzig. Der familiäre Wohlstand ermöglichte die Finanzierung seiner großen Reisen (Schröder 2005; Brogiato 2008).
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und deswegen auch unbenannten Landschaftselemente im Gipfelbereich des Kilimandscharo, da Meyer eine wahre Flut an Benennungen und Neuschöpfungen bei seinem Vordringen in die unbewohnten und nicht bewirtschafteten Höhen des Bergmassivs auslöste, die einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen.3 Zwar waren vor Meyer bereits einige Versuche zur Erstbesteigung des Gipfels unternommen worden, wobei man höchstens bis zur unteren Schneegrenze vordringen konnte, doch sind in den Karten dieser Unternehmungen keine Neuschöpfungen von Toponymen überliefert.4 Beim ersten Versuch erreicht Hans Meyer zusammen mit dem Vertreter der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft Ernst Albrecht von Eberstein auf ca. 4.500 m das Sattelplateau zwischen Kibo und Mawensi und stößt noch bis zur unteren Eisgrenze bei ca. 5.000 m vor. Die hierzu von ihm 1887 in Petermann’s Geographische Mitteilungen als Tafel 19 veröffentlichte Kartenskizze beinhaltet noch keine Toponyme, sondern lediglich beschreibende Hinweise auf markante Landschaftselemente wie Verwitterte Lavahügel, Lavaströme, Schneefelder, Gletscher, Asche etc., die in erster Linie der Landschaftsgliederung, dem Wiedererkennen und der Orientierung entlang der Aufstiegsroute dienen. Toponyme des Aktionsradius der Kolonialverwaltung sind im Kartenblatt nicht enthalten, da das dargestellte Gebiet oberhalb davon liegt. Der Kibo ist als Eisdom dargestellt.
3.1 Erste Appellativa Die Erstbesteigung des Kilimandscharo gelingt Hans Meyer gemeinsam mit dem österreichischen Bergführer Ludwig Purtscheller am 6. Oktober 1889. Nach dem Gipfelgang beschreibt er seine Tat als heroischen Akt: „Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze“ (Meyer 1890: 134).5 Er vermarktet seine Reisen durch die Veröffentlichung als
|| 3 Weiterführende Informationen zur Kartierung des Kilimandscharo s. Uhlig (1909); Klute (1921); Pillewizer (1941); Brunner (1989); Demhardt (2000); Brunner (2004); Sriguey und Cullen (2014). 4 Übersichtsdarstellungen über Erstbesteigungen s. Meyer (1890: 8–18) und http://kilimanjaro. bplaced.net/wiki/index.php?title=Erste_Besteigungen (aufgerufen am 30.03.2019). 5 Am westlichen Ende des Parks Sanssouci in Potsdam steht das unter König Friedrich II. von Preußen erbaute Neue Palais, es diente später vornehmlich Kaiser Wilhelm II. als Sommerresidenz. Einer der vier Festsäle ist als Grottensaal gestaltet und mit Mineralien, Muscheln oder Halbedelsteinen ausstaffiert. Inmitten dieser Wanddekorationen befindet sich ein Stein mit einem Hinweisschild, der ihn als Gesteinsprobe vom Hauptgipfel des Kilimandscharo-Massivs
Koloniale Namen in ihrer Repräsentation auf Karten | 127
spannende, populärwissenschaftliche Abenteuerberichte, denen Karten in verschiedenen Maßstäben beigegeben werden. Die von Bruno Hassenstein konstruierte Karte II6 zeigt eine zunehmende Dichte an Toponymen insbesondere auf der Südseite des Gebirges durch die Anzeige von Siedlungs- bzw. Herrschaftsgebieten der Dschagga sowie von Landschaftsnamen. Auffallend ist, dass es bis auf wenige Ausnahmen wie die Boma (mit Palisade befestigtes Gebäude bzw. Herrschaftssitz) oder die Stationen der Kolonialverwaltungen oder Missionen kaum Siedlungsnamen gibt.7 Dafür ist nun das hydrographische Netz recht gut erfasst, wobei eine periodische Wasserführung mit einer durchbrochenen Liniensignatur dargestellt wird. Hier finden sich zahlreiche endonymische Gewässernamen, die grundsätzlich unter Hinzufügung der Bezeichnung Bach als Gattungsname angegeben sind. Mit zunehmender Geländekenntnis ersetzt Meyer alsbald die wenigen mit exonymischen Namen belegten Fließgewässer entlang der Aufstiegswege der Forschungsreisenden mit inzwischen ermittelten Endonymen. Als Beispiel sei auf den Seneciobach hingewiesen, den er auch Schneequellbach nennt, aber als Muë-Bach (Meyer 1890: 117, 119) identifiziert, die Gattungsbezeichnung bleibt dabei erhalten. Das auffällige Vorkommen der durch die Kolonialmacht überlieferten endonymischen Benennungen der Bäche dürfte auf die Tatsache einer ausgeprägten Bewässerungswirtschaft der an der Südflanke siedelnden Dschagga zurückzuführen sein (vgl. Meyer 1900; Tagseth 2008). Ansonsten herrscht das für diesen Kartentypus übliche Bild mit Beschreibungen entlang vage punktierter Linien mit Begriffen wie Obere Kulturgrenze, Untere Urwaldgrenze oder Grasfluren statt der Verwendung von Signaturen für Bodenbedeckung oder Bodennutzung vor. Die Nordabdachung des Gebirges beinhaltet ausschließlich derartige Beschreibungen, die aus Beobachtungen aus der Ferne gewonnen bzw. von anderen Reisenden übernommen worden sind, ohne dass eine genauere Lokalisierung erfolgen konnte (Region
|| kennzeichnet. Der Erstbesteiger Hans Meyer hatte zwei Handstücke des Lavagesteins mitgebracht und eines davon dem Kaiser als Namensgeber für den nun höchsten Punkt Afrikas und Deutschlands geschenkt. Der Kaiser nahm die Ehrung gerne an und ließ den Stein dekorativ im Grottensaal anbringen, nachdem er ihn zunächst als Briefbeschwerer benutzt hatte. Doch in den 1950er Jahren verliert sich die Spur des Steins und es existieren mehrere Versionen über seinen Verbleib; wahrscheinlich wurde er schlichtweg gestohlen. Seitdem ziert ein anderer Lavastein, den eine Touristin aus Afrika mitgebracht haben soll, den frei gewordenen Platz. 6 Originalkarte des Kilima-Ndscharo 1:250.000. – In Meyer (1890). 7 Dieses Phänomen ist u.a. auch auf die für Europäer ungewöhnliche Benennungspraxis von Siedlungen durch Einheimische zurückzuführen. Demnach werden Dörfer nach dem Oberhaupt benannt, was bei Autoritätswechsel oder Ortswechsel des Oberhaupts zwangsläufig zu Irrtümern seitens der Europäer führt (s. Meyer 1900: 101f.).
128 | Wolfgang Crom
von Grasfluren und Stauden, obere und untere Urwaldgrenze, Grasige Plateaustufe mit ständigen Massai-Kraalen). Karte III8 zeigt erstmals ein detailliertes Landschaftsbild der Gipfelregion, obwohl manches nur erahnt werden konnte. Dabei weist die Karte dieselben wenigen Toponyme von Karte II aus, meist beschreibende Namen für auffällige Landmarken: Drillinge, Roter Mittelhügel, Roter Kessel oder Rote Mauer entlang der Route, die zur Orientierung dienten oder den Bergsteigern Lager und Schutz boten: Lavahöhle, Kibo Lager oder Viermännerstein. Die Karten zeigen bereits eine differenzierte Verwendung verschiedener Schrifttypen für unterschiedliche Kartenelemente wie Siedlungen, Siedlungs- oder Herrschaftsgebiete, Bewuchs oder naturräumliche Elemente.
3.2 Personenbezogene Toponyme Bemerkenswert sind die aber nun gut lesbaren und identifizierbaren personenbezogenen Toponyme im Gipfelbereich des Kibo und des Mawensi: Neben Höchste Spitze oder Südspitze findet sich am zweiten Hauptgipfel der Eintrag Purtscheller Spitze. Am Kibo sind neben Nordgletscher, Westspalte oder Eruptionskegel nun Hans-Meyer-Scharte, Ratzel-Gletscher und die bereits erwähnte Kaiser-Wilhelm-Spitze zu lesen (Karte 1). Diese Benennungen Purtscheller Spitze, Ratzel-Gletscher und Kaiser-Wilhelm-Spitze9 sind nicht als deutschsprachige Parallelnamen zu bereits bestehenden Endonymen gedacht, sondern es handelt sich um gewollte Neuschöpfungen für bislang unbenannte Landschaftselemente. Meyer (1890: 127) liefert für die von ihm vorgenommenen Einschreibungen auch Begründungen, u. a. Folgende: „Hier ernannte ich in dankbarer Erinnerung an einen verehrten Freund den überschrittenen ersten Gletscher des Kilimandscharo ‘Ratzel-Gletscher’“ oder er ehrt seinen Bergsteiger Ludwig Purtscheller, möglichweise um die Enttäuschung zu mildern, nicht den Gipfel des Mawensi erreicht zu haben. Die Hans-Meyer-Scharte wurde ursprünglich als Ostscharte auf dem Ringwall beschrieben; sie wurde nach ihm benannt, da sie bereits 1887 das unerreichte Ziel zum Aufstieg auf den Kibo war (Meyer 1890: 157). Es handelt sich dabei um einen Einschnitt im äußeren Kraterrand oberhalb des Ratzelgletschers. Bis zur nächsten Besteigung des Kilimandscharo durch Meyer 1898 sind in den folgenden Karten, die im Bestand der Kartenabteilung der Staatsbibliothek
|| 8 Spezialkarte des oberen Kilimandscharo. 1:85.000. – In Meyer (1890). 9 Ludwig Purtscheller (Bergsteiger, 1849–1900), Friedrich Ratzel (Geograph, 1844–1904), Wilhelm II. von Preußen (Deutscher Kaiser und König von Preußen, 1859–1941).
Koloniale Namen in ihrer Repräsentation auf Karten | 129
zu Berlin verfügbar sind, keine neuen Toponyme festzustellen, dafür ist in ihnen aber die geomorphologische Dreigliederung des Gebirges mit Kibo, Mawensi und Schira-Kette gut herausgearbeitet. Der nun klar definierte dritte Gipfelbereich ist nach der am südwestlichen Fuß des Kilimandscharo gelegenen Landschaft in der Sprache der Dschagga benannt.10 Die in dieser Zeit erarbeiteten Karten sind meist Kompilationen aus bereits publizierten Karten oder aus Berichten verschiedener Reisender zusammengetragen, der kartographische Fokus liegt in erster Linie auf Berichtigungen der Lage von Objekten. Die jeweiligen Quellen werden in der Regel im Titel angegeben.11 Die Ergebnisse der Reise von 1898 legt Meyer in seinem 1900 erschienenen Buch „Kilimandjaro“ dar, dem die von Paul Krauss bearbeitete „Spezialkarte des Kilimandjaro 1:100.000“ beigegeben ist (Karte 2). Vornehmliches Ziel dieser Reise ist die systematische Erforschung der Vergletscherung des Kibo, was durch die nun erfolgte Benennung einzelner Gletscher nachdrücklich belegt wird. An der Westseite des Kibo macht Meyer jetzt mehrere eigenständige Eisströme mit diversen, durch Felsgrate getrennte Gletscherzungen aus, die er nach bedeutenden Geographen, Geologen und Gletscherforschern Credner-, Drygalski- und Penck-Gletscher12 benennt (Meyer 1900: 174). Weiter südwestlich identifiziert Meyer in der tief eingeschnittenen, radialen Erosionsrinne des Vulkankegels, nach der damaligen geowissenschaftlichen Nomenklatur Barranco13 geheißen, zwei Gletscher, die er nach diesem Landschaftselement Kleiner und Großer Barranco-Gletscher (Meyer 1900: 181)14 bezeichnet. Am Südhang interpretiert er die glaziale Situation aus vier Gletschern mit sechs Gletscherzungen bestehend und benennt diese von West nach Ost wiederum nach bedeutenden Personen: Heim-, Kersten-, Decken- und Rebmann- Gletscher15 (Meyer 1900: 222). Südlich der nach ihm selbst benannten Hans-Meyer-Scharte ist im Vergleich zur
|| 10 Das Gouvernement von Deutsch-Ostafrika verwendete statt Schira den Landschaftsnamen Kibonoto bzw. Kibongoto der Suaheli (Meyer 1900: 186). 11 Vgl. Heymons 1891 (nach Höhnel und Meyer), Hassenstein 1893 (nach Meyer et al.) und Baumann 1894 (nach Fischer et al.). 12 Hermann Credner (1841–1913), Erich von Drygalski (1865–1949), Albrecht Penck (1858–1945). 13 In der Spezialkarte von 1890 heißt diese Rinne noch Westspalte. 14 Jaeger (1909: 129) spricht sich für die Verwendung des Begriffs Breschengletscher aus. 15 Albert Heim (Geologe und Glaziologe, 1847–1939), Otto Kersten (Geograph, 1839–1900), Carl Claus von der Decken (Forschungsreisender, 1833–1865), Johannes Rebmann („Entdecker“ des Kilimandscharo, 1820–1876). Kersten und von der Decken gelten als deutsche Pioniere der Kilimandscharo-Forschungen.
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Karte von 1890 durch Abschmelzvorgänge mit der Johannes-Scharte16 (Meyer 1900: 354) nun ein weiterer Einschnitt im östlichen Kraterrand zu sehen. Zudem ehrt Meyer auch bei dieser Reise seinen europäischen Begleiter mit einer entsprechenden Benennung. Der Bergmaler Ernst Platz wird Namenspate für einen markanten Vulkankegel nördlich der Schira-Kette: Platz-Kegel17 (Meyer 1900: 178). Weitere markante Felsen, die aus der Eisumklammerung der Gletscher herausragen und somit für Peilungen sehr geeignet sind, heißen nach den Kartographen Hassenstein und Ravenstein. 18 Da -stein bereits Bestandteil beider Familiennamen ist, wird keine weitere appellativische Gattungsbezeichnung angehängt. Ein weiteres auffälliges, geomorphologisch aber nicht weiter beschriebenes Landschaftselement benennt Meyer nach dem 1894 in Rombo ermordeten Geologen Carl Lent: Lentgruppe (Meyer 1900: 162).19 Doch nicht nur Geowissenschaftler werden von Hans Meyer mit der Verwendung ihres Nachnamens als Toponym geehrt, sondern auch um die koloniale Sache „verdiente“ Persönlichkeiten, seien es Missionare oder Politiker, finden sich nun in der Karte: Wissmann-Spitze (Meyer 1900: 155), Liebert-Spitze (S. 308), Krapf-Hügel, Volkens-Hügel (S. 114), Bismarck-Hügel, Moltke-Stein.20 Aus den literarischen Fundstellen geht jedoch nicht immer eindeutig hervor, ob es neue, eigene Wortschöpfungen von Hans Meyer sind oder ob er frühere Quellen benutzt. Bei den Objekten handelt es sich ebenfalls um auffallende Landmarken wie Hügel, Kegel oder Felsen, doch befinden sie sich nur vereinzelt im Gipfelbereich oder an besonders exponierten Stellen, sondern sie sind über das Kartenblatt verteilte Einzelerscheinungen.
|| 16 Hauptmann Kurt Johannes (1864–1913) hat 1898 den Kilimandscharo bis zum Rand des Kibo bestiegen. Nach ihm dürfte auch die Johannes-Schlucht, ein Seitental des oberen MuëBaches, benannt sein. 17 Ernst Platz (1867–1940). 18 Bruno Hassenstein (1839–1902). Mit Ravenstein wird gleich eine ganze KartographenDynastie angesprochen: Friedrich August (1809–1881), Ernst-Georg (1834–1913), Ludwig (1838–1915), Simon (1844–1932), Hans (1866–1936); wahrscheinlich ist Ernst-Georg gemeint. Ausschlaggebend für diese Benennung mag die Beobachtung von Geierraben (Corvus albicollis) gewesen sein, die zum Wortspiel anregten. 19 Carl Lent (Geologe sowie Begründer und Leiter der wissenschaftlichen KilimandscharoStation Marangu, 1867–1894). 20 Hermann von Wissmann (Afrikaforscher, Reichskommissar und Gouverneur von DeutschOstafrika, 1853–1905), Eduard von Liebert (Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, 1850–1934), Johann Ludwig Krapf (Missionar und Sprachforscher, 1810–1881), Georg Volkens (Geobotaniker, 1855–1917), Otto von Bismarck (Reichskanzler, 1815–1898), vermutlich Helmuth von Moltke (Generalfeldmarschall und Chef des Preußischen Generalstabs, 1800–1891).
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Die Verwendung von Personennamen verdienstvoller Glaziologen mag für Hans Meyer mehrere Beweggründe gehabt haben. Einerseits war diese Forschungsrichtung gerade erst begründet worden und hatte schon recht schnell solide Theorien und Lehrmeinungen hervorgebracht21, andererseits kann sie als Indiz für die eigene Standortbestimmung in dieser jungen Disziplin gewertet werden. Haben die ersten Europäer, die den Kilimandscharo gesehen haben, noch von einer Schnee- oder Firnbedeckung gesprochen, weist Meyer nun erstmals eine tropisch-ostafrikanische Vergletscherung mit ausgeprägter Glazialzeit und typischem Formenschatz nach. Somit kann er sich in die Riege der Glaziologen stellen, in dem er seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen der glazialen Landschaftsgenese als bedeutendstes Ergebnis seiner Forschungen am Kibo bewertet: „Jedenfalls erscheinen mir diese Ausblicke weitreichend genug, um die Entdeckung der einstigen großen Kibovergletscherung für das wichtigste Ergebnis meiner diesjährigen Expedition zu halten“ (Meyer 1900: 227). Meyer, der von seiner Ausbildung her Nationalökonom war, fühlte sich jedoch mehr zur Geographie hingezogen. Die Diskussion einer Glazialzeit der tropischen Hochgebirge mit dem dazugehörenden Formenschatz sollte neben den landeskundlichen Beschreibungen als einer seiner wichtigsten Beiträge wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang sei zur Vervollständigung auf den BaumannHügel und den Kersten-Hügel22 hingewiesen, mit denen zwei weitere geographische Pioniere, unabhängig von den Benennungen durch Hans Meyer, zu Ehren gekommen sind. Die nach ihnen benannten Vulkankegel im Siedlungsgebiet der Massai südöstlich des Kilimandscharo-Massivs finden sich ab 1890 in verschiedener Form in mehreren Karten, ab 1910 jedoch nur noch in Klammern gesetzt unter den Endonymen Boro und Vilima Viwili.23 Diese beiden Beispiele sowie das unter 3.1 angeführte Vorkommnis des Muë-Bach zeigen eine frühe Abkehr von der Verwendung exonymischer Neuschöpfungen in den amtlichen Karten der Kolonialmacht und eine Hinwendung zu vorhandenen Endonymen. Das lässt die Frage nach der Dauerhaftigkeit der im Gipfelbereich des Kilimandscharo festgestellten Namen stellen.
|| 21 Hermann Credner hatte 1880 einen Aufsatz Ueber Glazialerscheinungen in Sachsen publiziert, Erich von Drygalski hatte Anfang der 1890er Jahre zwei Grönlandexpeditionen geleitet, Albrecht Penck hatte 1882 für die Entstehung der Landschaftsformen des nördlichen Voralpenlandes den Begriff der glazialen Serie entwickelt und Albert Heim hatte 1885 das Handbuch der Gletscherkunde veröffentlicht. 22 Oskar Baumann (1864–1899), Otto Kersten (1839–1900). 23 Beispielsweise in Heymons (1891), Höhnel (1892) oder Hassenstein (1893); die Endonyme z. B. im Großen deutschen Kolonialatlas der Kolonialabtheilung des Auswärtigen Amtes (1910, Blatt 18).
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4 Internationaler Gebrauch der deutschen Namen Von besonderem Interesse ist nun die Frage, inwieweit diese Einschreibungen eine internationale Anerkennung oder Entsprechung gefunden haben. Dazu bietet sich ein Blick in das aus 35 Blättern bestehende Kartenwerk „Karte von Deutsch-Ostafrika 1:300.000“ an, das im Jahr 1911 nach 16-jähriger Bearbeitungszeit fertiggestellt werden konnte und im Auftrag des Kolonialkartographischen Instituts bei der Geographischen Verlagshandlung Dietrich Reimer erschienen ist (Passarge 1912; Brunner 1989; Demhardt 2000: 172ff.; Brunner 2004). Die Qualität dieses Kartenwerkes mit seinem klaren, gut lesbaren Kartenbild und einer ausgezeichneten Geländedarstellung galt als wegweisend, so dass noch vor Abtretung des Territoriums an den Völkerbund mit dem Nachdruck durch den britischen Generalstab und der britischen Vermessungsbehörde begonnen wurde (Geographical Section General Staff 1915ff.). Anerkennend hebt der Vermerk auf den Kartenblättern hervor: „NOTE [Fettdruck und Majuskeln im Original]: Copied from a German map on the same scale“.24 Somit gibt ein Vergleich zwischen diesen beiden Ausgaben Auskunft über die Nachhaltigkeit der von deutscher Seite vergebenen Toponyme (Karten 1 und 2, s. Karten 2 und 3 im Beitrag Crom in diesem Band). Das Gebiet des Kilimandscharo ist jeweils auf Blatt B 5 zu finden. Das Kartenbild des britischen Kartenwerkes ist mit der deutschen Ausgabe auf den ersten Blick erwartungsgemäß identisch, weist aber bei näherer Betrachtung insgesamt erheblich weniger Toponyme auf, auch weniger Endonyme. Keine Entsprechung in der britischen Ausgabe findet die Bezeichnung des Gipfels, die Kaiser-Wilhelm-Spitze, er bleibt namenlos und wird lediglich durch einen Punkt und der Höhenangabe angegeben.25 Ohnehin ist der Gipfelbereich nahezu ohne Toponyme dargestellt, einzig der Credner Glacier ist eingetragen. Das mag dem kleinen Maßstab geschuldet sein, denn auch in der deutschen Ausgabe finden sich nur wenige Angaben in abgekürzter Schreibweise: K.Wilh.-Sp., Ratzel-Gl., Credner-Gl. und H.-Meyer-Schte.26
|| 24 Die Hauptgründe für die Anfertigung des Plagiats dürften jedoch politisch-militärischen Ursprungs sein, denn mit Beginn des Ersten Weltkriegs entbrannten auch sofort Kämpfe um die Vorherrschaft in Afrika (Zollmann 2017: 257f.). 25 Offiziell besteht der Name aber bis zur Unabhängigkeit Tansanias im Jahre 1961, eine Neubenennung wird erst in diesem Zusammenhang um 1963 vorgenommen, das Toponym besteht seitdem aus einer Kombination aus Endonym und englischem Gattungsbegriff: Uhuru-Peak (Freiheits-Spitze). 26 Kaiser-Wilhelm-Spitze, Ratzel-Gletscher, Credner-Gletscher, Hans-Meyer-Scharte.
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Hingegen sind die personenbezogenen Toponyme wie Wissmann Peak, Purtscheller Peak, Liebert Peak, Krapf Hill und sogar der Bismarck Hill in der Karte zu finden. Einigen Vertretern des deutschen Kolonialreichs zollt man offenbar von britischer Seite durchaus Respekt, seien es nun die wissenschaftlichen oder die kolonialpolitischen Verdienste, die mit der Beibehaltung des Eigennamens Akzeptanz finden. Die Gattungsbezeichnungen des Namens werden dabei, wie auch bei anderen Toponymen des Kartenblattes, übersetzt. Es ist jedoch festzustellen, dass keine abschließende redaktionelle Bearbeitung des enthaltenen Namensgutes stattgefunden haben kann, denn es sind die Bezeichnungen Platz-Kegel oder Lentgruppe zu lesen. Schließlich finden sich viele weitere Beispiele auch bei nicht auf Personen bezogenen Toponymen wie Rote Mauer, Bastions Bach, Schiranadel, Europäer-Rücken oder Galuma-Höhle sogar mit Umlauten, bei denen selbst die Gattungsbezeichnungen nicht übersetzt worden sind. Die Übernahme der aus der deutschen Kolonialphase stammenden Toponyme findet sich auch in dem Kartenwerk 1:50.000, das aus Befliegungen der Royal Air Force durch das Directorate of Overseas Surveys entstanden ist.27 Das hier interessierende Gebiet ist 1964 als „Sheet 56/2 Kilimanjaro“ erschienen. In diesem Maßstab sind alle Namen und Appellativa, die bislang angeführt wurden, mit durchgehend englisch übersetzten Gattungsbegriffen zu finden, sodass die von Ormeling (2003: 50) postulierte Phase g) des „Replacement of German names by English names after WW I“ mit einer gewissen Verzögerung festgestellt werden kann. Die von Meyer begründeten deanthroponymischen Konstruktionen am Kilimandscharo sind nicht nur, mit der bereits geschilderten Ausnahme des Gipfels, bis heute in Gebrauch, diese Form der Einschreibungspraxis mit Namen von Wissenschaftlern oder anderen verdienstvollen Persönlichkeiten wird sogar fortgesetzt. Dies lässt sich an Karten in großem Maßstab ablesen, die nach 1900 erschienen sind. Zunächst unternimmt der Geograph Fritz Jaeger 1906/07 zusammen mit seinem Vetter Eduard Oehler eine ausgedehnte Forschungsreise zum Kilimandscharo, deren Ergebnisse 1909 in 2 Karten publiziert sind (Jaeger 1909). In der „Kartenskizze des westlichen Kibo“ (ca.1: 40.000) finden sich nun auch folgende auf Personen bezogene Toponyme: Lentgrat als östliche Fortsetzung der Lentgruppe, Kleiner Penck-Gletscher als eigenständige Gletscherzunge, UhligGletscher28 als eigenständiger Gletscher zwischen Penck-Gletscher und Kl.Breschen-Gletscher (Barranco-Gl.) identifiziert, Oehler-Grat und das daran an-
|| 27 East Africa 1:50.000 (Tanganyika) ; series Y 742. Die Befliegungen fanden in den 1950er und 1960er Jahren statt, die Kartenblätter wurden ab 1963 herausgegeben. 28 Carl Uhlig (Geograph, 1872–1938).
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schließende Oehler-Tal29 oder Hans Meyer Grat. Dabei handelt es sich um einen Lavastrom, der von Meyer 1898 aus der Ferne richtig diagnostiziert worden ist, was Jaeger dazu veranlasst, diesen Grat nach ihm zu benennen (Jaeger 1909: 128f.). Mit den Toponymen Oehlergrat und Oehlertal wird zudem die Ehrbekundung des Reisebegleiters fortgesetzt. Oehler beteiligt sich 1912 an einer weiteren Besteigung des Kilimandscharo, nun mit dem Geographen Fritz Klute. Die Ergebnisse dieser Forschungsreise können aufgrund des Ersten Weltkriegs aber erst 1920 bzw. 1921 publiziert werden (Klute 1920 und 1921). Die zugehörige „Karte der Hochregion des Kilimandscharo-Gebirges“ (1:50.000) benennt den bisherigen Penck-Gletscher nun als Großen Penck-Gletscher, um ihn vom Kleinen Penck-Gletscher eindeutig zu unterscheiden (s. Karte 4 im Beitrag Crom in diesem Band). Die bei Jaeger und Klute neu anzutreffenden Toponyme sind eine Folge der genaueren Vermessung und Analyse der glazialen Erscheinungen, aber auch der sich verändernden Gletscherlandschaft aufgrund der bereits feststellbaren Abschmelzvorgänge. Durch den Rückgang und die Zerteilung der Eismassen werden neue Landschaftselemente sichtbar30 oder bisher markant aus dem Eismantel herausragende Erscheinungen sind in der Umgebung der nun hervortretenden Gesteinsablagerungen nicht mehr wahrnehmbar. So entschwinden der Ravenstein und der Hassenstein schon bald den Karten. Im Bereich des Mawensi sind auf der Karte von Klute und Oehler nun die Toponyme Neumann-Turm und Neumann-Tal zu finden, die möglicherweise dem Ornithologen Oscar Neumann (1867–1946) zuzuordnen sind, und für den bislang nur als Höchste Spitze bezeichneten Gipfel wird der Name Hans-Meyer-Spitze eingeführt. Die Erforschung des geologischen Aufbaus und des Vulkanismus (Downie und Wilkinson 1972) sowie der Glazialgeschichte und der Massenbilanz des Eises am Kilimandscharo (Cullen et al. 2013: 423) verwendet bis heute die von Meyer, Jaeger und Klute eingeführten Toponyme. Aufgrund detaillierter Untersuchungen, neuer Aufnahmemethoden und der morphodynamischen Entwicklungen konnten aber weitere Gletscher definiert werden, von denen jedoch nur der im Innern des Kibo liegende Furtwängler-Gletscher nach einer Person benannt wird. Namensgeber ist Walter Furtwängler31, der 1912 als Erster vom Gipfel des Kilimandscharo mit Skiern abgefahren ist. Meyer hatte diesen Gletscher
|| 29 Eduard Oehler (Forschungsreisender, 1881–1941). 30 Die bei Klute und Oehler zwischen Johannes-Scharte und Ratzel-Gletscher eingezeichnete Südscharte wird später nach dem britischen Ingenieur und Geographen Clemens Gillman (1882–1946) Gillman‘s Point benannt. 31 Walter Furtwängler (Bergsteiger und Kunsthistoriker, 1887–1967).
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noch mit dem Barranco-Gletscher in Verbindung gebracht.32 Schließlich benennt die Regierung Tanganjikas 1954 den inneren Aschekegel im Kibo Reusch-Krater, um damit an die 25. Besteigung des Gipfels durch den Missionar und Ethnologen Richard Reusch zu erinnern.33
5 Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Hans Meyer bei der Vergabe von Namen für einzelne und herausragende Landschaftselemente, die nicht ausschließlich als Wegmarkierung oder Lager34 für eine Expedition eine Orientierungsfunktion hatten, besondere Praktiken anwendet. So benennt er die einzelnen von ihm näher untersuchten Gletscher am Kibo nach Glaziologen oder verdienten Entdeckern. Er ehrt auch seine Reisebegleiter, andere Wissenschaftler oder Personen aus der Kolonialverwaltung mit der Benennung von Bergspitzen, diese aber zumeist in etwas abseits gelegenen Gebieten. Diese Vergabepraxis insbesondere bei der Benennung neuer Gletscher wird von nachfolgenden Wissenschaftlern auch anderer Nationen teilweise fortgeführt. Abschließend sei ein Blick in einige aktuelle Trekkingkarten35 geworfen, um auch in ihnen ein Fortbestehen der personifizierten Toponyme zu belegen. Je nach Maßstab ist tatsächlich eine Auswahl dieser Namen mit englischer Übersetzung der Gattungsbegriffe zu finden. Im Bereich der Schira-Kette weisen sie als Toponym den Klute-Peak36 auf, der in keiner der hier behandelten deutschen Karten vorkommt. Darüber hinaus sind in einigen dieser Karten zudem die Bismarck Towers, bzw. in abweichender Schreibweise auch Bismark Towers, am südöstlichen Kraterrand des Kibo markiert, ohne dass es eine vorherige Ent-
|| 32 Der Arrow-Gletscher bezeichnet einen Rest des Kleinen Barranco-Gletschers und ist demnach nicht mit dem Kolonialmachthaber Joachim von Pfeil (1857–1924) in Verbindung zu bringen, während Diamond- und Balletto-Gletscher oberhalb des Heim-Gletschers zur Breschenwand hin lokalisiert werden (Cullen et al. 2013: 424f.). 33 Richard Reusch (1891–1975). Bei seiner Besteigung im Jahr 1926 entdeckt er den gefrorenen Kadaver eines Leoparden (Leopard Point). Dieses Motiv verwendet Ernest Hemingway in seiner erstmals 1936 erschienenen Kurzgeschichte The Snows of Kilimanjaro. 34 Für Höhlen, die seinen Expeditionen als Lager dienten und in denen er Spuren einer temporären Nutzung durch indigene Jäger entdeckte, übernahm er vorhandene Endonyme seiner Träger, soweit diese existierten: Mbassa-Höhle (Meyer 1900: 215), Nguara-Höhle (S. 126 und 153), Msairo-Höhle (S. 160), Galuma-Höhle (S. 165). 35 Loch (2007); Greulich (2008); Wirth (2011); Szyczak (2012). 36 Fritz Klute (Geograph und Glaziologe, 1885–1952).
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sprechung in deutschen Karten gegeben hätte. Doch sie belegen auch die eingangs beschriebene Problematik der Übersetzungsfehler aufgrund mangelnder Kenntnisse oder Verständigung. So wird der nach dem Bergmaler Ernst Platz benannte Kegel in Unkenntnis der Einschreibepraxis und der etymologischen Ableitung wörtlich übersetzt: Cone Place. Die Quelle dieser Missverständnisse ist jedoch amtlich, das Toponym entstammt dem 1964 erschienenen „Sheet 56/1 West Hai“ des bereits genannten Kartenwerkes „East Africa 1:50.000 (Tanganyika) series Y 742“. Auf Blatt 56/2 Kilimanjaro dieses Kartenwerks findet sich zudem die Verballhornung von der Wissmann-Spitze zu Weissman-Peak.
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Karte 2: Ausschnitt aus der Spezialkarte des Kilimandjaro 1:100.000. Aus Hans Meyer 1900. Gezeichnet von Paul Krauss. (SBB: Us 1109/51).
Sandra Herling
Hotelnamen in den französischen Kolonien Afrikas und Asiens Zusammenfassung: In den afrikanischen und asiatischen Kolonien Frankreichs kristallisierte sich im 20. Jh. zunehmend eine Tourismusbranche heraus, die mit dem Ausbau von zahlreichen Unterkünften einherging. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag aus mikrotoponomastischer Perspektive mit der Benennung von Hotels. Im Mittelpunkt des Interesses soll sowohl die Struktur als auch die Benennungsmotivik stehen. So lassen sich beispielsweise Hotelnamen mit Bezug auf die Kolonialmacht Frankreich wie Hotel France beobachten, aber auch Namen, die auf das eigentliche Kolonialgebiet referieren wie z. B. Hotel Afrique. Schließlich wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich geografisch bedingte Unterschiede (zwischen Asien und Afrika) in der Benennungspraxis touristischer Unterkünfte ausfindig machen lassen. Schlagwörter: Afrika; Asien; französische Kolonien; Hotelnamen; koloniale Mikrotoponyme
1 Einleitung In den französischen Kolonien lässt sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein wirtschaftlich orientiertes Phänomen beobachten, nämlich die Entwicklung des Tourismus. Obwohl sich das französische Kolonialreich seit dem 16. Jahrhundert auf verschiedenen Kontinenten etablieren konnte, konzentrierte sich der Tourismus in seinen Anfängen nur auf bestimmte Regionen Afrikas und Asiens: Im Zeitraum von 1870 bis 1880 kristallisierte sich beispielsweise das algerische Atlasgebirge zu einem Zentrum des Wintersporttourismus heraus (vgl. Zytnicki 2013: 98). Zeitgleich wurden auch die beiden anderen Länder des Maghreb, Tunesien und Marokko, bzw. ihre archäologischen Sehenswürdigkeiten und königlichen Bauten als Erholungsorte für französische Beamte beworben (vgl. Zytnicki und Kazdaghli 2015). Neben Kultur-, Bade-, und Wintersporturlaub ließen französische Reiseveranstalter seit den 1920er Jahren die Sahara als Rei-
|| Sandra Herling, Universität Siegen, Philosophische Fakultät – Romanisches Seminar, AdolfReichweinstr. 2, 57076 Siegen, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-007
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seziel aufblühen. Der Schwerpunkt lag hier auf dem Reisen mit dem Auto. Einer der Initiatoren war beispielsweise der Automobilhersteller André Citroën. Organisierte Touren durch die maghrebinischen Sahararegionen ließen Touristen aus der Metropole sowohl Wüstenlandschaften als auch kulturell bedeutende Städte entdecken (vgl. Murray 2000: 95). In den 1920er Jahren begann Frankreich den Tourismus auch in anderen Teilen Afrikas zu fördern: Im Zentrum des Interesses standen nun subsaharische Gebiete – in zeitgenössischen Texten kolonialen Diskurs häufig als Afrique noire bezeichnet. Beworben wurde die unberührte tropische Natur, die auf Safaritouren entdeckt werden sollte. Die französische Tourismusbranche versuchte aber auch das Interesse von Reisenden mit Affinität zur Großwildjagd zu wecken. Bezeichnenderweise findet man in Reiseführern neben Beschreibungen der Natur auch ausführliche Darstellungen zu Jagdmöglichkeiten auf exotische Tiere. Als Beispiel seien zwei Auszüge eines Reiseführers zu Französisch-Äquatorialafrika aus dem Jahre 1931 angeführt. Bezüglich der jagbaren Tiere in der Elfenbeinküste heißt es: „Dans les savanes de la haute Côte d’Ivoire, on peut chasser les différentes sortes d’antilopes, le bœuf sauvage, le phacochère, etc. Dans les rivières, on peut tirer le caïman et quelquefois l’hippopotame“ (Guide des Colonies Françaises 1931: 39). Teilweise erfolgten auch konkrete Hinweise zur Jagdtechnik: „On tire le lion au défaut de l’épaule. C’est le meilleur coup, comme toujours. Le coup au cerveau donne un résultat foudroyant, mais il exige beaucoup de sûreté“ (Guide des Colonies Françaises 1931: 60). Der Reiz der Exotik spielte schließlich auch in der Tourismuswerbung für die asiatischen Kolonialgebiete Frankreichs eine bedeutende Rolle. Zeichnete sich Ende des 19. Jahrhunderts in Indochina (frz. Indochine française) (offiziell auch Union indochinoise bezeichnet: umfasste heutiges Laos, Kambodscha, Vietnam und Teile der chinesische Provinz Guangdong) noch eher ein Individualtourismus ab, nahm der Fremdenverkehr Anfang des 20. Jahrhunderts stärker zu. Die landschaftlichen und archäologischen Schönheiten – „les beautés naturelles et archéologiques“, wie es im Petit Guide Indochine (1930: 12) hieß – sollten Touristen aus der Metropole den Anreiz geben, die asiatischen Kolonialgebiete besuchen zu wollen. Darüber hinaus wurde wie im subsaharischen Afrika allmählich ein Jagdtourismus etabliert. Manche Hotels spezialisierten sich sogar auf diese touristische Zielgruppe. In diesem Zusammenhang sei eine Werbeanzeige eines im heutigen Kambodscha gelegenen Hotels angeführt, in der die wildreiche Gegend angepriesen wird. Laut Werbetext geht der Eigentümer sogar selbst der Jagd nach (Guide Touristique – Les grandes chasses en Indochine 1937: s.p.):
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Abbildung 1: Werbetext für ein Jagdhotel in Kambodscha (Guide Touristique – Les grandes chasses en Indochine 1937: s.p.).
Die expandierende Tourismusbranche hatte unweigerlich zur Folge, dass sich eine Infrastruktur entwickelte, die neben gastronomischen Betrieben auch zahlreiche Unterkünfte für Reisende zur Verfügung stellte. Vor diesem Hintergrund setzt sich der vorliegende Beitrag zum Ziel, die Benennung von Hotels in den damaligen französischen Kolonien Afrikas und Asiens aus mikrotoponomastischer Perspektive zu untersuchen. Ein Blick auf die Forschungsliteratur zeigt jedoch, dass die Erforschung kolonialer Mikrotoponyme in der Romanistik bisher kaum Berücksichtigung fand. In der deutschsprachigen Romanistik liegen keine Beiträge vor, während Mikrotoponyme in der französischsprachigen Romanistik durchaus auf Interesse gestoßen sind: Beispielsweise untersucht Siblot (2006) die Benennung von Straßen in der algerischen Hauptstadt. Atoui (2005) setzt in seiner Studie zu Straßennamen in Oran (Algerien) sowohl die koloniale als auch postkoloniale Benennungspraxis ins Zentrum des Interesses. Den Namenwechsel von kolonialer zur postkolonialen Ära thematisieren gleich verschiedene Beiträge: Merbouh (2011) widmet sich den Straßennamen in der algerischen Stadt Sidi-Bel-AbbèsVille. Boumedini und Hadria beschäftigten sich mit Namen von Straßen in Oran (Algerien). Es lässt sich zweifelsohne ein Forschungsschwerpunkt zu Algerien beobachten, jedoch liegen auch Beiträge zu anderen Gebieten des französischen Kolonialreiches vor: Hassa (2016) untersucht in seiner Studie Odonyme in Fès (Marokko), während Bigon (2008) sich der senegalesischen Stadt Dakar widmet. Einen Überblick zu den Benennungsmotiven von Straßen in den kolonialen
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Hauptstädten Französisch-Westafrikas gibt schließlich Almeida-Topor in ihrem Beitrag von 2016. Der kurze Überblick zeigt deutlich, dass ein bestimmter Typus von Mikrotoponymen, nämlich Straßennamen, im Mittelpunkt der Forschung steht. Vor dem Hintergrund dieser Fakten können zahlreiche Forschungsdesiderata formuliert werden. Sowohl Studien zu weiteren Typen von Mikrotoponymen (wie z. B. Gebäudenamen) als auch ein kontrastiver Vergleich von Mikrotoponymen in verschiedenen Regionen fehlen. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Versuch, einen Beitrag zur Erforschung einer bestimmten mikrotoponymischen Unterklasse, nämlich der Hotelnamen, zu leisten. Im Zentrum der nachfolgenden Darstellungen stehen verschiedene Fragestellungen, die zum einen eine strukturlinguistische Perspektive einnehmen: Welche morphosyntaktische Struktur weisen touristische Unterkünfte in den ehemaligen Kolonien auf? Gibt es Auffälligkeiten hinsichtlich der Sprachenwahl? Zum anderen können die strukturlinguistisch gewonnen Ergebnisse einen Rahmen für weitere eher pragma- bzw. soziolinguistische Fragestellungen bieten: Welche Benennungsmotive liegen zugrunde? Welche geografisch bedingten Unterschiede lassen sich erkennen? Inwiefern unterscheiden sich – vor allem benennungsmotivischer Art – die Hotelnamen in den Kolonien von denjenigen in der Metropole. Insbesondere die letztgenannten Forschungsinteressen können Rückschlüsse auf unterschiedliche Kolonisierungsprozesse (z. B. Stützpunktkolonien, Siedlungskolonien etc.) und das Selbstverständnis der jeweiligen Kolonialmacht ermöglichen. Aufgrund der Tatsache, dass sich das Korpus auf die koloniale Zeit – wie im folgenden Kapitel näher erläutert wird – bezieht, ist das primäre Ziel des Beitrags, mögliche Tendenzen in der kolonialzeitlichen Benennungspraxis selbst nachzuzeichnen. Erst vor diesem Hintergrund könnte in weiteren Studien ein weiteres Forschungsdesiderat, nämlich ein Vergleich mit post-kolonialen Benennungspraktiken, aufgegriffen werden. Die Analyse der Hotelnamen bezieht sich geografisch betrachtet auf diejenigen Kolonien, in denen der Tourismus – wie eingangs skizziert wurde – eine bedeutende Rolle spielte. Zum einen sollen die Hotelnamen in den MaghrebStaaten, die seit dem 19. Jahrhundert bis 1958/1960 zum französischen Kolonialreich gehörten, betrachtet werden. 1830 nahm Frankreich Algerien in Besitz; die Unabhängigkeit erfolgte 1960. Die beiden nordafrikanischen Nachbarländer erhielten jedoch nicht den politischen Status einer Kolonie, sondern wurden als Protektorate ins französische Kolonialreich eingegliedert: Tunesien im Jahre 1881 und Marokko 1912. Beide Länder wurden schließlich 1958 unabhängig. Zum anderen werden Daten aus dem Gebiet Französisch-Westafrika (Afrique Occidentale française) und Französisch-Äquatorialafrika (Afrique-Équatoriale
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française) in die Analyse eingebunden. Französisch-Westafrika war eine koloniale Regierungseinheit, die von 1895 bis 1960 die heutigen westafrikanischen Länder Senegal, Niger, Mali, Burkina Faso, Mauretanien, Guinea, Togo sowie die Elfenbeinküste umfasste. Das Kolonialgebiet Französisch-Äquatorialafrika mit den heutigen Staaten Tschad, Gabun und Zentralafrikanische Republik wurde 1910 gegründet und blieb bis 1958 bestehen. Schließlich wurden auch Namendaten in den asiatischen Kolonien, d. h. in Französisch-Indochina (Indochine française), erhoben. Die Gründung der Kolonie Französisch-Indochina geht auf das Jahr 1887 zurück. Die darin eingegliederten Länder Vietnam, Kambodscha und Laos wurden schließlich 1954 wieder unabhängig (zu den politischen Daten vgl. Bancel et al. 2007: 58–60). Im Folgenden soll zunächst die konkrete Methode der Datenerhebung näher erläutert werden, bevor im Anschluss die Analyse der Hotelnamen erfolgt.
2 Datenbasis Als Datenbasis für die Erforschung kolonialer Toponyme können verschiedene Quellen herangezogen werden: Reise- bzw. Entdeckerberichte eignen sich nicht nur für die Inventarisierung der Ortsnamen, sondern bieten darüber hinaus wertvolle Einblicke in die Benennungspraxis, da häufig mit den Beschreibungen der Reise und den neu entdeckten Gebieten meta-onymische Reflexionen einhergehen (vgl. Herling 2019: 230). Ein Beispiel aus einem Reisebericht von René Goulaine de Laudonnière, der Mitte des 16. Jahrhunderts den Versuch unternahm, in Florida eine französische Kolonie zu etablieren, soll dies verdeutlichen: Laudonnière bemerkte bei seiner Ankunft in einer Flussmündung eine große Anzahl von Delfinen, die ihn dazu veranlasste das Gewässer Rivière des Dauphins zu nennen. Im Tagebuch heißt es: „je nommay ceste rivière, la Rivière des Dauphins, pour autant qu’à mon arrivee, j’y avois vu une grande quantité de dauphins, qui s’esgayoient en l’embouchure“ (Laudonnière 1586: 37). Ein weiteres Beispiel wäre die Benennung eines Kaps zu Ehren Frankreichs: „il appela Cap Français en l’honneur de notre France“ (Laudonnière 1586: 15). Die Beispiele zeigen, dass Reise- bzw. Entdeckerberichte eine lohnenswerte Quelle für toponomastische Fragestellungen, insbesondere für die Frage nach dem ausschlaggebenden Moment des Benennungsmotivs, darstellen. Neben Reiseberichten können als Datengrundlage für ein toponomastisches Korpus auch Karten ausgewertet werden. Für das französische Kolonialimperium liegen seit dem 16. Jahrhundert Karten zu den eroberten Gebieten vor, auf die mittlerweile in der Bibliothèque Nationale de France auch online zugegriffen
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werden kann.1 Seit Anfang des 20. Jahrhunderts stehen außerdem Kolonialatlanten (z. B. Pollacchi 1929) zur Verfügung. Die genannten Quellen für französischsprachige Kolonialtoponyme ermöglichen insgesamt gesehen eine Inventarisierung von Namen zahlreicher geografischer Objekte wie Siedlungen, Dörfer, Inseln, Flüsse, Berge, Täler, Häfen, Küsten, Landspitzen, Felsen, Riffe, Buchten, Kaps, Schluchten, Sandbänke etc. (vgl. Herling 2018: 287; Herling 2019: 230). Vereinzelt fokussieren koloniale Karten auch Städte, wie es beispielsweise bei dem kartographischen Werk von Guillaume Dheulland aus dem Jahre 1744 mit dem Titel Plan de la NouvelleOrléans, sur les manuscrits du Dépôt des cartes de la marine der Fall ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bestimmte Typen von Toponymen sehr gut anhand des kolonialen Kartenmaterials recherchierbar sind. Insbesondere Oikonyme wie Siedlungsnamen oder Anoikonyme wie Namen von Riffen, Schluchten etc. sind sowohl auf kolonialen Karten als auch in den Reiseberichten dokumentiert. Zu betonen ist, dass Kolonialatlanten für die kolonialtoponomastische Forschung ein leicht zugängliches und datenreiches Material darstellen. Problematisch ist jedoch die Erhebung bestimmter Mikrotoponyme wie beispielsweise Gebäudenamen, die eben nicht auf kolonialem Kartenmaterial verzeichnet sind. Schulz und Aleff (2018: 127) fassen die Problematik der Datenerhebung von Mikro- und Makrotoponymen treffend zusammen: Während das Inventar kolonialer Makrotoponyme verhältnismäßig gut in etablierten Produkten der kolonialzeitlichen wissenschaftlichen Kolonialkartographie dokumentiert ist und erhoben werden kann, müssen von unterschiedlichen Akteuren der deutschen Kolonialmacht gebildete und verwendete Mikrotoponyme erst in umfangreichen Recherchen aus unterschiedlichsten Quellenbeständen ermittelt werden. Dazu ist die systematische Sichtung von Amtsblättern und Zeitungen, von zum Teil handgezeichneten und unikal überlieferten Karten sowie die Durchsicht von Fotoarchiven, historischen Postkartenbeständen, Reiseberichten und Memoiren in Archiven und Bibliotheken erforderlich.
Was Schulz und Aleff für den Kontext des deutschen Kolonialismus konstatieren, kann auf die Erhebungssituation französischer Daten ohne Einschränkung übertragen werden. Für die folgende Analyse mussten folglich viele unterschiedliche Quellen konsultiert werden: Zeitgenössische Reiseführer, die eine Auflistung zu touristischen Unterkunftsmöglichkeiten bieten, sind: Guide Michelin Maroc Algérie Tunisie, 1929 Petit Guide illustré – Indochine, 1930 Guides des Colonies Françaises – Afrique Française, 1931 || 1 https://www.bnf.fr/fr (zuletzt aufgerufen am 11.05.2020).
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Guide Touristique- Les grandes chasses en Indochine, 1937 Guid’ A.O.F. – Afrique Occidentale Française, 1958 Daten zu Hotelnamen können auch aus den Jahresberichten zur wirtschaftlichen Lage in den Kolonien erhoben werden. Diese eignen sich als Quelle für Mikrotoponyme, da alle errichteten (und benannten) Gebäude verzeichnet wurden: Annuaire général de l’Indochine française, 1901–1925 Annuaire de l’automobile et du tourisme au Maroc, 1937 Eine Postkartensammlung zu Hotels (sowie zu Kofferaufklebern) in Französisch-Indochina bietet das online verfügbare Dokument Indochina’s Hotels. Schließlich steht auch ein Printmedium zur Verfügung, das explizit über das Geschehen in den Kolonien berichtet: Le Monde Colonial illustré, 1923–1948. Zeitungen sind insbesondere für die Analyse der Benennungsmotive von Relevanz, da die darin enthaltenen Werbeanzeigen häufig Aufschluss über den Namengebungskontext – wie weiter unten noch erläutert wird – geben. Auf der Grundlage der weiter oben aufgeführten Quellen konnten Daten aus dem Zeitraum von 1901 bis 1958 (wobei der Schwerpunkt auf die 1920er und 1930er Jahre liegt) gewonnen werden. Das erstellte Namenkorpus, das nicht als exhaustiv anzusehen ist, umfasst insgesamt 508 Tokens bzw. 372 Types.
3 Analyse der Hotelnamen 3.1 Konstruktionsmuster Die Hotelnamen im vorliegenden Korpus weisen eine binäre Struktur bestehend aus einem objektbezeichnenden Element und einem weiteren onymischen Element auf – wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Hôtel Terminus. Bei der objektbezeichnenden Namenkomponente, die in der Regel links steht, handelt es sich ausschließlich um das Appellativum Hôtel (dieses Appellativum kann jedoch teilweise auch durch das Attribut Grand oder Nouvel erweitert werden). Die zweite Komponente kann – wie weiter unten diskutiert wird – von verschiedenen lexikologischen Klassen besetzt sein und übt primär eine monoreferentielle, identifizierende Funktion aus. Betrachtet man koloniale Makrotoponyme, so lässt sich ein ähnliches Konstruktionsmuster ausfindig machen, wie das Beispiel Baye Tortue (Herling 2018: 302) zeigt. Das linksstehende Appellativum Baye referiert auf die geografische Entität, die bezeichnet werden soll – in diesem Fall eine große Bucht. Die
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Funktion des zweiten rechtsstehenden Elements (Tortue) besteht darin, die erste Komponente (Baye) näher zu bestimmen und letztlich gleiche geografische Objekte voneinander abzugrenzen, zu identifizieren bzw. zu individualisieren – wie die folgenden Toponyme demonstrieren: Baye Moustique, Baye de Lamantine, Baye Tortue (Beispiele aus: Herling 2018: 302). Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem linksstehenden Element in der Regel um ein Appellativum handelt, das sich auf die jeweilige geografische Entität bezieht, führen Stolz und Warnke (2015: 138) den Terminus Geoklassifikator in die kolonialtoponomastische Diskussion ein. Wie gerade anhand der oben angegebenen Beispiele ersichtlich wurde, bestehen koloniale Toponyme häufig aus einer zweiteiligen Struktur: Die Konstruktion umfasst zwei Leerstellen, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen. Die Rolle des Kopfes kommt dem Klassifikator zu […]. Die zweite Leerstelle wird von einem Modifikator besetzt. […]. Klassifikator und Modifikator zusammen bilden das Kolonialtoponym. (Stolz und Warnke 2018: 22)
Dieses Konstruktionsmuster scheint in der kolonialen Benennungspraxis prototypisch und sprachübergreifend zu sein (vgl. Stolz und Warnke 2018: 27). Nicht nur Makrotoponyme, sondern auch Mikrotoponyme können diese Struktur aufweisen – wie die deutschsprachigen kolonialen Straßenamen Hafenstraße, Kasuarienallee aus Schulz und Aleff (2018: 136) illustrieren. Anzumerken ist, dass die Struktur Klassifikator/Modifikator ein charakteristisches Merkmal aufgrund ihres quantitativen Vorkommens für koloniale Toponyme zu sein scheint und letztlich auch ein Kontrast zur Struktur der Toponyme in der Metropole darstellt. So weisen beispielsweise Hydronyme in Frankreich (zur Kolonialzeit) keinen Klassifikator wie beispielsweise Rivière auf. In den Kolonien stellen hingegen Flussnamen ohne den Klassifikator Rivière eine Ausnahme dar. Hinzu kommt, dass manche Klassifikatoren wie z. B. Caye (‘flache, sandige Insel’) oder Morne (‘Felsen auf Inseln’) etymologisch von Bedeutung sind, denn sie sind in der Kolonialzeit in den französischen Wortschatz entlehnt worden und dienen auch nur in kolonisierten Gebieten als Klassifikator für geografische Objekte. Sie kommen somit ausschließlich als Komponenten von französischen Kolonialtoponymen vor (vgl. Herling 2018: 290–292). Kommen wir nun zurück zu den kolonialen Hotelnamen, die ebenfalls durch eine binäre Struktur, deren Leerstellen von einem Klassifikator und Modifikator besetzt werden, gekennzeichnet sind. Allerdings kann hier nicht von einem typischen Merkmal in der kolonialen Benennungspraxis gesprochen werden, denn dieses Konstruktionsmuster lässt sich sowohl diachron als auch synchron bei der überwiegenden Mehrheit von Hotelnamen in Europa feststel-
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len. Als Beispiele seien Hotel Regina (Rumänien, 20. Jahrhundert), Hotel zum Abschlepphof (Leipzig, 21. Jahrhundert), Hotel Riu Chico (Mallorca, 20. Jahrhundert) angeführt (vgl. z. B. Wochele 2019: 92, 66; Herling 2012: 201). Zu ergänzen ist, dass der Klassifikator bei touristischen Unterkünften je nach Typ variieren kann. Ein Beispiel hierzu wäre Pension Perrin (Weimar) (Beispiel aus Wochele 2019: 90). In dem vorliegenden Korpus zu den Hotelnamen lässt sich die bereits besprochene binäre Konstruktion belegen, allerdings können verschiedene Variationstypen beobachtet werden: Typ A1: Klassifikator (Nomen) + Modifikator (nominales Simplex) Beispiel: Hôtel Terminus [{HôtelNom}Klassifikator {TerminusNom}Modifikator]Mikrotop Typ A2: Klassifikator (Nomen) + Modifikator (Nominalphrase) Beispiel: Hôtel Le Perroquet [{HôtelNom}Klassifikator {LeArt PerroquetNom}Modifikator]Mikrotop Beispiel: Hôtel La Croix du Sud [{HôtelNom}Klassifikator {LaArtCroixNom duPräp/Art SudNom}Modifikator]Mikrotop Typ A3: Klassifikator (Nomen) + Modifikator (Nomen+Nomen) Beispiel: Hôtel Palais Jamaï [{HôtelNom}Klassifikator {PalaisNom Jamaï Nom}Modifikator]Mikrotop Typ A umfasst alle Hotelnamen, die eine asyndetische Struktur aufweisen, d. h. eine Juxtaposition von Klassifikator und Modifikator. Hinsichtlich der internen Struktur des Modifikators kann wiederum zwischen drei Varianten unterschieden werden: 1. Der Modifikator stellt ein nominales Simplex dar wie z. B. Hôtel Terminus (Marokko, Tunesien, Algerien). 2. Der Modifikator basiert auf einer Nominalphrase bestehend aus einem Determinator, in der Regel in Form eines Artikels, und einem in Genus und Numerus kongruenten Nomen wie z. B. Hôtel Le Perroquet (Französisch-Westafrika). Es kann auch eine komplexere Nominalphrase vorliegen, die aus einem Artikel + Nomen + Präp/Art + Nomen besteht: Hôtel La Croix du Sud. 3. Der Modifikator wird aus zwei nominalen Elementen, die in Juxtaposition stehen, gebildet. Das illustrierende Beispiel hierzu wäre Hôtel Palais Jamaï, wobei Palais sich auf den in der Umgebung des Hotels befindlichen Palast bezieht und Jamaï einen Eigennamen darstellt. Weitere Beispiele des Typs A mit seinen Varianten sind: Hôtel Doukkala (Marokko), Hôtel Niger (Französisch-Westafrika), Hôtel St. Georges (Algerien), Hôtel An-Loi (Indochina), Hôtel La Potinière, Hôtel Le Cottage (beide Französisch-Westafrika), Hôtel Tour Hassan (Marokko).
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Typ B1: Klassifikator (Nomen) + Präposition mit oder ohne Artikel + Modifikator (nominales Simplex) Beispiel: Hôtel de Paris [{HôtelNom}Klassifikator {dePräp} {ParisNom}Modifikator]Mikrotop Beispiel: Hôtel du Palais [{HôtelNom}Klassifikator {duPräp/Art} {PalaisNom}Modifikator]Mikrotop Typ B2: Klassifikator (Nomen) + Präposition/Artikel + Modifikator (Nominalphrase) Beispiel: Hôtel du Petit Sahara [{HôtelNom}Klassifikator {duPräp/Art} {PetitAdj SaharaNom}Modifikator]Mikrotop Typ B3: Klassifikator (Adjektiv+Nomen) + Präposition/Artikel + Modifikator (Simplex) Beispiel: Grand Hôtel d’Angkor [{GrandAdj HôtelNom}Klassifikator {d’Präp} {AngkorNom}Modifikator]Mikrotop Zu Typ B können nun sämtliche Hotelnamen zugeordnet werden, die dem syndetischen und somit dem frequenten Muster romanischsprachiger Komposita entsprechen wie Hôtel de Paris (Marokko). Zwischen den nominalen Elementen des Klassifikators und Modifikators wird eine Präposition mit Artikel (z. B. Hôtel de la Gare, Französisch-Westafrika) oder ohne Artikel (z. B. Hôtel d’Afrique, Französisch-Äquatorialafrika) eingeschoben. Weitere Beispiele sind: Hôtel de la Poste (Französisch-Westafrika), Hôtel du Dragon (Indochina), Hôtel de l’Atlas (Marokko). Der Modifikator kann auch durch mehrere sprachliche Einheiten besetzt sein, wie das oben angeführte Beispiel zu B2 zeigt: Hôtel du Petit Sahara (Algerien). In der Regel handelt es sich um ein Adjektiv, das den nominalen Kern des Modifikators näher bestimmt. Aus dem Korpus zeigen weitere Beispiele dieses Bildungsmuster: Hôtel du Beau Rivage, Hôtel du Petit Paris (beide Indochina). Nicht nur der Modifikator, sondern auch der Klassifikator kann durch ein weiteres Element determiniert werden (B3). Es handelt sich hierbei entweder um das Adjektiv grand wie in Grand Hôtel d’Angkor (Indochina) oder um das Adjektiv nouvel wie in Nouvel Hôtel du Palmier (Algerien), das gemäß den grammatischen Regeln des Französischen dem Nomen, auf das es sich bezieht, vorangeht. Als zusätzliche Beispiele seien Grand Hôtel de Tourane, Grand Hôtel de Phu-lang-Thuong (beide Indochina) genannt. Typ C: Klassifikator (Nomen) + Modifikator (Adjektiv) Beispiel: Hôtel Central [{HôtelNom}Klassifikator {CentralAdj}Modifikator]Mikrotop
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Typ C inkludiert Hotelnamen, die aus dem appellativischen Klassifikator Hôtel und einem Modifikator bestehen, der jedoch nicht wie in Typ A durch ein Element aus dem nominalen Wortschatz besetzt wird, sondern durch ein Adjektiv, das in Genus und Numerus mit dem Klassifikator kongruent ist wie z. B. Hôtel Central (Französisch-Westafrika) und Hôtel Royal (Algerien). Typ D: komplexe Phrasen (Präpositionalphrasen) Beispiel: Hôtel Au bon coin [{HôtelNom}Klassifikator {Au bon coinPräpphrase}Modifikator ]Mikrotop Schließlich gibt es auch strukturell mehrgliedrige Modifikatoren in Form von Präpositionalphrasen. Jedoch handelt es sich hierbei eher um ein minoritäres Phänomen mit insgesamt zwei Beispielen: Hôtel Au bon coin (FranzösischWestafrika) und Hôtel Au Rendez-vous des Chausseurs (Algerien). Betrachtet man (was schon teilweise bei der strukturellen Analyse berücksichtigt wurde) die lexikologisch-onymischen Klassen näher, so fällt auf, dass der Klassifikator ausschließlich aus einem Nomen bzw. einem Adjektiv besteht. Im Falle des Modifikators können jedoch verschiedene lexikologische Klassen beobachtet werden. Insbesondere innerhalb des nominalen Bereichs wird die Stelle des Modifikators von einem Anthroponym (einzelner Vorname oder die Kombination Vor- und Familienname), einem Toponym (Oikonym, Choronym), einem Ergonym (Unternehmensname), einem Appellativum oder einem Adjektiv besetzt. Wie die unten aufgeführten Beispiele zeigen, ist quantitativ gesehen die Verwendung eines Toponyms und eines Appellativums am häufigsten vertreten: a) Appellativa (ca. 37 %): Hôtel des Voyageurs (Algerien), Hôtel des Colonies (Indochina), Hôtel du Palais (Marokko), Hôtel du Commerce (FranzösischÄquatorialafrika) b) Toponyme (ca. 33 %): Hôtel de France (u. a. Marokko), Hôtel du Sahara (Algerien), Hôtel de Nice (Algerien), Hôtel du Roussillon (Marokko), Hôtel du Niger (Französisch-Westafrika) c) Anthroponym (ca. 14 %): Hôtel Thérèse (Französisch-Westafrika), Hôtel Philippe (Französisch-Westafrika), Hôtel Henri Gohin (Algerien) d) Ergonyme (ca. 8 %): Hôtel Air-France (Französisch-Äquatorialafrika), Hôtel Transsaharienne (Französisch-Westafrika) e) Adjektive (ca. 8 %): Hôtel Oriental (Indochina), Hôtel Moderne (Marokko, Hôtel Central (Französisch-Westafrika), Hôtel Royal (Algerien) Eine genauere Betrachtung des Modifikators – jedoch eher aus diskurssemantischer Perspektive – soll auch im folgenden Kapitel thematisiert werden. Es wird nun der Frage nachgegangen, welche Benennungsmotive den französischen Hotelnamen zugrunde liegen.
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3.2 Benennungsmotive Die Motivation für die Verwendung des Appellativums Hôtel als Bestandteil des Hotelnamens ist insofern offensichtlich, als das jeweilige zu benennende geografische Objekt Auslöser für diesen Namenbestandteil darstellt. Hinsichtlich des Modifikators gestaltet sich die Frage nach der Benennungsmotivik jedoch problematischer. Prinzipiell kann eine Klassifizierung der Benennungsmotive nur erfolgen, wenn eine Aussage zur Namenmotivation bzw. Namenwahl seitens der jeweiligen Namengeber vorliegt. Im Bereich der diachronen Toponomastik ist dies mitunter schwierig zu bewerkstelligen. Wie bereits oben erwähnt liefern in Entdeckerberichten manche meta-onymischen Reflexionen Hinweise zum ausschlaggebenden Moment der Namenwahl. Im Falle der kolonialen Hotelnamen liegen zwar keine Aufzeichnungen von Entdeckern vor, aber Werbeanzeigen in Zeitschriften, Lagepläne in Reiseführern, Einträge des Namens des Besitzers in den wirtschaftlichen Jahresbüchern etc. ermöglichen größtenteils die Rekonstruktion der Benennungsmotive. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: In einem Werbetext für ein marokkanisches Hotel namens Hôtel Les Noyers heißt es „A 1600 mètres d’altitude, au cœur du grand Atlas au milieu de noyers séculaire“ (Annuaire de l’automobile et du tourisme au Maroc 1937: 381). Es ist offensichtlich, dass der vom Besitzer gewählte Hotelname durch die am Standort des Hotels vorhandene Vegetation, die jahrhundertealten Nussbäume, motiviert wurde. Auch wenn nicht alle im Korpus zugrundeliegenden Benennungsmotive valide rekonstruiert werden können – da es die Quellenlage nicht ermöglicht – scheint eine Behandlung dieser Thematik dennoch lohnenswert, da Benennungsmotive Aussagen über Relevanzen im kolonialen Benennungsprozess zu formulieren erlauben. Es kann folglich der Frage nachgegangen werden, welche sprachlichen Gewissheiten von Seiten der jeweiligen Namengeber bzw. Akteure mittels derartigen Benennungsprozessen im Kolonialdiskurs kodiert werden sollten (vgl. Schmidt-Brücken 2018). Prinzipiell ist zwischen zwei Kategorien von toponymischen Benennungsmotiven zu unterscheiden: deskriptiven und nicht-deskriptiven. Letztere spielen vor allem in der Kolonialzeit eine relevante Rolle, denn hierunter fallen Toponyme mit einer kommemorativ intendierten Funktion. Ausschlaggebend für die Benennung von geografischen Objekten waren Namen von kolonialen Akteuren wie Siedlern, Entdeckern, Politikern oder Vertretern des Königshauses (vgl. Hough 2016: 92). So ehrt der im kolonialen Algerien vergebene Ortsname Philippeville den zur Zeit der Eroberung Algeriens regierenden König LouisPhilippe I. Das Toponym Brazzaville geht auf Pierre Savorgnan de Brazza zurück, der das nördliche Gebiet des Kongos für Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts in Besitz nahm (vgl. Stolz et al. 2016: 306).
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Diese über Anthroponyme vermittelte kommemorative Funktion zeigen ebenfalls Hotelnamen im vorliegenden Korpus auf. Jedoch spielen Namen von kolonialpolitisch involvierten Politikern, Herrschern oder anderen bedeutenden französischen Persönlichkeiten – bis auf zwei Ausnahmen, die weiter unten besprochen werden – keine Rolle. Wenn ein Hotelname eine anthroponymische Komponente als Modifikator aufweist, so handelt es sich in der Regel um den Vor- bzw. Familiennamen einer Kolonistin/eines Kolonisten bzw. der jeweiligen Hotelbesitzerin/des jeweiligen Hotelbesitzers. Im Kontext der Hotelbesitzer_innen seien auch diejenigen Namen erwähnt, die nicht auf eine einzelne Person, sondern auf ein Unternehmen zurückgehen. Beispielweise organisierte das 1923 gegründete Unternehmen namens Compagnie Générale Transsaharienne Passagiertransporte nach Nordafrika sowie Autoreisen durch die Sahara (vgl. Minvielle und Minvielle 2010: 187). Darüber hinaus wurden mehrere Hotels im Maghreb gegründet, die den Namen Hôtel Transsaharienne trugen. Ebenfalls errichtete die französische Reederei Compagnie Générale Transatlantique Hotels in den nordafrikanischen Ländern, die unter dem Namen Hôtel Transatlantique bekannt waren. In Algerien können des Weiteren für das Korpus zwei Hotels namens Hôtel Touring Club belegt werden. Die Namengebung basiert auf der gleichnamigen Reisegesellschaft. Schließlich wurde auch ein Hotel in Afrika nach seinem Betreiber, der Air-France benannt. Im Folgenden sei das Benennungsmotiv ‚Name der Besitzerin/des Besitzers‘, das quantitativ betrachtet 18,2 % des Gesamtkorpus ausmacht, mit Beispielen illustriert: a) Vorname: Hôtel Thérèse (Französisch-Westafrika), Hôtel Régina (Algerien), Hôtel Norbert (Algerien), Hôtel Philippe (Französisch-Westafrika), Hôtel Simon (Marokko), Hôtel Mme Fanny (Französisch-Westafrika), Hôtel Alexandra (Algerien) b) Familienname: Hôtel Lainé (Indochina), Hôtel Desanti (Indochina), Hôtel Reynard (Indochina), Hôtel Ferrière (Indochina), Hôtel Maury (Indochina), Hôtel Dallet (Französisch-Westafrika) c) Vor- und Familienname: Hôtel Henri Gohin (Algerien), Hôtel Vincent Espi (Algerien) d) Unternehmensname als Besitzer: Hôtel Transatlantique (Maghreb), Hôtel Transsaharienne (Maghreb), Hôtel Touring Club (Algerien), Hôtel Air-France (Französisch-Westafrika) Festgehalten werden kann, dass Hotelnamen im vorliegenden Korpus nicht auf Namen von politischen Persönlichkeiten, die aktiv im kolonialen Geschehen des hier untersuchten 19. und 20. Jahrhunderts involviert waren, basieren. Zu be-
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obachten sind jedoch zwei Namen von bedeutenden historischen Persönlichkeiten Frankreichs: So trägt ein algerisches Hotel den Namen Hôtel Jeanne d’Arc. An den u. a. in der Kolonialpolitik des 17. Jahrhunderts mitwirkenden Staatsmann Richelieu erinnert schließlich ein gleichnamiges Hotel in Indochina: Hôtel Richelieu. In die Gruppe der nicht-deskriptiven Namen mit kommemorativer Funktion können auch Namen von Orten gefasst werden, die bereits existieren und in einem neu eroberten Gebiet wieder vergeben werden (vgl. Hough 2016: 92). Dieses toponymische Recycling ist durchaus häufig bei den kolonialen Hotelnamen zu beobachten. Die Diskrepanz zwischen Namentoken (508) und Namentypes (372) des vorliegenden Korpus resultiert letztlich aus der Tatsache, dass in allen hier untersuchten Kolonialgebieten gleich mehrere Orte ein Hôtel de France aufweisen. Darüber hinaus basieren zahlreiche Hotelnamen auf einem französischen Toponym: Es handelt sich einerseits um Siedlungsnamen in Frankreich wie z. B. Bordeaux, Paris, Lyon und andererseits um Namen französischer Landschaften wie z. B. Provence. Festzuhalten ist, dass den kolonialen Hotelnamen die gängigen nichtdeskriptiven Benennungsmotive auch zugrundeliegen können. Sowohl die Nachbenennung kolonialer Akteur_innen als auch das Verfahren des toponymischen Recycling kann belegt werden. Darüber hinaus erfüllen mehrere Hotelnamen eine kommemorative Funktion, indem sie auf nationale Symbole wie die keltische Herkunft oder das französische Wappentier, den Hahn, referieren. Zu den nicht-deskriptiven Namen fasst Hough (2016: 92) schließlich auch die Gruppe der „incident names“. Hierunter werden Namen verstanden, die ein auf ein bestimmtes Ereignis referieren. So spiegelt beispielsweise das Toponym Nice den Sieg der Griechen über die Ligurer in Südfrankreich und das Toponym Santa Barbara (USA) die Ankunft der Spanier am Tag der Heiligen Barbara wider (vgl. Hough 2016: 92). Hinsichtlich der Hotelnamen lassen sich zwar keine Namen mit einem Bezug zu einem konkreten militärischen Ereignis ausfindig machen, aber als „incident names“ könnten folgende Mikrotoponyme zur Diskussion gestellt werden: Hôtel des Colonies, Hôtel Français, Hôtel de France, Hôtel de la Victoire. Der Ereignischarakter dieser Namen liegt zweifelsohne im eigentlichen Prozess der Kolonisierung. Einerseits wird auf den politischen Status der bereits eroberten Gebiete als Kolonien und andererseits auf den politischen Akteur selbst, die Kolonialmacht Frankreich, referiert, wie die Namen Hôtel Français oder auch Hôtel de France verdeutlichen. Außerdem weisen verschiedene Hotelnamen Appellativa auf, die dem semantischen Bereich des „Kampfes, Eroberns“ zugeschrieben werden können (wie z. B. victoire ‘Sieg’) und somit eine Assoziation mit dem Kolonisierungsprozess erwecken. Schließ-
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lich referieren Hotelnamen nicht nur auf die Kolonialmacht Frankreich, sondern stellen auch einen Bezug zu Europa und somit dem geografischen Kontext der französischen Kolonialmacht dar. Nicht nur das Toponym Europe, sondern auch mythologische oder legendäre Figuren sind bei der Namengebung berücksichtigt worden wie z. B. Hôtel de l’Europe, Hôtel Minerva, Hôtel Guillaume Tell. Hotelnamen, denen das Benennungsmotiv Kolonialismus mit den unterschiedlichen Aspekten (historische Persönlichkeiten, französische Ortsnamen, nationale Symbole etc. zugrunde liegt, machen insgesamt 28,5 % des Gesamtkorpus aus. Zur Illustration seien im Folgenden die unterschiedlichen Aspekte mit Namenbeispielen angeführt: a) Namen historischer Persönlichkeiten Frankreichs: Hôtel Richelieu (Indochina), Hôtel Jeanne d’Arc (Algerien) b) Orte in Frankreich: Hôtel de Nice (Algerien), Hôtel de Paris (FranzösischWestafrika), Hôtel du Petit Paris (Indochina), Hôtel de Bordeaux (Tunesien), Hôtel de Lyon (Algerien), Hôtel d’Orsay (Marokko), Hôtel de Strasbourg (Marokko), Hôtel de Marseille (Marokko), Hôtel d’Alsace (Tunesien), Hôtel de Bourgogne (Marokko), Hôtel de Provence (Marokko), Hôtel du Roussillon (Marokko), Hôtel de Lorraine (Marokko), Hôtel de Bretagne (Indochina), Hôtel du Midi (Marokko), Hôtel du Béarn (Marokko), Hôtel Normandie (Französisch-Westafrika) c) nationale Symbole: Hôtel du Coq d’Or (Indochina), Hôtel Gaulois (Marokko) d) politischer Status: Hôtel des Colonies (Algerien und Indochina), Hôtel Colonial (Französisch-Äquatorialafrika), Hôtel de la Colonie (FranzösischWestafrika) e) Kolonialmacht Frankreich: Hôtel de France (in allen Kolonialgebieten), Hôtel Français (Tunesien), Hôtel Métropole (Indochina), Hôtel de la République (Marokko), Hôtel des Colons (Algerien) f) militärischer Kontext: Hôtel de la Victoire (Französisch-Westafrika), Hôtel de la Marine (Indochina), Hôtel des Maréchaux (Indochina), Hôtel de l’Amirauté (Tunesien), Hôtel des Relais Aériens (Französisch-Westafrika) g) Europa: Hôtel de l’Europe (Indochina, Französisch-Westafrika), Hôtel du Phénix (Tunesien), Hôtel Guillaume Tell (Marokko), Hôtel de la Renaissance (Marokko) Ein Teil der Hotelnamen kann zwar dem nicht-deskriptiven Benennungstypus zugeordnet werden, jedoch wird keine kommemorative Funktion intendiert. Es handelt sich hierbei um Hotelnamen, deren Namengebung durch den touristischen Kontext motiviert wurde. Beispielsweise war bei der Benennung des Hotels die eigentliche touristische Zielgruppe ausschlaggebend, wie es die Namen
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Hôtel des Voyageurs oder Hôtel des Touristes illustrieren. Während bei den letztgenannten eher Touristen im Allgemeinen das Benennungsmotiv darstellen, greift der Name Hôtel des Chasseurs die spezifische Gruppe der Reisenden aus dem Jagdtourismus auf. Dass sich das Hotel in Indochina befand, ist nicht weiter verwunderlich, denn die Jagd stellte – wie weiter oben erwähnt – einen Schwerpunkt im dortigen Fremdenverkehr dar. Verschiedene Namen stehen in assoziativer Verbindung mit dem Konzept der Internationalität. So wirbt beispielsweise das Hotel des Nations in Indochina mit dem Statement: „on parle toutes les langues étrangères“ (Les Affiches saïgonnaises 1920). Ebenfalls im Kontext des Tourismus als Benennungsmotiv sind Namen zu verorten, die auf den Komfort des Hotels – sei es die gute Aussicht (Hôtel Bellevue) oder der gute Aufenthalt (Hôtel Beauséjour) abzielen und somit positive Assoziationen für das Zielpublikum vermitteln. Analog dazu soll über die Semantik des Lexems royal in Hotelnamen eine Valorisierung des Hotels erfolgen. Die Verwendung von Appellativa oder Adjektiven, deren Semantik auf eine werbende Funktion abzielt, ist ein Phänomen, das nicht nur in den Kolonien, sondern allgemein bei europäischen Hotelnamen sowohl in Geschichte als auch Gegenwart präsent ist. Von daher verwundert es nicht, dass zahlreiche Hotels in Frankreich, sei es im 19. Jahrhundert oder auch aktuell, den Namen Hôtel Bellevue oder auch Hôtel Royal erhalten (vgl. hierzu auch Wochele 2019). In der Gesamtbetrachtung können 12,8 % der Hotelnamen ausfindig gemacht werden, die als Benennungsmotiv den touristischen Kontext zugrunde liegen haben: a) Zielgruppe: Hôtel des Touristes (Algerien), Hôtel des Voyageurs (Algerien), Hôtel des Chasseurs (Indochina), Hôtel des Négociants (Marokko), Hôtel du Commerce (Französisch-Westafrika), Hôtel Au Rendez-vous des Chausseurs (Algerien) b) Hotelausstattung: Hôtel Bellevue (Indochina), Hôtel de Bellevue (Marokko), Hôtel Beauséjour (Französisch-Westafrika), Hôtel Beaulieu (Algerien) c) Valorisierung: Hôtel Royal (Algerien), Hôtel Le Royal (Indochina), Hôtel Impérial (Algerien), Hôtel des Princes (Französisch-Westafrika) d) Internationalisierungsaspekt: Hôtel de l’Univers (Algerien), Hôtel des Nations (Indochina), Hôtel du Globe (Französisch-Westafrika) Die zweite – weiter oben erwähnte – Kategorie der Benennungsmotivik stellen schließlich deskriptive Namen dar. Es handelt sich hierbei um Toponyme, die einen beschreibenden Charakter haben und z. B. Merkmale der Umgebung erfassen (vgl. Hough 2016: 88). Die Analyse des Korpus hat ergeben, dass bei der Gruppe der deskriptiven Namen vor allem die Lage des Hotels ausschlaggebend für die Namengebung in den französischen Kolonien war. Insgesamt sind
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35,8 % der Namen durch die Lage bzw. den Standort des Hotels motiviert. Zum einen spielte der jeweilige Straßenname eine namengebende Rolle: Das Hôtel de l’Industrie befand sich beispielsweise in der gleichnamigen Straße namens rue de l’Industrie. Zum anderen geht der Hotelname auf ein in der Nähe befindliches Gebäude (wie z. B. einen Bahnhof: Hôtel de la Gare), auf die eigene Position innerhalb eines Ortes (z. B. das Zentrum: Hôtel du Centre), auf künstlich angelegte Flächen (wie z. B. einen Park Hôtel du Parc oder Reisterrassen: Hôtel des Terrasses), auf landschaftliche Merkmale des Standortes (z. B. einen Strand: Hôtel de la Plage oder Thermalquellen: Hôtel des Thermes), auf einen in der Umgebung befindlichen Fluss (z. B. Hôtel du Chélif) oder eines Gebirges (z. B. Hôtel de l’Atlas) und schließlich auf den Namen des Ortes (internes Toponym wie z. B. Grand Hôtel du Mékong), in dem sich das Hotel befand, zurück. Sehr aufschlussreich für die Rekonstruktion der Benennungsmotivik sind oftmals Karten in Reiseführern. Folgender Ausschnitt (aus: Guide Michelin Algérie, Maroc, Tunisie 1931: 149) zeigt den Standort des Hôtel de la Gare im Süden des Bahnhofs (Gare) in der algerischen Stadt Berrouaghia. Es liegt auf der Hand, dass die Namengebung durch den Standort motiviert worden ist:
Abbildung 2: Standort des Hôtel de la Gare in Berrouaghia/Tunesien (Guide Michelin Algérie, Maroc, Tunisie 1931: 149).
a) Straßennamen: Hôtel de l’Industrie (Marokko), Hôtel Régence (Algerien), Hôtel St. Georges (Algerien) b) Gebäude in der Nähe des Hotels: Hôtel de la Gare (Algerien, Indochina, Französisch-Westafrika), Hôtel Terminus (Marokko, Französisch-Westafrika), Hôtel de la Poste (Tunesien), Hôtel Tour Hassan (Marokko), Hôtel du Palais (Marokko), Hôtel Palais Jamaï (Marokko), Grand Hôtel des Bains (Algerien)
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c) Position innerhalb eines Ortes/einer Region: Hôtel du Centre (Algerien), Hôtel du Sud (Algerien), Hôtel du Nord (Algerien), Hôtel de la Rive-Gauche (Marokko), Hôtel La Croix du Sud (Französisch-Westafrika) d) künstlich angelegte Flächen: Hôtel du Parc (Indochina), Hôtel des Terrasses (Indochina), Hôtel La Plantation (Französisch-Westafrika), Hôtel de l’Aérodrome (Französisch-Westafrika) e) landschaftliche Merkmale: Hôtel de la Plage (Algerien), Hôtel du Lac (Indochina), Hôtel de l’Oasis (Tunesien, Algerien), Hôtel Thermal (Algerien), Hôtel des Thermes (Tunesien), Hôtel des Mines (Indochina), Hôtel Saharien (Algerien), Hôtel des Noyers (Marokko), Hôtel des Oliviers (Tunesien), Hôtel des Palmiers (Indochina), Hôtel du Palmier (Algerien), Hôtel de l’Océane (Marokko), Hôtel des Caps (Indochina) f) internes Toponym/Oikonym (Standort des Hotels): Hôtel Saigon (Indochina), Hôtel du Sahara (Algerien), Hôtel l’Atlantique (Französisch-Westafrika), Grand Hôtel d’Angkor (Indochina), Hôtel Lam A-Tan (Indochina), Hôtel Yen Tan (Indochina), Hôtel Ngoc-Lâm (Indochina), Hôtel du Bou Malem (Marokko), Hôtel du Haouiz (Marokko), Hôtel du Niger (Französisch-Westafrika), Hôtel de Bamako (Französisch-Westafrika), Hôtel du Cap Saint-Jacques (Indochina) g) internes Toponym/Hydronym: Hôtel du Chélif (Algerien), Grand Hôtel du Mékong (Indochina) h) internes Toponym/Oronym: Hôtel de l’Atlas (Marokko) Schließlich tauchen im Korpus Namen auf, die Einzelphänomene darstellen oder nicht-rekonstruierbare Benennungsmotive aufweisen. Beispielsweise könnte die Benennung des Hotels namens Hôtel de l’Horloge (Marokko) möglicherweise daraus resultieren, dass eine oder mehrere Uhren zur auffälligen Ausstattung des Hotels gehören oder sich das Hotel in der Nähe einer öffentlichen Uhr befindet. Quantitativ beläuft sich die Anzahl auf 4,2 % des vorliegenden Gesamtinventars. Beispiele wären Hôtel de l’Étoile (Französisch-Westafrika), Hôtel La Potinière (Französisch-Westafrika), Hôtel Le Cottage (Französisch-Äquatorialafrika) etc.
3.3 Sprachenverwendung Interessant ist schließlich die Frage, welche Sprache bzw. Sprachen im kolonialen Benennungsprozess verwendet worden sind. Hinsichtlich der Makrotoponyme im französischen Kolonialreich können sowohl endonymische, exonymische als auch hybride Bildungen belegt werden (vgl. Herling 2018; zur Terminologie vgl. Stolz und Warnke 2018: 13–17). Ein Blick auf das Gesamtkor-
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pus zeigt eine deutliche Dominanz von exonymischen Mikrotoponymen mit 88,9 %. Bei den restlichen 11,1 % handelt es sich um hybride Bildungen, deren Bestandteile folglich sowohl aus der Sprache der Kolonialmacht, dem Französischen und den Sprachen der Kolonisierten stammt. Nachfolgende Beispiele sollen die sprachliche Verwendung demonstrieren: a) Exonym: Hôtel du Centre [{Klassifikator}Exonym {Modifikator}Exonym]Mikrotop b) Hybrid: Hôtel Doukkala [{Klassifikator}Exonym {Modifikator}Endonym]Mikrotop Auffällig ist, dass die endonymische Komponente in hybriden Hotelnamen ausschließlich von einem indigenen Ortsnamen besetzt wird. Dementsprechend liegt den hybriden Namen des untersuchten Korpus nur das Benennungsmotiv ‚Standort des Hotels‘ zugrunde. Geeigneter ist es jedoch – wie es Schulz und Aleff 2018: 132 vorschlagen, von „pseudohybriden Bildungen“ zu sprechen, denn „schließlich resultieren auch die endonymischen Einheiten […] aus dem Verschriftungssystem europäischer Kolonialakteure“. Eine Assimilation an das orthografische System des Französischen erfolgt zum Beispiel mittels einer Akzentsetzung: Hôtel Férania (Marokko), Grand Hôtel du Mékong (Indochina), Hôtel du Chélif (Algerien) oder einer Phonem-Graphem-Angleichung: arabisch Dukkala (vgl. UNESCO 1987: 20) > Hôtel Doukkala (Marokko). Bei letzterem Beispiel wird die Phonetik des arabischen Vokals [u] erhalten und durch ein entsprechendes französisches Graphem [ou] wiedergegeben. Teilweise geschieht die Verschriftung auch durch Weglassung diakritischer Zeichen: Khmer Sầm Sơn > Hôtel Samson (Indochina). Auf morphosyntaktischer Ebene ist eine Reihe pseudohybrider Hotelnamen durch ein französisches präpositionales Verbindungselement zwischen Klassifikator und Modifikator gekennzeichnet: Hôtel du Chabet (Algerien), Hôtel de Cat Bi (Indochina), Hôtel d’Annam (Indochina). Diese syndetische Konstruktion ist nicht nur ein frequentes kompositionales Bildungsmuster des Französischen, sondern scheint auch von Relevanz im kolonialen Benennungsprozess zu sein. Ein Blick auf eine kontrastive Studie zu Makrotoponymen im französischen und spanischen Kolonialismus am Beispiel der Insel Hispaniola konnte zeigen, dass die beiden Kolonialmächte unterschiedlich mit indigenem Sprachmaterial umgehen. Im Gegensatz zu spanischen Kolonialtoponymen werden in der französischen Benennungspraxis indigene Namenbestandteile eher an das phonologische, graphematische und morphosyntaktische System der französischen Sprache angepasst (vgl. Herling 2018: 309). Diese Beobachtung lässt sich ohne Weiteres auch bei den kolonialen Mikrotoponymen bestätigen. Um jedoch valide Schlussfolgerungen ziehen zu
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können, müssten weitere Studien (insbesondere kontrastiv orientierte) zu unterschiedlichen Toponymen im französischen Kolonialismus erfolgen. Die eingangs formulierte Forschungsfrage, inwiefern sich regional bedingte Unterschiede in der Benennungspraxis manifestieren, kann an dieser Stelle aufgegriffen werden. In der Gesamtbetrachtung sind nämlich keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Struktur auffällig. Jedoch können bei der Sprachenwahl Unterschiede zwischen Nordafrika bzw. Indochina und den kolonisierten Ländern südlich der Sahara (Französisch Westafrika und Französisch-Äquatorialafrika) beobachtet werden. Die prozentuale Verteilung ist in Abb. 3 dargestellt. In allen touristisch geprägten Kolonien dominieren ohne Zweifel exonymische Bildungen, aber hybride Namen sind sowohl in den Maghrebländern als auch in Indochina in Relation zu den westafrikanischen Kolonien quantitativ stärker vertreten. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre infrastruktureller Art, denn viele Hotels in Nordafrika oder Indochina befanden sich in städtischen Gebieten. 150 100 50
87.3
98.2
83.5 16.5
12.7
1.8
0 Maghreb
Subsahara
Exonym
Indochina
Hybrid
Abbildung 3: Exonymische und hybride Hotelnamen im geografischen Vergleich.
Das ausschlaggebende Benennungsmotiv war der Standort des Hotels, daraus resultiert schließlich die hohe Anzahl der internen Toponyme als Modifikator in diesen beiden Regionen. In die Betrachtung mit einbezogen werden könnte auch der werbende Aspekt. Hotelnamen mit hybrider Sprachenwahl transportieren eine gewisse Exotik und könnten somit werbewirksamer sein; ein Aspekt, der vermutlich auch eine Rolle bei der Namengebung gespielt haben könnte.
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4 Zusammenfassung In der Gesamtbetrachtung können folgende Aspekte hervorgehoben werden: Koloniale Hotelnamen weisen hinsichtlich ihres Bildungsmuster eine binäre Struktur auf. Diesbezüglich zeigen sie jedoch keine auffälligen Divergenzen zu Hotelnamen in der Metropole oder auch in Europa, die ebenfalls in der Regel mehrgliedrig aus einem linksköpfigen appellativischen Klassifikator und einem Modifikator bestehen. Lexikologisch betrachtet stellt der Modifikator sowohl Eigennamen (Toponyme, Anthroponyme), Appellativa als auch Adjektive dar. Festzuhalten ist, dass sich auf struktureller Ebene Hotelnamen größtenteils wie Determinativkomposita im Französischen verhalten, die entweder asyndetisch oder in der Regel syndetisch gebildet werden. Im vorliegenden Korpus entspricht dies den oben vorgestellten Konstruktionstypen A und B, die quantitativ 89,4 % des Namenkorpus ausmachen. Bei den Benennungsmotiven spielt vor allem die Lage des Hotels eine bedeutende Rolle (35,8 %). An zweiter Stelle folgt der koloniale Kontext als Benennungsmotiv (28,5 %), schließlich sind auch der Tourismus selbst mit 12,8 % und der Name der Besitzerin/des Besitzers (18,2 %) ausschlaggebend. Vor dem Hintergrund der Motive können folgende Funktionen der Namen abgeleitet werden: Hotelnamen in den Kolonien haben zunächst eine orientierende Funktion, die vor allem durch das Benennungsmotiv der ‚Lage, Standort des Hotels‘ repräsentiert wird. Darüber hinaus kann den Hotelnamen auch eine werbende Funktion zugesprochen werden – wie es der Name Hôtel Bellevue demonstriert. Es sei erwähnt, dass aufgrund der Werbefunktion in der onomastischen Forschung Hotelnamen zu unterschiedlichen Namenklassen zugeordnet werden. Bauer (1998: 56) rechnet Hotelnamen wie auch Gaststätten-, Apotheken-, Burgen-, oder allgemein Gebäudenamen zu der Namenklasse der Toponyme bzw. der Mikrotoponyme. Koß ist konform mit dieser Zuordnung, präzisiert aber, dass, „die Namen von Hotels, Pensionen und Gasthöfen […] sowohl der Orientierung als auch der Werbung“ dienen (Koß 2002: 148–49). Zweifelsohne ist die Werbefunktion ein Aspekt, den die Hotelnamen mit Apothekenund Gaststättennamen gemein haben, aber von den Namen weiterer Gebäude abgrenzt (vgl. Herling 2012: 203). Wochele (2019: 80) hebt ebenfalls die werbende Funktion hervor und plädiert dementsprechend für eine Zuordnung der Hotelnamen zur Klasse der Ergonyme: Es gibt jedoch gewichtige Gründe, Hotelnamen genauso wie Unternehmensnamen den Ergonymen zuzurechnen […]. Bei Hotelnamen steht nicht die orientierende, sondern – wie bei Produktnamen – die werbende Funktion im Vordergrund. […]. Sie sollen eine potenzielle Klientel ansprechen und Kundinnen/Kunden gewinnen. (Wochele 2019: 80–81)
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Nübling et al. (22015: 253) erwähnen zwar nicht explizit touristische Unterkünfte, klassifizieren aber Gaststätten- und Restaurantnamen zu den Toponymen mit dem Hinweis, dass moderne Einrichtungen nicht mehr zwangsläufig ortsgebunden sind (z. B. gibt es eine Anzahl von Filialen in mehreren Städten des Café Extrablatt) und somit als Geschäftsnamen aufgefasst und zu den Ergonymen zugerechnet werden können. Resümierend kann festgehalten werden, dass es berechtigt ist, Hotelnamen aufgrund ihrer diversen Funktionen zwei unterschiedlichen Namenklassen zuzusprechen: Sowohl den Toponymen, da sie eine orientierende Funktion haben und in der Regel ortsfest sind (was insbesondere aus historischer Perspektive zutrifft) als auch den Ergonymen aufgrund ihrer werbenden und somit kommerziell orientierten Funktion. Darüber hinaus erfüllen die hier untersuchten kolonialen Hotelnamen eine weitere Funktion, die im Zusammenhang mit der Benennungsmotivik ‚Kolonialismus‘ steht: Konstruktionen, deren Modifikator beispielsweise auf ein Toponym in Frankreich basiert, intendieren eindeutig eine kommemorative Funktion. Es eignet sich diesbezüglich auch von einer identitätsstiftenden Funktion zu sprechen. Hotelnamen, die auf besagte französische Ortsnamen, auf das Choronym France, auf Namen historischer Persönlichkeiten oder auf Appellativa, die nationale Symbole wie das Wappentier bezeichnen, zurückgehen, tragen schließlich dazu bei, Frankreichs Identität als koloniale Macht zu inszenieren und zu konstruieren. Interessant ist es nun, diese Befunde mit der Namengebung von touristischen Unterkünften in Frankreich zu vergleichen und der Frage nachzugehen, inwiefern sich Charakteristika in der kolonialen Namengebung zeigen. Hierzu kann die diachrone Studie von Wochele (2019) herangezogen werden, denn sie gibt Einblick in die Benennung Pariser Hotels zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der Tatsache, dass das vorliegende Korpus sich ebenfalls auf diesen Zeitraum bezieht, ist ein Vergleich durchaus lohnenswert. Festzuhalten ist, dass es keine Divergenzen bezüglich des Konstruktionsmusters gibt, jedoch in Bezug auf die Benennungsmotivik. Insbesondere scheint sich die Internationalität des Zielpublikums in der Namengebung Pariser Hotels niederzuschlagen, denn zahlreiche Hotels verweisen auf geografische Objekte im Ausland wie z. B. Hôtel de Hollande, Hôtel Rastadt oder Hôtel Buckingham. In Paris ist die Benennung nach externen Toponymen sogar das häufigste Benennungsmotiv. Darüber hinaus werden Hotels nach ihrer Lage benannt – vor allem der Name der Straße spielt eine bedeutende Rolle wie z. B. Hôtel Montaige (rue Montaigne). Jedoch ist der Name der Besitzerin/des Besitzers bis auf eine Ausnahme (Hôtel Ritz) nicht zu beobachten (vgl. Wochele 2019: 92).
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Ein Vergleich zwischen der Metropole und den Kolonien lässt folglich deutliche Unterschiede erkennen: Zum einen ist die Benennung von ausländischen Toponymen nicht gegeben. Wie die Auswertung des Korpus zeigen konnte, sind ausschließlich französische bzw. interne Toponyme für die Benennung von Hotels in den kolonisierten Gebieten verwendet worden. Zum anderen kann für die Kolonien – im Gegensatz zu Paris – die Benennung des Hotels nach der Besitzerin/des Besitzers mit 18,2 % des Gesamtinventars belegt werden. Dieser Befund ist durchaus bemerkenswert und kann neben dem toponymischen Recycling als auffälliges Merkmal der Benennungspraxis von Hotels im französischen Kolonialismus betrachtet werden. Die Vergabe von Vor- und Familiennamen der jeweiligen Kolonistinnen und Kolonisten (bzw. der Hotelbesitzer_innen) hat ohne Zweifel eine kommemorative bzw. eine identitätskonstruierende Funktion, denn sie demonstriert die Inbesitznahme eines geografischen Objektes – in diesem Fall eines Gebäudes – im Zuge der Kolonisierung. Anthroponyme stehen somit als Zeichen für die Aneignung eines fremden räumlichen Raumes und tragen dazu bei, die Identität Frankreichs als kolonialer Akteur zu manifestieren. Aussagekräftig ist außerdem die Sprachenverwendung: Insgesamt überwiegen mit 88,9 % die exonymischen Bildungen und prägen somit die linguistic landscape der kolonisierten Gebiete. Hinzu kommt, dass strukturell betrachtet indigenes Sprachmaterial in unterschiedlicher Weise an das französische Sprachsystem assimiliert wird; so weisen hybride Bildungen beispielsweise orthografische Adaptionen in Form von Akzentsetzungen auf (dementsprechend ist es geeigneter von pseudohybriden Bildungen zu sprechen, vgl. Schulz und Aleff 2018: 132) oder werden in frequente morphologische Strukturen (syndetische Konstruktionen wie Hôtel d’Annam) eingebunden. Merkmale kolonialer Benennungstendenzen werden insbesondere im Kontrast zur Benennungspraxis in der Metropole deutlich. Zu beobachten ist diesbezüglich, dass Hotelnamen in Frankreich andere Schwerpunkte in der Benennungsmotivik aufweisen als Namen touristischer Unterkünfte in den Kolonien. Als vorläufiges Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Konstruktion einer kolonialen Identität hauptsächlich benennungsmotivisch erfolgt. Jedoch stellen auch die Sprachenwahl und die strukturelle Assimilation indigenen Sprachmaterials einen Aspekt der Identitätskonstruktion dar. Vor dem Hintergrund dieser Befunde wäre es wünschenswert, wenn sich weitere Untersuchungen zur Benennung kolonialer Mikrotoponyme bzw. Urbanonyme anschließen würden.
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Paolo Miccoli
Italokoloniale Urbanonyme im Vergleich. Tripolis und Rom während Liberalismus und Faschismus Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema der italienischen kolonialen Mikrotoponomastik innerhalb der italienischen Kolonien von 1882 bis 1941/42 sowie der Metropole. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die historischen Benennungspraktiken der italienischen Kolonisatoren. Besonderes Augenmerk wird auf exonymische Urbanonyme, vor allem auf Hodonyme, gelegt. Der Beitrag zielt darauf ab, italokoloniale Urbanonyme der italienischen Metropole und der Kolonialstädte während der faschistischen und liberalen Periode gegenüberzustellen und vorhandene Benennungsmuster zu identifizieren und zu vergleichen. Als Untersuchungsbeispiele fungieren die Benennungspraktiken in der kolonialen Stadt Tripolis sowie im Quartiere Africano (‘Afrikanisches Viertel’) und im Stadtteil Prenestino in Rom. Schlagwörter: Benennung; Einschreibung; Kolonie; Metropole; Straßenname; Umbenennung; Urbanonym
1 Einleitung Der zeitliche Rahmen für den italienischen Kolonialismus kann wie folgt definiert werden: 1882 (erste Besetzung von Assab in Eritrea) bis 1941/42 (Verlust der afrikanischen Kolonien als Folge der Niederlagen der Truppen Mussolinis in Afrika). Wie jedes historische Phänomen ist auch dieses von einer starken Komplexität gezeichnet, die von Jahr zu Jahr und von Ort zu Ort variiert. Nichtsdestotrotz kann der italienische Kolonialismus in zwei politische und konstitutionelle Phasen gegliedert werden, nämlich die Perioden des liberalen sowie des faschistischen Italiens. Im Gegensatz zum deutschen Kaiserreich (1884–1919), welches seine Kolonien in Folge seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg verlor, überdauerte die italienische de facto-Kolonialepoche die Veränderung von der institutionellen
|| Paolo Miccoli, Università degli Studi di Napoli “L’Orientale”, Dipartimento di Studi letterari, linguistici e comparati, Via Duomo 219, 80138 Napoli, Italia, E-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-008
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Ordnung der liberalen Monarchie zum faschistischen Regime Mussolinis. Dies impliziert keinen totalen und unmittelbaren Bruch zwischen dem liberalen und dem faschistischen Kolonialreich Italiens, denn es gab durchaus fortdauernde Elemente. Vor allem im Bereich des Kolonialdiskurses und jenem der Propaganda sind jedoch radikale Änderungen zu verzeichnen. So schreibt Labanca (2002: 237): „La propaganda colonialista dell’Italia liberale era ancora lungi dall’essere centralizzata, ferrea e martellante come fu sotto il regime fascista: ma era ufficialmente nata”.1 Er konstatiert, dass dal punto di vista della coscienza coloniale, o del ‘discorso coloniale’, le differenze erano legate all’eccezionalità dell’esperienza fascista, in particolare della guerra del 1935-1936, rispetto alle esperienze coloniali precedenti dell’Italia liberale. (Labanca 2002: 240)2
Diese wichtigen Änderungen lassen auch in der italienischen Kolonialtoponomastik gewisse Spuren erkennen (vgl. Stolz und Warnke 2017: 213–218; Miccoli 2017: 187–190), um genauer zu sein: Dieselben italienischen Kolonialtoponyme – sowohl jene in den Ex-Kolonien als auch jene in der Metropole – waren (bzw. sind es bis heute) Spuren dieser komplexen Geschichte. Allerdings wird nicht dies der Hintergrund sein, vor welchem die Unterschiede zwischen den Kolonialdiskursen des liberalen bzw. des faschistischen Italiens diskutiert werden sollen. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich vielmehr auf eine Analyse der italienischen Kolonialtoponyme unter einigen spezifischen Gesichtspunkten. Dieser Beitrag ist eng an das Projekt zur kolonialen Makrotoponomastik in einer vergleichenden Perspektive (vgl. Stolz et al. 2016) gebunden, auf dessen Terminologie zur Beschreibung der inneren Struktur der Toponyme hier Bezug genommen wird.3 Im Bereich der kolonialen Mikrotoponymie stellen Urbanonyme, insbesondere die Straßennamen bzw. Hodonyme, den Untersuchungsgegenstand dar (vgl. Schulz und Ebert 2016). Hodonyme sind das Ergebnis administrativer Beschlüsse und werden daher in schriftlicher Form (Benennungsakten) festgehalten. Sie unterliegen Änderungen politischer, sozialer oder ökonomischer Natur. Auch wenn die italieni|| 1 [Die koloniale Propaganda des liberalen Italien war noch weit davon entfernt, so zentralisiert, geharnischt und schlagkräftig wie jene des faschistischen Italien zu sein; sie war jedoch offiziell geboren] (Übersetzung P. M.). 2 [aus dem Blickwinkel des kolonialen Bewusstseins bzw. des “Kolonialdiskurses“ die Unterschiede an die Einzigartigkeit der faschistischen Ära gebunden waren, vor allem an den Krieg von 1935–1936, im Vergleich zu den vorhergehenden kolonialen Erfahrungen des liberalen Italien] (Übersetzung P. M.). 3 Die im vorliegenden Beitrag zu diskutierenden koloniale Benennungspraktiken unterhalb der Ortsebene sind Thema des Würzburger Forschungsprojekts.
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schen kolonial intendierten Straßennamen gemeinsam eine Kategorie bilden, so sind doch die Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Benennungsmotive überaus differenziert. Der Vergleich der italienischen kolonial intendierten Straßenbenennungen während der faschistischen bzw. liberalen Periode ist hinsichtlich der Formen und Funktionen eine detaillierte linguistische Erforschung wert (vgl. Miccoli 2019: 75–77). In diesem Beitrag werden kolonial intendierte Toponyme in Rom und der Kolonialstadt Tripolis untersucht. In Bezug auf Tripolis werden zwei Karten verglichen (1914, 1934). Die Wahl der beiden Karten dieser Stadt ist dadurch motiviert, dass das liberale Italien Libyen 1914 seit Kurzem besetzt hatte, während der Faschismus 1934 seit bereits gut 20 Jahren in Italien herrschte. Die beiden Karten bieten daher ein hervorragendes Material zum Vergleich der italienischen kolonial intendierten Straßennamen während der liberalen bzw. faschistischen Periode in Tripolis. Hinsichtlich der Klassifikation der Toponyme wird sowohl die Tradition der italienischen als auch der deutschen Toponomastik berücksichtigt. Mit Mikrotoponomastik ist gemeint: „il complesso dei nomi locali minori; vi rientrano appezzamenti di terreno, boschi, prati e così via” (Marcato 2009: 105).4 Laut Nübling et al. (2015: 206) sind Makrotoponyme Namen größerer geographischer Objekte mit einem weiten Bekanntheitsgrad, wohingegen sich Mikrotoponyme auf einen kleineren Kommunikationsradius beschränken, wie im Falle von Straßen, oder Vierteln menschlicher Ansiedlungen sowie Gewässern u.a. Als Unterkategorie der Mikrotoponyme werden die sogenannten Urbanonyme betrachtet: Con toponomastica urbana si intendono i molti nomi che sono formati da nomi comuni come civita, villa, vico, borgo, castello, casale e altri con le diverse accezioni assunte nel tempo, e che alludono alle varie modalità di insediamento, nomi ricorrenti nella toponomastica e nella microtoponomastica italiana, nonché le designazioni di parti del centro abitato che caratterizzano la topografia urbana. (Marcato 2009: 174)5
Die Hodonomastik wird ihrerseits als eine weitere Unterkategorie betrachtet und
|| 4 [der Komplex kleinerer Lokalitäten; darunter Gelände, Wälder, Wiesen, und so weiter] (Übersetzung P. M.). 5 [Unter urbaner Toponomastik versteht man jene Namen, welche aus allgemeinen Begriffen wie Villa, Gasse, Burg, Bauernhaus etc. mit ihren unterschiedlichen Bedeutungen bestehen, die sie im Laufe der Zeit bekamen und welche auf die unterschiedlichen Arten der Ansiedlungen anspielen. Namen, welche in der italienischen Toponomastik und Mikrotoponomastik wiederkehren sowie die Bezeichnungen des bewohnten Zentrums, welche die urbane Topographie charakterisieren.] (Übersetzung P. M.).
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comprende le denominazioni delle strade, delle suddivisioni della città in quartieri, sestieri, contrade e così via, e presenta vari motivi di interesse non solo per le intitolazioni ma anche per i nomi delle «aree di circolazione» spesso originari appellativi divenuti odonimi. (Marcato 2009: 177)6
Was die deutschen Hodonyme betrifft, so kann gesagt werden, dass durch ihre Semantik und ihre Morphologie die meisten Straßen den genannten Anliegen [d. i. Orientierung im weiteren Sinne, P. M.] per se gerecht werden, weil sie in der Regel Komposita sind und als Grundwort ein dem Appellativbereich entnommenes -straße, gasse, -weg, -platz etc. haben. (Fuchshuber-Weiß 1996: 1468)
Die italienischen Hodonyme zeigen eine andere Morphologie, denn normalerweise werden die Klassifikatoren den Determinierern7 vorangestellt. Im Einklang mit Schulz und Ebert (2017: 163–164) steht die Erforschung kolonial intendierter Straßennamen und weiterer kolonial intendierter Urbanonyme im Kontext der Onomastik und der Koloniallinguistik […] Die Kolonialtoponomastik, die bislang primär die Analyse von Makrotoponymen in den Blick genommen hat […], wird durch die Analysen zur Ebene der Mikrotoponyme im Hinblick auf die sprachlichen kolonialen Aneignungspraktiken in den Ortspunkten selbst erweitert.
Wie Schulz und Ebert für die deutschen kolonial intendierten Straßennamen bemerken, lassen sich gewisse Straßennamen im Kontext deutscher Kolonialgeschichte im historischen Kontext sogar bis in die Metropole feststellen (Schulz und Ebert 2016: 359). Dieser Aspekt hat auch für die italienische koloniale Hodonomastik seine Gültigkeit.
|| 6 [umfasst die Benennung der Straßen, die Aufgliederung der Stadt in Viertel, Stadtbezirke, Straßen und so weiter und präsentiert zahlreiche interessante Anhaltspunkte, nicht nur für die Betitelung, sondern auch für die Namen der ‚Verkehrsräumeʽ, oftmals Appellativa, die Hodonyme geworden sind] (Übersetzung P. M.) 7 Sowohl für deutsche als auch für italienische Kolonialhodonyme gilt dabei, dass der Klassifikator, der immer aus einem Appellativ besteht, eine Ordnungsfunktion hat, um das Toponym aus einer ontologischen Perspektive heraus dem Geo-Objekt zuzuordnen, auf das es sich bezieht. Der Modifikator (Determinierer) hat die Funktion, die Zugehörigkeit des Objekts in einer kommemorativen Hinsicht zum Herrschaftsbereich des Kolonisators zu markieren. In diesem Sinne stellt sich so eine Besitzanspruchsfunktion dar (vgl. Stolz und Warnke 2018: 27-30).
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2 Italienische kolonial intendierte Straßennamen in Tripolis im Jahr 1914 Im September 1911 beschloss die italienische Regierung unter Führung von Giovanni Giolitti die Invasion Tripolitaniens und der Kyrenaika. Es handelte sich um einen conflitto molto particolare: formalmente contro l’impero ottomano che controllava Tripolitania e Cirenaica, ma di fatto contro la resistenza anticoloniale turco-libica e poi libica. Per tale ragione si è parlato, più correttamente, di evoluzione dalla guerra italo-turca in guerra italo-libica. (Labanca 2002: 108–109)8
Die Gründe, welche die italienische Regierung zu dieser Entscheidung trieben, lagen eher in der Suche nach internationalem Prestige als in einer tatsächlichen Kolonialpolitik im engen Sinn.9 Bei der Entscheidung Giolittis zum Angriff auf die Osmanen in Libyen mangelte es dennoch auch nicht an internen Motiven.10 Die endgültige Entscheidung fiel jedoch im Anschluss an die zweite MarokkoKrise, verursacht vom deutschen Kaiserreich, welches immer mehr in Richtung Weltpolitik strebte. „Il timore italiano che l’azione di Berlino, direttamente o indirettamente, finisse per alterare lo statu quo del Mediterraneo e vanificare
|| 8 [sehr besonderen Konflikt: formal gegen das Osmanische Reich, welches Tripolitanien und die Kyrenaika kontrollierte, de facto jedoch gegen den türkisch-libyschen und später libyschen antikolonialen Widerstand. Aus diesem Grund sprach man, korrekterweise, von der Entwicklung des italienisch-türkischen Krieges zum italienisch-libyschen Krieg] (Übersetzung P. M.). Für eine Vertiefung zu den Geschehnissen des italienischen Kolonialismus sei der Text von Angelo Del Boca, insbesondere die beiden Bände der Sammlung: Gli italiani in Libia [Die Italiener in Libyen] als auch die vier Bände der Sammlung Gli italiani in Africa Orientale [Die Italiener in Ost-Afrika] empfohlen. Des Weiteren wird die folgende Monographie von Nicola Labanca empfohlen: Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana [Übersee. Geschichte der italienischen kolonialen Expansion], in der der Autor sämtliche ökonomische, politische und kulturelle Aspekte der einzelnen Geschehnisse behandelt. 9 In Bezug auf die Eroberung Libyens durch Italien unterstreichen sowohl Del Boca als auch Labanca die Befürchtungen bezüglich einer eventuellen Kontrolle Frankreichs oder Englands (Mächte, die bereits wichtige Kolonien im Mittelmeerraum hatten) als treibenden Faktor, welche die italienische Regierung zur Invasion Libyens trieb – erst mittels Diplomatie, später mit Militärgewalt. 10 Labanca vertritt die These, dass Giolitti sich 1911 in Schwierigkeiten befand. Dieser hatte in der Vergangenheit ein politisches Reformprojekt versprochen, um den Konsens der Sozialisten zu erreichen. Mit dem Kolonialkrieg wollte er Stimmen der liberalen und konservativen Kräfte sowie der Nationalisten und Katholiken erreichen.
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anni di preparazione spinse il governo ad agire” (Labanca 2002: 112).11 Die italienische Regierung begann am 29. September 1911 mit der Militäraktion, nachdem sie dem Osmanischen Reich ein unannehmbares Ultimatum vorgeschlagen hatte. Die Eroberung Libyens erwies sich als nicht einfach, da die Italiener den einigenden Faktor der muslimischen Religion zwischen den verschiedenen in Libyen präsenten Bruderschaften unterschätzt hatten, darunter vor allem der Senussi-Orden. Aufgrund der beginnenden Kriege auf dem Balkan war das Osmanische Reich jedoch zur Kapitulation gezwungen. An beiden Fronten Krieg zu führen war unmöglich und so erreichte man das Friedensdekret von Ouchy am 15. Oktober, unterschrieben von Italien und dem Osmanischen Reich, wobei das Osmanische Reich sich verpflichtete, seine Beamten aus Libyen zurückzuziehen. Doch auch nach der Okkupation blieb der libysche Widerstand noch über Jahre ein Problem für Italien (vgl. Traversi 1964: 90–91). 1912 begannen die Italiener mit der akkuraten kartografischen Vermessung Libyens. In diesen historischen, politischen, geografischen und kartografischen Kontext ist die Karte von Tripolis aus dem Jahr 1914 einzuordnen, welche im lithografischen Verfahren von C. Salussolia in einem Maßstab von 1:5000 produziert und vom Kolonialministerium publiziert wurde.12 Dieser Stadtplan ist, obwohl er auf die beginnende Phase der Herrschaft zurückzuführen ist, eine sehr informative Quelle von hoher kartografischer Qualität: Die Umgebungen der Straßenzüge (auch der kleineren) sind gut abgegrenzt und die Toponyme gut sichtbar, daher zeugt diese Karte auch von den ersten Umbenennungsprozessen einiger urbaner Orte seitens der ersten Kolonisatoren des liberalen Italiens. Ricci weist auf die viel diskutierte Frage der graphematischen Italianisierung der lokalen Toponyme hin, welche aus anderssprachigen Atlanten und topografischen Karten in italienische Dokumente übernommen wurden (vgl. Ricci 2005: 196). Zeitgenössisch wurde die graphematische Anpassung der Namen an das Italienische, nicht aber ihre Übersetzung empfohlen (vgl. Ricci 2005: 197). Diese Tendenz spiegelt sich auch sehr klar in der Karte von Tripolis aus dem Jahr 1914 wider: Man trifft hier nur selten auf die Übersetzung lokaler Namen ins Italienische, allerdings wird die Schreibweise der lokalen Namen mittels einer Anpassung an das italienische Alphabet adaptiert. Die Präsenz || 11 [Die Furcht Italiens, dass die Aktion in Berlin direkt oder indirekt dazu führen könne, den Status quo im Mittelmeerraum zu verändern und Jahre der Vorbereitung zunichtemachen könne, trieb die Regierung zur Aktion](Übersetzung P. M.) 12 Die Karte von Tripolis aus dem Jahr 1914 ist in der Kartothek der Italienischen Geographischen Gesellschaft in Rom wie auch in der Kartothek des Geografischen Militärinstitutes in Florenz aufbewahrt. Sie kann auch in digitaler Form eingesehen werden: https://collections. lib.uwm.edu/digital/collection/agdm/id/3080/ (zuletzt aufgerufen am 8.03.2021).
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italienischsprachiger kolonial intendierter Straßennamen ist noch sehr gering, denn zwischen der italienischen Besetzung und der Publikation des Stadtplanes liegen nur zwei Jahre. Dennoch repräsentieren diese einen interessanten Ausgangspunkt, um über Prozesse kolonialer Umbenennung innerhalb der liberalen Periode zu reflektieren. Gemäß Laura Ricci trifft man lediglich auf zwei Fälle, in denen arabische Toponyme mit der italienischen Übersetzung in Klammern (mit lateinischem Alphabet geschrieben) erscheinen: Such el Cobza (Piazza del Pane)13 und Bab el Gedid (Porta nuova).14 Außerdem wurde ein türkisches Toponym durch eine italienische Benennung ersetzt: Castello ʻSchloss’ anstelle der alten osmanischen Bezeichnung Konak ʻHerberge’. Zahlreicher sind hingegen italienische Kolonialtoponyme, welche, auch wenn sie erst nach der Besetzung in Karten verzeichnet sind, auf den ökonomischen Einfluss gewisser unternehmerischer und geldgebender Akteure des liberalen Italien hinweisen. Deren Einfluss in Libyen hatte bereits vor der militärischen Invasion begonnen. In diesem Zusammenhang ist bspw. das Urbanonym Piazza dello Sparto ʻEspartogras-Platz’ zu nennen. Dieses Toponym geht auf ökonomische Initiativen der Banco di Roma zurück, welche diese unter Druck der zentralen Regierung bereits vor der Invasion in Tripolis durchführte. Zu den zahlreichen industriellen Initiativen zählt der Erwerb einer Presse für Espartogras (vgl. Del Boca 1993: 60), welche an eben jenem Platz errichtet wurde. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass dieser Platz nach diesem Verwendungszweck benannt wurde. Nicht zufällig war Espartogras, eine Grasart, deren Fasern u. a. für Flechtarbeiten verwendet werden kann, eines jener Produkte, das unter Initiative der Banco di Roma nach Italien exportiert wurde. Hier handelt es sich also um einen besonderen Fall, in welchem eine vorhergehende ökonomische, finanzielle und kommerzielle Initiative zu einer Benennung geführt hatte. In gewisser Hinsicht gilt dasselbe auch für den Großteil weiterer italienischer kolonialer Urbanonyme, welche auf der Karte von Tripolis aus dem Jahr 1914 präsent sind. Auch das Urbanonym Molino ʻMühle’ del Banco di Roma entstand durch eine industrielle Initiative der Banco di Roma, welche der Invasion vorausging. Die römische Bank hatte vorgeschlagen, in Tripolis die Errichtung einer enormen Mühle in Zylinderform zu fördern, welche eine Million Lira kosten und 1000 Doppelzentner Mehl pro Tag produzieren sollte (vgl. Del Boca 1993: 65). Auch die verschiedenen Toponyme für Anlegebrücken sind unter diesem Gesichtspunkt sehr aussagekräftig und zeigen die starke italienische Präsenz in Libyen bereits vor der Invasion. An dieser Stelle seien erwähnt: Pontile del Banco di Roma, Pontile
|| 13 Such el Cobza (d. i. Suq al Cobza) ‘Brotmarkt’; Piazza del Pane ‘Brotplatz’. 14 Bab el Gedid ‘neues Tor’; Porta nuova ‘neues Tor’.
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dello Sparto, Pontile di Consorzio del Porto di Genova. Dagegen scheinen andere Toponyme (z. B. Pontile FF.SS., Pontile Regia Marina, Pontile della Società Nazionale, Pontili della Dogana, Stazione di smistamento und Stazione Sanitaria Marittima) auf eine Umbenennung bereits bestehender arabischsprsachiger Urbanonyme zu verweisen, welche sukzessive nach der militärischen Besetzung erfolgte. Es entsteht der Eindruck, dass die Kolonialmacht mit dem Fokus auf wirtschaftlichen Nutzen (um-)benennt. Erwähnt werden soll auch die Präsenz eines italienischen kolonialen Urbanonyms mit monarchischem Bezug: Ospedale Vittorio Emanuele III sowie die Präsenz der Caserma Imperiale. Die Benennungspraxis folgt damit dem Usus von Benennungen in der Metropole; die Kolonie scheint insofern auch den Namen nach in den italienischen Herrschaftsbereich eingegliedert. Das Toponym Chiesa di Santa Maria degli Angeli steht im Zusammenhang mit der Mission von Franziskanermönchen, welche bereits im 17. Jahrhundert nach Libyen kamen. Die Konstruktion der Kirche geht auf ebendieses Jahrhundert zurück und ihr ursprünglicher Name lautete Nostra Signora degli Angeli.15 Einen antiken Bezug hat das Urbanonym Arco Marco Aurelio. Bei allen anderen Urbanonymen, die auf der Karte von Tripolis aus dem Jahr 1914 festzustellen sind (Cimitero arabo, Cimitero cattolico ortodosso, Cimitero ebreo, Dogana, Scuola d’arte e mestiere, Scuole) handelt es sich um italienische Benennungen historischer Orte. Die Toponyme der Befestigungen (Forte Faro, Forte Molo und Forte Spagnolo) verdienen eine besondere Beachtung. Im ersten Fall handelt es sich um eine italienische Übersetzung bereits existierender primärer Toponyme, welche sich auf erwähnenswerte Bauten wie ein Hafenbecken oder einen Leuchtturm beziehen. Im Fall des Forte Spagnolo ist folgender interessanter Aspekt herauszustellen: Die italienischen Kolonisatoren wählten für die Umbenennung der Festung ein Toponym, welches bereits in der Vergangenheit verwendet wurde und welches an die Besetzung Libyens durch eine andere europäische Kolonialmacht erinnert. Die Spanier besetzten Tripolis und einen Teil der libyschen Küste zu Beginn des 16. Jahrhunderts und übergaben den Hafen der Stadt sukzessive an die Ritter von Malta, und zwar noch vor der endgültigen osmanischen Übernahme der Stadt im Jahr 1551. Die italienischen Kolonisatoren gaben daher jenem Toponym den Vorzug, welches an die Herrschaft einer anderen (katholischen) europäischen Kolonialmacht erinnert und negierten die Bezeichnung osmanischer Herkunft, welche nach der Eroberung von 1551 anstatt Forte degli Spagnoli benutzt wurde.
|| 15 Vgl. http://www.zeriba.net/nuovo%20sito/tripoli%20una%20citt%C3%A0.htm.
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Das italienische Kolonialtoponym Passeggiata a mare zeigt deutlich die Übernahme eines Benennungsmusters der italienischen Metropole für große, am Meer gelegene Straßen. Durch diese Tradition werden die Kolonien gewissermaßen an die Metropole angenähert. Basierend auf der Klassifizierung nach Nübling et al. (2015: 244–251) ist festzustellen, dass es sich bei den oben angeführten Toponymen, wie im Übrigen bei allen kolonialen Exonymen16 zu Beginn des 20. Jahrhunderts bzw. am Ende des 19. Jahrhunderts, so gut wie immer um sekundäre Toponyme handelt. Darunter befinden sich einige wenige Ausnahmen, die aufgrund ihrer historischen Herkunft erst zu einem anderen Zeitpunkt dazu wurden. Was die Benennung betrifft, so ist diese auf offizielle administrative Verfügungen der Kolonialmacht zurückzuführen.17 Alle Toponyme sind in schriftlicher Form festgehalten. Im Hinblick auf die Funktion der Toponyme kann festgestellt werden, dass diese zum Großteil eine beschreibende Funktion bzw. Orientierungsfunktion innehaben und lediglich ein kleiner Teil kommemorative Zwecke erfüllt. Diese Feststellung ist besonders relevant, da sie einen der wesentlichsten Unterschiede zwischen den italienischen kolonialen Urbanonymen der liberalen und der faschistischen Periode ausmacht (vgl. Abschnitt 3). Abgesehen von jenen Toponymen, die wie oben angeführt die italienischen Übersetzungen bereits existierender autochthoner Bezeichnungen darstellen (Piazza del Pane, Castello, Porta Nuova) kann festgestellt werden, dass lediglich zwei italienische koloniale Urbanonyme mit Erinnerungsfunktion existieren: Caserma imperiale und Ospedale Vittorio Emanuele II. Alle anderen (Piazza dello Sparto, Passeggiata a mare, Dogana, Molino del Banco di Roma, Forte Faro, Forte Molo, Pontile del Banco di Roma, Pontile del Castello, Pontile dello Sparto, Pontile di Consorzio del Porto di Genova, Pontile FF.SS, Pontile Regia Marina, Pontile Società Nazionale, Pontili della Dogana, Stazione di smistamento, Stazione Sanitaria Marittima) üben eine
|| 16 Stolz und Warnke (2018: 15) teilen Kolonialtoponyme ausgehend von der sprachlichen Abstammung ihrer Konstituenten in drei Kategorien ein: Endonyme, Hybride und Exonyme. Ein endonymisches Kolonialtoponym besteht ausschließlich aus Bestandteilen, die nicht der Sprache eines Kolonisators entnommen sind, sondern aus einer der Sprache der Kolonisierten stammen. Ein hybrides Kolonialtoponym besteht aus mindestens zwei Komponenten, von denen eine auf die Sprache eines Kolonisators zurückgeht und eine andere aus einer der Sprachen der Kolonisierten stammt. Ein exonymisches Kolonialtoponym besteht ausschließlich aus Bestandteilen, die keiner der Sprachen der in einem gegebenen Gebiet Kolonisierten, sondern der Sprache eines Kolonisators entnommen sind. 17 Allerdings wurden die neuen Namen sehr häufig von der lokalen Bevölkerung nicht anerkannt bzw. benutzt, da diese stattdessen weiterhin ihre gewohnten Bezeichnungen verwendeten.
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beschreibende bzw. in manchen Fällen eine orientierungsgebende Funktion aus der Blickrichtung der Metropole aus. Generell kann daher festgestellt werden, dass in Libyen während der ersten Phase der italienischen Kolonialherrschaft – welche mit der liberalen Periode übereinstimmt – die italienische Kolonialmacht bestimmte Orte unter Verwendung von italienischen Kolonialtoponymen umbenannte. Diese Determinierer verweisen in den meisten Fällen auf ökonomische, militärische oder administrative Zusammenhänge.
3 Italienische kolonial intendierte Hodonyme in Tripolis im Jahr 1934 Das Jahr 1922 stellte mit dem Marsch auf Rom der faschistischen Schwarzhemden und der ersten Regierungsbildung Mussolinis in der italienischen Geschichte und Kolonialgeschichte eine Zäsur dar. Für Libyen spielen jedoch auch die Jahre von 1914 bis 1922 eine tragende Rolle, da zahlreiche wichtige Ereignisse über die zukünftige Präsenz Italiens in der Kolonie entscheiden sollten. Es soll darauf hingewiesen werden, dass Italien trotz des Traktates von Ouchy von 1912, welches den Italienern die Souveränität über Libyen zusicherte, mit seinem Besetzungsheer de facto nur die Küstenzonen Tripolitaniens und der Kyrenaika kontrollierte. In den Jahren nach dem Traktat musste die italienische Regierung kostspielige Militäreinheiten zur Kontrolle der großen Region Fezzan im Landesinneren organisieren. Aufgrund dieser Militäreinsätze erreichte Italien zwar sein anfangs angestrebtes Ziel. Viele Faktoren, darunter mangelndes diplomatisches Geschick18 sowie erbarmungsloses militärisches Vorgehen gegen den libyschen Widerstand19, nährten jedoch den Widerstand seitens der Araber unter der Leitung der Sanusiya, welchem es 1915 gelang, die italienische Armee20 aus dem Fezzan zu vertreiben. Sie wurde in Gasr Bu Hadi blutig geschlagen und zum Rückzug in die Kyrenaika gezwungen. In den darauffolgenden Jahren wechselte Italien, welches sich nun der Stärke des Senussi-Ordens bewusst war, zwischen unterschiedlichen Phasen: Einerseits wurden politischdiplomatische Einigungen mit der Sanusiya angestrebt, andererseits wurde die
|| 18 Beispielsweise die anfängliche Unterschätzung der weitgehenden politischen und militärischen Kontrolle des Südens seitens des Senussi-Ordens. 19 Man denke nur an den fortwährenden Einsatz des Galgens zur Unterdrückung. 20 Italien war zu dieser Zeit auch in den 1. Weltkrieg verwickelt.
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Rückeroberung versucht. Als wichtigster Versuch gilt jener von Giuseppe Volpi, welcher ab 1921 Gouverneur der Tripolitania war. Damit wird das verhängnisvolle Jahr 1922 eingeleitet, welches den radikalen Wendepunkt der Kolonialpolitik beschreibt. Dazu Angelo Del Boca: Si tratta, dunque, di una svolta decisiva, che taglia ogni legame con il passato. Mussolini non ha ancora elaborato una dottrina coloniale e neppure ha disegnato la mappa delle sue rivendicazioni, ma già dal 1922 intende adottare nuovi metodi, decisamente opposti a quelli usati in precedenza. In Libia, come in Somalia, non si scenderà più a compromessi, non si umilierà più con «tortuosi accomodamenti». L’Italia fascista riprende la sua libertà d’azione, decisa a stroncare gli avversari e non più ad accattivarseli. (Del Boca 1994: 6–7)21
Mit der Machtübernahme der Faschisten im Jahr 1922 ändert sich also die italienische Kolonialpolitik. Diese Änderungen wurden von einer Serie politischer und militärischer Aktionen begleitet, mit denen Benito Mussolini die Wichtigkeit der Kolonien für Italien zu unterstreichen trachtete, vor allem hinsichtlich des wachsenden Einflusses Italiens im Mittelmeerraum. Der Kurswechsel erfolgte nach und nach: Besonders zwischen 1922 und 1936 – also von der Machtübernahme Mussolinis bis zur Publikation Michelinis Karte von Tripolis22 – sind zahlreiche entscheidende Ereignisse zu verzeichnen. Dazu zählen der Besuch Mussolinis in Tripolis im Jahr 1926, welcher eine starke symbolische Bedeutung hatte, die militärischen Eroberungen von Emilio De Bono (Gouverneur der Tripolitania ab 1925), die Eroberung von Giarabub in der Kyrenaika, die neuen Kolonialgesetze, die Ernennung des Generals Pietro Badoglio zum alleinigen Gouverneur der Tripolitania und der Kyrenaika im Jahr 1928, die Verhandlungen mit Omar al-Mukhtār sowie die große Repression, welche mit der Festnahme, dem Prozess und der Hinrichtung des Oberhauptes der arabischen Widerstandsbewegung endete. Die wichtigste Quelle der toponomastischen Daten, welche in diesem Abschnitt behandelt werden, ist die bereits erwähnte Karte von Tripolis von
|| 21 [Es handelt sich um einen entscheidenden Wendepunkt, der jede Verbindung zur Vergangenheit durchtrennt. Mussolini hatte zwar noch keine Kolonialdoktrin erarbeitet und auch noch keinen Plan hinsichtlich seiner Ansprüche erstellt, doch bereits ab 1922 wendet er neue Methoden an, die sich gänzlich von den zuvor angewendeten unterscheiden. In Libyen wie auch in Somalia werden keine Kompromisse mehr eingegangen, man beugt sich keinen umständlichen Vergleichen mehr. Das faschistische Italien nimmt sich seine Handlungsfreiheit, fest entschlossen, seine Gegner niederzuwerfen und nicht mehr um deren Gunst zu buhlen.] (Übersetzung P. M.) 22 Diese Karte stellt die grundlegende Quelle für die Analyse der italienischen kolonialen Urbanonyme der faschistischen Epoche dar.
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Michelini aus dem Jahr 1934. Es handelt sich um eine lithographische Karte im Maßstab von 1:10.000, welche von der Tripolitanischen Tourismusbehörde unter Verantwortung von U.C.I.P.I. (Unione Coloniale Italiana Pubblicità e Informazione), dem Herausgeber des Jahrbuches von Tripolis und der Tripolitania unter Mitwirkung des Kommandos R.C.T.C. (Regio Corpo Truppe Coloniali) der Tripolitania, publiziert wurde.23 Die Karte stellt nicht nur eine sehr detaillierte Ansicht der Stadt dar, sondern weist auch eine Liste sämtlicher Urbanonyme (Platznamen, Straßennamen etc.) auf, welche sehr einfach mittels Koordinaten in Form von Zahlen und Nummern aufzufinden sind. Vor der Analyse der Besonderheiten dieser Quelle soll ein Vergleich mit der Karte Tripolis aus dem Jahr 1914 von Salussolia stattfinden. Der tiefgreifende toponomastische Unterschied der beiden Karten ist auf den ersten Blick ersichtlich: Vor allem wird in der zweiten Karte ein vermehrtes Auftreten italienischer kolonialer Urbanonyme sichtbar: Während in der Karte von Salussolia etwa 30 auftauchen, sind es in der Karte von Michelini beinahe 250. Die Gründe für diesen Wandel in der kartierten Toponomastik Tripolis liegen nicht nur in der zeitlichen Distanz von zwei Jahrzehnten. Natürlich spielt auch diese eine wichtige Rolle, da die zahlreichen italienischen kolonialen Urbanonyme in Michelinis Karte sich mit der im Laufe von 22 Jahren nunmehr stabilisierten Kolonialherrschaft erklären lassen. Dennoch lassen sich diese tiefgehenden toponomastischen Unterschiede nur unzureichend mit diesem einen Erklärungsmodell belegen. Es gibt noch andere Gründe, welche die Wurzeln dieses tiefgreifenden politisch-institutionellen Wandels vom liberalen Italien zum Faschismus erklären. Von einem toponomastischen Blickwinkel aus wird dieser Wandel vom vermehrten Einsatz von solchen Urbanonymen, welche aus einem anthroponymischen Determinierer mit Erinnerungsfunktion bestehen, markiert. Während in der Karte von 1914 lediglich eines vorkommt, das auf die Monarchie zurückgeht (Ospedale Vittorio Emanuele III), so sind es in der Karte von Michelini beinahe 120. Laut Ricci lassen sich klare und konsequent angewendete Kriterien zur Findung einer Großzahl an Toponyme finden, die afrikanischen Städten zugewiesen wurden. Diese umfassen historische Daten mit Erinnerungsfunktion, vor allem mit dem Epos des Krieges und des Faschismus verbunden, Namen von Regionen, Städten und Flüssen (allgemeiner feierlicher Anklang Italiens), Na-
|| 23 Die Karte von Tripolis aus dem Jahr 1934 wird in der Kartothek der Italienischen Geografischen Gesellschaft in Rom aufbewahrt und ist einsehbar: http://societageografica.org/opac/ viewer.php?i=23499.jpg.
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men historisch wichtiger Persönlichkeiten aus Geschichte, Literatur und Kunst sowie zahlreiche Namen mit Bezug auf die Monarchie (vgl. Ricci 2005: 201–202). Wenige Hodonyme hingegen lassen sich demnach auf historische Persönlichkeiten aus den Kolonien zurückführen (Ricci 2005: 202). Mit dem Beginn des Faschismus beginnt auch eine Phase der städtebaulichen Erneuerung der Stadt Tripolis. Was die Urbanonyme betrifft, so spiegeln sich die von Ricci gezeichneten Linien in der libyschen Hauptstadt wider. Die Darstellung in der oben erwähnten Karte ermöglicht jedoch eine noch detailliertere Analyse. Wie bereits erwähnt, besteht der Großteil der Konstruktionen aus anthroponymischen Determinierern und einem Klassifikator, was mittels des folgenden Schemas ausgedrückt werden kann: [{…}KLASS-{…}ANTH]TOP. Die anthroponymischen Modifikatoren verweisen zum Großteil auf historische Personen, die im Selbstverständnis Italiens Teil der italienischen (National-) Geschichte sind. Zeitgenössisch war damit als Funktion eine Erinnerung oder Würdigung intendiert (z. B. Bezüge auf Schriftsteller: via Ariosto, via Boccaccio, via Carducci, via G.B. Vico etc.; Künstler: via Michelangelo, via Giotto, via Raffaello etc.; Komponisten: via Bellini, via Giuseppe Verdi, via Donnizzetti etc.; Wissenschaftler: via Leonardo Da Vinci, via G. Marconi, via Alessandro Volta etc.; Entdecker und Seefahrer: via Cristoforo Colombo, via Flavio Gioia, via Amerigo Vespucci etc.; Heilige: via S. Francesco D’Assisi, via S. Remo etc.) Darüber hinaus sind auch zahlreiche deanthroponymische Konstruktionen mit Erinnerungsfunktion festzustellen, die an die wichtigsten Vertreter des italienischen Risorgimento erinnern, also an jene geschichtliche Periode, in der die Einigung Italiens stattfand (z. B. via Cavour, via Giuseppe Garibaldi, via Mameli, via Mazzini etc.); einflussreiche Persönlichkeiten in Verbindung mit dem Kolonialismus, sowohl aus der faschistischen als auch der liberalen Periode (z. B. Lungomare Conte-Volpi, passeggiata Maresciallo Badoglio, via Balbo, via Generale De Bono etc.); Italiener, welche sich während des Ersten Weltkrieges auszeichneten (z. B. via Giuseppe Garrone, via Generale Lequio, via Aldo Rosselli etc.); wichtige Persönlichkeiten aus der faschistischen Ära (via Michele Bianchi, via Nicola Bonservizi, via Armando Casalini etc.) sowie die Präsenz von deanthroponymischen Konstruktionen, welche an so genannte faschistische Märtyrer geknüpft ist, welche (meist zwischen 1919 und 1920) während des Biennio rosso getötet wurden. Wie bereits an anderer Stelle im Zusammenhang mit der Gründung und Benennung von 36 Dörfern unter dem Gouverneur Italo Balbo in Libyen ausgeführt (vgl. Miccoli 2017), so spielen auch in diesem Fall für die Benennung in
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Tripolis nationalbezogene bzw. nationalistische Ideologeme eine Rolle. Mussolini initiierte eine groß angelegte Aktion der Italianisierung zahlreicher Orte durch die Ersetzung vorhandener und die Etablierung neuer, italienischer Hodonyme. Durch die Umbenennung sollte ein direkter Bezug zwischen der faschistischen Ära und dem Zeitalter des Risorgimento hergestellt werden. Der Zweck war es, den Italienern, den kolonisierten Völkern und der ganzen Welt zu beweisen, dass die Diktatur Mussolinis Italien zu einer Weltmacht machen könne. Anders formuliert: Das faschistische Italien verfolgte mit Nachdruck das Ziel, den Prozess der Wiedergeburt und Entwicklung, welcher mit dem Risorgimento und der italienischen Einigung begonnen und mit der Kolonialherrschaft sowie dem Sieg im Ersten Weltkrieg fortgeschritten war, zu vollenden. Vor dem Hintergrund dieses politischen und propagandistischen Konzeptes ist auch die Präsenz einiger italienischer Hodonyme zu sehen, welche auf die Monarchie (z. B. corso Vittorio Emanuele III, Lungomare Principe di Piemonte und via Amedeo di Savoia d’Aosta) oder auf bedeutende Repräsentanten der italienischen Kultur verweisen. Auch deanthroponymische Konstruktionen, die auf Persönlichkeiten des römischen Reiches referieren, fügen sich in den propagandistischen Diskurs ein. Dies gilt in ähnlicher Weise, wie Ricci es für die kolonialen Makrotoponyme feststellte: Abbastanza scontato, invece, dato l’antichismo romano che permea da decenni l’ideologia coloniale, il suggerimento di ridenominare latinamente, in corrispondenza delle antiche province, le località annesse al dominio italiano. La restituzione del nome romano avrebbe infatti rafforzato l’idea del nostos, idolo semantico del colonialismo italiano […] La rinascita del nome antico si carica di chiari elementi simbolici, se ad essa si dà il potere di annullare d’un colpo, dopo i venti secoli intercorsi tra Roma antica e l’Italia coloniale, ‘i segni della interposta barbarie’. (Ricci 2005: 197) 24
Die Ersetzung von Ortsnamen unter Verwendung von Makrotoponymen aus der römischen Antike geht mit der Ersetzung von Straßennamen einher, deren Mo-
|| 24 [Aufgrund der Bezugnahme auf die römische Antike, welche seit Jahrzehnten die Kolonialideologie durchdringt, erweist sich der Vorschlag, die besetzten Gebiete in Übereinstimmung der antiken römischen Provinzen in lateinischer Sprache zu benennen, als ziemlich vorhersehbar. Die Wiederverwendung des römischen Namens hätte die Idee von Heimkehr, die die semantische Ideologie des italienischen Kolonialismus zusätzlich verstärkt. […] Die Wiedergeburt des antiken Namens ist mit klaren symbolischen Elementen beladen, und mit jener Hoffnung ausgestattet, auf einen Schlag die 2.000 Jahre zwischen dem römischen Imperium und dem italienischen Kolonialreich sowie die „Spuren der barbarischen Einflüsse“ auszulöschen.] (Übersetzung P. M.)
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difikatoren jetzt auf Persönlichkeiten des antiken Roms verweisen. Eine solche politische Imagination sollte durch Benennungspraktiken gestützt werden, womit der Anspruch auf sämtliche Territorien des antiken Roms – einschließlich Libyens – erhoben wurde. Es handelte sich um den propagandistischen Versuch der Konstruktion eines Imperiums, der die politische Durchsetzung des Imperiums nach dem Krieg mit Äthiopien (1935–1936) bereits vorwegnahm. Auch wenn einerseits Konstruktionen mit deanthroponymischen Modifikatoren in der Überzahl sind, sind auf der Karte von Tripolis aus dem Jahr 1934 auch Hodonyme verzeichnet, die detoponymische Modifikatoren enthalten. Es handelt sich hier um ein Konstruktionsmuster, das bereits für die liberale Periode festgestellt werden konnte, in der faschistischen Phase jedoch zunimmt. Auch in diesem Fall kann gefolgert werden, dass die Metropole in der Namenvergabe installiert wird und die Kolonie selbst gleichzeitig als Teil des Ganzen behauptet und fixiert wird: Die besetzten Gebiete erscheinen als natürliche Erweiterung Italiens. In diesem Zusammenhang stehen 86 kolonial intendierte Hodonyme auf der Karte von Tripolis aus dem Jahr 1934, die zum als Modifikatoren vor allem Städtenamen (z. B. via Bari, via Firenze, via Lecce etc.), Regionennamen (z. B. via Basilicata, via Lazio, via Lombardia etc.) und Flussnamen (via Adige, via Piave, via Reno, etc.) enthalten. Das folgende Schema zeigt den strukturellen Aufbau: [{…}KLASS-{…}TOP (STADT-LAND-FLUSS)]TOP. In der Karte sind auch Urbanonyme verzeichnet, mit denen „Richtungsverweise und Verortungen orientierend“ (Schulz und Aleff 2018: 139) hergestellt werden. Einige davon sind bereits auf Salussolias Karte von 1914 vorhanden (piazza Castello, piazza Cattedrale, piazza dell’Orologio, piazza Poste, Arco di Marco Aurelio etc.); andere hingegen wurden erst in der faschistischen Periode hinzugefügt (Federazione Fascista, Camera di Commercio Industria e Agricoltura, Agenzia C.I.T. – Tirrenia Navigazione Aerea etc.). Wie bereits gezeigt, handelt es sich hier jedoch zahlenmäßig um eine kleine Minderheit. Die analysierten Daten zeigen, dass große Unterschiede zwischen den italienischen Kolonialtoponymen der liberalen und der faschistischen Periode festgestellt werden können. In der liberalen Periode erfolgt die Umbenennung der Orte durch italienische Hodonyme vorsichtiger und zurückhaltender: In den meisten Fällen können den Toponymen im allgemeineren Sinne orientierende oder auch erinnernde Funktionen zugesprochen werden. In der faschistischen Periode erfolgt hingegen eine starke Hinwendung zur Umbenennung mit italienischen Hodonymen. Deanthroponymische Modifikatoren werden dabei erheblich häufiger in den Konstruktionen verwendet.
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4 Kolonial intendierte Straßennamen im Quartiere Africano in Rom In Einklang mit Schulz und Ebert (2016: 369) ist eines der fundamentalen Ziele des vorliegenden Forschungsbeitrags, die Übereinstimmungen bzw. Unterschiede kolonialer Nameninventare zwischen Kolonien und Metropole auszumachen. Innerhalb dieses Beitrags kann kein vollständiger Vergleich zwischen den italienischen kolonial intendierten Urbanonymen der Metropole und den Kolonien erfolgen. Der vorliegende Beitrag ist als ein erster Schritt in diese Richtung zu betrachten, indem er die Kolonialstadt Tripolis und Rom, die Hauptstadt der Metropole, vergleicht. Für Tripolis finden die bereits analysierten Daten der Karten Salussolias (1914) und Michelinis (1934) Anwendung. Hinsichtlich der kolonial intendierten Urbanonyme Roms (wobei es sich zum Großteil um Hodonyme handelt), werden jene des so genannten Quartiere Africano in Rom analysiert. Wie bereits Ricci (2005: 191–196) hervorhebt, wurden sämtliche kolonial intendierten Straßennamen des Quartiere Africano im Zeitraum zwischen 1920 und 1937 im Rahmen von fünf Kommunalbeschlüssen festgelegt.25 Der erste (vgl. Delibera 201 vom 21.07.1920) besagt, dass die Straßennomenklatur des Viertels an die kolonisierten Regionen und Städte erinnern soll; der zweite (vgl. Delibera 249 vom 06.06.1922) bezieht sich auf den ersten Beschluss; der dritte (vgl. Delibera 1980 vom 08.04.1933) beschließt (abgesehen von der Zuweisung von Straßennamen, die auf weitere afrikanische Ortspunkte referieren) die Benennung einiger neu angelegter Straßen, die auf Namen italienischer ‚Kriegshelden‘ aus afrikanischen Kriegen referieren; der vierte (vgl. Delibera 5095 vom 30.07.1937) stabilisiert die Zuweisung antiker (lateinischer) Namen Libyens. Im fünften (vgl. Delibera 5778 vom 20.11.1937) werden weitere Hodonyme verfügt, die hauptsächlich auf Äthiopien referieren. Die toponomastische Geschichte des Quartiere Africano in Rom ist ein interessantes Beispiel für einen Vergleich zwischen der italienischen Kolonialhodonomastik der liberalen und der faschistischen Periode innerhalb der Metropole. Während die letzten drei Kommunalbeschlüsse der faschistischen Periode der italienischen Kolonialgeschichte zuzuordnen sind, gehören die ersten beiden
|| 25 In Übereinstimmung mit der von Ricci (2005) durchgeführten Studie wird als Quelle der hodonymischen Sprachdaten in diesem Kapitel die Kartei der Gemeindeausschüsse der Stadt Rom herangezogen. Diese können im toponomastischen Archiv des kapitolinischen Gemeindeamtes eingesehen werden.
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noch der liberalen Phase an. Es ist insofern zu fragen, welchen Einfluss die nationalistischen Parteien (darunter die nationale faschistische Partei ab 1921), die sich bereits seit den ersten Nachkriegsjahren im Aufschwung befanden, auf das kulturelle Klima bzw. sogar auf die toponomastischen Entscheidungen der Stadt Rom ausübten. Die Exekutive, die das Land während der ersten beiden Kommunalbeschlüsse leitete (d. i. die V. Regierung Giolitti und die Regierung Facta), war eine Koalitionsregierung, geführt von der liberalen Partei Italiens unter Teilnahme weiterer Parteien wie dem Partito Popolare, dem Partito Socialista Riformista Italiano, dem Partito Democratico Sociale Italiano und dem Partito Radicale Italiano. Der Beschluss 201 vom 21.07.1920 fixiert wie bereits erläutert die Nomenklatur der Straßen des Viertels und könnte an kolonisierte Städte und Regionen erinnern. Im Rahmen des Beschlusses werden als Straßennamen via Asmara und via Massaua verfügt. Strukturell bestehen diese Namen aus einem (unspezifischen) Klassifikator einem Modifikator, der detoponymisch auf den Namen einer Stadt in Eritrea, der ersten italienischen Kolonie, referiert. Beschluss 249 vom 06.06.1922 geht in der Namenverfügung in dieselbe Richtung, wenn für elf neu erschlossene Straßenzüge des Viertels die folgenden Hodonyme (als Cluster) verfügt werden: via Bengasi, via Cirenaica, via Derna, viale Eritrea, via Giuba, via Homs, viale Libia, via Misurata, via Mogadiscio, via Tobruk und via Tripoli. Es handelt es sich um italienische kolonial intendierte Straßennamen, deren Modifikatoren Namen von Ortspunkten oder Regionen Libyens aufgreifen (Bengasi, Kyrenaika, Derna, Homs, Libyen, Misurata, Tobruk, Tripolis) – via Giuba enthält als Ausnahme den Namen des größten Flusses Somalias. Analysiert man nun die Kommunalbeschlüsse der faschistischen Periode, dann können sowohl Kontinuitäten in der Vergabepraxis als auch Abweichungen im Vergleich zur liberalen Phase festgestellt werden. Der Beschluss 1980 vom 08.04.1933 bekräftigt die Umbenennung einiger Straßen zu den folgenden Hodonymen: via Adigrat, via Agordat, via Assab, via Coatit, via Makallè, via Senafè. Parallel dazu erfolgt die Benennung einiger neu errichteter Straßen im (räumlich entfernten) Viertel Prenestino mit Hodonymen, die deanthroponymisch auf Kriegshelden der afrikanischen Kriege verweisen (via Giuseppe Arimondi, via Vittorio Da Bormida, via Tommaso De Cristoforis, via Giuseppe Galliano und via Pietro Toselli). In diesen letzten Fällen handelt es sich um ein offensichtlich charakteristisches Element der faschistischen Kolonialhodonomastik, das sich auch formal niederschlägt. Die propagandistische Verwendung von Straßennamen, die aus einem Klassifikator und einem anthroponymischen Modifikator bestehen, ist in diesem Fall an die zentralen Personen der kolonialen Vergangenheit Italiens geknüpft. Im ersten Fall handelt es sich – zumindest auf den ersten Blick – um ein fortdauerndes Element aus der liberalen Phase.
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Diese Kontinuität betrifft allerdings nur den Status kolonial intendierter Hodonyme mit Erinnerungsfunktion, zusammengesetzt aus einem Klassifikator und dem Namen eines Ortspunkts aus Eritrea. Davon unterscheiden sich die Motive der kommemorativen Funktion. Im Fall des ersten Beschlusses während der liberalen Periode bestand das Ziel darin, an Städte und Regionen Eritreas zu erinnern. In der Zeit des Faschismus sollten dagegen hauptsächlich jene Orte gewürdigt werden, welche eine präzise historische Bedeutung als Schauplatz des Abessinienkrieges hatten, der auch als erster italienisch-äthiopischer Krieg (1895–1896) bezeichnet wird und der die vernichtende Niederlage der italienischen Truppen gegen die Armee von Negus Menelik II zur Folge hatte. Die Intention des Regimes war in diesem Fall offenbar, an eine schreckliche und demütigende Niederlage zu erinnern und damit implizit die Forderung zu verbinden, dass Italien sich in Zukunft rächen müsse. Mit dem zweiten in der faschistischen Periode erfolgten Kommunalbeschluss Roms 5095 vom 30.07.1937 werden die folgenden Straßennamen vergeben: Via Cirene, via Leptis Magna. Es handelt sich bei den Modifikatoren um Namen der antiken libyschen Kolonien des Römischen Reiches, welche das Regime nicht nur für die Umbenennung in Libyen nutzte, sondern auch zur Umbenennung einiger Straßen des Quartiere Africano in Rom. Das propagandistische Ziel scheint stets dasselbe zu sein: Das faschistische Italien soll als Erbe des großen Römischen Reiches präsentiert werden. Im letzten Beschluss 5778 vom 20.11.1937 wurden folgende koloniale Straßennamen vergeben: Piazzale Addis Abeba, via degli Amara, piazza Amba Alagi, via Dire Daua, via Endertà, via del Fezzan, via Galla e Sidama, via Gimma, piazza Gondar, via Harar, via Lago Tana, via Neghelli, via Ogaden, via Sassabanèh, via Scirè, via Tembien und via Tigrè. In diesen Fällen bezieht sich die Erinnerung zum einen auf existierende Orte (Addis Abeba, Dire Daua, Fezzan, Gimma, Gondar, Harar, Lago Tana, Tigrè) und Bevölkerungsgruppen (Amara, Galla, Sidama) der Kolonien, zum anderen auf Orte als Imagination von militärischen, als ruhmvoll gedeuteten Handlungen zur Unterwerfung der Kolonien, insbesondere im Zusammenhang mit zentralen Schauplätzen des Äthiopienkrieges von 1935–1936 und der Eroberung des Äthiopischen Reiches (Endertà, Neghelli, Ogaden, Sassabanèh, Scire und Tembien). In diesem Zusammenhang erscheint die Benennung der Piazza Amba Alagi26 im römischen Viertel als ein Höhepunkt kolonialer Imagination.
|| 26 Hier ist an den Schauplatz der italienischen Niederlage (Dezember 1895) ebenso wie an die zweite Schlacht 1936 zu denken, bei der unter Einsatz brutaler militärischer Mittel ein massiver Sieg erreicht wurde.
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Als Schlussfolgerung kann gesagt werden, dass am Beispiel der toponomastischen Schichten des römischen Quartiere Africano strukturelle und funktionale Kontinuitäten und Brüche innerhalb der Benennungs- und Umbenennungspraktiken der liberalen und faschistischen Periode der Metropole zu erkennen sind. In beiden untersuchten Epochen sind Toponyme erkennbar, die einen toponymischen Determinierer mit Bezug auf die Kolonien (Name einer Kolonie, Region, Stadt, eines Flusses oder Sees etc.) enthalten. Ihre Funktion ist es, in der Metropole auf die Kolonien zu verweisen. In der faschistischen Periode sind zusätzlich auch Einschreibungen und Umbenennungen zu bemerken, die einen anthroponymischen Determinierer mit Bezug auf eine Person der Metropole enthalten. Die Orte werden in propagandistischer und in appellativer Funktion mit alten Schlachten und neuen Eroberungen verknüpft.
5 Schlussfolgerungen Basierend auf den analysierten Fällen lässt sich schlussfolgern, dass die Benennungs- und Umbenennungsprozesse innerhalb der Kolonialstadt Tripolis und den Stadtteilen Quartiere Africano und Prenestino in Rom wichtige Analogien aufweisen. In der liberalen Phase des italienischen Kolonialismus lässt sich sowohl für die Metropole als auch für die Kolonie feststellen, dass urbane Orte mit italienischen Mikrotoponymen (Urbanonyme und Hodonyme) benannt bzw. umbenannt werden. Dabei verweist der Determinierer auf einen geografischen Ort der Metropole (wenn es sich um eine Kolonialstadt handelt) oder der Kolonien (im Falle der Metropole). Für die faschistische Periode des italienischen Kolonialismus lassen sich Änderungen sowohl in der libyschen Kolonie als auch in den hier behandelten Stadtteilen Roms feststellen. Strukturell zeigt sich das im ersten Fall in kolonial intendierten Mikrotoponyme mit deanthroponymischen Konstruktionen, im zweiten Fall in detoponymischen Konstruktionen. Mit den Namen wird in der Kolonie auf bedeutende Personen der italienischen Geschichte und Gegenwart referiert, wohingegen in der Metropole auf Orte in den Kolonien verwiesen wird. Dieser Befund gilt auch bereits für die liberale Periode, allerdings kann für den italienischen Faschismus eine politisch-propagandistische Funktion angenommen werden: Die Namengebung in Kolonie und Metropole trägt zur diskursiven Vereinnahmung der Kolonien in das Imperium bei.
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Abkürzungen ANTH KLASS TOP
Anthroponym Klassifikator Toponym
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c. Online-Quellen [zuletzt aufgerufen am 8.03.2021] http://www.zeriba.net/nuovo%20sito/tripoli%20una%20citt%C3%A0.htm. https://collections.lib.uwm.edu/digital/collection/agdm/id/3080/. http://societageografica.org/opac/viewer.php?i=23499.jpg.
Lenka Kalousková
Kolonial intendierte Urbanonyme in Böhmen und Mähren nach der Eroberung durch das nationalsozialistische Regime Zusammenfassung: Die Fixierung und Kodierung von Raum durch Sprache kann als machtpolitisches Instrument genutzt werden. Im Zusammenhang mit der Besetzung des Sudetenlandes durch das Dritte Reich und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren stellen sich mit der Analyse von Urbanonymen im besetzten Gebiet raumlinguistische Fragen. In diesem Aufsatz wird untersucht, ob bei den verfügten Umbenennungen zu kolonial intendierten deutschsprachigen Urbanonymen gegriffen wurde und falls ja, welche Motivik hinter dem Prozess stand. Die empirische Studie zeigt jedoch, dass zu spezifisch kolonial intendierten Urbanonymen nur vereinzelt gegriffen wurde. Schlagwörter: Koloniallinguistik; Raumaneignung; Onomastik; Umbenennung; Urbanonyme
1 Zur Terminologie: Urbanonym und Hodonym in der slawistischen und germanistischen Toponomastik 1.1 Urbanonym in der slawistischen onomastischen Terminologie Das Grundlagenwerk der slawistischen onomastischen Terminologie Základní soustava a terminologie slovanské onomastiky von J. Svoboda, Vl. Šmilauer u.a. wurde 1973 veröffentlicht. Die Autoren dieser Publikation haben an die 1963 erschienene Einführung in die Toponomastik (Úvod do Toponomastiky) von Vl. Šmilauer angeknüpft. Dieses slawistische Werk hat eine ähnlich prominente
|| Lenka Kalousková, Katedra německého jazyka/Department of German, Fakulta mezinárodních vztahů/Faculty of International Relations, Vysoká škola ekonomická v Praze/Prague University of Economics and Business, nám. W. Churchilla 4, 130 67 Praha, Czech Republic, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-009
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Stellung wie das A. Bachs in der älteren deutschsprachigen Onomastik (Bach 1953/1954). In der slawistischen Terminologie sind die Termini Urbanonym und Urbanonymie seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts partiell etabliert, es fehlt bis jetzt allerdings eine allgemeingültige Definition. Beide Termini werden beispielsweise im Wörterbuch der russischen onomastischen Terminologie verwendet (Podoľskaja 1978: 154), in den grundlegenden Werken zur tschechischen Toponomastik kommen sie allerdings nicht vor (Šmilauer 1963; Svoboda 1973: 30–218). Šmilauer ordnet Straßennamen aus praktischen Gründen den Oikonymen zu und weist gleichzeitig auf die Klassifizierung Bachs (Bach 1953/1954) hin, der Straßennamen als Anoikonyme bezeichnet (Šmilauer 1963: 9). Der Terminus Urbanonym wird in der tschechischen und slowakischen Onomastik erst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet (Žigo 1988). Die polnische Terminologie befasst sich mit dem Terminus Urbanonym zum ersten Mal in Nazewnictwo miejskie (vgl. Handke 1989: 8). Eine der ersten elementaren Definitionen des Terminus Urbanonym, von der anschließend weitere slawische Linguisten ausgegangen sind, wurde von M. Majtán formuliert (vgl. Majtán 1988: 164). Demnach werden als Urbanonyme bezeichnet: 1. Namen von Stadtvierteln und -bezirken; 2. Namen von Straßen, Plätzen und weiteren öffentlichen Anlagen (Märkten, Friedhöfen usw.); 3. Namen von Brücken, Unterführungen, Denkmälern, Statuen etc.; 4. Namen von bedeutenden bewohnten und unbewohnten Bauten; 5. Namen von bedeutenden Gesellschaftsräumen und Sälen und schließlich 6. Namen von Bahn- und Busstrecken und Haltestellen. Pleskalová macht im Enzyklopädischen Wörterbuch der tschechischen Sprache (vgl. Pleskalová 2002: 506) auf die unterschiedliche Verwendung des Terminus Urbanonym aufmerksam: In der Urbanonymie werden Oikonyme und Anoikonyme nicht einheitlich erfasst, in die Urbanonymie werden auch keine Hydronyme und Oronyme aufgenommen, die sich auf dem Stadtgebiet befinden. Šrámek sieht die wichtigsten Probleme bei der Definition des Terminus Urbanonym in der Raum- und Subjektabgrenzung der Urbanonyme und in der Formal- und Funktionsdifferenzierung gegenüber anderen Klassen von Eigennamen (vgl. Šrámek und Šrámková 2008: 44). Auch die polnische und russische toponomastische Terminologie muss sich mit Unstimmigkeiten in der toponomastischen Terminologie auseinandersetzen. Der polnische Sprachwissenschaftler Mrózek (vgl. Mrózek 2010: 33) weist auf eine fehlende Begriffsabgrenzung und auf die daraus resultierende terminologische Unklarheit hin, während onomastische Arbeiten russischer Sprachforscher Urbanonyme unterschiedlich klassifizieren (vgl. Podoľskaja 1978: 154; Razumov 2003; Mezenko 1991: 14 u.a.).
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1.2 Hodonym Einen bedeutenden Teil der Urbanonyme stellen Straßennamen dar, für die der Terminus Hodonym verwendet wird. Zusammen mit Bergnamen, Flurnamen, Gewässernamen, Ortsnamen usw. werden Straßennamen mit dem Oberbegriff Toponym (Raumname) erfasst. „StraßenN oder Hodonyme (< griech. hodos ‘Weg’) bzw. Dromonyme (< griech. dromos ‘(Renn-)Bahn, Platz’) sind Namen für innerörtliche Verkehrswege und dienen der Orientierung innerhalb von Siedlungen“ (vgl. Nübling et al. 2015: 244). Der Terminus Hodonym ist allerdings umstritten und die Auffassung bezüglich der Straßennamen unterschiedlich. Der deutschen Terminologie zufolge werden beispielsweise die Häusernamen den Straßennamen gleichgestellt (vgl. Agricola et al. 1970: 687), im slawistischen onomastischen Grundsystem sind die Straßennamen den Häusernamen übergeordnet (vgl. Kuba 1984: 26–27). In der deutschsprachigen Terminologie wird auf Grund der Polysemie des deutschen Lexems Ort (‘räumlich lokalisierbarer Straßenzug’, ‘Ortschaft bzw. Stadt’) zwischen Ortsnamen im engeren Sinn (Oikonyme, Siedlungsnamen) und Ortsnamen im weiteren Sinn (Toponyme) unterschieden. Außerdem werden im deutschen onomastischen Grundsystem die Toponyme in Makrotoponyme (z. B. Gewässernamen, Siedlungsnamen) und Mikrotoponyme (z. B. Flurnamen, Straßennamen) unterteilt (vgl. Greule 2004: 382). Während im slawistischen System Ortsnamen und Flurnamen gleichwertige Untergruppen von Toponymen bilden (vgl. Kuba 1984: 26f.), sind im deutschsprachigen onomastischen System Flurnamen den Ortsnamen (d. h. Toponymen) untergeordnet (vgl. Nübling et al. 2015: 206). Über die unterschiedlichen Terminologien werden Diskussionen geführt, wie die steigende Zahl der wissenschaftlichen Beiträge zu dieser Problematik zeigt. Die von Harvalík und Caffarelli durchgeführte Umfrage brachte eine Vielfalt von Meinungen über terminologische Fragen und Probleme zu Tage (Harvalík und Caffarelli 2007). Die 2004 gegründete Terminologische Gruppe des International Council of Onomastic Sciences (ICOS) stellte eine Liste onomastischer Schlüsseltermini in Englisch, Französisch und Deutsch zusammen und plant, diese mit Termini in anderen Landessprachen zu ergänzen. Das ist ein wichtiger Schritt für die Vereinheitlichung und Standardisierung der onomastischen Terminologie. An dieser Stelle sollte auch auf UNGEGN (United Nations Group of Experts on Geographical Names) und deren Terminologieliste verwiesen werden.1
|| 1 Siehe http://www.icosweb.net/index.php/terminology.html.; https://unstats.un.org/unsd/ geoinfo/UNGEGN/docs/glossary.pdf.
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2 Sprache und Raum Interdependenzen von Sprache und Raum stellen seit geraumer Zeit einen zentralen Gegenstand linguistischer Forschung dar (Raumlinguistik, Komparatistik, Sozialtopographie, Psycholinguistik u. a.). Dabei untersuchen Linguisten nicht nur die Wirkungen von Raum auf Sprache, sondern auch den Bezug von Sprache auf Raum. Zwei Aspekte von Sprache und Raum sind bis jetzt nicht hinreichend erforscht: Die Konstruktion von Raum durch sprachliche Kategorien, etwa in toponymischen Praktiken kolonialer und postkolonialer Unterwerfung (Stolz und Warnke 2015) und die Herstellung von Orten als einer spezifischen Raumkategorie durch sprachliche Praxis (Busse und Warnke 2015). Mit der Wahrnehmung von Raum und der Herstellung von Orten durch sprachliche Praktiken beschäftigen sich die Raumlinguistik und die Urban Linguistics. Wenn Orte durch sprachliche Handlungen in Place-Making-Prozessen hergestellt werden können (vgl. Busse & Warnke 2015: 525), dann nimmt gerade die Vergabe von Straßennamen in dieser Sichtweise einen erheblichen Anteil an den sprachlichen Prozessen der Raumformation ein. (Schulz und Ebert 2016: 364)
Urbanes Place-Making untersucht, wie Autoritäten und Institutionen „öffentliche Räume kreieren bzw. reflektieren und den urbanen Raum dabei mit entsprechenden Akteuren besetzen und durch ihre Handlungen deklarieren“ (Busse und Warnke 2014: 4). Im Zusammenhang mit der Besetzung eines sprachlich, kulturell und sozial differenzierten Raumes durch eine Okkupationsmacht rückt die Frage in den Vordergrund, inwieweit Ortsnamen bei der Raumaneignung betroffen sind. Das Forschungsthema schließt Namenvergabepraktiken, Bezeichnungsmotivik, Einschreibungspraktiken sowie Visualisierung von Stadttexten ein.
3 Raumeroberung durch das nationalsozialistische Regime Die Fixierung und Kodierung von Raum durch Sprache kann ein wichtiges sprachliches Instrument einer Besatzungsmacht sein, das auf dem eroberten Gebiet angewendet wird. Im Zusammenhang mit der militärischen Besetzung und Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich im Herbst 1938 und der nachfolgenden Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren als formal autonomer Bestandteil des Großdeutschen Reiches wird in raumlinguistischer
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Analyseperspektive die Frage der Beschreibung und Erforschung der eingeschriebenen Urbanonyme auf dem besetzten Gebiet aufgeworfen. Es soll im Folgenden untersucht werden, inwiefern sich die Aneignung von Raum in der sprachlichen Vergabe und Verwendungsweise der dort administrativ eingeschriebenen Urbanonyme äußert. Die Okkupationsmacht strebte im Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie nach Unterdrückung der tschechischen Sprache und Kultur und allmählicher Germanisierung der Bevölkerung und in erster Linie des öffentlichen Raumes (Brandes 2012). Eine der ersten und auch in der unmittelbaren Raumdeskription durchgeführten Veränderungen betraf zweifelsohne den restriktiven Umgang mit den bestehenden Toponymen. Bereits wenige Tage nach der Besetzung erhielten die Bürgermeister der jeweiligen Städte genaue Instruktionen zur zweisprachigen Benennung mit Urbanonymen sowie Orts- und Flurnamen, die vorab von den reichsdeutschen Institutionen erlassen und durch entsprechende Oberlandräte zugestellt worden waren. In den Anweisungen der reichsdeutschen Institutionen, adressiert an den Bürgermeister Prags, hieß es, „es gibt keine Einwendung dagegen, daß die Hauptstraßen Prags neben der tschechischen Bezeichnung auch eine deutsche haben“ (Archivdokumente des Innenministeriums 19402). Wenn das bisherige Urbanonym der nationalsozialistischen Ideologie entgegenstand, wurden Tilgungen und Umbenennung gefordert (Ministerialblatt des Reichsministerium 19393). Die onymische Untersuchung des Nameninventars der Stadt Prag zeigte, dass unter den nach 1939 getilgten Straßen- und Platznamen sowohl Personennamen wie Bendl (in Bendlova), Havlíček (in Havlíčkova), Hoover (in Hooverova), Maisl (in Maislova), Palacký (in Palackého nábřeží), Rieger (in Riegrovo náměstí), Washington (in Washingtonova) als auch Ortsnamen wie Jerusalem (in Jerusalémská), Paris (in Pařížská), Polen (in Polská) und auch einige Appellativa waren: 28. Oktober (in Ulice 28. Října), Krankenversicherungsanstalt (in U nemocniční pojišťovny), Legionen (in Most Legií), Republik (in Náměstí Republiky), Revolution (in Revoluční třída), Stempelamt (in V Kolkovně), Vereinshaus (in Besední).Die Analyse ergab, dass in erster Linie diejenigen Inventare entfernt wurden, die im Zuge ihrer Benennung an die Gründung der Tschechoslowakei und die damit verbundenen Persönlichkeiten und Ereignisse erinnerten. Getilgt wurden weiterhin Namen || 2 Archivdokumente des Innenministeriums aus Státní ústřední archiv Praha/Staatsarchiv Prag: Přejmenování názvů náměstí a ulic v obcích na území protektorátu 1939–1940/Umbenennung von Platz- und Straßennamen in den Gemeinden auf dem Gebiet des Protektorats 1939– 1940 (Sing. 11210 8/312/6). 3 Ministerial-Blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren, Jahrg. 4/100/, Nr. 30, Berlin den 26. Juli 1939, S. 1521.
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von verfeindeten Ländern und Städten, von demokratisch gesinnten Persönlichkeiten und von Namen, die im Zusammenhang mit dem Judentum standen. Die im Zuge der Tilgungsprozesse eingeschriebenen Umbenennungsprodukte sollten nationalsozialistische Politiker (Hitler, Göring, Henlein usw.) ehren. Daneben wurden aber auch Benennungen mit anthroponymischen Erstgliedern gewählt, die nicht unmittelbar zu der nationalsozialistischen Machtergreifung in Bezug standen, so bspw. solche von tschechischen oder deutschen Künstlern und Literaten. In Prag erinnerte man durch die jeweiligen Umbenennungsprodukte an Persönlichkeiten, die mit der kulturellen und politischen Geschichte der Deutschen in Böhmen verbunden waren. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass in einigen Fällen auf eine der früheren Bezeichnungen zurückgriffen wurde, so dass Ende der 1930er Jahre längst getilgte Namen wieder im Stadtbild reinstalliert wurden. Die folgende Tabelle stellt eine Übersicht solcher Umbenennungen der lemmatisierten Erstglieder (mit den jew. Tilgungen) für die Stadt Prag zusammen. Für die Benennungen bis 1940 werden Namenklassen und rekonstruierte übergreifende Bezeichnungsmotive angeführt. Die Umbenennungen von 1940 zeigen den Rückgriff auf ältere (in Abgrenzung insbesondere: deutschsprachige) Appellativa (APP) und Namen. Häufig folgen die Umbenennungen der Logik eines Freund-Feind-Schemas: Tabelle 1: Umbenennungen von Straßen und Plätzen in Prag 1940.
Benennung bis 1940
Umbenennung 1940
APP: Gründung der Tschechoslowakei Legion
Smetana
Republik
Hiberna (frühere Benennung bis 1870)
28. Oktober
Obst (frühere Benennung bis 1919 )
Revolution
Berlin
PN: Tsch. Historiker und Politiker (Zentrum der Hauptstadt) Palacký
Moldau
Havlíček
Reiter (frühere Benennung bis 1896)
Havlíček
Heuwaag (frühere Benennung bis 1896)
Rieger
Moldau
ON und Ableitungen Paris
Nürnberg
Polnisch
Danzig
PN: Politiker, Staatsmänner anderer Staaten Hoover
Richard Wagner
Washington
Carl Maria von Weber
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Benennung bis 1940
Umbenennung 1940
ON und PN: Judentum Jerusalem* (geistiges Zentrum des Judentums)
Siebenbürgen (frühere Benennung bis zum 18. Jh.)
Maisl (Mordechai Maisl – Vorsteher der jüdischen Gemeinde im 16. Jh.)
Philipp de Monte
APP und PN: Nach 1905 eingeführte tschechische Straßennamen Bendlova (Karel Bendl – tsch. Komponist)
Prokschgasse (Josef Proksch – dt. Komponist)
V Kolkovně (Stempelamt)
Leimergasse (Karl Leimer – dt. Musikpädagoge)
U nemocniční pojišťovny (Krankenversicherungsanstalt)
Wettengelgasse (Prager Patrizierfamilie)
Besední (Vereinshaus)
Jakob-Handl-Gasse (Kapellmeister am Hof Rudolf II.)
* Die Straße erhielt ihren Namen bereits im 18. Jahrhundert, benannt wurde sie nach der nahe liegenden Jerusalemer Kapelle. In den Jahren 1905/6 wurde in der Straße eine Synagoge erbaut.
4 Kolonial intendierte Straßennamen in Böhmen und Mähren Nach der Machtübernahme der NSDAP wurden in Deutschland verschiedene Anstrengungen unternommen, die kolonialpolitische Bestimmung des Versailler Vertrags zu revidieren und die Kolonien zurückzuerlangen (vgl. Hildebrand 1969: 50ff.). Es ist daher anzunehmen, dass die kolonialpolitische Gesinnung ihre Anhänger unter der deutschen Bevölkerung auch auf dem besetzten Gebiet von Böhmen und Mähren fand und dass dort deshalb ebenfalls Einschreibeprozesse kolonialbezogener Straßennamen festgestellt werden könnten. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die bisherigen Fragestellungen zu den kolonialen Benennungen im Raum der Metropole auf die annektierten Gebiete vom Ende der 1930er Jahre auszuweiten, indem derartige Praktiken erstmalig für das als ‘Böhmen und Mähren’ bezeichnete Gebiet inventarisiert und anschließend nach linguistisch relevanten Phänomenen einer Analyse unterzogen werden. Mit der Errichtung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurde Deutschland zum Nationalstaat und dank der zunehmenden Industrialisierung zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht, so dass der Ruf nach Gründung eigener Kolonien in Übersee immer lauter wurde. So trugen deutsche Kaufleute, Forscher,
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Politiker und zahlreiche Kolonialvereine zur Existenz einer deutschen Kolonialmacht und der Existenz mehrerer Kolonien bis 1919 in Afrika, Ostasien und Ozeanien bei. Der Kolonialbesitz wurde auch im Raum der Metropole durch koloniale Straßenbenennungen dokumentiert; derartige Einschreibepraktiken hielten bis 1945 an. In Bezug auf Forschungsinteressen der Onomastik sowie der Kolonial- und Diskurslinguistik steht im Fokus der Untersuchung im Folgenden die Fragestellung, ob bei den Ende der 1930er Jahre erfolgten Neu- und Umbenennungen auf dem besetzten Gebiet von Böhmen und Mähren kolonial intendierte deutschsprachige Urbanonyme Verwendung fanden. Den Terminus kolonial intendierte Urbanonyme haben bereits Schulz und Ebert (2016) ausführlich erläutert. Es sind in erster Linie „Straßennamen, die in Zusammenhang mit der deutschen Kolonialgeschichte stehen, [sie] können kolonialzeitlich also nicht nur in den Kolonien und Schutzgebieten, sondern auch in der Metropole nachgewiesen werden“ (Schulz und Ebert 2016: 359). Eine ortspunktspezifische Erhebung sollte die Hypothese überprüfen und eine Antwort auf die Frage geben, ob durch kolonial intendierte Namen an die Expansion Deutschlands in Übersee erinnert und angeknüpft wurde. Denn ähnlich wie bei den einstigen deutschen Kolonien haben die Nationalsozialisten für das Gebiet von Böhmen und Mähren behauptet, dass eine Unter-SchutzStellung erfolge. Kurz nach der Errichtung der Protektorats Böhmen und Mähren erklärte Hitler, „daß er das tschechische Volk unter den Schutz des Deutschen Reiches nehmen ... wird“ (Völkerrechtliche Urkunde 1939/40: 506). An dieser Stelle muss bemerkt werden, dass die Begriffe kolonial und Kolonialist von den politischen Eliten des jungen tschechoslowakischen Staates unterschiedlich wahrgenommen wurden. Selbst der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk bezeichnete in seiner Botschaft am 22. Dezember 1918 die deutschen Mitbürger als Emigranten und Kolonialisten: Das von den Deutschen bewohnte Gebiet ist unser Gebiet und wird unser bleiben. Wir haben unseren Staat aufgebaut, wir haben ihn erhalten. Wir bauen ihn von neuem auf. Wir haben unseren Staat gebildet, dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, welche ursprünglich in das Land als Emigranten und Kolonialisten gekommen sind. (Schewiola 2010: 85)
Die Untersuchung erfolgt für die jeweiligen Ortspunkte in Böhmen und Mähren innerhalb der Zeitabschnitts von 1938 bis 1945 nach folgendem Kriterium: Ausgewählt werden diejenigen Städte und Gemeinden in Gebieten, in denen ein hoher Anteil deutschsprachiger Bevölkerung ausgemacht werden konnte. Es werden über dreißig Städte bzw. Gemeinden untersucht, die meisten davon im annektierten Sudetenland:
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Tabelle 2: Ortskorpus.
Städte in Böhmen und Mähren in Gebieten mit einem hohen Anteil an deutschsprachiger Bevölkerung Asch/Aš, Aussig/Ústi nad Labem, Bergreichenstein/Kašperské Hory, Brünn/Brno, Brüx/Most, Budweis/České Budějovice, Deutsch Jasnik/Jeseník, Eger/Cheb, Franzensbad/ Františkovy Lázně, Freudenthal/Bruntál, Gablonz an der Neiße/Jablonec nad Nisou, Iglau/ Jihlava, Kaaden/Kadaň, Karlsbad/Karlovy Vary, Klattau/Klatovy, Komotau/Chomutov, Leitmeritz/ Litoměřice, Marienbad/Mariánské Lázně, Neutitschein/ Nový Jičín, Olmütz/Olomouc, Pilsen/Plzeň, Prag/Praha, Prerau/Přerov, Reichenberg/Liberec, Schüttenhofen/Sušice, Tachau/Tachov, Taus/Domažlice, Teplitz Schönau/Teplice, Tetschen/Děčín, Troppau/Opava, Warnsdorf/Varnsdorf
Als Forschungsquellen dienten zeitgenössische Stadtpläne, Adressbücher und behördliche Anordnungen für die jeweiligen Ortspunkte.4 Dabei kommt man zu dem Ergebnis, dass in den einunddreißig untersuchten Städten und Gemeinden des Ortskorpus lediglich drei in spezifisch kolonialer Intention eingeschriebene Straßennamen-token eine Rolle gespielt haben: Lüderitz-Straße in Asch, Hermann von Wissmann-Straße in Karlsbad und Lüderitzgasse in Iglau. SN (Erstglied) Lüderitz Lüderitz Wissmann
Stadt Asch/Aš Iglau/Jihlava Karlsbad/Karlovy Vary
Diese drei festgestellten Straßennamen-Token werden im Folgenden näher untersucht. Der Publikation „Karlsbad. Eine Dokumentation“ zufolge wurde die Wissmann-Straße „1939 durch die Erweiterung der ehemaligen Steidlpromenade geschaffen und nach dem Kolonialpionier Hermann von Wissmann benannt“ (Köhler 1981: 329). Die Wissmann-Straße wurde am 27.5.1939 vom Karlsbader Bürgermeister und SS-Mitglied Richard Russy feierlich eröffnet.5 Anlass zur
|| 4 Digitalisierte Adressbücher oder Stadtpläne für die jeweiligen Orte sind entweder auf den Webseiten der entsprechenden Staats- bzw. Kreisarchive online zugänglich oder sie wurden auf Wunsch gescannt und zugeschickt: von dem Staatlichen Gebietsarchiv in Leitmeritz/ Litoměřice und Pilsen/Plezň, dem Mährischen Landesarchiv in Brünn/Brno, dem Landesarchiv in Troppau/Opava und von zahlreichen staatlichen Kreisarchiven in den untersuchten Städten und Ortschaften. 5 Porta fontium, Archiv Karlovy Vary/Karlsbad, Bestandsnummer 898 (Sbírka fotografického materiálu/Sammlung des fotografischen Materials), Inv.-Nr. 5436.
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Eröffnung der Straße war die Fertigstellung eines neuen Polizeigebäudes in der unmittelbaren Nähe (Köhler 1981: 329). Die Benennungsmotivik muss im Zusammenhang mit der expansiven Politik Deutschlands gesehen werden. Im Gegensatz zur Einführung der Neubenennung Wissmann-Straße in Karlsbad, die mit keiner Tilgung eines bestehenden Straßennamens in Bezug stand, war in der Stadt Asch das neu eingeführte Urbanonym Lüderitz-Straße eine Umbenennung der früheren Bezeichnung Herweghstraße. Das belegen Eintragungen im Adressbuch von Asch (Adreßbuch für die Stadt und den Landkreis Asch 1941: 89), wobei die genaue Umbenennungsmotivik unklar bleibt. Es handelt sich um eine kurze Straße am Rande der Stadt, die ursprünglich nach Georg Herwegh, einem sozialistisch-revolutionären deutschen Dichter des Vormärz, benannt wurde. Der Straßennamen Herweghstraße war vor 1940 in einem Viertel realisiert, in dem u. a. Straßennamen mit Personennamen (deutschsprachiger) Dichter und Musiker als Erstglieder realisiert waren (Beethovenstraße, Egerer Straße, Feldgasse, Freiligrahtstraße, Gerh. Hauptmannstraße, Grillparzerstraße, Hainweg, Kegelweg, Keplerstraße, Lerchenpöhlstraße, Ringstraße, Schrebergasse, Weberstraße, Oststraße u. a.). Es muss hinzugefügt werden, dass Karlsbad und Asch schon vor dem Zweiten Weltkrieg mehrheitlich von deutschsprachiger Bevölkerung bewohnt wurden und deshalb einsprachige deutsche Straßenschilder aufwiesen. Das Gesetz Nr. 266 über die Bezeichnung von Ortsnamen aus dem Jahr 1920 (Stejnopis sbírky zákonů 1920: 595) und der anschließende Regierungserlass Nr. 324/1921 (Sbírka zákonů a nařízení 1921: 1310) regulierten u. a. die Namenvergabe und Beschilderung von öffentlichen Räumen. Demnach mussten in Städten und Gemeinden, in denen der offiziellen Volkszählung zufolge mindestens 20 % aller Bürger die tschechische Nationalität angaben, Straßenschilder an erster Stelle mit Bezeichnungen in tschechischer Sprache versehen werden, an zweiter Stelle in deutscher Sprache. Sowohl in Karlsbad (Statistický lexikon obcí 1934: 393) als auch in Asch (Chronik der Stadt Asch 1993: 174) lag im Jahre 1930 der Anteil der Bürger mit tschechischer Nationalität unter 20 %, weshalb auf den Straßenschildern nur die deutsche Bezeichnung zu sehen war. Die Stadt Iglau an der böhmisch-mährischen Grenze bildete samt Umgebung bis 1945 die zweitgrößte deutschsprachige Enklave in Böhmen und Mähren. Durch die Verordnung des Regierungskommissars Leo Engelmann wurden in Iglau im Juni 1940 60 von insgesamt 140 Straßen umbenannt, darunter auch die Straße Chelčického, die zwischen 1940–45 den Namen Lüderitzgasse trug (Presidiální registratura 1972). Der ursprüngliche Straßenname wurde vom Personennamen Petr Chelčícký abgeleitet (tschechischer Reformator und Schriftsteller aus dem 15. Jahrhundert) und bezog sich auf eine Straße im Stadtrandviertel Holzmühle, einer einst selbständigen Gemeinde, die erst 1923 amtlich an die Stadt
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Iglau angeschlossen wurde. Nach 1910 begann man im Stadtviertel Holzmühle mit dem Aufbau kleiner Genossenschaftshäuser für die tschechischsprachige Bevölkerung (Jihlava město a okolí, Bradáč 1933: 13). Die neu angelegten und von der tschechischsprachigen Bevölkerung bewohnten Straßen erhielten Straßennamen, die häufig als eine Reaktion auf die vermehrte Ansiedlung der Deutschen zu interpretieren sind: Chelčického/Chelčickygasse, Chodská/Chodengasse (nach Angehörigen einer tschechischen Volksgruppe), Jiřího z Poděbrad/Georg Poděbradgasse (nach dem gleichnamigen böhmischen König), Družstevní/Genossenschaftshäuser, Dělnická/Arbeitergasse u. a. (Adressbuch der Stadt Iglau 1926: 7f.) In der Beilage des Mährischen Grenzboten vom 11. Januar 1942 wurde die Wahl des Modifikators Lüderitz erklärt: „Dieser kühne Kaufmann war ein Pionier unseres Kolonialgedankens. Sein Andenken soll so auch bei uns geehrt sein“.6 Die nach 1940 eingeführten Neubenennungen belegen, dass im erwähnten Stadtteil weder vor noch nach 1940 eine Clusterbildung angestrebt wurde: Ahorngasse, Friesengasse, Lüderitzgasse, Ostgasse, Schwarzer Weg u.a. (Presidiální registratura 1972). Obwohl Iglau auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren lag und laut der Volkszählung von 1930 etwa 33 % mehr Tschechen als Deutsche in Iglau lebten (Statistický lexikon obcí 1935: 55), wiesen die einsprachigen Straßenschilder nach 1940 ausschließlich deutsche Straßennamen aus. In Prag trat der sudentendeutsche Politiker und stellvertretende Bürgermeister Josef Pfitzner für eine rigide Germanisierung ein und plante den Umbau Prags in eine Stadt mit deutschem Charakter (Šustek 2002: 168). In einem Interview für den deutschsprachigen Reichssender Böhmen erklärte er am 31. Juli 1940 sein Vorhaben wie folgt: Nun steht es eindeutig und streitlos fest, dass deutsche Geschlechter seit der Begründung der Stadt einen bedeutenden Anteil an dem Auf- und Ausbau dieser unvergänglich schönen Moldau-Stadt besitzen. Es war daher nichts anderes als ein Akt der Gerechtigkeit, wenn wir uns bemühten, nunmehr auch den Jahrhunderte alten deutschen Leistungsanteil entsprechend zur Geltung zu bringen.7
Pfitzners erster Schritt war, deutsche Straßennamen einzuführen und viele bestehende Benennungen zu ändern (Šustek und Míšková 2000: 71–73). Im Zuge seiner zahlreichen Vorschläge zu Straßenbenennungen in Prag versuchte er vergeblich, ein einziges kolonial intendiertes Urbanonym, Lüderitzufer, durchzusetzen (Kalousková 2012: 34).
|| 6 Iglaus Gassen, Straßen und Plätze. In: Mährischer Grenzboten, Beilage Igel-Land. Mitteilungen für Volkskunde in der Iglauer Volksinsel. Folge 25 und 26 (4. Buch), 11. Jänner 1942. 7 Das Archiv des Tschechischen Rundfunks: Gesprächsfragment mit Pfitzner vom 31. Juli 1940.
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5 Zweisprachigkeit von Straßennamen Während in Städten und Gemeinden mit überwiegend deutschsprachiger Bevölkerung die Straßenschilder ausschließlich in der deutschen Sprache beschriftet wurden, wurden in den übrigen Ortschaften des Protektorats Böhmen und Mähren zweisprachige Beschriftungen auf den jeweiligen Schildern angebracht. Die zweisprachigen Straßenschilder referieren auf den Usus mehrsprachiger Gebiete, in denen Straßennamen zwar der Bezeichnungsmotivik nach übereinstimmende Erstglieder haben, jedoch in wechselseitigen Übersetzungen verwendet werden können. Dabei zeigen sich auch in Böhmen und Mähren die sprachtypologisch erwartbaren Differenzierungen. Während die meisten deutschen Straßennamen aus kompositionellen Wortbildungskonstruktionen bestehen (Lüderitzgasse, Lüderitz-Straße, Petersgasse, Quergasse, Hermann von Wissmann-Straße), setzen sich die tschechischen Straßennamen grundsätzlich aus einem kongruierenden bzw. nichtkongruierenden Attribut und einem Appellativum zusammen. Die häufigsten Fälle von kongruierenden Attributen stellen Possessivadjektive (Waldhausergasse – Waldhauserova) und denominale Adjektive (Liliengasse – Liliová, Tischlergasse – Truhlářská) dar. Daneben gibt es Straßenbenennungen mit nichtkongruierendem Attribut, wo die determinierende Komponente als Genitiv eines Personennamens auftritt (Elišky Krásnohorské – Krásnohorská-Gasse), was im Deutschen nicht möglich wäre. Da die Verwendung des bloßen Attributs für die Verständlichkeit und Orientierung in der Stadt hinreichend ist, wird der Gattungsname im Tschechischen in der Regel weggelassen, und zwar sowohl in der Umgangssprache als auch auf den offiziellen Straßensschildern: Berliner Straße – Berlínská. Solche Ellipsen kommen ausschließlich bei den femininen Appellativa vor (Straße, Gasse – ‘ulice’, Allee – ‘třída’ u.a.), sie können als Ausdruck sprachökonomischer Bestrebungen interpretiert werden.
6 Zur Konkurrenz der Geo-Klassifikatoren Gasse und Straße Im deutschsprachigen Gebiet haben Straßennamen überwiegend die Klassifikatoren Straße und – landschaftlich unterschiedlich – Gasse bzw. Weg. In den untersuchten Städten und Gemeinden in Böhmen und Mähren fällt die Dominanz des Klassifikators Gasse auf. Für den Gebrauch von Straße oder Gasse waren mehrere Kriterien maßgebend, die sich aus der unterschiedlichen Grundbedeutung der beiden Ausdrücke ergeben. Im Deutschen Wörterbuch (vgl. Paul 1992: 859) wird
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die ursprüngliche Bedeutung von Gasse als die allgemeine Bezeichnung für die in Städten und Dörfern zwischen den Häusern laufenden Wege definiert, die sowohl schmal als auch breit sein mögen, während Straße ursprünglich die Landstraße war, die allerdings auch Ortschaften durchschneiden konnte. Aus der Untersuchung Paul Kretschmers (vgl. Kretschmer 1969: 495) geht hervor, dass mit Gasse gegenwärtig die Vorstellung eines kleinen und engen Verkehrswegs verbunden ist, im Gegensatz zum Appellativum Straße, mit dem breite Wege bezeichnet werden. Während in Norddeutschland der Gattungsname Straße überwiegt, weisen die schweizerischen und österreichischen Städte eine andere Tendenz auf. Zürich, Basel und Bern haben viele Straßennamen das Appellativum Gasse und in Wien übertreffen diese Straße um ein Vielfaches (vgl. Kretschmer 1969: 491–493). Da das Königreich Böhmen ab 1526 einen Teil der Habsburgermonarchie bildete und unter Einfluss der oberdeutschen Dialekte stand, lassen sich im Nameninventar dieselben Merkmale feststellen wie bei den meisten österreichischen Städten – mit dem Klassifikator Gasse werden auch breite oder neu angelegte Wege außerhalb des Stadtinneren bezeichnet. Der unterschiedliche Sprachgebrauch von Gasse und Straße ist also territorial bedingt: Der Klassifikator Gasse referiert in Böhmen und Mähren nicht primär auf schmale und unbedeutende Wege, er zeigt vielmehr die historische Zugehörigkeit zum bairischen, süddeutsch-österreichischen Sprachraum.
7 Visuelle Ausführung von Straßenschildern Nach der Eroberung durch das nationalsozialistische Regime mussten alle einsprachigen tschechischen Bezeichnungen durch zweisprachige, d. h. zuerst deutsch- und dann tschechischsprachige Straßennamen ersetzt werden. Außerdem wurde als Schriftart auf den Straßenschildern für deutsche Namen Fraktur, für tschechische Namen die herkömmliche Antiqua vorgeschrieben. Die Schriftgröße und -stärke der beiden Inschriften musste identisch sein, das Gesamtaussehen musste gleichmäßig wirken. Die ursprüngliche Schilder- und Schriftfarbe durfte in der jeweiligen Gemeinde beibehalten werden. Die administrativ forcierte Relevanz der Raumfixierung und -kodierung durch Straßennamen als wahrnehmbare Stadttexte in der unmittelbaren Raumdeskription wird durch die Verordnung verstärkt, dass aufgrund von Metallmangel und hohen Kosten die neuen deutsch-tschechischen Bezeichnungen und Straßentafeln vorrangig Hauptstraßen, Hauptplätzen, Ausfallstraßen und in der Nähe von nationalsozialistischen Ämtern und Institutionen zu platzieren waren (vgl. Lašťovka und Ledvinka 1997: 22–23). In diesem Sinne wurde das Schild mit der Neubenen-
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nung Wissmannstraße öffentlichkeitswirksam platziert und eingeweiht.8 Bei den übrigen erhobenen kolonialen Straßennamen, bei denen es sich jeweils um Neubenennungen handelt und die sich am Stadtrand und in relativ wenig bedeutenden Straßen befanden, lässt sich heute nicht mehr genau feststellen, wie schnell die entsprechenden Straßenschilder im Raum angebracht wurden. Relevant im Kontext urbaner Kommunikation ist die Untersuchung der Raumaneignung aus der Sicht der Linguistik und Semiotic Landscape-Forschung, wobei nicht nur sprachliche Zeichen, sondern auch deren visuelle Wahrnehmbarkeit erforscht werden, die an der Herstellung öffentlich nutzbarer Räume partizipierten (vgl. Landry und Bourhis 1997). Bei den visuell wahrnehmbaren Kommunikationsformen sind zunächst diejenigen festzuhalten, die mit (klassischen) Speichermedien realisiert werden. So kann der Gehende in der Stadt Schilder, Tafeln an Gebäuden oder Denkmälern sowie Aushänge wahrnehmen, die dauerhaft sichtbar sind. (Domke 2014: 73)
Die Landeseroberung wurde vom nationalsozialistischen Regime einerseits mittels Umbenennung und Vergabe von neuen Straßennamen manifestiert, andererseits auch durch Visualisierung von Stadttexten. Der visuelle Aspekt von Wahrnehmung im urbanen Raum ist als wesentlicher Teilaspekt von Place-Making und als Instrument zur Raumaneignung und Fixierung zu betrachten (vgl. Psenner 2014: 91). Das Ziel der Veränderungen im Straßennamensystem war es offenbar, den vielerorts nationalen tschechischen Charakter des öffentlichen Raumes zu unterdrücken und die Zugehörigkeit zum Dritten Reich zu manifestieren.
8 Fazit Für die Untersuchung kolonialzeitbezogener Inventare im annektierten Sudetengebiet und im Protektorat Böhmen und Mähren wurden 31 Städte und Gemeinden in Gebieten ausgewählt (vgl. Tab. 2), in denen ein großer Anteil deutschsprachiger Bevölkerung ausgemacht werden konnte. Die empirische Stichprobe hat erbracht, dass lediglich drei Benennungs- oder Umbenennungsbefunde in drei unterschiedlichen Städten belegt werden können. 28 Städte zeigen hingegen keinen derartigen Befund. Zwei von den drei belegten Benennungen wurden im westlichen Teil des an das Deutsche Reich angeschlossenen
|| 8 Porta fontium, Archiv Karlovy Vary/Karlsbad, Bestandsnummer 898 (Sbírka fotografického materiálu/Sammlung des fotografischen Materials), Inv.-Nr. 5436.
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Sudetenlandes eingeschrieben: Die Hermann von Wissmann-Straße in Karlsbad und die Lüderitz-Straße in Asch. Der dritte Straßenname, Lüderitzgasse, wurde in Iglau auf dem Gebiet des Protektorats verwendet. Insgesamt ist die Einschreibung kolonialer Straßennamen auf dem annektierten Sudetengebiet und im Protektorat Böhmen und Mähren damit als punktuell und unsystematisch zu bezeichnen. Zu beachten ist die Tatsache, dass alle drei erwähnten kolonial intendierten Straßennamen in Gemeinden bzw. auf Gebieten mit überwiegend deutschsprachiger Bevölkerung festgestellt und auf dem Straßenschild nur in deutscher Sprache verfasst wurden. Es ist anzunehmen, dass mit der Wahl der kolonial intendierten Straßennamen an die deutsche Expansionspolitik erinnert werden sollte. In Hinblick auf eine raumsemantische Perspektive kommt eine Differenz in der Einschreibung kolonialzeitbezogener Inventare in der deutschen Metropole und auf dem erforschten annektierten Gebiet zum Vorschein. Während in einer Vielzahl von deutschen Städten kolonial intendierte Straßennamen und sogar ganze kolonialzeitbezogene Cluster eingeschrieben wurden9 (Schulz und Ebert 2016: 360, 2017; Ebert 2021), wurden auf dem annektierten Gebiet drei Einzelbenennungen festgestellt. Aufgrund der durchgeführten Erhebung lässt sich schlussfolgern, dass einer Abbildung von Kolonialismus bzw. Kolonialität im untersuchten Raum keine oder sehr geringe Relevanz zugeschrieben wurde. Die dafür verantwortlichen Gründe können nur dann festgestellt werden, wenn man die Frage, welche Rolle faktische Kolonialpolitik in der NS-Zeit nach 1939 tatsächlich gespielt hat, näher betrachtet, und wie solche kolonialen Pläne bei den Deutschböhmen, Deutschmährern und Deutschschlesiern wahrgenommen wurden. Gleichzeitig müsste die Nationalbestimmung der deutschsprachigen Volksgruppe und deren Zusammengehörigkeitsgefühl zum Dritten Reich erforscht werden. Die deutschsprachige Bevölkerung in den böhmischen Ländern war bis 1918 ein Teil der Habsburgermonarchie, die wiederum zum Heiligen Römischen Reich bzw. seit 1815 zum Deutschen Bund gehörte. Nach den staatsrechtlichen Veränderungen 1866–1871 waren die Deutschböhmen durch die Staatsgrenze von der deutschen Staatsnation getrennt (vgl. Hall 2008: 171). Es ist allgemein bekannt, dass zehntausende Deutschböhmen und Deutschmährer in den Grenzgebieten der 1918 ausgerufenen Tschechoslowakischen Republik für einen Anschluss an Österreich demonstrierten. Da Österreich keine Kolonien in Übersee hatte, lässt sich spekulieren, inwieweit die Deutschen auf dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie mit dem Thema Kolonialismus konfrontiert waren und welche kulturpolitische Bedeutung der deutsche Kolonia|| 9 Diese Frage wird in der Dissertation von Verena Ebert (Ebert 2021) aufgearbeitet.
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lismus für sie in den 30er Jahren hatte. Um diese Problematik zu erhellen, müsste die Datenerhebung auf alle Dörfer und Gemeinden im Sudetengebiet und in den Sprachinseln, insbesondere in den Brünner, Budweiser, Iglauer, Olmützer und Wischauer Sprachinseln und weiterhin im Schönhengst und im Hultschiner Ländchen ausgeweitet werden (vgl. Schwarz 1935: 3–4). Die durchgeführte Analyse von Stadtplänen, Adressbüchern und amtlichen Anordnungen der oben angegebenen 31 Städte hat außerdem gezeigt, dass der Eingriff in das vor der Besetzung jeweils bestehende Straßennameninventar nicht umfangreich war und sich vorwiegend auf wenige Umbenennungen der wichtigsten öffentlichen Räume (Hauptstraßen und Hauptplätze) beschränkte, für die politisch motivierte und honorifikative Hodonyme gewählt wurden, die an die führenden nationalsozialistischen Politiker erinnern sollten. Nur in einigen großen Städten, vor allem in der Hauptstadt Prag und in Iglau konnten zahlreiche Umbenennungen belegt werden, die weit über die offiziellen Anweisungen hinausgingen und auch politisch neutrale Namen ersetzten. Dieser Place-Making-Prozess kann als Ausdruck der Besitz- und Machtansprüche erklärt werden. Die Anweisungen zur Ausführung von zweisprachigen Bezeichnungen waren nicht nur inhaltlicher, sondern auch formaler Natur und belegen die Wichtigkeit der Visualisierung bei der Raumaneignung.
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Inga Siegfried-Schupp
Kolonial intendiert oder vom Kolonialismus geprägt? Zu den Auswirkungen der europäischen Kolonialdiskurse in der Mikrotoponymie der Nordwestschweiz Zusammenfassung: Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob sich auch in Staaten ohne aktive Kolonialpolitik Mikrotoponyme finden lassen, die kolonial intendiert sind. Um dies zu untersuchen, werden drei Mikrotoponyme im Schweizer Kanton Basel-Stadt (der Flurname In Arabien, der Hausname Klein Surinam und der inoffizielle Ortsname Negerdörfli) im Hinblick auf etwaige koloniale Bezüge analysiert. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die jeweilige Namengebung im Hinblick auf die Teilhabe von Schweizern und Schweizerinnen an kolonialistischen Unternehmungen anderer Staaten einordnen lassen. Ebenso ist die durch das Kolonialinteresse veränderte Wahrnehmung der Schweizer Bevölkerung und deren Auswirkungen auf die Namengebung Gegenstand dieser Untersuchung. Schlagwörter: Kolonialdiskurse; Kolonialinteresse; ‚kultureller‘ Kolonialismus; Mikrotoponyme; Schweiz
1 Einleitung Die kolonial-politischen Ansprüche einiger europäischer Staaten haben sich mittels intentional vergebener Straßennamen mit (erhoffter) kommemorativer Funktion unter anderem in deren städtische Mikrotoponymie eingeschrieben und diese auffällig geprägt (vgl. Schulz und Ebert 2016: 358–364). Es stellt sich die Frage, ob bzw. wie sich toponymische Spuren kolonialer Diskurse auch in der Schweiz zeigen, einem Land, das keine direkte kolonialistische Außenpolitik betrieb. Gerade auch im Vergleich zu kolonialthematischen Benennungen in deutschen Metropolen (vgl. Ebert 2018, 2021) beschäftigt sich dieser Beitrag kontrastiv mit den vereinzelt auftretenden und im kolonisatorischen europäi-
|| Inga Siegfried-Schupp, Schweizerisches Idiotikon, Auf der Mauer 5, 8001 Zürich, Schweiz, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-010
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schen Diskurs zu lesenden Mikrotoponymen im Kanton Basel-Stadt und mit deren sprachlichen, politischen und kulturgeschichtlichen Hintergründen. Dabei geht es im Besonderen um die Frage, inwieweit hier überhaupt von intendierten kolonialen Mikrotoponymen geredet werden kann oder ob hier andere – nicht administrativ gesteuerte – Formen von Benennungsakten vorliegen, die sich eher als vom Kolonialismus geprägt beschreiben lassen. Für Deutschland halten Schulz und Ebert (2016: 365) in ihrer Studie fest: Mit der Einschreibung von Straßennamen konnten kolonial intendierte sprachliche Landschaften – und darin Orte bis hin zu neuartigen Ortsformationen - konstruiert werden, auch wenn die jeweiligen Funktionen aus räumlicher und zeitbezogener Perspektive unterschiedlich gelagert sein können. Das betrifft sowohl Räume der Kolonien als auch Räume der Metropole, die durch sprachgebundene Praktiken der Benennung als Projektionsfläche von Kolonisierungsprozessen konturiert und manifestiert werden.
In den Städten der deutschen Metropole schreibt sich die Kolonialzeit (häufig auch erst nach ihrem Ende) insbesondere in Form von Straßennamen und Straßennamenclustern ein. An zeitlich aufeinanderfolgenden Straßenkarten und Adressbüchern lässt sich für die zwanziger und vor allem dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts das Entstehen von ganzen Kolonialvierteln beobachten. So wurden etwa in München-Neuhausen 1925 Straßennamen wie Tsingtauer Str., Samoaplatz und Kamerunplatz vergeben, in München-Trudering 1933 dann Straßennamen wie Swakopmunder S., Usambara Str., Tanga Str., Dar-Es-Salam-Str., Samoastr. und Waterbergstr. [kursiv im Original] (Schulz und Ebert 2016: 359–360)
Gerade im Rahmen der sich im 19. Jahrhundert mit der modernen Staatlichkeit endgültig durchsetzenden hierarchischen Überformung der vormodernen Benennungsweise (vgl. BSNB 3, 203–205) und den nun administrativ gesetzten Straßennamen ergab sich die Möglichkeit, das kulturelle Gedächtnis (vgl. Assmann 2006) einer Gemeinschaft aktiv zu beeinflussen. Die Setzung kolonialer Straßennamen ist ein in Deutschland1 wiederholt genutztes Mittel, um die deutsche Kolonialpolitik mittels der heimischen Mikrotoponymie ins Bewusstsein zu holen und sie auch dort zu halten (oder sie, wie in der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen, durch Umbenennung auszublenden und zu überschreiben). Auch in der Nordwestschweiz, etwa in Basel, setzt im 19. Jahrhundert die programmatische Benennung von Straßen ein, bei der die zuständige Nomenklaturkommission deutlich Bezug auf die Stadt- und Regionalgeschichte nahm. Daher ist auch in der Mehr-
|| 1 Sowohl in der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik.
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zahl der Basler Straßennamen „die gewollte und gesteuerte Erinnerung an die Vergangenheit Basels abzulesen“ (BSNB 3: 211). Im Kanton Basel-Stadt fallen nun folgende Straßennamen ins Auge, die auf eine koloniale Vergangenheit verweisen könnten: Im Surinam und Arabienstraße. Daneben begegnet noch das inoffizielle Toponym Negerdörfli, das möglicherweise ebenfalls in den Bereich der kolonial intendierten oder vom Kolonialismus geprägten Mikrotoponymie gehören könnte. Bevor ich mich diesen Namen zuwende, möchte ich zunächst die verschiedenen Auswirkungen der Kolonialzeit auf die Schweiz thematisieren.
2 Historische Grundlagen Blickt man auf die geschichtlichen Hintergründe, vor denen sich der koloniale Diskurs auch in der Schweiz entfaltete, so lässt sich feststellen, dass es selbst ohne den direkten Erwerb von Kolonien zu einer sekundären Teilhabe von Schweizer Bevölkerungsgruppen an der europäischen Expansion kam. Im 18. und 19. Jahrhundert kämpften Schweizer Söldner (u. a. in der frz. Fremdenlegion) in den kolonialen Kriegen in Afrika, Asien und Nordamerika. Daneben beteiligten sich Bankiers aus Genf und Basel am kolonialen Sklavenhandel. Schweizer Handelsunternehmen expandierten in die Kolonien und nutzten diese als neue Absatzmärkte und Rohstoffgebiete (z. B. Textilindustrie in Südostasien, Kaffee- und Zuckerrohrplantagen in Südamerika), Schweizer Investoren beteiligten sich an kolonialen Schiffsexpeditionen (vgl. grundlegend David et al. 2005). Neben militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Tätigkeiten zeigen sich aber auch immaterielle und kulturelle Aspekte der kolonisatorischen Mitwirkung. In den Kolonien hatte die protestantische Basler Mission großen Anteil am Aufbau kolonialer Strukturen. Teilnehmende wissenschaftlicher Exkursionen erkundeten die kolonialisierten Gebiete in Übersee. Daneben wanderten vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Schweizerinnen und Schweizer (häufig aus existenziellen Gründen) nach Nordamerika, Südamerika und Afrika aus. Einige der Auswandernden gründeten dort teils aus utopischen, teils aus patriotischen Überlegungen lokale Schweizer (Privat-)Kolonien (z. B. 1710 New Bern in Carolina/USA und 1861 Nueva Helvetia in Uruguay). Manche dieser Gründungen „sollten als Vorposten der Mission, der Zivilisation oder als Brückenköpfe für eine Schweizer Expansion dienen.“ (e-HLS, Schweizer Kolonien; vgl. auch Purtschert und Fischer-Tiné 2015: 7–9). Laut Zangger (2011: 399) verstanden sich die in Südostasien in niederländischen Kolonien lebenden Schweizerinnen und Schweizer weniger als Ausgewanderte denn „als im Ausland
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Lebende“ und hielten starke Beziehungen in die Schweiz aufrecht, weshalb Zangger (2011: 441) schlussfolgert, dass es in der Schweiz, die über keine Kolonien verfügte, eine stärkere Rückanbindung der ‚Kolonialschweizer‘ an ihr Mutterland gab, als es in den Ländern, die Kolonien besaßen, der Fall war. Neben den oben erwähnten Toponymen in den Überseegebieten, für die Schweizer Makrotoponyme, häufig in Verbindung mit dem Adjektiv neu, span. nuevo, nueva, engl. new, frz. nouveau, nouvelle, kombiniert wurden2, stellt sich nun die Frage, ob sich die spezifischen kolonisatorischen Mitwirkungen von Schweizern auch in der inländischen Mikrotoponymie widerspiegeln. Gerade wegen der Verstrickung von Basler Bürgern in kolonialistische Unternehmungen anderer Nationen scheint die Stadt und der Kanton Basel ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld. Im Folgenden werden die zu Beginn schon kurz erwähnten Ortsnamen in drei Gruppen unterteilt und aus drei Perspektiven betrachtet: einer ‚kulturellen‘, einer wirtschaftlichen und einer populärinteressierten Bezugnahme auf den Kolonialismus.
3 ‚Kultureller‘ Kolonialismus Als ‚kultureller‘ Kolonialismus wird hier die von Teilnehmenden der Kolonialisierung betriebene wissenschaftliche, sammlerische oder allgemein interessierte Aneignung von Kolonialgebieten verstanden, die vor allem im Zugriff auf deren Geschichte, Kunst und Kultur bestand. Die Arabienstraße in Basel wurde 1922 amtlich benannt und 1931 errichtet. Der Straßenname bezieht sich auf den dortigen früheren Flurnamen In Arabien (Koordinaten: 611360/264510), der seit 1820 belegt ist.3 Die Straßennamengebung tradiert also – wie die Nomenklaturprotokolle belegen – eindeutig den Bezug auf den Flurnamen. Allein aus dieser Perspektive lässt sich eine intendierte Namengebung, deren Motive im Kolonialismus liegen, ausschließen. Schaut man aber auf den Flurnamen, so verweist dieser formal auf den Landschaftsnamen Arabien „das Gebiet der arabischen Halbinsel“ (Duden I: 242). Die 1947 als „ziemlich unfruchtbar“ beschriebene
|| 2 Eine Untersuchung, ob in den Schweizer Kolonien Mikrotoponyme verwendet wurden, die auf Schweizer Ortsnamen verweisen und/oder z. B. spezifisch schweizerdeutsche Namengebung sowie Lexik verwenden, wäre äußerst wünschenswert. 3 1820 in Arabien (Kirchengut N10, 11); 1829 Zum Behuf einer Leim=Grube für die Obrigkeitl. Ziegel=Hütte in St. Jakob überlässt Herr Raths=Herr Hartmann, ein Stück Acker auf dem Bruder=Holz – im sogenannten Arabien (Staatsurk, 12.3.1829); 1852 in Arabien (Plan F 5,97, CI); 1880 In Arabien (Plan K 1,103). (Zit. nach BSNB 2: 80–81).
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Liegenschaft In Arabien (Siegfried 1921: 41) scheint metaphorisch mit dem Landschaftsnamen benannt worden zu sein und bezieht sich wohl ursprünglich auf die dortige harte oder auch steinige Bodenbeschaffenheit. So dokumentiert Wander (2001/I: 115) für das 19. Jh. das deutschsprachige Sprichwort In das steinige Arabien säen, das verwendet wurde, um die Verrichtung einer undankbaren, vergeblichen Arbeit zu beschreiben. Geht man davon aus, dass die Landschaftsbezeichnung Arabien in solchen Verwendungskontexten gebräuchlich war, ist eine Flurnamenvergabe in diesem metaphorischen Sinn gut vorstellbar. Allerdings kann man sich fragen, ob der Bezug auf Arabien im 19. Jahrhundert nicht gerade auch durch koloniale Diskurse besonders virulent geworden war. Die regionale Forschungsliteratur stellt interessanterweise diesen Bezug her, sucht aber zu sehr nach konkreten Benennungszusammenhängen und weniger nach komplexen diskursiven Hintergründen. So vermutet Siegfried (1921: 41): Der Name [In Arabien – A.d.V.] ist verhältnismäßig noch jung und stammt aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts. Damals erst wurde in unsern Gegenden Arabien durch den Zug Napoleons, namentlich aber durch den [...] Orientforscher Johann Ludwig Burckhardt, 1784-1817, näher bekannt, der als mohammedanischer Kaufmann unter dem Namen Scheik Ibrahim das Morgenland bereiste. 1828 erschien hier [in Basel – A.d.V.] über ihn ein Neujahrsblatt von Karl Rudolf Hagenbach; ein Landeigentümer oder Pächter auf dem Bruderholz mag es gelesen haben und dadurch erwogen worden sein, diesem Acker den Namen Arabiens beizulegen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass hier eine bewusste Benennung durch Grundstücksbesitzende infolge der Lektüre einer Reisebeschreibung erfolgt ist. Außerdem ist der Flurname bereits 1820 belegt. Es erscheint jedoch möglich, dass die Landschaftsbezeichnung Arabien in Basel im Zusammenhang der europäischen Kolonialaktivitäten bekannter wurde und somit die Grundlage für eine metaphorische Verwendung im oben beschriebenen Sinn war. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass uns mit dem von Siegfried erwähnten Johann Ludwig Burckhardt ein typischer Vertreter des kulturellwissenschaftlichen schweizerischen Anteils am Kolonialismus in den Blick gerät. Er stammt aus einer Basler Patrizierfamilie, studierte in Göttingen, Leipzig, London und Cambridge und ging 1809 im Auftrag der englischen African Association nach Syrien. Unter dem Pseudonym Scheich Ibrahim unternahm er Reisen in Syrien, dem Libanon, Transjordanien, Ägypten, Nubien, Arabien und dem Sinai. Burckhardt gilt als Entdecker der Felsenstadt Petra (Jordanien) und war der erste Europäer in Abu Simbel (Ägypten). 1816 organisierte er den Transport eines Statuenkopfes Ramses II. nach England. Burckhardt verfasste mehrere ethnografische und kulturgeografische Berichte (vgl. e-HLS, Burckhardt, Johann Ludwig). Durch seine Tätigkeiten gehört er zur Gruppe der ‘kulturellen’
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Kolonialisten, die wesentlichen Anteil am Bekanntwerden der durch die Kolonien größer gewordenen Welt innerhalb Europas hatte. Bezeichnenderweise stammt Burckhardt aus einer Basler Familie, die wiederum mit der Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie am Kolonialhandel beteiligt war (vgl. Stettler et al. 2004) und damit Anteil am wirtschaftlichen Kolonialismus hatte.
4 Wirtschaftlicher Kolonialismus In Basel findet sich ein weiterer Ortsname, bei dem jedoch ein konkreter kolonialer Bezug vorliegt und der auf einen anderen Aspekt der Schweizer Teilhabe am europäischen Kolonialismus verweist. 1941 wurde im Basler Hirzbrunnenquartier der Straßenname Im Surinam (Koordinaten: 612765/268903) vergeben.4 Der Straßenname verweist auf ein früher an der nahen Riehenstraße befindliches, 1921 abgerissenes Landhaus mit dem Namen Klein Surinam. Auch hier liegt wieder keine intendierte koloniale Straßennamensgebung vor, sondern die Vergabe des Straßennamens orientiert sich an einem ehemaligen Hausnamen. Klein Surinam wurde vom Basler Apotheker Johann Rudolf Ryhiner auf einem 1797 erworbenen großen Grundstück an der Riehenstraße erbaut. Ryhiner war verheiratet mit Margarethe Maria Faesch, die 1782 als Hochzeitsgeschenk von ihren Eltern südamerikanische Kaffee- und Zuckerplantagen in Niederländisch-Guayana (Surinam) erhielt. Diese kolonialen Plantagen brachte ihre niederländische, im südamerikanischen Surinam geborene Mutter Catharina Maria de Hoy bei der Heirat mit dem Basler Patrizier Johann Jakob Faesch in die Familie ein. Johann Jakob Faesch, der aus einem in Basel, Genf und Amsterdam residierenden Zweig der Familie Faesch stammte, war als Kaufmann in niederländischen Diensten tätig. Er und sein Bruder Johannes hatten in den 1750er Jahren die beiden Töchter des niederländischen Plantagenbesitzers David de Hoy geheiratet und erhielten als Mitgift die Plantagen Herstelling, Marienburg, Voorburg und Hoyland (mitsamt den zugehörigen Sklaven), die sie von Amsterdam aus verwalteten und Zucker sowie Kaffee nach Europa importierten.5 Nach dem Tod des Bruders wurde Johann Jakob, der
|| 4 1946 Im Surinam (Plan Z 1,50), 2010 Im Surinam (Stadtplan Basel, Hirzbrunnen). Zit. nach BSNB 2, 732–733. 5 Vgl. die Übersetzung einer holländischen Originalurkunde von 1761 (StABS St. Urk. 4040): “Johannes Fäsch und Johann Jacob Fäsch, wohnhaft zu Amsterdam, bringen vor den ‘Staten van Holland en Westvriesland’ im Namen ihrer Gemahlinnen Adriana Elisabeth de Hoy und Catharina de Hoy folgendes vor: Ihre Gemahlinnen sind Töchter des verstorbenen Ehepaares David de Hoy und Maria de la Jaille. David de Hoy und Maria de la Jaille haben anno 1740 ein
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in Basel residierte, der alleinige Verwalter der Plantagen, die er wiederum anteilig an seine Kinder vergab. Der Gesamtbesitz wurde jedoch weiterhin von Amsterdam aus von seinem ältesten Sohn Jean-Jacques Faesch betreut (David et al. 2005: 72– 76). Die aus dem Faesch-Hoyschen Besitz in die Ehe mit Johann Jakob Ryhiner eingegangenen Plantagenrechte in Surinam führten zur Benennung des Landsitzes Klein Surinam in Basel. Ryhiner selbst war nie in Surinam gewesen, wählte aber den Landsitznamen in ehrendem Bezug auf den seinen Wohlstand ausbauenden Besitz in Südamerika. Der moderne Straßenname Im Surinam bezieht sich primär auf den Hausnamen. Die präpositionale Bildungsweise macht den Bezug auf das Basler Landgut deutlich, da auch andere Straßennamen, die sich auf lokalen Grundbesitz oder Landgüter beziehen, ähnlich gebildet sind (z. B. Im Heimatland, Im Spitzacker, Im Zimmerhof). Mit dieser Benennungsweise passt sich der Straßenname an ein in der Basler Mikrotoponymie6 übliches Bildungsmuster an und fällt allenfalls hinsichtlich des exotischen Referenzorts auf. Ein Bezug auf die wirtschaftliche Verflechtung von Schweizer Handelsherren mit dem Kolonialismus ergibt sich für die Namennutzer vordergründig dennoch nicht.
5 Kolonialinteresse Schon der Flurname In Arabien, den ich im Zusammenhang der Schweizer Teilhabe am kulturellen Kolonialismus vorgestellt habe, lässt sich auf der Seite der Rezipientinnen und Rezipienten möglicherweise auch als Resultat eines gewissen Kolonialinteresses verstehen. Als solches möchte ich im Folgenden ein Phänomen bezeichnen, das die Auswirkung der Kolonialaktivitäten und –diskurse auf die europäischen Bevölkerungen beschreibt, die über Reiseberichte, Bilder, Ausstellungen, später Filme etc. einen Eindruck von den Kolonien erhielten. So liegt etwa mit dem inoffiziellen Toponym Negerdörfli eine jüngere metaphorische Benennung vor, die auf einen Zusammenhang mit dem Interesse an den Kolonien und der Kolonialwahrnehmung in Europa zurückzugehen
|| Testament errichtet, welches auch eine Klausel über ihre Plantage ‘Hoyland’ in Surinam enthält. Nach dieser Klausel soll die Plantage für immer Familiengut bleiben, soll niemals verkauft oder mit Hypotheken belastet werden. Um allfällige Misserfolge in der Bewirtschaftung der Plantage auffangen zu können, bestimmen sie ein Kapital von fl. 15000.- für diesen Zweck”. Noch 1856, also kurz vor Abschaffung der Sklaverei in Surinam im Jahr 1863, finden sich in Basel zwei Pläne der dortigen Plantagen; StABS PA 513a III A 5a. 6 Sowohl in vormodernen als auch modernen Toponymen. Vgl. 1642 im Hachberg (Flurname), BSNB (1, 174) und 2010 Im Triangel (Platz- und Parkname), BSNB (2, 746–747).
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scheint. Als inoffizielle Toponyme werden moderne nicht amtlich festgelegte Ortsnamen bezeichnet, die vor allem im privaten und semioffiziellen Bereich vorkommen. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie meist in der Mündlichkeit entstehen und nur innerhalb bestimmter Namennutzergruppen gebräuchlich sind (vgl. Siegfried 2017: 540). Sie sind häufig an der vertraulichen und direkten Sprachwahl erkenntlich. In Riehen, einer größeren Dorfgemeinde direkt bei der Stadt Basel, wurde in einer toponomastischen Flurbegehung 1993 der Siedlungsname Negerdörfli (mundartliche Aussprache im Neegerdöörfli) erhoben, der sich auf ein überbautes Gebiet (Koordinaten 615430/269230) südwestlich des Dorfkerns von Riehen bezieht. Der nur im mündlichen Gebrauch tradierte Name ist ein Diminutiv zum Substantiv schwzdt. Negerdorf(f). Dieses Appellativ wurde häufig als Spottname für Anfang des 20. Jh. errichtete, meist genossenschaftlich organisierte Wohnsiedlungen für Arbeiter, Bergleute, aber auch Militärangehörige verwendet. Allein im Kanton Basel-Stadt finden sich noch zwei Namenparallelen in den Basler Quartieren Kleinhüningen und Bruderholz. In der Deutschschweiz nennt das Schweizerdeutsche Wörterbuch (Id. 13: 1500) das Toponym für einen Wachposten in Oberwil (Kanton Basel-Land), eine Wohnkolonie in Schaffhausen, ein von Italienern während des Baus des Simplontunnels bewohntes Viertel in Brig (Kanton Wallis), eine Gruppe niedriger Häuser im Wiesengelände des Ennetbühls in Horgen (Kanton Zürich). Auch in Deutschland (z. B. Negerdorf für eine Wohnkolonie in Kamen NRW) und in Österreich (z. B. Negerdorf für die Werksiedlung Mannersdorf) finden sich vergleichbare Toponyme mit entsprechender negativer Konnotation. Die Benennung dieser inoffiziellen, von der lokalen Bevölkerung vergebenen Namen orientierte sich vor allem an der damals neuartigen Siedlungsanlage. Der Bau mehrerer identischer, häufig flacher Gebäude mit zentralen Plätzen erweckte wohl den Eindruck eines abgeschlossenen Siedlungsbereichs, der sich eigenwillig von den anderen lokalen Bauten abhob und die Anwohner an ein (kreisförmiges) afrikanisches Hüttendorf erinnerte. (BSNB 1: 238–239)
Die Anlage der 1922/1923 auf bisher noch unerschlossenem Gebiet erbauten 46 gleichartigen Genossenschaftshäuser in Riehen führte auch hier zu der metaphorischen Benennung Negerdörfli. Neben der ungewöhnlichen Gebäudeansicht war es wohl auch die Art des Zusammenlebens, die die abwertende Namengebung provozierte. Der Riehener Gemeindepräsident äußerte sich bezüglich des inoffiziellen Toponyms so: „Das genossenschaftliche Wohnen passte eben nicht ins bürgerliche Weltbild der Riehener” (Reck Schöni 1994). Dabei ging es indirekt auch um die Lebensweise der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Wohnsiedlungen, die mitunter nicht den vor Ort Ansässigen entsprach. Die Initianten der Riehener Wohnsiedlung gehörten zur Heimstätte-Genossenschaft und waren vor allem
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Handwerker und Mitglieder einer Pflanzlandgenossenschaft. Sie verfolgten die Idee einer Gartenstadt, auf deren Boden sie als Gärtner und Landwirte auf eigenem Boden wirtschaften konnten (s. Reck Schöni 1994). Daher war neben der uniformen Gebäudeanlage wohl auch die neue und als fremdartig empfundene Weise des Zusammenlebens, die sich vom bisherigen Leben in der Dorfstruktur unterschied, Anlass für die abwertende Benennung. Entscheidend ist aber, dass hier ein metaphorischer Bezug gewählt wurde, der auf eine afrikanische Siedlungsform verweist. Noch deutlicher wird dies beim Negerdörfli, einem früheren Badeplatz am Altrhein im badischen Wyhlen (in direkter Nachbarschaft von Basel). Richter (1962: 132) führt den dortigen Namen auf die Zelte und Strohhütten zurück, welche zur Badezeit dort aufgebaut wurden. Da diese Namen alle Anfang des 20. Jahrhunderts im inoffiziellen, informellen Sprachbereich entstanden und eben nicht administrativ gesetzt worden sind, stellt sich die Frage, wie das Bild einer afrikanischen Dorfgemeinschaft so prominent werden konnte, dass es toponymisch im gesamten deutschen Sprachraum produktiv war. Ein wesentlicher Grund hierfür waren (u. a.) die im Zuge der Kolonialisierung entstandenen sogenannten Völkerschauen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika stattfanden. In diesen Schauen wurden außereuropäische und besonders auch afrikanische Menschengruppen aus den Kolonien in ihren Wohn-, Kleidungsund Lebensgewohnheiten gezeigt. Warnke (2009: 49) hält im Hinblick auf die bildliche, textuelle und räumliche Dimension des kolonisatorischen Diskurses fest, in den Völkerschauen werde versucht, hauptsächlich zu Unterhaltungszwecken „das fremde Leben zu simulieren“. Die in kleinen, mittleren und großen Städten durchgeführten Vorführungen zogen ein Massenpublikum an und bedienten und förderten das Kolonialinteresse der einheimischen Bevölkerung. „Swiss French daily newspapers and illustrate weeklies from 1879 to 1939 suggest a figure of seven ‚African villages‘. Some of the groups are listed in the detailed tables established for the zoological garden of Basel and for the city of Zürich“ (Minder 2008: 329). Allein im Basler Zoo wurden zwischen 1879 und 1936 einundzwanzig ethnologische Ausstellungen gezeigt, 1926 war hier ein „Somalidorf“ aufgebaut (Staehelin 1993: 21–23 u. 35–36). Minder (2008: 330) beschreibt das afrikanische Dorf, das 1896 in Genf ausgestellt wurde, so: The African village was situated on the fringes of the park [i.e. der Parc de Plaisance – A.d.V.], on a plot measuring approximately 3.200 square metres (3.840 square yards), rented for 35,000 francs. This village was not a random choice. As the village was not totally integrated into the exhibition site, the village administrators were able to charge a supplementary fee over the official entrance ticket to it. The settlement was composed of
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adobe huts with a mosque that attracted everyone’s attention. A small lake completed the ensemble. The visitors moved freely around the village and mixed with the inhabitants. The only restriction imposed was that they were not to enter the huts. Although clearly on display, the inhabitants of the village were not treated as animals in cages, since there were no bars separating the spectators and the indigenous people.
Es ist leicht vorstellbar, dass diese Vorführungen großen Einfluss auf die einheimische Wahrnehmung der kolonialen außereuropäischen Gemeinschaften hatten. Das in ihnen als fremdartig, exotisch und von den lokalen Normen Abweichende konnte daher leicht ironisch auf alle Neuerungen in der eigenen Lebenswelt übertragen werden. So haben auch in der Schweiz, die über keine staatlichen Kolonien verfügte, der koloniale Diskurs und die mit der Kolonialisierung und dem Kolonialinteresse zusammenhängende Wahrnehmung der außereuropäischen Welt toponymische Spuren hinterlassen. Diese können durchaus als Auswirkung kolonialer Imagination (vgl. Minder 2011: 18) bewertet werden.
6 Fazit und Ausblick Die hier vorgestellten vom (imaginären) Kolonialismus und den kolonialen Diskursen geprägten Toponyme, die sowohl dem Bereich der offiziellen als auch der inoffiziellen Namengebung entstammen, lassen sich nicht mit den kolonial intendierten Mikrotoponymen in Ländern mit früherer kolonialistischer Außenpolitik vergleichen. Für die Schweiz gilt, wie Minder (2008: 338) mit Bezug auf die ausgestellten afrikanischen Dörfer feststellt: The African village remains a façade for economic propaganda with colonial touch. As Swiss politicians did not show any inclination for expansion, the creation of colonies became an old-fashioned idea. The desire to colonize populations was relinquished and replaced by a feeling of missed opportunity; the idea of conquest had come to an end. Switzerland emerged too late in a world that was already fully engaged in making colonial empires profitable.
Ausgehend davon ist in der Schweiz eben nicht, wie etwa in Deutschland, mit kolonial intendierten Straßennamen und Straßennamenclustern, die die koloniale Zeit im Bewusstsein der Bevölkerung halten sollten (Schulz und Ebert 2016: 360), zu rechnen7, sondern nur mit vom Kolonialismus geprägten Namen.
|| 7 Politisch intendierte Straßennamencluster finden sich dagegen im 19./20. Jahrhundert auch in Basel und erfüllen verschiedene kommemorative Funktionen, die an verschiedenen innenpolitischen Überzeugungen anknüpfen (vgl. BSNB 3: 205–206).
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Die hier behandelten Mikrotoponyme zeigen jedoch eine starke Verflechtung mit verschiedenen europäischen kolonialen Diskursen: zum einen ganz konkret im Fall der vom Grundstücksbesitzer ausgehenden Nachbenennung des Landsitzes Klein Surinam nach einem Kolonialbesitz in Südamerika, welcher wiederum sekundär zur Benennung einer dortigen Straße führte; zum anderen in den durch das kulturelle und populäre Interesse an den Kolonien und der fremden Lebensweise angeregten metaphorischen Benennungen im inoffiziellen Bereich (In Arabien, Negerdörfli). Gerade die Ebene der durch den Kolonialismus veränderten Wahrnehmung der außereuropäischen Gegenden und deren Bewohnerinnen und Bewohner wirkte sich auf das kulturelle Gedächtnis der Namennutzenden und Namengebenden in Europa aus, und zwar unabhängig – wie die Beispiele aus der Schweiz zeigen – davon, ob es sich dabei um Einwohnerinnen und Einwohner von Metropolen (im Sinn des Kolonialismus) oder um Angehörige von nicht kolonialistisch aktiven Ländern handelte. Das Fehlen primär administrativ gesetzter kolonialer Namen in der Schweiz eröffnet den Blick auf eine mögliche weitere Ebene der Beschäftigung mit den kolonial beeinflussten Mikrotoponymen. Hier geht es weniger um die hierarchische Einschreibung von Macht(interessen) in den öffentlichen Raum, sondern um die Verarbeitung der in den Kolonialdiskursen bei der Bevölkerung angekommenen sprachlichen, räumlichen und visuellen Inhalte sowie Auswirkungen des Kolonialismus. Es erscheint vielversprechend, Toponyme wie das beschriebene Negerdorf/Negerdörfli und ähnliche Fälle näher zu untersuchen, um zu klären, ob sich in diesen häufig inoffiziellen Namen und Beinamen Bezüge zu kolonialen Eigennamen oder zur Sprache des Kolonialismus aufzeigen. Mit den Kolonien kamen u.a. neue Lexeme in die deutsche Sprache, die wiederum produktiv in der Namengebung gewesen sein könnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie solche Mikrotoponyme in späterer Zeit wahrgenommen wurden und ob in ihnen noch der Verweis auf die einstigen Kolonialdiskurse realisiert wird. Als Beispiel hierfür mögen die vielen verschiedenen volksetymologischen Deutungen des Toponyms Negerdorf dienen, die die Namen u. a. mit dem dunklen, weil schmutzigen Gesicht der dortigen Bewohner erklären. Für die zur Dortmunder Zeche Tremonia gehörende 1920/21 erbaute Bergarbeitersiedlung, die inoffiziell ebenfalls den Namen Negerdorf trug, findet sich diese Erklärung auch mehrfach im Internet (in letzter Zeit auch mit dem Hinweis darauf, dass dieser Name politisch nicht mehr korrekt sei).8 Auch hier scheint ein ähnlicher
|| 8 Vgl. etwa https://www.ruhrzechenaus.de/dortmund/do-tremonia.html (aufgerufen am 31.5.2021) und https://www.derwesten.de/staedte/dortmund/rassistisches-n-wort-warum-heisstdieser-ortsteil-immer-noch-so-id207982865.html (aufgerufen am 31.5.2021).
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metaphorischer Bezug vorzuliegen wie beim Riehener Negerdörfli. Da viele der inoffiziellen Mikrotoponyme nicht auf Karten verzeichnet worden sind und teilweise nur mündlich tradiert wurden, muss man auf regionale und lokale Namensammlungen zurückgreifen, um diese Zeugen populärer kolonialer Alltagsdiskurse auffindbar zu machen.
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| Teil III: Postkoloniale Perspektiven
Kim Sebastian Todzi
Von der „Wißmannstraße“ zu „Freedom Roads“ Koloniale Urbanonyme in Hamburg und erinnerungspolitische Kontroversen der Gegenwart Zusammenfassung: In Hamburg gibt es zahlreiche Straßen-, Platz- und Gebäudenamen mit kolonialen Bezügen. Diese Urbanonyme sind Teil des komplexen Erbes des Kolonialismus. Seit einigen Jahren geben sie den Anstoß zu erinnerungskulturellen Debatten, bei denen es neben Erinnerungs- auch immer um Identitätspolitik geht. Der Beitrag untersucht derartige (post-)koloniale Benennungsdiskurse, deren Verflechtung mit lokalpatriotischen und kosmopolitischen Bedeutungen sowie die gegenwärtigen erinnerungspolitischen Kontroversen und Umbenennungsdiskurse für die Hansestadt. Schlagwörter: Erinnerungskultur; Hamburg; Kolonialismus; Postkolonialismus; Straßennamen
1 Einleitung Straßen-, Platz- und Gebäudenamen bieten nicht nur geographische, sondern auch historische Orientierung. Diese Urbanonyme1 sollten zum Zeitpunkt der Benennung die Erinnerung wachhalten und die nach ihnen benannten Personen, Ereignisse, Orte u. dgl. ehren. Sie erfüllen mithin kommemorative Funktionen, die in die Erinnerungslandschaft einer Stadt oder eines Ortes eingeschrieben werden. Urbanonyme sind daher auch häufig Ausdruck von Erinnerungskulturen, dienen als Instrument von Geschichtspolitiken – sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart – und stiften kollektive Identität. Gerade Straßennamen werden, unter anderem durch ihre allgegenwärtige Präsenz, zum „Gedächtnis der Stadt“ (Bake
|| 1 Der Terminus Urbanonym wird im Folgenden in Anlehnung an Schulz und Ebert für Namen von Ortspunkten innerhalb der Stadt, die Straßen, Plätze, Brücken, Bauwerke und andere öffentliche Objekte bezeichnen, genutzt. Vgl. Schulz und Ebert (2016: 371–373). || Kim Sebastian Todzi, Universität Hamburg, Arbeitsbereich Globalgeschichte, Überseering 35#5, 22297 Hamburg, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-011
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2015) und dokumentieren damit das Selbstverständnis einer Gesellschaft und in welchen Traditionen sich ebendiese verortet. Was aber, wenn diese kommemorativen Einschreibungen Personennamen enthalten, die für ein als verbrecherisch eingestuftes System stehen, oder örtliche Referenzen, die auf nicht-demokratische Werte verweisen? Diese Frage beschäftigt derzeit lokalhistorische und zivilgesellschaftliche Initiativen, Historiker und Politiker ebenso wie Anwohner. Debatten über die Vergabe und Umbenennungen von Straßennamen erregten in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit. Während lange Zeit vor allem NS-belastete Straßennamen diskutiert und umbenannt wurden, steht seit wenigen Jahren vermehrt auch der Umgang mit kolonialen Urbanonymen zur Diskussion, die häufig zwar kolonialbezüglich, aber NS-zeitlich sind. Neuerdings werden solche nach kolonialen Akteuren und Orten benannte Straßen-, Platz- und Gebäudenamen auch in den ehemals kolonisierenden Staaten kontrovers diskutiert. Diese Auseinandersetzungen sind Ausdruck eines gewachsenen Interesses für die Kolonialgeschichte und deren raumsemantische Auswirkungen und gleichwohl eines kritischen Bewusstseins über das koloniale Erbe. Gerade die Debatte um die Aufarbeitung und Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama (vgl. Zimmerer und Zeller 2016) hat das öffentliche Interesse auch in Deutschland in den vergangenen Jahren erneut angeregt. Seit 2015 verhandeln die deutsche und namibische Regierung über die Aufarbeitung und Anerkennung des Genozids, doch fühlen sich insbesondere Vertreter_innen der Opfer von diesen Verhandlungen ausgeschlossen.2 Zugleich beschleunigt sich seit 2017 die Debatte um koloniale Raubkunst und das koloniale Erbe des Humboldt-Forums und führt zu einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion der Bedeutung des Kolonialismus (vgl. u. a. Savoy 2017; Bredekamp 2017; Bahners 2019; Zimmerer 2019). Nach kolonialen Akteur_innen und Orten benannte Straßennamen3 sind mithin Teil des komplexen Erbes des Kolonialismus und geben als solches in den vergangenen Jahren wiederholt den Anstoß für die Auseinandersetzung mit der erinnerungskulturellen und -politischen Debatte über die deutsche Kolonialgeschichte. Wiederholt haben zivilgesellschaftliche Initiativen versucht, die || 2 Zu den Verhandlungen siehe: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regionaleschwerpunkte/afrika/-/1897660 (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). Siehe ferner die Berichterstattung zu den Verhandlungen, exemplarisch: https://www.dw.com/de/genozid-an-denherero-und-nama-hei%C3%9Fe-debatte-in-namibia-kein-thema-in-deutschland/a-43699028 (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 3 Der relevante zeitliche Bezugsrahmen ist die Zeit der formalen deutschen Kolonialherrschaft. Dass bei den Benennungen jedoch (i.d.R.) das Handeln bzw. der Handlungskontext der Akteur_innen ausschlaggebend war, wird hier durch die Beschreibung „kolonial“ verdeutlicht.
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Thematik der noch heute im gegenwärtigen Stadtbild anzutreffenden „kolonialen Straßennamen“ ins erinnerungskulturelle Bewusstsein zu rufen.4 In zahlreichen Städten werden umstrittene Straßennamen seit Jahren in Stadtrundgängen anhand der dort angebrachten Straßenschilder hinsichtlich ihrer jeweiligen Benennungsmotivik kritisch erläutert. Zuletzt erregte die Wander-Ausstellung „freedom roads! Koloniale Straßennamen. Postkoloniale Erinnerungskultur“5 seit 2010 bundesweit Aufsehen. Auch die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg hat das Thema neuerdings aufgegriffen (Bake 2015).6
2 Koloniale Urbanonyme in Hamburg In Hamburg wurden zahlreiche Straßen nach Kaufleuten, vermeintlichen „Entdecker_innen“ (Vasco-da-Gama-Platz), „Forscher_innen“ (Amalie-Dietrich- Stieg) und nach Militärs (Wißmannstraße, Dominikweg) benannt, die als Akteure in ehemaligen (deutschen) Kolonien tätig waren. Zudem gibt es eine kleine Anzahl von Urbanonymen – besonders im Bereich der Hafenanlagen –, die koloniale Räume bezeichnen. Das Projekt freedom roads! führt auf der eigenen Webseite 114 Urbanonyme7 in und um Hamburg auf, die einen kolonialen Bezug aufweisen, der sich freilich nicht immer aus den Namen selbst, sondern auch aus den Orten, die mit der kolonialen Geschichte verflochten sind, ergibt.8 Das Projekt
|| 4 Am aktuellsten und umfangreichsten ist derzeit das Dossier des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags (BER), das in Zusammenarbeit mit Berlin Postkolonial und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland entstanden ist: (Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag 2016). Vgl. aber auch die Arbeit von Initiativen und Vereinen wie Freiburg Postkolonial, Berlin Postkonial, [muc] München Postkolonial oder den Arbeitskreis Hamburg Postkolonial. Für eine Übersicht über bestehende Initiativen in Deutschland siehe: http://www.kolonialismus.unihamburg.de/postkoloniale-initiativen-in-deutschland-2/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 5 Das Projekt „freedom roads!“ ist als Wanderausstellung mit einer ersten Station 2010 in Berlin gestartet. Danach war die Ausstellung 2013 in Hamburg und 2013/2014 in München zu sehen. Begleitend finden sich auf der vom Verein „Berlin Postkolonial e.V.“ und der Künstlerin HMJokinen betriebenen Webseite zahlreiche weitergehende Informationen zu kolonialen Straßennamen, Umbenennungsinitiativen sowie ein Debattenforum: www.freedom-roads.de/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 6 Siehe dazu auch die daraus entstandene Online Dokumentation: Koloniale Straßennamen. Kolonialakteure, online verfügbar unter www.hamburg.de/kolonialakteure/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 7 In der Liste finden sich neben Straßennamen auch Namen für Parks sowie Hafenanlagen. 8 Städte mit kolonialen Straßennamen. Online verfügbar unter www.freedom-roads.de/ frrd/staedte.htm (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020).
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erfasst Namen, die „an besondere Orte der deutschen Kolonialgeschichte und an unfair erworbene oder geraubte ‚Kolonialwaren‘“ erinnern sowie „neben Profiteuren des Sklavenhandels und der Sklaverei auch Akteure und Symbolfiguren des deutschen Kolonialismus in Afrika, Asien und Ozeanien“ ehren würden.9 Diese Liste ist insofern aufschlussreich, als dass nur 32, also nicht einmal ein Drittel, der dort aufgeführten Urbanonyme im Zeitraum des formellen Kolonialbesitzes (oder davor) vergeben wurden. Der größte Teil der aufgeführten Urbanonyme wurde nach dem faktischen Ende des deutschen Kolonialreichs entsprechend benannt. Besonders auffällig ist dabei, dass 50 Straßen erst nach 1945 ihren heutigen Namen erhielten.10
3 (Post-)Koloniale Setzungsakte Die wenigsten Straßennamen, die zwischen 1884–1919 benannt wurden, hatten einen direkten Bezug zum deutschen Kolonialreich. Von einer unmittelbar kolonial intendierten Vergabe zu „Ehren“ des „deutschen Kolonialwesens“, wie sie als Grundlage für das Forschungsprogramm zu kolonialen Urbanonymen angenommen wird (Schulz und Ebert 2016: 359), kann tatsächlich nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Am deutlichsten ist diese Intention in der Walderseestraße in Othmarschen erkennbar: Die Benennung referiert auf Alfred Graf von Waldersee, der nicht nur zeitweise kommandierender General in Altona war, sondern ab 1900 auch zur Niederschlagung des so genannten „Boxeraufstandes“ nach China gesandt wurde, dort als Oberbefehlshaber der europäischen Truppen Kriegsverbrechen verantwortete und dem 1901 die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg verliehen wurde.11 Selbst die im Zuge der Hafenausbauten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vergebenen Namen wie Asiakai, Afrikakai und Afrikahöft waren nur mittelbar als Urbanonyme wahrnehmbar, die in dezidiert kolonialer Intention eingeschrieben wurden. Das Cluster auf dem neu ausgebauten Kleinen Grasbrook verwies mit den weiteren Benennungen Amerikakai, Australiakai und Indiakai zwar auf die Welt außerhalb Europas, der Kontext legt jedoch nahe, dass es primär um Hamburger Handelsbeziehungen ging und nicht oder nur sekundär um
|| 9 frrd/staedte.htm (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 10 Benennungsjahre nach Beckershaus (2011). 11 Die Vergabe der Ehrenbürgerwürde an Waldersee (1896 in Altona und 1901 in Hamburg) und die folgende Straßenbenennung war, so lautet das Urteil Josef Schmids, „zweifellos an den kolonialpolitischen Interessen Hamburgs orientiert“ Schmid (2014: 22).
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Bezüge zum deutschen Kolonialreich. Der benachbarte Hansahafen verwies mit Bremer Ufer und Lübecker Ufer auf deutsche Hansestädte, die dahinter gelegenen Flusshäfen Moldauhafen (mit Prager Ufer und Melniker Ufer) und Saalehafen (mit Dessauer Ufer und Hallesches Ufer) wiederum auf Flüsse und Binnenhafenstädte, die ebenfalls Teil des Handelsnetzes Hamburgs waren. Obwohl der Referenzrahmen bei Australiakai, Asiakai, Afrikakai, Indiakai etc. nicht durchgängig das deutsche Kolonialreich war, verwiesen sie zum Benennungszeitraum dennoch zumindest mittelbar auf europäische Herrschaftsräume in Übersee. Diese Benennungen zu einer Zeit, als die koloniale Aufteilung der Welt kurz vor ihrem Höhepunkt stand, sind Ausdruck des Anspruchs auf einen sprichwörtlichen „Platz an der Sonne“ und reproduzieren zugleich eine eurozentrische Perspektive: Die außereuropäische Welt wird in Kontinenten subsumiert und homogenisiert, während es europäischen Hafenstädten vorbehalten bleibt, als einzelne Städte in die Hamburger Stadtlandschaft eingeschrieben zu werden. Während des faktischen Bestandes des deutschen Kolonialreiches waren solche Benennungspraktiken die Regel, die besonders die lokalpatriotisch aufgeladene Bedeutung der Stadt Hamburg im Welthandel hervorhoben, der sich zu einem großen Teil dem Kolonialhandel widmete, wenngleich nicht nur mit den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs. So verweist der Name Thörlstraße12 beispielsweise mittelbar auf die Ölindustrie in Harburg, die auch eine Pionierrolle in der Verarbeitung tropischer Fette vor allem aus Westafrika spielte. Auch wenn die Nachfrage nach Palmöl und Palmkernen eine wichtige Triebfeder der kolonialen Annexionen Kameruns und Togos war und diese anfänglich zu den Hauptexportprodukten aus den Kolonien gehörten, machte der Anteil deutscher Kolonien immer nur einen kleinen Anteil der Gesamtimporte von Palmöl aus Westafrika aus. Direktimporte aus britischen Kolonien in Westafrika behielten auch während der Etablierung des deutschen Kolonialreichs den größten Anteil an den Palmölimporten nach Hamburg (Tabellarische Übersichten des Hamburgischen Handels 1850–1912). Andere Straßennamen wie Maretstraße13, Hoffstraße14 oder Traunsallee15 verweisen indirekt auf die im späten 19. Jahrhundert boomende Gummiindustrie. Die Kautschuk verarbeitende Industrie bezog ihre Rohstoffe hauptsächlich aus Südostasien. Diese Straßennamen verweisen damit zwar auf die Verarbeitung in kolonialen Kontexten produzierter Rohstoffe, jedoch mit keinem oder nur einem mittelbaren Bezug zu deutscher Kolonialpolitik.
|| 12 Nach Johann Friedrich Thörl (1820–1886). 13 Nach Carl Maret (1829–1904). 14 Nach Louis Hoff (1850–1916). 15 Nach Friedrich Traun (1804–1881).
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Dass sich in bezeichnungsmotivischer Perspektive während des Kaiserreichs nur sehr wenige explizit auf das deutsche Kolonialreich beziehende Benennungen belegen lassen, mag auf den ersten Blick verwundern, profitierten doch gerade Hamburger Kaufleute von der kolonialen Expansion des deutschen Reiches. Diese vermeintliche Leerstelle sollte aber im Zusammenhang mit einer insgesamt ambivalenten Haltung gegenüber der politisch-formellen Kolonialexpansion des Deutschen Reiches bei Hamburger Kaufleuten gesehen werden. Obwohl eine kleine Gruppe Hamburger Kaufleute wirtschaftlich stark von der Kolonialherrschaft profitierte und sich auch politisch erfolgreich dafür engagierte, war zunächst nur eine Minderheit vom Erfolg einer aktiven Kolonialpolitik des Deutschen Reiches überzeugt. Viele Kaufleute befürchteten hohe Kosten und Auseinandersetzungen mit anderen europäischen Kolonialmächten (vgl. Washausen 1968). Noch 1899 beklagte sich die nationalliberale Zeitschrift Der Grenzbote, dass „nirgends der koloniale Gedanke kühler aufgenommen worden ist, als in Hamburg und Bremen“ (Der Grenzbote 1899: 345). Selbst die Deutsche Kolonialgesellschaft konnte erst 1896 – knapp zehn Jahre nach ihrer Gründung – eine Hamburger Abteilung ins Leben rufen. Kolonialismus war in der Handelsmetropole Hamburg in der Regel also weniger eine Frage des nationalen Prestiges als vielmehr eine ökonomische Berechnung: Die Abschottung von (kolonialen) Märkten durch Ein- und Ausfuhrzölle und andere Handelshemmnisse wurde als Gefahr für den blühenden Handel der Hafenstadt gesehen. Hamburger Kaufleute sahen, bis auf wenige Ausnahmen, lange Zeit die größten Chancen im Kolonialismus als europäisches Projekt, in welchem die Kolonialmächte bestenfalls gemeinsam eine „Politik der offenen Tür“ in möglichst vielen Regionen der Welt etablieren sollten – auch gegen den Willen der lokalen Bevölkerungen. Viele der zuvor angeführten Erstglieder der jeweiligen Straßennamen stehen für jene Formen der Weltaneignung, die ein „Deutschland in Übersee“ auch jenseits formeller Kolonialherrschaft symbolisierten (Schramm 1950; van Laak 2005: 64). Sie sind Versprachlichungen einer kolonialen Kultur,16 die sich zugleich auf das Selbstbild der Deutschen auswirkte, auch wenn deren Referenzrahmen nicht zwangsläufig ein real existierendes deutsches Kolonialreich war (vgl. Kundrus 2003; Zantop 1999). Dazu gehört auch, dass Kolonialismus nicht
|| 16 Zur kolonialen Kultur in Hamburg gehörten u. a. auch Hagenbecks „Völkerschauen“, die Geographische Gesellschaft in Hamburg, das Völkerkundemuseum. Es ist kein Zufall, dass die Denkschrift der Handelskammer 1883, die zur Annexion von Kolonien aufrief, explizit auf die Forschungsreisenden aus Hamburg hinweisen, die das koloniale Ausgreifen legitimieren sollten.
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auf ökonomische Ausbeutung und formelle Herrschaft beschränkt war, sondern eng mit der epistemologischen Ausformung des Westens verbunden ist und folglich beides nicht getrennt voneinander betrachtet werden sollte. Eine enge Definition kolonialer Urbanonyme, die nur direkte Bezüge auf das deutsche Kolonialreich als kolonial intendiert anerkennt, droht – zumindest für die Stadt Hamburg – diesen Zusammenhang zu verschleiern.
4 Kolonialrevisionistische Cluster: Kleiner Grasbrook, Horn, Wandsbek Der erste Höhepunkt von Einschreibungspraktiken mit unmittelbarem Bezug zum deutschen Kolonialreich geschah in Hamburg erst nach dem Verlust der deutschen Kolonien. Ein solches Cluster entstand ab Mitte der 1920er Jahre im Hamburger Hafen auf dem kleinen Grasbrook. Dort sollte – einer Anregung des Deutschen Städtetages folgend – eine Umbenennung erfolgen, die geeignet sei, „die Erinnerung an die Deutschland geraubten afrikanischen Kolonien wachzuhalten“ (Baudeputation 1922: StaHH 111-1_65831, Benennung von Hafen- und Kaianlagen, Auszug aus dem Protokoll der Baudeputation, Hamburg 3.11.1922). Der ehemalige Petroleumhafen wurde in Südwesthafen umbenannt. Die bis dahin unbenannten Kaianlagen erhielten die Namen Togo-Kai, Windhuk-Kai und Kamerun-Kai. In dieser kommemorativen Benennungspraxis nach vergangenen kolonialen Räumen spiegelt sich ein (post-)kolonialer Raumaneignungsprozess: Damit wurde in Hamburg ein erstes prominentes Ensemble von Urbanonymen eingeschrieben, die die abgetretenen Kolonien im Stadtbild würdigen und/oder ehren sollten. Dass diese administrative Benennungspraxis aus raumsemantischer Perspektive genau im Hafengebiet erfolgte, hebt die Bedeutung des in dieser Form markierten Ortes hervor, denn die entscheidende Verbindung Hamburgs mit den Kolonien war der Hafen als infrastruktureller und wirtschaftlicher Knotenpunkt und als Scharnier zwischen dem Deutschen Reich und den Kolonien.17 Im Hamburger Stadtteil Horn an der Grenze zu Wandsbek, zwischen Horner Rennbahn und Rauhes Haus, entstand ab 1929 ein weiteres Kolonialcluster.18 Es war ein „Bezirk, dessen Straßen nach Kolonialdeutschen benannt“ wurden (vgl.
|| 17 Der Großteil der Schiffe, die zwischen Hamburg und den deutschen Kolonien verkehrten, fuhr freilich nicht aus dem Petroleumhafen, sondern vom Baakenhafen ab. 18 Die Ausführungen zum Cluster in Hamburg Horn basieren auf der Auswertung von Stadtplänen und -karten Hamburgs und des Hamburger Umlands.
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„Strandes-Feier im Rathaus“ 1930). Insgesamt acht Straßennamen verwiesen auf die Geschichte des (deutschen) Kolonialismus, indem sie nach mehr oder weniger prominenten deutschen Kolonialakteuren benannt wurden. Die Umbenennung der Straßen, die zuvor wie viele andere Feld-, Wald- und Wiesenstraßen nur nummeriert waren, fand im Jahr 1929 statt. Neben Einschreibungen kolonialer Akteure in den deutschen Kolonien wie Wissmanns-Weg, Carl-PetersWeg und Emin-Pascha-Straße würdigten die Erstglieder auch lokale Akteure des Hamburger Kolonialhandels wie Hernsheim-Reihe19, Justus-Strandes-Weg20, Strandes-Platz sowie die O’Swald-Straße21 und die Theodor-Weber-Reihe22. Das Viertel war bis zum Umbau zum Kleingartengebiet direkt am Horner Kreisel das größte zusammenhängende Kolonialcluster Hamburgs. Bis heute erhalten ist nur die O’Swald-Straße; die anderen Straßenzüge wurden im Zuge des Umbaus des durch die Bombenangriffe zerstörten Stadtviertels umstrukturiert und umbenannt23 bzw. getilgt. Die Benennungen der Straßen im Kolonialviertel in Horn und den Hafenanlagen knüpften an einen Diskurs an, der den Verlust der Kolonien als Ungerechtigkeit stilisierte und zugleich an die Taten deutscher Kolonialisten erinnern sollte. Mit Unterzeichnung des Versailler Vertrages hatte Deutschland seine Kolonien verloren, die der Völkerbund als Mandatsgebiete an die Siegermächte übergeben hatte. Dabei dienten Vorwürfe, die Deutschen seien unfähig zu kolonisieren, als Rechtfertigung für die Wegnahme der Kolonien. Gegen diese so genannte „Kolonialschuldlüge“ richtete sich der Kolonialrevisionismus der in der Weimarer Republik zunehmend erstarkenden Kolonialbewegung. Im Nationalsozialismus wuchs die Kolonialbewegung in Hamburg nochmals und auch die Forderung nach der Restauration des ehemaligen Kolonialbesitzes wurde stärker artikuliert (vgl. Lüth 1973). In Wandsbek entstand Ende des Jahres 1938 eine umfangreiche Liste mit Namensvorschlägen, die explizit auf das vergangene deutsche Kolonialreich in Afrika verwiesen: Askaristieg, Kameruneck, Gustav-Nachtigal-Straße, Karl-Peters-Straße, Lüderitzweg, Südwestkamp, Togoweg, Waterberg und Wißmannstraße (vgl. Steinhäuser 2015: 137). Deren Umbenennung wurde nur durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges verhindert.
|| 19 Nach Eduard Hernsheim (1847–1917) und Franz Hernsheim (1845–1909). 20 Nach Justus Strandes (1859–1930). 21 Nach William Henry O’Swald (1832–1923). 22 Nach Theodor Weber (1844–1889). 23 So wurde aus einem Teil der Theodor-Weber-Straße ein Teil des Tribünenweges. Der Wissmanns-Weg verschwand bereits mit dem Ausbau des Horner Kreisels als Endpunkt der Autobahn.
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5 (Un)intendierte koloniale Urbanonyme? Spätestens mit der Auflösung des kolonialpolitischen Amtes der NSDAP 1943 und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 verschwand die lang unterstützte Forderung nach der Restauration des Kolonialbesitzes weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs. In Hamburg wurden bestehende koloniale Urbanonyme nicht umbenannt, auch die Kolonialdenkmäler blieben – vorerst – auf ihrem Platz. Unterdessen wurde das größte Inventar kolonialer Straßenbenennungen erst in der Zeit nach 1945 vergeben. Das „Gesetz über Groß-Hamburg und andere Gebietsbereinigungen vom 26. Januar 1937“ führte aufgrund von großflächigen Eingemeindungen ehemals zu anderen Ländern und Landkreisen gehörender Städte und Gemeinden zu zahlreichen Straßenumbenennungen im Hamburger Stadtraum, um Doppel- und Mehrfachnennungen auszuschließen. Zudem manifestierte sich mit Orten wie dem Adolf-Hitler-Platz nationalsozialistische Geschichtspolitik in den Stadtplänen. Diese Umbenennungen aus der NSZeit wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wiederum häufig umbenannt. Und hier griffen die Initiatoren dann teilweise auf ein damals als unkritisch gesehenes historisches Erbe, nämlich das der „überseeischen“ Beziehungen der Hafenstadt Hamburgs, zurück. Nach 1945 vergebene Namen wie Nöltingstraße,24 Woermannstieg,25 Schimmelmannstieg26 und Gaiserstraße27 verwiesen auf Kaufleute und Unternehmer aus Hamburg bzw. was seit 1938 zu Hamburg gehörte. Teilweise standen sie in Verbindung mit älteren Namen (Schimmelmannstieg führt auf die Schimmelmannstraße, Woermannstieg auf den Woermannsweg). Die so erinnerten Personen wurden in ihrer Funktion als Kaufleute oder gemeinnützige Stifter geehrt. Sie galten als Pioniere des Handels mit außereuropäischen Gebieten und damit als Mitbegründer des Reichtums Hamburgs und der Bedeutung des Hafens als wichtigem Umschlagplatz exotischer Güter wie Kakao, Kaffee, Palmöl, Zucker und Gewürze. Ihr wirtschaftlicher Erfolg als stolze Hanseaten schien Grund genug, ihnen im „Gedächtnis der Stadt“ (Bake 2015) einen ehrbaren Platz zuzuweisen und an eine scheinbar unbelastete Tradition anzuknüpfen, die nicht durch die Nationalsozialisten oder preußisches Militär kompromittiert war. Bis weit in die Bundesrepublik hielt sich ein Narrativ, das die Aktivitäten Hamburger Kaufleute bei der kommerziellen Durchdringung außereuropäischer Gebiete || 24 Nach Emil Nölting (1812–1899). 25 Nach Adolph Woermann (1847–1911). 26 Nach Heinrich Carl von Schimmelmann (1724–1782). 27 Nach Gottlieb Leonhard Gaiser (1817–1892).
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idealisierte, indem ihre Bedeutung als ehrbare Kaufleute, die nicht durch Versklavungshandel erfolgreich waren, sondern diesen sogar durch ehrbaren „legitimen Handel“ verdrängten, hervorgehoben wurde. Die Hamburger Kaufleute in „Übersee“ hätten einen entscheidenden Anteil an der „Entwicklung“ Afrikas, Asiens und des Südpazifiks gehabt und sie hätten Hamburg und Deutschland damit zu Weltgeltung verholfen (Hieke 1949; Hieke und Schramm 1939; Schramm 1943, 1949, 1950). Zudem erinnern auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Urbanonyme an Personen aus der deutsch-dänischen Geschichte der 1938 eingemeindeten Orte Wandsbek und Altona. Dem deutsch-dänischen Kaufmann Heinrich Carl von Schimmelmann, der in der dänischen Karibik mehrere Zuckerrohr- und Baumwollplantagen mit über 1000 versklavten Menschen betrieb (Degn 2000; Krieger 2013), sind gleich mehrere Straßen in Wandsbek gewidmet. Die positive Lesart dieser für die Gemeinden Wandsbek und Ahrensburg unbestreitbar wichtigen Persönlichkeit ging so weit, dass ihm noch 2006 ein Denkmal am Wandsbeker Markt gewidmet wurde. Dazu gesellten sich Straßennamen, die auf deutsche „Kolonialhelden“ verwiesen, diesen Diskurs aber vermieden. So wurde die nach dem damals als Kriegshelden des Ersten Weltkriegs inszenierten deutschen Marineoffizier Otto Weddigen benannte Weddigenstraße in Hamburg Jenfeld 1947 in Dominikweg, nach Hans Dominik, umbenannt. Die Umbenennung geschah in Form eines Sammelbeschlusses in Listenform, in dem der alte Name mit „M = Militärisch“ gekennzeichnet wurde. Statt eines konkreten kolonialpolitischen Anspruchs wurde in den folgenden Jahren eine diffuse und unkritische Kolonialnostalgie gepflegt. Damit begann eine diskursive Anpassung, die die Benennung nach exponierten „Kolonialhelden“ ermöglichte und damit ihre Anschlussfähigkeit an ältere Kolonialdiskurse behielt, zugleich aber die wissenschaftliche Komponente jener Personen unterstrich, die neutral und unkritisch erschien. So wurde 1950 auch ein Straßenzug als Wißmannstraße eingeweiht, die man primär dem „Afrikaforscher“ Hermann von Wissmann, nicht dem Militär oder Gouverneur der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, widmete.
6 Erinnerungskulturelle Kontroversen Eine breitere Öffentlichkeit erreichte das Thema der kolonialen Straßennamen in Hamburg erst 2013 durch die Wanderausstellung „freedom roads! Koloniale Straßennamen. Postkoloniale Erinnerungskultur“ im Kunsthaus Hamburg, an welcher zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen wie der Arbeitskreis Ham-
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burg Postkolonial, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde in Deutschland mitarbeiteten. Seitdem steht das Thema auf der politischen Tagesordnung. Während koloniale Straßennamen damit erst in den letzten Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt waren, wurden andere materielle Relikte der deutschen kolonialen Kultur bereits viel früher Gegenstand öffentlicher und gesellschaftspolitischer Kritik: Dazu gehört die Wiedererrichtung des Wissmann Denkmals vor dem Hauptgebäude der Hamburger Universität. Das 1909 in Dar es Salaam vor dem Gouverneurspalast eingeweihte Denkmal wurde 1919 nach dem Ersten Weltkrieg als „Kriegstrophäe“ nach London verbracht, wo es im Imperial War Museum eingelagert wurde. Die Deutsche Kolonialgesellschaft erwarb das Denkmal für 13.000 Pfund Sterling und stellte es am 4. November 1922, dem Jahrestag der „Schlacht von Tanga“, vor dem Ostflügel des Hauptgebäudes der Universität auf (vgl. Uhlmann 2007). Es sollte zu einem zentralen Erinnerungsort der deutschen Kolonialbewegung werden und die Erinnerung an die verlorenen Kolonien wachhalten. 1935 wurde dem Wissmann-Denkmal auf der anderen Seite des Hauptgebäudes der Universität das Dominik-Denkmal gegenübergestellt, das an Hans Dominik erinnern sollte. Das Kolonialinstitut wurde wieder Teil der umbenannten „Hansischen Universität“. 1945 wurde das Wissmann Denkmal durch eine britische Fliegerbombe vom Sockel geholt, 1949 aber wieder an seinem ursprünglichen Platz aufgestellt. Für die 1950er sind Kranzniederlegungen der Vereinigung der Deutsch-Ostafrikaner belegt. Bereits seit den frühen 1960er Jahren gab es aber auch Proteste gegen das Denkmal. Nach mehreren Anläufen wurde das Wissmann Denkmal am 31. Oktober 1968 endgültig gestürzt.28 In derselben Nacht wurde auch das Dominik Denkmal gestürzt. Seither wurden beide Denkmäler im Keller der Hamburger Sternwarte eingelagert. Das Wissmann Denkmal kam 2004 erneut zum öffentlichen Vorschein, als die Künstlerin HMJokinen das Projekt „afrika-hamburg.de“ startete.29 Ein Teil dieses Projektes war es, die Statue an den Landungsbrücken in Hamburg auszustellen und eine Debatte über den Umgang mit dem kolonialen Erbe der Stadt anzuregen. Zuletzt war das gestürzte und mit gelber und roter Farbe besprühte Wissmann Denkmal 2016–2017 als Exponat in der Ausstellung
|| 28 Zu einem Interviewprojekt mit Beteiligten, Zeitzeug_innen und Expert_innen über die Denkmalstürze 1967/68 siehe: 50 Jahre Denkmalsturz. Der Sturz des Wissmann-Denkmals an der Universität Hamburg 1967/68. Online verfügbar unter www.kolonialismus.uni-hamburg. de/50-jahre-denkmalsturz-der-sturz-des-wissmann-denkmals-an-der-universitaet-hamburg1967–68/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). 29 Online verfügbar unter afrika-hamburg.de (zuletzt aufgerufen am: 2.4.2020).
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„Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen.30
7 Diskursive Umdeutungen und temporäre Umbenennungen: „Tansania-Park“ und „Mohammed-Hussein-Bayume-Park“ Angetrieben wird die Auseinandersetzung in Hamburg besonders aber durch die seit 2003 laufenden Debatten über den Umgang mit einem besonders komplexen Erbe des so genannten Tansania-Parks und der Lettow-Vorbeck-Kaserne. Die Lettow-Vorbeck Kaserne wurde ab 1934 errichtet, und zu Ehren des Generals Paul von Lettow-Vorbeck benannt. Bis weit in die Bundesrepublik reichte Lettow-Vorbecks Mythos als „Löwe von Afrika“. Dieser Mythos besagt, LettowVorbeck habe im Ersten Weltkrieg als genialer Feldherr mit seinen vermeintlich „treuen Askari“, den „loyalen Eingeborenen“, die Kolonie Deutsch-Ostafrika gegen die alliierte Übermacht verteidigt. Angeblich unbesiegt kehrte er nach Deutschland zurück. Dieser Mythos ist von aktuelleren Forschungen valide dekonstruiert worden (S. Michels 2013; E. Michels 2013; Morlang 2008; Moyd 2014; Pesek 2010; Schulte-Varendorff 2006). Dabei spiegelt sich in der Benennung der Kaserne nach Lettow-Vorbeck und in der Gestaltung der so genannten Askari-Reliefs, die am Eingang der Kaserne aufgestellt wurden, eine besondere Komplexität, die auch in der Aufarbeitung und erinnerungskulturellen Beschäftigung ihren Niederschlag finden sollten. Denn die Verehrung von Kolonialsoldaten wie Lettow-Vorbeck stellt ein postkoloniales ebenso wie ein postfaschistisches Erbe dar. Die Benennung nach Lettow-Vorbeck sollte zweierlei bewirken: Erstens sollte die Kolonialbewegung in den Nationalsozialismus integriert werden und zweitens sollte ein Antidemokrat und Antisemit geehrt werden, der sich im „Kapp-Putsch“ (1920) früh gegen die Weimarer Republik gestellt hatte. Das affirmative Gedenken blieb lange Zeit unbemerkt. Die Kaserne wurde 1999 geschlossen. An ihrem Eingangstor prangten bis zu ihrer Schließung die so genannten Askari-Reliefs. Die beiden von Walter von Ruckteschell, vormals Soldat unter Lettow-Vorbeck, geschaffenen Reliefs stellen einen deutschen Soldaten und
|| 30 Ausstellung: Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, online verfügbar unter www.dhm.de/ausstellungen/archiv/2016/deutscher-kolonialismus.html (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020); vgl. auch den Begleitband Gottschalk et al. (2016).
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seine Askari in vermeintlich harmonischer Verbundenheit dar. Neben dem Kasernengelände wurde zudem 1939 das Schutztruppendenkmal eingeweiht, zur Erinnerung an die Kolonialtruppen des Kaiserreichs. Bis zum Auszug der Bundeswehr aus der Kaserne fanden an diesem Denkmal am Volkstrauertag Kranzniederlegungen und Gedenkfeiern als „Traditionspflege“ statt. Als die Kaserne 1999 von der Bundeswehr aufgegeben wurde, sah sich die Stadt vor die Frage gestellt, wie sie mit den Relikten umgehen sollte. Zunächst geschah drei Jahre lang nichts, bis 2002 der Kulturkreis Jenfeld die Hamburger Öffentlichkeit mit seinen Plänen für einen so genannten Tansania-Park überraschte, der die restaurierten, seit 2002 so genannten Askari-Reliefs neben dem Schutztruppen-Denkmal als Ensemble präsentieren sollte. Die so genannten Askari-Reliefs und der so genannte TansaniaPark sollten in dieser Form absurderweise ein Symbol „Deutsch Tansanischer Freundschaft“ darstellen (vgl. Möhle 2007). Die Urbanonyme Askari-Reliefs und Tansania-Park können, und zwar v.a. aufgrund der Tatsache, dass sie in einer raumsemantischen Perspektive als zusammengehörig angesehen werden müssen, als eine neuzeitliche und postkoloniale Verschleierung der Gewaltverhältnisse des Kolonialismus gedeutet werden. Ursprünglich hießen die zurzeit als Askari-Reliefs bekannten Denkmäler Deutsch-Ostafrika-Kriegerdenkmal. Die neuen Bezeichnungen sind erst durch das ursprüngliche Park-Konzept des Kulturkreises Jenfeld und die Debatten um den Park in die Welt gesetzt und bekannt geworden. Seit 2002 fand und findet dadurch eine diskursive Umdeutung statt, die auf kolonialnostalgische Bedeutungsebenen abzielt. Sofort nach der Bekanntgabe der Pläne begannen Proteste gegen den geplanten Tansania-Park, der im September 2003 eingeweiht werden sollte. Der Kulturkreis Jenfeld hatte dazu auch den tansanischen Ministerpräsidenten eingeladen, der aufgrund der massiven Kritik auf Distanz zum Park ging und seine Teilnahme absagte. Einen Tag vor der Eröffnung kam es zu einer temporären Umbenennung, indem zivilgesellschaftliche Initiativen in einer symbolischen Aktion ein Transparent mit der Aufschrift Mohammed-Hussein-Bayume-Park am Eingangstor der ehemaligen Kaserne platzierten.31 Das Transparent überdeckte dabei den Schriftzug Lettow-Vorbeck-Kaserne und diente dazu, die Kritik an dem so genannten Tansania-Park eben durch die Tilgung und Umbenennung im Raum selbst zu versprachlichen. Die temporäre Neubenennung wurde, so der begleitende Text auf einer Infotafel, Mohammed Hussein Bayume (Geburts-
|| 31 Proteste. Online verfügbar unter www.afrika-hamburg.de/proteste.html (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020).
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name: Mahjub bin Adam Mohamed)32 im „Gedenken an die Opfer kolonialer Ausbeutung und rassistischer Gewalt“ gewidmet.33 Mahjub bin Adam Mohamed war Sohn eines „Askari“-Söldners der so genannten „Schutztruppe“ in Deutsch-Ostafrika. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich freiwillig bei der Kolonialarmee und wurde als Zehnjähriger unter Lettow-Vorbeck als Kindersoldat eingesetzt. 1917 wurde er im Kampf verwundet und geriet in britische Gefangenschaft. 1929 reiste er nach Deutschland und lebte bis zu seinem Tod 1944 in Berlin. Er heiratete eine weiße deutsche Frau und wurde Vater mehrerer Kinder. Der Versuch, den ausstehenden Sold für sich und seinen Vater vom Auswärtigen Amt einzufordern, schlug fehl. Die deutschen Behörden versuchten Mahjub auszuweisen, wogegen er sich aber erfolgreich wehrte. Auf Veranstaltungen des Deutschen Kolonialkriegerbundes verkörperte Mahjub den „treuen Askari“. Später verdiente Mahjub seinen Lebensunterhalt in Völkerschauen und als Schauspieler in zahlreichen Spielfilmen. Seine bekannteste Rolle nahm er im NS-Propagandafilm „Carl Peters“ ein: als „Ramasan“, dem Führer und Dolmetscher des Kolonialisten Carl Peters. Mahjub wurde wegen einer außerehelichen Beziehung mit einer weißen deutschen Frau denunziert. Er wurde 1941 ohne Verurteilung in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, wo er nach drei Jahren Gefangenschaft starb (vgl. Bechhaus-Gerst 2007). Die temporäre Umbenennung in Mohammed-Hussein-Bayume-Park zeigte die zahlreichen Verflechtungen, die sich an einem erinnerungskulturell so aufgeladenen Ort wie dem Tansania-Park offenbaren, auf eindrucksvolle Weise auf. Die so genannten Askari-Reliefs bekamen durch die Umbenennung einen ganz neuen Kontext und eine zusätzliche Bedeutungsebene. Nicht nur, dass Mahjub selbst „Askari“ war, er verkörperte als Schauspieler zudem die Figur des „treuen Askari“ und war dadurch aktiver Teil eben jenes revisionistischen Diskurses, der visuell in den Reliefs inszeniert wird und mit der Benennung der Kaserne nach Lettow-Vorbeck repräsentiert ist. Zugleich war er Opfer der rassistischen Verfolgung im Nationalsozialismus. Die komplexen Verbindungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus, die durch die diskursive Umdeutung auf Basis der Umbenennung in Tansania-Park verschleiert zu werden drohen, wurden durch die temporäre Umbenennung in aller Deutlichkeit sichtbar ge-
|| 32 Mahj bin Adam Mohamed ließ sich 1929 unter dem Namen Bayume bin Mohamed, Sohn des Mohamed Hussein, beim Auswärtigen Amt registrieren. Er kombinierte später die Namen zu Mohammed Hussein Bayume (Bechhaus-Gerst 2007: 11). 33 Proteste. Online verfügbar unter www.afrika-hamburg.de/proteste.html (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020).
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macht und hervorgehoben. Sie ermöglichten, freilich zeitlich begrenzt, die Öffnung eines neuen Gedächtnisraumes durch die Perspektivumkehr: Einerseits vom Täter zum Opfer, andererseits vom Objekt zum Subjekt.34
8 Interdependenzen des materiellen und mentalen Erbes des Kolonialismus Die temporäre Umbenennung in Hamburg-Jenfeld ist nur ein Beispiel für erinnerungskulturelle Kontroversen, diskursive Umdeutungen und widerstreitende Umbenennungsdiskurse und könnte um weitere ergänzt werden.35 Die Diskussionen um Beibehaltung und Umbenennung von Straßen, Plätzen, Park- und Gebäudenamen spielen sich immer im politischen Raum ab. Bei den Auseinandersetzungen um die Beibehaltung, Kontextualisierung oder Umbenennung kolonialer Urbanonyme geht es nicht nur um eine erinnerungskulturelle Debatte, auch wenn die Fragen „Was und wen wollen wir erinnern?“ im Zentrum stehen. Darüber hinaus wird die Kritik an der Nicht-Erinnerung, Nicht-Kommentierung und Nicht-Änderung von kolonialen Urbanonymen aber konkret mit der Kritik an der Gegenwärtigkeit des Rassismus in der heutigen Gesellschaft verbunden. (Post-)Kolonialismus wird in diesem Sinne schon länger nicht nur als Epochenbegriff benutzt, sondern in Rückgriff auf post- bzw. dekoloniale Ansätze als Prozess beschrieben, in dessen Mittelpunkt die Ausbeutung, Marginalisierung und Diskriminierung als anders markierter Menschen durch die Dominanzkultur steht (Ashcroft 2007; Castro Varela und Dhawan 2015; Loomba 2015; Quijano 2007). Karl Schlögel stellte fest, dass „Namensgeschichte immer auch Herrschaftsgeschichte“ sei (Schlögel 2011: 227). Die Verteidigung und Beibehaltung eines in Kritik stehenden Straßennamens stellt mithin ebenso einen politischen Akt dar wie dessen Kommentierung oder Entfernung. Debatten um das Erbe des Kolonialismus in Straßennamen zeigen laut Ha so auch, wie diese „zugleich in einen (Macht-)Raum eingeschrieben [sind], der koloniale Logiken (re-)produziert“ (Ha || 34 In München wurde eine ähnliche Perspektivumkehr bereits 2007 durchgeführt. Dort wurde die Von-Trotha-Straße in Hererostraße umbenannt. Dabei wurde jedoch nur eine Perspektivumkehrung vom Täter zum Opfer vorgenommen. Das handelnde Subjekt „Lothar von Trotha“ wurde durch ein kollektives Objekt „Herero“ ersetzt. 35 Beispielsweise wurde zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, die Umbenennung der „Woermann-Straße“ und des „Woermann-Stieges“ in „Manga-Bell-Straße“ diskutiert. Bis dato ist in Hamburg jedoch noch kein kolonialer Straßenname umbenannt worden. Auch der Umgang mit dem Denkmal-Ensemble des Tansania Parks ist noch nicht endgültig geklärt.
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2014: 40). Dies ist unverkennbar der Fall, wenn auf die Kritik an Straßennamen eine Verteidigung oder Verharmlosung erfolgt. Es ist aber durchaus auch der Fall, wenn Namen als gefälliger Teil der Geschichte im Stadtraum eingeschrieben werden, die „dunkle Seite der Moderne“ (Mignolo 2011) jedoch verschwiegen, die Opfer „entinnert“ (Ha 2009: 105) werden. Zivilgesellschaftliche Initiativen und kolonialkritische Forscher_innen fordern daher auch eine Perspektivumkehr durch Umbenennungen, die eben jenen verschwiegenen Teil der Geschichte sichtbar machen und mit der Umbenennung auch eine politische Handlungsmöglichkeit jenseits der Betroffenheit und Viktimisierung ermöglichen (Aikins 2012; Bekoe 2015; Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag 2016). Gegen die Forderung von Straßenumbenennungen äußert sich immer wieder Kritik. Nicht nur praktische Erwägungen, wie die Verwaltungskosten für die Anwohner_innen, spielen dabei eine Rolle. Häufig wird explizit auf die Bedeutung von Straßennamen für die Erinnerungskultur verwiesen. Straßenumbenennungen können so als eine „Flucht aus der Geschichte“ (Benne 2010) interpretiert werden. Sie seien zwar häufig als Ehrung von inzwischen kritisierten Personen gemeint gewesen, doch mit „Ablauf der Zeit wird der Straßenname zur historischen Quelle, die etwas über die Ideale jener Zeit aussagt, in der die Ehrung erfolgte“ (vgl. Benne 2010) Die „Entsorgung der Vergangenheit“ würde in „Geschichtslosigkeit“ enden (vgl. Posener 2012). Diesen Argumenten liegt die Annahme zugrunde, dass durch die Umbenennung von Straßennamen eine Tilgung – auch der dunklen Flecken – der Geschichte. Die unter anderem auch von Götz Aly vorgebrachte Kritik, dass Geschichte „kein Selbstbedienungsladen zum aktuellen Gebrauch“ sei (Aly 2010), verkennt jedoch, dass Geschichte permanent (re-)konstruiert, inszeniert und interpretiert wird. Bemerkenswert dabei ist, dass die Debatten um den Umgang mit dem (post-)kolonialen Erbe sich häufig an Relikten aus der Zeit nach dem Verlust der Kolonien aufhängen. Diese Neu- und Umbenennungen waren einerseits Teil einer kolonialrevisionistischen Erinnerungspolitik, deren Anliegen die Erinnerung an und die Wiedererlangung der verlorenen deutschen Kolonien war, sowie andererseits eines Narrativs, das Hamburger Kaufleuten einen entscheidenden Anteil an der „Modernisierung“ insbesondere Afrikas zuwies. Auf die Leerstelle dieses Narrativs weisen jene hin, die einfordern, auch die Perspektive der zwangsweise „Modernisierten“, der fortlaufend als „rückständig“ und anders markierten, müsse in der Erinnerungslandschaft der Stadt repräsentiert werden; nicht zuletzt deshalb, weil Menschen mit biographischen und diasporischen Verbindungen zu ehemals kolonisierten Gebieten selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft sind. Es geht bei den Kontroversen um koloniale Straßennamen nicht nur um Geschichts- sondern auch um Identitätspolitik.
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Die Beschäftigung mit den Diskursen über solche kolonial intendierten Benennungspraktiken, also die Beantwortung der Frage, wer wann, wie und wo Straßen, Plätze und Gebäude kolonial benennt, welche Bezüge sich wiederfinden und ob die Benennungen umstritten waren, kann nur ein erster Schritt in der Aufarbeitung kolonialer Urbanonyme sein. Welche Rollen Umbenennungsinitiativen spielten, wann und wo sie ihren Anlauf nahmen, ob sie erfolgreich waren oder scheiterten und warum, ist ebenso Teil einer differenzierten Auseinandersetzung, denn an „Namen zeigt sich Entwicklung, die Revision in Permanenz“ (Schlögel 2011: 228).
Literatur a. Forschungsliteratur Aikins, Joshua Kwesi. 2012. Berlin Remix. Straßenumbenennungen als Chance zur postkolonialen Perspektivumkehr. In Kien Nghi Ha (ed.), Asiatische Deutsche: vietnamesische Diaspora and beyond, 288–304. Berlin & Hamburg: Verlag Assoziation. Aly, Götz. 2010. Straßenschänder in Kreuzberg. Berliner Zeitung vom 2.2.2010. Ashcroft, Bill (ed.). 2007. The post-colonial studies reader. London: Routledge. Bahners, Patrick. 2019. Sie glauben an ihre Sendung. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.1.2019. Bake, Rita (ed.). 2015. Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg. Hamburg: Landeszentrale für politische Bildung. Bechhaus-Gerst, Marianne. 2007. Treu bis in den Tod. Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen – eine Lebensgeschichte. Berlin: Ch. Links Verlag. Beckershaus, Horst. 2011. Die Hamburger Straßennamen. Woher sie kommen und was sie bedeuten. Hamburg: Ernst Kabel Verlag. Bekoe, Ginnie. 2015. Straßennamen als Spiegel der Geschichte. Stadtbild (post?-)kolonial. In Rita Bake (ed.), Ein Gedächtnis der Stadt. Nach Frauen und Männern benannte Straßen, Plätze, Brücken in Hamburg, 144–145. Hamburg: Landeszentrale für Politische Bildung. Benne, Simon. 2010. Straßenumbenennung: Eine Flucht aus der Geschichte? Hannoversche Allgemeine vom 7.5.2010. Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (ed.). 2016. Stadt neu lesen. Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin. Berlin. Bezirksversammlung Wandsbek: Drucksache: XIX-4625.1 2013, 4.12.2013. Bredekamp, Horst. 2017. Ein Ort radikaler Toleranz. Die Zeit vom 31.8.2017. Castro Varela, María do Mar & Nikita Dhawan. 2015. Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript Verlag. Degn, Christian. 2000. Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen. Neumünster: Wachholtz. Gottschalk, Sebastian, Heike Hartmann & Irene Hilden (eds.), Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Darmstadt: Theiss.
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b. Digitale Dokumente 50 Jahre Denkmalsturz. Der Sturz des Wissmann-Denkmals an der Universität Hamburg 1967/68. Online verfügbar unter www.kolonialismus.uni-hamburg.de/50-jahredenkmalsturz-der-sturz-des-wissmann-denkmals-an-der-universitaet-hamburg-1967-68/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020). afrika-hamburg.de, online verfügbar unter www.afrika-hamburg.de (zuletzt aufgerufen am 2.4.2020).
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Tirza Mühlan-Meyer
Argumentationen und Einstellungen in Diskursen um Umbenennungen kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen Zusammenfassung: Der Aufsatz beschäftigt sich mit den Umbenennungspraktiken kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen im deutschsprachigen Raum, die nach 1945 stattgefunden haben. Im Fokus steht die Untersuchung von im Rahmen solcher Umbenennungen geführten gesellschaftspolitischen Diskussionen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse der in den Umbenennungsdebatten hervorgebrachten Argumentationen für und gegen Umbenennungen von verschiedenen Akteursgruppen (top-down und bottom-up) sowie RezipientInnen. Außerdem interessieren die im Kontext von Befragungen zu Umbenennung hervorgebrachten Einstellungen und deren sprachliche Aushandlung. Als Beispiele dienen die jüngst in Berlin stattgefundene Debatte um die Umbenennung dreier Straßennamen im Afrikanischen Viertel in Form einer Radiodiskussion sowie die Umbenennung des Bremer Elefantendenkmals (AntiKolonial-Denkmal) in Form von Vor-Ort-Interviews. Schlagwörter: Argumentationsanalyse; Koloniallinguistik; Konversationsanalyse; Straßennamen; Umbenennung; Umbenennungsdiskurse
1 Einleitung Die Koloniallinguistik hat sich in den letzten Jahren im Rahmen der Kolonialtoponomastik stark mit dem Bereich kolonialer Toponyme und deren Einschreibung in den Raum beschäftigt (Stolz und Warnke 2018). Das kolonialtoponomastische Forschungsprogramm inventarisiert im analytisch-deskriptiven Zugriff Toponyme, die in den Raum der kolonisierten Gebiete in Übersee durch die jeweiligen europäischen Kolonialmächte eingeschrieben wurden (vgl. Stolz und Warnke 2018). Ebenso interessiert sich der Forschungsbereich für toponymische Benennungspraktiken im öffentlichen Raum der europäischen Kolonisatoren, also der sogenannten Metropole (Schulz und Ebert 2016, 2017; Ebert 2021).
|| Tirza Mühlan-Meyer, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für deutsche Philologie, Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110768770-012
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Umbenennungen sowie Einforderungen nach Umbenennungen solcher kolonial motivierten Toponyme, die im deutschsprachigen Raum vor allem ab 1945 stattfanden und bis in die heutige Gegenwart andauern, wurden bisher nicht erforscht. Das Untersuchungsfeld sprachlicher Umbenennungsprodukte und -prozesse ermöglicht dabei eine innovative Erweiterung des Spektrums koloniallinguistischer Untersuchungsmethoden, da es Fragen nach sprachlicher Wahrnehmung und sprachlichen Bewertungen aufwirft. Studien zur Bewertung kolonialer Toponyme im öffentlichen Raum und die Diskussion um deren Umbenennung bilden ein Forschungsdesiderat. Sie vermitteln Kenntnisse über vorherrschende Einstellungen und Wissenskonzepte. Gesprächslinguistische Verfahren eigenen sich, um die Verfahren und Techniken, die die Einstellungsäußerungen begleiten, sowie deren sprachliche Aushandlung zu analysieren. Darüber lassen sich dann Aussagen über Ideologien und Wissen treffen. Eine weitere, bisher kaum erforschte Perspektive eröffnen die öffentlichen, oft stark emotional geführten Diskussionen um die Umbenennung kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen, die nicht nur eine große Beteiligung von administrativen EntscheidungsträgerInnen (top-down) sondern auch von Seiten nicht-administrativer AkteurInnen (bottom-up) erfahren. Die Analyse der Perspektive von „bottom-up“ stellt ein Novum dar. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise sich für oder gegen Umbenennung einsetzende Nichtregierungsorganisationen (NRO bzw. NGOs) sowie unmittelbar von der Umbenennung betroffene Personen wie die in der Umgebung lebenden AnwohnerInnen, die wir als RezipientInnen bezeichnen. Über diskurslinguistische Methoden lassen sich Argumentationsmuster innerhalb solcher Debatten ermitteln, die Erkenntnisse über kollektiv geteiltes Denken und deren Aushandlung geben. Es kann untersucht werden, wie AkteurInnen Geltungsansprüche erheben und wie sie Fragen über den Umgang mit der Umbenennung kolonial motivierter Straßenund Denkmalnamen im öffentlichen Raum klären wollen. In diesem Sinne widmet sich der Aufsatz anhand von zwei Beispielen nun folgenden Fragen: – Wie werden Umbenennungen kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen von administrativer (top-down) und vor allem von nicht-administrativer Seite (bottom-up) sowie von RezipientInnen (bottom-up) argumentativ ausgehandelt? – Wie werden Umbenennungsprozesse kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen sprachlich bewertet und welche Einstellungen werden in dem Kontext geäußert?
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Im Folgenden wird zunächst ein Abriss über die Umbenennung der als Beispiel gewählten kolonial motivierten Straßennamen und des Denkmales gegeben. Danach wird das Datenmaterial vorgestellt (Kap. 3), das für die anschließenden Analysen von Argumentationsmustern für und gegen Umbenennungen innerhalb verschiedener Akteursgruppen gebraucht wird (Kap. 4). Im Anschluss steht die sprachliche Untersuchung von Einstellungsäußerungen zu Umbenennungen im Fokus (Kap. 5). Kapitel 6 fasst die Ergebnisse zusammen.
2 Umbenennung des Bremer Elefantendenkmals sowie der Straßennamen in Berlins Afrikanischem Viertel Straßennamen, aber auch Denkmalnamen, die seit der Neuzeit in kommemorativer Intention in die deutschsprachigen Städte eingeschrieben wurden, stehen immer wieder im Fokus gesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Debatten und werden kontrovers diskutiert. Innerhalb solcher Diskussionen um sekundäre Straßen- sowie Denkmalnamenbenennungen stehen häufig historische Namenverfügungen des Deutschen Reichs im Fokus, die bezeichnungsmotivisch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der deutschen Kolonialgeschichte stehen. Als ein Beispiel einer Umbenennungspraxis im kolonialen Kontext nach 1945 gilt der Name des unweit des Bremer Hauptbahnhofs aufgestellten Elefantendenkmals. Es ist in der Liste des Landesamtes für Denkmalpflege unter dem Denkmalnamen „Anti-Kolonial-Denkmal“ verzeichnet. Das Denkmal wurde 1926 von Seiten der kolonialen Arbeitsgemeinschaft als Reichs-Kolonial-Ehrenmal beantragt und 1931 als Kolonialdenkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen „Kolonialkrieger“ aufgestellt. 1990 wurde es umbenannt und mit einer Bronzetafel mit erklärendem Text versehen (vgl. www.denkmalpflege. bremen.de, zuletzt aufgerufen am 1.4.2020). Als zweites exemplarisches Beispiel dienen in diesem Aufsatz die erst vor kurzem von der BVV Mitte beschlossenen Umbenennungen im Kolonialviertel in Wedding. Von über 20 Straßenbenennungen, die zwischen 1884 und 1945 verfügt wurden (vgl. 2003), werden die drei Straßennamen-Token Lüderitzstraße, Nachtigalplatz und Petersallee getilgt, die ebenso Kolonialakteure ehrten und/oder würdigen sollten. Den Umbenennungsprozess begleiteten rege Debatten. Neben der Einwohnerschaft war eine ganze Reihe an NGOs wie beispielsweise Berlin Postkolonial oder die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
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in die Umbenennungsdiskurse involviert, deren Namensvorschläge insofern Berücksichtigung fanden, als dass sechs davon Einzug in die engere Wahl erhielten (vgl. www.berlin.de/kunst-und-kultur-mitte/geschichte/afrikanischesviertel, zuletzt aufgerufen am 1.4.2020). Im Sommer 2018 wurden schließlich folgende Umbenennungsprodukte von der BVV Mitte beschlossen: Tabelle 1: Umbenennungen kolonial motivierter Straßenbenennungen in Berlin-Wedding.
Kolonial motivierte Benennungen bis 1945
Umbenennungsprodukte
Einige Vorschläge der Bevölkerung
Lüderitzstraße
Cornelius-Frederiks-Straße
Nachtigalplatz
Bell-Platz
Petersallee
Anna-Mungunda-Allee, MajiMaji-Allee
Afrika-Platz, Grüne-RausStraße, Majistraße, MangaBell-Platz, Pippi-LangstrumpfStraße, Recep-Tayyip-ErdoganPlatz
3 Datenerhebung und Auswertungsmethoden Die Analyse toponymischer Benennungspraktiken sowohl im Raum der kolonisierten Gebiete wie auch im Raum der Kolonisatoren ist im Rahmen der Kolonialtoponomastik (s.o.) im vollen Gange. Ein nächster innovativer und notwendiger Schritt ist nun mithilfe einer integrierten Perspektive auf die Bewertung und die Wahrnehmung von Umbenennungsprodukten die Erfassung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Diese soziolinguistische Perspektive auf Rezeption und Produktion und die sie fundierenden Einstellungen sind im koloniallinguistischen Kontext bisher noch nicht beachtet worden. Die Einstellungsforschung setzt sich im weitesten Sinne mit der Bewertung von Situationen, Personen, Objekten usw. auseinander (z. B. Allport 1935). Die Linguistik behandelt vor allem Spracheinstellungen: Es sollen Einstellungen linguistischer Laien gegenüber Sprachen, Dialekten und Sprachgebrauch sowie gegenüber Sprechern und Sprecherinnen bzw. Sprachgemeinschaften untersucht werden (z. B. Cuonz und Studler 2014; Eichinger et al. 2009; Hundt 1992). Im weiteren Sinne gehören zu Spracheinstellungen aber nicht nur Einschätzungen zu Sprache(n), sondern ebenso die Urteile zu sprachlichen Phänomenen (König 2014), wie beispielsweise die sprachliche Praktik der Umbenennung. „In der Empirie ist Spracheinstellung mehr als nur eine Einstellung zum Objekt ‚Sprache‘. Sie ist vielmehr ein Sammelbegriff (vgl. auch Baker 1992) mit Objekten sehr unterschiedlicher Na-
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tur“ (Casper 2002: 49). Um einen detaillierten Einblick in die sprachliche Äußerung der Einstellung zu bekommen, werden jüngst vermehrt qualitative Vorgehensweisen zur Untersuchung von Spracheinstellungsdaten herangezogen (vgl. Niedzielski und Preston 2000). Erste interaktionale Ansätze, die den Kommunikationskontext der Spracheinstellungsäußerungen mit in die Datenauswertung einbeziehen und die kontextuelle Einbettung von Einstellungen sowie deren Konstruktion in der Interaktion untersuchen, finden erst seit Kurzem Berücksichtigung (z. B. König 2014; Tophinke und Ziegler 2006; Liebscher und DaileyO’Cain 2009; Ziegler et al. 2018). Dabei werden auch Herangehensweisen gewählt, die Argumentationsmuster als Begründung von Einstellungen untersuchen (Ziegler et al. 2018; Mühlan-Meyer et al. 2016). Wenig diskutiert wurden bisher auch Ansätze, die gesprochene Daten als Grundlage für die Diskurs- und somit Argumentationsanalysen heranziehen und dabei nicht nur inhaltliche Aspekte sondern auch den interaktiven Prozess fokussieren (vgl. Bendel Larcher 2015; Bartlett 2012; Roth 2013). Dementsprechend wird als Erhebungsmethode der Daten das Interview als ein qualitatives Verfahren gewählt: Im September 2018 wurden vor dem Elefantendenkmal in Bremen sechs Interviews mit drei weiblichen und drei männlichen Passanten zwischen 25 und 60 Jahren durchgeführt. Auf Basis eines Interviewleitfadens wurden vorbeigehende und schon länger als 15 Jahre in Bremen lebende InformantInnen zu folgenden Themenblöcken befragt: Wissen über das Denkmal und seine Umbenennung, Bewertung von Umbenennung kolonial motivierter Straßennamen und Denkmäler, Assoziationen zum deutschen Kolonialismus sowie dessen Bewertung, Funktionen sowie Vor- und Nachteile von Umbenennung kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen. Die Interviewdauer beträgt pro Interview im Durchschnitt 7,64 Minuten. Das zweite Datenset bildet ein Radiointerview des Deutschlandfunks, der in der Rubrik „Länderzeit“ am 5.12.2018 aus dem Friedrichshain-Kreuzberg Museum in Berlin eine Live-Debatte zu dem Thema „An wen wollen wir (uns) erinnern? Der Streit um Namensgebung im öffentlichen Raum“ ausgestrahlt hat. Unter dem Moderator Andreas Beckmann diskutieren verschiedene Gäste, zu denen sowohl administrative EntscheidungsträgerInnen als auch nicht-administrative AkteurInnen als Mitglieder einzelner NGOs gehören, für und gegen Umbenennungen von Straßen- und Gebäudenamen im öffentlichen Raum, u.a. über kolonial motivierte Straßennamen in Berlin. Zusätzlich wird eine in der UBahn stattfindende Passantenbefragung zu Umbenennung kolonial motivierter Straßennamen in Berlin eingeblendet. RezipientInnen von Umbenennungen werden an dem Interview nicht beteiligt.
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Die Audiodaten der Interviews wurden nach Gat 2 (Selting et al. 2009) als Minimaltranskripte mit dem Partitur-Editor EXMARaLDA transkribiert und anschließend für die Auswertung nach Argumentationsmustern und Einstellungsäußerungen annotiert. Die Interviews dienen auf der einen Seite als Erhebungsinstrument und als Werkzeug, um inhaltliche Informationen über Argumentationsmuster für und gegen Umbenennungen (Kap. 4) sowie Einstellungen hinsichtlich Umbenennungen (Kap. 5) zu erlangen („interview as research instrument“, Talmy 2010). Die Analyse von Argumentationsmustern und Einstellungen hilft, die Denkund Sichtweisen der unterschiedlichen Akteursgruppen aufzudecken und miteinander zu vergleichen (vgl. Spitzmüller 2005: 272). Die Interviews sollen darüber hinaus aber auch als Gegenstand dienen, um die sprachliche Ausgestaltung der Redebeiträge zu analysieren („interview as a social practice“, Talmy 2010). Neuere Arbeiten betonen, Spracheinstellungsdaten als interaktional funktionalisiert, also als eine Form sozialen Handels zu betrachten (s.o.), wie beispielsweise Liebscher und Dailey-O’Cain (u.a. 2009, 2014) in ihrem „language attitudes in interaction“-Ansatz. Deshalb bietet es sich an, die im Interviewkontext entstandenen Gespräche mit einem konversationsanalytischen Zugriff zu untersuchen (vgl. ebd., König 2014). Dabei steht die Analyse der Aushandlung des Themas Umbenennung in Form von sprachlichen Verfahren und Techniken im Mittelpunkt, die immer vor dem Hintergrund von Sprachideologien und Wissen erfolgt. Die Argumentations- und Einstellungsäußerungen sind als Element im dynamischen Gesprächsgeschehen zu untersuchen. Im Gegensatz zu bereits erprobten interaktionalen Untersuchungen von Spracheinstellungsdaten wurden konversationsanalytische Ansätze in einen diskursanalytischen Rahmen erstaunlicherweise bisher noch kaum diskutiert – Ausnahmen sind die Beiträge von Bendel Larcher (2015) und Roth (2012, 2013). Es geht darum, Verhaltensweisen wie „sich durchzusetzen, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten, recht zu behalten und plausibel und suggestiv Sachverhalte darzustellen“ (Kallmeyer 1996: 7) in mündlichen Gesprächen zu identifizieren und zu interpretieren, wie „Fakten konstruiert, Normen etabliert und Wahrheitsansprüche verteidigt werden“ (Bendel Larcher 2015: 104). Ziel ist im Folgenden somit, typische Argumentationsmuster sowie Einstellungen über Umbenennungen der verschiedenen Perspektiven inhaltlich herauszuarbeiten und diese Äußerungen in ihrer interaktionalen Einbettung und sprachlichen Ausgestaltung zu untersuchen.
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4 Argumentationsmuster gegenüber Umbenennungsprozessen und ihre sprachliche Ausgestaltung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie erfolgte Umbenennungsprozesse kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen sowie Diskussionen um etwaige Tilgungs- und Umbenennungsprozesse von administrativer und nichtadministrativer Seite sowie von RezipientInnen argumentativ und sprachlich ausgehandelt werden. Betrachten wir als erstes die VertreterInnen von NGOs als stark am Umbenennungsdiskurs beteiligte nicht-administrative Akteursgruppen von „unten“ (bottom-up). Es lässt sich herausstellen, dass sich vor allem diese Gruppen an der Debatte beteiligten, die sich maßgeblich für die Tilgung einsetz(t)en. Das im Datenmaterial am häufigsten verwendete Argument betrifft die Forderung nach einem Perspektivwechsel im dekolonialen Kontext: D.h. von Seiten der NGOs sollen die Umbenennungsprodukte insofern in einem dekolonialen Kontext verortet werden, als dass sie als Ziel solcher Umbenennungen einen Perspektivwechsel fordern und davon ausgehen, dadurch eine neue Erinnerungskultur gegenüber der Kolonialgeschichte in der Gesellschaft erreichen zu können. Dass sprachliche Dekolonisierung gerade durch die Umkehrung kolonialer Kontexte durch entsprechende Umbenennungen im öffentlichen Raum stattfinden soll, zeigt folgende Argumentation: (1)
Beispiel (DLF: Z. 228-231) aber erinnern (-) sollten wir uns eben nicht aus einer perspektive| die kolonialverbrecher ehrt (--)| sondern eben die diejenigen ehrt (---)| äh die sich GEgen kolonialismus und rassismus eingesetzt haben (0.5)|
Seine Forderung nach Perspektivwechsel durch Umbenennung baut der Akteur in Form einer normativen Argumentation strategisch auf, indem er oppositionsbildend ein Gegensatz-Schema (vgl. Kienpointner 1992) mithilfe der SatzKonstruktion „nicht-X-ehren, sondern-Y-ehren“ wählt. Solch ein sprachliches Verfahren ist typisch für die kommunikative Erzeugung von Werten und Normen (vgl. Ayaß 1996; König 2014; Nazarkiewicz 2010; Ziegler et al. 2018). Dabei gebraucht er deontisch negativ geprägte und bedeutungskonstituierende Schlüsselwörter (vgl. Mroczynski 2014: 208ff.; Nothdurft 1998) wie kolonialverbrecher und rassismus sowie kolonialismus. Solche Ausdrücke tragen ein argumentatives Potenzial und „sollen sowohl das Denken wie auch die Gefühle und das Verhalten von Menschen steuern“ (Niehr 2007: 496). Er greift typischerweise auf eine „Sollens-Vorschrift“ (Niehr 2014: 113) im Konjunktiv zurück (wir sollten uns), um so
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einen dringenden Grad der Notwendigkeit zu betonen. Mit dem Wechsel in das inkludierende Wir appelliert er an die Zuhörerschaft und unterstreicht, dass die Forderung die Gesamtheit betreffe (vgl. Ziegler et al. 2018: 267). Ebenso stützt die nächste Akteurin ihre Befürwortung einer Umbenennung kolonial motivierter Straßennamen mit dem Argument des Perspektivwechsels – und zwar mit einem Perspektivwechsel von früher zu heute. Sie plädiert dafür, statt der Kolonialzeit, das moderne afrika in den Fokus zu rücken: (2)
Beispiel (DLF: Z. 1279-1285) viel mehr sollte ein perspektivwechsel geschafft werden| zum beispiel auf das moderne afrika (0.2)| man könnte no mo ähm ähm nobelpreis wie wole soyinka| oder doris lessing zum beispiel| als namensträger wählen (0.2) einfach die perspektive auf afrika (0.4)| eine neue perspek (--)| eine moDERne perspektive auf afrika zu zeigen (1.0)|
Auch sie greift bei ihrer normativen Forderung auf eine Sollens-Vorschrift im Konjunktiv zurück (s.o.) und verwendet als logisches Schlussverfahren ein Gegensatz-Schema (vgl. Kienpointner 1992). Allerdings wählt sie mit der Verwendung des Passivs (sollte geschaffen werden) und des Infinitivsatzes mit zu ([um] eine moderne perspektive zu zeigen), den Gebrauch des Indefinitpronomens man sowie des Konjunktivs (man könnte) eine unpersönliche Beschreibungsebene und greift auch nicht auf drastische Ausdrücke zurück. Somit geht sie formal und sprachlich zwar ähnlich wie ihr Vorredner vor, entscheidet sich aber für eine weniger konfrontative Argumentation, indem sie Forderungen als Vorschläge formuliert. Darüber hinaus zeigt die Auswertung, dass bei einer Forderung nach Umbenennung häufig mit dem Verweis auf Rassismus argumentiert wird. Mit dem Rassismus-Argument wollen die AkteurInnen einen möglichen rassistischen Ursprung bzw. Bezug zum verwendeten Straßen- oder Denkmalnamen aufzeigen. Im Falle eines Personennamens werden die rassistischen Einstellungen oder Handlungen der benannten Person hervorgehoben. Da der Begriff Rassismus stark negativ assoziiert und mit Verbrechen, Diskriminierung und weiteren negativ-abwertenden Anschauungen in Verbindung gebracht wird (vgl. https:// www.dwds.de/wb/Rassismus, zuletzt aufgerufen am 23.5.19), soll das Rassismus-Argument die Forderung nach Umbenennung stärken. Ein Beispiel dazu: (3)
Beispiel (DLF: Z. 640-666) ja| ähm (0.6)| dieser (.) name1 (.) ist tatsächlich (0.3) ähm rassistisch| und das kann man zum einen an der wortherkunft| der etymologie festma-
|| 1 Es handelt sich um den Straßennamen Mohrenstraße.
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chen (0.4)| ((…))| allerdings lohnt es sich dann auch (0.1)| ((…))|| in die geschichte zu schauen (0.4)| ((…))| ähm (0.2) letztlich (.) äh kann man auch sagen| dass (0.1) der name (--) auch heute (0.4)| weiterhin (0.3) zu (0.2) rassistischen assoziationen einlädt (0.4)| ((…))| und das sind eben die drei gründe (0.4)| ähm (-) aus denen wir sagen (0.3)| da (.) muss (.) dringend (.) umbenannt werden (1.0)| Der Akteur formuliert eine faktische Argumentation in Form eines Kausalschemas (vgl. Kienpointner 1992), dem folgende argumentative Struktur zugrunde liegt (vgl. Toulmin 1996): Behauptung (dieser name ist tatsächlich rassistisch), Konklusion mit drei Gründen (1. das kann man zu einen an der wortherkunft festmachen, 2. allerdings lohnt es sich auch in die geschichte zu schauen, 3. letztendlich kann man auch sagen, dass der name auch heute zu rassistischen assoziationen einlädt) und Schlussregel (da muss dringend umbenannt werden). Sprachlich fällt auf, dass der Sprecher seine Behauptung durch das Adverb tatsächlich intensiviert, um ihr stärkeren Nachdruck zu verleihen. Die Abfolge seiner dreiteiligen Konklusion gliedert er zum besseren Verständnis mit den Diskursmarkern zum einen, dann auch und letztlich. Er bleibt dabei auf einer sachlichen Ebene und wählt mit Verwendung des Indefinitpronomens man (das kann man festmachen; kann man sagen) ein „Verfahren generisches Sprechens“ (Imo und Ziegler 2019: 81). Studien zu Verwendungsweisen von man in Interview- und Gesprächssituationen (u.a. König 2014; Auer 2000; Imo und Ziegler 2019) zeigen, dass man u.a. häufig dazu eingesetzt wird, anzuzeigen, „dass das Gesagte allgemeine Gültigkeit besitzt. Die mit ‚man‘ allgemein gehaltenen Aussagen bekommen so einen ‚regelhaften‘ Status […]“ (König 2014: 252). In der Schlussregel gebraucht er den Wechsel in die erste Person Plural (wir sagen) als Mittel, um sich repräsentativ zu äußern, d.h. um die eigenen Forderungen als die Erwartungen seiner NGO zu präsentieren und so zu legitimieren (vgl. Ziegler et al. 2018: 267). Er verlangsamt seine Sprechgeschwindigkeit und verwendet kurze Sprechpausen als rhetorisches Mittel, um den Relevanzgrad seiner Äußerung hervorzuheben (vgl. Schwitalla 2012: 72ff.). Des Weiteren nehmen affektive Argumente (vgl. Ziegler et al. 2018) einen hohen Stellenwert im Diskurs ein. Affektive Argumente bringen (subjektive) Empfindungen und Gefühle gegenüber Umbenennungen oder (möglichen) Umbenennungsprodukten zum Ausdruck. Dafür werden oft Gefühlsverben verwendet, im folgenden Ausschnitt beispielsweise „sich schämen“ und „finden“ (im Sinne von ‚empfinden‘):
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(4)
Beispiel (DLF: Z. 833-842) und so eine auswahl an namen können wir uns einfach nicht leisten| das (-) ich schäme mich dafür wirklich (-)| für so eine auswahl (0.4)| ((…)) und ich find das (0.1) unerträglich| dass solche namen ausgewählt wurden (0.2)|
Die für eine Umbenennung eines kolonial motivierten Straßenschildes ausgewählten Namen verursachen bei der Akteurin negative Emotionen wie Scham und Abscheu. Sie unterstreicht ihre negative Einstellung durch Intensivierer wie wirklich und gefühlsbetonte Adjektive wie unerträglich, begründet ihre Behauptung aber nicht weiter. Distanzierter zeigt sich die nächste Argumentation, in der der Akteur nicht seine eigenen Gefühle preisgibt, sondern auf die möglichen auslösenden Gefühle bei anderen Personen, die auf das Schild treffen, verweist: (5)
Beispiel (DLF: Z 1355-1356) ähm (0.3) es ging hier jetzt um die frage von äh gefühl| ähm (0.2) natürlich geht es da auch um gefühle|
Eine Umbenennung soll also stattfinden, da der alte Name die Gefühle mancher RezipientInnen verletzten könne. Auch diese Argumentation wird nicht weiter begründet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Rahmen der untersuchten Daten inhaltlich das Argument des Perspektivwechsels im dekolonialen Kontext zu den am häufigsten wiederkehrenden Begründungen der VertreterInnen von NGOs im untersuchten Diskurs gehören, gefolgt vom Rassismus-Argument sowie von affektiven Argumenten. Sie werden eingesetzt, um die Umbenennung kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen zu fordern. Obwohl es sich um spontane mündliche Äußerungen handelt, lassen sich bei den AkteurInnen formale und strategisch aufgebaute Argumentationsstrukturen finden, z. B. die der logischen Schlussverfahren (vgl. Kienpointner 1992) wie das Gegensatzoder Kausalschema. Häufig verwendete sprachliche Mittel, um den Grad der Notwendigkeit einer Umbenennung zu erhöhen, sind die Verwendung stark prägender Lexik (Schlüsselwörter, Modalpartikel), Gebrauch von SollensVorschriften und normativen Äußerungen sowie die gezielte Einsetzung von Perspektivierung (Ich-/Wir-Form bzw. Indefinitpronomen man). Für die Sichtweisen von NGOs sind Übereinstimmungen mit Argumentationen der administrativen Seite von „oben“ (top-down) festzustellen, die ebenso für Umbenennungen plädieren. Sie fordern wie die AkteurInnen der NGOs dazu auf, Bezüge zur deutschen Kolonialgeschichte bei etwaigen Umbenennungsbe-
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schlüssen bestehen zu lassen (Argument des Perspektivwechsels im dekolonialen Kontext). In diesem Kontext betonten die an dem Radiointerview teilnehmenden administrativen VertreterInnen (das sind Berliner BezirksstadträtInnen) eine Umbenennung im dekolonialen Kontext mit Lernbezug, wie im folgenden Beispiel deutlich wird: (6)
Beispiel (DLF: Z. 548-550) ähm| mit einer umbenennung ist noch na lange nichts erledigt| und wir betrachten ja gerade das afrikanische viertel als einen ständigen ort (0.4) äh (0.2) der erarbeitung| und der zurückholung von kolonialgeschichte ins deutsche kollektive bewusstsein (0.4)|
Die Akteurin weist daraufhin, dass die Umbenennung einzelner Straßennamen nicht ausreichend sei und wählt auf sprachlicher Ebene Mittel der Intensivierung und Übertreibung (noch lange nicht). „In argumentativen Gesprächen dient Hyperbolik dazu, die Verfehlungen des Gegners zu vergrößern“ (Schwitalla 2012: 164) bzw., wie in diesem Fall, die eigene Position dringlicher zu machen. Durch die Wir-Form eröffnet sie die Perspektive ihrer Partei. Statt zu fordern, beschreibt sie das aktuelle Vorgehen (wir betrachten ja gerade): Die Forderung nach Perspektivwechsel im dekolonialen Kontext wird im Afrikanischen Viertel bereits umgesetzt. Im nächsten Beispiel fordert eine weitere administrative Akteurin normativ unter Verwendung des Modalverbs müssen einen lesbaren Kontextbezug ein. (7)
Beispiel (DLF: Z. 730-736) der kontext muss auch lesbar sein| also es genügt ja nicht| dass wir uns jetzt hier einigen| und dann (--) in zukunft wissen dass es da ein kontext gibt| °hh (---) und deswegen haben wir (0.3) in mitte beschlossen (0.2)| also (0.1) zunächst daran zu arbeiten (0.3)| auch dort einen (-) lernort (0.3) äh zu installieren|
Die Akteurin argumentiert, indem sie die Behauptung bzw. nach Toulmin (1996) die Konklusion aufstellt, dass durch eine Umbenennung der Kontext erkennbar sein muss. Diese begründet sie mit der mit deswegen eingeleitete Schlussregel: Lernorte müssen installiert werden. Sprachlich verwendet sie das inkludierende Wir, da sie als Bezirksstadträtin die Position ihrer Partei vertreten und legitimieren möchte. Beide Akteurinnen weisen also explizit daraufhin, dass eine Umbenennung im dekolonialen Kontext nicht ausreiche (noch nicht erledigt; genügt ja nicht), sondern dass zusätzlich die Einrichtung von Lernorten notwendig sei.
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Somit teilen beide Akteursgruppen, NGOs wie auch administrative EntscheidungsträgerInnen, den Anspruch, mit derartigen Umbenennungsprozessen eine kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialepoche zu bewirken und damit gleichzeitig auch eine sprachliche Dekolonisierung voranzutreiben. Darüber hinaus betonen die administrativen VertreterInnen noch eine Kontextualisierung in Form von Lernorten. Wichtig scheint den administrativen VertreterInnen bei einer Umbenennung auch der Verweis auf den Aspekt der Würdigung und Ehrung, der als zentrale Funktion sekundärer Straßennamen gilt: „StraßenN nach PersN haben reinen Erinnerungscharakter“ (Nübling et al. 2015: 245) und gelten als „Träger und Übermittler ideologischer/politischer Botschaften“ (Nübling et al. 2015: 246). Das Argument der Ehrung beruht auf der Strategie, die Würdigung des ursprünglichen Namensträgers oder Ereignisses anzuzweifeln und/oder auf eine gerechtfertigte Ehrung des potentiellen Namenträgers oder Ereignisses zu verweisen, wie das folgende Beispiel zeigt: (8)
Beispiel (DLF: Z. 351-353) diese straßennamen (-) zu ändern (0.4)| und äh sie äh durch menschen zu ersetzen (0.2)| die gewürdigt (0.5) wirklich gehören (0.6)|
Zur Betonung ihrer Forderung nach Würdigung verwendet die Akteurin nach einer kurzen, rhetorisch motivierten Pause die Partikel wirklich. Im nächsten Beispiel argumentiert der Akteur ex negativo: (9)
Beispiel (DLF: Z. 530-536) kein mensch (.) °hh (0.2)| benennt eine straße (-) nach jemanden (0.4)| den er_äh (0.2) für unerträglich hält| oder nach einem ereignis| das er lieber vergessen möchte (0.5)| das wäre sinnlos (0.6)| ähm (0.4)|
Auf sprachlicher Ebene bedient sich der Akteur der Übertreibung (kein mensch) und zählt in syntaktisch paralleler Formulierung in Form von Relativsätzen die beiden Kategorien Namensträger und Ereignis auf. Dieses Verfahren gibt dem Sprechen durch gleiche Rhythmik und gleiche steigende Intonation eine auffallende Kontur und betont die Überzeugung (vgl. Schwitalla 2012: 184). Wie es typisch für solche Aufzählungen ist, schließt er mit einer generalisierenden Aussage (das wäre sinnlos), die fallend intoniert wird (vgl. Schwitalla 2012: 184) Ein weiteres Beispiel für die Argumentation der Ehrung ist folgendes: (10)
Beispiel (DLF: Z. 496-506) und SO find ich kann man auch deutlich machen| °hh (-) dass ähm (-) erinnerungen (0.3)| ähm (-) ein ganz zentraler bestandteil ist| und es geht (0.5) DAdrum (---)| dass wir uns naTÜRlich die frage stellen (--) müssen
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(0.3)| wen (0.2) können (-) und wen wollen wir ehren (0.1)| und da (0.2) muss es auch rahmenbedingungen geben| und für mich ist klar (0.4)| dass da (--) kriegs (.) verbrecher| nazis (-)| und anderes nichts zu suchen haben| Die Akteurin formuliert die Argumentation, indem sie eine Behauptung aufstellt (erinnerungen sind ein ganz zentraler bestandteil), der Argumente in Form von wFragen (wen können und wollen wir ehren) mit normativer Aussage (da muss es rahmenbedingungen geben) folgen. Die Schlussregel lautet: kriegsverbrecher, nazis und anderes haben da [auf den Straßenschildern] nicht zu suchen. Auf der sprachlichen Ebene zeigt der Wechsel in die Ich-/Wir-Perspektive in der Verwendung des Personalpronomens der 1. Person (Singular und Plural), mit der die Akteurin auf sich selbst und die gesamte Akteursgruppe, ihre Partei, referieren möchte, einen persönlichen Bezug der Argumentation. Zusätzlich könnte man den Satz dass wir uns natürlich die frage stellen müssen (…) auch als Sollens-Vorschrift verstehen mit der Absicht, die HörerInnen miteinzubeziehen und Konsens zu implizieren. Es geht der Akteurin also nicht nur darum, ihre eigene Position und die ihrer Gruppe zum Ausdruck zu bringen, sondern ebenso um eine indirekte Aufforderung an alle Anwesenden, diese Position zu teilen: wen wollen wir ehren (…) kriegsverbrecher haben da nicht zu suchen. Auf der anderen Seite distanziert sich die Akteurin jedoch bei der Formulierung gesellschaftlicher Ansprüche, um einen allgemeinen Fall zu beschreiben und Gesetzmäßigkeiten auszudrücken (und da muss es auch rahmenbedingungen geben). Ein weiteres von administrativer Seite gebrauchtes Argumentationsmuster, um sich für eine Umbenennung auszusprechen, ist das Argument der Faktizität (Ziegler et al. 2018; Kienpointner 1992), das Gegebenheiten als unabänderliche Fakten darstellt, zum Beispiel: (11)
Beispiel (DLF: Z. 1050-1052) ja letztendlich (.) irgendwann muss die politik eine entscheidung treffen| das ist richtig| das haben wir dann auch getan|
Ein häufiges dabei verwendetes sprachliches Mittel ist der Gebrauch der Modalpartikel eben, die in ihrer metakommunikativen Funktion die vom Sprecher aufgestellte Tatsache unterstreichen soll. Der Sprechende „markiert die Evidenz [seiner] Äußerung und stell[t] somit Plausibilität her“ (www.owid.de/ legede/article-main.jsp?id=Hut_eben_Artikel_2&level=article, zuletzt aufgerufen am 25.7.2021), wie im folgenden Beispiel:
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(12)
Beispiel (DLF: Z. 1057-1060) und haben die (-) namen jetzt eben so ausgesucht (0.1)| und (0.2) gehen davon aus dass sie (0.2)| sowohl in der schwarzen community akzeptiert werden (-)| wie auch in der wissenschaft begründet sind (0.4)|
Die Akteurin begründet ihre faktische Argumentation, indem sie mit einer zweiteiligen Satzstruktur mithilfe der Konjunktionen sowohl – wie [als] auch erwartete Folgen aufzeigt und sich formal somit eines Kausalschemas (Kienpointner 1992) bedient. Zusammenfassend fällt bisher auf, dass die beiden Akteursgruppen der administrativen Seite und der NGOs den Geltungsanspruch auf Umbenennung kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen zur Durchführung eines Perspektivwechsels im dekolonialen Kontext im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung teilen. Die VertreterInnen administrativer Institutionen legen dabei einen besonderen Fokus auf die Umsetzung durch Schaffung von Lern- und Erinnerungsorten im öffentlichen Raum. Inhaltlich betonen sie darüber hinaus den Aspekt der Würdigung und der Erinnerung bei einer Umbenennung oder argumentieren letztendlich faktisch und verweisen auf ihre Autorität und Verantwortung als politische EntscheidungsträgerInnen. Sprachlich wird weniger drastische und wertende Lexik im Vergleich zu den VertreterInnen der NGOs gebraucht. Jedoch versucht die administrative Akteursgruppe ihre Forderungen durch intensivierende und übertreibende sprachliche Mittel sowie generalisierende und absolutierende Formulierungen zu verstärken. Die häufige Verwendung der Wir-Form nutzen sie, um sich repräsentativ zu äußern, d.h. um die formulierten Forderungen als die Erwartungen ihrer Partei – und evtl. auch indirekt die der HörerInnen – zu präsentieren und so zu legitimieren. Für die RezipientInnen von Umbenennungen ist zu konstatieren, dass sie im Kontrast zu den bisherigen administrativen und nicht-administrativen Akteursgruppen überwiegend gegen eine Umbenennung von Straßen- und Denkmalnamen argumentieren. Dabei spielt das Argument Geschichte eine wichtige, den Diskurs beherrschende Rolle. Mit Verweis auf die Unabänderlichkeit der Geschichte und der Forderung nach Akzeptanz der Vergangenheit argumentieren die RezipientInnen gegen eine Umbenennung der Straßennamen, wie in den folgenden Beispielen: (13)
Beispiel (DLF: Z. 589-590) GwP2: soll so bleiben (0.3)| historischer name|
(14)
Beispiel (DLF: Z. 1132-1133) GwP8: es geht um die deutsche geschichte (---)| und deshalb sollen straßennamen (0.3) nicht einfach geändert werden|
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In Form von Sollen-Vorschriften fordern die Rezipienten die Beibehaltung der Straßennamen. GwP2 bildet seine Forderung kurz und knapp in Ellipsen (vgl. Schwitalla 2012: 101ff.), die hier eine „Resolutheit, ein Kurz-Angebundensein“ (Schwitalla 2012: 105f.) ausdrücken. Mit der Voranstellung des Verbs, nach Auer „Verbspitzenstellung“ (Auer 1993) wird die modalisierte Forderung extra betont (vgl. Schwitalla 2012: 107). GwP8 stellt zunächst das Thema als eine übergeordnete Aussage heraus und lässt ihr den Grund (und deshalb …) folgen. Durch die Verwendung der Modalpartikel einfach unterstellt der Sprecher den EntscheidungsträgerInnen implizit eine möglicherweise unüberlegte bzw. vorschnelle Entscheidung bei Umbenennungsprozessen. Außerdem lehnen RezipientInnen Umbenennungen mit funktionalpragmatischen Argumenten ab, wie zu hohe Kosten, mögliche Orientierungslosigkeit oder ein zu hoher zeitlichen Aufwand, wie die folgenden Beispiele zeigen: (15)
Beispiel (IntBr1: Z. 90) GwP1B: ich glaube das sind (---) enorme kosten
(16)
Beispiel (IntBr5: Z. 154-163) GwP5B: wenn du jetzt sagst| die straße heißt zum elefanten| und du bist am suchen| dann heißt die straße auf einmal (hinterher) anders| dann findest du die ja nicht mehr| ((…))| großer aufwand| du bist am suchen|
Während GwP1B Umbenennungen von kolonial motivierten Straßennamen kurz und knapp wegen der enormen Kosten ablehnt, formuliert GwP5B zur Stützung ihrer ablehnenden Haltung wegen eines zu großen zeitlichen Aufwands ein fiktives Beispiel: Mögliche eintretende Folgen werden in die Argumentation einbezogen, um sie zu stützen. Somit „ergibt sich eine gewisse Plausibilität […], daß die fraglichen Ereignisse tatsächlich so ablaufen […] könnten“ (Kienpointner 1992: 77). Des Weiteren fällt eine starke Bezugnahme zum Nationalsozialismus auf, der aus Augen der RezipientInnen die Geschehnisse der Kolonialgeschichte in den Hintergrund rücken lässt und relativiert: (17)
Beispiel (IntBr5: Z. 175-178) GwP5B: ich sag mal alles so was mit hitler zu tun hat| kannste echt umnennen| an straßenmäßig| ne (--)| aber sonst können die straßen alle schön so bleiben wie sie sind|
(18)
Beispiel (IntBr4: Z. 77-88) GwP4B: also ne ne adolf hitler straße würde ich auch auf jeden fall umbenennen wollen| würde ich auch gar nicht wohnen wollen ((lacht))| aber äh so andere dinge| da äh (1.1)|
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Beide Gewährspersonen sprechen sich gegen Umbenennungen von Straßennamen aus, es sei denn, sie stehen im Kontext des Nationalsozialismus. Sie wählen dazu eine Versprachlichungsstrategie, in der sie zunächst die für sie zulässige Umbenennung beschreiben (alles so was mit hitler zu tun hat, also ne ne adolf hitler straße), um anschließend, mit der adversativen Konjunktion aber eingeleitet, generell Umbenennungen abzulehnen. Solche ja-aber-Strategien (Kotthoff 1993) werden in Gesprächssituationen häufig gewählt, um facewahrend und abschwächend einer negativen Aussage bzw. Ablehnung (aber) – in dem Fall die Ablehnung von Umbenennungen – etwas Zustimmendes (ja) voranzustellen (Kotthoff 1993; Ziegler et al. 2018: 267f.). GwP4B bricht die Fortsetzung ihres aberSatzes mitten in der Konstruktion ab. Es folgt eine längere Pause. Mroczynski (2014: 161ff.) spricht bei solch einem syntaktischen Abbruch, in dem der Hörer den fehlenden Teil der Mitteilung gedanklich ergänzen kann, von Aposiopese bzw. von einer phatischen Ellipse. Vermutlich „kann das plötzliche Verstummen als Eingeständnis verstanden werden, etwas nicht sagen […] zu wollen (Schwitalla 2012: 118), da das Thema der Person Unbehagen bereitet (vgl. Kap. 5), oder auch einfach als sprachökonomisch bedingt gesehen werden. Weitere Mittel, die bei GwP4B auf eine mögliche Unsicherheit bei der Einstellungsäußerung hinweisen (vgl. Kap. 5) sind das Lachen (Glenn 2003; Kotthoff 1994; Schegloff et al. 1977), Häsitationsmarker (äh), stockendes Sprechen (Schwitalla 2012) und die Verwendung des würde-Konjunktivs (Mühlan-Meyer 2014). Zusammenfassend fällt auf, dass die RezipientInnen im untersuchten Datenmaterial im Gegensatz zur administrativen Seite und zu VertreterInnen von NGOs überwiegend gegen eine Umbenennung argumentieren. Dabei ziehen sie vor allem funktional-pragmatische Argumente heran oder verweisen auf die Unabänderlichkeit geschichtlicher Vergangenheit. Es stellt sich die Frage, ob das Hinnehmen der Straßenbenennung sowie der Verweis auf die Unabänderlichkeit der Geschichte auch ein Ausdruck der Akzeptanz von „Nicht-Autorität“ (im Vergleich zu administrativen und ggf. NGO-Akteurinnen) bedeuten könnte: Mit dem Hinnehmen der Unabänderlichkeit der Geschichte könnte auch ein Hinnehmen der Unabänderlichkeit dessen impliziert werden, das Gefühl zu haben, hier keinen Einfluss zu haben oder nicht gehört zu werden. Eine Ausnahme bei der Ablehnung von Umbenennungen bilden Straßennamen, die einen Bezug zum Nationalsozialismus aufweisen. Formal zeichnen sich die Argumentationen vor allem durch ihre Kürze aus. Kurzformen sind zwar einerseits normal in der Alltagssprache (vgl. Mroczynski 2014: 157), andererseits drücken sie eine gewisse Resolutheit aus (vgl. Mroczynski 2014: 157; Schwitalla 2012: 105). Es werden teilweise fiktive Beispiele herangezogen oder SollensVorschriften gebildet. Sprachlich fällt der erhöhte Gebrauch von Modalverben
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auf (können, wollen). Interessant ist auch die Verwendung von ja-aberStrategien, um Ausnahmen bei der Umbenennung zu formulieren. Die Analysen zeigen, dass solche Argumentationsmuster weiter untersucht werden müssen, da sich daraus Aussagen darüber treffen lassen, wo im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung bei Umbenennungen die Grenzen der Akzeptabilität liegen.
5 Bewertungen von Kolonialismus im Kontext von Umbenennungen Wie die Argumentationsanalyse gezeigt hat, ist eine Forderung nach Sichtbarmachung und Kontextualisierung in der unmittelbaren Raumdeskription im Kontext der sprachlichen (De-)kolonialisierung bis hin zu Schaffung von Lernräumen sowohl von administrativer Seite als auch von VertreterInnen von NGOs festzustellen (s.o.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie RezipientInnen vor Ort Umbenennungsprozesse und deren etwaige Sichtbarmachung wahrnehmen und bewerten, um herauszufinden, welche Einstellungen und Wissenskonzepte zu Kolonialismus nach erfolgten Umbenennungen in der Bevölkerung vorherrschen. Dafür werden exemplarische Beispiele aus dem Datenmaterial herangezogen. Das erste Beispiel zeigt die Antwort der GwP4B auf die Frage, ob kolonial motivierte Straßennamen und Denkmäler umbenannt werden sollten: (19)
Beispiel (IntBr4: Z. 143-144) GwP4B: ich denke die meisten verbinden da gar nichts mehr mit| also (für die/von daher) ist es völlig neutral eigentlich (-)|
Die vor dem Denkmal befragte Passantin spricht das fehlende Kontextwissen vieler Menschen (die meisten) im Bezug zum Kolonialismus an und zweifelt somit den Nutzen einer Umbenennung an. Diese Aussage würde die Forderung der administrativen AkteurInnen sowie der NGOs nach Umbenennung durch Perspektivwechsel im dekolonialen Kontext und Schaffung von Lernorten stark stützen. Interessant ist jedoch, dass vor dem Elefantendenkmal bereits eine Informationstafel angebracht ist. Somit zeigt das Beispiel, dass trotz der von administrativer Seite erfolgten Textproduktion durch Umbenennung und der Kontextualisierung durch eine Bronzetafel am Denkmal die Rezeption der Befragten negativ ausfällt. Es wirft die Frage auf, ob das von der Administration beabsichtigte Schaffen von Bewusstsein für Kolonialismus erfolgreich ist. Auch die folgenden Beispiele, die Antwort auf die Frage nach der Assoziation zu Ko-
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lonialismus und Deutschland wiedergeben, zeigen eine vage Rezeption der Kontextualisierung: (20)
Beispiel (IntBr2: Z. 134-140) GwP2: ja (0.4)| mir fällt ein dass se die ziemlich viel mist gemacht haben da unten (0.5)| ziemlich viel leute ge äh abgeschlachtet haben| auf deutsch gesagt| und äh also dat wat DA abging| das war ne reine ausbeute| nichts anderes (0.5)| dat fällt mir dazu ein|
(21)
Beispiel (IntBr3: Z. 117-125) GwP3: ähm: (0.8)| ich weiß so ungefähr was die kolonialzeit ist| aber (--)| toll fin (.) toll ist das ja nicht| das ist ja die (0.4)| was ich damit verbinde| ja so den wurde so das christentum aufgezwungen| oder (0.5) solche geschichten| und ausgenutzt irgendwie (-)|
(22)
Beispiel (IntBr4: Z. 128-133) GwP4: (0.7) äh (0.5)| es ist eigentlich unglaublich| was den (-) äh (-) menschen da angetan worden ist| dass man da (0.4) äh (--) strukturen zerstört hat| und und heute leiden äh irgendwie die staaten noch darunter dass| °h willkürlich grenzen gezogen worden sind| also das war äh ein verbrechen an der menschheit|
(23)
Beispiel (IntBr6: Z. 149-151) GwP6: das is is das is falsch ganz einfach| man (---) man sollte es nicht machen| weil_äh (-) jedes land braucht natürlich seine souveränität|
Drei von vier GwP eröffnen die Antwortsequenz mit redeeinleitenden Partikeln bzw. Häsitationsmarkern (ja, ähm, äh) und einer anschließenden Pause. Sie zeigen damit auf der einen Seite ihre Bereitschaft, nun die Sprecherrolle einzunehmen und Antwort zu geben, signalisieren aber gleichzeitig durch die Pausen, dass sie noch nach Worten suchen. „Zeitliche Verzögerungen des Einsatzes der eigenen Rede spielen eine große Rolle, um unangenehme Themen oder dispräferierte Antwortzüge gesichtsschonend vorzubringen“ (Schwitalla 2012: 76). Als nächstes folgt tatsächlich eine bei allen Befragten vage und vorsichtig ausgedrückte negative Bewertung und Beschreibung von Kolonialismus, die auf eine mögliche Dispräferenz bei der Antwortgebung hinweist (toll ist das ja nicht, wurde so das christentum aufgezwungen; ziemlich viel mist gemacht, war ne reine ausbeute; eigentlich unglaublich, verbrechen an der menschheit; das is falsch ganz einfach). Bei der vierten Person (Beispiel 23) signalisiert nicht ein Häsitationsmarker und eine Pause, sondern das zur Einleitung der Sequenz stockende Sprechen (das is is das is falsch ganz einfach, man man), dass die Beantwortung der Frage wohlmöglich als mühevoll und heikel erachtet wird (Schwitalla 2012: 127).
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Aus interaktionslinguistischer und soziolinguistischer Perspektive zeigt der Antwortverlauf aller Gewährspersonen, dass das Sprechen über Kolonialismus geprägt ist von Unsicherheit und Vagheit bei der Formulierung. Das zeigt sich u.a. an sprachlichen Mittel und Ausdrücken, die auch als „Heckenausdrücke“ bezeichnet werden (Lakoff 1973; Schwitalla 2012). In den Beispielen sind es Vagheits- und Distanzierungssingale wie der häufige Gebrauch von Modalpartikeln (so, ja, ja so), Adverbien (ziemlich, ungefähr, irgendwie, eigentlich) und phrasale Strukturen (solche geschichten). Ebenso weisen Pausen, Satzabbrüche, Häsitationsmarker und Reparaturen auf Formulierungsschwierigkeiten. In Studien wurde festgestellt, dass SprecherInnen gehäuft Heckenausdrücke verwenden bei „vorsichtigen Wertungen, bei Aussagen, die ihnen unangenehm sind, und wenn sie schwierige Sachverhalte versprachlichen müssen“ (Schwitalla 2012: 156). Die Lexik betrachtend, fallen negativ wertende, teils drastische Verben (abgeschlachtet, aufgezwungen, ausgenutzt, zerstört, leiden), Adjektive (unglaublich, willkürlich) und Substantive (mist, ausbeute, verbrechen) in Verbindung mit Kolonialismus auf. Einstellungsäußerungen stehen häufig in engem Zusammenhang mit potenziell heiklen Selbst- und Fremdpositionierungen (vgl. König 2014). Die Distanzierung gegenüber den Geschehnissen der Kolonialgeschichte zeigt GwP2 durch Fremdkategorisierung/-positionierung, indem sie das Pronomen der dritten Person die verwendet (dass se die ziemlich viel mist gemacht haben) (vgl. Bendel Larcher 2015). GwP4 und GwP6 wählen dafür das Indefinitpronomen man (dass man da) und GwP3 und GwP4 gebrauchen das Passiv. Indefinitpronomen und Passiv erlauben es beide, den Agens unausgedrückt zu lassen, also Ausdrücke wie „wir“ oder „die Deutschen“ zu umgehen. Die exemplarische Analyse legt nahe, dass die Personen bei der Formulierung von Einstellungsäußerungen gegenüber Kolonialismus sprachliche Strategien der Vagheit, erstens, aus Unsicherheit und Unbehagen gegenüber einer Bewertung des Themas Kolonialismus, zweitens, zur Face-Wahrung wegen Unwissenheit gegenüber dem Thema Kolonialismus und, drittens, zur Reduzierung der eigenen Angreifbarkeit bei der Bewertung nutzen. Vermutlich erscheint ihnen die Bewertung von Kolonialismus unangenehm und sie schätzen die Thematik als einen schwierigen Sachverhalt ein (vgl. Schwitalla 2012: 155). Gleichzeitig spielt das „Impression Management“ (vgl. z. B. Goffman 1959) bzw. „recipient-design“ eine Rolle: die bewusste Gestaltung der eigenen Äußerungen im Hinblick auf die erwünschte Wirkung beim Gegenüber (Deppermann und Blühdorn 2013). Die Interviewten empfinden möglicherweise eine soziale Erwartung, Kolonialismus negativ zu bewerten.
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Ähnliche Tendenzen weist das folgende Beispiel auf. Es wird der bereits erwähnte Aspekt deutlich, dass eine große Unwissenheit gegenüber dem Thema (De)-Kolonialismus vorzuherrschen scheint, der durch verschiedene sprachliche Mittel relativiert und abgeschwächt wird. Eine Passantin wird danach gefragt, ob sie ihre Assoziation zu Kolonialismus und Deutschland erläutern könnte: (24)
Beispiel (IntBr1: Z. 152-163) GwP1: (---)| man fühlt sich jetzt gerade ein bisschen | ((lacht))| aber ich hab mich auch nie wirklich damit auseinander gesetzt| und hab auch nie ein interesse dafür gehabt| sorry| geschichte und so war auch nie meins| (1.0)|
Die Gewährsperson verneint die Antwort und weist mit einem Metakommentar lachend darauf hin, dass sie sich ungebildet fühle. Das lachende Sprechen kontextualisiert das Gesagte als Ausdruck von Verlegenheit (Schwitalla 2001) und der plötzliche Tonhöhensprung nach oben mit lauter werdender Stimme und anschließender Pause zu Beginn der Äußerung (nein) drückt „psychische Erregung, Emphase“ aus (Schwitalla 2012: 71; Selting 1994). Interessant ist der generische Gebrauch des Indefinitpronomens man (man fühlt sich jetzt gerade ein bisschen ungebildet), das den Zweck hat, Neutralisierung und Distanzierung auszudrücken (vgl. Imo und Ziegler 2019; König 2014). Das Pronomen trägt die Besonderheit, „dass Gesprächsrollen […] darin neutralisiert werden und entsprechend der Verweisraum undefiniert bleibt“ (Weinrich 2005: 98). Die NichtBeantwortung einer Frage, wie es hier der Fall ist, kann mitunter gesichtsbedrohend sowohl für die interviewte als auch für die interviewende Person sein. Allgemein gelten Wertungen v.a. in einem Interviewkontext, in denen sich die GesprächspartnerInnen nicht kennen, als potenziell heikle Aktivitäten (vgl. König 2014: 172). Abschwächende Verfahren, um die heikle und gesichtsbedrohende Situation zu managen, sind also bisher Lachen, expressives Ausrufen sowie Neutralisierung durch Indefinitpronomen. Die Sprecherin sieht sich nun unter einem Rechtfertigungsdruck und in Erklärungsnot, weil sie die Frage nicht beantworten konnte. Sprachlich wird das daran deutlich, dass sie mit aber eingeleitete Erläuterungen sowie eine Entschuldigung (sorry) formuliert. Möglichweise ebenso aus Verlegenheit nutzt sie dabei übertreibende Mittel (nie) und erklärt mithilfe einer dreigliedrigen Liste (Jefferson 1990: 63ff.; Schwitalla 2012: 184), dass sie sich (1) noch nie mit Kolonialismus auseinandergesetzt habe, (2) noch nie ein Interesse dafür gehabt habe und (3) Geschichte noch nie „ihrs“ war. Das letzte Glied der Liste, welches zum Signal des Abschlusses fallend intoniert wird, enthält typischerweise eine generalisierende Aussage und schließt ihre Ausführung ab. Die syntaktisch parallele
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Formulierung hilft ihr, ihre anfangs gegebene Aussage (man fühlt sich ungebildet) in speziellen Einzelheiten zu erklären und zu spezifizieren. Die Auswertung der Interviews zeigt, dass trotz der von administrativer Seite erfolgten Textproduktion durch Umbenennung und der Kontextualisierung durch eine Bronzetafel am Denkmal die Rezeption durch die Befragten sehr vage ausfällt. Es wirft die Frage auf, ob das von der Administration beabsichtigte Schaffen von Bewusstsein für Kolonialismus (vgl. Kap. 4), d.h. die sprachliche (De-)Kolonisierung, erfolgreich ist, und eröffnet die Forschungsfrage, wie denn dann Dekolonisierung geschaffen werden kann.
6 Zusammenfassung Die Untersuchungen zu Umbenennungsdiskursen kolonial motivierter Straßenund Denkmalnamen im analysierten Datenmaterial haben hinsichtlich der Frage nach den Argumentationsmustern unterschiedlicher Akteursgruppen gezeigt, dass administrative EntscheidungsträgerInnen und VertreterInnen von NGOs sich für eine Umbenennung einsetzen. Von beiden Seiten wird eine Umbenennung im dekolonialen Kontext gefordert mit dem Ziel, dadurch eine neue Erinnerungskultur gegenüber der Kolonialgeschichte in der Gesellschaft erreichen zu können. Die administrativen VertreterInnen setzten sich zusätzlich für die Schaffung von Lernorten ein, um Kontextwissen herzustellen. Die hier befragten RezipientInnen argumentieren überwiegend gegen Umbenennungen und verweisen insbesondere auf die Unabänderlichkeit von Geschichte sowie auf funktional-pragmatische Konsequenzen wie zu hohe Kosten oder mögliche Orientierungslosigkeit. Interessant ist eine starke Bezugnahme zum Nationalsozialismus, der aus Augen der RezipientInnen die Geschehnisse der Kolonialgeschichte in den Hintergrund rücken lässt und relativiert. Hinsichtlich der Frage nach den Einstellungen zeigt die Datenauswertung eine grundlegend negative Bewertung von Kolonialismus. Die Formulierung der negativen Einstellungsäußerungen wird von den Interviewten als potenziell heikel verbalisiert, modalisiert und abgeschwächt. Sie halten ihre Äußerungen aus Unsicherheit gegenüber einer Bewertung des Themas Kolonialismus als auch wegen Unwissenheit gegenüber dem Thema Kolonialismus und daraus resultierendem Unbehagen sprachlich sehr vage, indem sie verstärkt Heckenausdrücke, Modalpartikeln und Distanzierungssignale gebrauchen. Der Aufsatz zeigt, dass Forschungen zu Umbenennungspraktiken kolonial motivierter Straßen- und Denkmalnamen im deutschsprachigen Raum sowie zu den im Rahmen solcher Umbenennungen geführten gesellschaftspolitischen
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Diskussionen nicht nur einen neuen und innovativen Zugang im Bereich der Koloniallinguistik aufgreift, sondern ebenso, dass solche erkenntnisreichenden Analysen und Fragestellungen unbedingt tiefer und mit größerer Datenmenge untersucht werden sollten.
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Autoren- und Personenregister Adelung, Johann Christoph 83 Agricola, Erhard 191 Aikins, Joshua Kwesi 240 Aleff, Maria 4f., 98, 146, 148, 159, 163, 181 Allmaras, Franz 22 Allport, Gordon 248 Almeida-Topor, Hélène de 144 Altenhofen, Cléo Vilson 66f., 71, 77 Aly, Götz 240 Ashcroft, Bill 239 Assmann, Aleida 210 Atoui, Brahim 143 Auer, Peter 253, 259 Ayaß, Ruth 251 Bach, Adolf 190 Badoglio, Pietr 177 Bahlow, Hans 85 Bahners, Patrick 226 Bake, Rita 226f., 233 Baker, Colin 248 Baltzer, Franz 100, 112f. Bancel, Nicolas 145 Barsewisch, Gustav von 67f., 79, 85 Barsewisch, Julius von 64, 67f., 71, 73f., 77, 79ff., 89, 91 Barth, Heinrich 17 Bartlett, Tom 249 Bassett, Thomas J. 35 Bauer, Gerhard 161 Baumann, Oskar 96, 99ff., 114, 125, 129, 131 Beccaria, Gian Luigi 89 Becher, Jürgen 24 Bechhaus-Gerst, Marianne 238 Becker, Alexander 27 Beckershaus, Horst 228 Behrmann, Walter 41 Beilke, Neubiana Silva Veloso 66 Bekoe, Ginnie 240 Bendel Larcher, Sylvia 249f., 263 Benne, Simon 240
https://doi.org/10.1515/9783110768770-013
Bennett, Norman Robert 20 Berg, Lawrence D. 3 Bigon, Liora 143 Bismarck, Otto von 25, 28, 45, 130 Blancpain, Jean-Pierre 65f. Blommaert, Jan 84 Blühdorn, Hardarik 263 Boudin, Max Henri 65, 74, 86 Boumedini, Belkacem 143 Bourhis, Richard Y. 202 Bradáč, Bohumír 199 Branch, Jordan 34 Brandes, Detlef 193 Bredekamp, Horst 226 Brennan, James Robert 100 Brogiato, Heinz-Peter 125 Brunner, Kurt 44, 46, 126, 132 Bückendorf, Jutta 102 Bührer, Tanja 18 Burckhardt, Johann Ludwig 213f. Burton, Andrew 100 Busse, Beatrix 192 Caffarelli, Enzo 191 Cardona, Giorgio Raimondo 89 Carneiro, José Fernando 64 Casper, Klaudia 249 Castro Varela, María do Mar 239 Chelčícký, Petr 198 Clark, John Owen 34 Conte, Christopher A. 97, 101 Credner, Hermann 45, 129, 131 Crom, Wolfgang 42, 121f., 132 Cullen, Niclas J. 126, 134f. Cunha, Antônio Geraldo da 74, 80f., 88 Cuonz, Christina 248 Dailey-O’Cain, Jennifer 249f. Dauber, Heinrich 111, 114 David, Thomas 211, 215 De Bono, Emilio 177
270 | Autoren- und Personenregister
Debus, Friedhelm 103, 107ff. Decken, Carl Claus von der 45, 124, 129 Degn, Christian 234 De Hoy, David 214 Del Boca, Angelo 171, 173, 177 Decken, Carl von der 45, 124, 129 Delhaes-Guenther, Dietrich von 64, 68, 73ff., 80f., 84f., 87f., 93 Demhardt, Imre Josef 42ff., 121, 126, 132 Deppermann, Arnulf 263 Dernburg, Bernhard 21 Dewein, Barbara 2 Dhawan, Nikita 239 Dheulland, Guillaume 146 Dick, Maria Vicentina de Paula do Amaral 67, 69f., 80, 85f. Dominik, Hans 25, 234f. Domke, Christine 202 Döring, Paul 99f., 104 Döschner, Jascha 109, 117 Downie, Charles 134 Dräger, Kathrin 1 Drauschke, Frank 48 Dreher, Martin 64, 77 Drygalski, Erich von 45, 129, 131 Dubois, Jean 89 Dück, Elvine Siemens 66, 85 Duignan, Peter 22 Dunker, Axel 67 Eberstein, Ernst Albrecht von 126 Ebert, Verena 3ff., 49, 168, 170, 182, 192, 196, 203, 209f., 218, 225, 228, 245 Eckert, Max 41, 43, 121 Edney, Matthew Henry 43 Eggers, Willy 41 Eichinger, Ludwig 248 Endruschat, Annette 89 Engelberg, Stefan 1 Engelmann, Erni Guilherme 67, 70 Engelmann, Leo 198 Everest, Sir George 37
Fage, John Donelly 17 Father Jerome Mkwama 95 Fausto, Boris 64 Finsterwalder, Richard 42f., 46, 121 Fischer, Jacy Waldyr 65, 74, 79f., 82, 89 Fischer-Kattner, Anke 15, 17 Fischer-Tiné, Harald 211 Fitzner, Rudolf 100, 102, 112 Fröschle, Hartmut 64, 66 Fuchshuber-Weiß, Elisabeth 170 Furtado, Nelson França 65 Furtwängler, Walter 134 Gaiser, Gottlieb Leonhard 233 Gann, Lewis H. 22 Gauglitz, Gerd 49, 51 Geißler, Paul Wenzel 101 Gilles, Peter 84 Gillman, Clemens 134 Giolitti, Giovanni 171 Glenn, Phillip 260 Glück, Helmut 89 Goffman, Erving 263 Gottschalk, Sebastian 236, 241 Gräbel, Carsten 15, 41f., 45 Graetz, Paul 19 Graf von Waldersee, Alfred 228 Graßhoff, Gerd 36 Gregory, Josemir José 73 Greule, Albrecht 82, 191 Greulich, Sandra 46, 135 Grindel, Susanne 35 Gründer, Horst 16, 24 Ha, Kien Nghi 240 Ha, Noa 239 Hadria, Nabia Dadoua 143 Hafeneder, Rudolf 43, 121 Hahner-Herzog, Iris 20 Hall, Adéla 203 Hamann, Christof 44, 125 Handke, Kwiryna 190 Harley, John Brian 34 Harvalík, Milan 191
Autoren- und Personenregister | 271
Hassa, Samira 143 Hassenstein, Bruno 124f., 127, 129ff., 140 Hassert, Kurt 97, 100 Hauptmann, Kurt Johannes 130 Heim, Albert 45, 129, 131 Hemingway, Ernest 135 Herling, Sandra 145ff., 158f., 161 Hernsheim, Eduard 232 Herwegh, Georg 198 Hettner, Alfred 38 Heymons, Max 129, 131 Hieke, Ernst 234 Hildebrand, Klaus 195 Hoff, Louis 229 Hoffmann, Luise 112 Hoffmann, Kurt 112 Hoffmann, Luise 123 Höhnel, Ludwig 129, 131 Honold, Alexander 44, 49, 125, 247 Hough, Carole 152, 154, 156 Hueber, Ernst 38, 42f., 46, 52, 121 Hundt, Markus 248 Hye, Franz Heinz 38 Imo, Wolfgang 253, 264 Jaeger, Fritz 129, 133f. Jansen, Jan C. 97f. Jefferson, Gail 264 Johanek, Peter 24 Johanssen, Ernst 100 Johansson, Lars 95 Johnson, Samuel 22 Jones, Adam 38 Jucker-Kupper, Patrick 34 Jureit, Ulrike 96 Kadletz, Theodor 67ff., 74, 85, 88 Kallmeyer, Werner 250 Kalousková, Lenka 199 Karstedt, Dr 96, 110, 113 Kazdaghli, Habib 141 Kersten, Otto 45, 124, 129, 131 Kienpointner, Manfred 251ff., 257ff. Kiepert, Heinrich 124 Kim, Shin 33
Klute, Fritz 126, 134f. Köhler, Dolf 197f. Kohlert, Christine E. 100 Koller, Christophe 34 König, Katharina 248ff., 253, 263f. Koß, Gerhard 161 Kotthoff, Helga 260 Krapf, Johann Ludwig 99, 123f., 130, 133 Kretschmer, Paul 201 Krieger, Martin 234 Kuba, Ludvík 191 Kundrus, Birte 230, 242 Labanca, Nicola 168, 171f. Lacmann, Wilhelm 80f., 84ff., 90 Lakoff, George 263 Landry, Rodrigue 202 Lašťovka, Marek 201 Lauber, Wolfgang 25 Laudonnière, René Goulaine de 145 Ledvinka, Václav 201 Lettow-Vorbeck, Paul von 236, 238 Lent, Carl 45, 130 Liebert, Eduard von 130 Liebscher, Grit 249f. Loch, Hendrik 46, 135 Loomba, Ania 239 Lorenzi, Harri 81 Löwe, Cornelis 52 Luebke, Frederick C. 64 Lüderitz, Adolf 49 Lüth, Marlis 232 Machado, José Pedro 80 Maharero, Samuel 20 Mohammed Hussein Bayume (Mahjub bin Adam Mohamed) 237f. Majtán, Milan 190 Manshard, Walter 47 Marcato, Carla 169f. Maret, Carl 229 Masaryk, Tomáš Garrigue 196 Mateus, Maria Helena 89 Merbouh, Hadjer 143 Meyer, Hans 122, 125ff., 140 Meyer, Herrmann 86, 88, 92 Mezenko, Anna Mikhailowna 190, 205
272 | Autoren- und Personenregister
Miccoli, Paolo 168f., 179 Michels, Eckard 236 Michels, Stefanie 16, 236 Mignolo, Walter 240 Minder, Patrick 217f. Minvielle, Jean-Paul 153 Minvielle, Nicolas 153 Míšková, Alena 199 Möhle, Heiko 237 Moisel, Max 39ff., 44, 121f. Moltke, Helmuth von 130 Monmonier, Mark 34 Morello, Rosângela 66, 92 Morlang, Thomas 16, 236 Moser, Jana 40, 43 Moyd, Michelle R. 236 Mroczynski, Robert 251, 260 Mrózek, Robert 190 Mühlan-Meyer, Tirza 249, 260 Müllendorff, Prosper 21 Müller, Armindo L. 65, 67, 70, 80, 88 Murray, Alison 142
Penck, Albrecht 45, 129, 131 Peralta, Anselmo Jover 65, 74 Pesek, Michael 21, 236 Petermann, August 124, 126 Peters, Carl 17, 22, 25, 28, 49, 100, 238 Peters, Hans 49 Pfeil, Joachim von 135 Pfitzner, Josef 199 Phelizon, Jean- François 89 Pillewizer, Wolfgang 41, 43, 126 Platz, Ernst 130, 136 Pleskalová, Jana 190 Podoľskaja, Natalija Wladimirowna 190 Pollacchi, Paul 146 Posener, Alan 240 Preston, Dennis R. 249 Prince, Magdalene von 112 Psenner, Angelika 202 Ptolemaios, Klaudios 36 Purtscheller, Ludwig 45, 126, 128 Purtschert, Patricia 211 Quijano, Aníbal 239, 242
Nachtigal, Gustav 22, 49 Nascentes, Antenor 85 Navarro, Eduardo de Almeida 65, 74 Nazarkiewicz, Kirsten 251 Neumann, Rosane Marcia 85f. Niedzielski, Nancy 249 Niehr, Thomas 251 Nölting, Emil 233 Nothdurft, Werner 251 Nübling, Damaris 1, 66, 94, 103, 109, 162, 169, 175, 191, 256 Nyström, Staffan 106 Obst, Erich 41, 121 Oehler, Eduard 45, 133f. Ormeling, Ferjan 37, 47, 133 Osterhammel, Jürgen 97f. Osuna, Tomas 65, 74 O’Swald, William Henry 232 Park, Mungo 17 Passarge, Siegfried 44, 46, 132 Paul, Hermann 200f. Pelletier, Philippe 33
Rabuske, Arthur 67, 69, 73ff., 79 Radding, Lisa 34 Radtke, Edgar 67 Ratzel, Friedrich 45, 128 Razumov, Roman Vikorowitsch 190 Rebmann, Johannes 45, 123ff., 129 Rebmann, Johannes 123ff., 129 Reck Schöni, Yvonne 216f. Reinhard, Wolfgang 16, 23 Renz, Matthias 35 Reusch, Richard 135 Ricci, Laura 172f., 178ff., 182 Richter, Erhard 217 Rieger, Marie A. 102, 109, 114 Riehl, Claudia Maria 90 Roche, Jean 66, 77 Rockel, Stephen J. 20 Rödel, Michael 89 Rosenberg, Peter 66 Roth, Kersten Sven 249f. Russy, Richard 197 Ryhiner, Johann Rudolf 214
Autoren- und Personenregister | 273
Salussolia, C. 172, 178, 181f., 186 Samassa, Paul 100 Savorgnan de Brazza, Pierre 152 Savoy, Bénédicte 226 Sawade, Gerald 40 Schaper, Ulrike 21 Schegloff, Emanuel 260 Schewiola, Ingo 196 Schimmelmann, Heinrich Carl von 233f. Schlögel, Karl 34, 239, 241 Schmid, Josef 228 Schmidt-Brücken, Daniel 2, 152 Schmidt-Radefeldt, Jürgen 89 Schnee, Heinrich 41, 53 Schneider, Karl-Günther 24 Schneider, Ute 34 Schramm, Percy Ernst 230, 234 Schröder, Iris 125 Schulte-Varendorff, Uwe 236 Schulz, Matthias 3ff., 49, 98, 146, 148, 159, 163, 168, 192, 196, 203, 209f., 218, 225, 228, 245 Schulze, Frederik 64, 77 Schwartzman, Simon 86 Schwarz, Ernst 204 Schwitalla, Johannes 253, 255f., 259f., 262ff. Selting, Margret 250, 264 Shekivuli, Dickson J. 95, 99 Siblot, Paul 143 Siegfried, Inga 216 Siegfried, Paul 213 Simo, David 44, 125 Šmilauer, Vladimír 189f. Speitkamp, Winfried 3, 6, 16, 20, 25, 29 Spitzmüller, Jürgen 250 Sprigade, Paul 39ff., 44, 121f. Šrámek, Rudolf 190 Šrámková, Marta 190 Sriguey, Pascal 126 St. Paul Illaire, Walther von 112 Staehelin, Balthasar 217 Stanley, Henry Morton 17, 22 Staub, Augostinus 65, 67, 69, 75, 79, 88 Steinhäuser, Frauke 232 Stettler, Niklaus 214
Stolz, Thomas 1f., 4f., 40, 70f., 84, 89, 96ff., 102, 104ff., 113f., 148, 152, 158, 168, 170, 175, 192, 245 Strandes, Justus 232 Stückelberger, Alfred 36, 54 Studler, Rebekka 248 Šustek, Vojtěch 199 Sutton, John Edward G. 25, 28 Svoboda, Jan 189f. Szyczak, Marcin 46, 135 Tagseth, Mattias 127 Talmy, Steven 250 Tavares de Barros, Fernando Hélio 90f. Thörl, Johann Friedrich 229 Thornton, Richard 124 Thun, Harald 67, 76 Tibiriçá, Luiz Caldas 65, 74, 81 Tippu Tip 20 Tophinke, Doris 249 Toulmin, Stepehen 253, 255 Traun, Friedrich 229 Traversi, Carlo 172 Trotha, Lothar von 18, 239 Tzschaschel, Sabine 34 Uhlig, Carl 45, 126, 133 Uhlmann, Gordon 235 Unverhau, Dagmar 34 van der Heyden, Ulrich 49 van Laak, Dirk 230 Verity, Maureen 17 Voigt, Isabel 38, 124 Volkens, Georg 130 Vonhoff, Hans-Peter 34 Vualteenaho, Jani 3 Walther, Peter 25 Wander, Karl Friedrich Wilhelm 213 Warnke, Ingo H. 2, 4f., 40, 70f., 84, 89, 96ff., 102, 104f., 107ff., 113f., 148, 158, 168, 170, 175, 192, 217, 245 Washausen, Helmut 230 Weber, Theodor 232 Weddigen, Otto 234 Weinrich, Harald 264
274 | Autoren- und Personenregister
Western, John 34 Wettich, Hans 100 Wilkinson, Peter 134 Wirth, Marcus 46, 135 Wissmann, Hermann von 18, 20, 25ff. Witbooi, Hendrik 20 Witter, José Sebastião 64 Wochele, Holger 149, 156, 161f. Woermann, Adolph 233 Wohlrab, Paul 96, 99f., 111 Xavier, Maria Francisca 89
Yi, Ki-sŏk 33 Zangger, Andreas 211f. Zantop, Susanne M. 230 Zeller, Joachim 25, 28, 226 Ziegler, Evelyn 84, 249, 251ff., 257, 260, 264 Žigo, Pavol 190 Zimmerer, Jürgen 226 Zollmann, Jakob 132 Zytnicki, Colette 141
Sachregister nebst geografischen Bezeichnungen Afrika 6ff., 15ff., 22ff., 40, 44f., 47ff., 96, 123ff., 127, 141ff., 153, 160, 167, 178, 182f., 196, 211, 216ff., 228f., 232, 234, 236, 240, 252 Afrikanisches Viertel (Berlin) 247f., 255 Akteure 2, 6, 15f., 18ff., 26, 35, 98, 122, 146, 152, 159, 173, 192, 226ff., 232, 247 Algerien 143f., 149ff., 155ff. Alte Kolonien 69f., 75, 79, 91 Anoikonym 104, 146, 190 Anthroponym 69, 71, 80, 82, 84ff., 90, 106ff., 112, 133, 151, 153, 161, 163, 178f., 183, 185, 194 Appellativ 46, 70f., 80. 82f., 90, 105, 126, 130, 133, 147f., 151f., 154, 156, 161f., 170, 185, 193f., 200f., 216 Asch (Böhmen) 197f., 203 Askari 16, 236ff. Äthiopien 181f., 184 Basel 201, 210ff. Beherrschungskolonie 7, 97 Belegung 21, 25, 27, 122 Benennungsmotivik 8, 65, 68ff., 74, 80, 82, 84, 86, 88, 90, 152, 156f., 162f., 198 Benennungspraktiken 4, 7, 9, 90, 144, 168, 181, 185, 229, 241, 245, 248, 265 Berlin 9, 22, 24, 42, 48f., 85, 122, 129, 172, 194, 227, 236, 238, 240, 247ff., 255 Böhmen 8, 64, 73, 84, 192, 194ff. Boxeraufstand 228 Brasilien 7, 63ff., 77, 81, 83, 85ff. Canto Bayer (Brasilien) 83, 85, 88 China 18, 26, 228 Choronym 66, 103, 120, 151, 162 Dar es Salaam/Daressalam 24ff., 100, 235 Datenerhebung 67, 73, 76, 80, 145f., 204, 248 DDR 34, 210
https://doi.org/10.1515/9783110768770-014
Dekolonisierung 5, 251, 256, 265 Deutsch-Ostafrika (DOA) 7, 18, 21, 23f., 44, 95, 97, 99ff., 107, 109, 126, 129f., 132, 234ff. Deutsch-Südwestafrika (DSWA) 7, 18f., 26, 43, 96ff., 104, 110f., 113 Dialektologie 67, 71, 76 Eigennamen 36, 38, 45f., 89, 133, 149, 161, 190, 219 Einschreibung 4, 37f., 49, 85, 128, 132f., 185, 192, 203, 210, 219, 226, 231f. Einwanderer/Einwanderung 64f., 67ff., 77, 80, 82, 85, 87ff. Elfenbeinküste 142, 145 Endonym 4, 35, 38, 40, 46, 50, 96, 100, 102f., 105f., 109, 114, 122f., 127f., 131f., 135, 158f., 175 Entlehnung 69, 88f. Erinnerungskultur 28, 225ff., 234, 236, 238ff., 251, 265 Erinnerungslandschaft 225, 240 Eritrea 167, 183f. Faschismus 8, 169, 178f., 184f. Frankreich 84, 142, 144f., 148, 152, 154ff., 162f., 171 Französisch-Äquatorialafrika 142, 144f., 150f., 155, 158, 160 Französisch-Westafrika 144f., 149ff., 153, 155ff., 160 Geoklassifikator 66, 71, 148 Grundwort 67, 70, 108f., 170 Hagionym 82, 86 Hamburg 9, 28, 64, 227ff. Herero 17, 25, 28, 43, 111, 226, 239 Hodonomastik 169f., 182f., Hohenfriedeberg 96, 100, 103 Hotelnamen 5, 8, 144ff. Iglau (Böhmen) 197ff., 203f. Indochina 142, 145, 147, 149ff., 153ff.
276 | Sachregister nebst geografischen Bezeichnungen
Industrialisierung 47, 64, 195 Italien 8, 64, 167ff. Jägertal 96, 102, 104, 106 Kambodscha 142f., 145 Kamerun 18f., 21, 24, 39, 49, 229, 231f. Karlsbad (Böhmen) 197f., 202f. Kartographie 6, 10, 34ff., 40ff., 68, 96 Kiautschou 26, 43 Kibo 123ff. Kilimandscharo 8, 21, 27f., 44ff., 98ff., 111, 122ff. Klassifikator 4, 66, 84, 105ff., 114, 148ff., 159, 161, 170, 179, 183f., 200f. Kolonial ~bewegung 232, 235f. ~diskurs 9, 152, 168, 209, 219, 234 ~geschichte 25, 170, 176, 182, 196, 226, 228, 247, 251, 254f., 259, 263, 265 ~handel 214, 229, 232 ~kartographie 6, 35, 40ff., 48, 98, 121, 146 ~politik 49, 154, 171, 177, 203, 210 ~reich 35, 46, 133, 141, 143f., 158, 168, 180, 228ff. ~toponomastik 2, 5f., 70, 113, 168, 170, 245, 248 ~toponym 7, 87f., 96, 104ff., 114, 146, 148, 159, 168, 173, 175f., 181 Kolonialismus 1f., 6, 9, 15, 21, 29, 35, 96, 98, 114, 146, 155, 159f., 162f., 167, 171, 179f., 185, 203, 210ff., 226ff., 230, 232, 236ff., 249, 251, 261ff. Kolonisierung 5, 7, 64, 77, 80, 90, 100, 144, 154, 163, 210 kommemorative Funktion 153ff., 162f., 170, 175, 184, 209, 218, 225f., 231, 247 Korpus 3, 7, 67f., 70, 77, 80, 144f., 147, 149f., 152ff., 158f., 161ff., 197 Kyrenaika 67, 71, 171, 176f., 183 Lehnübersetzung 65, 68 Libyen 169, 171ff., 176f., 179, 181ff. Linguistic Landscape 75, 84, 163, 202
Mähren 8, 192, 195ff. Makrotoponym 2, 4, 84, 98, 146ff., 158f., 169f., 180, 191, 212 Marokko 141, 143f., 149ff., 153, 155ff., 171 Metropole 2ff., 85, 107ff., 142, 144, 148, 155, 161, 163, 168, 170, 174ff., 181f., 185, 195f., 203, 209f., 219, 230, 245 Mikrotoponym 3, 5ff., 143f., 146ff., 154, 159, 161, 163, 168ff., 185, 191, 209ff., 215, 218ff. Mission 17f., 20, 23, 27, 96, 100, 127, 174, 211 Missionare 17f., 20, 22, 27, 42, 45, 97, 99f., 111, 123f., 130, 135 Missionsgesellschaft 17f., 103, 123 Missionsstation 18, 96, 100, 102f., 111 Modifikator (MOD) 4, 67, 80, 105ff., 114, 148ff., 159ff., 170, 179, 181, 183f., 199 Nama 17f., 25, 226 Namibia 17, 26, 28f. Nationalisierungskampagne 64, 90 Oikonym 66, 87, 103f., 146, 151, 158, 190f. Onomastik 1f., 170, 190, 196 Ortsnamen 39, 63f., 67ff., 76, 79f., 85ff., 91, 96, 102f., 110, 145, 155, 159, 162, 180, 191ff., 198, 212, 216 Österreich 64, 203, 216 Ozeanien 196, 228 Place-Making 192, 202, 204 Polen 34, 64, 193 Prag 193f., 199, 204 Prestige 8, 87, 171 Raumaneignung 3, 6, 15f., 21, 25, 192, 202, 204 Reiseberichte 17, 37, 39, 98, 124, 145f., 215 Rio de Janeiro 64, 68, 87 Rio Grande do Sul (RS) 64, 67ff., 81 Rom 8, 169, 172, 176, 178, 182ff. Santa Catarina 69, 84, 86f. Santa Cruz do Sul 65, 68ff.
Sachregister nebst geografischen Bezeichnungen | 277
São José do Herval 74f. São José do Hortêncio 64, 74, 77, 81f. São Leopoldo 64, 73f., 79 São Paulo 69, 74 Siedlungsnamen 70, 104, 127, 146, 154, 191 Sprachkontakt 65, 67, 71, 87ff. Straßennamen 8, 25, 28f., 47, 49f., 143f., 157, 168ff., 173, 178, 180, 182ff., 190ff., 195ff., 209ff., 214f., 218, 225ff., 232, 234f., 239f., 247, 249, 252, 255f., 258ff., Sudetenland 8, 192, 196, 203 Surinam 211, 214f., 219 Tanga 24, 98, 100, 102, 112, 210, 235 Tansania 28, 99, 237ff. Togo 18, 21, 49, 145, 229, 231f. Token 147, 154, 197, 247 Toponomastik 1f., 7, 9f., 70, 90, 152, 169, 178, 189f.
Toponyme (TOP) 73, 101f., 104ff., 121ff., 145f., 148, 151f., 154f., 157f., 162, 170, 173f., 191, 211, 215f., Tripolis 169, 171ff., 176ff., 185 Tschechoslowakei 193f., 196, 203 Tunesien 141, 144, 149, 155, 157f. Type 147, 154 Umbenennung 2, 4ff., 38, 49, 65, 172ff., 180f., 183ff., 193ff., 198, 202, 204, 210, 226f., 231ff.,, 236ff., 246ff., 265 Urbanonym 5, 8f., 35, 163, 168ff., 173f., 177ff., 181f., 185, 189ff., 193, 196, 198f., 225ff., 231, 233f., 237, 239 Usambara 7, 49, 95ff. Versailler Vertrag 28, 195, 232 Windhoek 25, 28