Klimawandel und Resilienz in Bangladesch: Die Bewältigung von Überschwemmungen in den Slums von Dhaka 9783515107860

Der Klimawandel bedroht in besonderer Weise Menschen in den Slums der Megastädte. Aufgrund der zunehmenden Informalität

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German Pages 285 [290] Year 2014

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Table of contents :
DANKSAGUNG
ZUSAMMENFASSUNG
ABSTRACT
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
VERZEICHNIS DER LOKALEN BEGRIFFE UND NAMEN
1. EINLEITUNG
1.1 PROBLEMAUFRISS UND FRAGESTELLUNG
1.2 AUFBAU DER ARBEIT
2 RAHMENBEDINGUNGEN FÜR SLUM-HAUSHALTE IN MEGASTÄDTEN
2.1 LEBEN IN MEGASTÄDTEN IN ENTWICKLUNGSLÄNDERN: RISIKOGEBIETE UND REGIONEN DER MÖGLICHKEITEN
2.2 INFORMALITÄT
2.3 MARGINALSIEDLUNGEN, SLUMS
2.4 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS
3 KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN
3.1 ENTWICKLUNG
3.2 ANPASSUNG
3.3 VULNERABILITÄT
3.4 RESILIENZ
3.5 VERKNÜPFUNG VON ANPASSUNG, VULNERABILITÄT UND RESILIENZ
3.6 SOZIALKAPITAL
3.7 UMGANG MIT NATUREREIGNISSEN IN SLUMS
3.8 QUINTESSENZEN AUS DEN THEORETISCHEN BETRACHTUNGEN FÜR DIE VORLIEGENDE ARBEIT
3.9 BEITRAG DIESER ARBEIT AN ERGÄNZENDEN ERKENNTNISSEN
4 EINFÜHRUNG IN DAS FALLBEISPIEL: SLUMS IN DHAKA
4.1 URBANISIERUNG IN BANGLADESCH
4.2 MEGASTADT DHAKA
4.3 INFORMALITÄT IN DHAKA
4.4 NATUREREIGNISSE IN BANGLADESCH UND DHAKA
4.5 ÜBERSCHWEMMUNGEN IN BANGLADESCH UND DHAKA
4.6 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS AUF BANGLADESCH
4.7 HYPOTHESEN UND KONKRETE FRAGESTELLUNGEN
5 METHODIK – ERHEBUNG UND AUSWERTUNG DER DATEN
5.1 AUSWAHL DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE
5.2 DURCHFÜHRUNG DER QUANTITATIVEN ERHEBUNG
5.3 DURCHFÜHRUNG DER QUALITATIVEN INTERVIEWS
5.4 BEGLEITENDE FORSCHUNGSTÄTIGKEITEN
5.5 ANMERKUNGEN ZU DEM FORSCHUNGSUMFELD
5.6 GRENZEN DES FORSCHUNGSDESIGNS UNDDES DATENMATERIALS
6 DIE GEGENWART DER HAUSHALTE IN DEN SLUMS VON DHAKA
6.1 SLUMS: ORTE DER VERZWEIFLUNG UND DER MÖGLICHKEITEN
6.2 AKTUELLE SITUATION DER SLUM-HAUSHALTE IN DHAKA
6.3 ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVEN IN SLUMS VON DHAKA
6.4 ZWISCHENFAZIT: DAS ALLTÄGLICHE LEBEN DER SLUM-HAUSHALTE
7 SCHWERE ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS VON DHAKA
7.1 AUSMASSE SCHWERER ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS VON DHAKA
7.2 AUSWIRKUNGEN SCHWERER ÜBERSCHWEMMUNGEN AUF DIE HAUSHALTE
7.3 BEWÄLTIGUNGSMASSNAHMEN
7.4 VULNERABILITÄT DER HAUSHALTE
7.5 ZWISCHENFAZIT: ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS
7.6 AUSWIRKUNGEN UND BEWÄLTIGUNG VON ZUKÜNFTIGEN ÜBERSCHWEMMUNGEN
8 AUSWIRKUNGEN VON NATUREREIGNISSEN UND DES KLIMAWANDELS AUF DIE SLUMS IN DHAKA
8.1 WIE WIRKEN SICH NATUREREIGNISSE AUF DIE HAUSHALTE IN SLUMS AUS?
8.2 POTENTIAL DER BEWÄLTIGUNGSMASSNAHMEN
8.3 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS AUF DIE RESSOURCEN UND BEWÄLTIGUNGSFÄHIGKEIT DER SLUM-HAUSHALTE – RESILIENZ UND ROBUSTE ANPASSUNG
9 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS AUF DIE ENTWICKLUNG DER SLUM-HAUSHALTE: FAZIT UND AUSBLICK
9.1 BEANTWORTUNG DER ZENTRALEN FRAGESTELLUNG
9.2 KONZEPTIONELLER BEITRAG DER ARBEIT UN DHANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR DIE ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
9.3 ÜBERTRAGBARKEIT DER UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE AUF ANDERE MEGASTÄDTE
9.4 OFFENE FORSCHUNGSFRAGEN
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG: FOTOS AUS DEN UNTERSUCHUNGSGEBIETEN
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Klimawandel und Resilienz in Bangladesch: Die Bewältigung von Überschwemmungen in den Slums von Dhaka
 9783515107860

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Tibor Aßheuer

Klimawandel und Resilienz in Bangladesch Die Bewältigung von Überschwemmungen in den Slums von Dhaka

Geographie

Megacities and Global Change Megastädte und globaler Wandel

Franz Steiner Verlag

Band 14

Tibor Aßheuer Klimawandel und Resilienz in Bangladesch

megacities and global change megastädte und globaler wandel herausgegeben von Frauke Kraas, Martin Coy, Peter Herrle und Volker Kreibich Band 14

Tibor Aßheuer

Klimawandel und Resilienz in Bangladesch Die Bewältigung von Überschwemmungen in den Slums von Dhaka

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung: „Waterlogging“ in Hazaribag 1, Dhaka, Bangladesch, September 2010 © Tibor Aßheuer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2014 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Satz: Alexander D. Djurić Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10786-0 (Print) ISBN 978-3-515-10798-3 (E-Book)

Meiner Frau Doris und den vielen Bangladescherinnen und Bangladeschern, die mir bereitwillig Auskunft gaben.

Diese Monographie ist eine von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommene Dissertation. Die Abschlussprüfung fand am 12. Dezember 2012 unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Alexandra Budke statt. Die Referenten waren Prof. Dr. Boris Braun (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Clemens Simmer (Universität Bonn). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) übernahm dankenswerterweise einen Teil der Herstellungskosten dieses Buches.

DANKSAGUNG Mein besonderer Dank geht an die zahlreichen Slum-BewohnerInnen*1in Dhaka, die uns ihre Zeit schenkten und geduldig und ausführlich auf die für sie nicht dringlich erscheinenden Fragen antworteten. Von Herzen hoffe ich, dass ihre Zukunft besser sein wird, als in dieser Arbeit dargestellt. Die vorliegende Arbeit wurde an der Universität zu Köln im Fach Kulturgeographie als Dissertation im Dezember 2012 angenommen. Für die konstruktive, umsichtige Begleitung der Forschung und Betreuung möchte ich Prof. Dr. Boris Braun aufrichtig danken. Prof. Dr. Clemens Simmer danke ich für die inspirierende Projekt-Kooperation und die Übernahme der Zweitbegutachtung. Unseren Projektpartnern in Bangladesch, vor allem Prof. Dr. Raquib Ahmed und Prof. Dr. AZM Shoeb, bin ich für das außergewöhnliche Engagement und die Unterstützung in Bangladesch tief verbunden. Ebenso denke ich mit Dankbarkeit an den Einsatz und die Ausdauer der bangladeschischen Studenten, wobei insbesondere Sk. Tanzer Ahmed Siddique durch seine Art und sein Organisationsgeschick die Feldarbeit zu weiten Teilen ermöglicht hat. Die Zusammenarbeit mit Insa Thiele-Eich bereicherte mich inhaltlich erheblich und ich bedanke mich für ihre Geduld mit einem Nicht-Meteorologen und die gemeinsame Arbeit. Diese Dissertation ist aus dem Forschungsprojekt „DhakaHazard“ entstanden, welches Teil des von der DFG finanzierten SPP-1233 „Megacities-Megachallenge“ ist. Ich danke der DFG für die Ermöglichung der Forschungsarbeit. Den Projektverantwortlichen und ganz besonders dem Koordinator Harald Sterly danke ich für die vorbildliche Organisation, den außergewöhnlichen wissenschaftlichen Rahmen und die motivierende Struktur des Forschungsprogramms. Die gleichzeitige Tätigkeit in Dhaka und das gemeinsame Ziel schufen einen Ort der gegenseitigen Inspiration. Mein ausgesprochener Dank geht an Prof. Dr. Alexander Krämer und Mobarak Hossain Khan für den vertrauensvollen Austausch der Daten und Inhalte. Ebenso bedanke ich mich bei Benjamin Etzold, Markus Keck, Kirsten Hackenbroch, Shahadat Hossain, Oliver Grübner, Katrin Burkart, Ronny Staffeld, Joseph Strasser, Tabea Bork-Hüffer, Sabine Beißwenger, Pamela Hartmann, Heiko Jahn, Anna Lena Bercht und Susanne Meyer für die guten, hilfreichen Gespräche und die gemeinsame Zeit. Ich möchte mich auch bei Annika Salingre sehr für die ausgezeichnete Projektnachfolge und die tatkräftige und wertvolle Unterstützung bei der Projektarbeit und der Dissertation bedanken.

*

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Bezeichnungen im Folgenden verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnnungen gelten für beide Geschlechter.

8 Meinen Arbeitskollegen am Geographischen Institut der Universität zu Köln danke ich für die zahllosen Aufmunterungen und die guten Arbeitsbedingungen. Vor allem an die Unterstützung von Christian Dietsche, Nicole Reps, Anke Schüttemeyer, Amelie Bernzen, Innocent Forba, Kerstin Humberg, Fabian Sonnenburg, und Claudia Wunsch denke ich sehr gerne zurück. Ich bedanke mich bei Frau Henkel und Frau Schäfer vom Team des Franz Steiner Verlags für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Buches und bei Walter Gruber und Regine Spohner für die Überarbeitung der Abbildungen. Für die ausführlichen Korrekturen und Verbesserungsvorschläge danke ich meinem Vater, meinem Schwiegervater, Christian Fähndrich, Janina Glatzeder und Sabine Eckert. Schließlich gilt mein großer Dank Doris, für ihr Verständnis und ihre große Geduld. Ebenso danke ich meinen Eltern und meinen Geschwistern für die geduldige Unterstützung sowie meiner Schwiegerfamilie für ihr Vertrauen und ihre Zuneigung.

ZUSAMMENFASSUNG Der Klimawandel bedroht in besonderer Weise Slum-Bewohner in Megastädten. Aufgrund der zunehmenden Informalität und der hohen Vulnerabilität der SlumBevölkerung scheint dabei eine Anpassung an den Klimawandel unwahrscheinlich. Durch die Massenmedien verstärkt, entsteht ein Mythos der Perspektivlosigkeit. Dieses Buch hinterfragt diesen Mythos und erweitert die Überlegungen zur Anpassung an den Klimawandel auf die sozioökonomischen Entwicklungsperspektiven der Slum-Haushalte. Die Studie ergänzt die Vulnerabilitätsanalysen durch Resilienzuntersuchungen und lenkt den Fokus auf die Handlungsfähigkeit der Betroffenen. Anhand des Beispiels schwerer Überschwemmungen in der Megastadt Dhaka untersucht diese Arbeit die Fähigkeit der Slum-Haushalte, ernste Krisen kurzfristig zu bewältigen und sich langfristig an den Klimawandel anzupassen. Die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Befragungen zeigen, dass die Slum-Haushalte sehr wahrscheinlich auch in Zukunft in der Lage sein werden, schwere Naturereignisse kurzfristig zu bewältigen. Informelle Strukturen und das Sozialkapital sind in den Slums fest verankert und lassen ein flexibles, reaktives Handeln während extremer Krisen erwarten. In gewisser Weise sind die Haushalte in der Lage, sich „robust“ anzupassen. Allerdings führen die Bewältigungsmaßnahmen langfristig zu einer Verschuldung der Haushalte. Im Zusammenhang mit den indirekten Auswirkungen des Klimawandels reduzieren sich die Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte beträchtlich. Eine Entwicklung hin zu besseren Lebensbedingungen ist aus Sicht der durchgeführten Untersuchungen nicht zu erkennen. Aufgrund der fehlenden Entwicklungsperspektiven ist davon auszugehen, dass Slum-Haushalte durch den Klimawandel zunehmend in den Slums „gefangen“ bleiben. Nationale und internationale Geberorganisationen könnten dem entgegenwirken, indem sie die Haushalte in ihrer Fähigkeit zur Selbst-Organisation verstärkt unterstützen.

ABSTRACT Climate change poses a significant threat to slum dwellers in megacities. Adaptation to climate change is rather unlikely due to increasing informality and slum dwellers' acute vulnerability. The mass media, in particular, creates a myth that the urban poor have a bleak future. This study critically examines this myth and extends the approach of adaptation to climate change to include slum households' socioeconomic development perspectives. In addition, it examines resilience to the well-established analysis of vulnerability and broadens the focus of the research on the ability to respond during a crisis. Using the example of extreme flooding in the megacity of Dhaka, this study scrutinizes the slum households' short term coping mechanisms in severe crisis and long term adaptation to climate change. The results of the quantitative and qualitative survey show that the slum households are likely to endure impending floods forecast to occur more frequently and with greater severity. Informal structures and social capital are deeply embedded and will allow the slum households to deal flexibly with a severe crisis. In a sense the slum households are found to be „robust“ adaptive. However, these coping measures will leave the household immersed in continual debt. In conjunction with the indirect effects of climate change this debt is likely to reduce the slum households' livelihood assets substantially. This study does not suggest the long-term development of better living standards. The lack of development perspective seems to result in an entrapment of households in slums due to climate change. National and international organizations should increase their focus on supporting the slum households’ capacity to self-organize in order to prevent this entrapment.

INHALTSVERZEICHNIS ZUSAMMENFASSUNG ........................................................................................9 ABSTRACT ..........................................................................................................10 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...........................................................................15 TABELLENVERZEICHNIS ................................................................................17 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .........................................................................21 VERZEICHNIS DER LOKALEN BEGRIFFE UND NAMEN ..........................23 1

EINLEITUNG..............................................................................................25

1.1 1.2

Problemaufriss und Fragestellung................................................................25 Aufbau der Arbeit ........................................................................................29

2

RAHMENBEDINGUNGEN FÜR SLUM-HAUSHALTE IN MEGASTÄDTEN........................................................................................31

2.1

Leben in Megastädten in Entwicklungsländern: Risikogebiete und ............... Regionen der Möglichkeiten ........................................................................31 2.1.1 Megastädte als Problemregionen .........................................................32 2.1.2 Potentiale von Megastädten .................................................................33 2.2 Informalität ..................................................................................................33 2.3 Marginalsiedlungen, Slums..........................................................................35 2.4 Auswirkungen des Klimawandels................................................................38 2.4.1 Globale Auswirkungen des Klimawandels ..........................................38 2.4.2 Auswirkungen des Klimawandels auf Megastädte ..............................41 3 3.1 3.2 3.3 3.4

KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN ......................................................43 Entwicklung .................................................................................................43 Anpassung ....................................................................................................45 Vulnerabilität................................................................................................46 Resilienz.......................................................................................................50 3.4.1 Bewältigungsfähigkeit („capacity to cope“) ........................................51 3.4.2 Lernfähigkeit („capacity to learn“) ......................................................54 3.4.3 Fähigkeit zur Selbst-Organisation („capacity to self-organize“) .........54

12

Inhaltsverzeichnis

3.5 3.6

Verknüpfung von Anpassung, Vulnerabilität und Resilienz.........................55 Sozialkapital.................................................................................................56 3.6.1 Entstehungsgeschichte des Begriffs .....................................................56 3.6.2 Klassische Ansätze nach Bourdieu, Coleman und Putnam ..................58 3.6.3 Aktuelle Entwicklungen im Sozialkapital-Konzept .............................68 3.6.4 Messung von Sozialkapital ..................................................................75 3.6.5 Wirkungen von Sozialkapital ...............................................................77 3.6.6 Zusammenfassung: Konzeption von Sozialkapital in dieser Arbeit ....84 3.7 Umgang mit Naturereignissen in Slums ......................................................86 3.8 Quintessenzen aus den theoretischen Betrachtungen für die vorliegende Arbeit ........................................................................................89 3.9 Beitrag dieser Arbeit an ergänzenden Erkenntnissen ...................................90 4

EINFÜHRUNG IN DAS FALLBEISPIEL: SLUMS IN DHAKA ..............93

4.1 4.2 4.3

Urbanisierung in Bangladesch .....................................................................93 Megastadt Dhaka..........................................................................................95 Informalität in Dhaka ...................................................................................98 4.3.1 Informeller Sektor – informelle Beschäftigung ...................................98 4.3.2 Informelle Siedlungen – Slums ............................................................99 4.4 Naturereignisse in Bangladesch und Dhaka ..............................................107 4.4.1 Physiogeographische Voraussetzungen ..............................................108 4.4.2 Extreme Naturereignisse in Bangladesch und ihre Relevanz für Dhaka .................................................................................................111 4.5 Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka......................................113 4.5.1 Ursachen für Überschwemmungen ....................................................114 4.5.2 Auswirkungen von Überschwemmungen auf Dhaka .........................116 4.5.3 Umgang mit Überschwemmungen in Slums von Dhaka ...................120 4.6 Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch ..................................123 4.6.1 Zeitliche Veränderungen von Überschwemmungen in Bangladesch .......................................................................................126 4.6.2 Prognosen zu zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels ...........129 4.6.3 Direkte Auswirkungen des Klimawandels für die Bevölkerung in ....... Bangladesch .......................................................................................131 4.6.4 Indirekte Auswirkungen des Klimawandels auf Dhaka .....................133 4.7 Hypothesen und konkrete Fragestellungen ................................................134 5 5.1 5.2

METHODIK – ERHEBUNG UND AUSWERTUNG DER DATEN........137 Auswahl der Untersuchungsgebiete ...........................................................139 Durchführung der quantitativen Erhebung.................................................140 5.2.1 Datenerhebung ...................................................................................140 5.2.2 Datenauswertung................................................................................142

Inhaltsverzeichnis

13

5.3

Durchführung der qualitativen Interviews .................................................144 5.3.1 Datenerhebung ...................................................................................144 5.3.2 Datenauswertung................................................................................145 5.4 Begleitende Forschungstätigkeiten ............................................................146 5.5 Anmerkungen zu dem Forschungsumfeld .................................................146 5.6 Grenzen des Forschungsdesigns und des Datenmaterials ..........................147 6

DIE GEGENWART DER HAUSHALTE IN SLUMS VON DHAKA......151

6.1

Slums: Orte der Verzweiflung und Möglichkeiten ....................................151 6.1.1 Gründe für das Verlassen der Herkunftsregion ..................................152 6.1.2 Gründe, in Dhaka und in Slums zu leben ..........................................152 6.2 Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka .....................................154 6.2.1 Überblick über die Untersuchungsgebiete .........................................154 6.2.2 Die Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte ......................................157 6.2.3 Zusammenhänge zwischen den Lebensgrundlagen ..........................181 6.3 Entwicklungsperspektiven in Slums von Dhaka ........................................183 6.3.1 Entwicklungsperspektiven aus Sicht der befragten Slum-Bewohner .................................................................................183 6.3.2 Rückschlüsse aus der Verweildauer des Haushaltsvorstandes ...........185 6.4 Zwischenfazit: Das alltägliche Leben der Slum-Haushalte .......................187 7 7.1 7.2

SCHWERE ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS VON DHAKA .....189

Ausmaße schwerer Überschwemmungen in Slums von Dhaka.................189 Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Haushalte.............190 7.2.1 Auswirkungen auf das Humankapital: Gesundheitssituation der Slum-Haushalte ..................................................................................191 7.2.2 Auswirkungen auf das physische Kapital ..........................................192 7.2.3 Auswirkungen auf das Finanzkapital .................................................193 7.2.4 Auswirkungen auf das Sozialkapital ..................................................194 7.2.5 Behinderung der Entwicklungsperspektiven durch Überschwemmungen .........................................................................194 7.3 Bewältigungsmaßnahmen ..........................................................................197 7.3.1 Strukturelle Maßnahmen der Haushalte, NGOs und des Staates .......197 7.3.2 Nicht-strukturelle Maßnahmen des Staates und der NGOs ...............199 7.3.3 Nicht-strukturelle Bewältigungsmaßnahmen der Haushalte..............202 7.3.4 Bewertung der Bewältigungsmaßnahmen..........................................211 7.4 Vulnerabilität der Haushalte.......................................................................213 7.4.1 Exposition ..........................................................................................216 7.4.2 Empfindlichkeit ..................................................................................217 7.4.3 Resilienz .............................................................................................218 7.5 Zwischenfazit: Überschwemmungen in Slums ..........................................223

14

Inhaltsverzeichnis

7.6

Auswirkungen und Bewältigung von zukünftigen Überschwemmungen..224 7.6.1 Veränderungen von Überschwemmungen in Slums aufgrund des .......... Klimawandels.....................................................................................225 7.6.2 Zukünftige Überschwemmungen aus Perspektive der Slum-Haushalte ..................................................................................225 7.6.3 Die Veränderung der Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte ...........227

8

AUSWIRKUNGEN VON NATUREREIGNISSEN UND DES KLIMAWANDELS AUF DIE SLUMS IN DHAKA ................................231

8.1 8.2 8.3

Wie wirken sich Naturereignisse auf die Haushalte in Slums aus? ...........232 Potential der Bewältigungsmaßnahmen .....................................................233 Auswirkungen des Klimawandels auf die Ressourcen und Bewältigungsfähigkeit der Slum-Haushalte – Resilienz und robuste Anpassung ..................................................................................................236

9

AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS AUF DIE ENTWICKLUNG DER SLUM-HAUSHALTE: FAZIT UND AUSBLICK .....................................................................................239

9.1 9.2

Beantwortung der zentralen Fragestellung ................................................239 Konzeptioneller Beitrag der Arbeit und Handlungsempfehlungen für die Entwicklungszusammenarbeit ........................................................242 Übertragbarkeit der Untersuchungsergebnisse auf andere Megastädte ...............................................................................246 Offene Forschungsfragen ...........................................................................248

9.3 9.4

LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................251 ANHANG: FOTOS AUS DEN UNTERSUCHUNGSGEBIETEN .......................................275

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Zusammenhang von Klimawandel, Krise und Vulnerabilität .......................................................... 40 Abb. 2: Das Modell der Vulnerabilität nach Turner et al. (2003) ................................................................. 49 Abb. 3: Zusammenhänge zwischen den Ressourcen, Hilfsleistungen und Strukturen des Sozialkapitals ................................................................................................................................... 85 Abb. 4: Zusammenfassende Darstellung der Konzepte zur Vulnerabilität und Resilienz, wie sie in der vorliegenden Arbeit verwendet werden ........................................................................................... 90 Abb. 5: Das Einzugsgebiet des Ganges, Brahmaputra und Meghna ....................................................... 111 Abb. 6: Anteil der überschwemmten Landesfläche in Bangladesch in den Jahren 1954 bis 2010 ............ 127 Abb. 7: Lage der fünf Untersuchungsgebiete in Dhaka ............................................................................. 138 Abb. 8: Hauptgründe für den Zuzug in den Slum ......................................................................................153 Abb. 9: Verteilung der Altersgruppen auf Haushaltsebene. Dargestellt ist der Prozentsatz der Haushalte, die mindestens eine Person in der Altersgruppe aufweisen ........................................168 Abb. 10: Dauer, bis nach der Überschwemmung ein alltägliches Leben wiederhergestellt wurde .............195 Abb. 11: Verwendung der Kredite während der letzten schweren Überschwemmung ...............................204 Abb. 12: Dauer der Kreditrückzahlung für Kredite bis zu BDT 5.000 und über BDT 5.000 ......................205 Abb. 13: Hilfsleistungen, die während der letzten schweren Überschwemmung von den Haushalten erhalten wurden .............................................................................................................................207 Abb. 14: Geber der Hilfsleistungen während der letzten schweren Überschwemmung ..............................207

16

Abbildungsverzeichnis

Abb. 15: Anzahl der verwendeten Bewältigungsmaßnahmen während der letzten schweren Überschwemmung. Berücksichtigt wurden der Erhalt von Soforthilfe oder Hilfsleistungen, die Aufnahme eines Kredits oder Sachdarlehen ............................................................................211 Abb. 16: Streudiagramm mit Interpolationslinie. Dargestellt sind die Höhe des Hochwassers und die Notwendigkeit, die Unterkunft zu verlassen . ..........................................................................217 Abb. 17: Ausprägungen von Sozialkapital in Dhakas Slums .......................................................................234 Abb. 18: Rückkoppelung zwischen Armut und Vulnerabilität mit Hinweisen auf die Wirkungen des Klimawandels . ........................................................................................................................241 Abb. 19: Rückkoppelung zwischen der Informalität und Vulnerabilität ......................................................241 Abb. 20: Rückkoppelung der fehlenden Entwicklung in Zusammenhang mit Naturereignissen .................241 Abb. 21: Die Bedeutung des Konzepts der Resilienz in der Entwicklungsforschung .................................243 Abb. 22: Konsolidierter Slum-Cluster in Dakshingaon ...............................................................................277 Abb. 23: Ein sozioökonomisch schwacher Slum-Cluster in Goda Tek .......................................................278 Abb. 24: Pfahlbauten in Hazaribag 1 ............................................................................................................279 Abb. 25: Slum-Hütten in Hazaribag 2 .........................................................................................................280 Abb. 26: Eingang zu einem Slum-Cluster in Khilket ..................................................................................281 Abb. 27: Gasse in Maghbazar .......................................................................................................................282 Abb. 28: „Waterlogging“ in Hazaribag 1 .....................................................................................................283 Abb. 29: Tragbarer Tonofen in Hazaribag 1 ................................................................................................284 Abb. 30: Erhöhte Türschwelle in Hazaribag 2 .............................................................................................285

TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1: Übersicht über die Leitfragen und deren Umsetzung ............................................................ 27 Tab. 2: Schadensstufen von Krisen. Modelle nach Burton (1993) und Corbett (1988), angewandt auf den Umgang von Haushalten mit Krisen ....................................................... 52 Tab. 3: Kapitalformen und ihre Ausprägungen .................................................................................. 53 Tab. 4: Wirkungen von Sozialkapital auf Aspekte der Entwicklung ................................................ 78 Tab. 5: Slum-Bevölkerung und Anzahl der Slum-Cluster in Dhaka (DMA) in den Jahren zwischen 1974 und 2005 ..................................................................................................... 100 Tab. 6: Spezifische Naturgefahren und ihre Wirkungen auf die Bevölkerung ................................ 108 Tab. 7: Entstehung und Ausmaße der Überschwemmungen 1988, 1998, 2004 und 2007 in Dhaka .................................................................................................................................. 118 Tab. 8: Auswirkungen der Überschwemmungen 1988, 1998, 2004 und 2007 auf Dhaka .............. 119 Tab. 9: Liste der verwendeten Primär- und Sekundärstudien zu Bewältigungsmaßnahmen in Dhaka und Bangladesch .................................................................................................. 124 Tab. 10: Literatur zu Auswirkungen des Klimawandels auf Südasien, Bangladesch und Dhaka ..... 128 Tab. 11: Leitfragen und konkrete Forschungsfragen, die den Rahmen für diese Arbeit bilden ....... 136 Tab. 12: Gegenüberstellung der fünf Untersuchungsgebiete ............................................................ 141 Tab. 13: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen physischen Kapitals in Slum-Haushalten ................................................................................................................. 162 Tab. 14: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Finanzkapitals in Slum-Haushalten .................................................................................................................. 165

18

Tabellenverzeichnis

Tab. 15: Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten nach physischen und beruflichen Charakteristika ................................................................................................. 166 Tab. 16: Bildungsniveau der Haushalte in den Untersuchungsgebieten ........................................... 170 Tab. 17: Charakteristika der Haushaltsvorstände in Abhängigkeit ihres ausgeübten Berufes .......... 171 Tab. 18: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Humankapitals in Slum-Haushalten .................................................................................................................. 174 Tab. 19: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Sozialkapitals in Slum-Haushalten .................................................................................................................. 180 Tab. 20: Variablen, die in die Clusterzentrenanalyse einfließen ....................................................... 181 Tab. 21: Auszüge aus den Ergebnissen der Kreuztabellen zwischen den Clustern des Sozialkapitals und Variablen, die als Indikator für Sozialkapital dienen ............................ 182 Tab. 22: Mittelwertvergleich zwischen Haushalten, die angeben, sie würden den Slum innerhalb der nächsten zwölf Monate verlassen bzw. nicht verlassen, in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts des Haushaltsvorstandes ........................................................... 184 Tab. 23: Mittelwertvergleich zwischen der Verweildauer und dem Wohnort der meisten Verwandten ......................................................................................................................... 185 Tab. 24: Mittelwertvergleich der Baumaterialien und der Verweildauer des Haushaltsvorstandes in dem Slum ...................................................................................... 186 Tab. 25: Korrelationsmaße zwischen der Verweildauer und dem Einkommen des Haushaltsvorstandes und dem Haushaltseinkommen ......................................................... 186 Tab. 26: Wiederkehrintervall von Hochwasser in den Hütten der befragten Haushalte und Informationen zu den genannten Jahren der letzten großen Überschwemmung nach Untersuchungsgebiet .................................................................................................. 190 Tab. 27: Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Slum-Haushalte ............................ 195 Tab. 28: Ausführungen zu den Kreditgebern während oder kurz nach der letzten schweren Überschwemmung ............................................................................................................... 203

Tabellenverzeichnis

19

Tab. 29: Bewältigungsmaßnahmen der Slum-Haushalte während schwerer Überschwemmungen ........................................................................................................... 210 Tab. 30: Mittelwertvergleiche zur Anzahl der verwendeten Bewältigungsmaßnahmen und den Ausmaßen der letzten schweren Überschwemmung sowie dem Haushaltseinkommen .......................................................................................................... 212 Tab. 31: Gegenüberstellung der Gruppen der „sehr vulnerablen Haushalte“ und der „weniger vulnerablen Haushalte“ ....................................................................................................... 214 Tab. 32: Auflistung der Variablen des binären logistischen Regressionsmodells ............................. 214 Tab. 33: Ergebnisse des binären logistischen Modells ...................................................................... 215 Tab. 34: Mittelwertvergleiche der Höhe und der Dauer des Hochwassers zwischen den Vulnerabilitätsgruppen ........................................................................................................ 217 Tab. 35: Vergleiche der Bildung, des Landeigentums und des Einkommens des Haushaltsvorstandes zwischen den sehr und weniger vulnerablen Haushalten ................................................... 218 Tab. 36: Vergleiche zwischen den sehr und weniger vulnerablen Haushalten in Bezug auf den Erhalt von Krediten, Hilfsleistungen und Sachdarlehen ................................................................ 219 Tab. 37: Mittelwertvergleich zwischen unterschiedlichen Erwerbstätigkeiten und der durchschnittlichen Unterbrechungsdauer aufgrund der Überschwemmung ....................... 220

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ASSB

Aloha Social Service Bangladesh

BDT

Bangladeshi Taka

Bangladeschische Währung. Wechselkurs (Stand 2009): 1 Euro ca. BDT 100

BWDB

Bangladesh Water Development Board

Staatliche Behörde für die Verwendung von Wasser und Schutz vor Überschwemmungen

CNG

Compressed Natural Gas

Dreirädrige, motorbetriebene Kleintaxis, die mit Erdgas betrieben werden

CUS

Centre for Urban Studies

Forschungseinrichtung in Dhaka

DAP

Detailed Area Plan

Stadtentwicklungsplan für Dhaka und Umgebung

DCC

Dhaka City Corporation

Verwaltung der Stadt Dhaka. Bezeichnet auch das Stadtgebiet

DESA

Dhaka Electricity Supply Authority

Behörde für Elektrizitätsversorgung in Dhaka

DMA

Dhaka Metropolitan Area

Bezeichnung für das erweiterte Stadtgebiet Dhakas

DMDP

Dhaka Metropolitan Development Plan

Stadtentwicklungsplan für das erweiterte Stadtgebiet Dhakas

DSK

Dushtha Shasthya Kendra

NGO, die seit 1988 in den Slums von Dhaka Entwicklungshilfe betreibt

DWASA

Dhaka Water and Supply Authority

Behörde für Wasserversorgung in Dhaka

ENSO

El Nino Southern Oscillation

Koppelung der Windzirkulation mit der Ozeanströmung im Pazifik

GBM

Ganges, Brahmaputra, Meghna

Abkürzung für die drei Flüsse, meist im Zusammenhang mit dem gesamten Einzugsgebiet Bangladeschs

ICDDRB

International Centre for Diarrhoeal Disease Research, Bangladesh

Weltweit führende Forschungseinrichtung für die Bekämpfung von Durchfallerkrankungen

IPCC

International Panel on Climate Change

Weltklimarat (gegründet von den Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Meteorologie)

NDBUS

Nagar Daridra Basteebashir Unnayan Sangstha

NGO, die sich in Dhaka für Slum-Bewohner engagiert

Bangladeschische NGO mit Sitz in Dinajpur

22

Abkürzungsverzeichnis

NGO

Non-Governmental Organisation

Nicht-Regierungsorganisation (hier meist zivilgesellschaftliche Organisation für Entwicklungszusammenarbeit)

PRECIS

Providing Regional Climate for Impact Studies

Klimamodelle für regionale Auswirkungen des Klimawandels auf Temperatur und Niederschlag in den Jahren 2030, 2050 und 2070

RAJUK

Rajdhani Unnayan Kartripakkha

Städtische Planungsbehörde für Dhaka (DMDP)

UNDP

United Nations Development Programme

Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen

WSUP

Water & Sanitation for the Urban Poor

Internationale NGO in Dhaka

WWF

World Wildlife Fund

Internationale Naturschutzorganisation

VERZEICHNIS DER LOKALEN BEGRIFFE UND NAMEN Baby Taxi

Dreirädrige Taxis mit Zweitaktmotoren. Seit 2006 verboten und durch CNG-Taxis ersetzt

Balu

Fluss, der das erweiterte Stadtgebiet Dhakas (DMA) im Osten abgrenzt

Banani

Stadtteil von Dhaka, in dem vorrangig wohlhabende Personen leben

Barisal

Region im Süden Bangladeschs

Betel

Pflanze, deren Nüsse und Blätter in Südasien wegen der betäubenden Wirkung oft gekaut werden

Bhola

Name einer Insel an der Küste Bangladeschs, die von Zyklonen und Flusserosion stark betroffen ist

Bishoroad

Eine Hauptstraße in Dakshingaon

Buriganga

Fluss, der Dhaka im Süden und Westen abgrenzt

Char

Schwemmlandinsel

Chula

Tragbarer Tonofen zum Kochen

Dakshingaon

Eines der befragten Untersuchungsgebiete. Befindet sich im Südosten Dhakas

Dinajpur

Stadt im Nordwesten Bangladeschs

Gabtoli

Gebiet in Mirpur, im Westen von Dhaka

Goda Tek

Eines der befragten Untersuchungsgebiete. Befindet sich im Westen Dhakas

Gulshan

Stadtteil von Dhaka, in dem vorrangig wohlhabende Personen leben

Hazaribag

Eines der befragten Untersuchungsgebiete. Befindet sich im Südwesten Dhakas

Karail

Gebiet, zentral in Dhaka gelegen, das den größten Slum beherbergt

Khilket

Eines der befragten Untersuchungsgebiete. Befindet sich im Norden Dhakas

Kishoreganj

Distrikt, 80 km nördlich von Dhaka

Kutcha

Minderwertige Baumaterialien

Lakh

Steht für 100.000 (5 lakh = 500.000)

24

Verzeichnis der lokalen Begriffe und Namen

Madaripur

Distrikt, 50 km südlich von Dhaka

Maghbazar

Eines der befragten Untersuchungsgebiete. Befindet sich im Zentrum Dhakas

Mahakhali

Zentraler Stadtteil von Dhaka

Mallik

Besitzer, Eigentümer

Mess

Schlafunterkunft in Slums für Arbeiter

Mirpur

Stadtteil von Dhaka, im Westen von Dhaka

Pucca

Dauerhafte Baustruktur von Häusern. Meist Zement, Beton

Puja

Fest der Hindus

Rikscha/rickshaw

Dreirädrige Fahrräder zur Personenbeförderung

Shitalakhya

Fluss, der im Osten des RAJUK liegt und das erweiterte Stadtgebiet Dhakas (DMA) nach Süd-Osten abgrenzt

Sundarbans

Mangrovenwald an der Küste von Bangladesch

Syedabad

Gebiet im Süden der Altstadt Dhakas

Taka

Umgangsprachlich für die bangladeschische Währung (offiziell: BDT)

Tongi

Fluss, der das erweiterte Stadtgebiet Dhakas (DMA) im Norden abgrenzt und in den Turag mündet

Turag

Fluss, der das erweiterte Stadtgebiet Dhakas (DMA) im Westen abgrenzt und in den Buriganga mündet

WaterAid

Internationale NGO mit Sitz in London

1. EINLEITUNG 1.1 PROBLEMAUFRISS UND FRAGESTELLUNG Die rasche Urbanisierung vor allem in Asien und in Afrika führt zu rasch anwachsenden Großstädten (vgl. United Nations 2012b). Dabei entstehen immer mehr Städte mit deutlich mehr als zehn Millionen Einwohnern, sog. Megastädte. Die nationale Rolle dieser Megastädte ist kaum zu überschätzen. Sie sind maßgebliche Orte der politischen sowie wirtschaftlichen Macht und wesentlicher Arbeitsort sowohl der nationalen Elite als auch der armen Migranten aus ländlichen Regionen. Gleichzeitig sind sie Auslöser und Ergebnis wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklungen des Landes (vgl. Birkmann et al. 2010: 186). Das rasante Wachstum trägt einen erheblichen Teil dazu bei, dass diese Megastädte kaum mehr regier-, steuer- oder planbar sind. Aufgrund des Bevölkerungsdrucks sind zudem immer mehr Menschen gezwungen, in Ungunstlagen (z.B. an Uferböschungen oder entlang von Abwasserkanälen) zu siedeln (vgl. Mitchell 1999a, Satterthwaite 2011). Die Administrationen scheinen in den Megastädten der sog. Entwicklungsländer1 schon jetzt kaum in der Lage zu sein, zunehmende Disparitäten, die steigende Armut und die Probleme der Wasser- und Elektrizitätsversorgung in den Griff zu bekommen (vgl. Kraas & Mertins 2008, Satterthwaite 2011). Gleichzeitig stellen die Auswirkungen des Klimawandels für diese Städte aufgrund der oft exponierten Lage eine besondere Gefahr dar (vgl. Münchener Rück 2005, Gupta & Nair 2011). Eine Zunahme extremer Naturereignisse wie Dürren, Überschwemmungen oder Stürme bedrohen die Menschen der dicht besiedelten Großstädte existentiell. Durch den Mangel an Planungsfähigkeit und finanziellen Mitteln sind ausreichende Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel von den Entwicklungsländern nicht wahrscheinlich (vgl. Lahsen et al. 2010). Umso mehr scheinen sich die armen Bevölkerungsgruppen in Megastädten in einer aussichtslosen Lage zu befinden: Ausgerechnet jene, die am wenigsten zu den globalen CO2-Emissionen beitragen, haben die geringsten Möglichkeiten, sich gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen (vgl. Sanderson 2000). Es gibt zwar vermehrt Studien, die den Megastädten und auch der armen Bevölkerung eine hohe Fähigkeit zur Krisenbewältigung zusprechen (z.B. Anderson & Woodrow 1989, Cross 2001, Collier 2002, Kraas 2007, Mozumder et al. 2008). Zentrales Argument für das Potential der armen Bevölkerung ist die Dichte der sozialen Netzwerke und in weiterer Folge das Sozialkapital, welches eine Handlungsfähigkeit während Krisen ermöglicht. Dennoch wird vor allem in den Massenmedien oft ein Mythos der Perspektivlosigkeit verbreitet (vgl. Handmer 2003, IPU & UNISDR 2010: 8, United Nations 2011b: iv).

1

Der Begriff „Entwicklungsländer“ ist stark normativ unterlegt und deshalb nicht unproblematisch. In Ermangelung guter Alternativen und weil der Begriff allgemein verständlich ist, wird er in dieser Arbeit dennoch verwendet.

26

Einleitung

Das Ziel dieser Arbeit ist es, diesem Mythos nachzugehen und aufzuzeigen, inwiefern dieser bei den Menschen in den Slums2 von Dhaka zutrifft, aber auch, ob er möglicherweise zu kurz greift und die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Menschen vor Ort unterschätzt. Die geographische Risikoforschung und die geographische Entwicklungsforschung bringen für langfristige Perspektiven vor dem Hintergrund des Klimawandels die Konzepte der Entwicklung und der Anpassung in einen engen Zusammenhang. Entwicklung bezeichnet in der Regel die Transformation einer gegenwärtigen Situation hin zu einem „besseren“ Zustand. Anpassung bezeichnet die Fähigkeit einer Gruppe, sich so zu verändern, dass (zukünftige) Krisen bewältigt oder sogar Vorteile aus den Krisen gezogen werden können (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010). Der Klimawandel ist insofern als kritisch einzuschätzen, da er sich sowohl auf die Entwicklung als auch auf die Anpassung auswirkt (vgl. Dilley et al. 2005). Der Klimawandel wirkt in Form extremer Naturereignisse direkt auf die Betroffenen. Indirekt verändern die Auswirkungen die sozioökonomischen Strukturen und die Voraussetzungen für die Anpassungsfähigkeit (vgl. Tanner & Mitchell 2008). Der ResilienzAnsatz bietet eine Alternative zu diesen düsteren Aussichten. Indem die Widerstandsfähigkeit der Betroffenen und nicht die Ursachen für die Anfälligkeit in den Vordergrund der Analyse gestellt werden, ergibt sich ein Verständnis für die Handlungsfähigkeit während Krisen (vgl. Bohle 2008). Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Entwicklung der Haushalte in Slums in Megastädten aus? Die Auswirkungen des Klimawandels werden sich in kurzfristigen, wahrscheinlich heftigen Naturereignissen und langfristigen Veränderungen äußern (vgl. IPCC 2012). Insofern klärt die erste Leitfrage der Studie, wie sich Naturereignisse auf Haushalte in Slums auswirken (siehe Tab. 1). Mittels einer Analyse der Rahmenbedingungen, die in Slums im Hinblick auf Naturereignisse relevant sind, wird ein Verständnis dafür entwickelt, was die Haushalte in Slums anfällig macht (Vulnerabilität). Darüber hinaus werden Faktoren erarbeitet, welche die kurz- und langfristige Widerstandsfähigkeit stärken können (Resilienz). Hierfür werden die Handlungsstrategien während extremer Naturereignisse analysiert.

2

Slums bezeichnen ganz allgemein dicht bewohnte Siedlungen, die in einem schlechten baulichen Zustand sind und von armen Bevölkerungsschichten mit einem geringen Einkommen bewohnt werden (vgl. United Nations 2003a). Marginalsiedlungen sind der Überbegriff für degradierte Wohnsiedlungen. Diese lassen sich in „squatter“ und „slums“ unterteilen (vgl. Bähr & Mertins 2000). Ausführliche Erläuterungen in Kap. 2.3.

27

Problemaufriss und Fragestellung Tab. 1: Übersicht über die Leitfragen und deren Umsetzung.

Zentrale Fragestellung: Wie wirkt sich der Klimawandel auf die Entwicklung der Haushalte in Slums in Megastädten aus? Leitfragen

1. Wie wirken sich Naturereignisse auf Haushalte in Slums aus?

Umsetzung Analyse der Rahmenbedingungen, die Haushalte in Slums für Naturereignisse anfällig machen

Systemische Analysen der Handlungsstrategien der Haushalte in Slums während Naturereignissen 2. Wie sind die entscheidenden Bewältigungsmaßnahmen strukturiert? Wodurch sind sie wirkungsvoll?

3. Wie wirkt sich der Klimawandel auf die gegenwärtigen Bewältigungsmaßnahmen und die Anpassungsfähigkeit aus?

Analyse der Struktur von Sozialkapital und der Kreditvergabe in den Slums

Analyse der relevanten Auswirkungen des Klimawandels

Analyse der Implikationen für die Bewältigungsmaßnahmen und die Anpassungsfähigkeit

Ziel Verständnis der Wirkung von Naturereignissen auf die Rahmenbedingungen der Haushalte in Slums Verständnis der Vulnerabilität von Haushalten in Slums Verständnis der Handlungen von Haushalten in Slums während Naturereignissen Verständnis der Resilienz in Haushalten von Slums Konkrete Struktur von Sozialkapital und deren Komponenten Konkrete Praxis der Kreditvergabe in den Slums Systemisches Verständnis der Zusammenhänge der einzelnen zukünftigen Prozesse Verständnis von Wirkungen des Klimawandels auf die Rahmenbedingungen der Haushalte in Slums Verständnis von Wirkungen des Klimawandels auf die Handlungsfähigkeit der Haushalte in Slums Verständnis des Entwicklungspotentials der Haushalte in Slums

Die zweite Leitfrage fokussiert die wesentlichen Bewältigungsmaßnahmen und erörtert, wie diese strukturiert und wodurch sie wirkungsvoll sind. Im Detail wird auf das Sozialkapital und die Vergabe-Praxis von Kleinkrediten eingegangen, da die Aufnahme von Krediten und solidarische Hilfsleistungen sich als wichtige Bewältigungsmaßnahmen herauskristallisiert haben.

28

Einleitung

Die dritte Leitfrage thematisiert, wie zukünftige Klimaänderungen die gegenwärtigen Bewältigungsmaßnahmen und die Anpassungsfähigkeit der Haushalte in den Slums beeinflussen können. Dafür werden die zu erwartenden Auswirkungen des Klimawandels berücksichtigt und ein systemisches Verständnis dieser Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen und die Handlungsfähigkeit der Haushalte in Slums zugrunde gelegt. Durch die Implikationen für die Bewältigungs- und Anpassungsstrategien lässt sich somit die zentrale Frage beantworten, inwieweit sich der Klimawandel auf die Entwicklung der Haushalte in Slums auswirken wird. Die Entwicklungsperspektiven der Haushalte in Slums müssen v.a. vor dem Hintergrund der Informalität betrachtet werden (vgl. Biles 2008). Informelle Prozesse prägen den Alltag der Slum-Bewohner und stellen gleichermaßen Gefahren und Potential dar. Diese Gefahren und Potentiale beeinflussen die Entwicklung maßgeblich. Die Fragestellung wird anhand des Fallbeispiels der Slums in Dhaka empirisch erarbeitet. Dhaka eignet sich für die vorliegende Untersuchung aus mehreren Gründen: •







Dhaka ist verschiedenen Studien zufolge eine der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Städte der Welt (vgl. World Wildlife Fund 2009). Aufgrund der naturräumlichen Lage führen wahrscheinliche Veränderungen des Monsuns zu starken Überschwemmungen und Dürren in Bangladesch, die auch die Hauptstadt betreffen werden (vgl. Cruz et al. 2007). Außerdem wird eine Zunahme von Zyklonen im Golf von Bengalen befürchtet, deren Auswirkungen Dhaka ebenfalls betreffen können. Dhaka bietet sich für die Untersuchung von Informalität wegen des rasanten Stadtwachstums an. Das starke Bevölkerungswachstum des gesamten Landes in Verbindung mit zunehmender Migration in urbane Regionen führt zu einem Anstieg der Stadtbevölkerung in Dhaka von derzeit 2,5 Prozent pro Jahr (vgl. United Nations 2012b). Informelle Siedlungen (Slums) haben in Dhaka einen wichtigen Stellenwert. Sie beherbergen ungefähr die Hälfte der Stadtbevölkerung und stellen gleichzeitig bezahlbare Unterkünfte für die Arbeitskräfte dar, die das physische Wachstum der Stadt ermöglichen (vgl. Banks 2008). Erkenntnisse zur Megastadt Dhaka lassen sich durchaus auf andere Megastädte in Entwicklungsländern übertragen, weil Dhaka zwar Besonderheiten wie eine muslimische Bevölkerungsmehrheit oder die Lage in einem Flussdelta, aber kaum wirkliche Alleinstellungsmerkmale aufweist.

Die Arbeit fokussiert auf die Auswirkungen und die Bewältigung von bzw. Anpassung an Überschwemmungen, da diese für Dhaka die wahrscheinlich bedrohlichsten direkten Folgen des Klimawandels darstellen (vgl. Alam & Rabbani 2007). Die vorliegende Arbeit erweitert das Verständnis von zu erwartenden, zukünftigen Problemlagen. Sie stellt Zusammenhänge zwischen Entwicklungsperspektiven und den Auswirkungen des Klimawandels dar und leistet somit einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Naturrisikoforschung und Entwicklungsforschung. Die

Aufbau der Arbeit

29

Themenfelder „Klimawandel“, „Entwicklung“ und „Anpassung“ wurden bislang meist getrennt voneinander untersucht. Dabei wurde zu wenig berücksichtigt, dass sie sich gegenseitig stark beeinflussen (vgl. Van Aalst et al. 2008: 166, Cannon & Müller-Mahn 2010: 627). 1.2 AUFBAU DER ARBEIT Nach der Einführung in die Fragestellung folgen in Kap. 2 Erläuterungen zu den Rahmenbedingungen, die das Leben der Slum-Haushalte in Megastädten maßgeblich beeinflussen. Kap. 3 behandelt die konzeptionellen Grundlagen der Arbeit. Die Arbeit greift hier vor allem auf die Ansätze der Vulnerabilität, der Resilienz und des Sozialkapitals zurück. Das Konzept der Vulnerabilität erlaubt ein theoretisches Verständnis der sozioökonomischen Strukturen einer Gesellschaft, warum Naturereignisse katastrophale Auswirkungen haben können. Die Resilienz behandelt die Widerstandsfähigkeit und lässt Rückschlüsse auf die Anpassungsfähigkeit eines Systems zu. Der Ansatz des Sozialkapitals erlaubt Einblicke, inwiefern arme und benachteiligte Bevölkerungsgruppen während Krisen Zugang zu alternativen Ressourcen haben. Eine Einführung in das Fallbeispiel der Slums in Dhaka und eine Übersicht über die wahrscheinlichen direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch und Dhaka erfolgt in Kap. 4. Die empirische Umsetzung der Fragestellung wird in Kap. 5 vorgestellt. Quantitative und qualitative Methoden wurden für die Überprüfung der Forschungshypothesen eingesetzt. Die gewonnenen Ergebnisse werden in Kap. 6 und 7 präsentiert, wobei zunächst die gegenwärtige Situation der Slum-Haushalte und dann die Bewältigung von vergangenen und auch zukünftigen schweren Überschwemmungsereignissen erörtert werden. In Kap. 8 werden die Ergebnisse auf Basis der Forschungsleitfragen interpretiert. Kap. 9 beantwortet die zentrale Forschungsfrage und gibt einen Ausblick auf die Übertragbarkeit der Ergebnisse des Fallbeispiels auf Slum-Haushalte in Megastädten anderer Länder und spricht offene Forschungsfragen an.

2 RAHMENBEDINGUNGEN FÜR SLUM-HAUSHALTE IN MEGASTÄDTEN Urbanisierung ist neben der Globalisierung und dem Klimawandel die folgenreichste Veränderung, die die Menschheit derzeit erlebt (vgl. Saunders 2010). Daten der United Nations (2012b) zufolge lebten am Anfang dieses Jahrhunderts 3,4 Milliarden Menschen in Städten, 2050 werden es voraussichtlich 6,3 Milliarden sein. Eine sichtbare Folge der Urbanisierung sind Megastädte, die sich durch bisher nicht dagewesene Herausforderungen an die Planung, die Infrastruktur und die Verwaltung auszeichnen (vgl. Kraas 2000). Aufgrund vielfältiger Prozesse auf engem Raum und ihrer besonderen Dynamik stehen Megastädte besonders im wissenschaftlichen Fokus (vgl. Wenzel et al. 2007). Der Begriff der „Megastadt“ soll ausdrücken, dass diese Städte sich im Bezug auf andere Städte durch die Bevölkerungszahl, das Wachstum und ihre Komplexität abheben (vgl. Butsch et al. 2009: 2). Das Kriterium für Megastädte ist rein quantitativ und wird je nach Definition bei fünf, acht oder zehn Millionen Menschen festgesetzt (vgl. Parnreiter 2009: 371). Diese Komplexität bietet Möglichkeiten, birgt aber auch Risiken in sich, auf die Kap. 2.1 eingeht. Besonders deutlich wird die parallele Existenz von Möglichkeiten und Risiken bei der Betrachtung der stark zunehmenden informellen Strukturen (Kap. 2.2). Slums sind eine augenscheinliche Verkörperung dieser informellen Strukturen. Eine begriffliche Abgrenzung von „Slums“ und die dortigen Lebensumstände werden in Kap. 2.3 angesprochen. Kap. 2.4 erläutert die anzunehmenden direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels global und in Bezug auf Städte im Besonderen. 2.1 LEBEN IN MEGASTÄDTEN IN ENTWICKLUNGSLÄNDERN: RISIKOGEBIETE UND REGIONEN DER MÖGLICHKEITEN Das Wachstum der Megastädte in den sog. Entwicklungs- bzw. Schwellenländern ist besonders gravierend. Megastädte wachsen dort meist deutlich schneller, als es die Megastädte der Industrienationen getan haben (vgl. Simon 2007: 75). Durch fehlende oder mangelnde Planungsinstitutionen ist es ein Kennzeichen vieler Städte in Entwicklungsländern, dass die Infrastruktur bei weitem nicht den gegenwärtigen Bedarf an Elektrizität, Wasserver- und -entsorgung und Verkehrswegen abdeckt (vgl. Hallegatte & Corfee-Morlot 2011: 9). Den zusätzlichen Herausforderungen von mehreren Hunderttausend neuen Stadtbewohnern ist die Stadtverwaltung dabei erst recht nicht gewachsen, zumal in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern ineffiziente und zum Teil von Korruption geprägte Verwaltungswege die administrative Arbeit behindern (vgl. Bicknell et al. 2009).

32

Rahmenbedingungen für Slum-Haushalte in Megastädten

2.1.1 Megastädte als Problemregionen Als Folge sind etliche hochdynamische Prozesse zu verzeichnen, die nicht nur die große Zahl der Stadtbewohner, sondern auch die Bevölkerung in umliegenden Gebieten bedrohen. Sozial und ökologisch unverträgliche Praktiken prägen den Alltag. Megastädte sind aufgrund der hohen Konzentration von Menschen und finanziellen Werten an einem Ort potentiellen Risiken wie Geo-, Klima-, Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- und Politrisiken gegenüber besonders anfällig (vgl. Kraas & Mertins 2008: 6, Borsdorf & Coy 2009: 21, Hochrainer & Mechler 2011). Die potentiellen Risiken werden wahrscheinlich durch zukünftige Veränderungen deutlich verschärft. Die ökologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen verändern sich und haben dabei oft nachteilige Wirkungen auf die Bevölkerung von Megastädten (vgl. Ludger 2008: 62). Die Veränderungen bedingen sich gegenseitig. Als Ergebnis wächst insgesamt die Vulnerabilität (vgl. Birkmann et al. 2010: 186, Moser et al. 2010: 1). Nach Ansicht mancher Autoren kommt erschwerend hinzu, dass Megastädte durch die hohe Komplexität der Prozesse anfälliger für Krisen seien als kleine Städte oder ländliche Regionen (vgl. Mitchell 1999a, Wenzel et al. 2007: 483, Kraas & Mertins 2008: 4). Insofern werden Megastädte oft als „Hochrisikozonen“ verstanden (vgl. Kraas & Nitschke 2006, Ebert et al. 2010: 303). Ein einleuchtendes Beispiel für die Komplexität der Probleme in Megastädten beschreibt die Studie von Nicholls et al. (2007a, 2007b). Konkrete problematische Veränderungen und deren Auswirkungen auf Megastädte werden in Kraas & Mertins (2008) zusammengefasst: •



• •



Bevölkerungszuwachs: Das Bevölkerungswachstum überfordert die Infrastruktur und erschwert u.U. die Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig sorgt das hohe Wachstum aber auch für eine anhaltende Nachfrage nach Arbeitern und bietet somit Arbeitsmöglichkeiten. Durch das Bevölkerungswachstum verschärft sich jedoch die sozialräumliche Segregation. Sozialräumliche Segregation: Wirtschaftliches Wachstum kann zu einer Verschärfung der Schere zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen führen (vgl. Sabatini 2008: 466, Cannon & Müller-Mahn 2010: 625). Dadurch wird der Anstieg der armen Bevölkerung und eine anhaltende Segregation begünstigt, die in vielen Megastädten mit einem Anstieg von Gewalt und Kriminalität einhergeht (z.B. für Lateinamerika, vgl. Mertins & Müller 2008: 54). Informalisierung: Aufgrund des Verlusts an zentraler Steuer- und Regierbarkeit und zunehmender Selbst-Organisation in den Megastädten wächst das Maß an Informalität (vgl. auch United Nations 2008b: X). Steigende Armut: In Megastädten liegt der Anteil der armen Bevölkerung häufig über dem landesweiten Durchschnitt (vgl. Mertins 2006). Die Ursachen hierfür sind in den direkten Einflussfaktoren (Beschäftigung und Wohnen im unsicheren informellen Sektor, hohe Krankheitsanfälligkeit durch schlechte Hygiene und hohe Luftverschmutzung) und indirekten Einflussfaktoren (höhere Unterhaltskosten, geringe Partizipation, hohe Konkurrenz durch andere Migranten) zu suchen (vgl. Scholz 2003: 8). Klimawandel: Die Auswirkungen des Klimawandels sind von besonderem Interesse für diese Arbeit und werden in Kap. 2.4 ausführlich dargelegt.

Informalität

33

2.1.2 Potentiale von Megastädten Cross (2001) hebt hervor, dass große Städte aufgrund ihrer Infrastruktur noch am ehesten in der Lage sind, mit Katastrophen umzugehen. Er findet den wissenschaftlichen Fokus der 1990er Jahre auf die Megastädte insofern nicht gerechtfertigt und führt vielmehr kleinere Städte und ländliche Regionen als die wirklichen „Problemfälle“ an. Das hohe Maß an Finanzkapital und physischem Kapital in Megastädten ist seiner Ansicht nach zwar ein Hauptgrund für die hohe Schadensanfälligkeit, erlaube aber im Verlauf von Krisen auch ein breites Handlungsspektrum. Ebenso seien die Entwicklungschancen von Megastädten durch eine effiziente Ressourcennutzung und ein gesteigertes Interesse der internationalen Gemeinschaft deutlich besser als in kleinen Städten oder ländlichen Regionen (vgl. auch Ehlers 2006, Satterthwaite 2011: 1770). Außerdem sei die Infrastruktur in Megastädten zwar überlastet und mangelhaft, in vielen Fällen aber immer noch besser als in ländlichen Regionen (vgl. auch Kraas & Mertins 2008: 6). Die genannten Potenziale der Megastädte kommen jedoch in erster Linie den wohlhabenden Schichten zugute. Die arme Bevölkerung partizipiert in geringerem Ausmaß an diesen Vorteilen (vgl. Ludger 2008: 62). 2.2 INFORMALITÄT Informalität wird in vielfältiger Weise konzeptionalisiert (vgl. Amin 2002: 9–11, Maloney 2004: 1159, Charmes 2009: 28–29). Eine gängige und handhabbare Definition ist, dass diejenigen Strukturen „informell“ sind, denen eine gesetzliche Grundlage und eine (soziale) Absicherung fehlt und in denen somit keine legitimierte institutionelle Interaktion stattfindet (vgl. Charmes 2009). In den meisten Fällen betrifft dies Aktivitäten (z.B. Erwerbstätigkeit oder Bewältigung von Alltagsproblemen) und die Infrastruktur (z.B. Wohnraum oder Wasserversorgung). Deutlich unterschieden werden muss „Informalität“ von der „Illegalität“, bei der gegen bestehende Regeln und Gesetze verstoßen wird. „Informalität“ findet hingegen in einer zu weiten Teilen tolerierten Grauzone statt, da im Grunde keine kriminellen Absichten gehegt werden (vgl. Misztal 2000). Die konkrete Ausprägung von „Informalität“ in Megastädten sehen Kraas (2007: 81) und Mertins (2009: 54) in selbstorganisierten Netzwerken und klientelistischen Machtstrukturen. Die informellen Regelungsstrukturen begünstigen u.U. Korruption und Ausbeutung. „Informalität“ ist keine neue Erscheinung, sondern war vor der Industrialisierung in vielen Bereichen die Norm. Zu Beginn der Informalitätsdebatte in den 1960er und 1970er Jahren wurde „informell“ zunächst per se als Gegenteil von „formell“ verstanden und vorrangig über die Beschäftigung definiert. Hart (1973) und Mazumdar (1976) ordnen dem „formellen Sektor“ Lohnarbeiter mit sicherem Einkommen zu und dem „informellen Sektor“ die Selbständigen, die meist nur ein sehr geringes und vor allem unsicheres Einkommen hatten. Infolgedessen wird Informalität vorrangig mit den armutsorientierten Prozessen in den Gebieten der rapiden Urbanisierung in Verbindung gebracht (vgl. AlSayyad 2004: 10).

34

Rahmenbedingungen für Slum-Haushalte in Megastädten

Rakowski (1994) arbeitet zwei wesentliche Schulen der dualen Konzeption von Informalität heraus: Die Schule der Strukturalisten unterscheidet den informellen Sektor durch das Fehlen von Verträgen und Sicherheit sowie das Vorherrschen von niedrigen Löhnen von dem formellen Sektor. Im Gegensatz dazu vertritt die legalistische Schule um Desoto einen eher neoliberalen Ansatz. Informelles Handeln wird danach als Antwort auf die Kräfte des Marktes gesehen. Die starren Regeln des Staates werden durch informelles Handeln umgangen. Informelles Handeln setzt Desoto (1989) mit einer Überlebensstrategie gleich (vgl. AlSayyad 2004: 13), weil der informelle Sektor für diejenigen eine Beschäftigungsmöglichkeit bietet, die im formellen Sektor aufgrund fehlender Bildung oder fehlender Beziehungen keine Arbeit finden. Der informelle Beschäftigungssektor zeichnet sich aber vor allem durch hohe Arbeitsintensität, niedrige Gehälter, geringen Technologieeinsatz und wenig oder gar keine Sicherheiten aus (vgl. Breman & Das 2000: 56). Gerade die Haushalte sind auf informelle Erwerbstätigkeit angewiesen, die ohnehin von Armut und Krisen geprägt sind. Die prekäre Situation wird durch die oft gesundheitsschädigende und schlecht bezahlte Arbeit verschärft (vgl. Jütting & Laiglesia 2009: 3). Aus diesem Grund wirft Roy (2004: 304) den Vertretern des neoliberalen Ansatzes eine Verharmlosung und Beschönigung des informellen Sektors und somit der städtischen Armut vor. Dennoch sprechen beide Schulen zentrale Punkte der Informalität an. Dem informellen Sektor können sowohl positive als auch negative Wirkungen für die Beschäftigten zugesprochen werden (vgl. Bivens & Gammage 2005: 1, Etzold et al. 2009: 3). Der Großteil der Beschäftigten im informellen Sektor ist eindeutig der sehr armen Bevölkerungsschicht zuzuordnen (vgl. Heintz & Valodia 2008: 4). Allerdings gibt es durchaus auch Profiteure des informellen Sektors, da dieser für manche deutlich höhere Erträge als im formellen Sektor einbringen kann (vgl. Breman & Das 2000: 56, Charmes 2009: 44). Die Statistiken der letzten Jahre weisen darauf hin, dass sowohl die Bedeutung des informellen Sektors als auch die Armut der darin Beschäftigten stark angestiegen ist (vgl. Changqing et al. 2007: 24, für Südasien Chen & Doane 2008: 8, für Lateinamerika Tokman 2008: 3, Jütting & Laiglesia 2009: 13). Ohne Frage bietet der informelle Sektor den Abermillionen Migranten in vielen Städten die meist einzige Möglichkeit, Einkommen zu erwirtschaften (vgl. Bartolome 1984: 180, Amin 2002: 2). Somit ist der informelle Sektor die Ursache für Migration und eine „Überlebensstrategie“ zugleich (vgl. Mertins 2009: 53–54). Gleichzeitig sorgt der informelle Sektor aufgrund des niedrigen Lohnniveaus, der fehlenden Sicherheiten und damit einhergehender krimineller und ausbeuterischer Strukturen (vgl. Mertins 2009: 52) aber auch dafür, dass diese Migranten in der Informalität „eingeschlossen“ sind und kaum die Möglichkeit haben, sich zu einem höheren Lebensstandard hin zu entwickeln (vgl. Amin 2002: xii, Bivens & Gammage 2005: 1). Informalität bindet viele in eine anhaltende Armut. Dem dichotomen Verständnis von Formalität und Informalität wird in letzter Zeit zunehmend das Verständnis von Formalität und Informalität als die zwei Pole eines Kontinuums gegenübergestellt (vgl. Etzold et al. 2009: 4). Informalität bezieht sich auf Aktivitäten und die Infrastruktur und insofern auf mehrere Alltagsbe-

Marginalsiedlungen, Slums

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dingungen. Eine dichotome Trennung ist nicht zielführend. Charmes (2009: 29) zeigt auf, dass z.B. Beschäftigung verschiedenartig „informell“ sein kann. Die wesentlichste Unterscheidung dabei ist, ob die Beschäftigung innerhalb eines formell oder informell geführten Unternehmens ausgeführt wird oder im Rahmen einer informellen Selbständigkeit. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sowohl eine Person mehreren teils formellen, teils informellen Beschäftigungen nachgehen kann als auch innerhalb eines Haushalts verschiedene Familienmitglieder unterschiedliche formelle oder informelle Berufe ausüben können. Im informellen Sektor nimmt aufgrund der fehlenden formalen Strukturen das Vertrauen unter den Akteuren eine wichtige Rolle ein (vgl. Koob 2007: 222). Vertrauen und Normen können als informelle Institutionen im Sinne der Neuen Institutionenökonomik interpretiert werden (vgl. Wang & Gordon 2011). Handeln wird aufgrund dieser Institutionen produktiv und Normen ermöglichen einen organisierten Austausch von Waren und Informationen über Netzwerke (vgl. Uslaner 2008). Vertrauen und Netzwerke werden unter „Sozialkapital“ subsumiert. Informalität und Sozialkapital haben somit einen engen Bezug zueinander (vgl. Sabatini 2008). Das Sozialkapital lässt sich als die strukturierende Größe in informellen Prozessen ausmachen, ebenso wie Regeln und Gesetze die strukturierende Größe in formellen Prozessen darstellen. 2.3 MARGINALSIEDLUNGEN, SLUMS Marginalsiedlungen versinnbildlichen wie kaum ein anderes Phänomen die problematischen Auswirkungen der Urbanisierung: Die Aspekte der Informalität, Segregation, Armut und der Exposition gegenüber Risiken sind bei Slums unübersehbar. Marginalsiedlungen können in zwei Gruppen eingeteilt werden (vgl. Bähr & Mertins 2000: 20): Erstens in Siedlungen, die im Zuge von Landbesetzungen illegal für Wohnzwecke genutzt werden. Diese werden auch mit dem englischen Wort „squatter“ bezeichnet. Diese Squatter werden zum Teil entweder gewaltsam geräumt oder im Nachhinein legalisiert. Die zweite Gruppe existiert im rechtlichen Graubereich der Informalität. Es handelt sich entweder um irregulär entstandene Siedlungen oder um degradierte Wohnviertel. Die informellen Siedlungen entstehen meist aus akutem Mangel an (finanzierbarem) Wohnraum und befinden sich entweder auf staatlichem (z.B. entlang von Eisenbahnschienen oder an Flussufern) oder privatem Land. Das private Land wurde im Gegensatz zu den Squatter zwar legal erworben, aber oft liegen keine Baugenehmigungen vor und in den allermeisten Fällen werden keine Baunormen eingehalten. Gravierende Folgen für die Lebensqualität in den informellen Siedlungen hat die meist ungeregelte Widmung, da deshalb die Siedlungen selten an die Infrastruktur angeschlossen sind.

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Degradierte Wohnviertel fielen vor allem in London um 1820 auf und wurden durch die Verwahrlosungstendenzen der baulichen Struktur mit dem Wort „slum“ belegt (vgl. Davis 2006: 21). „Slum“ kommt von dem deutschen „Schlamm“ und beschreibt vorrangig die bauliche (Infra-)Struktur. Slum ist mittlerweile ein Synonym für marginale Siedlungen geworden (vgl. Mertins 1984: 437). Damit ist auch klar, dass unter dem Begriff vielfältige sozioökonomische und bauliche Strukturen subsumiert werden (vgl. United Nations 2003a: 57). In den Entwicklungs- und Schwellenländern sind die informellen Siedlungen wesentlich häufiger anzutreffen als die illegalen Squatter (vgl. Davis 2006: 39). Im Folgenden wird der Begriff „Slum“ als Synonym für marginale Siedlungen verwendet. Die Anzahl von Menschen, die in Slums leben, betrug im Jahr 2001 mindestens 924 Millionen (vgl. United Nations 2003a). Die United Nations (2008b: 30) prognostizieren bis 2020 1,4 Milliarden Menschen in Slums und bis 2030 sogar bis zu 2 Milliarden. Seit 1990 hat sich das Verhältnis der Slum-Bewohner zur gesamten Stadtbevölkerung in einem Großteil der Länder zwar verringert, aber die absolute Zahl der Slum-Bewohner hat in den meisten Entwicklungsländern zugenommen. Ausnahmen bilden Nordafrika, Ostasien und Südasien. Bei Ostasien und Südasien sind die verringerten Zahlen allein China und Indien zu verdanken, die erfolgreich Slums aufwerten (vgl. United Nations 2008b: 44). Statistische Zahlen sind bei diesem Gegenstand insofern kritisch zu betrachten, als dass keine einheitliche konkrete Definition von „Slums“ mit quantitativen Merkmalen existiert. Vor den unterschiedlichen Herausforderungen, vor die jede Stadt und jedes Land gestellt ist, ist es auch nicht realistisch anzunehmen, dass ein globales Verständnis der Begriffe erreicht wird (vgl. United Nations 2003a: 10). Slums in Asien unterscheiden sich in ihrer baulichen Struktur, aber auch in ihren sozioökonomischen Problemen grundlegend von Slums in Afrika oder Lateinamerika. Slums werden deshalb vor allem über qualitative Merkmale abgegrenzt (vgl. Bähr & Mertins 2000: 19). Damit die qualitativen Merkmale eine gewisse Objektivität erhalten, haben die United Nations die Merkmale spezifiziert (vgl. United Nations 2003a: 12). Die Eigenschaften, die – neben all den Verschiedenheiten – so gut wie alle Slums auf der Welt aufweisen, sind (siehe z.B. Bähr & Mertins 2000, United Nations 2003b, Davis 2006, Ehlers 2006, Huchzermeyer & Karam 2006): •

Sehr dichte Bebauung mit wenig Freiflächen: Oft verfügen Haushalte in Slums über nur ein oder zwei Wohnräume. Die durchschnittliche Haushaltsgröße weist aber mindestens vier Personen auf, so dass pro Raum mindestens zwei Personen wohnen. Die Ursache für diese hohe Belegungsdichte ist darin zu sehen, dass in den meisten Slums die Parzellen für Untervermietung geteilt werden. Die Nachfrage nach günstigem Wohnraum ist groß und die Vermieter sind darauf bedacht, einen möglichst hohen Gewinn aus dem Wohnraum zu generieren. In den Slums wird der bestehende Raum so gut wie möglich konsolidiert. Das Baumaterial wird durch langlebigeres ersetzt, es folgen Aufstockungen und Anbauten, ein Anschluss an das Strom- und Wassernetz wird in

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der Regel angestrebt (vgl. Bähr & Mertins 2000: 21). Aufstockungen und Teilungen der bestehenden Wohnfläche erklären die enorme Bevölkerungsdichte von nicht selten über 200.000 Personen/km2. Gravierender Mangel an Grundversorgung: Da das Land aus öffentlicher Sicht nicht für eine Siedlungsnutzung vorgesehen ist (oder nur für deutlich weniger Nutzer), sind die allerwenigsten Slums in ausreichendem Maße an das öffentliche Wasser- und Stromnetz angeschlossen. Als Folge davon steht vielen SlumBewohnern deutlich weniger Wasser zur Verfügung als die 20 Liter/Person/Tag, die von der Gesundheitsorganisation WHO als notwendig angesehen werden (vgl. Howard & Bartram 2003). Außerdem findet die Müllentsorgung ungeregelt statt (z.B. Anand 1999). Da in den Slums auch keine Kanalsysteme existieren, führen oft schon durchschnittliche Regenmengen zu Überschwemmungen. Aufgrund der mangelnden Stromversorgung können gerade in tropischen oder subtropischen Ländern während Hitzeperioden keine Ventilatoren betrieben werden, wodurch die Hitzebelastung deutlich ansteigt. Auch das Straßennetz wird in Slums nicht von der öffentlichen Hand entwickelt und ist meist nur von minderer Qualität. Häufig müssen sich die Bewohner der Slums selbst um den Erhalt der Straßen kümmern, was zusätzliche zeitliche und finanzielle Ressourcen bindet (siehe z.B. Dagdeviren & Robertson 2009). Gefährliche und gesundheitsschädigende Lebensbedingungen: Die unhygienischen Bedingungen in Slums werden noch dadurch verschärft, dass sie oft an Orten angesiedelt sind, wo sonst niemand leben möchte: entlang von Abwasserkanälen großer Fabriken, in der Nähe von oder sogar auf Müllhalden, an steilen, rutschungsgefährdeten Hängen, an Flussufern oder in überschwemmungsgefährdeten Niederungen (z.B. Nissel 2007). Durch diese Lagenachteile steigt die Exposition der Slum-Bewohner für Naturereignisse stark an. Davis (2006: 121) weist darauf hin, dass diese gefährlichen Lebensbedingungen der Grund dafür sind, dass die Bodenpreise und Mieten in Slums kaum ansteigen. Schlechte bauliche Strukturen: Die Haushalte in Slums sind auch deshalb Gefahren ausgesetzt, weil die baulichen Strukturen kaum Schutz bieten. Oft finden sich in Slums nur temporäre Baumaterialien, wie mit Holz aufgespannte Plastikfolie, Bambus oder Wellblech. Diese Materialien bieten einen Sichtschutz und ein Minimum an Privatheit, aber keinen Schutz vor Wasser oder Geröll. Unsichere Lebensumstände: Aufgrund des informellen Charakters sind die Slum-Bewohner in vielen Fällen nicht sicher, ob sie langfristig an einem Ort wohnen können und investieren deshalb weniger in die Infrastruktur oder die Bausubstanz (vgl. Dagdeviren & Robertson 2009). Viele Slum-Bewohner müssen oft den Wohnort wechseln, weil sie immer wieder vertrieben werden (vgl. Das 2003: 207, zum Externalitätenproblem siehe auch United Nations 2003a: 58, Mertins 2006: 65). Außerdem ist in vielen Slums, besonders in Ländern, in denen eine hohe Arbeitslosigkeit v.a. unter Jugendlichen herrscht (z.B. Lateinamerika und Afrika), das Leben der Bewohner durch Gewalt und Kriminalität geprägt (vgl. United Nations 2003a: 58, Mertins & Müller 2008).

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Armut und sozialer Ausschluss: Das Leben der Slum-Bewohner ist im Allgemeinen von einem niedrigen und unsicheren Einkommen bestimmt. Armut führt auch zu einem sozialen Ausschluss aus der Gesellschaft, was den Zugang zu brückenbildendem Kapital, z.B. in Form von Krediten, erschwert (vgl. Mertins 2006, Kraas & Mertins 2008). Beschäftigung im informellen Sektor: Es ist anzunehmen, dass über zwei Drittel der Slum-Bewohner weltweit im informellen Sektor tätig sind (siehe Chen & Doane 2008).

Diese Charakteristika zeichnen ein düsteres Bild der Lebensumstände in den Slums. Es ist aber auch zu betonen, dass dort nicht die „Ärmsten der Armen“ leben. Regelmäßige finanzielle Verpflichtungen wie Mietzahlungen stellen eine erhebliche Hürde für extrem Arme dar. Die extrem Armen müssen deshalb oft als „pavement dwellers“ überleben (für Bangladesch siehe Ahmed et al. 2011). Informelle Aktivitäten und Slums dienen aber auch als „Auffangbecken“ für arme Bevölkerungsschichten. Ohne die teilweise menschenunwürdigen Verhältnisse informeller Erwerbstätigkeit oder die Lebensumstände in Slums zu verharmlosen, müssen diese auch als Möglichkeit für zahllose Migranten und städtische Arme gesehen werden, Einkommen zu erwirtschaften und finanzierbaren Wohnraum zu bewohnen (vgl. United Nations 2003a: 57, De Filippi 2009). Außerdem sind viele Slums an – im Bezug auf die Arbeitsorte – „guten“ Lagen angesiedelt. Sie sind meist in relativ kurzer Distanz zu Beschäftigungsmöglichkeiten gelegen – eine Tatsache, die nicht zuletzt etliche Umsiedelungsprojekte (z.B. St. Josephs Village in Manila, Philippinen, teilweise auch das Bhashantek-Rehabilitation-Projekt in Dhaka) zum Scheitern brachte (vgl. Das 2003: 212, Davis 2006: 73, Satterthwaite 2011: 1772). 2.4 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS Seit der Industrialisierung wird durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern das globale Klima durch einen anthropogenen Beitrag maßgeblich beeinflusst. Es bestehen keine wissenschaftlichen Zweifel, dass der anthropogene Beitrag die natürlich stattfindenden Klimaveränderungen beschleunigt und sehr wahrscheinlich zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beiträgt (vgl. IPCC 2007b). Folgewirkungen des Temperaturanstiegs sind Änderungen des Niederschlagverhaltens und der globalen Meeres- und Luftströmungen. 2.4.1 Globale Auswirkungen des Klimawandels Der Klimawandel wirkt sich durch direkte Wirkungen und indirekte Prozesse nachhaltig auf die Menschheit aus. Die Prognosen über die zukünftigen Veränderungen können auch global nur mit Unsicherheiten angegeben werden. Da regionale Vorhersagen meist auf Grundlage der globalen Modelle berechnet werden, übertragen sich diese Unsicherheiten (vgl. Fowler et al. 2007, Kuhlicke 2011).

Auswirkungen des Klimawandels

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Einen direkten Einfluss sieht die Wissenschaft in fünf Bereichen: Wasser, Luft, Ökosysteme, Küsten/Ozeane und Naturereignisse (vgl. IPCC 2007c). Indirekt ergeben sich erhebliche Auswirkungen auf fast alle lebensnotwendigen Prozesse: Ernährungssicherheit (z.B. Thornton et al. 2009), Verbreitung von Krankheiten (z.B. Confalonieri et al. 2007, Gosling et al. 2009), Sicherheitslage (z.B. WBGU 2008) sowie Wasserver- und -entsorgung (z.B. Shihu 2011). In weiterer Folge wirkt sich der Klimawandel somit erheblich auf die menschliche und sozioökonomische Entwicklung aus (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010: 1). Die Auswirkungen des Klimawandels sind durch verschiedene zeitliche Skalen und komplexe Rückkoppelungen geprägt. Portier et al. (2010) fassen basierend auf den Berichten der zweiten Arbeitsgruppe (WG II) des IPCC (2007) diese allgemeinen Auswirkungen übersichtlich zusammen. Für die Industrienationen scheint der Klimawandel eine große Gefahr darzustellen, u.a. deshalb, weil sogenannte „kritische Infrastrukturen“ anfällig auf außergewöhnliche Störungen reagieren können. Die Verwundbarkeit aufgrund der Komplexität gerade „reicher Nationen“ zeigt sich an dem Reaktorunfall in Fukushima (vgl. Flüchter 2012). Das Erdbeben und der Tsunami schalteten das Kühlsystem aus und zusammen mit dem mangelhaften Vorsorge- und Krisenmanagement kam es zur Kernschmelze der Reaktoren. Ähnliche fatale Kettenreaktionen sind auch in anderen Bereichen (Telekommunikation, Wasser-, Strom-, Gas-, Gesundheitsversorgung) durch Dürren, Starkniederschläge, Überschwemmungen oder Stürme denkbar (vgl. Birkmann et al. 2012: 302). Für die Entwicklungsländer bestehen diese Gefahren für kritische Infrastrukturen ebenso. Zusätzlich scheint sich der Klimawandel besonders negativ auf arme Bevölkerungsgruppen auszuwirken und die Vulnerabilität dieser Menschen zu verstärken (z.B. Handmer 2003, Mitchell & Van Aalst 2008). Dieser Zusammenhang wird in Abb. 1 dargestellt. Die Auswirkungen des Klimawandels bewirken langfristig eine Schwächung der Lebenshaltungssysteme (vgl. Nyong 2009, Rahman 2009, Birkmann et al. 2010). Kurzfristig äußert sich der Klimawandel sehr wahrscheinlich z.B. in verstärkten schlagartigen (z.B. Stürme, Flutwellen, Überschwemmungen, Starkniederschläge, Hangrutschungen) und langsam entstehenden (z.B. Dürren, Hitze-, Kältewellen) Extremereignissen (vgl. Allan & Soden 2008, Piguet 2008, IPCC 2012). Dem Sonderbericht zu extremen Wetter- und Klimaereignissen (SREX, siehe IPCC 2012: 10–11) zufolge nimmt vor allem die Häufigkeit von Extremereignissen zu. Es ist z.B. wahrscheinlich, dass in manchen Regionen 20-jährige Hitze- und Stark-niederschlags-Ereignisse bis zum Ende des Jahrhunderts zu zweijährigen Ereignissen werden. Zusätzlich wird die Empfindlichkeit gegenüber diesen Ereignissen erhöht. Krisen treffen die Betroffenen also härter. Durch einen Anstieg der Häufigkeit werden die Regenerationszeiten (Rückzahlung von Schulden, Genesung, Wiederaufbau, Wiedererwerb von verlorenen Gegenständen) verkürzt. Vor allem dadurch wirken sich die Krisen langfristig negativ auf die Lebenshaltungssysteme aus (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010, IPCC 2012: 10–11). Die zentralen Elemente der Exposition, Kapazität zur Bewältigung und die Empfindlichkeit werden in der Wissenschaft unter der Vulnerabilität zusammengefasst.

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Der Klimawandel tritt als „multi-scale global change“-Problem auf (Adger 2006: 273). Die Auswirkungen des Klimawandels betreffen verschiedene Akteure und äußern sich durch vielfältige Störquellen auf allen räumlichen und zeitlichen Ebenen. Es ist nicht verwunderlich, dass vor allem die bereits marginalisierten Bevölkerungsgruppen von den Auswirkungen des Klimawandels zusätzlich und besonders stark betroffen sein werden (Adger 2006: 273, Le Monde Diplomatique 2007: 8). Dies bringt die Kategorisierung „marginalisiert“ mit sich (vgl. Watts & Bohle 1993: 44). Die ausgeprägte Exposition und die mangelhaften Bewältigungsstrategien sind meist direkt mit armen, marginalisierten Bevölkerungsgruppen verknüpft. Städtische und ländliche Armutsgruppen verfügen ohnehin schon über sehr anfällige Lebenshaltungssysteme (siehe Kap. 3.4.1), die von den zusätzlichen vielfältigen Problemen gänzlich überfordert sind (vgl. Adger 2006: 274). Als positives Zeichen sehen etliche Forscher aber auch, dass gerade marginalisierte Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Flexibilität, Erfahrung und ihrem Sozialkapital doch nicht zu unterschätzende Potentiale haben, den Klimawandel zu bewältigen. Adger (2006: 274) z.B. betont, dass marginalisierte Gruppen von der Arktis bis zu Sahelzone über erstaunliche und nachhaltige Erfahrungen verfügen, sich an Veränderungen anzupassen.

Abb. 1: Zusammenhang von Klimawandel, Krise und Vulnerabilität. Legende: FK: Finanzkapital, HK: Humankapital, PK: Physisches Kapital, SK: Sozialkapital, NK: Naturkapital. Eigene Darstellung nach Birkmann (2010), Cannon & Müller-Mahn (2010), IPCC (2007a).

Auswirkungen des Klimawandels

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2.4.2 Auswirkungen des Klimawandels auf Megastädte Der Klimawandel wirkt global. Die Auswirkungen auf Städte unterscheiden sich jedoch neben der höheren potentiell betroffenen Bevölkerungszahl dadurch, dass einige Auswirkungen besonders dort spürbar sind bzw. einige Auswirkungen durch die Urbanisierung verstärkt werden (vgl. Mitchell 1999b, Lindley et al. 2006: 544, Birkmann et al. 2010, Gupta & Nair 2011: 1643). Beispiele hierfür sind U-BahnNetze, die besonders anfällig sind für Überschwemmungen, oder Bedrohungen, die mit der hohen Versiegelung in Zusammenhang stehen. Die Auswirkungen lassen sich wie folgt zusammenfassen (siehe auch Hunt & Watkiss 2011: 15): •







• •

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Überflutungen von küstennahen Städten aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in küstennahen Niederungsgebieten und ist vom Anstieg des Meeresspiegels potentiell betroffen (vgl. Nicholls 2004: 70, IPCC 2012: 12). Schäden durch Wirbelstürme (Zyklone oder Tornados): Es besteht kein sicherer Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Wirbelstürmen und dem Anstieg der Durchschnittstemperaturen (vgl. IPCC 2012: 12). Dafür ist aber ein Anstieg der Intensität der Wirbelstürme mit dem Temperaturanstieg wahrscheinlich (vgl. Emanuel 2005). In Städten wirken sich Stürme gravierender aus als auf dem Land, da hier durch die Bebauungsdichte die Verletzungs- und Todesgefahr höher liegt. Kurz und lang anhaltende Überschwemmungen durch Starkniederschläge oder Veränderungen des Monsuns: Diese sind durch die oft mangelhafte Entwässerung und den hohen Versiegelungsgrad in Städten besonders gravierend. Dadurch kommt es auch schon nach durchschnittlichen Regenfällen oft zur Aufstauung von Wasser (englisch: „waterlogging“3),1was die hygienische Situation deutlich verschlechtert und Krankheitserreger (Cholera, Durchfallerkrankungen, Hautausschläge) und vektorübertragene Krankheiten (Malaria, Dengue) fördert (vgl. McMichael et al. 2004: 1544). Die Bevölkerungsdichte in Megastädten begünstigt weiter die Ausbreitung von Krankheitserregern und vektorübertragenen Krankheiten. Wasserbedarf: Mit dem Wachstum der Städte wird die oft marode Wasserversorgung in vielen Ländern nicht mithalten können. Zusammen mit der erhöhten Verdunstung ergibt sich daraus ein akuter Wassermangel. Ebenso verschlechtert die erhöhte Verdunstung die Qualität des Wassers (vgl. Gasper et al. 2011). Der hohe Versiegelungsgrad verschärft Hitzeperioden, die das Mortalitätsrisiko deutlich erhöhen (vgl. Gosling et al. 2009: 301). Neben Dürren stellen aber auch Starkniederschläge bzw. unregelmäßige Niederschläge eine große Gefahr für die Trinkwasserversorgung dar, da oft das Wasser nicht nachhaltig gespeichert werden kann (vgl. Rahman 2009). Dieser Niederschlag fließt meist als Oberflächenabfluss ab. Da Müll- und WasserentDem Autor ist kein passender deutscher Begriff für „waterlogging“ bekannt. Im Folgenden wird daher der englische Begriff verwendet.

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sorgung oft in einem maroden Zustand sind, verschlechtert dieser Oberflächenabfluss die hygienische Situation (vgl. Nyong 2009). Eine indirekte Folge des Klimawandels wird sich zwangsläufig durch sog. umweltbedingte Migration ergeben. Als Folge von vermehrten Naturereignissen und verringerter landwirtschaftlicher Produktivität werden zunehmende Migrationsströme vom Land in die Stadt erwartet (vgl. Seto 2011). Die Folge davon ist ein weiteres Wachstum der städtischen Bevölkerung, eine weitere Stärkung informeller Strukturen und ein Anstieg der Bevölkerungszahl in Marginalsiedlungen.

Studie zu Küstenstädten von Nicholls et al. Überwiegend beruht der Stand der Wissenschaft zu den Auswirkungen des Klimawandels in urbanen Räumen auf qualitativen Studien (vgl. Hunt & Watkiss 2011). Eine prominente Ausnahme ist die Untersuchung im Auftrag der OECD von Nicholls et al. (2007a, aktualisierte Zusammenfassung in Hanson et al. 2011). Diese Studie prognostiziert die Anzahl der von einem hundertjährigen Hochwasser bedrohten Bevölkerung in 136 untersuchten Hafenstädten bis 2070. Das Ergebnis ist eine Verdreifachung der bedrohten Bevölkerung. Im Jahr 2005 waren 38,5 Millionen Menschen in den 136 Städten durch solche Überschwemmungen potentiell bedroht. Der höchste relative Anstieg mit dem Faktor zwölf der bedrohten Bevölkerung ist in Dhaka zu verzeichnen (vgl. Nicholls et al. 2007b: 26). Der Studie zufolge sind die entscheidenden Faktoren für den numerischen Anstieg in den ärmeren Ländern in erster Linie die sozioökonomischen Veränderungen wie das Bevölkerungswachstum und der Anstieg der informellen Strukturen. Die Auswirkungen des Klimawandels sind in den ärmeren Ländern hingegen eher zweitrangige Faktoren (vgl. Hanson et al. 2011: 97). Abb. 1 deutet diese Zusammenhänge an und zeigt zudem, dass der Einfluss des Klimawandels auf die sozioökonomischen Strukturen berücksichtigt werden muss. Die konkreten Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme und menschliche Gesellschaften können nur schwer empirisch belegt werden, da einzelne Naturereignisse nicht mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden können (vgl. Pelling 2011: 7). Aber die beschriebenen Auswirkungen machen deutlich, dass sich die Veränderungen des Klimas mit hoher Wahrscheinlichkeit stark auf die Vulnerabilität der Gesellschaften auswirken werden (vgl. Hastrup 2009: 13, Pelling 2011: 7).

3 KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN Während des wirtschaftlichen Aufschwungs der Industrienationen nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte ein ungezügelter Optimismus, dass die Armut der postkolonialen Staaten innerhalb weniger Jahrzehnte aus der Welt verschwinden würde (vgl. Fischer et al. 2004: 18). Die Verfechter der großen Entwicklungstheorien (z.B. Modernisierungstheorien, Dependenztheorien) in den 1950er und 1960er Jahren waren zuversichtlich, dass diese umfassenden Theorien die Lösung der Entwicklungsprobleme seien (vgl. Scholz 2004). Seit dem Vorsitz von Robert McNamara in der Weltbank werden armutsreduzierende „bottom-up“-Ansätze in der Entwicklungszusammenarbeit den großen Theorien vorgezogen. Ein Ergebnis davon sind die in den 1990er Jahren aufgetauchten Grundbedürfnisstrategien (vgl. Kanbur & Vines 2000), die in Kap. 3.1 zusammen mit einer Begriffsdefinition von Entwicklung erläutert werden. Der Klimawandel droht die Perspektiven der Entwicklungsländer einzuschränken, weshalb der Anpassung an den Klimawandel aufgrund deren besonders ausgeprägten Vulnerabilität eine wichtige Rolle zukommt (vgl. Kok & Metz 2008). Auf das Konzept der Anpassung und die Abgrenzung zu dem Konzept der Entwicklung geht Kap. 3.2 näher ein. Das Konzept der Vulnerabilität ermöglicht ein geeignetes Analyseraster für die Anfälligkeit der Bevölkerung für Krisen (vgl. Smit & Pilifosova 2003: 20). Krisen können dabei sowohl kurzfristige Ereignisse sein wie Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürme und Erdrutschungen als auch längerfristige Prozesse wie Dürren, kriegerische Auseinandersetzungen, Auswirkungen des Klimawandels und Epidemien. Das Konzept der Vulnerabilität wird in Kap. 3.3 näher erläutert. Das Konzept der Resilienz wird zunehmend verwendet, um die Handlungs- und Anpassungsfähigkeit von Gruppen zu analysieren (Kap. 3.4). Kap. 3.5 erläutert die Abgrenzungen und Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Anpassung, Vulnerabilität und Resilienz. Arme Bevölkerungsgruppen verfügen per Definition über einen geringen Zugang zu Ressourcen wie finanzielles oder physisches Kapital. Als Alternative verfügen sie jedoch über ein umso größeres Maß an Sozialkapital (Kap. 3.6). Die Bedeutung des Sozialkapitals wird in Kap. 3.7 deutlich anhand des Überblicks über den Umgang der Slum-Bevölkerung mit Naturereignissen. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung (Kap. 3.8) und Ausführungen zu dem Beitrag dieser Arbeit an wesentlichen Forschungserkenntnissen (Kap. 3.9). 3.1 ENTWICKLUNG Der Begriff „Entwicklung“ kann nur sehr grob allgemeingültig definiert werden. In der geographischen Entwicklungsforschung lässt sich als gemeinsamer Kern festhalten, dass Entwicklung „positive Veränderungsprozesse in Gesellschaften und [...] eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen“ (Rauch 2009: 34)

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Konzeptionelle Grundlagen

umschreibt. Was jedoch „positiv“ und eine „Verbesserung“ ist, liegt einer normativen Betrachtung zugrunde. Dementsprechend variieren die Theorien, wie Entwicklung von Bevölkerungsgruppen, Regionen oder Staaten erreicht werden könne, je nach den Vertretern der verschiedenen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Positionen. In der Praxis der Entwicklungszusammenarbeit stellt die dauerhafte Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse (Gesundheit, Nahrung und Behausung, Freiheit und Fähigkeiten) ein Minimalziel von Entwicklung dar. Die zentralen – notwendigen, aber nicht hinreichenden – Voraussetzungen dafür sind in dem „Hexagon der Entwicklung“ aufgezeigt (vgl. Rauch 2009, Menzel 2010): • • • • • •

Soziale Gerechtigkeit: Verbesserung der Zugangsrechte, Empowerment der Armen, z.B. durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ Gesellschaftliche Partizipation und Selbst-Organisation der Armen Kulturelle Identität Politische Stabilität Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, stabile makroökonomische Bedingungen Ökologische Nachhaltigkeit

Das Hexagon der Entwicklung macht deutlich, dass Entwicklung nur dann funktionieren kann, wenn mehrere dieser Voraussetzungen zutreffen. Entwicklung kann demnach als komplexer „Prozess der Erweiterung realer Freiheiten“ (Sen 2002: 21) verstanden werden. Entwicklung ist zu sehen als die Interaktion von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und gleichzeitig der Handlungsfähigkeit der Akteure. Dieses Verständnis von Entwicklung folgt der Strukturationstheorie nach Giddens (1992) und Werlen (1997). Strukturen beeinflussen die Handlungsmöglichkeiten der Akteure, aber gleichzeitig werden die Strukturen durch die Akteure und ihre Handlungen verändert. Unter Akteuren sind grundsätzlich sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen von Personen zu verstehen. In dieser Arbeit werden Haushalte als kleinste Einheit angenommen. Ein Haushalt tritt somit als Akteur auf und wird gleichzeitig als ein System interpretiert, da die einzelnen Akteure innerhalb und außerhalb der Gruppe interagieren. Unter Haushalt wird in dieser Arbeit die Gruppe von Einzelpersonen verstanden, die gemeinsam in einem Haushalt lebt und regelmäßig zusammen isst (vgl. Netting et al. 1984). In der vorliegenden Arbeit wird Entwicklung in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand von Haushalten in Slums und den Auswirkungen des Klimawandels folgendermaßen verstanden: Entwicklung bezeichnet die Zunahme der Fähigkeit von Haushalten in Slums, Probleme zu lösen bzw. zukünftige Probleme vorausschauend zu mindern (bezugnehmend auf die Definition von Entwicklung in Rauch 2009: 35).

Anpassung

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Unter Problemen werden all die kleinen und großen Krisen verstanden, die die kurzfristige und dauerhafte Befriedigung von materiellen und immateriellen Grundbedürfnissen der Haushalte behindern. Mit diesem weiten Verständnis von „Problemen“ unterscheidet sich die hier verwendete „Entwicklung“ von der „Anpassung“. 3.2 ANPASSUNG Der Begriff „Anpassung“ stammt aus der Evolutionsbiologie und bezeichnet den Prozess, den Organismen durchlaufen, damit sie Umweltveränderungen überleben und weiter existieren können (vgl. Smit & Wandel 2006: 283). Unter Anpassung („adaptation“; die Ausführungen berücksichtigen auch die „adaptive capacity“42– Erläuterung zur Unterscheidung in Smit & Pilisova 2013: 11 und Smit & Wandel 2006: 282) werden in der Entwicklungsforschung systemverändernde Prozesse verstanden, die das System proaktiv vor Krisen schützen sollen (vgl. Davies 1993, Pelling 2011: 21). Problematisch ist ein mechanistisches Verständnis von Anpassung, also eine Änderung der Systemparameter damit zukünftige Ereignisse besser bewältigt werden können (vgl. z.B. die Definition von IPCC 2012: 36). Ein simples Reiz-Reaktions-Schema wird der Komplexität der (unbekannten) Auswirkungen des Klimawandels nicht gerecht, weil der Reiz nicht genau bekannt sein kann und die Reaktion wahrnehmungsabhängig ist (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010, Kuhlicke 2011). Vielmehr sollte Anpassung mit einer Prozesshaftigkeit in Verbindung gebracht werden: “Adaptation can be understood as a regulatory process that aims at preventing damages or taking benefits from current or future environmental changes.” (Cannon & Müller-Mahn 2010: 628)

Die Definitionen von Anpassung und Entwicklung sind ähnlich und verdeutlichen den gemeinsamen Kern dieser Konzepte. Beide zielen darauf ab, Prozesse in Gang zu setzen, die es der Bevölkerung erlauben, die Grundbedürfnisse sicherer zu befriedigen. Allerdings liegt bei der Entwicklung der Fokus auf einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation der Bevölkerung. Anpassung hingegen bezieht sich auf Ereignisse, die möglicherweise in Zukunft auftreten. Die Anpassung ermöglicht dann eine langfristige Bewältigung dieser Ereignisse (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010: 628). Anpassung an den Klimawandel steht somit für ein dauerhaftes Überleben trotz zukünftiger Naturereignisse. Auf konzeptioneller Ebene wird Anpassung von der (kurzfristigen) Bewältigung unterschieden. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel lässt sich Bewältigung als Handlungen (zum Überleben) innerhalb bestimmter Zwänge charakterisieren. Anpassung hingegen bezeichnet die (anhaltende) Änderung der Rahmenbedingungen (vgl. Birkmann et al. 2013: 197). Nachdem die exakten Ausmaße der Auswirkungen des Klimawandels unbekannt sind, muss Anpassung an den Klimawandel Unsicherheiten miteinbeziehen (vgl. Füssel & Klein 2006: 316, Füssel 2007, Adger et al. 2009: 342, Keiler et al. 4

„Adaptive capacity“ bezeichnet die Fähigkeit eines Systems sich anzupassen. „Adaptations are manifestations of adaptive capacity“, so Smit & Wandel (2006: 286).

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Konzeptionelle Grundlagen

2010). Deshalb unterscheidet sich Anpassung an Naturereignisse von der Anpassung an den Klimawandel (vgl. Daschkeit & Felgentreff 2011: 231). Es ist z.B. nicht ausreichend, ein System vor einem 100-jährigen Hochwasser zu schützen. Es kann sein, dass aufgrund des Klimawandels ein 200-jähriges Hochwasser auftritt, oder aber – und das ist wahrscheinlicher – verschiedene Auswirkungen des Klimawandels zusammen eine andere und gefährlichere Auswirkung zeigen („multihazard“). Die Unsicherheit erhöht auch die Wahrscheinlichkeit von „Fehlanpassungen“. Da weder die Art des Ereignisses, noch die Ausmaße oder der Zeitpunkt eines Ereignisses genau bekannt sind, ergreifen Systeme u.U. Maßnahmen, die sich als hinderlich und schädlich herausstellen (vgl. Adger 2003a: 31). Angepasste Systeme müssen auch mit solchen Unsicherheiten umgehen. Im Sinne einer „robusten Anpassung“ (vgl. Kuhlicke 2011) müssen Systeme folglich flexibel sein, damit sie auch mit unerwarteten Situationen und Ausmaßen umgehen können (vgl. auch Füssel & Klein 2006, Füssel 2007). Sie müssen das „Unerwartete“ erwarten. Nach Kuhlicke (2011) kommt dies zwar einer „Quadratur des Kreises“ gleich, aber Chancen bestehen, dass resiliente Systeme diese Eigenschaften besitzen können (siehe Ausführungen in Kap. 3.4). Die Anpassung von sozioökologischen Systemen findet nach Holling (2001: 394) innerhalb eines adaptiven Zyklus („adaptive cycle“) statt. Der Grundgedanke ist eine Abfolge von zeitlich unterschiedlich schnellen Veränderungen, die ein System durchläuft. Nach einer langsamen Phase der „Sättigung“ kommt eine schnelle Phase, in der sich die Systemparameter aufgrund einer Krise deutlich verschlechtern. Danach kommt die Phase der Reorganisation, in der die Systemparameter aufgebaut werden. Nach der Reorganisation ist das System nicht im selben Zustand wie vor dem Ereignis, sondern in Abhängigkeit der Resilienz des Systems in einem veränderten Zustand. Je nachdem, wie stark sich der neue Zustand vom alten unterscheidet, spricht Pelling (2011: 23) von einer „Transition“ (inkrementelle Veränderung) oder von einer „Transformation“ (starke Änderung). Dabei geht Holling davon aus, dass alte, als ungünstig bewertete Systemzustände während der Aufbauphase nicht mehr angestrebt werden. Damit wird „Zerstörung“ zu einem Teil der Anpassung (vgl. Folke 2006: 258). 3.3 VULNERABILITÄT Das Konzept der Vulnerabilität war zunächst im Risikomanagement verankert (z.B. Gilbert 1995) und wird seit Längerem im Kontext von Entwicklung, Krisen, Naturereignissen und Klimawandel verwendet (z.B. Liverman 1990, Downing 1991, Cutter 1996, Füssel 2007, Cannon 2008, Birkmann et al. 2013). Der Vulnerabilitätsansatz in den Sozialwissenschaften entstammt dem Unbehagen an dem einseitigen ökonomischen Verständnis von Armut allgemein (vgl. Krüger 2003: 7) und dem Bemühen, Risikomanagement effizienter zu gestalten (vgl. Birkmann 2006: 9). Sozialwissenschaftler kritisierten schon seit längerer Zeit die rein technischen, „hazard“-bezogenen Sichtweisen auf „Natur“katastrophen (vgl. Fuchs 2009: 338). Der Ansatz, dass allein das physische Ereignis eine Katastrophe auslöst, scheint zu

Vulnerabilität

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einseitig. Vielmehr liegt es nahe, den Fokus auf die sozialen Prozesse und Strukturen in der Gesellschaft zu legen (vgl. Wisner et al. 2004). Seit den 1980er Jahren (z.B. Timmerman 1981, Liverman 1990) widmen sich deshalb die sozialwissenschaftliche Entwicklungsforschung und die entwicklungsorientierten Umweltwissenschaften der Interaktion von Umwelt und Gesellschaften. Sie gehen davon aus, dass die Vulnerabilität der Gesellschaft darüber entscheidet, ob aus einem Naturereignis eine Katastrophe wird. Nach dem Vulnerabilitätskonzept gibt es somit keine Naturkatastrophen, sondern Sozialkatastrophen (vgl. Felgentreff & Glade 2008). Bei dem Konzept der Vulnerabilität herrscht Konsens, dass spezifische Faktoren eine Gesellschaft für Ereignisse anfällig machen (vgl. Birkmann 2006: 12). Dabei treten verschiedene Dimensionen von Vulnerabilität auf: institutionelle, wirtschaftliche, physische, kulturelle oder soziale Vulnerabilität (Erläuterungen hierzu z.B. in Cutter 1996, Fuchs 2009, Birkmann et al. 2013). Eine übliche Definition der sozialen Vulnerabilität, welche das physische Ereignis und die sozioökonomischen Faktoren berücksichtigt, lautet: “[Vulnerability are t]he conditions determined by physical, social, economic and environmental factors or processes, which increase the susceptibility of a community to the impact of hazards” (United Nations 2004: 16).

Eine Zusammenstellung anderer geläufiger Definitionen findet sich z.B. in Cutter (1996), Thywissen (2006) oder Hufschmidt (2011). Füssel (2007) unterstreicht die Gefahr der „Beliebigkeit“, die von weitgefassten Definitionen von Vulnerabilität ausgeht (vgl. auch Cannon 2008: 2). Deshalb plädiert Füssel (2007: 157) für konkrete Angaben bezüglich des betroffenen Systems, der betroffenen Werte (z.B. Menschenleben, Wertsachen, Biodiversität), des Ereignisses und des zeitlichen Rahmens. Bei der Debatte über Vulnerabilität herrscht Einigkeit darin, dass „Vulnerabilität“ auf den inneren Risikofaktor („intrinsic vulnerability“) eingeht (vgl. Watts & Bohle 1993: 54, Birkmann 2006: 16). Somit ist die Vulnerabilität die innere Charakteristik des der Bedrohung ausgesetzten Systems (vgl. Wisner et al. 2004). Das betroffene System kann dabei ein Individuum, Gegenstände oder eine Gruppe von Personen sein. Aufbauend auf diesem gemeinsamen Kern eröffnen sich weitere Konzepte zur Vulnerabilität (vgl. Birkmann 2006: 17). Neben der inneren Charakteristik sieht Chambers (1989) und später Bohle (2001: 3) eine Doppelstruktur der Vulnerabilität. Die „interne Seite“ der Verwundbarkeit beschreibt die Bewältigung des Ereignisses und die „externe Seite“ stellt die Exposition des betroffenen Systems dem Ereignis gegenüber dar. Die Exposition wird dabei durch die Art und die Vehemenz des physischen Ereignisses beeinflusst. Die interne Struktur der Vulnerabilität wird zunächst von Sen (1981) mit den „entitlements“ (deutsch: Verfügungsrechte) in Verbindung gebracht. Bei seiner Analyse der Hungersnot von 1943/44 in Bengalen erkannte Sen, dass die Hungersnot nicht durch einen Mangel an Nahrungsmitteln, sondern durch den mangelnden Zugang der Dorfbevölkerung zu den Lebensmitteln ausgelöst wurde. Diesen Ansatz der Verfügungsrechte ergänzen Watts & Bohle (1993) um Ansätze des „empowerment“ und der Politischen Ökonomie. Dadurch

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Konzeptionelle Grundlagen

versuchen sie, aufbauend auf Susman et al. (1983), ein Konzept der internen Vulnerabilität zu erarbeiten, welches auch historische Prozesse und langfristige Folgen von Krisen berücksichtigt. Diese Konzepte von Vulnerabilität sind bereits recht umfangreich, werden aber auch kritisiert: Cannon et al. (2003: 7) heben beispielsweise hervor, dass die Exposition selbst durch das Handeln und die Charakteristika des betroffenen Systems geprägt ist. Zum Beispiel beeinflusst die bauliche Struktur der Häuser den Schutz vor Erdbeben, hängt aber auch stark von den finanziellen Möglichkeiten einer Familie ab. Insofern sind auch bei der Exposition durchaus verfügungsrechtliche, humanökologische und sozioökonomische Betrachtungen notwendig (vgl. Birkmann 2006: 17). Ein integriertes Modell wurde von Cutter (1996) entwickelt. In dem „Hazards of Place-Model“-Model werden als Vulnerabilität die räumliche Exposition einem Ereignis gegenüber und die internen sozioökonomischen Strukturen aufgefasst (vgl. Cutter 1996: 533). Insbesondere wird der räumliche Aspekt von Vulnerabilität berücksichtigt, da sowohl die Exposition als auch die sozioökonomischen Strukturen räumlich variieren (vgl. Cutter et al. 2000: 716). Allerdings beleuchtet das Hazards-of-Place-Modell nicht die Entstehung der sozioökonomischen Vulnerabilität (vgl. Cutter et al. 2008: 601). Das Pressure and Release-Modell (PAR) von Wisner et al. (2004: 49ff.) vertieft deshalb den polit-ökonomischen Ansatz. Vulnerabilität ist demnach ein Ergebnis aus dem Ereignis (Exposition) und der Charakteristik der betroffenen Gruppe. Wisner et al. untersuchen mithilfe des PAR-Modells die interne Seite der Vulnerabilität genauer: In der betroffenen Gruppe finden dynamische Prozesse statt, die sich in Grundursachen, Druckfaktoren und Unsicherheiten einteilen lassen. Vorrangig aufgrund von fehlenden Verfügungs- und Partizipationsrechten und aufgrund von ungünstigen Machtverhältnissen (vgl. Krüger 2003: 8, Adger 2006: 270) finden innerhalb der betroffenen Gruppe Prozesse statt, die dazu führen, dass die Gruppe mit dem Ereignis nur ungenügend umgehen kann und in weiterer Folge eventuell eine Katastrophe entsteht. Turner et al. (2003: 8074) kritisieren an dem PAR-Modell, dass es nicht im Detail darauf eingeht, wie das betroffene System mit dem Ereignis umgeht. Die Bewältigung erweitern Turner et al. daher um den Resilienz-Ansatz. Nicht nur die (kurzfristige) Bewältigung des Ereignisses wird betrachtet, sondern auch die (langfristige) Anpassung des Systems an spätere Ereignisse. Die Erweiterung impliziert somit eine Rückkoppelung zwischen dem System und dem Ereignis. Weiterhin konzentrieren Turner et al. ihre Betrachtungen nicht mehr vorrangig nur auf Menschen, sondern auf gekoppelte Mensch-Umwelt-Systeme. Dadurch öffnet sich das Vulnerabilitätskonzept auch der Nachhaltigkeitsdebatte. Insgesamt wird durch die Adaptierungen von Turner et al. das Vulnerabilitätskonzept von einer dualen Struktur zu einer multiplen Struktur erweitert (vgl. Birkmann 2006: 18).

Vulnerabilität

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Abb. 2: Das Modell der Vulnerabilität nach Turner et al. (2003). Quelle: Eigener Entwurf nach Bohle & Glade 2008.

Nach der sozioökologischen Perspektive von Turner et al. (2003) setzt sich die Vulnerabilität aus der Exposition, der Empfindlichkeit („Sensitivity“) und der Belastbarkeit/Resilienz („Resilience“) gleichermaßen zusammen (siehe Abb. 2). Die Exposition wird durch die Interaktion der betroffenen Gruppen (z.B. einzelne Personen, Haushalte oder Ökosysteme) mit den Charakteristika des Ereignisses (Frequenz, Magnitude, Dauer) festgelegt. Die Empfindlichkeit eines gekoppelten Mensch-Umwelt-Systems wird durch die Interaktion der sozioökonomischen und politischen Struktur der betroffenen Gruppen (z.B. Verfügungsrechte, wirtschaftliche Situation, Behörden) und den umweltrelevanten Strukturen (z.B. der biophysischen Ausstattung der Umwelt oder der Struktur des Ökosystems) charakterisiert. Die Resilienz wiederum bildet die Fähigkeit des Systems ab, auf die Wirkung des Ereignisses kurzfristig („response“, „cope“) und langfristig („adaptation“) zu reagieren (siehe folgendes Kapitel). Die Pfeile in Abb. 2 verdeutlichen, dass die drei Grundpfeiler der Vulnerabilität miteinander verknüpft sind. Der Verbindungspfeil zwischen der Exposition und der Empfindlichkeit deutet an, dass sich die betroffenen Komponenten und die sozioökonomische Struktur gegenseitig bedingen (vgl. Adger 2006: 272). Zuvor wurde das Beispiel der mangelhaften baulichen Struktur von Häusern beschrieben, die keinen Schutz vor Erdbeben bieten können. Ein anderes Beispiel sind arme, landwirtschaftlich geprägte Länder, in denen die sozioökonomische Struktur auch von der landwirtschaftlichen Lage abhängt. Menschen in kargen, häufig von Dürren oder Überschwemmungen betroffenen Gegenden weisen u.U. einen niedrigen sozioökonomischen Standard auf. Gleichzeitig spielen hier rechtliche und verfügungsrechtliche Fragen eine entscheidende Rolle. Wer Zugang zu guten, nährstoffreichen Böden bekommt, ist nicht nur eine Frage des Schicksals, sondern auch eine Frage von Erbrecht oder auch Korruption. Noch enger verzahnt – manchen Autoren (z.B. Adger 2003a: 32) zufolge ineinander übergehend – ist die Empfindlichkeit mit der Resilienz. Die sozioökonomische und politische Struktur der betroffenen Systeme bedingt den Handlungsspielraum in Bezug

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Konzeptionelle Grundlagen

auf Bewältigungsstrategien und Anpassung maßgeblich. So entscheidet z.B. die finanzielle Situation eines Haushalts darüber, ob das zerstörte Haus wieder aufgebaut und diesmal neueste Technologien verwendet werden können oder ob die Familie in Notunterkünften ihr Dasein fristen muss. Die Exposition ist mit der Resilienz verbunden, da Anpassungsmaßnahmen die Exposition beeinflussen können. Das Turner-et-al.-Modell betont die hohe Dynamik, der das betroffene System unterworfen ist. Durch die Auswirkungen des Ereignisses und durch die Anpassungsleistung verändert sich das betroffene System. Die Gefährdungen ändern sich allerdings ebenso aufgrund äußerer Einflüsse. Zusätzlich werden die Grundlagen, auf die sich das System bezieht, durch den allgemeinen Wandel verändert. Insofern muss sich das System auf neue Situationen einlassen und wird mit veränderten Ereignissen konfrontiert. Dadurch ändern sich die Gefährdung, die Empfindlichkeit und die Resilienz. Dieser Dynamik der Vulnerabilität werden Turner et al. in ihrem Modell durch die Berücksichtigung von Rückkoppelungen gerecht (vgl. Turner et al. 2003: 8076). Aufgrund dieser Besonderheit stellt das Turner-et-al.-Modell eine für diese Arbeit praktikable Konzeptionalisierung von Vulnerabilität zur Verfügung. Entscheidend ist dabei, dass die drei Grundpfeiler eng verzahnt sind. Die Auswirkungen des Klimawandels können hier aufgrund der möglichen Rückkoppelungen miteinbezogen werden (vgl. Füssel 2007: 161). Das gekoppelte Mensch-Umwelt-System wird berücksichtigt, indem die Slums in Dhaka auf der Haushaltsebene in ihrer Interaktion mit Auswirkungen des Klimawandels – und somit der Umwelt – untersucht werden. 3.4 RESILIENZ Der Ursprung des Resilienz-Konzepts liegt in der Ökologie. Nachbarwissenschaften51erkannten schnell sein Potential als Deutungsmuster für die Weiterexistenz von Systemen trotz widriger Umstände (vgl. Folke 2006: 255). Holling (1973) entwickelte das Konzept der Resilienz, da er Einwände gegen das damals vorherrschende Konzept der „Stabilität“ hatte. Das Ziel eines jeden Systems ist danach sein Fortbestand (vgl. Nelson et al. 2007). Durch Krisen wird das System herausgefordert und in seinem Fortbestand gefährdet. Lange Zeit wurde als Kennzeichen der Widerstandsfähigkeit eines Systems die Dauer der Erholung nach der Krise definiert. Ein stabiles System war also ein System, welches sich schnell von einer Krise erholen konnte. Aber Holling erkannte durch seine Untersuchung ökologischer Systeme, dass diese keineswegs nur in einem einzigen Zustand existieren, sondern vielmehr verschiedene Zustände einnehmen können. Während des Erholungsprozesses kann durchaus ein Zustandswechsel erfolgen (vgl. Folke 2006: 254). Die 5

Auf die Übertragbarkeit des Resilienz-Konzepts in der Ökologie auf gekoppelte sozial-ökologische Systeme wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Die Hinweise auf potentielle Probleme von Cannon & Müller-Mahn (2010) sind dabei durchaus zu berücksichtigen. Soziale Systeme sind maßgeblich durch Machtstrukturen und nicht-rationale Entscheidungen geprägt, wodurch sie sich von ökologischen Systemen unterscheiden (vgl. Keck & Sakdapolrak 2013).

Resilienz

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Fähigkeit von Systemen, Krisen zu überstehen und dennoch die grundlegende Funktion zu bewahren, definiert Holling als Resilienz (vgl. Holling 1973: 14). Resilienz umfasst somit neben der Stabilität auch die Anpassungsflexibilität von Systemen. Entscheidend ist die Erweiterung von eindimensionalen Betrachtungen auf die mehrdimensionale Komplexität der Systeme. Die Fähigkeit eines Zustandswechsels resultiert daraus, dass Systeme „komplex“ sind, also aus mehr als einer Variablen bestehen. Sobald eine Störung eine dieser Variablen ändert, reagieren die anderen Variablen auch. Die Interaktion unter den Variablen führt dazu, dass sich das System möglicherweise erholt (vgl. Allenby & Fink 2005: 1034). Aber wie die Erholung aussieht, wird von Störung zu Störung unterschiedlich sein. Arbeiten seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts beweisen Hollings Theorie empirisch (vgl. Folke 2006: 257 u. 262). Die Folge davon ist, dass jede Störung nicht nur eine Gefahr für ein System darstellt, sondern auch das Potential für Entwicklung in sich trägt. Flexible Systeme sind nach Holling in der Lage, sich fortzuentwickeln und Krisen als Auslöser für Veränderung zu begreifen. Daraus ergeben sich folgende Definitionen für Resilienz: “Resilience [...] is the capacity of a system to absorb disturbance and re-organize while undergoing change so as to still retain essentially the same function, structure, identity and feedbacks.” (Walker et al. 2004: 2)

Diese Definition spricht die kurzfristige, stabilitätsbezogene Dimension von Resilienz an („coping“). “But resilience is not only about being persistent or robust to disturbance. It is also about opportunities that disturbance opens up in terms of recombination of evolved structures and processes, renewal of the system and emergence of new trajectories.” (Folke 2006: 259)

Der Zusatz von Folke 2006 betont die längerfristige, flexibilitätsbezogene Dimension der Anpassung. Die kurzfristige Überlebenssicherung bezeichnen Woolcock & Narayan (2000: 227) einprägsam mit „to get by“ und die dauerhafte Anpassung mit „to get ahead“. Resiliente sozioökologische Systeme weisen demnach drei zentrale Eigenschaften auf (vgl. Carpenter et al. 2001, IPCC 2008: 880, The Resilience Alliance): 1. Die Bewältigungsfähigkeit, Änderungen hinzunehmen und dennoch die Funktionalität und Struktur beizubehalten („capacity to cope“) 2. Die Lern- und Anpassungsfähigkeit („capacity to adapt/learn“) 3. Die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren („capacity to self-organize“) 3.4.1 Bewältigungsfähigkeit („capacity to cope“) Bei der Bewältigung von Krisen geht es maßgeblich um die kurzfristige Überlebenssicherung. Die Grenze zwischen Überlebenssicherung und Anpassung ist trotz der klaren konzeptionellen Unterscheidung (siehe S. 45) nicht trennscharf (vgl. Birkmann et al. 2012: 298). Erstens ändert jede Störung die Systemparameter

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Konzeptionelle Grundlagen

zu einem gewissen Grad und zweitens ändern sich die Lebenshaltungskomponenten während des Prozesses der Bewältigung. Dies wird anhand des von Burton et al. (1993) entwickelten Modells deutlich (vgl. Tab. 2). Das Modell teilt die Bewältigungsmaßnahmen in vier Stufen ein: In der ersten Stufe ist die Auswirkung der Krise gering und das betroffene System kann die Schäden tolerieren. Die Krise wird absorbiert. In der zweiten Stufe werden die Schäden wahrgenommen, aber akzeptiert. Mit zunehmender Wirkung der Krise wird in der dritten Stufe eine Reaktion notwendig, um die Schäden zu begrenzen und ein Überleben zu garantieren. In der vierten Stufe wurden die Systemparameter durch die Schäden und die notwendig gewordenen Reaktionen verändert und in einem neuen Stabilitätszustand geordnet (vgl. Pelling 2011: 33 nach Burton et al. 1993). Es ist zu befürchten, dass Naturereignisse, die bislang durch die Stufe 2 oder 3 bewältigt werden konnten, aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels in naher Zukunft der Stufe 4 zuzuordnen sein werden. Tab. 2: Schadensstufen von Krisen. Modelle nach Burton (1993) und Corbett (1988), angewandt auf den Umgang von Haushalten mit Krisen.

Modell der Schadensstufen nach Burton (1993) Stufe 1

Geändertes Modell der Bewältigungsstufen nach Corbett (1988)

Schaden wird absorbiert.

Keine Reaktion notwendig

Stufe 2

Schaden wird akzeptiert.

Abschwächung der Wirkung: Hierbei werden vorrangig strukturelle Maßnahmen angewendet.

Stufe 3

Schaden muss begrenzt werden.

Fortführung des Alltags nicht mehr möglich. Es wird auf aufgebaute „Versicherungen“ zurückgegriffen.

Stufe 4

System wird verändert.

Z.B. Verändern oder Verlassen des Ortes

Quelle: Eigener Entwurf nach Burton (1993) und Corbett (1988).

Während die vierte Stufe eher der Anpassung zuzuordnen ist, gehören die zweite und dritte Stufe eher dem Bereich der Überlebenssicherung an. Eine Veränderung der Systemparameter findet jedoch in jeder Stufe statt. Ab wann von einer Zustandsänderung zu sprechen ist, ist eine Definitionsfrage. Außerdem kommt den sog. Kipppunkten der Transformation (vgl. Pelling 2011: 95) eine wichtige Rolle zu. Wenn diese Punkte überschritten werden, kann ein System nicht mehr die ursprünglichen Systemparameter einnehmen und geht in einen neuen Zustand über. Wo sie liegen, und wann sie überschritten werden, wird meist erst im Nachhinein deutlich (vgl. Holling 2001).

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Resilienz

Die kurzfristige Überlebenssicherung hängt maßgeblich von der Handlungsfähigkeit der betroffenen Systeme ab. Diese Handlungsfähigkeit ist das verbindende Element der Vulnerabilitäts- und Resilienz-Konzepte (vgl. Lazarus 2011: 21). Die Handlungsfähigkeit hängt vor allem in armen Ländern von diversifizierenden Lebensgrundlagen ab, also alternativen Ressourcen (vgl. Chambers 1989: 5). In Krisenzeiten sind arme Bevölkerungsschichten darauf angewiesen, über vielfältige und redundante Ressourcen zu verfügen, weil der ständige Zugang zu einer bestimmten Kapitalform nicht gesichert ist (vgl. Eriksen et al. 2005: 288, Cannon 2008: 4, Prowse & Scott 2009). Die Arbeiten zu Verfügungsrechten (vgl. Sen 2002) deuten genau diese Zugangsbeschränkungen auch von institutioneller, rechtlicher Seite an. Das vom DFID (1999) entwickelte „Livelihood-Framework“ erlaubt eine ganzheitliche, systemische Perspektive auf die Elemente und Strategien, die für betroffene Systeme notwendig sind, um Krisen zu überstehen und die Grundbedürfnisse dauerhaft zu befriedigen. Das „Livelihood-Framework“ basiert auf der Annahme, dass diese Kapitalformen während Krisen in Mitleidenschaft gezogen, aber auch zur Bewältigung genutzt werden. Die Elemente der Lebenssicherung sind eingebettet in Rahmenbedingungen: einen politischen, ökonomischen und institutionellen Kontext. Das Zusammenwirken der Störung mit dem betroffenen System und den Rahmenbedingungen, in denen das System funktioniert, führen zu den beobachteten Handlungsmustern der Lebensabsicherung (vgl. Krüger 2003: 10). Die Anpassungsfähigkeit eines Systems wird auch besonders durch die Lernfähigkeit und die Fähigkeit zur Selbst-Organisation geprägt. Tab. 3: Kapitalformen und ihre Ausprägungen.

Asset

Dimension

Ausprägungen

Finanzkapital

Ökonomische Ressourcen

Monetäre Ressourcen wie Einkommen, Ersparnisse, Zugang zu Krediten, Wertgegenstände

Humankapital

Ressourcen, die unmittelbar mit einer Person verbunden sind

Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten, Gesundheit

Sozialkapital

Ressourcen, über die eine Person oder eine Gruppe aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe verfügt

Netzwerke und Werte, wie Vertrauen, Gegenseitigkeit

Sachkapital

Technische, bauliche Umwelt einer Person oder Gruppe

Bauliche Struktur der Unterkunft, Infrastruktur (Straßennetz, Versorgung mit Elektrizität, Wasser)

Naturkapital

Natürliche Umwelt einer Person oder Gruppe

Qualität von Land, Wasser, Luft, Biodiversität

Quelle: Eigener Entwurf nach Humberg (2011: 112).

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Konzeptionelle Grundlagen

Die Basis des „Livelihood-Framework“ sind die Lebensgrundlagen (LivelihoodAssets). Diese setzen sich aus fünf sog. Kapitalformen zusammen (siehe Tab. 3) (vgl. Krantz 2001: 9, Krüger 2003: 11). 3.4.2 Lernfähigkeit („capacity to learn“) Die zweite zentrale Eigenschaft von resilienten Systemen ist ihre Lernfähigkeit, also die Fähigkeit zur Problemreflexion und der Möglichkeit, durch neues oder rekombiniertes Wissen etwas zu ändern. Lernen bezeichnet in diesem Zusammenhang das Erkennen von Fehlern und das Verändern von Strukturen (vgl. Diduck et al. 2005: 271). In dem Korrekturprozess können Strukturen so geändert werden, dass das System zukünftig besser mit kommenden Krisen umgehen kann. Dies bezieht sich sowohl auf das Verhalten während der Krise, als auch auf eine bessere Vorbereitung und Vorbeugung, bevor das Ereignis eintritt (vgl. Adger et al. 2005: 1036, Folke 2006: 263). Die Lernfähigkeit stellt somit eine Grundvoraussetzung für Anpassung dar (vgl. Pelling et al. 2008, Pelling 2011: 60). Lernen bezieht sich dabei einerseits auf die Vergangenheit. Ereignisse müssen analysiert werden und die richtigen Schlussfolgerungen in ein neues System integriert werden. Aber Lernen bezieht sich ebenso auf zukünftige Ereignisse. Gerade durch den Klimawandel werden sich zukünftige Ereignisse deutlich von bisherigen Störungen unterscheiden. Die Erkenntnisse über neue Trends müssen also ebenfalls in ein adaptives System eingespeist werden. Rayner & Malone (1998) weisen aber auch darauf hin, dass das Umfeld von Personen (Netzwerke) und nicht so sehr das Wissen über zukünftige Gefahren dafür entscheidend sind, ob Personen sich adaptiv verhalten (vgl. Pelling et al. 2008: 868). Wenger (2000: 229) bezeichnet Gruppen von Akteuren, die voneinander lernen und sich kopieren, als „communities of practice“. Sie seien die Grundlage für die Lernfähigkeit sozialer Systeme, da in ihnen das notwendige Wissen vorhanden sei. Diese Gruppen zeichnen sich neben dem Wissen durch gemeinsame Werte und Normen sowie Vertrauen ineinander aus. Sozialkapital ist demnach eine Voraussetzung auch für die Lernfähigkeit (vgl. Adger 2003b). Und es ist zugleich eine Voraussetzung für ein gemeinsames Handeln von Mitgliedern einer Gesellschaft, die sich auf deren Fähigkeit zur Selbst-Organisation auswirkt. 3.4.3 Fähigkeit zur Selbst-Organisation („capacity to self-organize“) Eine Selbst-Organisation liegt vor, wenn das betrachtete System sich ohne Zutun einer höheren Ebene (z.B. Staat oder Bezirksverwaltung) zu einer Gruppe im weiteren Sinne zusammenschließt. Diese Gruppe kann entweder formalen Kriterien entsprechen oder informeller Natur sein. Als informelle Gruppen werden z.B. Netzwerke von Freunden verstanden. Beide Formen von Organisationen leisten für die Anpassungsleistung und somit die Resilienz einen wichtigen Beitrag (vgl. Pelling 2011: 61). Die formalen Organisationen sorgen durch die existierenden Regelwerke

Verknüpfung von Anpassung, Vulnerabilität und Resilienz

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für Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Die informellen Organisationen wiederum stellen einerseits für viele marginalisierte Bevölkerungsgruppen die einzige Möglichkeit eines Zusammenschlusses dar (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010). Andererseits erweisen sich gerade die informellen Zusammenschlüsse als besonders innovativ, weil in ihnen das gegenseitige Vertrauen besonders hoch ist und sie weniger einem Erwartungs- bzw. Erfolgsdruck ausgesetzt sind (vgl. Shaw 1997: 345). Für ein gemeinsames – und zwar sowohl kurz- als auch langfristiges – Handeln spielt die Fähigkeit zur Selbst-Organisation somit eine wichtige Rolle (vgl. Adger 2001). Ebenso wie die Lernfähigkeit muss die Fähigkeit zur Selbst-Organisation dabei als Ziel und als Ursache für eine Erfolg versprechende Anpassung verstanden werden. 3.5 VERKNÜPFUNG VON ANPASSUNG, VULNERABILITÄT UND RESILIENZ Mithilfe der Konzepte der Anpassung, Vulnerabilität und Resilienz wird in der Entwicklungsforschung versucht, die Perspektiven armer Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf Krisen – insbesondere den Klimawandel – zu verbessern (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010). Cutter et al. (2008) stellen die Ansätze verschiedener Autoren gegenüber, um Anpassung, Vulnerabilität und Resilienz in Beziehung zu setzen. Manche Autoren (z.B. Adger 2006, Folke 2006) betrachten Resilienz als einen Teil der Anpassung. Andere Autoren hingegen (z.B. Turner et al. 2003, Gallopín 2006) verstehen Anpassung als einen Teil der Resilienz und Resilienz wiederum als Teil der Vulnerabilität (vgl. Cutter et al. 2008: 600). In Anbetracht des Verständnisses von Resilienz als die Fähigkeit, die Systemparameter zu verändern und aus Krisen zu lernen, erscheint der Vorschlag von Cutter et al. (2008) einleuchtend, dass Resilienz und Vulnerabilität zwar unterschiedliche und getrennte Konzepte sind, die jedoch über Rückkoppelungen verbunden sind. Diesen Vorschlag greift auch das MOVE-Projekt auf. In diesem Projekt werden Erkenntnisse aus den Disziplinen Disaster Risk Reduction (DRR) und Climate Change Adaptation (CCA) zusammengeführt (vgl. Birkmann et al. 2013). Dem Framework zufolge entsteht das Risiko aus der Interaktion eines Ereignisses mit einer anfälligen Bevölkerung (vgl. das PAR-Modell). Die Vulnerabilität der anfälligen Bevölkerung zeichnet sich durch die Exposition, die Suszeptibilität/Zerbrechlichkeit und den Mangel an Resilienz aus (vgl. das Modell nach Turner et al.). Die Resilienz wird dabei durch die drei Eigenschaften von The Resilience Alliance (2011) beschrieben. Das MOVEFramework betont an dieser Stelle, dass das Risiko, welches aus all diesen Eigenschaften resultiert, von einem „Risk Governance“ aufgefangen wird. Dieses RiskGovernance (in dem die Akteure staatliche und nicht-staatliche Organisationen und Einzelpersonen sind) hat die Aufgabe, im Sinne eines Risiko-Managements die Risiken zu verringern (zum Katastrophenkreislauf siehe Dikau & Weichselgartner 2005). Im Rahmen der Anpassung sollen zur Risiko-Vorbeugung die Gefahren (Mitigation) und die Vulnerabilität verringert werden. Das geschieht durch konkrete Verringerung der Exposition, der Zerbrechlichkeit und der Stärkung der Resilienz. Der Aspekt der Resilienz („capacity to cope“) lässt sich demzufolge der kurzfristi-

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Konzeptionelle Grundlagen

gen Bewältigung und damit der Vulnerabilität zuordnen. Die beiden anderen Aspekte („capacity to learn“ und „capacity to self-organize“) werden hingegen der Anpassung zugeschrieben. Resilienz spielt somit sowohl für die Bewältigung als auch für die Anpassung eine wesentliche Rolle und ist ein verbindendes Glied (vgl. Füssel & Klein 2006, Birkmann et al. 2013: 201). In sozialen Systemen spielt das Sozialkapital in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Der hohe Stellenwert von Netzwerken, Normen und Werten für die Handlungsfähigkeit, das Lernen und die Selbst-Organisation macht deutlich, wie eng das Konzept des Sozialkapitals mit den Konzepten der Resilienz, der Anpassung und auch der Entwicklung verknüpft ist (vgl. Adger 2003b: 390). Sozialkapital ist für die Anpassung wesentlich, da die Normen und Regeln im Sinne der Neuen Institutionenökonomik die Transaktionskosten maßgeblich senken (vgl. Sauerland 2003): z.B. ersetzt Vertrauen kosten- und zeitintensive Verträge. Sozialkapital vereinfacht gemeinschaftliches Handeln und ermöglicht Stabilität (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010: 629). 3.6 SOZIALKAPITAL Das Konzept des Sozialkapitals ist seit den 1990er Jahren aus den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften nicht mehr wegzudenken (vgl. Haude et al. 2005). Sozialkapital wird von etlichen Wissenschaftlern als das bislang „fehlende Glied“ gesehen, um das Funktionieren der Gesellschaft genauer zu erklären. In der Entwicklungsforschung wird es als zentrales Element angesehen, wie die Verbesserung der Lebensbedingungen in den armen Ländern „doch endlich“ funktionieren könne (vgl. Woolcock & Sweetser 2002). Andere sehen darin jedoch ein „schwammiges“ Konzept, das die zu untersuchenden „Sozialbeziehungen verwischt“, anstatt sie zu fokussieren (vgl. Berner 2005). In der vorliegenden Arbeit wird die optimistische Perspektive vertreten. Damit wird anerkannt, dass Sozialkapital zwar ein weitgefasstes Konzept ist, mit den notwendigen Konkretisierungen jedoch ein gutes Raster darstellt, um Abläufe in der Gesellschaft zu erkennen und zu benennen. 3.6.1 Entstehungsgeschichte des Begriffs Eine grundlegende Erkenntnis der Soziologie ist, dass (fast) jeder Einzelne von den Ressourcen in sozialen Systemen bzw. in der Gesellschaft profitieren kann (vgl. Halpern 2005: 3, Kriesi 2007: 25). Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu. Sie begleitet die Wissenschaft der Soziologie seit ihrer Entstehung (vgl. Franzen & Freitag 2007: 7). Das Konzept fasste Lyda Judson Hanifan bereits im frühen 20. Jahrhundert als Erster unter dem Begriff „Sozialkapital“ zusammen. Hanifan erkannte zunächst im Schulwesen und später in vielen Bereichen des allgemeinen Lebens in den Gemeinden seiner Heimat West Virginia tiefgreifende Mängel und suchte nach deren Ursachen. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die Solidarität in der Gesellschaft fehle. Hanifan (1916) definierte Sozialkapital über die Eigenschaften, wie

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Gemeinschaftsgeist und Mitgefühl, die die gesellschaftliche Einheit ausmachen. Er entwickelte die Ansicht, dass der Einzelne hilflos sei, aber im Kontakt mit seinen Nachbarn seine Lebensbedingungen und die der gesamten Gruppe substantiell verbessern könne. Zentral ist die Aufteilung des Sozialkapitals in Werte/Normen und gegenseitigen Austausch. Die hohen in das Sozialkapital gesetzten Erwartungen und seine Interpretation als Allheilmittel werden aus heutiger Perspektive als überhöht angesehen. Bereits vor den 1980er Jahren verwendeten einige Autoren unabhängig voneinander den Begriff Sozialkapital, vor allem im Zusammenhang mit Untersuchungen zu Humankapital oder Stadtentwicklung (z.B. Seely et al. 1956, Jacobs 1961, Loury 1977). Sie konnten das Konzept aber weder in den Sozialwissenschaften verankern, noch zentral auf die wissenschaftliche Tagesordnung bringen. Granovetter (1973, 1985) legte mit seinem Ansatz der „embeddedness“ den Grundstein Sozialkapital als Ressource anzuerkennen. Er hebt die Bedeutung sozialer Netzwerke für ökonomisches Handeln hervor. Kernaussage ist dabei, dass das ökonomische Handeln in soziale Netzwerke eingebettet ist und dadurch die sozialen Strukturen mitbestimmt (vgl. Coleman 1988: 97, Kriesi 2007: 24, Castiglione et al. 2008: 2). Darauf aufbauend erschienen Arbeiten von Pierre Bourdieu (1983), James Coleman (1988) und Robert Putnam (1993). Bourdieu sah sich in der Pflicht, der in Europa dominierenden „wirtschaftlichen Sichtweise“ entgegenzutreten. Er forderte, dem Begriff „Kapital“ neben den ökonomischen auch soziale und kulturelle Aspekte zuzuordnen (vgl. Bourdieu 1983: 184). Bourdieu betrachtet Unterschiede in Gesellschaften von einem Mikro-Level aus. Er stellt sich die Frage, inwieweit sich die Potentiale und das Kapital einzelner Personen innerhalb von Gemeinschaften unterscheiden. Ungefähr zeitgleich bemühte sich Coleman in den USA um eine Verbindung von soziologischen und ökonomischen Fragestellungen und suchte ebenso wie Hanifan Ansätze, um Probleme im Bildungsbereich lösen zu können (vgl. Halpern 2005: 7). Coleman nimmt mit seinem Aufsatz 1988 ebenso wie Bourdieu eine Mikro-Perspektive ein. Putnam gelang es dann 1993 mit seinem Buch über die Effektivität und Effizienz italienischer Provinzregierungen, das Konzept des Sozialkapitals als auch für Politikwissenschaften relevant darzustellen. Dadurch erreichte das Konzept eine breitere Basis und eine deutlich höhere Beachtung (vgl. Halpern 2005: 7). Außerdem integrierte Putnam die Mikro-Ebene (die Strukturen zwischen den Akteuren) in die Makro-Ebene (das Funktionieren der Gesellschaft) (vgl. Castiglione et al. 2008: 4). Seit den 1990er Jahren hat die Verwendung des Konzepts in wissenschaftlichen Kreisen enorm zugenommen und es ist aus vielen – v.a. entwicklungspolitischen – Agenden mittlerweile nicht mehr wegzudenken. Die Vielzahl der verschiedenen Definitionen macht eine kumulative Forschung – wie z.B. beim Humankapital – unmöglich (vgl. Franzen & Freitag 2007: 9). Es besteht die Gefahr, dass man unter Sozialkapital so viel verstehen kann, dass es „alles und nichts“ aussagt (vgl. Portes 1998: 2). Die Ursache dafür ist wohl auch bei den drei „Gründungsvätern“ des modernen Sozialkapital-Begriffs zu suchen. Das Verständnis von Bourdieu, Coleman und Putnam unterscheidet sich nämlich erheblich, wie im Folgenden dargestellt wird.

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3.6.2 Klassische Ansätze nach Bourdieu, Coleman und Putnam 3.6.2.1 Pierre Bourdieu Im Zuge von Forschungen in Algerien wollte Bourdieu ein Verständnis für die Produktion und Reproduktion sozialer Hierarchien innerhalb der einheimischen Stämme entwickeln. Bourdieu verwendete das Konzept des Sozialkapitals, um die Ausbildung von Hierarchien nachzuvollziehen, und versuchte insofern zu verstehen, wie Einzelne an exponierte Machtpositionen gelangen können. Dafür sei ökonomisches Kapital ein wesentliches, aber nicht das alleinige Machtinstrument (vgl. Bourdieu 1983). Im Kern dreht sich seine Theorie um den von ihm entwickelten Begriff des „Habitus“. Dieser bezeichnet die Gewohnheiten und das Verhalten von Menschen innerhalb von Gruppen (vgl. Dörfler et al. 2003). Entscheidend für den Habitus ist zunächst das kulturelle Umfeld, das Bourdieu als kulturelles Kapital bezeichnet. Für die Bildung von sozialen Hierarchien sind dann aber nach Bourdieu das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital wesentlich (vgl. Castiglione et al. 2008: 3). Er definiert Sozialkapital als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983: 190).

Die Ressourcen basieren somit also auf der Tatsache, dass einzelne Personen zu bestimmten Gruppen gehören. Diese Gruppenzugehörigkeit kann über die Generationen hinweg vererbt werden. Der gemeinsame „Pool“ an Ressourcen – oder anders ausgedrückt: das Gesamtkapital – aller Gruppenmitglieder ermöglicht jedem Einzelnen den potentiellen Zugang zu deutlich mehr und vielfältigeren Ressourcen. Daraus ergibt sich eine Sicherheit und eine Kreditwürdigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder (vgl. Bourdieu 1983: 191). Die Beziehungen in sozialen Netzen existieren nach Bourdieu aber nur, wenn sie in der Praxis durch materielle oder symbolische Tauschbeziehungen praktiziert werden. Durch den hohen Stellenwert, den Gesellschaften Symboliken (wie z.B. Verwandtschaftsverhältnissen) beimessen, nehmen Sozialkapitalbeziehungen „eine quasi-reale Existenz an, die durch Austauschbeziehungen am Leben gehalten und verstärkt wird“ (Bourdieu 1983: 191). Sozialkapital wird somit – ebenso wie ökonomisches und kulturelles Kapital – durch aktive Arbeit akkumuliert (vgl. Field 2008: 18). Die Akkumulation von Kapital erfolgt bewusst oder unbewusst, durch individuelle oder kollektive Investitionsstrategien. Im Falle des Sozialkapitals spricht Bourdieu von „Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten“ (Bourdieu 1983: 193). Für diese Beziehungsakte ist Zeit und Geld notwendig und insofern auch der Einsatz von ökonomischem und kulturellem (humanem) Kapital.

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Sozialkapital kann also durch andere Kapitalformen gebildet werden. Im Gegenzug drückt sich der Ertrag des Sozialkapitals in Form von materiellen oder symbolischen Gegenständen aus. Sozialkapital kann also in andere Kapitalformen verwandelt werden (vgl. Portes 1998). Die „Menge“ an Sozialkapital, über die eine einzelne Person verfügen kann, hängt von der Anzahl und der Qualität der Kontakte und deren Ressourcen (in Form von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital) ab (vgl. Bourdieu 1983: 191). Daraus folgt zwangsläufig, dass die Menge an Sozialkapital, die eine Person „besitzt“, sowohl von der Gruppe insgesamt als auch von der Person selbst abhängt. Ebenso folgt, dass Sozialkapital weder einer Person allein, noch generell einer Gruppe zugeschrieben werden kann. Der Gebrauch des Sozialkapital-Konzepts macht nach Bourdieu nur Sinn, wenn man das Zusammenspiel von einzelnen Personen und der Gruppe betrachtet. Außerdem ist ein selbstverstärkender Effekt von Sozialkapital festzustellen. Je mehr für die Akkumulation von Sozialkapital eingesetzt wird (z.B. in Form von Geschenken an Kontakte), umso mehr Profit kann die betreffende Person aus dem Sozialkapital erwarten. Gleiches gilt für die Anzahl der Kontakte. Umso mehr Kontakte man knüpft (und darin Zeit und Geld investiert), umso wahrscheinlicher ist es, dass man von diesen Kontakten Profite erhält (vgl. Bourdieu 1983: 192). Bourdieu führt in seinem zentralen Werk (1983) einen Aspekt des Sozialkapitals an, durch den seine Sonderstellung deutlich wird: Er vertritt die Position, dass das Sozialkapital einer Gruppe auf einen Repräsentanten der Gruppe delegiert werden kann. Diese Sichtweise erklärt, warum Bourdieu in der Regel nur unter Vorbehalt als „Vater des Sozialkapitals“ gewürdigt wird. Zwar überführte er als Erster das Sozialkapital von einer reinen Metapher in ein ausgereiftes Konzept, aber er verharrte auf der individualistischen und instrumentellen Sichtweise (vgl. Kriesi 2007: 24). Seine Schlussfolgerung ist, dass Delegierte das Sozialkapital der Gruppe bewahren müssen und es dafür sogar gegen Einzelne (Nicht-Angepasste) verwenden können. Field (2008: 20–22) kritisiert diesen instrumentellen Ansatz. Es sei nicht ausreichend, das Konzept des Sozialkapitals nur mit Blick auf algerische Stämme zu entwickeln. Sozialkapital sei nicht nur in elitären Schichten vorhanden, sondern finde sich auch in armen, unterprivilegierten Schichten. Tauschhandlungen finden nicht nur instrumentell statt, also mit dem Ziel, Sozialkapital zu begründen, sondern geschehen auch aus Nächstenliebe und Solidarität. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Modell der sozialen Hierarchie zu statisch sei. Bourdieu erkenne zwar die Änderungen der modernen Zeit an, werde mit seinem Sozialkapital-Konzept diesen Änderungen aber nicht gerecht. Die starke Betonung der Verwandtschaft als eines der zentralen Elemente des Sozialkapitals wird z.B. als nicht zeitgemäß kritisiert (vgl. Field 2008). Der Einfluss von Freunden, Nachbarn und Wohltätern spielt eine ebenso wichtige Rolle. Ein grundlegender Mangel ist bei Bourdieu auch darin zu sehen, dass er negative Aspekte des Sozialkapitals nicht berücksichtigt.

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3.6.2.2 James Coleman Einen ganz anderen Zugang zur Beschäftigung mit Sozialkapital wählte James Coleman. Er untersuchte zunächst, welche Einflüsse für die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entscheidend sind (vgl. Coleman 1990: 334). Weiter stellte er die Frage, wodurch soziales und wirtschaftliches Handeln von Akteuren geprägt ist. Damals gab es zwei wesentliche wissenschaftliche Ansätze, die solche Handlungen erklärten: Die Interpretation der Soziologie ging von sozialen Strukturen (Normen und Vorgaben) aus, in denen der Akteur eingebettet sei. Aufgrund dieser Strukturen habe der Akteur keine Wahl, als sozial zu handeln. Die meisten Ökonomen hingegen gingen davon aus, dass der Akteur ausschließlich im Eigeninteresse und für den größtmöglichen Nutzen handeln will (Rational-ChoiceTheorie) (vgl. Coleman 1988: 95). Coleman kritisierte an dem soziologischen Erklärungsmodell die Kraft, die einen Akteur grundsätzlich handeln lässt. Das ökonomische Modell wies er zurück, da es keine empirischen Belege für die Rational-Choice-Theorie gab. Anhand einer Studie zu Schulabbrechern entwickelte er deshalb das Konzept des Sozialkapitals. Ziel war die Analyse von sozialen Strukturen, ohne dabei die ökonomische Sichtweise der Rational-Choice-Theorie zu vernachlässigen (vgl. Coleman 1988: 97, Field 2008: 26). Nach Coleman (1988: 98) ist Sozialkapital ebenso eine Ressource wie Geld oder Bildung. Die Ressource Sozialkapital wird von den sozialen Strukturen innerhalb der Gesellschaft geformt. Die sozialen Strukturen bilden somit das Grundgerüst von Colemans Konzept und in diesen finden rationale (ökonomisch orientierte) Handlungen statt, wie in der Definition deutlich wird: “Social capital is defined by its function. It is not a single entity but a variety of different entities, with two elements in common: they all consist of some aspects of social structures, and they facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors – within the structure.” (Coleman 1988: 98)

Mit dieser Definition hebt Coleman deutlich den funktionalen Charakter von Sozialkapital hervor. Sozialkapital ist eine Ressource, die es einzelnen Akteuren oder einer Gruppe ermöglicht, Ziele zu erreichen. Coleman sieht es als richtig an, bei sozialen Ressourcen von einer Kapitalform zu sprechen, weil Sozialkapital einen produktiven Charakter aufweist. Es dient dazu, dass die Akteure von diesem Kapital etwas erhalten. Die Kritik, dass Sozialkapital nicht vollständig in andere Kapitalformen transformierbar sei, ist nach Coleman (1988: 98) zwar berechtigt, doch weist er darauf hin, dass auch Humankapital und physisches Kapital nicht vollständig transformiert werden können. Wichtige Unterschiede zu anderen Kapitalformen sind erstens, dass Sozialkapital nicht an eine Person gebunden ist, sondern an die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Akteuren. Die Akteure können dabei einzelne Personen oder Körperschaften, wie Unternehmen, Vereine oder Organisationen, darstellen. Zweitens ist Sozialkapital ein öffentliches Gut. Es bedarf zunächst eines Einsatzes eines Akteurs, der unrentabel erscheint. Den Profit erntet der erhaltende Akteur

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oder allgemeiner: die Gruppe. Eine Folge der scheinbaren Unrentabilität und gleichzeitig ein weiterer Unterschied zu anderen Kapitalformen ist nach Coleman (1988: 118), dass in den meisten Fällen Sozialkapital nicht intentional akkumuliert wird, sondern als Nebenprodukt einer anderen Handlung „entsteht“ oder „zerstört“ wird. Durch den intentionalen Einsatz von Finanz- oder Humankapital mit dem Ziel, Interessen zu verfolgen, wird nach Coleman immer wieder Sozialkapital aufgebaut oder vernichtet (vgl. Coleman 1988: 118, Castiglione et al. 2008: 4, Field 2008). Durch diese Argumentation gelang es Coleman, ein Problem der RationalChoice-Theorie zu lösen. Mit der Beobachtung, dass Sozialkapital gar nicht absichtlich aufgebaut wird, überbrückte er die Kluft zwischen dem soziologischen und ökonomischen Ansatz (vgl. Castiglione et al. 2008: 3, Field 2008: 28). Coleman nennt als erste Grundlagen von Sozialkapital Vertrauen, Erwartungen und Verpflichtungen. Ein Akteur wird nur dann anderen Personen etwas geben, wenn das Vertrauen besteht, einen ähnlichen Wert zurückzubekommen. Die Erwartung ist in diesem Fall, dass eine „Wiedergutmachung“ erfolgt. In Übereinstimmung mit Bourdieu sieht Coleman das Sozialkapital insofern als eine Art von „Vertrauensvorschuss“ und die Unterstützung als eine Form von Kredit (vgl. Bohle 2005: 67). Meistens wird diese Wiedergutmachung bzw. Gegenleistung weder im Umfang, noch in der Art der ersten Gabe entsprechen, wodurch ein Ungleichgewicht entsteht. Portes (1998: 4) führt auch an, dass die gegenseitigen Erwartungen oft nicht transparent sind und allein schon deshalb eine begleichende Rückgabe nicht möglich ist. Woolcock & Sweetser (2002: 26) brachten in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „moralischen Ursachen“ für Sozialkapital auf. Sie meinen damit, dass Sozialkapital aus der moralischen Verpflichtung fortbesteht, die vermeintliche Schuld zu begleichen. Die zweite Grundlage von Sozialkapital sieht Coleman in der Möglichkeit, Informationen auszutauschen. Informationen besäßen einen ebenso hohen Stellenwert wie reale Güter und bildete die Grundlage für Vertrauen (vgl. Coleman 1988: 104). Die dritte Grundlage bilden Normen und effektive Sanktionen. Effektive Sanktionen sorgen dafür, dass Normen eingehalten werden. Wenn Normen befolgt werden, kann ein Vertrauen in die Gemeinschaft und in andere Personen entstehen. Coleman betont, dass sich effektive Sanktionen nur in schließenden Netzwerken bilden können. Es muss sich demnach eine hinreichend große Anzahl der einzelnen Gruppenmitglieder untereinander kennen. Es reicht nicht, dass man nur die Person kennt, mit der man in einer konkreten Austauschhandlung steht. Die Person hätte dann alleine nicht genug Sanktionsmöglichkeiten, falls die andere Person den Erwartungen nicht nachkommt. Kann die gebende Person sich aber mit einer Dritten zusammenschließen und z.B. vom Fehlverhalten der erhaltenden Person berichten, so wird der Druck größer und ein Fehlverhalten unwahrscheinlicher (vgl. Coleman 1988: 105–107, Coleman 1994: 104–108, 318–320). Soziale Organisationen stellen eine weitere Möglichkeit dafür dar, dass sich in einer Gesellschaft Sozialkapital ausbildet. Organisationen sind auch ein Beispiel für den Gedanken, dass Sozialkapital als Nebenprodukt anderer Handlungen entsteht. Während sich soziale Organisationen oft als Antwort auf einen spezifischen

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Problemfall bilden, bleiben sie in vielen Fällen nach der Lösung des Problems bestehen, weil die teilnehmenden Personen von den neu geschaffenen Strukturen auch in anderen Bereichen profitieren. Innerhalb der Organisationen bilden sich neben neuen Netzwerken auch eigene Normen und Sanktionen, die Vertrauen begründen (vgl. Coleman 1988: 108). Anders als Bourdieu wendet sich Coleman auch negativen Aspekten von Sozialkapital zu. In Strukturen mit starkem Sozialkapital ist ein individuelles Verhalten schwierig und somit werden innovative Handlungen unterbunden. Dies kann negative Effekte für die Gruppe auslösen und schränkt einzelne Personen in ihren Freiheiten ein (vgl. Coleman 1988: 105). Inwiefern Sozialkapital im „Ernstfall“ genutzt werden kann, hängt nach Coleman von dem Ausmaß der offenen Verpflichtungen ab und vom Grad der Vertrauenswürdigkeit, der in der Gesellschaft vorherrscht. Wie stark die Unterstützung durch Sozialkapital konkret ausfällt, hängt wiederum von einer Reihe anderer Faktoren ab – beispielsweise vom tatsächlichen Bedarf des Akteurs, von anderer organisierter Hilfe, von der Fähigkeit zur Selbsthilfe, vom kulturellen Kontext und vom konkreten Zugriff auf die Netzwerkkontakte (vgl. Field 2008: 28). Coleman verwendete das Sozialkapital-Konzept mit dem Fokus auf die Rolle der Familie, den Verwandten und der Kirche. Ebenso wie Bourdieu wird Coleman deshalb ein zu statisches Konzept vorgeworfen, welches den heutigen komplexen gesellschaftlichen Strukturen nicht gerecht werde (vgl. Field 2008: 30). Portes (1998: 5) kritisiert an Coleman auch dessen Betonung der schließenden Netzwerke und die Vernachlässigung von brückenbildenden Netzwerken. Die konzeptionelle Aufarbeitung der verschiedenen Formen von Netzwerken wurde von Mark Granovetter (1973) und Robert Putnam angestoßen. 3.6.2.3 Robert Putnam Robert Putnam ist der Wissenschaftler, dessen Name heute fast untrennbar mit dem Konzept des Sozialkapitals verbunden ist. Seine beiden Arbeiten „Making Democracy Work“ (1993) und „Bowling Alone“ (2000) überführten die Gedanken von Bourdieu und Coleman in ein umfassend anwendbares Konzept des Sozialkapitals. Putnam veranschaulicht seine Erkenntnisse am Beispiel der politischen Landschaft Italiens und des „Niedergangs“ der sozialen Gemeinschaft in den USA (vgl. Halpern 2005: 7, Kriesi 2007: 29, Castiglione et al. 2008: 4). Anders als Bourdieu und Coleman wendet Putnam sich dem Sozialkapital nicht aus soziologischer, sondern vor allem aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu. Für ihn galt es zu klären, wie Demokratie hergestellt werden kann und erhalten bleibt. Diese kollektive Betrachtung von Sozialkapital ist zunächst der augenscheinlichste Unterschied zu den individuellen Betrachtungsweisen von Coleman und Bourdieu. Eine zusätzliche Differenz besteht darin, dass Putnam seine Ausarbeitungen auf Netzwerke der Zivilgesellschaft und deren staatsbürgerliches Engagement fokussiert (vgl. Kriesi 2007: 27). In „Making Democracy Work“ kommt Putnam zu dem

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Schluss, dass das Maß an Sozialkapital in der Bevölkerung die zentrale demokratiefördernde Größe ist. Putnam folgt in seinen Arbeiten zunächst Coleman, wie in seiner ersten Definition (1993) von Sozialkapital deutlich wird. “Social capital here refers to features of social organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions: Like other forms of capital, social capital is productive, making possible the achievements of certain ends that would not be attainable in its absence.” (Putnam 1993: 167)

Ebenso wie Coleman unterstreicht Putnam den produktiven Charakter von Sozialkapital und hebt die notwendigen Strukturen von Vertrauen und Normen hervor. Im Gegensatz zu Coleman misst Putnam aber auch nicht-schließenden Verbindungen in Netzwerken eine sozialkapitalfördernde Bedeutung zu (etwa bilateralen Verbindungen). Die Bedeutung von Sozialkapital schätzt Putnam im Rahmen seiner Studien zu den USA (2000) ein: “The core idea of social capital theory is that social networks have value. [...] social contacts affect the productivity of individuals and groups.” (Putnam 2000: 18–19)

Die notwendigen Voraussetzungen für Sozialkapital präzisiert er folgendermaßen: “Social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them.” (Putnam 2000: 19)

Putnam vertritt die Meinung, dass Vertrauenswürdigkeit und Gegenseitigkeit wesentliche Bestandteile der sozialen Normen sind. Vertrauen wird somit zur Voraussetzung und gleichzeitig zum Ergebnis der zwei konstituierenden Elemente des Sozialkapitals: Netzwerke und Normen. Dieser Zirkelschluss stellt das Konzept des Sozialkapitals bis heute vor Schwierigkeiten (vgl. S. 67). Putnams Fokus auf die Zivilgesellschaft veranlassen ihn, Vereine und Verbände als Orte aufzufassen, in denen Werte wie Vertrauenswürdigkeit und Gegenseitigkeit gelehrt und gelebt werden. Aus dem Grund folgert Putnam, dass „Vereine [...] die Basis für generalisiertes soziales Vertrauen [schaffen]“ (Kriesi 2007: 28). Putnam führt aus, dass die Kontakte innerhalb der sozialen Netzwerke erst durch den Austausch von Ressourcen („social support“) gehaltvoll werden. Die Kontakte an sich stellen im Sinne des Sozialkapitals keinen Wert dar. Die Norm der Gegenseitigkeit gliedert Putnam in die spezifische und die generalisierte Reziprozität. Die spezifische Reziprozität bezieht sich auf zwei Akteure, die untereinander austauschen. Die generalisierte Reziprozität bezeichnet, dass ein gebender Akteur von der Gesellschaft einen Gegenwert erhalten wird. Ein kleines Beispiel kann dies veranschaulichen: Angenommen eine Frau Begum hat von einer Frau Akter während einer Überschwemmung 2 kg Reis erhalten. Die spezifische Reziprozität bezeichnet dann eine Wiedergutmachung in der Form, dass Frau Begum der Frau Akter innerhalb der nächsten Wochen ebenfalls Lebensmittel oder Geld gibt. Bei der generalisierten Reziprozität erhält Frau Akter aber nicht von Frau Begum, sondern von anderen Personen eine Wiedergutmachung. Diese ist zeitlich nicht

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fixiert. Die generalisierte Reziprozität besteht in „funktionierenden“ Gesellschaften in der Gestalt, dass eine Person einer anderen zu einem bestimmten Zeitpunkt hilft und sich darauf verlassen kann, zu einem späteren Zeitpunkt selbst Hilfe von anderen Personen zu erhalten (vgl. Putnam 1993: 172, Putnam 2000: 20). Für Putnam (2000: 20) ist die generalisierte Reziprozität das entscheidende Element im Konzept des Sozialkapitals. Generalisierte Reziprozität entwickelt sich in „dichten“ Netzwerken und bildet nach Putnam Vertrauen (vgl. Putnam 1993: 173, Putnam 2000: 22). Erst das Vertrauen ermöglicht es den Akteuren, Investitionen zu tätigen, also z.B. Geld zu verleihen sowie Nahrungsmittel, Informationen oder Kleidung auszutauschen. Aufgrund von Vertrauen können auch alltägliche Arbeitsschritte vereinfacht werden. Putnam (2000) selbst führt das Beispiel der Geldrückgabe an Kassen in Supermärkten an. Wenn man das Geld nicht bei jedem Einkauf abzählen muss, erspart man sich Zeit. Vertrauen fördert also gegenseitige Investitionen und gleichzeitig entwickeln sich durch gegenseitige Investitionen Vertrauensnetzwerke. Somit bedingen sich Reziprozität und Vertrauen gegenseitig. Ebenso ergibt sich daraus der schon von Bourdieu postulierte selbstverstärkende Effekt. Vertrauen, Reziprozität, soziale Normen und Netzwerke – und somit Sozialkapital an sich – nehmen durch Verwendung zu und bei Vernachlässigung ab (vgl. Putnam 1993: 169, Ostrom 2000: 179, Kriesi 2007: 25). Putnam schließt daraus, dass sich Sozialkapital durch selbstverstärkende Effekte entweder verbessern oder im Sinne eines „Teufelskreises“ vermindern kann (vgl. Putnam 1993: 170). Folgt man dieser Logik, gibt es zwei stabile Gleichgewichte. Einerseits existiert ein Gleichgewicht mit sehr hohem Sozialkapital, andererseits ein Gleichgewicht, das von Egoismus geprägt ist. Nach Putnam ist es einem Individuum allein nicht möglich, ein derartiges Gleichgewicht in einen anderen Zustand zu überführen (vgl. Putnam 1993: 177). Entscheidend ist vielmehr, ob in der Ausgangssituation ein hohes Maß an Sozialkapital existiert. Putnam legt seinem Ansatz des Sozialkapitals also eine Pfadabhängigkeit zugrunde. Diese besagt, dass die Ausgangssituation schon in erheblichem Maße determiniert, wohin eine Entwicklung gehen wird und welche Ziele erreicht werden können (vgl. Putnam 1993: 179). Vor dem Hintergrund der Pfadabhängigkeit ist zu klären, welche Ursachen die Gegenseitigkeit und somit das Sozialkapital bestimmen. In einem ersten Erklärungsansatz hält Putnam sich an die Auffassung von Coleman, nach der Sozialkapital als Nebenprodukt entsteht. Weiter führt Putnam aus, dass sogar egoistisches Handeln nach der Rational-Choice-Theorie altruistisch sein kann – und zwar dann, wenn Eigeninteresse im Sinne der Allgemeinheit eingesetzt wird (vgl. Putnam 1993: 88). Denn Eigeninteresse und Allgemeinwohl schließen sich keinesfalls immer aus. Vielmehr erkennen Akteure, dass Investitionen in Sozialkapital für den gebenden Akteur zu späteren Zeitpunkten profitabel sein können, v.a. bei langfristigen Interaktionen (vgl. Kriesi 2007: 25). Für Putnam (2000: 134) beruht die Gegenseitigkeit somit auf einem kurzfristigen Altruismus und einem langfristigen Eigeninteresse.

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Einen zweiten Erklärungsansatz sieht Putnam (1993: 165) in dem Einfluss eines unabhängigen Dritten. Typischerweise ist das die Rolle des Staates. Der Staat erlässt Gesetze, deren Beachtung er durch die Androhung von Sanktionen einfordert. Allerdings ist nicht klar, wie diese formellen Institutionen legitimiert werden und ob die Sanktionen im Straffall auch durchgesetzt werden können. Einleuchtender ist hier die Erklärung aus der Spieltheorie, dass die Realität die Akteure wiederholt vor die Entscheidung stellt, altruistisch oder egoistisch zu handeln. Die Akteure werden immer wieder mit denselben Partnern konfrontiert und die Partner tauschen sich auch untereinander aus. Insofern tritt bei der oben angesprochenen langfristigen Interaktion ein Lerneffekt ein und die Akteure wissen, dass ihr Verhalten auch für die Zukunft Auswirkungen hat (vgl. Arrow 2000: 3). Unter diesen Voraussetzungen kommt die Spieltheorie zu dem Ergebnis, dass sich auch egoistisch denkende Akteure langfristig für ein altruistisches Verhalten entscheiden (vgl. Ahn & Ostrom 2008: 71). Formen der Netzwerke: „Bonding“ und „Bridging Ties“ Mit Bezug auf Granovetter (1973) unterscheidet Putnam zwischen starken und schwachen Verbindungen in Netzwerken und bezeichnet die starken Verbindungen als „schließend“ („bonding ties“) und die schwachen Verbindungen mit „brückenbildend“ („bridging ties“). „Schließend“ sind Verbindungen zwischen Mitgliedern homogener Gruppen. Brückenbildende Verbindungen bestehen zwischen Personen mit unterschiedlichen Hintergründen und sozioökonomischen Lebenssituationen (vgl. Putnam 2000: 22). Putnam geht davon aus, dass Akteure in schließenden Strukturen in dichten Netzwerken agieren. Die schließenden Strukturen sind diejenigen, die dafür sorgen, dass die Wiederholungen im Sinne der Spieltheorie stattfinden und die Akteure lernen, altruistisch zu handeln. Netzwerke mit schließenden Strukturen bilden soziales Vertrauen und in diesen Netzwerken erfolgt eine Rückmeldung über konformes Verhalten oder Fehlverhalten. Schließende Verbindungen bilden auch die entscheidende Voraussetzung für Informationsaustausch, u.a. auch über die Vertrauenswürdigkeit von Mitgliedern, und dienen somit der Ausbildung der generalisierten Reziprozität. Nach Putnam (1993: 174) sind brückenbildende Strukturen im Gegensatz dazu nicht vertrauensfördernd, da die Akteure aus verschiedenen sozioökonomischen Schichten kommen und meist unterschiedliche Rollen erfüllen müssen. Allerdings folgt Putnam den Argumenten von Granovetter (1995), dass brückenbildende Verbindungen zusätzliche Ressourcen erschließen lassen. Brückenbildende Strukturen verbinden heterogene Akteure, sodass damit auch heterogene Ressourcen ausgetauscht werden können. Im Fall des Arbeitsmarktes ist dies nach Granovetter (1973) besonders bedeutsam, da v.a. Personen in fremden Netzwerken neue Informationen über freie Stellen liefern können („strength of weak ties“). Innerhalb des eigenen Netzwerkes – in dem die schließenden Strukturen wirken – verfügen die Mitglieder meist über ähnliche Informationen (vgl. Putnam 2000: 175). Im Hinblick auf seine forschungsleitende Fragestellung, wodurch Demokratie gefördert wird, kommt Putnam zu

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dem Ergebnis, dass Gruppen mit schließenden Verbindungen das Gemeinwohl deutlich besser fördern als brückenbildende und deshalb die schließenden Verbindungen der Demokratie dienlicher sind (vgl. Putnam 1993: 175). Allerdings droht bei Gruppen mit schließenden Verbindungen auch eine Abkapselung der Gruppe von der Außenwelt. Das Risiko dafür ist umso größer, je stärker die schließenden Verbindungen ausgeprägt sind. Insgesamt seien negative Auswirkungen bei schließenden Verbindungen wahrscheinlicher als bei brückenbildenden (vgl. Putnam 2000: 23). Grundsätzlich stellt Putnam (2000: 23) fest, dass schließende Verbindungen die Mitglieder zusammenschweißen und brückenbildende Verbindungen das Leben in der Gesellschaft vereinfachen. Schließende Verbindungen helfen den Mitgliedern, Krisen zu bewältigen („to get by“), während brückenbildende der Gesellschaft besser helfen, sich langfristig positiv zu entwickeln („to get ahead“). Putnam merkt aber in Bezug auf die Praxis kritisch an, dass die dichotome Einteilung in schließende und brückenbildende Verbindungen irreführend sei, da in der Realität diese Verbindungen oft gleichzeitig vorkämen. Putnam führt als Beispiel an, dass sich sogar in einer relativ homogenen Bowlinggruppe ein Kapitän finden lasse, der hierarchisch über den anderen stehe (vgl. Putnam 1993: 173, Putnam 2000: 23). Negative Effekte von Sozialkapital Putnams Ausarbeitungen zum Sozialkapital zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie stärker als Coleman auf negative Auswirkungen von Sozialkapital eingehen. Putnam spricht dabei die Auswirkungen von sozialer Kontrolle an. Diese können positiv sein, wie z.B. im Falle von geringerer Kriminalität in Wohnbezirken (vgl. Coleman 1988: 99). Aber sie können auch Personen, die sich nicht anpassen oder unterordnen wollen, in ihrer Freiheit einschränken (vgl. Putnam 2000: 138). Kritik an Putnams Konzept Die vielfältige Kritik, die an Putnams Konzept geäußert wurde (vgl. McLean et al. 2002b, Solt 2004, Stolle & Hooghe 2004, Kriesi 2007: 29), gliedert sich in empirische und konzeptionelle Kritik. An dieser Stelle soll vor allem die konzeptionelle Kritik berücksichtigt werden. Putnams Fokus auf die Zivilgesellschaft und die ahistorische Argumentation ließen zu wenig Raum für weitere wesentliche Bestimmungsfaktoren von Interaktionen. Levi (1996) führt an, dass Putnam den Einfluss der Zivilgesellschaften deutlich überschätze und Vertrauen vielmehr durch staatliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen aufgebaut werde. Stolle (1998) stützt diese Kritik durch Ergebnisse ihrer Studie, die zeigen, dass Personen in Vereinen schon vor dem Eintritt in die Vereine ein größeres Maß an sozialem Vertrauen besitzen (vgl. Kriesi 2007: 30). Die „enge“ Konzeption von Putnam macht sich nach Ansicht der Kritiker auch bei der Rational-Choice-Theorie als Erklärungsansatz für altruistisches und gemeinschaftliches Verhalten bemerkbar. Die Rational-Choice-

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Theorie könne nicht als alleinige Erklärung bemüht werden. Vielmehr müsse auch der kulturelle Hintergrund der untersuchten Gesellschaft betrachtet werden. Akteure können z.B. traditionellen Werten (wie Ansehen, Respekt) eine größere Bedeutung beimessen als wirtschaftlichen Werten. Dem schließt sich der Vorwurf an, dass ausgerechnet der Politikwissenschaftler Putnam den Einfluss von externen Akteuren, wie etwa der Politik, auf die Formierung von Sozialkapital nicht ausreichend berücksichtige (vgl. McLean et al. 2002a: 11). Tarrow (1996) führt an, dass die unterschiedliche Leistung der Provinzregierungen in Nord- und Süditalien nicht auf kulturelle oder wirtschaftliche Ursprünge zurückzuführen sei, sondern allein auf politische Faktoren (vgl. Kriesi 2007: 31). Ein weiterer Kritikpunkt an Putnam ist der Zirkelschluss des Konzepts. Allzu leicht werde Sozialkapital sowohl als Ursache für soziales Handeln als auch als Auswirkung von sozialem Handeln konzeptionalisiert (vgl. Misztal 2000: 121, McLean et al. 2002a: 8). Der Hintergrund dafür ist in dem Ansatz von Putnam begründet, dass sich die Elemente des Sozialkapitals gegenseitig bedingen und damit Ursache und Wirkung zugleich darstellen. Auch im Coleman‘schen Konzept ist dieser Zirkelschluss anzutreffen. Coleman spricht dies auch dezidiert an und weist darauf hin, dass dies eine Besonderheit des Sozialkapitals sei (vgl. Coleman 1990). 3.6.2.4 Gemeinsamkeiten von Bourdieu, Coleman und Putnam Für die drei „Gründungsväter“ des Sozialkapital-Konzepts machen „soziale Beziehungen einen entscheidenden Unterschied“ aus. Soziale Beziehungen können produktiv eingesetzt werden, weshalb ihnen eine Art Kapital – das Sozialkapital – zugeschrieben werden kann. Das Gemeinsame und Besondere an Bourdieu, Coleman und Putnam ist, dass sie die positiven wirtschaftlichen Konsequenzen der „sociability“ (Geselligkeit) erkannten und Sozialkapital von einer Metapher in ein wissenschaftliches Konzept überführten. Eng damit verknüpft ist ihre Errungenschaft, soziale Ressourcen in das Konzept von „Kapital“ einzubetten (vgl. Portes 1998: 3). In analytischer Hinsicht ist ihr Beitrag daher in der Erkenntnis zu sehen, dass Netzwerke und Beziehungen wesentliche Ressourcen darstellen. Aufgrund der unterschiedlichen Beweggründe, sich mit Sozialkapital zu beschäftigen, kommen Bourdieu, Coleman und Putnam dann aber zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Bourdieu und Coleman haben noch gemeinsam, dass sie Sozialkapital vorrangig aus Sicht von einzelnen Personen oder Familien betrachten. Für Bourdieu ist allerdings bedeutsam, dass wenige Eliten sich durch Sozialkapital ihre hierarchische Vormachtstellung ausbauen und erhalten können. Coleman hingegen untersucht, inwieweit ärmere und sozial benachteiligte Personen sich durch Sozialkapital doch Vorteile sichern können. Putnam wiederum betrachtet Sozialkapital auf der Ebene der Gesellschaft und fokussiert seine Forschungen auf politische Partizipation (vgl. Field 2008: 44).

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3.6.3 Aktuelle Entwicklungen im Sozialkapital-Konzept Das dadurch eröffnete breite Betätigungsfeld, das sich von armen, ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen bis hin zu Nationen zieht und wirtschaftliche, politische oder soziale Themen abdecken kann, zeigt sich an der nach wie vor wachsenden Anzahl von Publikationen in den Sozialwissenschaften: Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie und Humangeographie (vgl. Freitag 2004: 88, Franzen & Freitag 2007: 9, Svendsen & Svendsen 2009). Das Konzept des Sozialkapitals bietet viele Anknüpfungspunkte und erweist sich als interdisziplinär verwendbar (vgl. Castiglione et al. 2008: 5). Mit seinem übergreifenden Blickwinkel auf Ressourcenverteilungen deckt es auch sozialwissenschaftlich zentrale Dichotomien auf (vgl. Lin 2008: 51). Solche Dichotomien sind z.B. die Bezugsebene (Mikro- oder Makroebene) und der Nutzen von Gütern (privater und öffentlicher Nutzen). Die Interdisziplinarität und Heterogenität ist das Charakteristische des Sozialkapitals. Es wäre sicher zu kurz gegriffen, wenn man die Vielfältigkeit lediglich als Manko darstellen würde. Vielmehr ist genau darin der Erfolg des Konzepts zu sehen, dass es keine Wissenschaftsdisziplin geschafft hat, Sozialkapital in ihrem Sinne erschöpfend zu definieren (vgl. Durlauf & Fafchamps 2004: 3). Die vielfältigen Ansätze des Sozialkapitals sehen alle in sozialen Strukturen eine Ressource, die Akteure nutzen können. Portes (1998: 6) verdeutlicht diesen Kern in seiner Definition von Sozialkapital: “[S]ocial capital stands for the ability of actors to secure benefits by virtue of membership in social networks or other social structures.”

Der Nutzen des Sozialkapitals beruht auf den Ressourcen, welche in die sozialen Netzwerke eingebettet sind. Die Akteure in den Netzwerken haben Zugang zu diesen Ressourcen und können sie für ihre Zwecke einsetzen. Lin (2001: 24–25) betont, dass die Akteure in der Lage sind, in diese Ressourcen zielorientiert zu investieren und sie zweckgerichtet zu verwenden. Das Konzept des Sozialkapitals verknüpft somit handlungstheoretische und strukturtheoretische Perspektiven (vgl. Bernhard 2010: 125). 3.6.3.1 Handlungsorientierte und strukturtheoretische Perspektive Die Unterscheidung in eine handlungsorientierte und strukturtheoretische Perspektive stellt eine der Grundpositionen des Sozialkapital-Konzepts dar. Um dabei nicht einem zirkulären Trugschluss zu unterliegen, ist es notwendig, diese beiden Perspektiven deutlich voneinander zu trennen. Anders ausgedrückt spricht das Konzept des Sozialkapitals gleichzeitig zwei Bereiche an, die getrennt behandelt werden müssen: Die Struktur der sozialen Interaktion und die soziale Unterstützung an sich (vgl. Kawachi et al. 2008b: 3). Lin (2008: 52) bezeichnet diese Grundpositionen als zugängliches und mobilisiertes Sozialkapital (ähnlich Putnam). Zugängliches Sozialkapital bezeichnet die Menge und Qualität der Ressourcen, über die eine Person in ihrem Netzwerk verfügt. Folglich wird zugängliches Sozialkapital von den sozi-

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alen Strukturen bestimmt. Mobilisiertes Sozialkapital bezeichnet die Güter und Informationen, die über die sozialen Strukturen tatsächlich ausgetauscht werden (vgl. Kriesi 2007: 39). Aus handlungsorientierter Perspektive betrachtet man Sozialkapital hinsichtlich der Bedingungen, wie Sozialkapital durch Handlung generiert wird. Prominenter Vertreter des handlungsorientierten Ansatzes ist Bourdieu. Nach Bourdieu sind zwei handlungsorientierte Aspekte wesentlich: Erstens kann Sozialkapital durch „Beziehungsarbeit“ generiert werden. Zweitens ermöglicht Sozialkapital aufgrund seines produktiven Charakters Handeln. Die Beziehungsarbeit wird durch den Einsatz von ökonomischem Kapital und Humankapital geleistet. Das produktive Handeln kann ökonomisches Kapital oder eine Zunahme an Humankapital erzeugen. Somit ist die Kapitalumformung in beide Richtungen möglich. 3.6.3.2 Bestandteile des Sozialkapitals Die Bestandteile des Sozialkapitals sind Netzwerke, Normen und Werte (vgl. Halpern 2005: 10, Diekmann 2007: 52, Franzen & Freitag 2007: 11). Vertrauen und Gegenseitigkeit werden ebenfalls von fast allen Wissenschaftlern als wichtige Dimensionen von Sozialkapital gewertet. Nicht einig ist man sich jedoch, ob Vertrauen als Indikator für Sozialkapital verstanden werden soll (z.B. Fischer & Huhnholz 2010), als eine Form von Sozialkapital (z.B. generalisiertes Vertrauen bei Putnam) oder als eigenständiges Konzept (z.B. Franzen & Pointner 2007: 87). Auch die Gegenseitigkeit wird von manchen als Dimension von Sozialkapital gewertet (z.B. Diekmann 2007: 52), von anderen dagegen als eine Norm oder ein Wert (z.B. Halpern 2005: 10). Fukuyama (2001: 7) wiederum sieht Netzwerke, Normen und Vertrauen als Begleiterscheinungen von Sozialkapital. Gegenseitiger Austausch von Gütern und Informationen machen für ihn Sozialkapital aus. Netzwerke Die Grundlage des zugänglichen Sozialkapitals stellt das Netzwerk dar. Als Netzwerkpartner kommen fast alle nicht-staatlichen Akteure infrage. Für einzelne Personen sind das die Familie, Freunde und andere soziale Beziehungspartner und für Gruppen alle sozialen Gemeinschaften mit sozialen Netzwerken und zivilgesellschaftlichen Verbindungen (vgl. Kawachi et al. 2008b: 3). Das zugängliche Sozialkapital wird über die Größe, Dichte und die Struktur der Netzwerke und die Menge und die Qualität der Ressourcen, über die die Akteure in den Netzwerken verfügen, definiert (vgl. Portes 1998: 3–4). Die Größe und Dichte der Netzwerke bestimmt sich durch die Anzahl der Netzwerkpartner und den Aktionsradius des Netzwerks. Die Struktur der Netzwerke wird durch die Art der Beziehung zwischen den Netzwerkpartnern bestimmt. Die Ausarbeitungen von Coleman und Putnam und die Folgerungen für schließende und brückenbildende Beziehungen wurden von Lin (2008) verfeinert. In seinem netzwerktheoretischen Ansatz zum Sozialkapital unterscheidet er zwischen drei Arten sozialer Beziehungen.

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Arten der Netzwerkbeziehungen Die schließenden Beziehungen nach Putnam unterteilt Lin (2008) weiter in enge Beziehungen zwischen nahen Verwandten und engen Vertrauten („binding relations“) und Beziehungen zwischen Personen, die sich regelmäßig treffen und oft Informationen und Gegenstände austauschen („bonding relations“). Während sich in den „binding relations“ alle Akteure auch untereinander kennen und interagieren, ist dies nach Lin (2008) bei den „bonding relations“ nicht der Fall. Der Grund für die gemeinsame Interaktion und intensive Beziehung in diesen beiden Formen des schließenden Typs liegt in gemeinsamen Interessen und ähnlichen Lebenssituationen begründet (vgl. Lin 2008: 59–60). In dieser Arbeit werden „binding“ und „bonding relations“ unter den „bonding relations“/schließenden Netzwerken zusammengefasst. Die dritte Form der Beziehung („bridging relations“) gründet sich auf gemeinsame Mitgliedschaften oder identitätsstiftende Merkmalen. Dies ist nach Lin (2008) die loseste Form der Beziehung und vermittelt den Akteuren ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. „Bridging relations“ entsprechen den brückenbildenden Netzwerken nach der Einteilung von Putnam. Eine vierte relevante Form der Beziehung wird von Woolcock & Sweetser (2002: 26) angeführt. Unter „linking relations“ oder hierarchieübergreifenden Netzwerken werden Beziehungen zu Personen verstanden, die einer anderen sozioökonomischen Schicht angehören und hierarchisch auf einer anderen Ebene als der Akteur anzusiedeln sind. Typisch hierfür sind Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Unterscheidung zwischen den Formen der Beziehungen in Netzwerken ist bedeutsam, weil die verschiedenen Netzwerkkontakte unterschiedliche Hilfestellungen leisten können. Das Prinzip der „homophily“ sagt aus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Intensität der Interaktion und den ausgetauschten Ressourcen gibt (vgl. Lin 2008). Deshalb tauschen Akteure in schließenden Beziehungen zu einem hohen Grad vorrangig ähnliche Güter und Informationen aus. In schließenden Beziehungen bildet sich aufgrund der sozialen Kontrolle und der direkten Interaktion spezifisches Vertrauen (vgl. Uslaner 2008). Ebenso stellen sie die Netzwerkpartner, die in Krisenzeiten besonders verlässlich sind (vgl. Fuhse 2010: 86). Lin et al. (1981) umschreiben diesen Sachverhalt als „strength of strong ties“ (nach Portes 1998: 12). Nach dem „heterophily principle“ werden in den brückenbildenden Beziehungen und „linking relations“ im Umkehrschluss unterschiedliche Informationen und Ressourcen ausgetauscht (vgl. Lin 2008: 60–61). Jeder Akteur lebt in einem Kreis von Netzwerkkontakten und verfügt über eigene Ressourcen und vor allem über Informationen. Sind diese Ressourcen und Informationen zweier Netzwerke nicht redundant, so spricht man von strukturellen Löchern („structural holes“) (vgl. Burt 1992: 9, Fuhse 2010: 86). Kommt es zum Austausch der beiden Netzwerke durch brückenbildende Kontakte, entsteht ein Mehrwert gegenüber den schließenden Kontakten. Ob die Art der Beziehung im Ernstfall genügend Sozialkapital zur Verfügung stellt, hängt nach Lin (2008) von dem Zweck des Einsatzes (Erhaltung der Situation/Erlangen von Neuem) und von den Ressourcen ab, über die das Netzwerk

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insgesamt verfügt. Für die Erhaltung der aktuellen Situation („getting by“) sind eher schließende Beziehungen zielführend. Diese reichen für die Schaffung neuer Systemzustände („getting ahead“) allerdings nicht aus. Hierfür sind brückenbildende und hierarchieübergreifende Beziehungen notwendig (vgl. Lin 2008). Vertrauen Die zweite wesentliche Dimension von Sozialkapital ist das Vertrauen. Vertrauen ist eine Grundeigenschaft der Menschheit, die für das Leben und ganz alltägliche Tätigkeiten notwendig ist (vgl. Bude 2010: 12). Von ebenso hoher Bedeutung ist Vertrauen gerade in prekären Ausnahmesituationen (vgl. Fischer & Huhnholz 2010). Vertrauen stellt eine „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1968: 27) dar, eröffnet somit Perspektiven und Handlungsoptionen, um die Krise zu bewältigen. Bei einer Kooperation hängt der Ertrag der eingebrachten Ressource eines Akteurs maßgeblich auch von der Leistung des Partners ab (vgl. Glaeser et al. 1999: 3). Die Bereitschaft der Akteure, die informelle Verbindlichkeit einzugehen, ist das Kennzeichen des Vertrauens. Das Risiko für die Akteure, dass opportun gehandelt und das Vertrauen missbraucht wird, ist der zu bezahlende Preis für die gewonnene höhere Handlungsoption und die höhere Effizienz der sozialen Handlung. Der Begriff Vertrauen impliziert – im Gegensatz zur Zuversicht –, dass das Risiko des Opportunismus bewusst eingegangen wird (Opportunismus bei Geschäftskooperationen, vgl. Williamson 1975, Fischer & Huhnholz 2010). Vertrauen hat neben den Wirkungen auf Handlungen auch eine hohe Relevanz für Netzwerkkontakte: Vertrauen lässt sich in „spezifisches“ (nach Luhmann, 1968: „personales“ oder „begrenztes“ Vertrauen) und in „allgemeines“ Vertrauen (nach Luhmann 1968: „Systemvertrauen“) untergliedern (ähnlich der spezifischen und allgemeinen Reziprozität). Uslaner (2008) arbeitet heraus, dass spezifisches Vertrauen sich aus Erfahrungen aus vergangenen Interaktionen zwischen konkreten Akteuren bildet oder zerstört wird (vgl. auch Dasgupta 2000). Spezifisches Vertrauen hängt somit von beiden Akteuren ab, weshalb ein Akteur über viele verschiedene Formen von spezifischem Vertrauen verfügt. Spezifisches Vertrauen führt in weiterer Folge zu der Norm der Reziprozität, da die Beziehung der Akteure auf Gegenseitigkeit beruht (vgl. Fischer & Huhnholz 2010). Ebenso ist spezifisches Vertrauen die Grundlage für schließende Netzwerkkontakte, da weder der Netzwerkkontakt noch das Vertrauen ohne den persönlichen Kontakt auskommen. Im Gegensatz dazu vertraut ein Akteur allgemein, wenn er davon ausgeht, dass er von der Gesellschaft als solcher – und nicht von einer bestimmten Person – eine (Gegen-)Leistung erfährt. Mit dem Vertrauen in die Gesellschaft geht ein Akteur ein deutlich höheres Risiko ein, da wegen der fehlenden engen persönlichen Bindung die Ungewissheit deutlich höher ist und Opportunismus begünstigt wird (vgl. Fischer & Huhnholz 2010). Aber allgemeines Vertrauen ermöglicht ein risikobehaftetes Handeln zwischen „Unbekannten“ und ist somit eine wichtige Voraussetzung für brückenbildende Netzwerkverbindungen (vgl. Fischer & Huhnholz 2010). Das macht allgemeines Vertrauen zu einer wichtigen Voraussetzung für Sozialkapital

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(vgl. Uslaner 2008). Weiter wandelt sich das allgemeine Vertrauen in die Gesellschaft aufgrund von einzelnen Erfahrungen – im Gegensatz zum spezifischen Vertrauen – nicht oder kaum (vgl. Uslaner 2008). Allgemeines Vertrauen hängt nicht von einzelnen Erfahrungen und Akteurskonstellationen ab. Ein Akteur verfügt über genau eine Form von allgemeinem Vertrauen. Deshalb stellt allgemeines Vertrauen eine Eigenschaft von Akteuren dar. Diese Eigenschaft wird von Bourdieu mit Gemeinschaftlichkeit gleichgesetzt, durch die die Akteure der Gesellschaft „im weitesten Sinn Kreditwürdigkeit“ erlangen (Bourdieu 1983: 190). Vertrauen als solches sagt nichts über die Handlungen oder gar den Erfolg von Handlungen aus. Es kann Vertrauen zwischen Akteuren oder in einer Gesellschaft herrschen, und die Akteure verhalten sich erwartungsgemäß. Dennoch ist es denkbar, dass die erhoffte Wirkung nicht eintritt. Ein hohes Maß an Vertrauen ist also nicht gleichbedeutend mit einem hohen mobilisierten Sozialkapital. Vertrauen ist jedoch ein geeigneter Indikator für die Qualität der Netzwerke und somit des zugänglichen Sozialkapitals (vgl. Fischer & Huhnholz 2010). Vertrauen ist eine Grundvoraussetzung, dass die Gesellschaft zusammenhält und zusammen handelt. Eine weitere Grundvoraussetzung für gemeinsames oder gegenseitiges Handeln ist in den der Gesellschaft zugrundeliegenden Normen zu suchen (vgl. Halpern 2005). Normen und Sanktionen Die Erklärungsansätze von Coleman und Putnam für das Entstehen von Sozialkapital wurden von Arrow (2000: 3) um nicht-ökonomische Ansätze erweitert. Arrow sieht einen wissenschaftlichen Konsens darin, dass Personen aus intrinsischen Motiven heraus in das öffentliche Gut „Sozialkapital“ investieren. Eine hinreichend große Anzahl an Personen sieht in der Interaktion als solcher einen Anreiz, in die Gemeinschaft zu investieren. Diesen intrinsischen Motiven liegen die in der Gesellschaft existierenden Normen zugrunde. Normen umfassen nach Halpern (2005) Werte, Regeln und Erwartungen, die gemeinsames, philanthropisches Handeln begründen. Dabei spielt z.B. die Religion eine maßgebliche Rolle. Normen entstehen entweder in Form eines Sozialisierungsprozesses oder werden durch bestrafende oder positive Sanktionen eingefordert. Coleman macht in seiner Definition die Sanktionen zu einem Bestandteil des Sozialkapitals. Sanktionen begründen die Motivation, dass Ressourcen ausgetauscht werden (vgl. Halpern 2005). Diese Motivation kann darauf beruhen, dass man sich vor negativen Sanktionen in Form einer Bestrafung fürchtet. Die Motivation kann aber auch auf der Aussicht beruhen, dass man selbst von dem Austausch profitiert. Portes (1998: 7–9) stellt vier verschiedene Formen dieser positiven Sanktionen dar:

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Internalisierte Normen („internalized norms“) – Der gebende Akteur profitiert davon, dass er sich an Normen und Werte hält, weil sie Teil der Kultur sind. Dadurch, dass er anderen Personen hilft, hält er die Normen und Werte der Gesellschaft aufrecht. Insofern kann er sich seinerseits auf die Gesellschaft verlassen. Diese Ursache ist stark an das „Vertrauen“ gebunden. Direkt daran schließt sich die Gegenseitigkeit an. Gegenseitigkeit („reciprocity“) – Der gebende Akteur kann sich wegen der Norm der Gegenseitigkeit sicher sein, dass er ebenfalls Hilfe bekommt, wenn er selbst in Not gerät. Insofern kann soziale Unterstützung als eine Form von Versicherung angesehen werden. Allgemeine Solidarität („enforceable trust“) – Der Akteur kann nicht nur mit der Hilfe von Personen rechnen, denen er selbst half, sondern auch mit der Hilfe der gesamten Gemeinschaft. Soziales Handeln wird von der Gemeinschaft bemerkt und honoriert (i.e. „Systemvertrauen“ nach Luhman 1968). Gruppenzugehörigkeit („bounded solidarity“) – Alle Mitglieder einer Gemeinschaft teilen ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. Diese ist begründet durch das Bewusstsein von Gemeinsamkeiten. In diesen Gemeinschaften ist das intrinsische Interesse besonders ausgeprägt, sich gegenseitig zu helfen.

Normen und Sanktionen hängen eng zusammen. Positive Sanktionen sind die Ursachen, warum in Sozialkapital investiert wird, und Normen wiederum ermöglichen Sanktionen. Die Darstellung der vier positiven Sanktionen für gebende Akteure von Portes zeigt auf, dass es sich aus ökonomischer und intrinsischer Sicht lohnt, in die Gemeinschaft zu investieren. Die Argumente von Coleman, dass Sozialkapital als Nebenprodukt entsteht und eine Investition in Sozialkapital nicht der Rational-Choice-Theorie widerspricht, werden durch die Ausführungen von Portes (1998) gestützt. Neben diesen individuellen Betrachtungen existieren auch eine Reihe von Ansätzen (z.B. Levi 1998, Skocpol et al. 2000, Stolle & Rothstein 2007), die die Bildung von Sozialkapital durch kollektive Zusammenschlüsse in der Tradition von Putnam (1993, 2000) sehen. Putnams Ansicht, dass zivilgesellschaftliche Vereinigungen durch „bottom-up“-Prozesse Sozialkapital bilden, wird den gesellschaftszentrierten Erklärungsansätzen zugeordnet. Die These, dass soziale Beziehungen in gesellschaftlichen Zusammenschlüssen besser abgesichert sind und somit Vertrauen bilden, wird z.B. durch Gabriel et al. (2002: 39) und Bühlmann und Freitag (2007: 178) empirisch gestützt. Der entscheidende Sozialkapitalfördernde Mechanismus ist hier in der informellen Struktur und damit der Selbst-Organisation der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zu sehen (Kriesi 2007: 38). Trotz der vermeintlichen empirischen Beweise dieser Thesen argumentieren andere (z.B. Stolle & Rothstein 2007), dass in den Untersuchungen methodische Fehler vorlägen, da nicht berücksichtigt werde, dass Personen z.B. in Vereinen schon vor dem Beitritt über ein höheres Sozialkapital verfügten (vgl. auch Berner 2005).

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Diese Debatte verdeutlicht, dass bei dem breit aufgestellten Konzept des Sozialkapitals an vielen Stellen noch Uneinigkeit herrscht. Im Folgenden sollen kurz die wesentlichen Stränge der Kontroverse besprochen werden. 3.6.3.3 Diskussionen um das Sozialkapital Seit Anbeginn der Sozialkapital-Debatte besteht Uneinigkeit darüber, ob es gerechtfertigt und zielführend ist, den Begriff des „Kapitals“ zu verwenden. Nach Arrow (2000: 4) ist das Charakteristikum von Kapital seine zeitliche Unabhängigkeit, seine Eigenschaft, dass ein gegenwärtiger Verzicht in der Zukunft einen Profit abwirft, und seine Veräußerbarkeit. Arrow sieht im Falle des Sozialkapitals keines der Kriterien gänzlich erfüllt. Das Kriterium der zeitlichen Unabhängigkeit sei aber weder für das Finanzkapital, Humankapital oder physische Kapital zutreffend und wirke insofern nicht als Ausschlussgrund. Ebenso sei die Veräußerbarkeit für Sozialkapital nur teilweise gegeben, aber auch das treffe für Finanzkapital, Humankapital und physisches Kapital zu (vgl. Arrow 2000: 4, Franzen & Pointner 2007: 69). Den entscheidenden Grund, Sozialkapital nicht als Kapitalform zu akzeptieren, sieht Arrow – und mit ihm zahlreiche andere Wissenschaftler (v.a. Ökonomen) – darin, dass eine Investition in Sozialkapital vorrangig aus intrinsischen Beweggründen geschieht und insofern nicht ausschließlich als eine Zukunftsinvestition zu bewerten ist (vgl. Arrow 2000: 4). Hier sieht Arrow den zentralen Unterschied zum Humankapital oder physischen Kapital. Solow (2000: 7) fügt dieser Argumentationslinie hinzu, dass Sozialkapital nicht monetarisierbar ist und insofern nicht als Kapitalform angesehen werden sollte. Franzen & Pointner (2007: 70) befürworten die Verwendung des KapitalKonzepts und widersprechen Arrow, da auch im Falle von Humankapital von einer intrinsischen – und nicht rein ökonomischen – Motivation gesprochen werden kann. Nicht alles Lernen erfolge rein aus wirtschaftlicher Kalkulation. Außerdem seien nicht alle Investitionen in Sozialkapital rein intrinsisch motiviert, wie Coleman und Putnam ausführlich darlegen. Eine dritte Diskussion wird über die Bezugsgröße von Sozialkapital geführt (vgl. Friedrichs & Oberwittler 2007): Ob Individuen oder Gruppen die Träger von Sozialkapital sind, und ob Sozialkapital Individuen oder Gruppen zugute kommt, hängt nach wie vor von der Fragestellung und somit der Konzeptionalisierung ab. Bourdieu und Coleman haben grundsätzlich einen individuellen Zugang gewählt, dann aber auch anerkannt, dass der Nutzen vom Kollektiv ausgeht. Somit schrieben sie dem Sozialkapital einen doppelten Charakter zu: einen individuellen und einen kollektiven (vgl. Coleman 1988: 98). Der kollektive Aspekt von Sozialkapital gerade in Wohngebieten wird z.B. durch höheres Einkommen in einer Studie von Kleinhans et al. (2007) betont. Die eher individuellen Betrachtungen von Sozialkapital werden aufgrund des direkteren Zugangs und der vermeintlich eindeutigeren Messbarkeit bevorzugt. In der mikro-skaligen Betrachtung sieht auch Portes (1998: 21) das größere Potential des Sozialkapital-Konzepts, auch wenn es durchaus legitim sei, Sozialkapital auch auf die Makro-Ebene zu übertragen.

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Die vage Definition von Sozialkapital verhindert in vielen Fällen eine konkrete Messung (vgl. Van Deth 2008: 159). Allerdings haben sich einige Methoden etabliert, die zumindest die Kernbereiche von Sozialkapital gut zugänglich machen. 3.6.4 Messung von Sozialkapital Für die Messung von Sozialkapital existiert eine Vielzahl an Indikatoren (vgl. Grootaert & van Bastelaer 2002: 6, van der Gaag & Webber 2008: 29). Sozialkapital kann durch quantitative und qualitative Methoden erhoben werden (siehe z.B. van Deth 2008: 160). Die Messung von Sozialkapital erfolgt, indem die einzelnen Komponenten Netzwerke, Vertrauen und Normen mithilfe von Indikatoren gemessen werden (vgl. Grootaert & van Bastelaer 2002: 6, Franzen & Pointner 2007: 72, van der Gaag & Webber 2008: 29). Konkrete Methoden, um Netzwerke zu bestimmen, sind der Netzwerkgenerator nach Fischer (1977: 15), der Positionsgenerator nach Lin & Dumin (1986: 371) und der Ressourcengenerator von van der Gaag & Snijders (2004, 2005). In diesen Generatoren werden die Größe der verfügbaren Netzwerke, die zur Verfügung stehenden Ressourcen und die subjektive Bedeutung einzelner Netzwerke mit relevanten sozioökonomischen Daten erhoben. Die Durchführung und Auswertung erfolgt meist quantitativ (vgl. auch Franzen & Pointner 2007: 73–74, van der Gaag et al. 2008). Die Anfänge der Messung von Sozialkapital waren deutlich quantitativ geprägt. So verwendeten Narayan & Pritchett (1999) mit als erste Netzwerkanalysen, um Verbindungen zwischen Sozialkapital und wirtschaftlichem Erfolg von Dörfern in Tansania nachzuweisen. Sie befragten Haushalte nach ihrer Gruppenzugehörigkeit und ihrem Ausmaß an Vertrauen. Ebenfalls bereits 1999 stellten Krishna & Uphoff (1999) einen Sozialkapital-Index auf. Ihre Analysen beziehen sich auf den Zusammenhang zwischen Vertrauen, der Beteiligung in freiwilligen Organisationen und dem Erfolg von Entwicklungsprojekten im ländlichen Indien. Obwohl Narayan & Cassidy (2001) in Westafrika mit einer ähnlichen Studie zu vergleichbaren Ergebnissen kommen, heben Krishna & Uphoff (1999) hervor, dass die Erhebung von Sozialkapital keinesfalls standardisiert erfolgen kann, da die Messung von Vertrauen und der Einbindung in Netzwerke stark vom lokalen Kontext abhängt (vgl. Bjornskov & Svendsen 2003). Die Messung von Vertrauen erfolgt meist durch die Erhebung des Vertrauens der Probanden in andere Personen und Behörden (vgl. Franzen & Pointner 2007: 75). Die kognitiven Dimensionen des Sozialkapitals stellen die Forscher dabei vor erhebliche Schwierigkeiten, da sie noch weniger qualifizier- oder gar quantifizierbar sind als die strukturelle Komponente der Netzwerke. So dient in vielen Umfragen folgende Frage als Indikator für Vertrauen: “Generally speaking, would you say that most people can be trusted or that you need to be very careful in dealing with people?” (World Values Survey 2000: Frage V25).

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Auch das Vertrauen in Behörden wird meist durch direkte Fragen nach dem Vertrauen erhoben, das die befragte Person in die genannten Behörden hat (vgl. Franzen & Pointner 2007: 76). Bislang haben sich keine indirekten Methoden zur Bestimmung des Vertrauens durchgesetzt. Bei der Bestimmung von Normen und Werten, z.B. der Reziprozitätsnormen, bieten sich hingegen indirekte Methoden an. Mithilfe von spieltheoretischen Experimenten kann das Verhalten von Probanden gut analysiert werden (vgl. Henrich et al. 2004: 120–123, Franzen & Pointner 2007: 76, Anderson & Mellor 2008). Für quantitative Erhebungen schlägt der European Value Survey folgende Frage vor: „Wie stark lehnen Sie es ab, wenn andere Personen sozialstaatliche Leistungen auch ohne Berechtigung in Anspruch nehmen?“ (Franzen & Pointner 2007: 76).

Whitley (2008: 96) kritisiert den Fokus auf quantitative Methoden, da qualitative Untersuchungen besser die Tiefe des Forschungsgegenstandes beleuchten könnten. Beim Sozialkapital-Konzept sei dies von besonderer Bedeutung, da in diesem noch etliche Detailfragen offen seien (vgl. Whitley 2008: 98). Ein Instrumentenset, welches sowohl qualitative als auch quantitative Elemente enthält, ist das Social Capital Assessment Tool (SOCAT) der Weltbank (vgl. Grootaert & van Bastelaer 2002). Mithilfe von standardisierten und offenen, partizipativen Methoden erlaubt das SOCAT Einschätzungen über den Bestand an Sozialkapital in Gemeinschaften, Organisationen oder Haushalten (vgl. Grootaert & van Bastelaer 2002: 10). Im Entwicklungskontext zeigt sich SOCAT als ein flexibles Instrument, welches sich gut mit anderen Erhebungen, z.B. zu Bildungsverhalten, Zugang zu Einrichtungen oder anderen relevanten Größen, verbinden lässt. Die Social Capital Thematic Group der Weltbank hat für das SOCAT einen konkreten Fragebogen vorgelegt, in dem die Dimensionen des Sozialkapitals – Gruppen und Netzwerke, Vertrauen, gemeinsames Handeln, sozialer Einschluss, Information und Kommunikation – abgefragt werden (vgl. Weltbank 2011). Insgesamt lässt sich erkennen, dass die Messung von Sozialkapital auf verschiedenen Ebenen erfolgen muss und stark vom lokalen Kontext abhängt (vgl. Edwards & Foley 1998). Dabei erschweren drei Faktoren die Messung. Erstens ist beim Sozialkapital-Konzept der Zirkelschluss von Ursache und Folge immanent vorhanden. Somit ist es schwierig, eine saubere Messung vorzunehmen. Zweitens sind die Wirkungen von Sozialkapital einem zeitlichen Wandel unterworfen. Ein entscheidendes Element beim Sozialkapital ist die Investitionsarbeit, die erst zu einem späteren Zeitpunkt Wirkung zeigt. Insofern hängt Sozialkapital vom Zeitpunkt der Messung ab. Drittens sind die Wirkungen von Sozialkapital – und damit auch seine Messbarkeit – komplex. Die nicht-messbaren Aspekte sind aber teilweise von entscheidender Bedeutung (vgl. Harpham et al. 2002, Bjornskov & Svendsen 2003, Franzen & Pointner 2007, Lin & Ao 2008, van Deth 2008). Anhand einiger aktueller Studien werden im Folgenden die zentralen Bereiche, in denen die vielschichtigen Wirkungen von Sozialkapital derzeit diskutiert werden, vorgestellt.

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3.6.5 Wirkungen von Sozialkapital In vielen Studien werden die einzelnen Komponenten von Sozialkapital vorschnell mit Sozialkapital gleichgesetzt (siehe z.B. Allmendinger et al. 2007: 502). Wichtig ist aber, diese sauber voneinander zu trennen und auch die Wirkungen der einzelnen Komponenten getrennt zu betrachten (vgl. Ferlander 2007). Weiter ist zu beachten, dass Netzwerke, Normen und Vertrauen selbst verschiedene Arten aufweisen können (z.B. brückenbildende und schließende Netzwerkverbindungen, generalisiertes und spezifisches Vertrauen) und diese Arten sich ebenfalls unterschiedlich auswirken (vgl. Helliwell & Putnam 2007). Somit sollte nur unter Vorbehalt von der „Wirkung des Sozialkapitals“ per se gesprochen werden. 3.6.5.1 Sozialkapital und Entwicklung Die entwicklungstheoretischen Implikationen des Sozialkapitals werden bereits seit über 20 Jahren untersucht. Neben vielen anderen Entwicklungsorganisationen und -einrichtungen favorisiert die Weltbank den Ansatz, Sozialkapital im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit zu fördern (siehe die „Social Capital Initiative Working Paper Series“ der Weltbank, die aus 24 Beiträgen besteht). Harris (2002: 2) kritisiert den Fokus auf das Sozialkapital als apolitisch. Man mache sich keine Gedanken über die Ursachen von Armut und Unterentwicklung und bekämpfe nur deren Folgen. Es sei auch deutlich einfacher, Sozialkapital zu fördern, als grundlegende Strukturen zu ändern (vgl. auch Wolf et al. 2010: 45). Allerdings kann nicht geleugnet werden, dass Sozialkapital eine wichtige Grundlage für zukunftsfähige Strukturen innerhalb von Gesellschaften darstellt. Vertrauen, Netzwerke und die Fähigkeit zur Selbst-Organisation sind grundlegend (siehe Kap. 3.4). Ein Hinweis darauf ist auch die Beliebtheit des Schlagworts der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Gemeint sind Ansätze, welche die Netzwerkstrukturen und die Selbst-Organisation fördern, um so die betroffenen Menschen darin zu unterstützen, sich selbst Entwicklungspfade zu eröffnen (für städtisches Umfeld Bähr & Mertins 2000: 25, im allgemeinen Zusammenhang McGee & Gaventa 2011: 11). Empirisch können etliche positive Auswirkungen von Sozialkapital auf Aspekte von Entwicklung belegt werden (vgl. Adger 2001). Einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Entwicklung stellen z.B. Wills-Herrera et al. (2011) mit ihrer Studie in kolumbianischen Konfliktgebieten her. Sie können einen positiven Einfluss von Sozialkapital auf das subjektive Wohlbefinden feststellen. Subjektives Wohlbefinden ist gegenüber den Indikatoren der Gesundheit und Kriminalitätsrate eine Alternative, um die Entwicklung von Gemeinden zu messen (vgl. Wills-Herrera et al. 2011: 89).

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Andere Studien belegen spezifische Zusammenhänge von Dimensionen des Sozialkapitals mit verschiedenen Aspekten von Entwicklung, die in den folgenden Abschnitten vorgestellt werden. Tab. 4 dient der übersichtlichen Darstellung der vielfältigen Wirkungen von Sozialkapital, wie sie in ausgewählten Arbeiten beschrieben werden. Die Auswahlkriterien waren Aktualität und die Relevanz der Literatur. Tab. 4: Wirkungen von Sozialkapital auf Aspekte der Entwicklung.

Wirkungen auf

Wirtschaft

Arbeitsmarkt

Gesundheit

Bildung

positive Wirkungen Brückenbildende/Hierarchieübergreifende Netzwerke: Sabatini (2008) und Beugelsdijk (2006)

Schließende Netzwerke: Sabatini (2008)

Schließende Netzwerke: Flap & Völker (2008)

Schließende Netzwerke: Lin (2008)

Brückenbildende/Hierarchieübergreifende Netzwerke: Smith (2005) Sozialkapital allgemein: Gächter et al. (2009)

Migration

1Bei

– Schließende Netzwerke: Kim et al. (2008)

Vertrauen: Kim et al. (2008)



Sozialkapital allgemein: Allmendinger (2007)



Sozialkapital allgemein: Akcomak & Ter Weel (2008): Sozialkapital schützt vor Kriminalität in Wohngebieten. Kriminalität1

negative Wirkungen

Sozialkapital allgemein: DeFillippis (2001)



Schließende Netzwerke: Sampson (2006)



Vertrauen: Sampson (2006)



Normen: Buonanno et al. (2009)

Schließende Netzwerke: Haug

Schließende Netzwerke: Haug

Brückenbildende/Hierarchieübergreifende Netzwerke: Haug

Brückenbildende/Hierarchieübergreifende Netzwerke: Haug (alle 2007)

der Kriminalität zeigt Sozialkapital ebenfalls eine verstärkende Wirkung, diese ist aber für die Gesellschaft hinderlich, weshalb die Wirkungen mit negativ bewertet wurden.

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3.6.5.2 Wirkung von Sozialkapital auf die wirtschaftliche Entwicklung Spätestens seit dem Beitrag von Knack & Keefer (1997) bzw. Zak & Knack (2001) wird ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und generalisiertem Vertrauen dargelegt. Normen und Vertrauen erhöhen die Effizienz wirtschaftlicher Tätigkeiten von Gruppen, weil sie die Unsicherheiten senken und die Organisation erleichtern. Im Sinne der Neuen Institutionenökonomik (vgl. Williamson 2000) verringern sie die Transaktionskosten, also die Kosten, die bei der Benutzung des Marktes entstehen (vgl. Schröder 2009). Sozialkapital leistet somit einen entscheidenden Beitrag, um wirtschaftliche Entwicklung zu fördern (vgl. Freitag 2004, Beugelsdijk 2006: 372). Konkret betonen Studien den signifikanten Einfluss von Vertrauen auf das wirtschaftliche Wachstum. Auf den Zusammenhang zwischen Netzwerken und wirtschaftlichem Wachstum gehen z.B. Stadelmann-Steffen & Freitag (2007: 314–315) ein. Ein hohes Maß an sozialem Vertrauen fördert die Demokratie und lässt sich in Staaten mit geringer Korruption bzw. Ungleichheit vorfinden (vgl. Bjornskov 2006: 343, Stolle & Rothstein 2007: 117). Im Sinne der Mehrdimensionalität von Entwicklung betont Sabatini (2008: 466), dass wirtschaftliches Wachstum keine Aussage über die Qualität der sozioökonomischen Entwicklung an sich erlaubt. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung auch in der sozioökonomischen Entwicklung niederschlägt. In seiner Studie im Süden Italiens definiert Sabatini (2008: 467) die Qualität von Entwicklung durch Bildung, den Zustand des urbanen Ökosystems und einem Index des Gesamtwohls. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Art der Verbindungen in den Netzwerken sich entscheidend auf die Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung auswirkt. So sorgen schließende Netzwerke in Italien dafür, dass die Mitglieder sich nicht nach außen orientieren können und verhindern somit eine positive Entwicklung. 3.6.5.3 Wirkung von Sozialkapital auf die Chancen am Arbeitsmarkt Nach Granovetter (1973: 1371) stellen brückenbildende Verbindungen in Netzwerken wichtige Informationskanäle dar. Konkret auf Arbeitsmöglichkeiten geht Granovetter in seiner Schrift „Getting a Job“ (1995) ein. Seine Ergebnisse deuten an, dass Mitglieder starker sozialer Netzwerke ein höheres Gehalt bekommen. Smith (2005, 2008) präzisiert diesen Zusammenhang. Es sei zwar richtig, dass brückenbildende Netzwerkkontakte neue Informationskanäle eröffnen, aber es komme auch auf die Reputation der beiden Akteure (des Arbeitssuchenden und der Kontaktperson) an (vgl. Kriesi 2007: 39, Voss 2007: 337). Der potentielle Arbeitgeber entscheidet aufgrund der Reputationen, ob er den Arbeitssuchenden einstellt. Insofern ist am Arbeitsmarkt nicht allein das Sozialkapital entscheidend, sondern auch andere Einflussfaktoren – v.a. das Humankapital. Dies wird durch aktuelle Studien bestätigt (vgl. Lin & Ao 2008: 129). Flap & Völker (2008: 77) belegen den wichti-

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gen Einfluss des engen Familien- und Freundeskreises auf den Erfolg des Akteurs in seinem Beruf. Personen, die eine gute Beziehung zur Familie pflegen und einen Freundeskreis haben, auf den sie sich verlassen können, haben im Beruf bessere Aussichten. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben neben der wirtschaftlichen Komponente auch Auswirkungen auf die Partizipationsmöglichkeiten der Akteure am gesellschaftlichen und politischen Leben. Insofern spielen sie eine wichtige Rolle für die soziale Gerechtigkeit und schließlich auch für die sozioökonomische Entwicklung. 3.6.5.4 Gesundheitliche Aspekte von Entwicklung Der Zusammenhang zwischen Sozialkapital und der Gesundheit der untersuchten Gruppe ist durch Studien belegt. Die Beiträge in dem Buch von Kawachi et al. (2008a) untersuchen den Zusammenhang zwischen dem Bestand an Sozialkapital und dem Auftreten von psychischen Krankheiten (z.B. Almedom & Glandon 2008), Altersbeschwerden (z.B. Cagney & Wen 2008), der Lebenserwartung, Beschwerden des Herz-Kreislauf-Systems, Krebs und ansteckenden Krankheiten (z.B. Kim et al. 2008). Kim et al. (2008: 181) kommen zu dem Schluss, dass vor allem Vertrauen eine gute Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt und für eine bessere Gesundheit ist. Die bloße Existenz von Netzwerken hingegen ist der Studie zufolge kein Hinweis auf bessere Gesundheit. Schließende Netzwerke erhöhen im Gegenteil die Gefahr der Ansteckung. Brückenbildende Netzwerke helfen, Krankheiten zu heilen, aber schützen nicht davor, krank zu werden. Die Ergebnisse werden durch die Untersuchungen von Song et al. (2010: 194) bestätigt. Der Zusammenhang zwischen dem Maß an Sozialkapital und der Fähigkeit, psychische Belastungen überwinden zu können, wird auch von Gächter et al. (2009) bestätigt. 3.6.5.5 Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Bildung Humankapital, Sozialkapital und Finanzkapital üben zusammen einen zentralen Einfluss auf den Bildungserwerb aus (vgl. Allmendinger et al. 2007: 501). Die Sozialkapital-Forschung entspringt zu erheblichen Teilen aus Untersuchungen zum Bildungswesen. Und auch durch aktuelle Untersuchungen lässt sich belegen, dass die Familie in den ersten Jahren die Entwicklung des Kindes prägt und damit die Fähigkeit festlegt, Bildung zu erwerben (vgl. Baumert & Schümer 2001). Vor allem die Art und Weise, wie Sozialkapital innerhalb der Familie zur Förderung der Kinder genutzt wird, wirkt sich gravierend auf den Bildungserwerb aus. Neben den Strukturen und Ressourcen (Einkommen und Bildung der Eltern und nahen Verwandten) ist diese Förderkultur der entscheidende Faktor (vgl. Cheung & Andersen 2003). Mit zunehmendem Alter nimmt der Einfluss des engen Familienkreises zugunsten von anderen Netzwerkkontakten ab (vgl. Allmendinger et al. 2007: 501). Freundeskreise, Nachbarn, Lehrer und die Einbindung in Vereine werden als wich-

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tige Einflussgrößen genannt (vgl. z.B. Dravenau & Groh-Samberg 2005). Die positive Wirkung von Netzwerken auf den Bildungserwerb lässt sich für verschiedene Regionen der Welt belegen, so z.B. für Nordamerika (z.B. Helliwell & Putnam 2007) und Deutschland (z.B. Allmendinger et al. 2007). 3.6.5.6 Zusammenhang zwischen Sozialkapital, Wohngebieten und Kriminalität “Neighborhoods with high levels of social capital tend to be good places to raise children. In high-social-capital areas public spaces are cleaner, people are friendlier and the streets are safer.” (Putnam 2000: 307)

Diesem hoffnungsfrohen Gedanken von Putnam folgend, geht ein Großteil der Stadtforschung davon aus, dass Sozialkapital eine Art Wunderwaffe (vgl. De Filippis 2001: 785) darstellt, um Wohngebiete vor Verwahrlosung oder Kriminalität zu bewahren. Sozialkapital kommt vielen Lokalpolitikern zupass, weil sein Aufbau vermeintlich kostengünstiger ist, als der Aufbau von Ordnungsstrukturen oder Sanierungsmaßnahmen (vgl. Friedrichs & Oberwittler 2007: 452). Allerdings sind dem Sozialkapital auch Grenzen gesetzt (vgl. De Filippis 2001: 785). Vor allem vor dem Hintergrund der hohen Mobilität ist eine Überbewertung des Sozialkapitals in Wohngebieten problematisch (vgl. Friedrichs 1995). Allerdings gibt es durchaus Wirkungsweisen des Sozialkapitals, die beachtenswert sind. Sampson (2006: 36) fasst zusammen, dass der Grad, die Häufigkeit und die Intensität der nachbarschaftlichen Netzwerke maßgeblich das Verhältnis in den Wohngebieten bestimmen. Die soziale Kontrolle wird durch den Informationsaustausch ermöglicht. Neben den Netzwerkkontakten spielen aber auch gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Normen und Zielvorstellungen eine wichtige Rolle. Erst diese veranlassen die Akteure, sich in der Nachbarschaft für die Gemeinschaft einzusetzen und zu handeln. Sampson et al. (1997) fassen dies als „collective efficacy“ zusammen (vgl. Sampson 2006: 37, Friedrichs & Oberwittler 2007: 452). Als markantes und instrumentalisierbares Merkmal von Wohngebieten bietet sich die lokale Kriminalitätsrate an. Nach dem Konzept der „collective efficacy“ ist eine hohe Kriminalitätsrate neben der ökonomischen und ethischen Zusammensetzung des Wohngebiets von der sozialen Kontrolle, dem sozialen Zusammenhalt und den existierenden Normen abhängig (vgl. Akcomak & Ter Weel 2008: 24, Buonanno et al. 2009). Wohngebiete mit hoher sozialer Kontrolle schützen die Bewohner davor, Opfer von Gewalttaten, Diebstählen oder von Einbrüchen zu werden (vgl. Akcomak & Ter Weel 2008: 22). Halpern (2005: 125) diskutiert im Gegenzug den negativen Einfluss von Kriminalität auf das Vertrauen und die Interaktionsbereitschaft. Verschiedene Studien belegen, dass Sozialkapital und „collective efficacy“ durch Gewalttaten in Wohngebieten sinken (vgl. Bellair 2000, Markowitz et al. 2001, Ross et al. 2001).

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3.6.5.7 Auswirkung von Sozialkapital auf Migration Migration stellt eine wichtige Möglichkeit für arme Bevölkerungsgruppen dar, sich von ungünstigen Umständen zu lösen und an neuen Orten ihre Situation zu ändern. Auf den ersten Blick scheinen (Arbeits-)Migrationsströme v.a. ökonomische Ursachen zu haben. Soziologen kritisieren diese Erklärungen jedoch, weil die Mikroebene dabei zu wenig berücksichtigt wird. Auch zunächst vielversprechende handlungs- und akteurstheoretische Ansätze (vgl. Massey et al. 1998) können die beobachteten Ströme nicht ausreichend erklären (vgl. Haug & Sauer 2006). Schließlich sind es oft die Netzwerke, die eine Migration erst ermöglichen oder im Falle von Familiennachzug motivieren (vgl. Haug & Pointner 2007: 371, Seto 2011). Die Bedeutung der Netzwerke sticht vor allem bei der Kettenmigration ins Auge. Pioniere erleichtern dabei Nachfolgenden den Zuzug in das neue Gebiet. Die Nachfolgenden profitieren von Informationen und Kontaktmöglichkeiten vor Ort. Bei den Nachfolgenden handelt es sich oft um Familienangehörige, wodurch der Kontakt zur Heimat für die Pioniere gestärkt wird. Die Netzwerke in der Zielregion beeinflussen dann auch, wie die Integration der Migranten abläuft (vgl. Portes 1998, Zhao et al. 2010). Vor allem ist wesentlich, wie die Netzwerke vor Ort in andere Netzwerke eingebunden sind. Am Beispiel der Migranten wird die wesentliche Unterscheidung in brückenbildende und schließende Netzwerkverbindungen anschaulich. Starke Verbindungen innerhalb des Netzwerks und wenig brückenbildende Kontakte führen dazu, dass die Netzwerke sich nicht mit anderen Personen der Zielregion austauschen und sich somit abkapseln. Insofern kann die Wirkung von Sozialkapital auf die Integration gleichermaßen positiv und negativ sein (vgl. Haug & Pointner 2007: 383). 3.6.5.8 Negative Wirkungen von Sozialkapital Die Hinweise von Putnam auf die negativen Wirkungen des Sozialkapitals werden in der wissenschaftlichen Debatte auch heute noch unterstützt. Der „Erfolg“ von Sozialkapital kann sich selbst im Weg stehen, wenn er die Freiheiten einzelner einschränkt. Außerdem zeigt Sozialkapital, ebenso wie Finanzkapital oder Humankapital, eine dem Allgemeinwohl dienliche oder nicht dienliche Wirkung, je nachdem wie die Ressourcen von Gruppen instrumentalisiert werden (vgl. Field 2008: 80). Graef (2009: 143) bringt negative Wirkungen in erster Linie mit schließenden und positive Wirkungen von Sozialkapital mit brückenbildenden Netzwerken in Verbindung. Bei den schließenden Bindungen macht Graef drei verschiedene negative Aspekte von Sozialkapital aus Erstens kann der starke soziale Druck innerhalb von schließenden Netzwerken kann verhindern, dass Gruppenmitglieder individuell – und möglicherweise innovativ – agieren (für Slums in Pakistan: Beall 1995, allgemein: Wolf et al. 2010: 51). Dies beeinträchtigt die persönliche Freiheit (vgl. Coleman 1988: 105). Galaskiewicz et al. (2006: 368) zeigen diesen Einfluss anhand innovativer Non-ProfitOrganisationen auf. Diese Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie weniger Kontakte zu anderen Organisationen haben und somit weniger in Netzwerke

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eingebunden sind. Dadurch wachsen sie schneller, was die Ursache für den größeren Erfolg sei. Ein weitere Nachteil des sozialen Drucks kann sich nach Portes (1998: 15) darin äußern, dass die Probleme einzelner Mitglieder so gravierend sind, dass sie die Ressourcen der anderen erschöpfen und dadurch die Gruppe belasten. Neben den schon angesprochenen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten sind auch sich verstärkende Abwärtsspiralen von Gruppen bemerkbar („downward leveling norms“) (vgl. Portes 1998: 15). Zweitens kann die Ausgrenzung von Personen, die nicht zur Gruppe gehören, kann zu Ungleichheiten führen. Nicht-Gruppenmitglieder können an möglichen Entwicklungen nicht teilhaben. Die negative Wirkung ist dabei nicht nur für die Ausgegrenzten spürbar, sondern äußert sich u.U. in einer Schwächung der gesamten Gesellschaft (vgl. Braun 2002). Dies kann umso mehr ein Problem darstellen, als Sozialkapital selbstverstärkend wirken kann. Dadurch profitieren die Gruppenmitglieder immer mehr von der Wirkung des Sozialkapitals und die Disparität nimmt zu. Graef (2009) und Uslaner (2009) zeigen anhand der Korruption eine solche Ausgrenzung auf. Es wird dabei deutlich, dass sich eine kleine elitäre Gruppe auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Besonders die armen Bevölkerungsgruppen sind von negativen Wirkungen des Sozialkapitals betroffen (vgl. Levi 1996). Drittens verwenden Gruppen Sozialkapital, um kriminelle Interessen mit Gewalt und gegen das Gemeinwohl durchzusetzen (vgl. McIlwaine & Moser 2001, Collier 2002: 35). Bekannte Beispiele hierfür sind die Mafia oder die Camorra (vgl. Gambetta 1993). Field (2008: 93) führt eine vierte Art der negativen Wirkung an. Wenn Akteure mit schädlichen Aktivitäten interagieren, ist die schließende Gruppe besonders von Nachteil. Beispiele seien Drogenabhängige, die sich Nadeln teilen. Verwandte als Täter sexueller Übergriffe oder die Vorbildfunktionen in gewaltbereiten Jugendgruppen. Für das Beispiel von nordamerikanischen Slums bieten Small & Newman (2001: 32) eine detaillierte Diskussion über den Einfluss der Nachbarschaft auf Beschäftigungschancen, die Kriminalität und Schwangerschaften Minderjähriger. Sehr vielfältig und widersprüchlich sind die Auswirkungen des Sozialkapitals auf das Rückzahlungsverhalten von Mikrokredit-Gruppen. Manchen Studien zufolge weisen enge brückenbildende und schließende Netzwerkverbindungen gute Rückzahlungsquoten auf, in anderen Studien hingegen schlechtere Rückzahlungsquoten (vgl. Dufhues et al. 2011). Besonders schließende Netzwerke können für einen sehr hohen psychischen Druck einzelner Gruppenmitglieder sorgen, die dann in Extremfällen zu Selbstmorden wie in Andhra Pradesh, Indien, im Jahr 2010 führen (vgl. CGAP 2010). Brückenbildende Netzwerkkontakte werden generell eher nicht mit negativen Wirkungen in Verbindung gebracht. Auch Warren (2008: 147) schließt sich dieser Betrachtung in seiner Schlussfolgerung an, indem er darauf hinweist, dass vor allem spezifisches Vertrauen zwischen zwei Akteuren für einen Dritten (Außenstehenden) negative Wirkungen haben kann. Generalisiertes Vertrauen zieht seinen Ausführungen nach kaum negative Auswirkungen nach sich.

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Es gibt also etliche Konstellationen, in denen Sozialkapital auch eine Gefahr darstellen kann. Aber im Hinblick auf die vielfältigen das Gemeinwohl fördernden Wirkungen kann man insgesamt feststellen, dass es besser für eine Gesellschaft ist, zu viel Sozialkapital zu haben, als zu wenig (vgl. Fukuyama 2001: 12). Dies zeigt sich besonders bei der Frage, wie Haushalte in Slums von Megastädten aktuellen empirischen Studien zufolge mit Krisen umgehen. Bevor dies im folgenden Unterkapitel dargestellt wird, folgt eine kurze Synthese zum Sozialkapital-Konzept, wie es in dieser Arbeit verwendet wird. 3.6.6 Zusammenfassung: Konzeption von Sozialkapital in dieser Arbeit Sozialkapital ermöglicht den Akteuren Zugang zu kollektiven Ressourcen. Ihre eigenen Ressourcen sind Teil des Kollektivs und gewinnen somit an Wert. Sozialkapital selbst ist keine Ressource, sondern existiert in der Vernetzung der Akteure. Opportunismus stellt eine Gefahr für das Sozialkapital dar, wird aber aufgrund des bestehenden Vertrauens begrenzt. Die handelnden Akteure wissen um die Risiken, sind aber durch die bestehenden Normen davon überzeugt, dass altruistisches Verhalten langfristig von Vorteil ist. Netzwerke, Normen und Vertrauen sind die wesentlichen Bestandteile von Sozialkapital. Die Netzwerke und die gebenden Akteure bilden seine Struktur und werden unter dem zugänglichen Sozialkapital zusammengefasst. Diese Struktur der gebenden Akteure und der daraus resultierenden Formen von Netz werken ist aber selbst Ergebnis von vergangenen Austauschprozessen. Die Handlungen und die Struktur bedingen sich somit gegenseitig. Netzwerke lassen sich nach der Art der Beziehung unter den Aktionspartnern in schließende, brückenbildende und hierarchieübergreifende Netzwerke unterscheiden. Diese Formen der Netzwerke bedingen die Art der ausgetauschten Hilfsleistungen. Schließende Netzwerke verfügen nur über ähnliche Güter und Informationen. Der Mehrwert ist also gering. Brückenbildende und hierarchieübergreifende Netzwerke hingegen eröffnen Zugang zu neuen Ressourcen. Problematisch für die arme Bevölkerung ist, dass sie tendenziell weniger Zugang zu brückenbildenden oder hierarchieübergreifenden Netzwerken hat und ganz auf schließende Netzwerke angewiesen ist. Schließende Netzwerke kapseln die Gruppe aber zunehmend von der Umgebung ab, sodass sich die Probleme fortsetzen. Die Produktivität von Sozialkapital äußert sich in den Hilfsleistungen, dem mobilisierten Sozialkapital, welches meist in Form von monetären oder informativen Werten zum Ausdruck kommt. Die Netzwerke bilden die Kanäle, über die diese konkreten Ressourcen ausgetauscht werden. Normen und Vertrauen werden in dieser Arbeit als Ursachen dafür gesehen, dass ein Akteur das Risiko eingeht, Werte ohne formale Absicherung zu veräußern. Hierbei ist sowohl das spezifische Vertrauen in den konkreten Partner, als auch das allgemeine Vertrauen von Relevanz. Gerade bei armen Bevölkerungsgruppen werden nur geringe Güter ausgetauscht, aber dafür oft und unter mehreren Partnern. Deshalb kommt dem allgemeinen Vertrauen ein hoher Stellenwert zu. Das spezifische und allgemeine Vertrauen wird

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Abb. 3: Zusammenhänge zwischen den Ressourcen, Hilfsleistungen und Strukturen des Sozialkapitals. Quelle: Eigener Entwurf.

durch die Norm der Gegenseitigkeit, das Systemvertrauen und die Solidarität gestützt. Diese Normen ermöglichen auch Sanktionen im Falle eines opportunistischen Verhaltens. Sozialkapital stellt somit oft eine überlebenswichtige Alternative dar: eine Alternative zu fehlenden Ressourcen und formalen Institutionen. Gleichzeitig bedingen sich die Komponenten des Sozialkapitals gegenseitig und verfestigen so positive Erfahrungen. Diese Zusammenhänge sind in Abb. 3 dargestellt. Für ein Verständnis der Struktur des Sozialkapitals in Slums in Dhaka ist es wichtig zu beachten, dass die Akteure innerhalb der groß-, mittel-, und kleinskaligen Ebenen agieren. Slum-Haushalte erhalten z.B. Hilfsleistungen über schließende Netzwerke von Nachbarn und Verwandten, aber auch von Personen aus anderen Slum-Clustern oder aus der Mittelschicht. Sozialkapital ist für alle Menschen von Bedeutung, aber für die arme Bevölkerung ist es oft während Krisen die einzige Möglichkeit, ihren Zugang zu Ressourcen aufrechtzuerhalten (vgl. Stack 1974, Grootaert 2001, Woolcock & Sweetser 2002: 26, Carpenter et al. 2004, Eriksen et al. 2005, Matous & Ozawa 2010). Diesen positiven Aspekten muss entgegengehalten werden, dass Sozialkapital auch negative Wirkungen haben kann. Bei kriminellen Interessen birgt es das Risiko, dass eine Gruppe Sozialkapital verwendet, um Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. Das zweite Risiko besteht bei schließenden Netzwerken, die dazu tendieren, eine Gruppe von der Allgemeinheit abzutrennen, sodass die Gruppe nicht von der allgemeinen Entwicklung profitieren kann.

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3.7 UMGANG MIT NATUREREIGNISSEN IN SLUMS Die Verantwortlichen in Katastrophenschutzeinrichtungen in Megastädten verfügen über eine Reihe von technischen Möglichkeiten (z.B. Deiche, Pumpen, Notunterkünfte, Frühwarnsysteme), um die Stadtbewohner vor Naturereignissen zu schützen. Eine Übersicht bieten z.B. Jha et al. (2011). Jedes größere Naturereignis (z.B. Hurrikan Katrina 2005, Überschwemmungen in Mumbai 2005 und in Bangkok 2011) zeigt aber erneut, dass diese Maßnahmen in Extremfällen weder ausreichen, noch erschöpfend zur Anwendung kommen (vgl. Douglas et al. 2008: 194). Chatterjee (2010: 345) zeigt am Beispiel der Überschwemmungen in Slums in Mumbai auf, dass bauliche Maßnahmen von staatlicher Seite kaum die Not der Slum-Bevölkerung lindern können. Ebenso finden formale, konzertierte Maßnahmen, wie die Bereitstellung von Notunterkünften und die Verteilung von Hilfsgütern durch den Staat, NGOs, religiöse Organisationen oder Privatpersonen, bei Extremereignissen fast immer statt (vgl. Harrald 2006, Amin & Goldstein 2008). Diese erreichen aber bei Weitem nicht alle Betroffenen und sie erfolgen in zu geringem quantitativen und zeitlichen Ausmaß. Außerdem fehlt es oft an detaillierten Bedarfsanalysen (vgl. auch Cannon 2000, für die Überschwemmung in Mumbai: Chatterjee 2010: 347, für Überschwemmungen in Indien: Ramachandraiah 2011, für das Erdbeben in Port au Prince, Haiti: Coles et al. 2012). Daher sind die Betroffenen auf jeden Fall auf eigene Initiativen angewiesen. Dabei zeichnet sich die Krisenbewältigung der Haushalte in Slums zwangsläufig durch vielfältige Strategien aus. Eine einzelne Hilfestellung oder Strategie ist nicht ausschlaggebend, sondern führt erst im Zusammenspiel mit anderen zu Erfolgen (vgl. Rose 1999: vii). Insgesamt lassen sich die zahlreichen Maßnahmen der Haushalte in bauliche (strukturelle) Strategien und nicht-strukturelle Maßnahmen einteilen (vgl. Gruntfest 2000, Birkmann et al. 2010: 201). Bauliche Strategien finden Anwendung vor allem beim Umgang mit Überschwemmungen. Fast jeder Haushalt in überschwemmungsgefährdeten Regionen versucht in Eigenregie, seine Exposition durch einfache bauliche Maßnahmen zu verringern (vgl. z.B. Douglas et al. 2008: 197). Typische Maßnahmen sind: • • • • • • • • • •

Erhöhen der Fundamente von Häusern und Hütten durch Bambusbauten Erhöhen der Türschwellen Aufstocken der Bettstätten und Lebensmittelbehälter mittels Ziegelsteinen o.Ä. temporäre Erhöhung von Brunnen (durch Verlängerungsrohre) Bau von Booten Gemeinschaftsaktionen, bei denen z.B. die Abwasserkanäle gereinigt werden gemeinschaftlicher Bau von Brücken und Stegen Bau von lokalen Wällen, um das Wasser abzulenken Sichern der baulichen Struktur, Lebensmittelvorräte und des Brennmaterials mit wasserdichten Materialien Verwendung von Sandsäcken

Umgang mit Naturereignissen in Slums

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Bauliche Maßnahmen gewinnen zwar an Erfolgsaussichten, wenn sich die Haushalte in lokalen Gruppen organisieren und von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) unterstützt werden (vgl. Kyessi 2005, Hasan 2006), aber ihre Wirkung ist dennoch begrenzt und meist zu gering, um einen effektiven Schutz zu bieten (Bartlett et al. 2009). Insofern ist die arme Stadtbevölkerung über weite Teile auf nicht-strukturelle Maßnahmen angewiesen, um die Verluste durch die Krise kurzund langfristig überbrücken zu können. Weil Geld und Nahrungsmittel rasch benötigt werden (vgl. Moser 1996, Frayne 2004), stellen das Leihen von Geld, die gegenseitige Hilfe unter Nachbarn, Betteln oder die (kurzzeitige) „Flucht“ zu Verwandten auf das Land die entscheidenden nicht-strukturellen Maßnahmen dar. Chatterjee (2010) weist nach, dass die Slum-Bewohner in Mumbai den entstandenen Schaden kurz- und langfristig durch ihre Netzwerke zu Nachbarn, Freunden, Verwandten und Außenstehenden wie Geldverleihern, Arbeitgebern und religiösen Organisationen ersetzen konnten. Dabei war es von entscheidender Bedeutung, dass die Haushalte über vielfältige Kontakte zu anderen Personen und Gruppen verfügten. Besonderen Stellenwert misst Chatterjee (2010) dabei der Konsolidierung lang bestehender Netzwerke zu. Diese seien die Grundlage für langfristige Anpassungsfähigkeiten der Haushalte – und zwar nicht nur in Bezug auf Überschwemmungen, sondern auf verschiedene Arten von Naturereignissen und alltägliche Probleme. Dieselben Beobachtungen machen auch Moser et al. (2010) in ihren Studien zu Slums in Mombasa, Kenia, und Esteli, Nicaragua. Auch hier werden strukturelle Strategien sowohl von Seiten des Staates als auch in Eigeninitiative angestoßen, aber entscheidend sind die informellen Netzwerke (vgl. Moser et al. 2010: 3). Moser (1996) zeigte bereits in den 1980er Jahren anhand einer vergleichenden Studie in städtischen Armutsvierteln in Sambia, Ecuador, Ungarn sowie auf den Philippinen, dass das fehlende Einkommen des Haushaltsvorstandes einerseits durch andere Einkommensquellen ersetzt wurde (z.B. Kinderarbeit), aber andererseits Lebensmittel und Geld vorrangig über Netzwerke ausgetauscht wurden. Neben den vielen Unterschieden zwischen den vier Untersuchungsgebieten war dies eine der zentralen Gemeinsamkeiten der Untersuchungsregionen. Neben den Gütern und Informationen, die in diesen Netzwerken ausgetauscht werden, ist auch der psychische Rückhalt von großer Bedeutung (vgl. z.B. Cannon 2008: 5). Er ist besonders wichtig, da er die Hoffnung während Krisen und Naturereignissen aufrechterhalten kann. Es zeigte sich auch schon in den 1980er Jahren, dass freundschaftliche Netzwerke zwischen Frauen in Slums von Sao Paulo, Brasilien, entscheidend waren, um psychisch und physisch anstrengende Zeiten zu bewältigen (vgl. Volbeda 1989: 167). Dies geht auch aus Studien in den Slums in Nairobi, Kenia, hervor. Durch die AIDS-Problematik werden dort zahlreiche Haushalte von Kindern geführt. Dort ermöglicht nur die Unterstützung von Freunden, Nachbarn, religiösen Einrichtungen und Nicht-Regierungsorganisationen ein Leben über dem Existenzminimum (vgl. Wehrmann 2008: 26). Der größte Teil der Hilfe kommt dabei von Initiativen aus den eigenen Slums. Andere, meist selbst HIVinfizierte Frauen, gründen Gruppen, um Kinderhaushalte zu unterstützen. Die

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Unterstützung erfolgt dabei in Form von Informationen, Lebensmitteln, Fürsorge für kleine Geschwister oder finanzieller Hilfe. Wehrmann betont aber auch, dass Kinderhaushalte nur deshalb überleben, „weil das älteste Kind auf seine Kindheit verzichtet, seine eigenen Zukunftschancen einschränkt und die gesamte Verantwortung für die Geschwister übernimmt. Hoffnung, Glaube und Nachbarschaftshilfe stehen ihnen dabei zur Seite“ (Wehrmann 2008: 26).

Die Stärkung der Psyche durch Elemente des Sozialkapitals wird auch in der Untersuchung von Nikoleta et al. (2012) deutlich, die nachweisen, dass die empfundene Bedrohung durch Umweltveränderungen mit stärkerem Sozialkapital sinkt. Haushalte mit besseren sozialen Kontakten fürchten sich weniger vor Klima- und Umweltwandel. Aus diesen Gründen ist es auch üblich, dass die Migrationsentscheidung für eine Stadt von den dort bereits wohnenden Freunden und Verwandten beeinflusst wird. Viele ziehen deshalb in die Stadt und in den Slum, weil dort bereits Bekannte leben. Die gegenseitige Hilfe ist dann eine Folge davon, wie Sundari (2005: 2298) anhand einer Studie von Frauen in Slums von Chennai, Indien, bestätigt. Für Frayne (2004) ist der Kontakt zu den Verwandten in den dörflichen Regionen dafür ausschlaggebend, dass Slum-Bewohner in den Slums von Windhoek, Namibia, Krisen bewältigen können. Er hebt hervor, dass die intra-urbanen Netzwerke erst dann aktiviert werden, wenn die Verwandten vom Dorf nicht mehr helfen können (siehe auch Rakodi 1995). Neben den unmittelbaren Wirkungen des Sozialkapitals stellt auch die Möglichkeit, Geld zu leihen, eine zentrale Bewältigungsstrategie dar. Das Mikrokreditwesen ist aus der Entwicklungszusammenarbeit bekannt, vor allem Mohammad Yunus, der Begründer der Grameen Bank, hat es breitenwirksam bekannt gemacht. Aber auch schon deutlich zuvor war die Aufnahme von kleinen Geldbeträgen eine gängige Bewältigungsstrategie (vgl. Richards 1990, Shah et al. 2007, für die Küstenregion Bangladeschs: Paul & Routray 2011). Da der Zugang zu Banken den Slum-Bewohnern meist verwehrt ist, wird das Geld von Verwandten, Freunden, NGOs oder örtlichen Geldverleihern geliehen. Ohne die notwendigen Garantien, dass das Geld zurückbezahlt wird, ist der Geldverleih größtenteils auf Formen des Vertrauens aufgebaut, was erneut die Verbindung zum Sozialkapital verdeutlicht (vgl. Dufhues et al. 2011). Wenn diese Kredite auch eine wichtige Funktion erfüllen – und für arme Stadtbewohner eine sehr gängige Strategie sind –, so sind sie dennoch kritisch zu hinterfragen. Einerseits führen Kredite gerade bei armen Bevölkerungsschichten zu Verschuldungsfallen, die dann ein Entkommen aus der Armut unmöglich machen (vgl. Shah et al. 2007). Zudem hebt Sundari (2005: 2303) hervor, dass die Migranten vor ihrem Leben in der Stadt deutlich weniger verschuldet waren. Obwohl die Beschäftigungsrate in der Stadt deutlich höher ist, sind die Löhne im Vergleich zu den notwendigen Ausgaben zu niedrig. Durch die Verschuldung sind Krisen somit ständig latent vorhanden.

Quintessenzen aus den theoretischen Betrachtungen für die vorliegende Arbeit

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Die angeführten Studien stimmen in der Ansicht überein, dass die Haushalte in den Slums trotz ihrer ausgesprochenen Vulnerabilität durch die Elemente des Sozialkapitals in der Lage sind, Krisen zu bewältigen. Nach Beall (1995: 434) beruht das Überleben der armen Bevölkerung maßgeblich auf dem Sozialkapital, weil nur dieses Alternativen bieten könne. Für die Bewältigung von Krisen nutzen Slum-Bewohner viele Hilfsleistungen und Ressourcen und zeigen einen hohen Einfallsreichtum sowie eine immense Ausdauer (vgl. Bartolome 1984: 180). Allerdings deuten sie auch an, dass Krisen längerfristige Spuren hinterlassen und insgesamt immer wieder eine schwere Hürde auf dem Weg darstellen, die Lebenssituation langfristig stabil zu verbessern (vgl. Beall 1995, Sundari 2005: 2303). Diese theoretischen Überlegungen in Kap. 3 bilden die Grundlage für die vorliegende Arbeit und werden im Folgenden kurz zusammengefasst. 3.8 QUINTESSENZEN AUS DEN THEORETISCHEN BETRACHTUNGEN FÜR DIE VORLIEGENDE ARBEIT Der Zusammenhang zwischen der Störung und dem entstandenen Schaden ist eine Funktion der Vulnerabilität und der Resilienz des betroffenen sozioökologischen Systems. Vulnerabilität und Resilienz werden als Konzepte verstanden, deren verbindendes Element die Handlungsfähigkeit („coping“) darstellt (vgl. Gallopín 2006: 293, Cutter et al. 2008: 600). Die einzelnen Elemente in Abb. 4 wirken in einem dynamischen Prozess aufeinander, was durch die Pfeile dargestellt ist. Die betroffenen Lebensgrundlagen sind in der ersten Leiste genannt. Deutlich werden die hohe Betroffenheit aller Lebensgrundlagen und deren hohe Relevanz für die Handlungsfähigkeit während der Krise. Außerdem zeigt sich Sozialkapital als ein durchgehendes Element im Konzept der Resilienz. Die zweite Leiste deutet die positiven oder negativen Auswirkungen der Informalität auf die Elemente der Vulnerabilität und Resilienz an. Aufgrund der unsicheren Rechtssituation und Infrastruktur in informellen Siedlungen wird der Einfluss auf die Exposition und die Sensitivität negativ bewertet. Bei der Handlungsfähigkeit und der Anpassungsleistung kann die Informalität sowohl negative als auch positive Auswirkungen haben. In der dritten Leiste ist der anzunehmende Einfluss des Klimawandels auf die Elemente aufgetragen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Störungen in Form von Naturereignissen durch den Klimawandel stärker, häufiger und länger werden können. Bei gleichbleibender Infrastruktur und Rechtssituation in informellen Siedlungen ist deshalb auch von einer erhöhten Exposition auszugehen. Natürlich spielt hier die Anpassungsfähigkeit eine große Rolle und es muss von Rückkoppelungen (siehe Pfeile) ausgegangen werden. Ebenso ist zu vermuten, dass die Auswirkungen des Klimawandels dazu führen, dass das soziale System anfälliger, sensibler wird. Die Auswirkungen auf die Elemente der Resilienz sind aber noch nicht ausreichend erforscht und sind insofern mit einem Fragezeichen versehen. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesen offenen Fragen und versucht, diese zumindest teilweise beantworten zu können.

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3.9 BEITRAG DIESER ARBEIT AN ERGÄNZENDEN ERKENNTNISSEN Ein Anliegen dieser Arbeit ist es, den Fokus von Naturereignissen auf Aspekte des Klimawandels zu erweitern. Es wird bereits ausgiebig dazu geforscht, welcher Art die direkten Auswirkungen des Klimawandels sein werden. Hier liefert der IPCC eine Übersicht der Arbeiten weltweit führender Wissenschaftler (siehe IPCC 2007b). Es werden auch spezielle Wirkungsstudien für Ökosysteme und Länder erstellt (siehe IPCC 2007a). Aber es wird nur unzureichend der Frage nachgegangen, wie sich die Auswirkungen des Klimawandels auf die Betroffenen auswirken und was die Folgen dessen sein werden (vgl. Lahsen et al. 2010). Der Stand der Vulnerabilitäts-, Resilienz- und Sozialkapital-Forschung fokussiert sich bis dato auf Untersuchungen, die die Gegenwart und die Vergangenheit betreffen. Systematische Untersuchungen, die Aussagen über die Zukunft zu treffen versuchen, liegen nur in geringeren Maßen vor. Die Auswirkungen des Klimawandels bewirken nicht nur eine Zunahme von Naturereignissen, weshalb viele Bevölkerungsgruppen aufgrund des Klimawandels exponierter sein werden. Für die Wirkung zukünftiger Naturereignisse ist entscheidender, dass sich die Empfindlichkeit und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung durch zukünftige Einflüsse verändern werden. Deshalb sind integrative Forschungsansätze wünschenswert (vgl. Forderungen von Adger et al. 2009, Birkmann et al. 2010, Cannon & Müller-Mahn 2010). Die vorliegende Arbeit versucht mit ersten Abschätzungen relevante Prozesse zu erkennen und aufzuzeigen.

Abb. 4: Zusammenfassende Darstellung der Konzepte zur Vulnerabilität und Resilienz, wie sie in der vorliegenden Arbeit verwendet werden. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Cutter et al. (2008) und Turner et al. (2003).

Beitrag dieser Arbeit an ergänzenden Erkenntnissen

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Dafür ist es notwendig, zentrale Begriffe der Entwicklungs- und Risikofolgenforschung zu hinterfragen (vgl. Cannon & Müller-Mahn 2010). Wie hängen Entwicklung und Anpassung zusammen? Sowohl Entwicklung als auch Anpassung beziehen sich auf die langfristige Bewältigung von Auswirkungen des Klimawandels. Aber es ist nicht klar, inwiefern sich beide unterscheiden. Anpassung ist im Zusammenhang mit Naturereignissen ein immer wichtiger werdendes Thema (vgl. Smit & Wandel 2006: 289, Kok & Metz 2008). Besonders im Bereich der Anpassung von urbanen Zentren und Megastädten gibt es noch relativ wenig Erkenntnisse (vgl. Birkmann et al. 2010: 185). Die vorliegende Arbeit leistet mit dem Fokus auf die Anpassung der armen Bevölkerungen einen Teilbeitrag zu diesem Themenkomplex. Weiter ergibt sich die Frage, wie die Anpassung an den Klimawandel mit Resilienz und Vulnerabilität konzeptionell zusammenhängt. Resilienz und Vulnerabilität sind an Naturereignisse gebunden und müssen für Aussagen in Bezug auf den Klimawandel verfeinert werden. Die Arbeit bietet einen Vorschlag, wie diese Begriffe verbunden werden könnten. Diese Arbeit stellt auch die Handlungsfähigkeit betroffener Systeme in den Vordergrund. Besonders im Kontext Bangladeschs überwiegen Untersuchungen zur Vulnerabilität. Bangladesch ist aufgrund der naturräumlichen Lage und der weitverbreiteten Armut mit am anfälligsten für die Auswirkungen des Klimawandels (vgl. Maplecroft 2013). Forschungen zur Resilienz der bangladeschischen Bevölkerung liegen mit wenigen Ausnahmen (z.B. Jabeen et al. 2010, zur Resilienz der Lebensmittelversorgung: Keck & Etzold 2013) eher nicht vor. Diese Arbeit bestätigt die Thesen zur Vulnerabilität, legt den Schwerpunkt jedoch auf die Untersuchung der Resilienz. Es soll geklärt werden, wodurch die arme Bevölkerung während Krisen handlungsfähig bleiben kann. In diesem Zusammenhang betont die Arbeit auch, dass Slum-Bewohner eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Ressourcen und Lebenssituationen sind. Etliche Entwicklungsprojekte der nationalen und internationalen Hilfsorganisationen behandeln Slums hingegen eher als homogene Einheit (vgl. CDIA 2011, United Nations 2011a: 131, BMZ 2012). Es sollte stärker eruiert werden, welche Chancen und Potentiale die einzelnen SlumHaushalte haben und wie diese Heterogenität als Ansatz für Lösungen verwendet werden könnte (wie z.B. SDI 2012). Der sowohl quantitative als auch qualitative Zugang berücksichtigt dabei die Perspektive der betroffenen Bevölkerung und ergänzt die vorrangig qualitativen Arbeiten zahlreicher Wissenschaftler zu den Auswirkungen und der Bewältigung von Überschwemmungen in Slums in Dhaka. Dies erlaubt auch einen neuen Blickwinkel auf das Sozialkapital: seine Struktur und Wirkung sind bereits gut untersucht. Aber die Frage, wie es möglich ist, dass Sozialkapital seine positive Wirkung entfaltet, obwohl ein Großteil der Beteiligten in sehr ärmlichen Verhältnissen lebt, wird selten thematisiert. Die Problematik wurde zwar schon 1995 von Beall angesprochen, in den vielen folgenden Studien jedoch meist nur pauschal mit der Wirkung der Komponenten von Sozialkapital beantwortet.

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Konzeptionelle Grundlagen

Die Erkenntnisse über die Ursache der Wirksamkeit von Sozialkapital erlauben Rückschlüsse mit entwicklungspolitischer Relevanz. Sozialkapital wird in der Entwicklungspolitik zwar nicht mehr als „Allheilmittel“ gesehen, aber die Förderung des Sozialkapitals ist in kaum einem Entwicklungsansatz wegzudenken. Diese Arbeit versucht, die Wirksamkeit von Sozialkapital differenzierter zu betrachten. Im folgenden Kapitel wird die Untersuchungsregion Dhaka vorgestellt und die relevanten Rahmenbedingungen werden angeführt. Außerdem erfolgt eine Übersicht über die für diese Arbeit relevanten, bereits existierenden Untersuchungen, die eine Voraussetzung für die durchgeführte Studie waren.

4 EINFÜHRUNG IN DAS FALLBEISPIEL: SLUMS IN DHAKA Bangladesch ist der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 1.150 Personen/km2. Das Staatsgebiet von Bangladesch liegt zwischen dem Himalaya, den Meghalaya Hills und dem Golf von Bengalen auf einer Schwemmebene, die von drei mächtigen Flüssen genährt wird. Deshalb scheint das Ergebnis des World Wildlife Fund (2009) nicht überraschend: Die Hauptstadt Bangladeschs ist die im Hinblick auf die Auswirkungen des Klimawandels am meisten vulnerable Küstenstadt der elf untersuchten asiatischen Städte. Die Gründe, die Dhaka diesen bedrohlichen ersten Platz in der WWF-Studie einbringen, sind aber weniger in den physischen Voraussetzungen und in den wahrscheinlich zunehmenden Naturereignissen selbst zu suchen, als in den sozioökonomischen Prozessen. Die rasche Urbanisierung in Bangladesch (siehe Kap. 4.1) äußert sich besonders in dem immensen Wachstum der Megastadt Dhaka (siehe Kap. 4.2). Dieses schnelle Wachstum verstärkt unter anderem die informellen Strukturen, auf die Kap. 4.3 genauer eingeht. Die physiogeographischen Voraussetzungen, die das Zustandekommen von Naturereignissen in Bangladesch und Dhaka begünstigen, werden in Kap. 4.4 erläutert. Kap. 4.5 behandelt vertiefend Überschwemmungen, deren Auswirkungen auf die Bevölkerung und den Umgang damit. Erkenntnisse über anzunehmende direkte und indirekte Auswirkungen des Klimawandels werden in Kap. 4.6 angeführt. Aufbauend auf die Literaturstudie werden in Kap. 4.7 Hypothesen und konkrete Fragestellungen dargelegt, die aus der zentralen Forschungsfrage folgen. 4.1 URBANISIERUNG IN BANGLADESCH Die Urbanisierung ist in Bangladesch ein vergleichsweise junges Phänomen. Erst seit der Unabhängigkeit von Pakistan im Jahr 1971 ist ein markantes Wachstum der Städte bemerkbar. Ausgelöst wurde diese Urbanisierungswelle maßgeblich durch die Hungersnot 1974, die besonders in den ländlichen Regionen verheerend ausfiel (zu den Auswirkungen der Hungersnot siehe Sen 1981/1999, vgl. Rana 2011). Ein jährliches Wachstum der städtischen Bevölkerung von 10 Prozent war von 1974 bis 1981 die Folge. Diese immense Wachstumsquote wurde seitdem zwar nicht mehr erreicht, aber das städtische Wachstum bleibt bis heute auf hohem Niveau und ist seit dieser Zeit immer höher als das landesweite Wachstum (vgl. Rana 2011: 242). Aktuell beträgt für den Zeitraum 2010 bis 2012 das städtische Bevölkerungswachstum durchschnittlich 3,1 Prozent pro Jahr und das nationale Bevölkerungswachstum 1,3 Prozent pro Jahr (vgl. United Nations 2012a).

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Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Die Faktoren für die Urbanisierung sind für Bangladesch ebenso wie für andere Entwicklungsländer erstens im natürlichen Wachstum durch Geburtenüberschüsse zu suchen. Die Zuwanderung ist der zweite Faktor der Urbanisierung und in Bangladesch letztlich die Hauptursache für das starke Bevölkerungswachstum der Städte (Afsar 2000 q34, vgl. Weltbank 2007). Die Zuwanderung in die Städte ist altersselektiv. Insbesondere junge Menschen wandern in die Städte, da sie in ihren Dörfern weniger integriert und eher bereit sind, sich in der Stadt auf Neues einzulassen (vgl. Hossain 2008: 73). Dadurch bedingt die Zuwanderung auch das natürliche Wachstum, weil viele junge Zuwandererfamilien in der Stadt Kinder bekommen (vgl. Afsar 2000: 36 nach Todaro 1979). Die Anzahl der Bangladescher, die das Land für eine Arbeitsstelle verlassen (internationale Migranten), ist zahlenmäßig gering, so dass sie für die nationale Bevölkerungszahl nur eine geringe Rolle spielt (vgl. Walsham 2010: xiii). Aus wirtschaftlicher Sicht spielt die internationale Migration aufgrund der Rücküberweisungen jedoch nach der Bekleidungsindustrie die wichtigste Rolle und ist somit keinesfalls zu vernachlässigen (vgl. Chowdhury et al. 2010). Drittens führen „bürokratische“ Effekte, wie Eingemeindungen oder Definitionsänderungen von „Stadt“, zu größeren und weiträumigeren urbanen Agglomerationen. In Bangladesch werden seit der Volkszählung 1981 alle „Thanas“ (Bezirke mit einer Polizeistation) in den Rang von „Upazilas“ (Subdistrikten) erhoben und damit als Städte gezählt (vgl. Afsar 2000: 25). Die Ursachen für die Zuwanderung in Bangladesch werden meist mithilfe der „Push & Pull“-Faktoren erklärt (z.B. Begum 1999, Afsar 2000, Islam 2005b, Hossain 2008, Khan 2008, Rana 2011): Menschen verlassen die ländlichen Regionen aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation (Islam 2005b: 2). Viele Dorfbewohner sind landlose Bauern, die sich als Tagelöhner ihren Unterhalt verdienen müssen. Niedrige Löhne und keinerlei Sicherheiten sind für die große Mehrheit eine tagtägliche Erfahrung (vgl. Begum 1999: 6). Die Einkünfte aus der Landwirtschaft schwanken auch aufgrund von Naturereignissen. Schlechte Infrastruktur wie mangelhafte Straßen und unzuverlässige Stromversorgung behindern Investoren in anderen Wirtschaftszweigen, sodass andere als landwirtschaftliche Erwerbsmöglichkeiten in ländlichen Regionen rar sind. Die Städte wiederum ziehen Arbeitssuchende an, da sie durch ihre zunehmenden wirtschaftlichen Aktivitäten und Bedeutung zahlreiche und vielfältige Erwerbsmöglichkeiten bieten und zusätzlich über eine bessere technische und soziale Infrastruktur verfügen (vgl. Cross 2001). Die Arbeitskräfte werden für den wirtschaftlichen Aufschwung und den Bau von Häusern und Straßen dringend benötigt, weshalb die Politik die Zuwanderung zwar offiziell als Problem darstellt, aber dennoch ein Interesse daran hat, dass städtische Zuwanderung, gerade von unqualifizierten Kräften, in großem Maße stattfindet (vgl. Begum 1999: 8). In Bangladesch lebten 2011 ca. 150 Millionen Menschen (142,3 Millionen: Bangladesh Bureau of Statistics 2011a: 3, 150,5 Millionen: United Nations 2011c: 116). Von diesen lebten 27,6 Prozent in städtischen Regionen. Von den 30 Ländern mit der weltweit größten Stadtbevölkerung weisen nur Äthiopien und Tansania einen niedrigeren Anteil der Stadtbevölkerung auf. Andererseits erfolgt die

Megastadt Dhaka

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Verstädterung in Bangladesch mit einer hohen Geschwindigkeit: 1950 lebten nur 4,3 Prozent der Bangladescher in Städten, 1975 waren es 7,5 Prozent und für 2050 werden 56,4 Prozent prognostiziert. Von 2009 bis 2050 geht man von einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum der Stadtbevölkerung von 2,5 Prozent aus. Die Stadtbevölkerung Bangladeschs wächst in diesem Zeitraum um 81 Millionen Menschen. Genau diese hohe Dynamik, die im asiatischen Vergleich die höchste sein wird, stellt Bangladesch vor große Probleme (vgl. auch Afsar 2000: 22, Rana 2011: 242). Im gleichen Zeitraum wird ein Rückgang der ländlichen Bevölkerung Bangladeschs um 0,47 Prozent prognostiziert (alle Daten siehe United Nations 2012b). Im Gegensatz zu den Industrienationen geht in den Entwicklungsländern und auch in Bangladesch die Urbanisierung zu weiten Teilen ohne eine umfassende Industrialisierung und damit auch ohne einen deutlichen Anstieg des Wohlstands einher. Insofern fehlen den Städten Bangladeschs sowohl die monetären Mittel, als auch die Zeit, sich der Urbanisierung anzupassen (vgl. Afsar 2000: 40). New York City hatte 150 Jahre, um einen Bevölkerungszuwachs von 8 Millionen zu verarbeiten. Dhaka hingegen werden dafür nur die kommenden zwölf Jahre zur Verfügung stehen (vgl. United Nations 2008a: 16). Im Zuge der Urbanisierung wachsen sowohl kleinere (Einwohnerzahl unter 50.000) als auch größere (Einwohnerzahl über 100.000) Städte. Absolut betrachtet tragen die vier Städte Dhaka, Chittagong, Khulna und Rajshahi den größten Anteil der Verstädterung. Zusammen leben in ihnen heute 60 Prozent der städtischen Bevölkerung (vgl. Hossain 2008: 61–62, Rana 2011: 241). 4.2 MEGASTADT DHAKA Dhaka befindet sich im Zentrum des Landes auf dem südlichen Teil der topographisch etwas erhöhten Madhupur-Terrasse, die im Pleistozän entstanden und von fruchtbaren Sedimentablagerungen umgeben ist. Dhaka befindet sich zwischen einem und 14 Metern über dem Meeresspiegel. Umschlossen ist Dhaka von den Flüssen Buriganga und Turag (im Westen und Süden), Tongi im Norden und Shitalakhya und Balu (im Osten) sowie deren Überflutungsflächen. Die niedrig gelegenen Gebiete sind überwiegend Feuchtgebiete (vgl. Reimann 1993, Dewan & Yamaguchi 2009, Griffiths et al. 2010: 432). Nach der Teilung der britischen Kronkolonie Indien im Jahr 1947 wurde Dhaka die Hauptstadt Ostpakistans und gewann damit erheblich an Bedeutung. Ebenso wie etliche andere Städte in Entwicklungsländern erfolgte das Wachstum Dhakas zwar im Vergleich zu den Städten in den Industrienationen sehr spät, setzte dann aber vor allem seit 1971 rasant ein. Zwischen 1991 und 2007 verdoppelte sich die Einwohnerzahl Dhakas von 6,8 Millionen auf 13,5 Millionen Einwohner (vgl. Griffiths et al. 2010). 2011 hatte Dhaka rund 15,4 Millionen Einwohner und war damit schon die neuntgrößte Stadt der Welt. Bis 2025 werden vermutlich knapp 23 Millionen Einwohner in Dhaka leben und nur sieben andere Städte der Erde werden mehr Einwohner aufweisen (vgl. United Nations 2012b).

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Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Im weltweiten Vergleich ist Dhaka derzeit zusammen mit Lagos, Nigeria, die am schnellsten wachsende Megastadt der Erde (siehe z.B. United Nations 2008a: 26). Zwei Drittel des jährlichen Wachstums sind der Zuwanderung aus ländlichen Regionen zuzuschreiben (vgl. Afsar 2000: 213, Islam 2005b). Bei der Volkszählung von 1991 wurde festgestellt, dass 46 Prozent der in Dhaka lebenden Bevölkerung außerhalb der Stadt geboren worden war (vgl. Weltbank 2007). Die Ursachen für die Zuwanderung sind hauptsächlich in ökonomischen Gründen zu suchen. Die Aussichten auf bessere Arbeitsbedingungen, Gehälter und Aufstiegsmöglichkeiten bzw. überhaupt Arbeitsmöglichkeiten in Dhaka sind ausschlaggebend (siehe z.B. Paul-Majumder et al. 1996, Islam 1999). Dabei verursacht die Primatstellung Dhakas eine starke Magnetwirkung. Als Hauptstadt trägt Dhaka über ein Drittel der städtischen Bevölkerung Bangladeschs. Auch funktional ist Dhaka deutlich das administrative, finanzielle, wirtschaftliche und industrielle Zentrum sowie das Bildungs-Zentrum des Landes. Für Slums in Agargaon, einem Stadtteil im Westen von Dhaka, fand Begum (1999) heraus, dass 60 Prozent der befragten Slum-Haushalte ökonomische Gründe als Anlass für die Abwanderung vom Land angaben. Neben diesen Gründen hatten 18 Prozent ihr Land durch Flusserosion verloren und 17 Prozent nannten „soziale Gründe“. Dies sind in der Regel Streitigkeiten mit den Familien bzw. Schwiegerfamilien oder Probleme mit der Dorfgemeinschaft. Neben den Slum-Bewohnern machen junge, gut ausgebildete Menschen, die in Dhaka vor allem gut bezahlte Stellen suchen, ebenfalls einen relevanten Teil der Migranten aus. Im Gegensatz zu den anderen Hauptstädten in den Distrikten stammen die Migranten in Dhaka aus allen Teilen Bangladeschs. Ungefähr ein Viertel kommt aus der wirtschaftlich schwachen Küstenregion Barisal, ein weiteres Viertel aus den an die Dhaka-Division angrenzenden Distrikten Faridpur, Comilla oder Mymenshingh. Die andere Hälfte der Zuwanderer kommt aus den restlichen Gebieten von Bangladesch (vgl. z.B. Paul-Majumder et al. 1996, Islam 1999, Centre for Urban Studies et al. 2006, Walsham 2010: 24). Auch für Dhaka gilt, dass ein Teil des Bevölkerungswachstums dadurch hervorgerufen wurde, dass umliegende Dörfer und Städte „eingemeindet“ wurden. Die eigentliche Kernstadt von Dhaka ist mit 145 km2 relativ klein und fällt mit dem historischen Siedlungszentrum auf den erhöht gelegenen Gebieten (6–8 m über NN) in Dhaka zusammen. Sie wird als Dhaka City Corporation (DCC) bezeichnet. Die Lage von DCC wird in Abb. 7 dargestellt. In dem Gebiet der DCC lebten 2005 6,7 Millionen Menschen. Die Metropole Dhaka (Dhaka Metropolitan Area, DMA) ist 306 km2 groß und umfasst auch militärische Sperrgebiete und teilweise unbesiedelte Überflutungsflächen. Für stadtplanerische Zwecke werden DMA und die formal eigenständigen Städte Gazipur im Norden, Savar im Westen und Narayanganj im Süden von der Stadtentwicklungsbehörde RAJUK zur Dhaka Metropolitan Development Planning Area (DMDP) zusammengefasst. Diese umfasst 1530 km2. Dies ist die Agglomeration Dhaka und wird auch als Megastadt Dhaka bezeichnet (vgl. Islam 2005b: 12). In der vorliegenden Arbeit wird Dhaka synonym für die Megastadt Dhaka verwendet und bezieht sich auf das DMDP-Gebiet.

Megastadt Dhaka

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Das Wachstum der Stadt führte bis 1990 vorrangig zu einer Verdichtung in dem bestehenden Stadtgebiet – vorrangig DCC. Die Veränderungen infolge des Städtewachstums fassen Griffiths et al. (2010) mithilfe von Satellitenbildern aus den Jahren 1990, 2000 und 2006 zusammen. Erstens ging viel landwirtschaftliche Fläche durch Zersiedelung verloren. Zweitens weitete sich das Stadtgebiet nach Norden (Uttara, Tongi, Gazipur) aus. Drittens kam es durch Aufschüttungen zu einer markanten Umwandlung von Feuchtgebieten in Baugebiete. Die Fläche der Feuchtgebiete ging von 1990 bis 2006 um 69 Prozent zurück (vgl. auch Dewan & Yamaguchi 2009). Die Aufschüttungen mit Sand werden vorrangig von Bauunternehmen für neue Wohnsiedelungen betrieben. Der aufgeschüttete Sand muss sich erst setzen, sodass für einen Zeitraum von mehreren Jahren die neu aufgeschütteten Flächen von Slum-Bewohnern genutzt werden. Dies bietet den Bauspekulanten eine ertragreiche Zwischennutzung (vgl. Bähr & Mertins 2000, Centre for Urban Studies et al. 2006, Burkart et al. 2008). In Dhaka sind bis zu 40 Behörden mit teilweise sich überschneidenden Befugnissen für die Stadtentwicklung zuständig (vgl. Weltbank 2007). Die Kommunikation und die Entscheidungsfindung unter diesen Behörden ist zu langsam, um mit dem rasanten Wachstum mithalten zu können. Zusätzlich fehlen kompetente Entscheidungsträger, finanzielle Mittel und die Erfahrung, ein solches Ausmaß an Wachstum zu lenken. Auch erschweren korrupte Strukturen die Entscheidungsprozesse (vgl. Islam 2005b, Begum 2007, Banks 2008). Die Folge davon ist das Fehlen von klaren Entwicklungslinien, Infrastruktur und staatlichem Handeln in vielen Bereichen des städtischen Lebens (vgl. auch Haque et al. 2012). Eine eklatante Umweltverschmutzung, akuter Platz- und Wohnungsmangel, „waterlogging“, Verkehrsstaus und ein starkes Wachstum von Slums bestimmen das Leben in Dhaka (vgl. Huq 1999, Parvin & Shaw 2011). Nur knapp zwei Drittel der Haushalte sind an das Wassernetz der Wasserbehörde (DWASA) angeschlossen und nur die Hälfte verfügt über eine ordnungsgemäße Abwasserentsorgung. Die DWASA verfügt über zu wenige Kläranlagen und ein Großteil der Abwässer gelangt ungefiltert in die Flüsse. Der Buriganga ist durch Abwässer und Schwermetalle derart verschmutzt, dass er aus biologischer Sicht ein fast totes Gewässer darstellt (vgl. Ahmad et al. 2010). Auch die Stromversorgung von Dhaka ist nur zu drei Vierteln gedeckt und es kommt täglich zu Stromabschaltungen (Daten siehe Islam 2005b: 37, Weltbank 2007, Burkart et al. 2008, Khan et al. 2009). Diese Umstände machen deutlich, dass Dhaka vor großen Problemen steht. Für viele Bewohner Dhakas weist der informelle Sektor insofern wichtige Möglichkeiten auf, um das Überleben zu sichern.

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Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

4.3 INFORMALITÄT IN DHAKA In Dhaka spielt die Informalität hauptsächlich in zwei Bereichen eine lebensbestimmende Rolle: Tätigkeiten im informellen Sektor (informelle Arbeit) und das Wohnen in informellen Siedlungen (Slums). Beide Bereiche stellen gleichzeitig eine Existenzgrundlage und eine Gefahr für die arme Bevölkerung von Dhaka dar. 4.3.1 Informeller Sektor – informelle Beschäftigung Der informelle Sektor bietet fast zwei Dritteln der Beschäftigten in Dhaka eine Einkommensquelle (vgl. Islam 2005b: 23, Chen & Doane 2008). In ihren Studien zum informellen Sektor in Dhaka arbeiten Aßheuer & Braun (2011), Etzold et al. (2009), Hackenbroch et al. (2009) und Kulke & Staffeld (2009) die zentrale Bedeutung der Informalität für das wirtschaftliche Funktionieren der Stadt Dhaka heraus. Informelle Strukturen tragen beispielsweise dazu bei, dass sich die Ziegelproduktion teilweise an den Klimawandel anpassen kann (vgl. Aßheuer & Braun 2011), die Versorgung Dhakas mit Nahrungsmitteln gewährleistet (vgl. Etzold et al. 2009) und die Wiederaufbereitung von über vier Fünfteln des Plastikabfalls sichergestellt wird (vgl. Kulke & Staffeld 2009). Die informelle Nutzung des öffentlichen Raumes stellt eine Lebensgrundlage für die städtische, arme Bevölkerung dar, da er als Produktions-, Handels- und Lebensraum fungiert (vgl. Hackenbroch et al. 2009). Den genannten empirischen Studien zufolge ist der informelle Sektor von flexiblen und redundanten Strukturen geprägt, wodurch die Resilienz und insbesondere die Anpassungsfähigkeit gefördert werden. Weiter zeichnet sich der informelle Sektor in Dhaka durch eine hohe Fähigkeit der Akteure zur Selbst-Organisation aus. Der informelle Sektor stellt vor allem für die wenig- oder ungebildete, arme Bevölkerungsschicht eine „survival economy“ (Kulke & Staffeld 2009: 40) dar, weil er Erwerbsmöglichkeiten bietet. Im informellen Sektor werden keine formalen Einstellungskriterien wie Zeugnisse, Arbeitsbefähigungen oder Bildung vorausgesetzt. Dies ist möglich, weil im informellen Sektor viele Tätigkeiten angeboten werden, bei denen im Wesentlichen Körperkraft notwendig ist. Dhaka weist jährlich über 400.000 Zuwanderer aus ländlichen Regionen auf (siehe Rana 2011), die auf diese Tätigkeiten angewiesen sind (vgl. Banks et al. 2010: 8). Die Bezahlung in informeller Beschäftigung kann dabei sogar etwas höher sein als für vergleichbare formelle Tätigkeiten (vgl. Chen & Doane 2008: 20, Etzold et al. 2009: 16). Die Leistungen der informellen Arbeitskräfte werden ökonomisch dringend benötigt (vgl. Paul-Majumder et al. 1996, Banks et al. 2010: 8, 31, Walsham 2010: xiii). Dhaka benötigt für die wirtschaftliche Entwicklung viele günstige Arbeitskräfte, die bereit sind, für wenig Lohn sehr hart zu arbeiten. Der informelle Sektor und das Wachstum bedingen sich somit gegenseitig. Aufgrund des Fehlens von Vorschriften und der hohen Nachfrage nach informeller Arbeit ist die Tätigkeit im informellen Sektor durch sehr niedrige Löhne, unsichere Einkünfte, keine Absicherungen gegen Arbeitslosigkeit oder im Krankheitsfall, Korruption und körperlich anstrengende Tätigkeiten geprägt. Vor allem

Informalität in Dhaka

99

vor dem Hintergrund der armutsbedingten Unterernährung vieler informeller Arbeiter und der damit einhergehenden Krankheitsanfälligkeit stellt die harte körperliche Arbeit ein großes Problem dar (vgl. Etzold et al. 2009, Kulke & Staffeld 2009). Das tropische Klima verschärft die Arbeitsbedingungen. Die Tätigkeit als Fabrikarbeiter (meist in einer Bekleidungsfabrik) wird eher zu den formellen Anstellungen gezählt. Allerdings fehlen in den meisten Fällen auch hier Arbeitsverträge und die Arbeiterinnen werden von ihren Arbeitgebern häufig gezwungen, länger als vereinbart zu arbeiten. Besonders nachteilig wirkt sich für die arme Bevölkerung aus, dass sie im Krankheitsfall keine Lohnfortzahlungen erhalten (vgl. z.B. Pryer 2003: 104). Angesichts dieser schwierigen und unsicheren Einkommensstruktur sind die meisten Haushalte informeller Arbeiter gezwungen, ihre fixen Ausgaben so gering wie möglich zu halten. Informelle Siedlungen bieten dabei die Vorteile (minimaler) Infrastruktur, insbesondere den Schutz von vier Wänden, bei relativ geringen Mietpreisen. 4.3.2 Informelle Siedlungen – Slums 4.3.2.1 Definition von „Slum“ im Kontext Dhaka Die in dieser Arbeit verwendete Definition für Slums richtet sich nach den Kriterien der nationalen Studie zu Slum-Clustern, die von dem Centre for Urban Studies et al. (2006: 14–15) formuliert wurden. Als Slums werden Siedlungen bezeichnet, die mindestens zehn Haushalte und mindestens vier der folgenden fünf Eigenschaften aufweisen: • • • • •

überwiegend minderwertige Baumaterialien, sehr hohe Bevölkerungsdichte und eine hohe Anzahl von Personen pro Raum, schlecht ausgebaute Infrastruktur, vor allem die Wasserver- und -entsorgung ist mangelhaft, niedriger sozioökonomischer Status der Haushalte, Mangel an rechtlichen Sicherheiten, vor allem bezüglich des Wohnrechts.

Wenn über 50 Prozent der Hütten bzw. Häuser die entsprechenden Eigenschaften aufweisen, werden diese der Siedlung als Ganzes zugeordnet. Die Bewohner dieser Slums werden in dieser Arbeit als „Slum-Bewohner“ bezeichnet, die privaten Haushalte in den Slums als „Slum-Haushalte“. Minderwertige Baumaterialien lassen sich in zwei Kategorien einteilen: „Kutcha“ sind nicht-dauerhafte Materialien wie Bambus, Holzlatten oder Plastikplanen. „Semi-pucca“ sind minderwertige Strukturen aus Ziegeln oder Wellblechen. Heruntergekommene, ältere Baustrukturen aus Beton und Ziegeln zählen ebenfalls dazu. Ab einer Bevölkerungsdichte von 75.000 Einwohnern/km2 wird von einer hohen Dichte gesprochen. Die Sanitäranlagen gelten als Indikator für die Infrastruktur. Diese Infrastruktur wird als schlecht bewertet, wenn über die Hälfte der Haushalte den Zugang zu Latrinen

100

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

mit mehr als fünf anderen Haushalten teilen muss. Der niedrige sozioökonomische Status wird über das Haushaltseinkommen definiert. Die Armutsgrenze wurde bei BDT 4.344 pro Haushalt Monatseinkommen im Jahr 2004 vom Bangladesh Bureau of Statistics festgelegt (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006: 15). Der Mangel an rechtlicher Sicherheit wurde über die potentielle Gefahr von Vertreibung („eviction“) erfasst. Ein Slum setzt sich u.U. aus mehreren Slum-Einheiten zusammen, wenn diese z.B. durch kleine Straßen oder Wände abgetrennt sind. Ein klar definiertes Slum-Gebiet, welches sich deutlich von anderen wohlhabenderen Wohnsiedlungen abgrenzt, wird auch als Slum-Cluster bezeichnet (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006: 23). Slums existieren in Dhaka schon seit über 200 Jahren (vgl. Rahman 2001, Hossain 2008) und sind somit keine „neue“ Erscheinung. Eine lange Existenz der Slums belegen auch die Daten der Studie zu Slums in Dhaka: 12,5 Prozent der 2005 bestehenden Slum-Cluster wurden bereits vor 1971 gegründet (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006). Seit dieser Zeit ist die Anzahl der Slum-Cluster und die Anzahl der in Slums lebenden Bevölkerung jedoch deutlich gestiegen (siehe Tab. 5). 2005 betrug das geschätzte Wachstum der Slum-Bevölkerung jährlich 10 Prozent (Nawaz 2006). Eine anhaltend hohe Wachstumsrate ist realistisch. Damit liegt das Wachstum der Slums deutlich über dem Wachstum der gesamtstädtischen Bevölkerung. 2005 betrug der Anteil der Slum-Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung von Dhaka (DMA) 37,4 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass 2012 knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums lebt. Tab. 5: Slum-Bevölkerung und Anzahl der Slum-Cluster in Dhaka (DMA) in den Jahren zwischen 1974 und 2005.

Dhaka (DMA)

1974 (für DCC)

1991

1996

2005

Stadt-Bevölkerung

1,8 Mio.1

4,0 Mio. (Schätzung)1

5,8 Mio. (Schätzung)1

9,1 Mio.

Slum-Bevölkerung Anzahl | Anteil der Stadtbevölkerung

0.3 Mio.

16%

0,7 Mio.

18%

1,5 Mio.

26%

3,4 Mio.

37%

Haushalte in Slums

n.a.

n.a.

n.a.

674.000

Anzahl der SlumCluster

n.a.

2.156

3.007

4.966

Quellen: Alle Daten aus CUS et al. (2006), mit Ausnahme von 1: Islam (2008).

Informalität in Dhaka

101

4.3.2.2 Slums als „permanente Zwischenlösung“ Die netzwerkorientierten Zuwanderungsmuster (vgl. Paul-Majumder et al. 1996: 9, Rayhan & Grote 2007) bieten eine Erklärung, warum viele Migranten in Dhaka zunächst von Bekannten oder Verwandten aufgenommen werden (vgl. Hossain 2008: 76, Roy et al. 2011). Aus Mangel an günstigem Wohnraum suchen sich die meisten Migranten „vorübergehend“ ebenfalls eine Wohnung in einem Slum. Aufgrund des immensen Wachstums von Dhaka haben die Bodenpreise sehr hohe Werte erreicht, die sich die Zuwanderer nicht leisten können. Mieten von über BDT 5.000 pro Monat für ein einfaches Zimmer sind die Regel6.1In den Slums hingegen finden sich Zimmer in verhältnismäßig gutem Zustand (in Ziegelbauten) bereits ab BDT 2.000 pro Monat. Eine typische Monatsmiete (z.B. in Bambushütten) beträgt in den Slums BDT 800 pro Monat (eigene Erhebungen 2009/2010). Außerdem befinden sich Slums oft in relativer Nähe zum Arbeitsort (vgl. Paul-Majumder et al. 1996: 33). Insgesamt ist Arbeitslosigkeit im Gegensatz zur Mittelschicht kein markantes Problem für die arme Bevölkerungsschicht Dhakas (vgl. Islam 2005b: 19). So fand Pryer (2003: 72) in ihrer Studie mit 850 Slum-Haushalten heraus, dass 97 Prozent der Männer im Alter zwischen 15 und 59 Jahren eine Beschäftigung hatten. Ebenso waren immerhin noch 87 Prozent der Haushaltsvorstände erwerbstätig (N=2271, siehe Islam 2005c: 96). Der Anteil der beschäftigten Frauen in Slums ist in den vergangenen 15 Jahren erheblich gestiegen. Der Studie von Pryer (2003: 72) zufolge arbeiten 49 Prozent der Frauen zwischen 15 und 59 Jahren. Vor allem in den zahlreichen Bekleidungsfabriken werden sehr viele Slum-Bewohnerinnen angestellt (vgl. Islam 2008). 4.3.2.3 Prekäre Lebensumstände in Dhakas Slums Trotz dieser relativ günstigen Faktoren ist die Armut in den Slums eklatant. Die Unterbeschäftigung ist gravierend und die Löhne sind gering. Dhaka zählt mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 750 USD im Jahr zu den ärmsten Megastädten der Welt. 2005 verdiente die Hälfte der Stadtbevölkerung monatlich weniger als BDT 2.500/Person und 30 Prozent verdiente unter BDT 1.700/Person. Die Hälfte der Stadtbevölkerung wird nach dem ökonomischen Kriterium somit als arm und fast ein Drittel als extrem arm bezeichnet (vgl. Islam 2005b: 28). Nach dem Kriterium der täglich zugeführten Kalorienmenge werden 53 Prozent bzw. 25 Prozent der Stadtbevölkerung Dhakas als arm bzw. extrem arm eingestuft (vgl. Hossain 2008: 71). In den Slums verdienten 2005 85 Prozent der Haushalte unter dem ökonomischen Armutsniveau und 24 Prozent wurden als extrem arm bezeichnet (vgl. Angeles et al. 2009). Dies zeigt die hohe Armut in den Slums, aber auch, dass extrem Arme tendenziell gar nicht in Slums leben, sondern ohne festen Wohnsitz als Wohnungslose („pavement dwellers“) ihr Dasein fristen. Es sind auch eher Men6

Im Jahr 2009 betrug der Wechselkurs durchschnittlich EUR 1 zu BDT 100.

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Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

schen aus der armen ländlichen Bevölkerungsgruppe, die in die Städte ziehen, um dort zu arbeiten. Für die extrem Armen bietet sich nicht einmal diese Möglichkeit, da auch für die Arbeitsaufnahme in einer Stadt ein Minimum an finanziellem Kapital notwendig ist, z.B. um die Busfahrt in die Stadt zu bezahlen (vgl. Disaster and Emergency Response 2004: 19, Walsham 2010). Die Anzahl der Armen und extrem Armen wird in Dhaka in ähnlichen Ausmaßen weiter zunehmen (vgl. Roy et al. 2011: 6). Dafür wird die Quote der Armen auf dem Land etwas abnehmen (nicht aber die der extrem Armen). 4.3.2.4 Beschäftigungssituation in Slums Ähnlich wie in Gesamt-Dhaka sind auch in den Slums zwei Drittel der Beschäftigten dem informellen Sektor zuzuordnen (vgl. Paul-Majumder et al. 1996, Centre for Urban Studies et al. 2006). Die Männer sind vorrangig im Transportwesen (vor allem als Rikscha-Fahrer, wenige als CNG-Fahrer) und als Tagelöhner beschäftigt oder bieten Dienstleistungen (z.B. als Friseur) an. Wenige verkaufen auch Waren, entweder in Geschäften oder als Straßenverkäufer (z.B. von Tee, Snacks oder kleinen Mahlzeiten). Frauen hingegen sind vor allem als Arbeiterinnen in Fabriken und Haushaltshilfen in fremden Haushalten beschäftigt. Aufgrund der geringen und unsicheren Einkünfte ist es in vielen Haushalten notwendig, dass mehr als eine Person zum Haushaltseinkommen beiträgt. 4.3.2.5 Räumliche Lage der Slums in Dhaka Staatlich subventionierter Wohnraum existiert in Dhaka fast nicht. Aus Sicht der Armen wird an dem Stadtentwicklungsplan für Dhaka (Dhaka Metropolitan Development Plan, siehe Parvin & Shaw 2011), der von der Planungsbehörde Rajuk (2010) erarbeitet wurde, kritisiert, dass zu wenig Siedlungsflächen für Slums vorgesehen sind. In dem Plan sind 34 Prozent der städtischen Flächen so konzipiert, dass 4,4 Millionen Personen der oberen Einkommensschicht dort wohnen können. Für 4,5 Millionen Menschen der unteren Einkommensschicht werden hingegen nur 0,3 Prozent der Fläche in unattraktiver Lage veranschlagt (vgl. The Daily Star 2011). Die hohen Bodenpreise zwingen die mittellosen Migranten dazu, in Ungunstlagen wie entlang der Abwasserläufe von Gerbereien oder Eisenbahnschienen, auf Überschwemmungsflächen oder an den Ufern von Buriganga, Turag oder Sitalakhya zu siedeln (vgl. Hackenbroch et al. 2009). Slums sind in dem Stadtgebiet der Dhaka City Corporation (DCC) und in den äußeren Stadtbereichen von DMA und DMDP stark verstreut. In drei Prozent der Slum-Cluster (z.B. Kamrangir Char im Süden von DCC mit 260.000 SlumBewohnern und Karail im Zentrum von DCC mit 100.000 Slum-Bewohnern) wohnen 50 Prozent der gesamten Slum-Bevölkerung, in 65 Prozent der kleinen Slum-Cluster hingegen leben nur zehn Prozent der Slum-Bevölkerung (vgl. Angeles et al. 2009: 9). In Dhaka existieren somit sehr viele kleine Slums, die im Stadtbild

Informalität in Dhaka

103

oft nicht besonders auffallen. 70 Prozent der Slums weisen weniger als 300 Bewohner auf. Diese Vielfalt an kleinen Slums ist bemerkenswert, da dadurch einerseits deutlich wird, dass die Slums in Dhaka sehr inhomogen sind, und andererseits gewährleistet ist, dass die Slums in der Nähe der Arbeitsmöglichkeiten liegen. In den Slums von Dhaka sind die Eigentumsverhältnisse hinsichtlich des Grundstücks und der sich darauf befindenden Hütten getrennt zu betrachten. Die Eigentümer der Grundstücke sind entweder der Staat, private Bauunternehmen oder Einzelpersonen. Nur ein Prozent der Slum-Bewohner ist Eigentümer des Grundes, auf dem sie leben (vgl. Salway et al. 2003: 882). Die Eigentümer der Grundstücke sind nicht zwingend identisch mit den Eigentümern der Slum-Hütten, da es auch zahlreiche Slum-Bewohner gibt, die ihre Hütten selbst bauen (für eine Hütte aus temporären Materialien wie Bambus belaufen sich die Kosten auf BDT 20.000 bis BDT 30.000) und nur den Grund mieten (durchschnittlich BDT 300/Monat, Zahlen basieren auf eigenen Erhebungen 2009/2010). Die Hütten und Häuser auf öffentlichem Grund sind illegal erbaut und gehören fast ausschließlich privaten Eigentümern, die ebenfalls oft untervermieten. Eine früher gute aber heute heruntergekommene Baustruktur findet man in den Slums von Dhaka nur sehr selten (1,2 Prozent der Slum-Cluster, siehe Centre for Urban Studies et al. 2006). Während 1996 noch über die Hälfte der Slum-Bewohner (51 Prozent) auf öffentlichem Grund wohnte, lebten 2005 bereits 70 Prozent auf privatem Grund (vgl. Angeles et al. 2009: 13). Die Ursache für den Wandel von Slums auf öffentlichen Grundstücken hin zu Slums auf privaten Grundstücken ist in zwei Entwicklungen zu sehen: Einerseits griff der Staat in den letzten Jahren härter gegen informelle Besiedelungen durch (vgl. Rahman 2001), andererseits wird die Expansion in den äußeren Stadtbereichen vor allem von privaten Unternehmen vorangetrieben (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006: 21). Der Wandel hat für die Erscheinung der Slums weitreichende Folgen: Private Slums weisen tendenziell weniger Bewohner und vielfältigere bauliche Strukturen auf. 1996 betrug die durchschnittliche Bevölkerungsdichte in Slums 263.000, 2005 hingegen „nur“ noch 220.000 Einwohner pro km2. Private Slums sind jedoch weniger gut an die öffentliche Infrastruktur angeschlossen. Positiv ist, dass private Slums seltener zwangsgeräumt werden. 95 Prozent der im Jahr 2005 bestehenden Slum-Cluster wurden noch nie zwangsgeräumt (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006: 47). Allerdings ist den Bewohnern von privaten Slums oft von Anfang an klar, dass sie nur eine begrenzte Zeit (drei bis acht Jahre) dort wohnen können, da dann auf dem aufgeschütteten Gebiet Wohnkomplexe für die Mittelschicht errichtet werden (vgl. Angeles et al. 2009). Die Vorteile privater Slums sind durchaus gegeben, aber sie ändern wenig an der menschenunwürdigen Gesamtsituation, die in Slums herrscht. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag 2005 in Slums 7,3-fach über dem Durchschnitt der gesamten Stadt (30.000 Einwohner/km2) (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006: 40). 30 Prozent der Slum-Bevölkerung Dhakas lebt sogar in Slums mit einer Dichte von über 375.000 Einwohner/km2 (vgl. United Nations 2008a). Diese Bevölkerungsdichte erscheint umso erstaunlicher, da fast die gesamte Bebauung einstöckig ist.

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Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

4.3.2.6 Infrastruktur in den Slums Trinkwasserstellen, Kochstätten und Sanitäranlagen befinden sich in der Regel außerhalb der Wohnung und werden fast immer von mehreren Haushalten gemeinsam genutzt. Wasserleitungen sind aber oft verunreinigt, Pumpbrunnen störanfällig und in der Handhabung so langsam, dass Wartezeiten entstehen. Die Trinkwasserversorgung stellt das größte infrastrukturelle Problem aus Sicht der Slum-Bevölkerung dar (vgl. Paul-Majumder et al. 1996, zur Problemlage der Wasserversorgung siehe auch Hossain 2012). Aber auch die Abwasserentsorgung ist mangelhaft. 60 Prozent der Haushalte sind unzureichend an das Entwässerungsnetz angeschlossen, sodass Regenwasser nicht gut abfließen kann und „waterlogging“, vor allem während des Monsuns, häufig ist. Ebenso ist die Abwasserentsorgung aus hygienischer Sicht äußerst unbefriedigend, da ein Großteil der Toiletten den hygienischen Mindeststandards nicht genügt. Der Müll wird in den Slums nur bei der Hälfte der Haushalte regelmäßig entsorgt. Wiederverwendbarer Müll wie Plastik oder Papier wird von informellen Gruppen eingesammelt oder die Slum-Bewohner bringen ihn zu entsprechenden Sammelstellen. Anderer Abfall verrottet einfach in der Siedlung, zwischen oder hinter den Hütten. Als Folge davon stehen viele Slums regelrecht auf Müllbergen (vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006). Zum Kochen wird Gas als Brennmaterial dem Holz wegen der einfacheren Handhabung und der geringeren Rauchentwicklung deutlich vorgezogen, aber bei weitem nicht alle Slum-Cluster sind an Gasleitungen angeschlossen. Noch weniger Slum-Bewohner haben eine verlässliche Stromversorgung (Erläuterungen dazu siehe Kap. 6.2.2). 4.3.2.7 Gesundheitliche Situation in Slums Die Kochstellen verursachen sehr hohe Feinstaubimmissionen in den Slums. Dadurch sind die Slum-Bewohner dem Feinstaub noch stärker ausgesetzt, als es die Bevölkerung Dhakas ohnehin ist (vgl. Pryer 2003: 83). Vor allem das hohe Verkehrsaufkommen und die Ziegeleien im Umland von Dhaka verursachen eine Feinstaubkonzentration, die im Durchschnitt zehnmal höher als in europäischen Städten ist (vgl. Kabir 2003, Burkart et al. 2008). Zeitweilige und chronische Atemwegserkrankungen wie Asthma, Lungenkrebs, Herzerkrankungen oder Bronchitis sind die Folge. Besonders chronische Erkrankungen schränken die Leistung der körperlich tätigen Arbeiter stark ein (vgl. Khan et al. 2009). Die unhygienischen Bedingungen in den dicht besiedelten Slums begünstigen zudem die Ausbreitung von Hauterkrankungen, Geschlechtskrankheiten und anderen übertragbaren Krankheiten. Eine vergleichende Studie zwischen Haushalten in Slums (N=1.444), wohlhabenderen Stadtgebieten von Dhaka (N=281) und Haushalten in ländlichen Regionen (N=597) zeigt eine signifikant höhere Krankheitslast in den Slums

Informalität in Dhaka

105

(vgl. Khan et al. 2009). Die Säuglingssterblichkeitsrate liegt in den Slums bei 63 von 1.000 Geburten, im Rest von Dhaka bei 30 von 1.000 Geburten. 83 Prozent der Entbindungen finden in den Slums zu Hause statt. Fast keine der dort aktiven Entbindungshelferinnen ist medizinisch ausgebildet. 46 Prozent der Kinder in Slums sind unterernährt. In den anderen städtischen Gebieten liegt dieser Prozentsatz bei 28 Prozent. Auch bei den Erwachsenen ist ein deutlich höherer Prozentsatz in den Slums untergewichtig (vgl. National Institute of Population and Training, NIRPORT et al. 2008). 4.3.2.8 Überlebensstrategie versus Entwicklungsstrategie Die Zuwanderer kommen mit der Erwartung nach Dhaka, dass sich ihre ökonomische Situation verbessert. In weiterer Folge soll sich dadurch auch die Lebenssituation der Haushalte insgesamt verbessern und somit in gewisser Weise eine (positive) Entwicklung stattfinden (vgl. Begum 1999). Allerdings erfüllen sich diese Erwartungen in vielen Fällen nicht. Paul-Majumder et al. (1996) kommen zwar insgesamt zu einer positiveren Bewertung der Zuwanderung nach Dhaka. Sie weisen in ihrer Studie nach, dass drei Viertel der befragten Haushalte nicht in ihr Dorf zurückkehren wollen und mit ihrer Situation in Dhaka zufrieden sind, da sie Arbeitsstellen haben und Einkommen erwirtschaften können. Ein positiver Trend lässt sich in ihrer Studie auch daran erkennen, dass mit längerer Aufenthaltsdauer die Entfernung zur Arbeit kürzer wird, höhere Einkommen erzielt werden sowie mehr weibliche Haushaltsmitglieder eine Beschäftigung finden und insgesamt der Anteil der formellen Beschäftigungen zunimmt. Allerdings zeigen Paul-Majumder et al. und auch andere Autoren (z.B. Rayhan & Grote 2007), dass eine grundlegende sozioökonomische Entwicklung in aller Regel nicht erreicht wird. Die Lebensbedingungen (z.B. Bildung, Gesundheitszustand, Sicherheitsgefühl) bleiben tendenziell gleich oder verschlechtern sich sogar. Begum & Sen (2005) zeigen auf, dass Rikscha-Fahren für die deutliche Mehrheit von 85 Prozent der Befragten keinen Weg aus der Armut darstellt. Die Einkünfte machen es zunächst (die ersten fünf bis zehn Jahre) möglich, die Familien der Fahrer jeden Tag ausreichend zu ernähren. Im Vergleich zu einer landwirtschaftlichen Tätigkeit ist dabei nicht die Summe des Verdienstes ausschlaggebend, sondern die Regelmäßigkeit des Einkommens. Aber die Arbeit ist anstrengend, gefährlich und krankheitsfördernd. Diese Krisen verhindern im Endeffekt den Weg aus der Armut (Begum & Sen 2005: 23). Begum (1999: 142) belegt, dass 90 Prozent der befragten Haushalte ihre Erwartungen an das Leben in Dhaka enttäuscht sahen. Das höhere Einkommen wird durch die höheren Lebenskosten absorbiert. Schulen für die Kinder werden in Slums meist nur von NGOs angeboten und können nur das grundlegende Wissen (Schreiben, Lesen, Rechnen) vermitteln. Weiterführende Schulen oder Bildung für Erwachsene gibt es für die Slum-Bevölkerung fast nicht. Durch das mangelnde Bildungsangebot und die Notwendigkeit, dass die Kinder zum Einkommen beitra-

106

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

gen müssen, besteht somit auch kaum Hoffnung, dass die Kinder „bessere“ Berufe erlangen und dadurch den Slum verlassen können (vgl. Hossain 2008: 75). Insgesamt herrscht in der Literatur die Meinung vor, dass die Zuwanderung nach Dhaka zwar aus kurzfristiger Sicht ökonomisch notwendig ist, sich aber auf die langfristige ökonomische und soziale Entwicklung der Haushalte negativ auswirkt. Ein Hinweis darauf ist das rasante Wachstum der Slums. Die ständig nachrückenden Zuwanderer vergrößern die Gruppe der Slum-Bewohner, da ein sozialer Aufstieg aus dem Slum in die Mittelschicht nur selten gelingt (vgl. Afsar 2000, Centre for Urban Studies et al. 2006). Ein Großteil der Haushalte ist in den Slums sowie der informellen Beschäftigung gefangen. Die Bewältigungsstrategie der ländlichen Bevölkerung, in die Stadt zu ziehen, ist insofern zwar eine Überlebens-, aber keine Entwicklungsstrategie (vgl. Begum 1999). 4.3.2.9 Krisen als Hindernis für Entwicklung Vor allem Krisen behindern immer wieder die Entwicklungstendenzen in Slums. Die häufigsten Krisen sind gesundheitlicher Natur: Der Gesundheitszustand von einem beträchtlichen Teil der Slum-Bewohner verschlechtert sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer. Die Studie von Khan et al. (2009: 78) belegt dies für ein Drittel der Slum-Bewohner. Einer Studie von Begum & Sen (2005: 21) zu Rikscha-Fahrern in Dhaka zufolge stellen gesundheitliche Probleme die häufigste und finanziell problematischste Krise für Haushalte in Slums dar. Gewalt und Kriminalität stellen Haushalte ebenfalls oft vor Krisensituationen. Die Kriminalitätsrate in Dhaka ist gegenüber dem nationalen Durchschnitt deutlich erhöht (vgl. z.B. Siddiqui et al. 2000, Shafi 2010: 144). In Slums geschehen dabei überdurchschnittlich viele Gewalttaten (vgl. z.B. Garret & Ahmed 2004). Von 1.000 befragten Slum-Bewohnern in Dhaka gaben 40 Prozent an, dass ihr Haushalt in den letzten fünf Jahren Opfer von Überfällen, Raub, Diebstählen, Vergewaltigungen, Entführungen oder Erpressungen wurde (vgl. Begum & Sen 2005: 21). Eine deutlich höhere Zahl belegt eine Studie der Weltbank (2007: 65). 93 Prozent von 1.000 befragten Slum-Bewohnern vier verschiedener Slums in Dhaka waren innerhalb der 12 Monate vor der Erhebung Opfer von Gewalttaten. Die Datenlage ist bei kriminellen Vorkommnissen besonders schwierig, da viele Opfer sich schämen, über Gewalttaten zu sprechen. Daher ist meist davon auszugehen, dass Studien zu Gewalt zu niedrige Werte ansetzen (vgl. Shafi 2010). Die Weltbank-Studie kommt dennoch zu dem Ergebnis, dass sich 69 Prozent der Befragten in ihrer Umgebung sicher fühlen. Sie zeigt allerdings große lokale Unterschiede hinsichtlich der Art von Gewalttaten zwischen den vier Untersuchungsgebieten auf. Die jeweiligen örtlichen Strukturen sind offenbar von großem Einfluss. Slums als „Hotspot“ von Armut werden oft als „Herberge“ für kriminelle Personen vermutet, die sich der Ergreifung durch die Polizei zu entziehen versuchen. Dies ist wohl zu einem gewissen Anteil auch richtig, aber oft werden diese Gründe auch aus politischen Motiven vorgeschoben, um gegen informelle Siedlungen vorgehen zu können (vgl. Centre on Housing Rights and Evictions & Asian

Naturereignisse in Bangladesch und Dhaka

107

Coalition for Housing Rights 2001: 15). Slum-Bewohner sind – mit Ausnahme von häuslicher Gewalt, wo meist der Ehemann der Aggressor ist und die Frau die Leidtragende – eher Opfer von Gewalt und kriminellen Machenschaften und weniger selbst kriminelle oder terroristische Akteure (vgl. United Nations 2003a: xxvi, Weltbank 2007, Shafi 2010). Gewalttaten schüchtern zwar ein und untergraben das allgemeine Vertrauen. Aber dies führt im Allgemeinen nicht dazu, dass die SlumBewohner sich untereinander misstrauen, sondern eher dazu, dass sie sich gegenseitig schützen, weil die Täter nach der Einschätzung der Slum-Bewohner vorrangig von außen kommen. Eine Art der Krise mit erheblichen langfristigen Auswirkungen stellen neben schweren Krankheiten oder Verbrechen extreme Naturereignisse dar, die in besonderer Weise in die prekären Lebensumstände eingreifen und die Entwicklungsperspektiven schmälern. Diese These wird durch eine Längsschnittstudie von Sen (2003) gestützt. Seine Untersuchung von ländlichen Haushalten in Bangladesch zwischen 1987/88 und 2000 zeigt, dass vor allem Naturereignisse und Krankheiten die Ursachen für ein Nichtgelingen der sozioökonomischen Entwicklung waren. 4.4 NATUREREIGNISSE IN BANGLADESCH UND DHAKA Diese Arbeit fokussiert in ihrem empirischen Teil vorrangig Überschwemmungen in den Slums von Dhaka. Aus mehreren Gründen muss jedoch in diesem Kapitel sowohl auf andere extreme Naturereignisse als auch auf Bangladesch im Allgemeinen eingegangen werden. Erstens betreffen die Auswirkungen des Klimawandels nicht nur Überschwemmungen, sondern auch andere Naturereignisse. Zweitens sind Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels ungenauer, je größer der räumliche Bezug wird. Für Dhaka gibt es in vielen Bereichen noch keine verlässlichen Modelle. Und drittens sind auch die Auswirkungen der zukünftigen Naturereignisse auf ganz Bangladesch von zentraler Bedeutung, da davon maßgeblich die zukünftige Migration nach Dhaka abhängt. Bengalen wurde lange Zeit als das „Paradies von Indien“ (Weiß & Kunz 2002: 4) bezeichnet. Die Ursache hierfür liegt u.a. in seinem warmen Klima, dem fruchtbaren Boden und den zahlreichen Flüssen. Diese Gegebenheiten begünstigen aber auch Naturereignisse, die in Bangladesch vielfältig und häufig sind. Durch die hohe Bevölkerungsdichte treffen Naturereignisse zusätzlich eine hohe Anzahl an Personen und können sich so zu Katastrophen entwickeln. Bangladesch ist eines der von Naturgefahren am meisten bedrohten Länder der Welt, es treten immer wieder schwere Naturereignisse auf (vgl. Beck 2005: 3). In Bangladesch werden zwar „nur“ sechs bis zehn Prozent der weltweiten Wirbelstürme beobachtet, diese sind aber für 50 Prozent der weltweiten Todesfälle durch tropische Wirbelstürme verantwortlich (vgl. Paul & Routray 2011). 97 Prozent der Landesfläche und 98 Prozent der Bevölkerung sind in Bangladesch von vielfältigen Naturgefahren bedroht (vgl. Edris & Collins 2010: 932). Eine Übersicht über die folgenreichsten Naturereignisse in Bangladesch zeigt Tab 6. Ramachandraiah (2011: 432) bezeichnet zwar Überschwemmungen als die

108

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

schlimmste Naturgefahr Asiens, aber solch eine Klassifizierung der „gefährlichsten“ Naturgefahren ist für Bangladesch kaum möglich. Die Wirkungen unterscheiden sich sehr stark in der räumlichen und zeitlichen Ausprägung. Besonders deutlich wird dies bei der Betrachtung von Zyklonen und Überschwemmungen. Im Zeitraum 1970–1998 waren insgesamt 356 Millionen Menschen von Überschwemmungen betroffen, wobei 41.000 Menschen starben. Im gleichen Zeitraum waren durch Zyklone zwar „nur“ 45 Millionen Menschen betroffen, aber jeder Hundertste davon war als Todesopfer zu beklagen (vgl. Beck 2005: 3). 4.4.1 Physiogeographische Voraussetzungen Die für Bangladesch im Allgemeinen – und für Dhaka im Besonderen – bestehenden naturräumlichen Voraussetzungen für Naturereignisse werden im Folgenden aufgelistet (vgl. Rashid 1991, Mirza 2003, Hofer & Messerli 2006, Braun & Shoeb 2008). Bangladesch befindet sich auf der aktiven Subduktionszone der Indischen und Eurasischen Platte, weshalb kleinere und größere Erdbeben das Land bedrohen. Die Bildung von Zyklonen wird durch die Interaktion der Geomorphologie der Küstenregion und dem Golf von Bengalen begünstigt. Die Küstenregion ist von einer trichterförmigen Küstenlinie geprägt. Als typisches Schwemmland-Delta ist die Küste ausgesprochen flach, weshalb die Küstengewässer ganzjährig hohe Temperaturen aufweisen. In den heißen Monaten zwischen Ende April und Anfang Juni sowie im Oktober und November ist die Bildung von Zyklonen dort wahrscheinlich. Tab. 6: Spezifische Naturgefahren und ihre Wirkungen auf die Bevölkerung. Naturgefahr

Jahr

Erläuterungen

Todesfälle

Arsenvergiftung

Seit den 1990er Jahren bekannt

Vergiftung von Grund- und Trinkwasser mit Arsen aufgrund von chemischen Prozessen im Grundwasser. 35 Mio. Menschen sind betroffen3.

Keine Angaben

Dürre

1970–1998

Insgesamt vier gravierende Ereignisse, bei denen zusammen 25 Mio. Menschen betroffen waren.2 Von 1960–1991 wurden insgesamt 19 Dürreereignisse registriert1.

18

1769–1770

Ein Drittel der bengalischen Bevölkerung verhungert aufgrund der langanhaltenden Dürre.

Keine Angaben

1943

Durch einen Zyklon 1942 wurde die Reisernte fast vollständig zerstört und durch die Dürre 1943 war über die Hälfte der Haushalte von Hunger bedroht.

5 Mio.8

109

Naturereignisse in Bangladesch und Dhaka

Naturgefahr

Jahr

Erläuterungen

Todesfälle

Erdbeben

Allgemein

Sieben größere Erdbeben seit 18705

Keine Angaben

1787

Dauerhafte Verschiebung des Flussbettes des Brahmaputras. Weitläufige Überschwemmungen als Folge.

Unbekannt. Im Distrikt Rangpur starb ein Sechstel der Bevölkerung.5

Flussregion

„Immer“

Millionen Menschen verlieren jährlich ihr Land, Migration in die Städte als Folge6

„Wenige“3

Tornado

Allgemein

Jährlich 6–7 Tornados, kleinräumige Zerstörung der Häuser und Infrastruktur6

Bis einige hundert Personen

2004 (Mai)

33.000 Verletzte

6003

Überschwemmung

Zyklon

2004 (April) Verwüstung von 38 Dörfern auf 37 km Länge

1103

1970–1998

Insgesamt 49 Ereignisse, bei denen zusammen 356 Mio. Menschen betroffen waren

41.0002

1974

Die Überschwemmung löste eine Hungersnot in dem noch vom Unabhängigkeitskrieg gezeichneten Land aus.

26.000–100.0008

1998

32 Mio. direkt betroffene Menschen, 6–10% des BIP finanzieller Schaden

900–1.6003

2004

30 Mio. direkt betroffene Menschen, 4–6% des BIP finanzieller Schaden

7503

2007

15 Mio. direkt betroffene Menschen, 1–2% des BIP finanzieller Schaden

11007

1970–1998

Insgesamt 83 Ereignisse, bei denen zusammen 45 Mio. Menschen betroffen waren

463.0002

1970

Ein Jahrhundert-Zyklon traf auf eine bereits hohe Bevölkerungsdichte an der Küste und die damalige pakistanische Regierung unternahm fast keine Bewältigungsmaßnahmen.

500.0003,4

1991

6% des BIP finanzieller Schaden

140.0003,4

2007

8 Mio. Menschen betroffen. Auch drei Monate nach dem Zyklon SIDR waren noch 0,5 Mio. Menschen in Notunterkünften untergebracht.

3.3004

Quellen: 1Agrawala et al. (2003), 2Beck (2005), 3Braun & Shoeb (2008), 4Edris & Collins (2010), 5Hofer & Messerli (2006), 6Novak (1994), 7Reliefweb (2007b), 8Sen (1981/1999).

110

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Überschwemmungen und Flusserosion Die Entstehung von Überschwemmungen und die dadurch verstärkte Flusserosion werden in Bangladesch durch die naturräumliche Lage südlich des Himalayas und das Klima begünstigt. • •



• •

Das Einzugsgebiet der Flüsse in Bangladesch, die sich im Land zu einer Länge von 24.000 Kilometer addieren, ist zwölfmal so groß wie das Staatsgebiet Bangladeschs (vgl. Abb. 5). Das Einzugsgebiet des Meghna ist räumlich am kleinsten, aber in dieser Hügelregion befindet sich die niederschlagsreichste Region der Welt (z.B. Cherrapunjee, Indien mit über 11.000 mm durchschnittlichem Jahresniederschlag). Die Region liegt zwar außerhalb von Bangladesch, entwässert aber durch das Land in den Golf von Bengalen. Die beiden anderen bedeutsamen Flüsse in Bangladesch sind der Ganges, der ein mäandrierender Fluss ist, und der Brahmaputra, der als verwilderter Fluss („braided river“) bezeichnet wird. Beide sind durch sich verändernde Flussläufe gekennzeichnet. Die weichen Sedimente der Flussufer (v.a. am Brahmaputra) werden von den Wassermassen leicht abgetragen, wodurch es zur Erosion der Ufer kommt (laterale Flusserosion). 80 Prozent der Landesfläche sind Schwemmflächen der Flüsse. Nur 5 Prozent der Landesfläche besteht aus Hügelregionen. 60 Prozent befindet sich unter 6 m über NN. Das Klima Bangladeschs ist durch den Monsun geprägt. Die mittleren Niederschlagsmengen im Juli sind im Durchschnitt 40-mal so hoch wie im Dezember. Während der Regenzeit von Juni bis Mitte Oktober fallen ca. 80 Prozent des Jahresniederschlags (vgl. Rashid 1991: 82).

Die physiogeographischen Besonderheiten Dhakas, die v.a. Überschwemmungen fördern, lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Nishat et al. 2000): • •

Dhaka (DMA) ist von fünf Flüssen umgeben. Diese sind mit den drei großen Flüssen Ganges, Brahmaputra und Meghna verbunden und treten regelmäßig während der Regenzeit über die Ufer (siehe Abb. 7). Dhaka (DMA) ist durch die Madhupur-Terrasse in Teilen relativ überschwemmungssicher gelegen. Ca. 60 Prozent der Stadtfläche befinden sich aber unter 6 m über NN und in den niedrig gelegenen Schwemmebenen der Flüsse. Insbesondere der östliche Teil der Stadt, der gegenwärtig die höchste Besiedelungsrate aufweist, ist durchwegs niedrig gelegen auf der Schwemmebene des Balu-Flusses. Der durchschnittliche Jahresniederschlag von 2.000 mm konzentriert sich im Raum Dhaka ebenfalls auf die Monsunzeit.

Naturereignisse in Bangladesch und Dhaka

111

Abb. 5: Das Einzugsgebiet des Ganges, Brahmaputra und Meghna. Quelle: Hofer und Messerli (2006).

4.4.2 Extreme Naturereignisse in Bangladesch und ihre Relevanz für Dhaka In Dhaka stellen Erdbeben, Stürme, Hitze- und Kältewellen, Starkniederschläge und Überschwemmungen für die Slum-Bevölkerung eine konkrete Gefahr dar. Flusserosion Flusserosion ist ein Ereignis, das das ganze Jahr hindurch zu beobachten ist. Allerdings werden die Ufer von der starken Strömung während Überschwemmungen besonders stark erodiert (vgl. Alam 1994: 169, Baki & Gan im Druck). Eine Studie von Egis (1997) weist nach, dass der Ganges in Bangladesch von 1973 bis 1996 durchschnittlich 3.000 Hektar pro Jahr Land erodierte, in den Überschwemmungsjahren 1987 und 1988 jedoch jeweils 8.000 Hektar (vgl. Weltbank 2000: 31). Flusserosionen werden von der betroffenen Dorfbevölkerung als existentielle Bedrohung wahrgenommen. Ihren Angaben zufolge seien Überschwemmungen „verkraftbar“, weil man sie bewältigen kann. Durch Flusserosion verlieren jedoch jährlich Millionen von Menschen ihr eigenes Land und damit ihre Lebensgrundlage (vgl. Braun & Shoeb 2008). Flusserosion gefährdet auch massiv Hochwasserschutzmaßnahmen. Dämme können unterspült werden und während Hochwasserereignissen brechen.

112

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Zyklone Tropische Wirbelstürme sind kurzfristige Ereignisse, die vor allem in der Vor- und Nachmonsunzeit auftreten. Im Hinblick auf die potentiellen Todesopfer sind Zyklone als deutlich gefährlicher einzustufen als Überschwemmungen (siehe Tab. 6). Hohe Windgeschwindigkeiten und durch den Sturm herumfliegende Gegenstände stellen eine große Gefahr dar, noch gravierender allerdings sind meist die damit einhergehenden Sturmwellen, die mehrere Meter hoch sein können. Der Mangrovenwald der Sundarbans stellt eine wichtige natürliche Barriere dar. Aufgrund der flachen Küste können die Sturmwellen bis weit ins Landesinnere vordringen und dort auch landwirtschaftlich genutzte Flächen versalzen. Von 1891 bis 1998 traten 178 starke Zyklone über dem Golf von Bengalen auf (vgl. Edris & Collins 2010: 932). Ungefähr die Hälfte von ihnen forderte Todesopfer. Katastrophale Ausmaße nahmen z.B. die Zyklone von 1960 (14.000 Tote), 1965 (20.000 Tote), 1970 (500.000 Tote), 1991 (140.000 Tote) und 2007 (3.300 Tote) an. Seit 1991 ist die Frühwarnung und das Katastrophen-Management deutlich ausgereifter, sodass zu hoffen ist, dass in Zukunft die Zahl der Opfer nicht mehr so hoch sein wird wie in den 1960er Jahren (vgl. z.B. Schmuck 2003, Paul & Routray 2011). Für die Slums in Dhaka sind die indirekten Auswirkungen von Zyklonen spürbar, da etliche Migranten ihre Heimatdörfer verlassen mussten (vgl. Edris & Collins 2010). Erdbeben Bangladesch befindet sich auf tektonischen Verwerfungszonen, sodass auch Erdbeben in Bangladesch vorkommen. In den letzten 150 Jahren traten sieben schwere Erdbeben mit über 7,0 auf der Richter-Skala auf, von denen zwei (1885 und 1918) ihr Epizentrum in Bangladesch hatten (vgl. Ali & Choudhury 2001). Das ebenfalls starke Erdbeben von 1787 veränderte zusammen mit einer damals gleichzeitig auftretenden großen Überschwemmung dauerhaft den Flusslauf des Teestas und des Brahmaputras (vgl. Hofer & Messerli 2006: 67). Seit dieser Zeit wird der Brahmaputra in seinem veränderten Verlauf „Jamuna“ genannt. Ein Erdbeben mit dem Epizentrum in Bangladesch ab der Stärke 7,0 auf der Richter-Skala hätte wahrscheinlich katastrophale Auswirkungen auf die Städte des Landes. Die dichte, nich tregelgerechte, illegale Bauweise mit minderwertigen Materialien, das Auffüllen von Schwemmebenen mit Sand, wodurch bei Erdbeben eine Bodenverflüssigung droht (vgl. Rahman 2010), und die Existenz von zahlreichen schlecht verlegten Gasleitungen wird als potenzielle Todesfalle für zahlreiche Menschen gesehen (vgl. Paul & Bhuiyan 2010: 339). Ein beängstigendes Beispiel für die Gefahr, die von der Bauweise und Vibrationen ausgeht, ist der Einsturz des „Rana Plaza“, bei dem am 24. April 2013 über 1.100 Menschen starben und über 2.000 zum Teil schwer verletzt wurden. In dem neunstöckigen Gebäude produzierten vier Bekleidungsfabriken. Das Gebäude war mit minderwertigen Baumaterialien und vier Stockwerke zu hoch erbaut worden (vgl. Hobson 2013).

Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka

113

Hitze- und Kältewellen Hitze- und Kältewellen werden in der Literatur bis dato weniger mit Naturgefahren in Zusammenhang gebracht. Forschungen von Burkart et al. (2011) bringen aber beide mit einem deutlichen Anstieg der Sterberaten in Zusammenhang. Während Hitzeperioden sterben deutlich mehr Menschen aufgrund des Mangels an sauberem Trinkwasser. Während kalter Winter sterben aufgrund von Atemwegs- und Grippeerkrankungen jedoch noch deutlich mehr Personen. 4.5 ÜBERSCHWEMMUNGEN IN BANGLADESCH UND DHAKA Das heutige Bangladesch ist ohne Überschwemmungen nicht denkbar. Die regelmäßigen sowie großen Überschwemmungen formen das Land (über 100 m Sedimentablagerung in den letzten 20.000 Jahren) und prägen die Menschen (vgl. Hofer & Messerli 2006: 62). Der Begriff der Naturgefahr ist nur richtig für überdurchschnittlich „große“ Überschwemmungen (bengalisch: „bonna“). „Kleinere“ Überschwemmungen, bei denen bis zu 20 Prozent der Landesfläche überschwemmt werden (bengalisch: „barsha“), sind eher als „Naturgunst“ zu bezeichnen. Sie sind wichtig für die Landwirtschaft. Durch sie werden Schädlinge ausgerottet, die Grundwasserspeicher wieder aufgefüllt und die Bodenfruchtbarkeit erhöht (vgl. Brammer 2004: 87, Braun & Shoeb 2008: 385). Insofern ist ein Ausbleiben einer kleinen Überschwemmung meist direkt mit einer Dürre verbunden, die oft größere landwirtschaftliche Schäden anrichtet als viele Überschwemmungen. Ausgedehnten Überschwemmungen folgt meist im Winter eine „bumper harvest“– eine besonders ertragreiche Ernte (vgl. Ahmed & Khan 1994: 227, Islam 2006: 135). Daher sind auch größere Überschwemmungen für die Landwirtschaft insgesamt oft nicht besonders dramatisch. Eine Ausnahme bildet z.B. die Überschwemmung von 1974, die eine Hungersnot auslöste, bei der über eine Million Menschen starben (vgl. Mirza 2002: 136). Auf kurzfristige landwirtschaftliche Schäden gehen z.B. Ahmad & Ahmed (2003: 189) im Detail ein. Im 30-jährigen Mittel reduzieren große Überschwemmungen die Reiserträge nur um maximal vier Prozent (vgl. Islam 2005a: 175). Für die Bevölkerung von Bangladesch – insbesondere in den Städten – haben überdurchschnittliche Überschwemmungen jedoch durchaus katastrophale Auswirkungen (siehe Tab. 8). In Bangladesch gleicht keine Überschwemmung der anderen, da ihre Entstehung und Ausmaße variieren. Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Arten von Überschwemmungen (vgl. Brammer 2004, Braun & Shoeb 2008): •

Sturzfluten („flash floods“): Diese kurzzeitigen Ereignisse treten aufgrund von Starkniederschlägen in den Hügelregionen in Sylhet (im Nordosten Bangladeschs) und in den Chittagong Hill Tracts (im Südosten Bangladeschs) auf.

114 • •

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Regenwasserfluten: Langanhaltende, starke Regenfälle innerhalb Bangladeschs können lokale Überschwemmungen verursachen. In den Städten treten diese meist kurzzeitigen Überschwemmungen sehr oft auf („waterlogging“). Flussüberschwemmungen: Starke Niederschläge im Einzugsgebiet können die Abflusskapazitäten der Flüsse übersteigen, sodass diese über die Ufer treten. Großflächige und meist langanhaltende Überschwemmungen sind die Folge. 4.5.1 Ursachen für Überschwemmungen

Sehr detailliert gehen Hofer & Messerli (2006: 36) auf die Ursachen für Überschwemmungen ein. Von besonderer Relevanz ist das Zusammenspiel zwischen der Hoch- und Tiefebene: dem Himalaya sowie der indischen und der bangladeschischen Tiefebene. • •



Im Himalaya werden der Basisabfluss und die Sedimentlast der Flüsse vorgeprägt. Prozesse (Erosion, Landnutzung, Gletscher) im Oberlauf der Flüsse tragen zu Überschwemmungen in Bangladesch bei. In der indischen Tiefebene sind Erosions- und Landnutzungsprozesse ebenfalls bedeutsam, aber es kommen auch monsunale Prozesse und bauliche Maßnahmen hinzu. Insbesondere der Ganges wird durch Eindeichungen und Dämme, v.a. dem Farraka-Staudamm in West-Bengalen, Indien, in seinem Abfluss beeinträchtigt (Details siehe Wolf & Newton 2008). Monsunale Niederschläge sind nicht nur wegen ihres Wasserbeitrags relevant, sondern auch, weil sie zusätzlich Sedimente in die Flüsse spülen (vgl. Singh et al. 2007). In der bangladeschischen Tiefebene spielen neben den naturräumlichen Voraussetzungen besonders die Sättigung des Bodens (abhängig von der Bodenart und den Niederschlagssummen), lokale Gegebenheiten (Dämme, Entwässerungskanäle), der Stand des Meeresspiegels und der Niederschlag die entscheidende Rolle.

Großräumige, langanhaltende Überschwemmungen wie 1974, 1987, 1988, 1998, 2004 und 2007 entstehen dann, wenn mehrere der o.g. Ursachen zusammenkommen, insbesondere, wenn Flussüberschwemmungen mit Regenfluten zeitlich zusammenfallen. Bei der Analyse von acht Überschwemmungsereignissen, zwei Dürreereignissen und einem durchschnittlichen Jahr erlangten Hofer & Messerli (2006) folgende Erkenntnisse, welche Faktoren zu (großen) Überschwemmungen in Bangladesch führen: •

Starke monsunale Niederschläge in Bangladesch nach Anfang August führten oft zu großflächigen Überschwemmungen. Eine „LaNina“-Situation der ENSO-Zirkulation über dem Pazifik begünstigt die Ausbildung eines dauerhaften monsunalen Trogs (Tiefdruckrinne) über Ostindien und Bangladesch. Dadurch kommt es zu besonders hohen Niederschlagssummen in Bangladesch (wie z.B. 1998).

Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka





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Das Abflussverhalten der Flüsse Brahmaputra, Meghna und Ganges führt vor allem dann zu großflächigen Überschwemmungen, wenn die Spitzenabflüsse der drei Flüsse zeitlich zusammentreffen (z.B. 1988 und 1998). Grundsätzlich ist eine signifikante Korrelation zwischen dem Abflussverhalten des Brahmaputra und des Meghna festzustellen (z.B. 1987). Im Gegensatz dazu korreliert das Abflussverhalten des Ganges mit diesen kaum. Der Einfluss des Menschen scheint großräumige Überschwemmungen höchstens zu verschlimmern oder zu verlängern, aber nicht auszulösen. Die Abholzung im Himalaya wurde oft für die hohe Sedimentfracht und Überschwemmungen in Bangladesch verantwortlich gemacht (vgl. Hofer & Messerli 2003). Allerdings bestätigen weder zeitliche Korrelationen zwischen der Abholzung und dem Auftreten von Überschwemmungen, noch prozessuale Überlegungen diese Thesen.

Mit baulichen Maßnahmen hat der Mensch einen größeren Einfluss auf Überschwemmungen. Durch das Abpumpen von Hochwasser wird das Hochwasser dort verstärkt, wohin das Wasser gepumpt wird. 2004 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern der Altstadt Dhakas und den umliegenden Nachbarn in Syedabad. Die Altstadt wurde leergepumpt, weshalb das Hochwasser außerhalb anstieg (vgl. Rahman et al. 2005: 52). Deiche und Dämme tendieren dazu, durchschnittliche Überschwemmungen zu verhindern und große Überschwemmungen zu verstärken (vgl. Hofer & Messerli 2003: 30). In Bangladesch werden Deiche und Dämme schlecht gewartet und falsch genutzt, z.B. als Siedlungsfläche. Dadurch werden sie beschädigt und können während großer Überschwemmungen brechen. Für die Bewältigung von Überschwemmungen stellen Deiche dabei aus zwei Gründen eine besondere Problematik dar: Erstens täuschen sie eine falsche Sicherheit vor, weshalb die Bewohner nicht auf Überschwemmungen vorbereitet sind. Zweitens treten Überschwemmungen im Falle eines Deichbruches schneller auf, als die Bewohner das gewohnt sind. Dadurch greifen die tradierten Bewältigungsmaßnahmen nicht. Nachdem Deiche von großen Überschwemmungen überspült worden sind, hindern sie das Wasser daran, wieder abzufließen, wodurch die Überschwemmung deutlich länger anhält (vgl. Thompson & Sultana 2000). Durch die zentrale Lage und die Flussanrainerschaft ist Dhaka grundsätzlich von allen landesweiten Flussüberschwemmungen betroffen. Zusätzlich tritt in Dhaka bei so gut wie jedem stärkeren Niederschlag die zeitweise Überflutung lokaler Gebiete („waterlogging“) auf. Folgende Faktoren begünstigen das Zustandekommen von Überschwemmungen in Dhaka (vgl. auch Nishat et al. 2000: 12, Haque et al. 2012): •

Der hohe Versiegelungsgrad und die mangelhaften, oft verstopften Entwässerungskanäle begünstigen bei Niederschlägen das „waterlogging“ und verlangsamen den Abfluss des Hochwassers. Ein Großteil der Abflusskanäle („storm drains“) sind durch Abfall und Sedimente blockiert.

116 •



Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Der ungeplante Bau von Straßen und Häusern verändert und behindert den Abfluss von Hochwasser. So sind im Zuge des Wachstums von Dhaka bereits etliche Kanäle aufgrund von baulichen Maßnahmen und der Entsorgung von Abfällen gänzlich verschwunden (vgl. auch Dewan et al. 2004, Dewan & Yamaguchi 2008). Die Deiche, die den Westteil Dhakas schützen, verschlimmern die Hochwassersituation im Ostteil der Stadt. Im Westteil sorgen die Dämme teilweise für ausgeprägtes „waterlogging“, weil die Drainagen und Pumpen fehlerhaft sind oder falsch eingebaut wurden (vgl. Rasid & Mallik 1996). 4.5.2 Auswirkungen von Überschwemmungen auf Dhaka

Auch für Dhaka hatten die Überschwemmungen von 1987, 1988, 1998, 2004 und 2007 die bis dato gravierendsten Auswirkungen. Die Dhaka Metropolitan Area ist durch einen Deich in zwei Teile geteilt: Den Westteil mit ca. 160 km2 und den Ostteil mit ca. 140 km2 (vgl. Nishat et al. 2000: 5, Rahman et al. 2005: 37). In den genannten Jahren war jeweils der Ost-Teil gänzlich überflutet, 1998 sogar bis zu einer Höhe von 4,5 m. Ein Deichbau im Osten Dhakas, als Schutz vor dem Hochwasser des Balu, ist seit 1988 im Gespräch, aber noch nicht umgesetzt. Die Überschwemmung von 1998 war die schwerste Überschwemmung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (siehe Tab. 7 und Tab. 8). Die Überschwemmung von 2004 richtete in Dhaka im Vergleich zu ihren Ausmaßen einen unverhältnismäßig hohen wirtschaftlichen Schaden an. Während die Dauer und Flächenausdehnung deutlich unter den Ereignissen von 1988 und 1998 lag, entstanden an Gebäuden und der Infrastruktur die teuersten Schäden. Dewan & Yamaguchi (2009) führen dies auf die mangelhafte Planung und den Bau von Gebäuden in den Niederungsgebieten im östlichen Teil von Dhaka zurück. Große Überschwemmungen betreffen jeweils die gesamte Stadtbevölkerung, auch die wohlhabenden Schichten in Banani und Gulshan. Alle Bevölkerungsschichten leiden während großer Überschwemmungen unter den eingeschränkten Verkehrsmöglichkeiten, der oft fehlenden Müllentsorgung, der Verunreinigung durch ungeklärte Abwässer und den daraus resultierenden Krankheitsfällen (detaillierte Auswirkungen von Überschwemmungen auf Dhaka siehe auch Huq 1999, Rashid 2000, Islam 2006, Schwartz et al. 2006, Alam & Rabbani 2007). Todesfälle treten während Überschwemmungen meist aufgrund von akuten Durchfallerkrankungen, Schlangenbissen, Ertrinken und Unfällen mit Stromleitungen auf. Große Überschwemmungen in Dhaka sind auch aus volkswirtschaftlicher Sicht relevant. Durch den Stillstand der Produktion in vielen Fabriken, eingeschränkte Handelswege und Versorgungsleistungen sowie erhebliche Schäden an Häusern und Straßen entstehen große finanzielle Einbußen (siehe Tab. 8).

Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka

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4.5.2.1 Auswirkungen von Überschwemmungen auf die Slum-Bevölkerung in Dhaka Islam (2006: 146) untersucht das Verhältnis der Überschwemmungsschäden zu dem materiellen Eigentum eines Haushalts. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sozioökonomisch schwache Haushalte bis zu viermal stärker durch die Schäden betroffen sind als wohlhabende Haushalte. Auch die Studie von Brouwer et al. (2007) in 672 Haushalten in einem Vorort von Dhaka bestätigt dieses Ergebnis. Islam (2005a: 175) kommt weiter zu der Erkenntnis, dass arme Haushalte durch große Überschwemmungen fast ihr gesamtes Hab und Gut verlieren können. Dadurch verstärken Überschwemmungen die Armut mittelloser Haushalte (vgl. auch Disaster and Emergency Response 2004: 2, Islam 2006: 146). Die Auswirkungen von Überschwemmungen auf die arme Bevölkerung sind sehr komplex. Am gravierendsten aber sind die Folgen auf das Haushaltseinkommen (vgl. Rashid 2000: 248, Begum & Sen 2005: 23, Islam 2006). Als wesentliches Lösungsinstrument bieten sich Kleinkredite an, um finanziell handlungsfähig zu bleiben. Große Überschwemmungen führen somit oft zu einer Verschuldung der Haushalte und es drohen Rückkoppelungseffekte (vgl. Rashid 2000). Goudet et al. (2011) nennen Überschwemmungen daher auch als einen der Hauptgründe für die Unterernährung von Kindern und Säuglingen in den Slums von Dhaka. 4.5.2.2 Vulnerabilität der Slum-Bevölkerung in Dhaka für Überschwemmungen Die Ursachen dafür, dass schwere Überschwemmungen die Slum-Bevölkerung stark belasten, sind in der besonderen Exposition, der hohen Anfälligkeit und einer zunächst geringen Widerstandsfähigkeit zu sehen. Die Exposition der armen Bevölkerungsschicht während Überschwemmungen ist in vierfacher Weise besonders ausgeprägt. Erstens aufgrund der marginalen Lage der Slums (vgl. Dewan et al. 2006). Die CUS-Studie zu Slums in Dhaka weist nach, dass erstens mehr als die Hälfte der Slums jedes Jahr ganz oder teilweise überschwemmt werden (38,5 Prozent ganz, 22,4 Prozent teilweise und 39,1 Prozent nicht überschwemmt, vgl. Centre for Urban Studies et al. 2006). Khan et al. (2009) belegen, dass zwei Drittel der Bewohner in Slums bereits schwere Überschwemmungen an ihrem aktuellen Wohnort erlebt haben. Zweitens bieten die baulichen Strukturen ihnen fast keinen Schutz. Und deshalb werden drittens Wertsachen in den Hütten vom Wasser beschädigt und sind leichte Beute für Diebe (vgl. Rashid 2000: 244, Jabeen et al. 2010). Viertens können Frauen während Überschwemmungen die aus religiösen Gründen gebotene Geschlechtertrennung nicht an den Tag legen. Die wenigen intakten Toiletten müssen von beiden Geschlechtern genutzt werden, und die Körperpflege ist in den eigenen Räumlichkeiten meist nicht mehr möglich. Frauen und deren Familien sind dadurch zusätzlich zu den Belastungen aus hygienischen Problemen oft Opfer von übler Nachrede und Belästigungen (vgl. Rashid 2000).

118

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Tab. 7: Entstehung und Ausmaße der Überschwemmungen 1988, 1998, 2004 und 2007 in Dhaka. Überschwemmte Fläche (DMA)

Dauer

Entstehung

19884

Ostteil: 100% bis zu 4,5 m Westteil: 75% Dhaka (DMDP): 85%

35 Tage

Diese Überschwemmung wurde von überdurchschnittlichen Niederschlägen im August ausgelöst. Niederschläge führten besonders im Einzugsgebiet des Brahmaputra und Meghna zu den weitreichenden Überschwemmungen, wohingegen der Ganges nur durchschnittliche Wassermengen führte. Der Abfluss ins Meer wurde durch eine außergewöhnlich starke Springflut im Golf von Bengalen behindert. Dies verschlimmerte die Überschwemmung in Dhaka und Bangladesch.3

19984

Ostteil: 100% Westteil: 23% Dhaka: 56%

61 Tage

Ebenso wie im gesamten Bangladesch, führten die an Dhaka angrenzenden Flüsse hohe Basisabflüsse. Spitzenabflüsse der drei Flüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna fielen zeitlich zusammen. Zusätzlich lag der Niederschlag 43% (Juli) bzw. 67% (August) über dem Durchschnitt4. Während das Hochwasser im Ostteil vor allem von den über die Ufer getretenen Flüssen resultierte, wurde das Hochwasser im Westteil vorrangig vom Niederschlag und durch undichte Deiche ausgelöst. Zu den Ursachen kam noch menschliches Versagen hinzu. Die Regulierungsschützen (Schleusen) wurden zu spät betätigt. Die Koordination zwischen BWDB und DWASA versagte.1

20041

Ostteil: 90–100% Westteil: Kaum, aber „waterlogging“ Dhaka (DMDP): 50%

25 Tage

Anhaltend starke Niederschläge Mitte April verursachten zunächst „flash floods“ in Sylhet und ließen die Flüsse im Einzug des Meghna übertreten. Im Juli setzten dann starke Monsunniederschläge ein, die zu Überschwemmungen im Einzugsgebiet des Meghna und Brahmaputra (und damit Ost-Dhaka) führten. Als am 24. Juli auch der Ganges über die Ufer trat, wurden weite Teile Bangladeschs überschwemmt. Niederschläge von bis zu 341 mm in 24 Stunden (bei einem Durchschnitt von 264 mm pro Monat) im September führten in Dhaka zu einem gravierenden „waterlogging“, bei dem v.a. der Westteil bis zu 40% unter Wasser stand.5

Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka

Überschwemmte Fläche (DMA) 20072

Ostteil: 80–90% Westteil: Nicht überschwemmt. Dhaka (DMDP): 25–35%

119

Dauer

Entstehung

14 Tage

2007 traten zwei Überschwemmungen auf: Anfang August (wobei hier die Deiche Dhaka noch gut schützten) und Anfang September. Der Niederschlag über dem Einzugsgebiet des Meghna und Ganges war im Juli durchschnittlich 30% über dem langjährigen Mittel, wohingegen im August durchschnittlich 15% weniger Niederschlag zu verzeichnen war. Im September wurden zwar in Summe auch 5% weniger Niederschlag gemessen, aber in den ersten Tagen im September gingen Starkniederschläge über dem gesamten Land nieder, die erneut zu weitreichenden Überschwemmungen führten.

Quellen: 1Alam & Rabbani (2007), 2Bangladesh Water Development Board (2008), 3Hofer & Messerli (2006), 4Nishat et al. (2000), 5Rahman et al. (2005). Tab. 8: Auswirkungen der Überschwemmungen 1988, 1998, 2004 und 2007 auf Dhaka.

Betroffene Bevölkerung

Auswirkungen

19883

4,5 Mio. betroffen, davon 2,2 Mio. schwer betroffen, 150 Todesfälle

400.000 Häuser beschädigt, Schaden an Häusern und Infrastruktur: USD 2,2 Mio.2, 70.000 öffentliche Gebäude beschädigt4

19983

4,5 Mio. betroffen, davon 2,1 Mio. schwer betroffen Todesopfer nicht angegeben

Schaden an Häusern und Infrastruktur: USD 4,4 Mio.2, Industrie: USD 60 Mio. Schaden, Wasserleitungen, Abwasserkanäle, Strom- und Gasversorgung: USD 20 Mio. Schaden, 66% der Bevölkerung musste Trinkwasser auf alternativen Wegen besorgen5. 200.000 Menschen mussten in Krankenhäusern behandelt werden, 10.000 von ihnen wegen Durchfall. 33% der Slum-Hütten wurden stark beschädigt.

20041

2,5 bis 5 Mio. Menschen betroffen 20 Todesfälle

Schaden an Häusern und Infrastruktur: USD 5,6 Mio.2 680 Bekleidungsfabriken mussten zeitweilig schließen. 2 Mio. Menschen hatten akuten Mangel an Trinkwasser.

20076

n.a.

Für einen Monat kamen täglich rund 3.000 Migranten zusätzlich aus ländlichen Regionen nach Dhaka, da sie in ihren Dörfern keine Arbeit mehr fanden. Einen Monat lang wurden täglich 1.000 Patienten in das International Centre for Diarrheal Disease (ICDDRB) eingeliefert.

Quellen: 1Alam & Rabbani (2007), 2Dewan & Yamaguchi (2009), 3Huq & Alam (2003), 4Islam (2005c), 5Nishat (2000: 80), 6Reliefweb (2007a).

120

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Aufgrund der latenten Unterernährung und körperlichen Überbelastung sind viele Slum-Bewohner anfällig für Krankheiten (vgl. Alamgir et al. 2009, Burkart & Endlicher 2009). Wie dramatisch sich Krankheiten auf einen Haushalt auswirken können, zeigen Begum & Sen (2005): Eine schwerere Krankheit kostet einen Haushalt oft einen dreifachen Monatslohn oder die Ersparnisse von ca. zwei Jahren. Hackenbroch and Hossain (2012) arbeiten den Zusammenhang der Machtstrukturen und der Vulnerabilität heraus. Die informellen Strukturen in den Slums begünstigen lokalen Eliten und politischen Anhängern die Durchsetzung ihrer Interessen auf Kosten der Slum-Bevölkerung. Den Zusammenhang zwischen Macht und Vulnerabilität bzw. Resilienz betonen auch Cannon und Müller-Mahn (2010). Aufgrund der Verdrängung von Standorten sind die Lebensgrundlagen der SlumBevölkerung bedroht und die Handlungsoptionen eingeschränkt (vgl. Hackenbroch 2013). Die dritte Ursache für die deutlich höhere Vulnerabilität der armen Bevölkerung ist die im Vergleich zu wohlhabenderen Haushalten geringere konventionelle – v.a. finanzielle – Fähigkeit, mit Überschwemmungen umzugehen. 4.5.3 Umgang mit Überschwemmungen in den Slums von Dhaka In Bangladesch sind beim Umgang mit Überschwemmungen in Slums drei wesentliche Akteure zu nennen: die Regierung und die NGOs als „externe“ Akteure und die Haushalte selbst, die jeweils sowohl über strukturelle als auch nicht-strukturelle Maßnahmen verfügen. 4.5.3.1 „Externe“ Akteure: Regierung und NGOs Die strukturellen Maßnahmen umfassen bauliche Strukturen, die vor dem Hochwasser schützen sollen, bzw. dafür sorgen sollen, dass das Hochwasser schnell wieder abfließen kann. In erster Linie sind dies Pumpen, Deiche und Entwässerungskanäle, die in den Aufgabenbereich der Stadtverwaltung fallen (vgl. Islam 2005c: 36, Jabeen et al. 2010). Staatliche strukturelle Maßnahmen Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden landesweit etliche Deiche, Uferbefestigungen und Entwässerungskanäle errichtet, um die steigende Anzahl der Bewohner besser vor Hochwasser zu schützen (z.B. Huq & Alam 2003, Cook 2010). Diese Anstrengungen waren jedoch deutlich zu gering, und nach den Überschwemmungen von 1987 und 1988 führten das politische Engagement und das Vertrauen in die technischen Möglichkeiten zu den stark diskutierten Entwürfen des Flood Action Plans (FAP). Die bangladeschische Regierung wollte mit internationaler Hilfe Bangladesch durch bauliche Maßnahmen „hochwassersicher“ machen (vgl.

Überschwemmungen in Bangladesch und Dhaka

121

Brammer 2000). Heftige Gegenwehr von NGOs, Wissenschaftlern und Journalisten verhinderten jedoch die Implementierung der meisten Baupläne (siehe z.B. Islam & Kamal 1993, Haggart et al. 1994). Die Meinung, dass normale Überschwemmungen notwendig für das Land seien und Deiche genau diese – nicht aber „schlimme“ Hochwasser – verhindern würden, wurde auch damals schon geäußert (für eine ausführliche Liste der Argumente für und gegen den FAP siehe Brammer 2000, Thompson & Sultana 2000). In Dhaka wurden durch den FAP allerdings einige bauliche Maßnahmen gefördert oder teilweise fortgeführt. Für Dhaka als Großstadt sind die Auswirkungen von Hochwasser ausschließlich negativ. Deshalb ist es sinnvoll, Dhaka möglichst gut zu schützen. Der Westteil von Dhaka, in dem gegenwärtig die deutliche Mehrheit der Bevölkerung lebt, wurde durch den Westdeich und die erhöhte Airport Road geschützt, die Ufer der umgrenzenden Flüsse besser einbetoniert (auf 30 km), andere wichtige Verkehrsstraßen wurden erhöht (auf 37 km), zwölf Schleusentore gebaut und eine Pumpstation in Saidabad, im südlichen Teil der Altstadt, errichtet. Weiter wurde das Kanalsystem erweitert, verbessert und repariert (vgl. Huq & Alam 2003, Jabeen et al. 2010). Diese Maßnahmen haben bislang durchaus Erfolge gezeigt (vgl. Rahman et al. 2005: 44–51). Deiche und erhöhte Straßen stellen während Überschwemmungen einen Zufluchtsort für die Armen dar und bewahren dadurch etliche vor dem Ertrinken (vgl. Islam 2005c: 44). Nicht-strukturelle Maßnahmen Die Errichtung, Öffnung und Versorgung von Notunterkünften ist ein Bestandteil des staatlichen und nicht-staatlichen Katastrophen-Managements (vgl. Parvin & Shaw 2011). Während der Überschwemmung 1998 wurden 300.000 Menschen in 256 Notunterkünften aufgenommen (vgl. Islam 2005c: 46). Fast alle von ihnen gehörten den armen und ärmsten Schichten Dhakas an. Die Errichtung der Unterkünfte an sich muss zwar den strukturellen Maßnahmen zugeordnet werden, die Versorgung und Betreuung der Unterkünfte fällt dann jedoch unter die nicht-strukturellen Maßnahmen. Die Unterkünfte wurden von staatlicher und nicht-staatlicher Seite notdürftig mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten versorgt (vgl. Faisal et al. 1999, Islam 2005c: 56–59). Ebenso ist eine koordinierte Verteilung von Soforthilfe während Überschwemmungen in Dhaka gewährleistet (vgl. Islam 2005c: 35). Zudem konnte die Soforthilfe nach dem Zyklon Sidr 2007 oder dem Tornado im Nordwesten Bangladeschs 2005 die Not der Betroffenen lindern und in diesen Fällen eine verstärkte Zuwanderung in die Städte abmildern (vgl. Paul 2005). Die Soforthilfe durch den Staat und NGOs ist somit nicht zu vernachlässigen, aber ihr Beitrag ist während großräumigen Überschwemmungen bis dato zu gering (vgl. z.B. Disaster and Emergency Response 2004: 19, Parvin & Shaw 2011). Dies gilt insbesondere für Dhaka. Bangladesch ist als Land bekannt, in dem eine Vielzahl an NGOs arbeiten (vgl. Ahmad 2005). Banks et al. (2010) betonen jedoch, dass dies vorrangig für die ländlichen Regionen zutrifft. In den Städten Bangladeschs sind NGOs unterrepräsentiert.

122

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

4.5.3.2 Slum-Bewohner als Akteure Die folgende Analyse der Bewältigungsmaßnahmen von Überschwemmungen durch Slum-Haushalte in Dhaka basiert auf den Primärstudien, wie sie in Tab. 9 zusammengefasst sind. Es werden auch ausgewählte Primärstudien zu Bewältigungsmaßnahmen hinsichtlich Überschwemmungen in ganz Bangladesch berücksichtigt, um auch den prägenden ländlichen Hintergrund der Slum-Haushalte miteinzubeziehen. Ebenso werden Studien zu Bewältigungsmaßnahmen anderer Krisen in den Slums von Dhaka aufgenommen. Diese geben wertvolle Einsichten in das Handeln der Slum-Bewohner und ergänzende Auskunft, inwieweit diese Krisen überstehen können. Der grundsätzliche Umgang mit Überschwemmungen ist den Bangladeschern geläufig und lässt sich mit dem Stufen-Modell von Burton (1993) und Corbett (1988: 1107) beschreiben (vgl. Tab. 2). In Stufe 1 wird der Schaden von dem Haushalt schlicht absorbiert. In den Haushalten in Slums von Dhaka ist das vorrangig während „waterlogging“ der Fall. In Anbetracht der jährlichen Wiederkehr kleinerer oder größerer Überschwemmungen sind die Bauten den Umständen angepasst und werden erhöht gebaut (vgl. Jabeen et al. 2010). Wenn das Wasser schon deutlich in den Wohnräumen und in den Siedlungen steigt, werden Maßnahmen der Stufe 2 nötig. Diese beinhalten vorrangig strukturelle Maßnahmen, die in Slums aber kaum zum Tragen kommen, da das Geld für die Investition in physisches Kapital fehlt. Kleine Vorkehrungen werden dennoch getroffen: Die Türschwelle wird hochgezogen und persönliche Gegenstände werden in der Hütte erhöht gelagert (vgl. Islam 2005c: 30, Jabeen et al. 2010). Maßnahmen der Stufe 3 beinhalten dann aktive Maßnahmen, um den Überschwemmungen entgegenzuwirken. Dies wird notwendig, wenn das Wasser weiter steigt und mehrere Tage oder Wochen nicht abfließt. Diese Überschwemmungen werden dann als „groß“ oder „schwer“ bezeichnet. Die strukturellen Maßnahmen sind nicht mehr ausreichend und die Haushalte müssen zusätzliche Maßnahmen in ihr Reaktionsportfolio aufnehmen. Nicht-strukturelle Maßnahmen der Slum-Bewohner Um trotz des mangelnden Einkommens Nahrungsmittel und u.U. Medikamente erhalten zu können, werden erstens alternative Einkommensmöglichkeiten gesucht (vgl. Islam 2005c: 34). Zweitens werden die „Versicherungen“ aktiviert, zu denen Corbett (1988: 1107) auch Ersparnisse und Netzwerkkontakte zählt. Formale Versicherungen nach westlichem Modell sind für Slum-Bewohner in Dhaka in der Regel nicht zugänglich (vgl. Mozumder et al. 2008: 204, Akter et al. 2011). Aber geringe Ersparnisse oder Wertsachen, die im Ernstfall verkauft werden können, stellen durchaus eine Art Versicherung dar. Ebenso kann das Sozialkapital, welches im Sinne von Bourdieu akkumuliert wurde, als eine Versicherung gesehen werden. Die Studie von Mozumder et al. (2008) geht auf die Bedeutung dieses „informal insurance mechanism“ für die Bewältigung der Überschwemmung von 1998 ein (vgl. auch Islam 2005c: 35). Jabeen et al. (2010) heben den sozialen Zusammenhalt in

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

123

Karail während der Überschwemmungen hervor. Es hätten sich Gruppen gefunden, die die Entwässerungskanäle gereinigt und besonders betroffenen Familien geholfen hätten, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Dieser soziale Zusammenhalt sei aus der gemeinsamen Herkunft aus einem Dorf und den daraus resultierenden häufig gemeinsamen Aktivitäten entstanden. Die Aufnahme von Krediten ist die dritte übliche und wichtige Möglichkeit, das fehlende Einkommen zu kompensieren (vgl. z.B. Del Ninno et al. 2001: 82–85, Khandker 2007, Jabeen et al. 2010). Die Stufe 4 wird dann erreicht, wenn Maßnahmen ergriffen werden müssen, die langfristigere Folgen haben. Ein typisches Beispiel ist die Migration in Städte („distress migration“, Corbett 1988: 1107). Die einzelnen Maßnahmen lassen sich natürlich nicht streng den Stufen nach Burton (1993) zuordnen, sondern laufen teilweise gleichzeitig oder in anderer Reihenfolge ab. Entscheidend ist, dass die Haushalte über vielfältige strukturelle und nicht-strukturelle Maßnahmen verfügen und auch teilweise durch staatliches Handeln und durch NGOs unterstützt werden. Trotz der Armut und der mangelnden Ressourcen können Slum-Bewohner folglich Überschwemmungen bewältigen. Es ist aber auch einleuchtend, dass wohlhabendere Haushalte sich durch höhere Ersparnisse und deutlich stabilere bauliche Strukturen besser vor Überschwemmungen schützen können (vgl. Islam 2005c: 31). Parvin & Shaw (2011) weisen in diesem Zusammenhang nach, dass die SlumBevölkerung von Dhaka eine deutlich geringere Resilienz aufweist als wohlhabendere Bevölkerungsgruppen. 4.6 AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS AUF BANGLADESCH “We will not dare to make any comment on climate change. But from our experience of hydrometeorological phenomenon extreme events‘ variability and uneven distribution increased and makes forecasters life hell” (Bangladesh Water Development Board 2010: 8).

Mit dieser Aussage deuten die Autoren des Annual Flood Reports 2009 die Schwierigkeiten bei der Vorhersage der Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch an. Wertvolle Hinweise zu Tendenzen und Größenordnungen von möglichen Auswirkungen auf Überschwemmungen lassen sich aus der Analyse vergangener Änderungen ableiten.

124

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Tab. 9: Liste der verwendeten Primär- und Sekundärstudien zu Bewältigungsmaßnahmen in Dhaka und Bangladesch.

Studien zu Bewältigungsmaßnahmen der Haushalte in Slums von Dhaka gegenüber Überschwemmungen

Studien zu Bewältigungsmaßnahmen der Haushalte in Bangladesch gegenüber Überschwemmungen

Studie

Zielgruppe, Erhebungsgebiet

Islam (2005c)

30 Haushalte in Dhaka, davon 10 Slum-Haushalte

Jabeen et al. (2010)

30 Slum-Haushalte aus Karail, Dhaka

Nishat et al. (2000)

Verschiedene kleinere quantitative Erhebungen sowie Analyse der Tageszeitungen

Rashid (2000)

32 Personen in Dhakas Slums

Ahmed & Khan (1994)

Interviews mit Haushalten in einem Dorf nord-westlich von Dhaka (Tangail)

Ali (2007)

453 Haushalte aus 10 Dörfern in Südwest-Bangladesch

Brouwer et al. (2007) 672 Personen aus 32 Dörfern in Südwest-Bangladesch (70 km von Dhaka entfernt)

Studien zu Bewältigungsmaßnahmen allgemeiner Krisen

Del Ninno et al. (2001, 2003)

757 Haushalte aus 126 Dörfern in Zentralbangladesch1

Khandker (2007)

2.600 Haushalte aus 104 Dörfern in Bangladesch

Mozumder et al. (2008)

757 Haushalte aus 126 Dörfern in Zentralbangladesch1

Paul & Routray (2010)

94 Haushalte aus 2 Dörfern in Südund Zentralbangladesch

Rasid (2000)

1.481 Haushalte aus 66 Dörfern in Nord- und Zentralbangladesch

Rayhan & Grote (2007)

595 Haushalte aus verschiedenen Dörfern in Bangladesch

Schmuck-Widmann (1996)

Dorf auf einer Schwemmlandinsel (Char) nordöstlich von Dhaka im Jamuna

Shoeb (2002)

1.000 Haushalte in 15 ländlichen Bezirken (Unions)

Paul & Routray (2011)

331 Haushalte aus 3 ländlichen Dörfern

Pryer (2003)

850 Haushalte aus 25 Slum-Clustern in Dhaka

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

Sekundärliteratur

125

Studie

Zielgruppe, Erhebungsgebiet

Ahmad & Ahmed (2003)

Übersicht über strukturelle und nicht-strukturelle Maßnahmen gegen Überschwemmungen in Bangladesch

Alam & Rabbani (2007)

Dhaka – Auswirkungen von Überschwemmungen und des Klimawandels. Übersicht der Bewältigungsmaßnahmen

Beck (2005)

Detaillierte Analyse der Überschwemmungen von 1998 und 2004

Biswas (2005)

Auswirkungen von Naturereignissen auf die arme Bevölkerung: Teil einer Studie mit 294 qualitativen Interviews in 16 Dörfern in ganz Bangladesch zu den Lebensgrundlagen der ländlichen Bevölkerung

Disaster and Analyse der bangladeschweiten Emergency Response Auswirkungen und Bewältigung der (2004) Überschwemmung von 2004

1Im

Faisal et al. (1999)

Übersicht über die nichtstrukturellen Maßnahmen in Dhaka

Huq & Alam (2003)

Überblick über die strukturellen Maßnahmen gegen Überschwemmungen in Dhaka

Rahmen des International Food Policy Research Institute’s Food Management and Research Support Project

126

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

4.6.1 Zeitliche Veränderungen von Überschwemmungen in Bangladesch Die Datenlage über vergangene Überschwemmungen lässt Aussagen über Bangladesch im Allgemeinen, nicht aber für Dhaka im Besonderen zu. Hofer & Messerli (2006) betonen vier wesentliche Erkenntnisse: Erstens: Kleinere und vor allem auch große Überschwemmungen sind im Laufe der vergangenen 20.000 Jahre immer wieder aufgetreten. Anders lassen sich die immensen Sedimentablagerungen in Bangladesch nicht erklären (über 100 m innerhalb der letzten 20.000 Jahre). Zweitens: Aus Reise- und Situationsberichten der britischen Kolonialzeit geht hervor, dass auch im 18. und 19. Jahrhundert erhebliche Überschwemmungen auftraten. Insbesondere während der Jahre von 1770 bis 1790 und 1860 bis 1890 kam es zu etlichen nennenswerten Überschwemmungen. Als Ursache für diese Häufung werden Fluktuationen der Monsuntätigkeit genannt. Das Ereignis von 1787 war in seinen Ausmaßen noch deutlich gravierender als die Überschwemmungen von 1988 und 1998. Drittens: Eine Häufung von Überschwemmungen ist auch im Zeitraum von 1890 bis 2004 zu beobachten. Bei den zwölf für diesen Zeitraum berichteten Überschwemmungen traten von 1892 bis 1922 und von 1974 bis 2004 Häufungen auf. Von 1923 bis 1973 gab es hingegen nur eine größere Überschwemmung. Schwere Überschwemmungen scheinen in Wellen von höherer und niedrigerer Frequenz aufzutreten (vgl. Hofer & Messerli 2006: 73). Viertens: Seit 1954 liegen gesicherte quantitative Daten über die überschwemmte Fläche vor (siehe Abb. 6). Die Trendanalyse (Trendlinie mit y = 0,0003x + 0,1787) deutet eine geringe Steigung an, die jedoch nicht signifikant ist. Weder die Frequenz, noch die Ausmaße der Überschwemmungen änderten sich signifikant. Aber eine Zunahme der Variabilität ist deutlich zu erkennen. Es treten immer häufiger Jahre mit unterdurchschnittlichen Überschwemmungen auf, auf die im nächsten Jahr umso größere Überschwemmungen folgen. Als zentrale Ursache für diese zunehmende Variabilität sehen Hofer & Messerli (2006) das Niederschlagsverhalten. Es ist von 1900 bis 2000 eine deutliche Zunahme der Niederschlagssummen in den Monsunmonaten festzustellen (vgl. auch Islam & Neelim 2010: 67). Auch der Monsunniederschlag zeigt eine deutliche zwischenjährliche Variabilität. Jahre mit hoher Niederschlagsintensität sind dabei meist auch Jahre mit überdurchschnittlichen Überschwemmungen. Regionale Aktivitäten, wie der Bau von Staudämmen, Eindeichungen, das Aufschütten von Retentionsflächen und Abholzungen im Himalaya, werden zwar mit einer Veränderung des Überschwemmungsverhaltens in Zusammenhang gebracht, liefern aber kaum schlüssige Erklärungen, weil sie vor allem die Variabilität nicht erklären können. Die Zunahme des Monsunniederschlags und die Variabilität des Niederschlags lässt sich auf die Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur zurückführen (vgl. Palmer & Räisänen 2002).

Abb. 6: Anteil der überschwemmten Landesfläche in Bangladesch in den Jahren 1954 bis 2010. Quellen: Hofer & Messerli (2006), Braun & Shoeb (2008), Bangladesh Water Development Board (2007, 2008, 2009, 2010, 2011).

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

127

128

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Tab. 10: Literatur zu Auswirkungen des Klimawandels auf Südasien, Bangladesch und Dhaka.

Quelle

Datenbezug

Aussagen über

Ergebnisse

Änderungen der Temperaturen und Niederschläge und Folgen davon (Überschwemmungen, Dürren, Zyklone, Ernteausfälle)

Anstieg der Temperaturen in Bangladesch: Mittlerer Anstieg um 3,3°C bis 2100 Rückgang der Niederschläge im Winter (Dez.–Feb.) und Zunahme der Niederschläge in den übrigen Monaten, Zunahme der Variabilität/Extremereignisse

Großregion Südasien Cruz et al. (2007), Christensen et al. (2007), IPCC (2012)

IPCC (2007)

Bangladesch Ali 1999

Daten über Zyklone Auswirkungen des der letzten 119 Jahre Klimawandels auf Zyklone, Küstenerosion und „back water effect“ auf Überschwemmungen

Erhöhte Intensität der Zyklone Rückschreiten der Küste um 5–11 km2 bei einem Meeresspiegelanstieg von 0,3–0,8 m Deutlicher Rückgang der Flussgradienten

Climate Change PRECIS (Daten von Cell (2009a–c) BWDB)

Ausmaße und Auswirkungen des Klimawandels

Ähnlich zu Cruz et al. 2007 und Christensen et al. 2007

Mirza (2002)

Modellläufe (CSIRO9, LLNL, HadCM2, GFDL)

Wahrscheinlichkeiten für 20-jährige Überschwemmung, Ernteschäden durch 20-jährige Überschwemmung

Tendenziell eine Zunahme der Überschwemmungen, diese hängt aber stark vom Modell und von der Lokalität ab. Beim Meghna und Brahmaputra stärkereVeränderungen des Wasserstandes als beim Ganges

Mirza et al. (2003)

Modellläufe (CSIRO9, LLNL, HadCM2, GFDL)

Änderungen der Niederschlagssummen und Spitzenabflüsse Änderungen der räumlichen Ausdehnung und Tiefe von Überschwemmungen

Die Modelle (GCMs) variieren deutlich und für die verschiedenen Flussläufe, zeigen aber alle einen deutlichen Anstieg an.

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

129

Quelle

Datenbezug

Aussagen über

Ergebnisse

Walsham (2010)

Literaturanalyse

Migration infolge von Klimawandel

Anstieg der dauerhaften Migration in größere Städte, vor allem nach Dhaka

World Wildlife Fund (2009)

Verschiedene Literatur

Vulnerabilität von Küstenstädten gegenüber Klimawandel

Dhaka ist die vulnerabelste Stadt weltweit. Die Verwundbarkeit basiert auf einer sehr hohen Exposition, einer hohen Anfälligkeit und einer geringen Anpassungsfähigkeit.

Nicholls et al. (2007a)

Schätzungen

Auswirkungen des Klimawandels auf Küstenstädte – Fokus auf Dhaka

Die Anzahl der von einer Sturmwelle bedrohten Personen verzwölffacht sich in Dhaka bis 2070. Dhaka ist damit die anfälligste Stadt für die Auswirkungen des Klimawandels.

Großraum Dhaka

4.6.2 Prognosen zu zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels Für Dhaka können (noch) keine konkreten Angaben über die Auswirkungen des Klimawandels gemacht werden. Ein Grund dafür ist die räumliche Auflösung der Klimamodelle. Mithilfe regionaler Niederschlags- und Temperaturdaten können zwar regionale Klimamodelle berechnet werden (z.B. Providing Regional Climates for Impact Studies, PRECIS). Deren Auflösung von 50x50 km ist für Dhaka aber immer noch grob (vgl. Climate Change Cell 2009b: 2). Simmer et al. forschen an Klimamodellen für die Megastadt Dhaka und die Auswirkungen des Klimawandels auf Überschwemmungen in Dhaka (siehe z.B. Maraun et al. 2010). Aus Aussagen über Bangladesch im Allgemeinen lassen sich Rückschlüsse auf direkte und indirekte Auswirkungen auf Dhaka ableiten. Die wesentliche Literatur hierzu ist in Tab. 10 zusammengefasst. Anstieg der Temperaturen und der Niederschlagssummen Der Klimawandel zeigt sich in Veränderungen der Durchschnittstemperaturen und des Niederschlags. Seit 1940 sind zunehmende Durchschnittstemperaturen in Bangladesch zu verzeichnen. Dem IPCC zufolge stieg die Durchschnittstemperatur im Mai von 1985 bis 1998 um 1°C und die im November um 0,5°C (vgl. Christen-

130

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

sen et al. 2007, Cruz et al. 2007). Anderen Berechnungen zufolge sind die Durchschnittstemperaturen im Winter (Dezember bis Februar) stärker angestiegen als im Sommer (April bis Juni) (vgl. Islam & Neelim 2010: 66). Die Studien des Weltklimarats deuten an, dass dieser Trend der steigenden Durchschnittstemperaturen bis mindestens 2100 anhalten wird. Die globale Durchschnittstemperatur wird sehr wahrscheinlich um mindestens 0,2°C in den kommenden beiden Jahrzehnten und bis 2100 um 2–4°C ansteigen (vgl. IPCC 2007c: 12). Diese Zunahme wird für die Region Südasiens noch etwas höher sein (vgl. Cruz et al. 2007: 480). Die Analysen der Climate Change Cell (2009b: iii) geben bei der Änderung der Maximaltemperaturen in Bangladesch für 2030 einen stark variierenden Bereich zwischen 1,2°C und 4,7°C an. Der Anstieg der Minimaltemperaturen liegt für den Zeitraum bis 2030 zwischen 0,3°C und 2,4°C. Beim Niederschlagsverhalten wird sich den Klimamodellen zufolge der bereits beobachtete Trend fortsetzen, dass die durchschnittliche Gesamtsumme des Monsunniederschlags weiter steigt. Die Ursache hierfür wird in den höheren Temperaturen und einem zunehmenden Temperaturgradienten zwischen Festland und Meer gesehen. Durch die höheren Temperaturen verdunstet mehr Wasser. Durch den erhöhten Temperaturunterschied zwischen Land und Meer werden die feuchten Luftmassen stärker und weiter nördlich auf den indischen Subkontinent getrieben. Die Folgen sind stärkere und länger andauernde Monsunniederschläge (vgl. Hofer & Messerli 2006: 91, Christensen et al. 2007: 879). Die stärkeren Extremniederschläge werden dadurch begründet, dass aufgrund der höheren Temperaturen die Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann und die Aufwärtsbewegungen der Luftmassen dynamischer erfolgen (vgl. Christensen et al. 2007: 884, Allan & Soden 2008). Für die Region Südasien wird bis 2100 eine Zunahme der Monsunniederschläge von 15 bis 26 Prozent vorausgesagt (vgl. Cruz et al. 2007). Für die Monate Dezember bis Mai hingegen wird für die Region Südasien eine Abnahme der Niederschlagssummen prognostiziert. Auch für Bangladesch sagen die PRECIS-Modelle eine Zunahme der Monsunniederschlagssummen voraus. Für die Winter- und Sommermonate zeigen die PRECIS-Modelle hingegen keine signifikanten Änderungen (vgl. Climate Change Cell 2009b). Zunehmende Variabilität Sowohl bei den Temperaturen, als auch bei den Niederschlägen sind die zukünftigen Zunahmen mit Durchschnittswerten angegeben. Für extreme Naturereignisse wird jedoch vor allem die Abweichung von Durchschnittswerten – und somit die Variabilität der Temperaturen und des Niederschlags – eine entscheidende Größe sein. Diese Variabilität wird dem PRECIS-Modell zufolge ebenfalls in ganz Bangladesch zunehmen (vgl. Climate Change Cell 2009b: iii). Die Variabilität wird sich wahrscheinlich sowohl in kurzfristigen Schwankungen (tageweise), als auch über mehrere Monate hinweg äußern. So können z.B. der Sommer besonders heiß und die anschließende Monsunzeit besonders niederschlagsreich ausfallen. Eine Folge

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

131

von kurzfristigen Schwankungen können vor allem Starkniederschläge und Stürme sein. Längerfristige Schwankungen hingegen begünstigen starke Überschwemmungen und Dürren (vgl. z.B. van Aalst 2006, Christensen et al. 2007, Cruz et al. 2007), auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll. 4.6.3 Direkte Auswirkungen des Klimawandels für die Bevölkerung in Bangladesch Die direkten Auswirkungen des Klimawandels werden sich in Bangladesch vorrangig in Überschwemmungen, Dürren, Stürmen (Zyklonen) und im Meeresspiegelanstieg äußern. Überschwemmungen In den Jahren mit deutlich stärkeren Niederschlägen sind die Spitzenabflüsse der Flüsse deutlich höher (vgl. Mirza et al. 2003: 301). Überschwemmungen werden daher wahrscheinlicher. Die Climate Change Cell (2009a) hat berechnet, dass eine Niederschlagszunahme von 13 Prozent über dem GBM-Einzugsgebiet die überschwemmte Fläche in Bangladesch um 12 bis 16 Prozent vergrößern und die Dauer der Überschwemmung um bis zu sechs Tage verlängern kann (vgl. Climate Change Cell 2009a: 52). Alam et al. (1999) kommen zu dem Ergebnis, dass bis 2030 wahrscheinlich 14 Prozent der Landesfläche Bangladeschs zusätzlich von Überschwemmungen bedroht sind (nach Weltbank 2000: 26). Die konkreten Zahlen sind auch hier sicherlich mit Vorsicht zu betrachten, da sie von dem zeitlichen Verhalten des Niederschlags abhängen. Eine konkrete Vorhersage über starke Überschwemmungen ist aus mehreren Gründen besonders schwierig: Starke Überschwemmungen sind per Definition Ereignisse, die vereinzelt auftreten. Solche Ereignisse sind mit statistischen Modellen so gut wie nicht erfassbar (vgl. IPCC 2012). Außerdem ist das Niederschlagsverhalten für das Zustandekommen von Überschwemmungen von großer Bedeutung.Aber gerade das Niederschlagsverhalten ist nur mit großen Unsicherheiten modellierbar (vgl. Walsham 2010: 20, Hawkins & Sutton 2011). Dennoch deuten eine Reihe von Autoren (z.B. Mirza et al. 2003: 291, van Aalst 2006: 9, Cruz et al. 2007: 472 u. 484) erstens eine grundsätzliche Zunahme der Höhe, Dauer und räumlichen Ausdehnung von Überschwemmungen aufgrund des Klimawandels an. Die erhöhten Niederschlagssummen begünstigen höhere und länger anhaltende Überschwemmungen. Da zweitens Monsunzeiten mit deutlich überdurchschnittlichen Niederschlagssummen häufiger werden könnten, könnte auch die Häufigkeit der starken Überschwemmungen ansteigen (vgl. Ahmad & Ahmed 2003: 187, Rahman et al. 2007: 56, Walsham 2010: 10).

132

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Das Auftreten von Überschwemmungen wird auch durch die wahrscheinliche Zunahme von (kurzfristigen) Starkniederschlägen, das zunehmende Abschmelzen der Gletscher im Himalaya und den Anstieg des Meeresspiegels begünstigt. Durch das höhere Niveau des Meeres nimmt der Flussgradient ab und die Flüsse weisen langsamere Fließgeschwindigkeiten auf (vgl. „back water effect“, z.B. Ali 1999: 114). Dadurch kommt es flussaufwärts auch zu stärkeren Sedimentablagerungen (vgl. Weltbank 2000: 21). Dürren Die Klimaszenarien sagen neben Überschwemmungen auch eine Zunahme von Dürren für Bangladesch voraus. Die erhöhten Durchschnittstemperaturen sorgen für stärkere Verdunstung und somit vor allem in der Landwirtschaft für einen erhöhten Bedarf an Bewässerung. Insbesondere die Zunahme der Maximaltemperaturen verursacht wahrscheinlich eine Zunahme an Hitzewellen (vgl. van Aalst 2006: 9). Die Niederschlagsvariabilität kann auch zu niederschlagsarmen Monsunzeiten führen. Christensen et al. (2007: 884) prognostizieren bis 2050 in Südasien einen Rückgang der Anzahl der Regentage um 15 Tage pro Jahr. Da mehr Starkniederschläge erwartet werden, steht dies nicht im Widerspruch zu der Prognose einer Zunahme der Niederschlagssummen. Dürren stellen für die Landwirtschaft ein erhebliches Problem dar, da sie großflächig auftreten und auch für die folgenden Ernten meist nachteilige Auswirkungen mit sich bringen. Schädlinge können sich während Dürren meist gut vermehren und der Grundwasserspiegel sinkt für längere Zeit. Anstieg des Meeresspiegels Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche wird weiter durch den Anstieg des Meeresspiegels und einer damit einhergehenden Intrusion von Salzwasser zunehmend vermindert. Bei der Berechnung des Meeresspiegelanstiegs in Bangladesch ist drei Prozessen Rechnung zu tragen (vgl. Agrawala et al. 2003: 15): • • •

die Akkumulation der Sedimente in den Mündungsbereichen der Flüsse, die zu einer Erhöhung der Küsten führen Absinken des Meeresniveaus, da sich die indische Platte unter die eurasische Platte schiebt Der eigentliche Anstieg der Meeresoberfläche: Dieser resultiert aus der thermischen Expansion der Wassermassen, dem Beitrag durch das Abschmelzen der Gletscher und Eiskappen und zu einem geringen Anteil aus den sich verändernden Meeresströmungen (vgl. Kelletat 1999).

Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch

133

Es wird geschätzt, dass die Akkumulation der Sedimente und die Absinkvorgänge sich die Waage halten und die Ausdehnung des Wassers aufgrund des Klimawandels den Anstieg bestimmt (vgl. Agrawala et al. 2003). Dieser wird derzeit zwischen 1 und 3 mm/Jahr angegeben (vgl. Cruz et al. 2007: 479). Es wird geschätzt, dass der Meeresspiegel bis 2100 um 40 cm ansteigt (vgl. Cruz et al. 2007: 484). Agrawala et al. (2003: 15) beziffern diesen Anstieg zwischen 9 und 88 cm. Wheeler (2011) schätzt die Anzahl der Betroffenen im Jahr 2008 auf 13,2 Millionen und im Jahr 2050 auf 27 Millionen Menschen. Zyklone Die erhöhten Temperaturen des Golfs von Bengalen, die höheren Temperaturgradienten zwischen der Landfläche und dem Ozean sowie die Intrusion des Meeres in das Landesinnere begünstigen wahrscheinlich höhere Intensitäten von Zyklonen über dem Golf von Bengalen (vgl. Ali 1999). Cruz et al. (2007) halten eine 10- bis 20-prozentige Erhöhung der Intensität von Zyklonen im südasiatischen Raum bei einem Anstieg um 2–4°C für wahrscheinlich. Agrawala et al. (2003: 15) beziffern dabei einen Anstieg der Intensität für den Golf von Bengalen zwischen fünf und zehn Prozent. Über eine Häufung oder eine Änderung der Zugbahnen von Zyklonen ist noch keine Prognose möglich (vgl. IPCC 2012). Die von starken Stürmen oder Zyklonen verursachten Küstenüberschwemmungen können auch um Dhaka zu einem Anstieg der Flusspegel führen (vgl. Hanson et al. 2011). Hohe Niederschlagsmengen, die Zyklonen meist begleiten, führen wahrscheinlich zunehmend zu „waterlogging“ in Dhaka. 4.6.4 Indirekte Auswirkungen des Klimawandels auf Dhaka Migration Die genannten Auswirkungen auf Bangladesch könnten zunehmend armen Haushalten die Lebensgrundlage entziehen. Dadurch wächst der Strom der Arbeitsmigranten in die Städte (vgl. Asian Development Bank 2012: 33). Schätzungen über die Zahl dieser zukünftigen Migranten sind nur schwer möglich. Global variieren die Schätzungen bis 2050 zwischen 25 Millionen und einer Milliarde Menschen. Konkrete Zahlen über zukünftige umweltbedingte Migration in Bangladesch sind nicht bekannt (vgl. Walsham 2010: 6, Asian Development Bank 2012). Sehr wahrscheinlich ist, dass die temporäre Migration in die nächstgelegene Stadt oder nach Dhaka eine Bewältigungsstrategie für rasch einsetzende Krisen wie Dürren, Überschwemmungen, Stürme oder Zyklone darstellt. Dauerhafte Krisen, wie die Degeneration der landwirtschaftlichen Nutzfläche werden hingegen tendenziell mit dauerhafter Migration beantwortet (vgl. Biswas 2005, Walsham 2010: ix). Der Klimawandel könnte durch die Zunahme der Häufigkeit von kurzfristigen Extremereignissen und die daraus resultierende dauerhafte Verschlechterung der

134

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Lebensgrundlage dazu führen, dass aus temporärer Migration zunehmend dauerhafte Migration wird. Dauerhafte Migration findet fast immer in größere Städte und vor allem nach Dhaka statt (vgl. Walsham 2010: xii, Asian Development Bank 2012). Gesundheit Die Trinkwasserqualität in den Slums wird durch die zunehmenden Temperaturen, das Bevölkerungswachstum und die zunehmend überforderte Infrastruktur abnehmen (vgl. United Nations 2008b: 152). Gegenwärtig wird weniger als ein Prozent des nationalen Wasserbedarfs in Slum-Haushalten verbraucht (vgl. Weltbank 2000: 34). Obwohl die Bevölkerung in den kommenden Dekaden stark zunimmt, wird sich dieser Anteil Schätzungen zufolge nicht vergrößern, da der Bedarf für die Bewässerung und für die Kühlung industrieller Geräte durch die zunehmenden Temperaturen stark anwachsen wird. Einer Nachfrage von 700 Mm3/Jahr steht ein Dargebot von 300 Mm3/Jahr gegenüber (vgl. Weltbank 2000: 34). Schon jetzt sinkt der Grundwasserspiegel um ein bis drei Meter pro Jahr (vgl. Sarkar & Ali 2009). Da viele Slums nicht an die Wasserversorgung der DWASA angeschlossen sind, sind ihre Bewohner auf die von NGOs errichteten Pumpbrunnen angewiesen. Ein weiteres Absinken des Grundwasserspiegels stellt deshalb eine ernste Gefahr für die Wasserversorgung der Slums dar. Höhere Temperaturen begünstigen auch die Übertragung von Krankheiten. Die Erreger von Durchfallerkrankungen wie Cholera und Salmonellen können sich bei wärmeren Temperaturen besser vermehren. 4.7 HYPOTHESEN UND KONKRETE FRAGESTELLUNGEN Aus dem Stand der Forschung zur Situation der Slum-Bewohner und deren Bewältigung von Naturereignissen sowie zu den Auswirkungen des Klimawandels ergeben sich für die vorliegende Arbeit fünf zentrale Hypothesen. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass obwohl Haushalte in Slums über vermeintlich wenig Lebensgrundlagen verfügen, sie in der Lage sind, extreme Naturereignisse zu bewältigen und sich davon zu erholen. Die erste Hypothese lautet daher: 1. Verschiedene strukturelle und nicht-strukturelle Bewältigungsmaßnahmen ermöglichen es Haushalten in Slums von Dhaka, extreme Naturereignisse zu bewältigen. Die zweite Hypothese fokussiert auf die entscheidenden Akteure bei der Bewältigung. Die Befunde bisheriger Studien (Cannon 2000, Chatterjee 2010, Ramachandraiah 2011, Coles et al. 2012), dass die Haushalte in Slums größtenteils auf sich selbst angewiesen sind, führt zur zweiten Hypothese:

Hypothesen und konkrete Fragestellungen

135

2. Haushalte in Slums sind auf eigene Bewältigungsmaßnahmen angewiesen, da die Hilfe von außen (Staat, NGOs) nicht ausreicht. Kap. 3.7 und die Ausführungen zum Sozialkapital legen nahe, dass gerade arme Haushalte durch Sozialkapital und die Flexibilität informeller Strukturen handlungsfähig bleiben. Sozialkapital zeigt einen selbstverstärkenden Effekt und vielfältige positive Wirkungen. Gleichzeitig haben gerade arme Haushalte einen guten „Zugang“ zu Sozialkapital und sind zwangsläufig in informelle Strukturen eingebunden. Anhand der dritten Hypothese soll überprüft werden, inwiefern Sozialkapital und informelle Strukturen es den Haushalten ermöglichen, Überschwemmungen erfolgreich zu bewältigen. 3. Die informellen Strukturen und vor allem das Sozialkapital ermöglichen es den Haushalten, während Überschwemmungen handlungsfähig zu bleiben. Kap. 2.4.2 deutet an, dass die direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels die Lebensgrundlagen der Haushalte in Slums maßgeblich betreffen werden. Für Rückschlüsse auf die Auswirkungen des Klimawandels sind diese Zusammenhänge zentral und werden deshalb in der vierten Hypothese thematisiert. 4. Die Auswirkungen des Klimawandels verringern die Ressourcen und die Handlungsfähigkeit der Haushalte in Slums. Aus den Erkenntnissen zur Bewältigung von Überschwemmungen sollen Rückschlüsse auf die Fähigkeit gezogen werden, sich an den Klimawandel anzupassen (vgl. Adger 2003a: 30). Insbesondere werden dabei die Anforderungen an eine robuste Anpassung (Flexibilität und „das Unerwartete erwarten“) berücksichtigt. Die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Slum-Haushalte sollen es ermöglichen, Rückschlüsse auf zukünftige Entwicklungen zu gewähren. Unter der Annahme, dass die Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte schwinden, thematisiert Hypothese 5 die Chancen, dass sich Haushalte langfristig an den Klimawandel anpassen können. 5. Haushalte sind in der Lage, Krisen kurzfristig zu bewältigen. Sie sind aber zunehmend nicht in der Lage, sich langfristig zukünftigen Naturereignissen anzupassen. Die Bestätigung oder Falsifizierung der Hypothesen 1–3 und Überlegungen zu den Hypothesen 4–5 lassen dann vorsichtige Rückschlüsse auf die Entwicklungsperspektiven der Haushalte in Slums zu. Aus den fünf Hypothesen ergeben sich folgende konkrete Forschungsfragen (siehe Tab. 11):

136

Einführung in das Fallbeispiel: Slums in Dhaka

Tab. 11: Leitfragen und konkrete Forschungsfragen, die den Rahmen für diese Arbeit bilden.

Leitfragen

Konkrete Forschungsfragen

1. Wie wirken sich Naturereignisse auf Haushalte in Slums aus?

1.1 Welche Faktoren machen Haushalte in Slums vor allem anfällig für Naturereignisse (Vulnerabilität)? 1.2 Wie wirken sich Naturereignisse kurz- und langfristig auf die Haushalte aus?

2. Wie sind die entscheidenden Bewältigungsmaßnahmen strukturiert? Wodurch sind sie wirkungsvoll?

2.1 Welches sind resiliente Strukturen der Haushalte in Slums? 2.2 Inwiefern sind informelle Strukturen für die Bewältigung von Naturereignissen von Bedeutung? 2.3 Welche Formen des Sozialkapitals spielen welche Rolle für die Bewältigung von Naturereignissen? 2.4 Wie ist Sozialkapital in den Slums verankert und wodurch kann es wirksam sein, obwohl alle ähnlich stark von dem Naturereignis betroffen sind? 2.5 Führt die Aufnahme von Krediten zu einer langfristigen Verschuldung? 2.6 Ist der Umgang der Haushalte in Slums mit Naturereignissen eine kurzfristige Bewältigung, eine (langfristige) Anpassung oder sogar eine robuste Anpassung?

3. Wie wirkt sich der Klimawandel auf die gegenwärtigen Bewältigungsmaßnahmen und die Anpassungsfähigkeit aus?

3.1 Wie wirken sich die Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte aus? 3.2 Wie wirken sich die Auswirkungen des Klimawandels auf die informellen Strukturen und das Sozialkapital aus? 3.3 Sind die Slum-Haushalte in der Lage, sich langfristig an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen?

5 METHODIK – ERHEBUNG UND AUSWERTUNG DER DATEN Dhaka eignet sich als Untersuchungsgebiet für die Untersuchung zu dem Nexus von Informalität, Entwicklung und Klimawandel insofern gut, weil sowohl die informellen Prozesse, als auch die Auswirkungen des Klimawandels in Dhaka deutlich zutage treten. Für die empirische Forschung wurde sowohl auf quantitative als auch qualitative Methoden zurückgegriffen. Nach Lamnek (1995: 250) ermöglicht die Triangulation, also die Verwendung mehrerer Methoden, ein umfassenderes Bild des Forschungsgegenstandes bzw. eine gegenseitige Ergänzung (Kelle 2007: 261). Erstens können die Schwächen einer Methode durch die Stärken anderer Methoden ausgeglichen werden. Zweitens ermöglichen mehrere Methoden unterschiedliche Perspektiven auf die Thematik. Dies trifft der „mixed methods“-Schule zufolge bei der Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden besonders zu (vgl. Bryman 1988, Kelle 2007: 47). Im vorliegenden Fall erlaubt der quantitative Zugang Aussagen über eine deutlich höhere Anzahl von Slum-Bewohnern, auch wenn Repräsentativität im strengen statistischen Sinne nicht erreicht wird. Aufgrund der Heterogenität innerhalb der Slums stellt dies einen erheblichen Vorteil dar. Unsichere Zusammenhänge bezüglich der zukünftigen Entwicklungen und der Auswirkungen des Klimawandels können durch die individuellen Zugänge der qualitativen Interviews stärker beleuchtet werden. Es liegen bereits eine Reihe von qualitativen Forschungen zu dem Umgang mit Überschwemmungen in Bangladesch sowohl im ländlichen, als auch im städtischen Umfeld vor. Die Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen erlaubten einen Einblick in die Bewältigung von Überschwemmungen aus der Perspektive der armen Stadtbevölkerung. Zusätzlich konnte der Autor auf einem viermonatigen Forschungsaufenthalt über den Beitrag von NGOs im ländlichen Bangladesch zum KatastrophenManagement aufbauen (Details in Aßheuer 2007). Diese Vorkenntnisse erlaubten in einem ersten Schritt eine standardisierte, quantitative Befragung durchzuführen (siehe Kap. 5.2). Die Befragung hatte zwei Ziele: ein möglichst valides Gesamtbild der jetzigen Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte Dhakas zu liefern und einen Einblick in die Bedeutung der jeweiligen Bewältigungsmaßnahmen während Überschwemmungen zu ermöglichen. Im zweiten Schritt wurden Haushalte und Gruppen interviewt. In den Interviews wurden einerseits Erkenntnisse aus der Erhebung angesprochen und überprüft, andererseits wurden Fragen zum Klimawandel thematisiert (siehe Kap. 5.3). Die Befragung wurde auf fünf Untersuchungsgebiete konzentriert, wobei die standardisierte Befragung und die qualitativen Interviews in denselben Untersuchungsgebieten durchgeführt wurden. Die Untersuchungsgebiete sind in Kap. 5.1 beschrieben.

138

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

Abb. 7: Lage der fünf Untersuchungsgebiete in Dhaka. Quelle: Übersetzt nach Braun & Aßheuer (2011).

Auswahl der Untersuchungsgebiete

139

Eine erste explorative Begehung zahlreicher Slums in Dhaka erfolgte im April 2009. Dabei wurden auch erste nicht-strukturierte Interviews durchgeführt, um potentielle Untersuchungsgebiete zu finden und ein grobes Raster für den Fragebogen zu erarbeiten. Weitere begleitende Forschungstätigkeiten werden in Kap. 5.4 angeführt. 5.1 AUSWAHL DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE Die Erkenntnisse aus der explorativen Begehung wurden in Workshops zusammen mit lokalen Experten (bangladeschische Wissenschaftler sowie NGO- und UNDPVertreter) diskutiert. Dies führte zur endgültigen Auswahl der Untersuchungsgebiete Dakshingaon, Goda Tek, Hazaribag 1 und 2, Khilket und Maghbazar. Die räumliche Lage dieser Gebiete ist in Abb. 7 dargestellt. Die Auswahlkriterien für die Untersuchungsgebiete waren: 1. Räumliche Verteilung der Untersuchungsgebiete untereinander, um mit der Erhebung einen möglichst großen Teil Dhakas abzudecken. 2. Berücksichtigung verschiedener Typen von Slums im Hinblick auf Beschäftigung, Eigentumsverhältnisse, Bebauung, Alter und potentielle Überschwemmungsgefahr. Deshalb wurden Untersuchungsgebiete aus dem Ost- und aus dem Westteil der Agglomeration ausgewählt. Aufgrund der Nähe zu unterschiedlichen Produktionsstandorten (Bekleidungsfabriken, Gerbereien, Einzelgewerbe) üben die Befragten in den Untersuchungsgebieten unterschiedliche Berufe aus. Für eine effiziente Durchführung der Erhebung wurde darauf geachtet, dass in den Slums eine ausreichende Anzahl an Haushalten lebte, die bereits eine Überschwemmung vor Ort erlebt hatte. Die wesentlichen Charakteristika der Untersuchungsgebiete sind in Tab. 12 zusammengestellt. Die fünf Untersuchungsgebiete sind relativ gleichmäßig über das Stadtgebiet (DMA) verteilt. Khilket und Dakshingaon befinden sich im vor Überschwemmungen ungeschützten Ostteil der Stadt. Hazaribag 2 und Goda Tek liegen im Westen Dhakas und sind ebenso wie Maghbazar durch Deiche geschützt. Hazaribag 1 befindet sich im Überschwemmungsbereich des Flusses Buriganga auf einer 2006 aufgeschütteten Sandfläche. Maghbazar ist das einzige Untersuchungsgebiet, das sich auf öffentlichem Land befindet. Die anderen vier Gebiete gehören Privatpersonen bzw. Investorenfirmen. Die Slums in Khilket befinden sich in der Nähe einer größeren Bekleidungsfabrik; Hazaribag 2 ist direkt neben den Gerbereien der Stadt angesiedelt. Insgesamt wurden zum Zeitpunkt der Erhebung ca. 2.000 Haushalte in den fünf Untersuchungsgebieten unterhalten.

140

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

5.2 DURCHFÜHRUNG DER QUANTITATIVEN ERHEBUNG 5.2.1 Datenerhebung Für die quantitative Befragung wurde ein standardisierter Fragebogen ausgearbeitet. Die Konstruktion des Fragebogens stellt die „livelihood assets“ in den Mittelpunkt, die zu den folgenden Hauptthemen abgefragt wurden. • • •

gegenwärtige sozioökonomische Situation des Haushalts Auswirkungen der letzten großen Überschwemmung auf den Haushalt Bewältigungsmaßnahmen des Haushalts während und nach der letzten großen Überschwemmung

Von den „livelihood assets“ wurden das Finanzkapital, Humankapital, physische Kapital und Sozialkapital abgefragt. Das natürliche Kapital spielt in den Untersuchungsgebieten aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte keine signifikante Rolle. Für Fragen nach dem Sozialkapital diente das „Social Capital Assessment Tool“ der Weltbank (2011) als Richtlinie. Die genaue Formulierung der Fragen in der Übersetzung in Bengalisch wurde mit bangladeschischen Kollegen der Universität Rajshahi ab gesprochen, um den lokalen und muslimischen Kontext ausreichend zu berücksichtigen. Die Fragen beziehen sich meist auf den Haushalt als eigentliche Untersuchungseinheit, nur in Ausnahmefällen auf die jeweils befragte Person. Nach Möglichkeit wurden intervall- oder ordinalskalierte Variablen geschaffen, um eine vielfältige und auch multivariate statistische Auswertung zu ermöglichen (vgl. Bühl 2008: 116). Der Fragebogen wurde in einem Pretest eine Woche vor der eigentlichen Erhebung mit einem Übersetzer in elf Haushalten getestet und daraufhin an einigen Stellen noch einmal verändert. Die eigentliche Befragung erfolgte dann durch sieben bangladeschische Studierende im November und Dezember 2009. Wenn möglich wurde der Haushaltsvorstand direkt befragt. Falls dieser nicht anwesend war, wurde eine andere, mindestens 15 Jahre alte Person aus dem Haushalt befragt. Teilweise waren mehrere Haushaltsmitglieder anwesend, die die den Haushalt betreffenden Fragen gemeinsam beantworteten. Die personenbezogenen Antworten wurden jedoch immer von dem anfangs ausgewählten Gesprächspartner beantwortet. Aufgrund der persönlichen Befragung konnte die Dauer der Befragung verhältnismäßig hoch angesetzt werden. Im Durchschnitt dauerte ein Interview 34 Minuten, 77 Prozent der Interviews dauerten zwischen 25 und 40 Minuten. Die Komplexität der Fragestellungen und die Vielfalt der zu behandelnden Themenblöcke machte diese relativ lange Interviewdauer notwendig. Vonseiten der Befragten wurden keine Interviews abgebrochen. Insgesamt wurden in den fünf Untersuchungsgebieten 625 von 2.000 Haushalten befragt. Die Haushalte, die nicht befragt wurden, waren entweder während des Erhebungszeitraums nicht anwesend oder wohnten noch nicht so lange in dem Slum, um dort eine große Überschwemmung erlebt zu haben. Insofern stellt die Erhebung beinahe eine Vollerhebung derjenigen Haushalte dar, die eine große

Heterogen

Keine

Dominierendes Beschäftigungsangebot

Schutzbauten

106

350

Unternehmen (Privat)

Süd-westliche Randzone von DCC, jenseits des Deiches

Hazaribag 1

Quelle: Eigene Erhebung 2009/2010.

Deich

Keine – Hütten sind auf Stelzen erbaut.

Heterogen, Gerbereien, keine einzelne TätigkeiFabrik in ten aber heterogen der Nähe

135

121

Befragte Haushalte im Nov./Dez. 2009

Privatpersonen 350

Privatpersonen

Eigentümer der Fläche

Westliche Randzone von DCC

Goda Tek

Anzahl der Haushalte 250 insgesamt (Schätzung im Nov. 2009)

Außerhalb von DCC, östliche Randzone von DMA

Lage

Dakshingaon

Khilket

Deich

Gerbereien, einzelne Tätigkeiten aber heterogen

90

550

Privatpersonen

Keine

Bekleidungsfabriken

100

300

Privatpersonen

Süd-westliche Nord-östliche Randzone von Randzone von DCC, innerhalb DCC der Deichschutzzone

Hazaribag 2

Deiche

Arbeitsplätze im Stadtzentrum

73

200

DCC

Zentral in DCC

Maghbazar

Durchführung der quantitativen Erhebung

141

Tab. 12: Gegenüberstellung der fünf Untersuchungsgebiete.

142

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

Überschwemmung in den fünf Untersuchungsgebieten erlebt haben. Im Rahmen dieser Erhebung wurde genau dann von einer großen Überschwemmung ausgegangen, wenn das Ereignis so gravierend war, dass der Haushalt Bewältigungsmaßnahmen anwenden musste. Definitionsgemäß waren dies Überschwemmungen, bei denen das Hochwasser mindestens einen halben Meter im Haus des Haushalts und/oder mindestens eine Woche lang vor dem Haus stand. Die Zahl der Slum-Bewohner in Dhaka, die bereits eine große Überschwemmung an ihrem jetzigen Wohnort erlebt haben, kann nur geschätzt werden. Geht man von einer Gesamtpopulation von knapp einer Million Slum-Haushalte im Jahr 2009 aus und schätzt mit Khan et al. (2009), dass zwei Drittel davon eine schwere Überschwemmung erlebt haben, so ergibt sich die Grundzahl von ungefähr 650.000 Haushalten. Wird diese Zahl als Grundgesamtheit angenommen, ergibt sich daraus bei einer angenommenen Antwortverteilung von 50 Prozent ein Konfidenzintervall von 3,9 Prozent (Berechnung durch Creative Research Systems 2012). 5.2.2 Datenauswertung Die Datenauswertung erfolgte mittels der Software SPSS. Für ein Verständnis der gegenwärtigen sozioökonomischen Situation der Haushalte und der wesentlichen Bewältigungsmaßnahmen während Überschwemmungen kamen zunächst univariate Analysen der deskriptiven Statistik zur Anwendung (vgl. Bühl 2008: 123). Die weiteren Analyseverfahren konzentrierten sich auf strukturprüfende Verfahren, um Zusammenhänge zwischen zwei Variablen zu testen (vgl. Backhaus et al. 2011: 14). Das akzeptable Signifikanzniveau wird in dieser Arbeit mit p=0,05 festgesetzt. Konkret wurden folgende statistische Verfahren durchgeführt: •

• •

Korrelationsmaße: Diese erlauben eine Berechnung der Stärke des Zusammenhangs. Für ordinale Variablen wurde der Spearman‘sche Korrelationskoeffizient und für intervallskalierte Variablen der Pearson’sche Korrelationskoeffizient verwendet. Mittelwertvergleiche: Hierbei werden die Mittelwerte zweier intervallskalierter Stichproben verglichen. Der T-Test gibt Auskunft über die Signifikanz der Unterschiede. Häufigkeitsverteilungen: Kreuztabellen ermöglichen den Vergleich von nominal- und ordinalskalierten Variablen. Der Chi-Quadrat-Test nach Pearson überprüft mittels der Berechnung der standardisierten Residuen, ob die beobachteten Häufigkeiten signifikant von den erwarteten Häufigkeiten abweichen. Bei der Auswertung von Chi-Quadrat-Tests ist insofern Vorsicht geboten, als dass ihre Signifikanz keine Aussagen über die Stärke des Zusammenhangs erlaubt. Bei ordinalskalierten Variablen ist zu beachten, dass der Chi-Quadrat-Test bei Abweichungen in beliebige Richtungen signifikant werden kann. Für die Interpretation des Zusammenhangs zwischen den Variablen müssen deshalb die standardisierten Residuen berücksichtigt werden.

Durchführung der quantitativen Erhebung

143

Die Berechnung des T-Tests verlangt als Voraussetzung normalverteilte Variablen. Die vorliegenden Variablen waren laut Normalverteilungstests (KolmogorovSmirnov und Shapiro-Wilks) meistens nicht normalverteilt. Allerdings ergaben optische Überprüfungen mit Q-Q-Diagrammen, dass die Abweichung der Variablen von der Normalverteilung nicht gravierend war. Ebenso waren die Fallzahlen in allen Fällen deutlich über 30 und nach dem „Gesetz der großen Zahlen“ darf dann eine Normalverteilung angenommen werden. Außerdem sind T- und Chi-QuadratTests gegen die Verletzung dieser Voraussetzung robust (vgl. Bortz & Schuster 2010). Aus diesen Gründen wurden die Signifikanzuntersuchungen durchgeführt und interpretiert. Für die Untersuchung der Wirkung mehrerer unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable wurde in einem Fall eine binäre logistische Regression berechnet (siehe Kap. 7.4). Diese Form der Regressionsanalyse erlaubt als unabhängige Variablen sowohl kategorial, als auch metrisch skalierte Variablen. Werden verschiedene Skalenniveaus gleichzeitig verwendet, so werden die unabhängigen Variablen „Faktoren“ genannt. Die abhängige Variable muss genau zwei Ausprägungen aufweisen, die sich gegenseitig ausschließen. Die binäre logistische Regression berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fall (in dieser Arbeit: ein Haushalt) die zweite Ausprägung der abhängigen Variable annimmt, wenn die Faktoren sich verändern (vgl. Backhaus et al. 2011: 251). Die Wahrscheinlichkeit kann durch die logistische Gleichung angegeben werden: p = 1/(1+Exp(-z)), mit Exp(-z) als alternative Schreibweise für e-z mit e: Euler‘sche Zahl (2,71828...) und der Regressionsgleichung z = Konstante + B1V1 + B2V2 + .... + BnVn mit den Regressionskoeffizienten Bi (i=1...n) und den Faktoren Vi (vgl. Bühl 2008: 376). Das Regressionsmodell berechnet die Regressionskoeffizienten Bi. Ein positives Bi führt zu einem Anstieg von z, was wiederum die Wahrscheinlichkeit p ansteigen lässt. Der Effekt-Koeffizient Exp(Bi) ist ein Maß für die Stärke der Wirkung des Faktors auf die abhängige Variable. Ein Wert von eins (wenn also Bi = 0) zeigt an, dass kein Einfluss besteht, ein Wert größer (kleiner) als eins zeigt einen positiven (negativen) Zusammenhang an (vgl. Fromm 2005: 8). In einem weiteren Fall wurde das struktur-entdeckende Verfahren der Clusteranalyse eingesetzt (siehe S. 181). Dabei war es das Ziel, verschiedene Fälle (Haushalte) zu Gruppen (Clustern) zusammenzufassen, die sich hinsichtlich der Ausprägung mehrerer Variablen möglichst ähnlich darstellen (vgl. Backhaus et al. 2011: 14). Zur Anwendung kam die Clusterzentrenanalyse, weil diese die Verwendung von ordinalen Daten sowie die Vorgabe der Clusteranzahl erlaubt und sich mit ihr Datenmengen von über 200 Fällen gut bewältigen lassen. Die Distanz wird als einfacher euklidischer Abstand abgebildet. Da die Clusterzentrenanalyse möglicherweise nicht invariant bezüglich der Fallreihenfolge ist, wurde die Stabilität der Lösung durch mehrmaliges Abrufen von Lösungen sichergestellt (vgl. Backhaus et al. 2011).

144

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

5.3 DURCHFÜHRUNG DER QUALITATIVEN INTERVIEWS 5.3.1 Datenerhebung Die „verbalen Daten“ (Flick 2005: 117) wurden durch offene, halbstrukturierte Interviews und Gruppeninterviews in den fünf Untersuchungsgebieten im August und September 2010 gewonnen. Aus zwei Gründen wurde dabei den Gruppeninterviews – wo möglich – der Vorzug gegeben: Erstens wird davon ausgegangen, dass sich die Teilnehmer in Gruppeninterviews aufgrund der vertrauteren Gesprächssituation wohler fühlen (vgl. z.B. Chorherr 1994: 69, Reuber & Pfaffenbach 2005: 145–146). Die Befragten fühlen sich durch die Gruppe geschützt und inspirieren sich gegenseitig zu Beiträgen. Im Kontext von Bangladesch schienen Meinungsäußerungen vor allem von Frauen in Gruppen wahrscheinlicher. Zweitens standen weniger die individuellen Ansichten der Teilnehmer im Forschungsinteresse, sondern das kollektive Handeln der Haushalte und der Slum-Cluster. Insbesondere bei Fragen zum Sozialkapital geht es um die Gemeinschaft und durch die Gruppensituation ist diese präsenter als in einem Einzelgespräch (vgl. auch Liebig & Nentwig-Gesemann 2002: 145). Dennoch wurden die qualitativen Interviews durch Einzelinterviews ergänzt, da diese praktisch leichter durchführbar waren (Erläuterungen siehe Kapitel 5.4). Ein Interview mit einer Hausangestellten, die in dem Slum Karail lebt, wurde in den Datensatz aufgenommen. Das Gespräch kam durch Zufall nach einem Expertengespräch in einer NGO zustande. Die Hausangestellte engagiert sich ehrenamtlich in der NGO und berichtete über die Probleme der Slum-Haushalte und deren Bewältigungsmaßnahmen während der Überschwemmung 2004 derart reflektiert, dass ihre Aussagen eine gute Ergänzung darstellen. Sowohl für die Gruppeninterviews, als auch für die Einzelinterviews wurden weitgehend offene, halbstrukturierte Interviewformen, die sich an Leitfäden orientierten, gewählt. Der Leitfaden war für Gruppen- und Einzelinterviews identisch. Die zu erwartenden Ergebnisse der Gruppen- und Einzelinterviews waren zwar unterschiedlich, aber die zu behandelnden Themenblöcke sollten dieselben sein. Ohnehin musste während der Interviews flexibel auf die Bereitschaft und das Wissen der Befragten reagiert werden. Dementsprechend konnten die Themenblöcke nicht immer gleich vertiefend behandelt werden. Die einzelnen Themenblöcke waren: • • • •

Vorteile der Slums: Möglichkeiten der Haushalte in den Slums Nachteile der Slums: Schwierigkeiten der Haushalte in den Slums Probleme der Haushalte in Slums mit extremen Naturereignissen Bewältigung von großen Überschwemmungsereignissen Zukunftsaspekte Bewältigung von zukünftigen Extremereignissen Ansichten über die Zukunft der Kinder

Durchführung der qualitativen Interviews

145

Für den Themenblock über extreme Naturereignisse in Slums wurden sog. Grundreize (vgl. Mayring 2002) durch das Austeilen von laminierten Fotos gesetzt. Abbildungen von Verwüstungen durch Zyklone, Überschwemmungen, „waterlogging“ und anstehenden Frauen bei der Wasserverteilung wurden während der Gruppeninterviews ausgeteilt. Die Frauen sollten die damit verbundenen Probleme beschreiben und die Bilder nach der Relevanz für ihren Slum reihen. Sinn dieser Grundreize war die Auflockerung der Interviewsituation. Der Themenblock der Zukunftsaspekte wurde v.a. mit Fragen über die Zukunft der Kinder erarbeitet. Es wurde von Anfang an davon ausgegangen, dass die Slum-Bevölkerung zum größten Teil keinen intellektuellen Zugang bzw. Bezug zu dem Thema „Klimawandel“ hat. Insofern wurden keine direkten Fragen zum Klimawandel gestellt. Vielmehr wurde versucht, diese Thematik durch Fragen nach den Zukunftsaussichten der SlumBevölkerung abzubilden. Das Forscherteam für die qualitativen Interviews bestand in der zweiten Feldphase aus dem Autor und zwei bangladeschischen Soziologen (eine Frau und ein Mann). Während der Gruppeninterviews fungierte der Autor als Beobachter und stellte bei Bedarf Zusatzfragen. Einer der Soziologen leitete die Gruppeninterviews auf Bengalisch und der andere protokollierte und dolmetschte bei Bedarf für den Autor. An den Gruppeninterviews nahmen jeweils fünf bis sechs Slum-Bewohnerinnen oder Slum-Bewohner teil. Pro Untersuchungsgebiet wurden jeweils eine Frauengruppe und eine Männergruppe interviewt. Nur in Maghbazar war eine Gruppenbefragung aufgrund von Widerständen nicht möglich (siehe Kapitel 5.4). Insgesamt wurden acht Gruppeninterviews mit insgesamt 42 Personen durchgeführt. Die Einzelinterviews wurden als problemzentrierte Interviews nach Witzel (1985) geführt. Insgesamt erfolgten 17 Einzelinterviews (acht Männer und neun Frauen), die teilweise von dem Autor selbst und teilweise von den beiden Soziologen durchgeführt wurden. 5.3.2 Datenauswertung Die Gruppen- und Einzelinterviews wurden mit einem digitalen Diktiergerät aufgezeichnet, später transkribiert und von einem Übersetzer ins Englische übersetzt. Diese englischen Texte waren die Basis für die weitere Bearbeitung der Interviews. Für den Autor ist dieses bengalische Englisch vertraut und für die Interpretation am günstigsten. Eine nochmalige Übersetzung ins Deutsche hätte eine zusätzliche Verfremdung mit sich geführt. Charakteristische Formulierungen wurden möglichst originalgetreu wiedergegeben und bei Bedarf mit dem Original verglichen. Für die vorliegende Arbeit werden insofern bewusst die englischen Übersetzungen der Interviews verwendet, wenn sie auch an manchen Stellen für ein besseres Verständnis sprachlich geglättet wurden. Die so gewonnenen Texte wurden durch Feldaufzeichnungen (Protokolle während der Gruppeninterviews und Gedächtnisprotokolle nach den Einzelinterviews) ergänzt und mithilfe der Software MaxQDA kodiert. Da die axialen Codes (vgl. Flick 2005: 265) bereits durch den Interviewleitfaden vorgegeben waren, konnte

146

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

der sonst übliche Schritt des offenen Kodierens (vgl. Flick 2005: 259) übersprungen werden. Entsprechend der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) wurde durch das Kodieren die große Textmenge aggregiert und somit die typischen und umspannenden Textpassagen für die Interpretation verfügbar gemacht. 5.4 BEGLEITENDE FORSCHUNGSTÄTIGKEITEN Die Perspektiven der Slum-Haushalte wurden durch die beschriebenen Methoden erhoben. Um zusätzlich eine externe Perspektive auf das Forschungsthema zu erhalten, wurden Vertreter von RAJUK und der Dhaka Planning Commission sowie von acht NGOs, die in Slums in Dhaka arbeiten, interviewt. Diese Experteninterviews wurden ebenfalls als problemzentrierte Interviews nach Witzel durchgeführt (zur methodologischen Einordnung siehe Liebold & Trinczek 2002: 33). Im Forschungsverlauf stellte sich heraus, dass die interviewten Personen bezüglich ihres Arbeitsbereichs aufschlussreiche Aussagen treffen konnten, darüber hinaus aber nur wenige zusätzliche Erkenntnisse für die Forschungsfragen beisteuern konnten. Der allgemeine Leitfaden wurde deshalb durch spezifische Leitfäden für die jeweils interviewte Organisation ersetzt (siehe „Prozesshaftigkeit“ bei Liebold & Trinczek 2002: 40). Die Interviews wurden nicht einheitlich ausgewertet, sondern nur thematisch relevante Passagen berücksichtigt (vgl. Gläser & Laudel 2006: 198). Für die Interpretation der Ergebnisse sind auch die Beobachtungen während der insgesamt vier Monate dauernden Feldbegehungen des Autors relevant. Allerdings kam es während der Feldphasen zu keiner großen Überschwemmung, sodass auch keine unmittelbaren Bewältigungsmaßnahmen vor Ort beobachtet werden konnten. Die Feldbegehung im August/September 2010 erfolgte zwar während der Monsunzeit, aber das Überschwemmungsniveau war in diesem Jahr unterdurchschnittlich. Dennoch brachten der Aufenthalt in den Slums und der Kontakt mit den Menschen zusätzliche Informationen über den Lebensalltag und die sozialen Prozesse. 5.5 ANMERKUNGEN ZU DEM FORSCHUNGSUMFELD Bangladesch an sich und besonders die Slums in Dhaka stellen ein sehr fremdes Umfeld für einen deutschen Forscher dar. Für den Autor war es von Vorteil, dass er bereits vor den Feldphasen eineinhalb Jahre in Bangladesch gelebt und geforscht hatte. Die Besonderheiten des bangladeschischen Umfelds wurden durch die Unterstützung von einheimischen Experten und Studenten in den Forschungsablauf einbezogen. Das Forschungsteam bestand immer aus Frauen und Männern, um muslimisch-religiöse Normen bei den Befragungen einhalten zu können. Die Wahl der Forschungsmethoden erlaubte verschiedene Perspektiven auf den Forschungsgegenstand.

Grenzen des Forschungsdesigns und des Datenmaterials

147

Grundsätzlich sind die Forschungsumstände in den Slums von Dhaka günstig, weil die Bangladescher ausländischen Personen per se offen und interessiert begegnen. Gerne werden Gespräche angefangen und „Freundschaften“ geschlossen. Im Verlauf der Forschungstätigkeit in den Slums ergaben sich aber dennoch Probleme: Erstens war es oft schwierig, einen geeigneten Platz für Gruppengespräche zu finden. Die Räumlichkeiten waren so beengt, dass meist eine leer stehende Hütte für das Gespräch gesucht werden musste, in der aber kaum Platz für die Anwesenden war. Zweitens entstand in den Slums mit zunehmenden Besuchen des Forscherteams eine gewisse Unzufriedenheit, weil die Forschung den Slum-Bewohnern keine vorweisbaren (materiellen) Vorteile einbrachte. In den Slums sind westliche Personen vorrangig als Vertreter von NGOs bekannt, die bei Erscheinen eine konkrete „Verbesserung“ versprechen (Projektarbeit, Latrinen, Schulen). Diese Unzufriedenheit führte auch zu gereiztem Verhalten gegenüber dem Forscherteam. Am deutlichsten wurde dies während der Gruppeninterviews. Die Teilnehmer wollten vorzeitig gehen, wenn ihnen gerade keine Frage gestellt wurde. Das Misstrauen gegen das Forscherteam war in dem Untersuchungsgebiet Maghbazar am deutlichsten. Die Vermutung liegt nahe, dass die illegalen „Besitzer“ der Slums Sorge vor „gesteigertem Interesse“ an ihrem Slum hatten. In Maghbazar musste daher möglichst unauffällig agiert werden: Der Autor blieb absichtlich während der zweiten Hälfte der quantitativen Erhebung dem Untersuchungsgebiet fern und es wurden insgesamt „nur“ 73 (von 200) Haushalte befragt. In der zweiten Feldphase ging der Autor nur mit einem der beiden Soziologen nach Maghbazar und führte Einzelinterviews durch. In Maghbazar wurden deshalb keine Gruppeninterviews durchgeführt. Einzelne Personen für ein Interview zu gewinnen, war insgesamt einfacher. Während der üblichen „Teepausen“ zum Beispiel konnten leicht Gespräche begonnen werden. Hierbei waren die bengalischen Sprachkenntnisse des Autors von Vorteil. Auch konnte dadurch immer wieder eine möglicherweise ablehnende Haltung der Slum-Bewohner durchbrochen und ein Grundinteresse an den Forschungen geweckt werden. 5.6 GRENZEN DES FORSCHUNGSDESIGNS UND DES DATENMATERIALS Die Erwartungen der Slum-Bewohner, materielle Hilfe zu erhalten, können auch die Ergebnisse der Befragungen bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Insbesondere das Streben der Befragten, sich möglichst arm darzustellen und staatliche oder NGO-Hilfe herunterzuspielen, könnte zu einzelnen falschen Angaben geführt haben. Ein Anliegen dieser Arbeit betrifft die Zukunft der Slum-Haushalte. Aber gerade in Slums ist die Thematisierung von Zukunftsaspekten aufgrund der hohen Unsicherheiten des Lebensumfeldes schwierig. Deshalb werden Fragen nach der Zukunft von vielen der dort lebenden Menschen ausgeblendet bzw. mit unrealistischen Hoffnungen verknüpft. Dieser Tatbestand verfälscht nicht nur die Antworten,

148

Methodik – Erhebung und Auswertung der Daten

sondern erlaubt auch kaum Daten, die sich auf die Zukunft beziehen. Aus diesen Gründen können Schlussfolgerungen für diese Fragen nur zu einem geringen Grad unmittelbar aus den Datensätzen gezogen werden. Rückschlüsse aus der Verweildauer der Haushaltsvorstände zu ziehen, scheint ein probates Mittel zu sein. Aber gerade hier birgt das vorliegende Datenmaterial einen erheblichen Mangel: Diejenigen Haushalte, die den Slum verlassen hatten, konnten nicht befragt werden. Somit fallen für die Analysen zu den Entwicklungsperspektiven all die Haushalte heraus, die entweder den sozialen Aufstieg in die Mittelschicht geschafft haben oder inzwischen wohnsitzlos auf den Straßen Dhakas ihr Dasein fristen. Diese Arbeit kann also nur bedingt einen Beitrag für die Entwicklungsperspektiven der Haushalte im Allgemeinen leisten. Dafür wären Langzeitstudien (Panel-Studien) notwendig, die Analyse von individuellen Lebensgeschichten oder Erhebungen in unterschiedlichen sozialen Gruppen. Vorrangig können nur Entwicklungsaspekte für die Haushalte geklärt werden, die den Slum nicht verlassen wollen bzw. können. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass dies auf die Mehrheit der Slum-Haushalte zutrifft. Die Auswertung des Datensatzes wird auch dadurch beeinträchtigt, dass die Erhebung sich nicht auf ein spezifisches, aktuelles Überschwemmungsereignis beziehen konnte. Angaben zu Ereignissen, die bereits vor einigen Jahren passierten, sind mit Ungenauigkeiten verbunden. Weiter ist die Angabe zu den Überschwemmungsausmaßen nicht zwischen den Untersuchungsgebieten vergleichbar. Auswertungsmöglichkeiten bezüglich der kleinräumigen Exposition sind damit reduziert. Erhebungen, die kurz vor und nach einem schweren Überschwemmungsereignis stattfinden, wären eine sehr gute Ausgangslage für die hier thematisierte Forschungsfrage. Aber im Rahmen eines zeitlich begrenzten Forschungsprojektes ist diese Art der Datenerhebung nicht immer möglich, zumal während der Projektlaufzeit (November 2008 bis Juni 2012) kein schweres Überschwemmungsereignis in Dhaka auftrat. Das Forschungsprojekt, auf dem diese Arbeit beruht, wurde gemeinsam mit Meteorologen der Universität Bonn durchgeführt. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, aktuelle Ergebnisse der „Downscaling“-Verfahren regionaler Klimamodelle für die Auswirkungen des Klimawandels auf Dhaka berücksichtigen zu können. Allerdings sind selbst die ersten Ergebnisse der Modellrechnungen sowohl räumlich als auch zeitlich noch sehr grob. Das räumliche Raster dieser Arbeit gilt für Stadtteile von Dhaka und somit für eine Fläche von ungefähr zehn mal zehn Kilometern. Der zeitliche Horizont, auf den sich die Befragungen des Autors bezogen, beschränkt sich tendenziell auf die vergangenen 20 Jahre. Die räumliche Auflösung der von den Bonner Meteorologen verwendeten PRECIS-Daten liegt jedoch bei 50x50 km. Der zeitliche Horizont von PRECIS-Modellen macht glücklicherweise Aussagen bis zum Jahr 2030. Rückschlüsse auf Überschwemmungen sind aus den Klimamodellen jedoch nur grob möglich. Insbesondere Auskünfte über die Häufigkeiten von schweren Überschwemmungen, die für diese Arbeit besonders wichtig wären, können kaum abgeleitet werden. Als Folge davon beruhen

Grenzen des Forschungsdesigns und des Datenmaterials

149

die Prognosen für die nächsten Dekaden auf keiner wirklich soliden Datenbasis. Weder die zukünftige Situation der Slum-Bewohner, deren Verhalten bei veränderten Überschwemmungen, noch die Auswirkungen des Klimawandels können zufriedenstellend erörtert werden. Weitere Einschränkungen ergeben sich aus dem empirischen Fokus auf Überschwemmungen. Andere Naturereignisse, alltägliche Krisen und vor allem andere Änderungen wurden nicht systematisch erfasst. Allerdings sind Überschwemmungen und die Reaktionen darauf ohne Zweifel ein gutes Beispiel für die Analyse der informellen und sozialen Strukturen in den Slums von Dhaka.

6 DIE GEGENWART DER HAUSHALTE IN DEN SLUMS VON DHAKA “We think they cheated us for coming here. Because if there was employment in the village I never would come to Dhaka. But all mill factories and industries are in Dhaka and people must come here. Actually we, people from slums in search for work, have to keep Dhaka going. Dhaka needs us to keep alive. It would be important to have employment opportunities in the village, then we could lead a decent life there.” (NDBUS-Mitarbeiterin aus Karail)

Die Äußerungen dieser Slum-Bewohnerin in Karail verdeutlichen die Zwickmühle, in der sich die meisten Slum-Bewohner in Dhaka befinden. Die Slum-Bewohner kritisieren die Lebensbedingungen in den Slums, sehen aber keine Möglichkeiten, in ihren Heimatdörfern den Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Inwiefern Slums dabei Orte der Verzweiflung und gleichzeitig der Möglichkeiten sind, wird in Kap. 6.1 kurz angesprochen und durch eine ausführlichere Analyse anhand des vorhandenen physischen Kapitals, Finanz-, Human- und Sozialkapitals in Kap. 6.2 weiter aufgegriffen. Die Erörterung der gegenwärtigen Entwicklungsperspektiven erfolgt in Kap. 6.3. 6.1 SLUMS: ORTE DER VERZWEIFLUNG UND DER MÖGLICHKEITEN Die schwierigen Lebensumstände in Slums werden in der Darstellung der Lebensgrundlagen in Kapitel 6.2.2 ausführlich belegt. Zuerst werden einige allgemeine Äußerungen der Interviewpartner wiedergegeben, die ein Bild des Ausmaßes der Verzweiflung zeichnen: Frau: “When my husband died, I did not have enough money to pay for the funeral rite. I had to beg for that money.” Frage: “Who gave you the money?” Frau: “The house owners from the place where I lived in Gabtoli. I put my husband’s dead body on a van, then people saw it, and gave money for his funeral.” (Witwe in Goda Tek, die nach dem Tod ihres Mannes auf Baustellen Ziegel zerkleinerte und mittlerweile als Hausangestellte in Mirpur arbeitet)

Die Probleme des Alltags erlauben den Haushalten in vielen Fällen nicht, ein Mindestmaß an Würde zu behalten. Immer wieder müssen verzweifelte Maßnahmen ergriffen werden, um das Überleben oder zumindest eine Beerdigung zu ermöglichen. Die Haushalte wollen die Kinder zwar vor diesen Situationen bewahren, sind aber auf deren Hilfe angewiesen, wie der folgende Interviewauszug zeigt: Frau 1: “We managed to buy food by selling bones from the slaughter house. At first we were ashamed to do that, and we begged for money. [But as that was not sufficient] we had to sell the bones.”

152

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka Frage: “From where did you get the bones?” Frau 2: “Our children collected the bones from the garbage heap next to the slaughter houses. Then we stored them at our house and sold them to factories at the rate of three Taka per kilogram. From that money we bought food.” Frau 1: “Our children should be treated like flowers, but they are working now.” (Auszug aus dem Gruppeninterview in Goda Tek zur Situation nach der Überschwemmung 2004)

Der Umstand, dass die Haushalte dennoch in den Untersuchungsgebieten wohnen, ergibt sich aus den fehlenden Alternativen in den Herkunftsregionen und insbesondere den Möglichkeiten, welche Slums trotz all der Probleme bieten. 6.1.1 Gründe für das Verlassen der Herkunftsregion Viele Haushalte geben an, dass sie in ihren Heimatdörfern kein ausreichendes Einkommen erwirtschaften konnten. Konkrete Auslöser für die Abwanderung nach Dhaka sind dann oft Naturereignisse. Folgende Interviewsequenzen seien beispielhaft angeführt: “In our village, we suffered from a sorrowful life. Lack of food, no own land and no home made it so difficult to live there.” (Aussage der Witwe, die als Hausangestellte in Mirpur arbeitet) “We came here because there is no income in village. If I had income, I would never have come to Dhaka. There is no ability in the village to maintain the family. Then our small land was washed away by the river, then we came to Dhaka.” (Hausfrau in Khilket, deren Mann Gelegenheitsarbeiten macht und deren Tochter mit 12 Jahren in der Bekleidungsfabrik arbeitet) “Their village house was eroded by the river. They have no other place to stay. They came to Dhaka with their children. Often they have not enough food. Thousands of people live here who are like them.” (Vermieter mehrerer Hütten in Hazaribag 1 über seine Untermieter)

6.1.2 Gründe, in Dhaka und in Slums zu leben Dhaka bietet nach Meinung der meisten Slum-Bewohner ausreichend Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten. Diese Gründe sind für die meisten Befragten sogar der einzige Grund, dass der Haushalt in Dhaka lebt. Die Megastadt Dhaka an sich ist vielen Befragten zu laut und zu schmutzig, aber die ökonomischen Überlegungen dominieren, insbesondere die Aussicht auf ein höheres Einkommen: Mann 1: “We are here for the work. If there is work in the village, there is no question to come to Dhaka. Why should we stay in Dhaka? We have everything including houses in the villages. We are staying in Dhaka only for work, which is not available in our village. Once we earned enough, we will go back to our village.” Mann 2: “Nobody likes to stay in Dhaka. Everybody thinks for the income.” (Zwei Straßenhändler aus Khilket während des Gruppeninterviews)

Slums: Orte der Verzweiflung und der Möglichkeiten

153

Möglichkeiten in den Slums Wenn auch die Einkünfte der armen Bevölkerung in Dhaka höher sind als auf dem Land, so reichen sie dennoch bei weitem nicht, um die Mieten für Standardunterkünfte aufzubringen. Insofern ist diese Bevölkerungsschicht meist gezwungen, in den deutlich günstigeren Slums zu leben. Das niedrigere Mietniveau und die Arbeitsmöglichkeiten durch die Slums sind die Hauptgründe für den Zuzug in den Slum, in dem die Haushalte jetzt leben (siehe Abb. 8).

Abb. 8: Hauptgründe für den Zuzug in den Slum. N=726, Mehrfachnennungen. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Bei einem Einkommen, welches das Armutsniveau kaum überschreitet, ist es essentiell, dass die fixen Ausgaben möglichst gering gehalten werden: “The room rent is low, that is the major advantage. My income is low, that is why I live here. People with higher income stay in better houses.” (Slum-Bewohnerin in Khilket zur Frage, warum sie in dem Slum wohnen)

Die Arbeitsmöglichkeiten im Slum sind jedoch deutlich der Hauptgrund für den Zuzug dorthin und für etliche Haushalte wesentlich wichtiger als die dort günstige Miete. Die Arbeitsmöglichkeiten eröffnen sich aufgrund der Lage der Slums und durch die gegenseitigen Informationen, welche Nachbarn und Verwandte austauschen. Dies bestätigen zum Beispiel die folgenden Aussagen: “House rent is not a factor. The benefit here are the working opportunities. It is more important to be well informed about working opportunities than spending some Taka less for rent.” (Straßenhändler in Khilket während des Gruppeninterviews, der von seinen Kollegen täglich erfährt, wo sich der Verkauf lohnen wird) “We are staying here for the long time. Here we can get a job easily.” (Hausfrau in Khilket)

154

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Die Lage der Slums ist insofern vorteilhaft, als sie in der Nähe von Arbeitsplätzen liegen: “I think Karail is good a place for me. Karail is a good place as I can work here. I can go to Gulshan from Karail or I can work in Banani. I can do any work in any garment factory from Karail to Mohakhali. Though this slum is a small place for me I can do plenty of different work.” (NDBUS-Mitarbeiterin über ihre Arbeitsmöglichkeiten, als sie noch als Hausangestellte arbeitete.)

Vor diesem Hintergrund sind die fünf Prozent der Haushalte zu interpretieren, die angeben, dass ihnen die Umgebung gefällt. Einige Haushalte beziehen dies auch auf die bessere Luftzirkulation in Hazaribag 1 und in Dakshingaon. Die fünf Prozent, die angeben, sie wollen in einer eigenen Hütte leben, zogen in den Slum, weil sie dort das Land mieten und darauf ihre Hütte errichten konnten. Die folgende Interviewsequenz fasst die Möglichkeiten und Probleme in den Slums sehr gut zusammen: “After two or three years [living in the slum area] I got to know many people and I know how to find work. First I worked as a stone mason. But I only got 100 Taka and after expenditure nothing remained. Then I started to work as a rickshaw-puller. After that I drove the baby taxi. Then the Government banned it. And now I pull the rickshaw again.” (Mann in Hazaribag 1)

Sie zeigt auf, dass der soziale Zusammenhalt insbesondere nach einiger Zeit positive Resultate bringt und verschiedene Tätigkeiten leicht ausgeführt werden können. Trotzdem bleibt aber das Einkommen sehr gering. Durch verschiedene Faktoren (in diesem Fall das gesetzliche Verbot der Zweitakt-Minitaxis aus Luftreinhaltungsgründen) werden die Slum-Haushalte aber immer wieder zurückgeworfen und sie müssen von vorne beginnen, ihre Existenz aufzubauen. 6.2 AKTUELLE SITUATION DER SLUM-HAUSHALTE IN DHAKA Die aktuelle Situation umschließt die Haushalte und deren sozioökonomischen Status zum Zeitpunkt der Erhebung und Befragung 2009 und 2010. Dieser Status wird im Folgenden anhand des Zugangs zu Lebensgrundlagen analysiert. Weil diese Ressourcen auch stark von der räumlichen Lage der Slums beeinflusst werden, werden zunächst die Untersuchungsgebiete in ihrer Verschiedenheit dargestellt. 6.2.1 Überblick über die Untersuchungsgebiete Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Gruppe der Slum-Haushalte in Dhaka allgemein, nicht aber auf den Unterschieden zwischen den Untersuchungsgebieten. Verschiedene Untersuchungsgebiete wurden ausgewählt, um möglichst viele der unterschiedlichen Haushaltstypen in Slums abzubilden. Die Beschreibung der Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten zielt darauf ab, diese Bandbreite

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

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darzustellen. Damit kann die Gesamtsituation der Slum-Bevölkerung in Dhaka besser nachvollzogen und die folgenden Ergebnisse können besser eingeordnet werden. Die untersuchten Slum-Cluster sind alle dicht bewohnten, armen und benachteiligten Wohneinheiten zuzuordnen. Die Kriterien für Slums sind somit erfüllt. Die bestehenden Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten sind in Tab. 15 dargestellt. Im Anhang befinden sich Fotos der Untersuchungsgebiete. Die solideren und etwas besser gestellten Slums finden sich in Dakshingaon und Khilket. Die Bau- und Infrastruktur ist hochwertiger und die Slums sind nicht so dicht besiedelt. Zurückzuführen ist das auf die Entstehungsgeschichte der Slums. Die ehemals landwirtschaftlich geprägten Dörfer wurden nach dem Unabhängigkeitskrieg verstädtert. Insgesamt sind Dakshingaon und Khilket noch nicht vollständig besiedelt und die Bevölkerungsdichte ist noch nicht so hoch. Viele der Familien leben bereits seit Generationen an diesem Ort, was den hohen Prozentsatz an betonierten Fundamenten und den überwiegenden Zugang zu Gasanschlüssen erklärt. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten in Bekleidungsfabriken (in Khilket) oder bei den zahlreichen Kleinunternehmen, die in Dakshingaon und Khilket typisch sind (z.B. Eisenhandlungen, Tischlereien). Die durchschnittlichen Einkommen, aber auch die Mieten, sind in diesen konsolidierten Slums am höchsten. Da die Gebiete außerhalb der Schutzdeiche liegen, sind sie von größeren Überschwemmungen häufig betroffen. „Waterlogging“ stellt hingegen kein gravierendes Problem dar. Ebenfalls konsolidiert, aber heterogener ist Goda Tek, eine Halbinsel, die im Auftrag einer Familie in den 1980er Jahren aufgeschüttet wurde. Auf dieser Halbinsel finden sich wohlhabende Häuser (in denen die Eigentümer der Insel leben), Wohnhäuser der Mittelschicht und etliche Slum-Cluster. Diese Slum-Cluster sind in Abhängigkeit der räumlichen Lage sehr verschieden. An den Inselrändern sind äußerst ärmliche Slum-Cluster aus temporären Baumaterialien. Mit zunehmender Höhe finden sich deutlich besser gestellte Slum-Cluster. Für die Erwerbstätigkeit sind die Slum-Haushalte auf die üblichen informellen Tätigkeiten angewiesen. Die Slum-Cluster werden teilweise von Personen bewohnt, die 1990 in Mirpur (dem angrenzenden Stadtteil) aus einem Slum vertrieben wurden. Die Bewohner sind damals geschlossen nach Goda Tek umgezogen, was sich in einem starken sozialen Zusammenhalt dieser Gruppe äußert. Die Cluster im Uferbereich befinden sich auch in trockenen Zeiten in unmittelbarer Nähe zum Wasser. In der Regenzeit werden sie häufig überschwemmt, obwohl sie sich im geschützten Bereich eines Deiches befinden. Das Hochwasser entsteht dann durch den lokalen Niederschlag und die Abwässer der umliegenden Stadtteile. Maghbazar ist der älteste der untersuchten Slums. Nach einem Brand in den 1980er Jahren eigneten sich etliche Privatpersonen das Land illegal an, bewohnen es seither und vermieten Zimmer. Der Slum liegt eng durch Häuser eingegrenzt zentral in der Stadt. Aufgrund der fehlenden Expansionsmöglichkeit ist die Bevölkerungsdichte hier besonders hoch. Etliche Slum-Hütten wurden auf Bambuspfählen über einen Teich gebaut, um der hohen Nachfrage nach Wohnraum nachzukommen. Der Slum ist konsolidiert und vorrangig aus dauerhaften Materialien erbaut, aber die Infrastruktur ist desaströs. Die Häuser sind illegal errichtet und

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

somit nicht berechtigt, einen Gasanschluss zu bekommen. Auch die Armut ist hier besonders eklatant. Einfache Tätigkeiten wie Lohnarbeit und Rikscha-Fahren sind neben der Untervermietung die Haupteinnahmequelle. „Waterlogging“ (siehe Abb. 28, Anhang) führt in der Regenzeit oft zu kurzzeitigen Überschwemmungen, aber die Deiche schützen die Gegend vor normalen Überschwemmungen. Hazaribag 2 ist Maghbazar in vielen Belangen ähnlich. Zwischen den Wohnsiedlungen und begrenzt von einem Deich ist die Bevölkerungsdichte extrem hoch. Über den Abwässern der Gerbereien wurden zahlreiche Bambushütten errichtet. Die Abwässer dringen bei Regenfällen oder Überschwemmungen oft in die Wohnungen ein. Dabei stellt sich der hohe Versiegelungsgrad als besonders problematisch dar, da das Wasser schlecht abfließt. Als Arbeitsmöglichkeiten bieten sich erneut hauptsächlich Lohnarbeit und Rikscha-Fahren an. Überraschenderweise sind nicht viele Slum-Bewohner in den Gerbereien fest angestellt. Direkt auf der anderen Seite des Deichs befindet sich Hazaribag 1. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den beiden Gebieten werden sie trotz der räumlichen Nähe getrennt angeführt. 2005 wurde dort eine Retentionsfläche des Buriganga im Auftrag von Investoren mit Sand aufgeschüttet. Bis die Bautätigkeiten für die Mehrfamilienhäuser beginnen (ungefähr 2014) wird der Grund für durchschnittlich monatlich BDT 200 pro Wohnfläche an die Slum-Haushalte vermietet. Insofern ist Hazaribag 1 als „beabsichtigte“ Slumsiedlung zu bezeichnen. Die Slums in den anderen Untersuchungsgebieten haben sich „ergeben“, weil zwischen Mittelschichtshäusern marginaler Wohnraum genutzt wird. In Hazaribag 1 hingegen wird Wohnraum „übergangsweise“ genutzt. In Anbetracht der zeitlichen Terminierung ist es einleuchtend, dass vorrangig temporäre Bausubstanzen verwendet werden. Es gibt (noch) keine Elektrizitätsversorgung. Der Slum verläuft entlang der ebenfalls aufgeschütteten Zufahrtsstraße, wobei sich der nördliche Teil auf der Sandfläche befindet und der südliche Teil mittels Bambuspfählen auf das Straßenniveau erhöht wurde. Die vorrangig in Dhaka tätige NGO Dushtha Shasthya Kendra (DSK) hat in Hazaribag 1 neun Pumpbrunnen und Sanitäranlagen errichtet. Diese stellen neben den umliegenden Teichen die einzige Wasserversorgung dar. Die Bewohner der Slums kommen mehrheitlich aus umliegenden – ebenfalls temporären – Slums und werden nach eigenen Angaben auch wieder in einen temporären Slum in der Nähe ziehen, wenn sie den Bauarbeiten für Mehrfamilienhäuser weichen müssen. Obwohl die Slum-Hütten in Hazaribag 1 jährlich überschwemmt werden, bietet die Gegend den Vorteil, dass sie aufgrund der Expansionsfähigkeit weniger dicht besiedelt ist und das Wasser rasch abfließt. Die unsicheren Lebensumstände äußern sich aber im sehr niedrigen Einkommen, welches auf den hohen Anteil an Rikscha-Fahrern zurückzuführen ist.

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

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6.2.2 Die Lebensgrundlagen der Slum-Haushalte Slums sind in Dhaka rasch an der Baustruktur und der Kleidung der Bewohner zu erkennen. Das physische und finanzielle Kapital in den Slums ist augenscheinlich sehr gering. Auch das oft geringe humane Kapital der Slum-Bewohner fällt auf: ausgemergelte Körper und offensichtlich kranke Kinder sind allgegenwärtig. Allerdings greift diese Sichtweise etwas zu kurz: Die baufälligen Hütten bieten Schutz vor Regen und nachts vor Dieben (vgl. Ahmed et al. 2011). Die ausgemergelten Körper sind trotzdem zäh und leisten täglich enorme Anstrengungen, ähnlich der von Ausdauersportlern (vgl. Begum & Sen 2005: 16). Es ist auch das hohe Maß an sozialem Kapital erahnbar: Überall sind Kinder, die miteinander spielen, Frauen, die sich beim Kochen und Wäsche waschen unterhalten, und Männer, die gemeinsam Tee trinken. Die beiden dargestellten Sichtweisen polarisieren, sollen aber ausdrücken, dass die Lebensgrundlagen in den Slums vielschichtig sind. Das natürliche Kapital ist die einzige Kapitalform, welche in den Slums kaum eine Rolle spielt. Es ist nur in der Form von Teichen von Belang, die für das Baden oder Wäsche waschen benutzt werden können. Um Landwirtschaft zu betreiben, verfügen die Slums über zu wenig Platz und die Flüsse sind für die Fischzucht zu verschmutzt. 6.2.2.1 Physisches Kapital Das physische Kapital der Slum-Haushalte besteht aus der Unterkunft, der zur Verfügung stehenden Infrastruktur, den Sanitäranlagen und den Schutzmaßnahmen vor Überschwemmungen (siehe Tab. 13). Unterkunft Ein Viertel der befragten Haushalte lebt in Häusern mit dauerhaften Baumaterialien, wie Zement oder Ziegeln. 36 Prozent leben in Wellblechhütten und 38 Prozent in Hütten aus Bambus und Plastikfolien. Das Material der Unterkunft ist als Ergebnis rationaler Überlegungen zu sehen. Die räumliche Verteilung der Baumaterialien hängt in erster Linie von der Lage und somit von der Miete ab. Die durchschnittlichen Monatsmieten betragen für Wohnungen in Ziegelhäusern BDT 1.490, in Wellblechhütten BDT 1.040 und in Hütten aus Bambus und Plastikfolien BDT 670. Wo welche Baustrukturen anzutreffen sind, hängt jedoch maßgeblich von der lokalen Situation und den Eigentumsverhältnissen ab. Die Slum-Cluster in stark benachteiligter Lage (unmittelbare Nähe zu Wasserkörpern) sind fast ausschließlich aus temporären Materialien gebaut. In einem Slumgebiet befinden sich meist sowohl Betonhäuser als auch Wellblech- und Bambushütten (vgl. Anteile der Baumaterialien in Tab. 15). Die Ursache für diese Heterogenität liegt auch in den Eigentumsverhältnissen. Hierbei muss in den Slums zwischen dem Eigentum des Grundstücks und dem Eigentum der darauf stehenden Wohnung unterschieden werden. 75 Prozent der befragten Haushalte

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

mieten die Wohnungen. 15 Prozent gehört die Wohnung und sie bezahlen Miete für das Grundstück (durchschnittlich BDT 590/Monat/Grundstück). Den übrigen zehn Prozent gehören die Wohnung und das Grundstück. Diese Gruppe der Eigentümer (bengalisch: mallik) ist keineswegs arm, sondern der Mittelschicht zuzuordnen. Oft wohnen sie schon lang an dem Ort und nahmen an dem „Verslumungsprozess“ der ehemals leeren Vorstadtgegend durch den Bau von Hütten selbst teil. Alle Wohnungen in den Untersuchungsgebieten wurden von Privatpersonen erbaut und dann selbst genutzt oder weitervermietet. Mit wenigen Ausnahmen leben die Wohnungseigentümer jeweils auch in dem Slum-Cluster und nutzen die Untervermietung als zusätzliche Einkommensquelle. “[Here in Hazaribag] are 30 to 35 land owners. We build houses on the open land and rent them to others. We have to pay the rent for the land to the land owner. This is my profession.” (Hauseigentümer in Hazaribag 1)

Es ist nicht überraschend, dass zwischen dem Eigentumsverhältnis und der Baustruktur ein signifikanter Zusammenhang besteht (Chi-Quadrat-Test für Eigentumsverhältnis und Baustruktur, p=0.000, N=623). Grundeigentümer wohnen tendenziell in einem Haus aus Zement und Ziegeln. Untermieter wohnen vermehrt in Hütten aus Bambus oder Wellblech. Ärmere Familien, die den Grund mieten, bauen sich vorrangig Hütten aus Wellblech. Dieses ist dauerhafter als Bambus oder Plastikfolien. Für Zementbauten fehlt den Familien das Geld und vor allem können sie sich nicht sicher sein, wie lang sie den Grund mieten dürfen. Zwangsweise Räumungen („evictions“) sind vorrangig ein Problem auf staatlichem Land. In Maghbazar wurde von dieser Problematik allerdings nicht berichtet. Scheinbar plant die Stadtverwaltung derzeit keine Räumungen (im Gegensatz zu den Räumungstätigkeiten in Karail im Frühjahr 2012). Zwangsweise Räumungen in Slums auf privatem Grund sind nicht üblich. Aber es kann kurzfristig die Miete erhöht werden, weshalb ebenfalls einige Haushalte den Slum verlassen müssen. Die daraus resultierende Unsicherheit der Slum-Haushalte wird oft thematisiert, z.B. in den folgenden Äußerungen: “We poor people have no happiness. When we go anywhere, our luck has no brightness. Today we are here, tomorrow we will be kicked out. We don’t have any place of peace. If we make a house in the government place, then they evict us. So many times we have to break our houses. So give us land here to live.” (Tagelöhner in Hazaribag 1, der in Dhaka geboren wurde) “We are like a bird which has no branch of tree for sitting.” (Hausfrau in Goda Tek, die seit 12 Jahren in Goda Tek lebt, aber vom Vermieter schikaniert wird)

Der Zustand der Baumaterialien ist in Dakshingaon und Khilket bei ca. einem Drittel der Haushalte „gut“, das heißt die Dächer sind dicht, es treten keine Roststellen auf und das Material lässt keine Löcher erkennen. In den anderen Untersuchungsgebieten ist dies nur bei einem Fünftel der Haushalte der Fall. Folgende Äußerungen treffen auf die deutliche Mehrheit der Haushalte zu: “We have so many problems. The roof of our house is made of tin and the tin is no longer well. There are so many cracks in the roof tin that is why the rain water entered into our room and

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

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we didn’t sleep for whole night.” (Rikscha-Fahrer in Maghbazar zur Situation während des Monsuns)

Hohe Bevölkerungsdichte Die Wohnsituation der Haushalte wird außerdem durch die hohe Bevölkerungsdichte erschwert. Die Haushalte weisen Haushaltsgrößen von durchschnittlich 4,6 Personen auf, wobei ein Viertel mit maximal drei Personen pro Haushalt zusammen wohnt und ein weiteres Viertel mindestens sechs Personen (N=625) umfasst. Diese Familiengrößen sind durchaus üblich in Bangladesch. Der städtische Durchschnitt liegt landesweit bei 4,4 Personen pro Haushalt (vgl. Bangladesh Bureau of Statistics 2011b: 9). In den Slums ist der geringe Wohnraum problematisch, der den Haushalten zur Verfügung steht. Schätzungen mithilfe von Google Earth ergeben für die Untersuchungsgebiete eine Bevölkerungsdichte von mindestens 170.000 Einwohnern/km2 (Durchschnitt für das Untersuchungsgebiet Dakshingaon) und maximal 280.000 Einwohnern/km2 (Durchschnitt für das Untersuchungsgebiet Maghbazar). 77 Prozent der Haushalte leben in nur einem Raum und weitere 15 Prozent verfügen über zwei Räume (N=625). Die Hälfte der Haushalte wohnt dabei mindestens zu viert in einem Zimmer. Ein Raum bietet aber meist nur so viel Platz, dass ein Bett, ein Regal und ein kleiner Tisch darin Platz finden. Die wenigen Besitztümer der Haushalte müssen in Kisten unter dem Bett oder unter dem Dach verstaut werden. Die Slums an den Stadträndern verfügen immerhin über einige öffentliche Freiplätze, die auch für produktive Tätigkeiten genutzt werden (z.B. Trocknen von Tierhäuten in Hazaribag 1, Reparieren von Rikschas). Als Ergebnis der hohen Dichte und der problematischen Baustruktur sind nur 27 Prozent der Unterkünfte ausreichend von Tageslicht erhellt. Etwa genauso viele Hütten (28 Prozent) haben kaum oder sogar gar kein Tageslicht (Haushalte in Maghbazar und ein doppelstöckiger Hauskomplex in Hazaribag 2) (N=625). Infrastruktur Die Räumlichkeiten sind auch zwischen den einzelnen Hütten begrenzt. Nur ein Prozent der Haushalte kann mit einer Rikscha erreicht werden. Über zwei Drittel der Zufahrtsstraßen sind Lehmwege – zusätzlich 15 Prozent der Lehmwege sind durch Ziegelsteine befestigt. Bambusstege (fünf Prozent) sind in Hazaribag 1 und 2 notwendig. Asphaltiert sind nur zehn Prozent der Zufahrten. Aufgrund der hohen Frequentierung und häufigen Wasserschäden befinden sich die Straßen meist in baufälligem Zustand (N=625). Die engen Wege zwischen den Hütten dienen oft als Kochstellen. 53 Prozent der Haushalte verfügen über keine gemeinsame Küche und müssen zum Kochen einen Tonofen (bengalisch: „chula“) vor der eigenen Hütte verwenden (siehe Abb. 29, Anhang). Brennmaterial ist dabei vorrangig Holz und Stroh oder auch Abfall.

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

37 Prozent der Haushalte können in den deutlich komfortableren und weniger gesundheitsbelastenden Gemeinschaftsküchen mit Gas kochen (siehe Tab. 13). Nur sechs Prozent der Haushalte verfügen über eigene Gasanschlüsse in ihrer Wohnung (N=625). 89 Prozent der Haushalte entnehmen das Trinkwasser einem Wasserhahn (64 Prozent) oder einem Pumpbrunnen (25 Prozent), den sie mit den anderen Haushalten in ihrem Slum-Cluster (10 bis 60 Haushalte) teilen. Im Allgemeinen verfügt ein Slum-Cluster über nur eine Wasserentnahmestelle. Die Wasserleitungen und Pumpbrunnen werden von DWASA betreut. Eine Ausnahme sind die neun Pumpbrunnen in Hazaribag 1, die von einer NGO (DSK) zusammen mit den Sanitäranlagen errichtet wurden. Für die persönliche Hygiene und das Waschen der Wäsche werden je nach Existenz die umliegenden Teiche oder die Pumpbrunnen bzw. Wasserhähne verwendet. In Maghbazar und einem Slum-Cluster in Goda Tek war während der Erhebung der Pumpbrunnen defekt. In Goda Tek ließ der Eigentümer einmal am Tag mit einem Schlauch Wasser zu den Haushalten liefern, wobei jeder Haushalt nur 20–30 Liter pro Tag erhielt. Dafür mussten die Haushalte BDT 100 pro Monat bezahlen. Auch in Maghbazar wurde aufgrund einer defekten Leitung das Wasser zu bestimmten Zeiten am Tag per Schlauch geliefert und die Haushalte mussten pro Eimer Wasser bezahlen. Die dabei entstehenden Ausgaben sind ungefähr 20- bis 40-fach über dem Preis, den die „Wasserhändler“ an DWASA bezahlen. Elektrizität Mit Ausnahme von Hazaribag 1 ist ein Großteil der Haushalte an das Stromnetz angeschlossen (insgesamt 73 Prozent der Haushalte). Allerdings verfügen diese Haushalte über keine zuverlässige Elektrizitätsversorgung. Zeitweilige Stromabschaltungen sind aufgrund der Überlastung in ganz Bangladesch üblich. In den Slums kommt erschwerend hinzu, dass die Leitungen oft defekt sind. Zusätzlich werden die Rechnungen nicht zuverlässig bezahlt, meist schon aus dem Grund, dass gar nicht ersichtlich ist, welcher Haushalt wie viel bezahlen muss. Die folgenden Äußerungen sind charakteristisch für die Probleme mit der Elektrizitätsversorgung: “Yes, we have only one meter for the whole slum.” (Hausangestellte, die seit 30 Jahren in Maghbazar lebt) “The owner didn’t pay the electricity line charge, so the authority had disconnected the line. Then, the owner did not take any steps to connect the line again.” (Hausfrau, die seit 20 Jahren in Goda Tek lebt)

Aus diesen Gründen können sich die Slum-Bewohner kaum auf die Stromversorgung verlassen, besonders nicht, wenn das Stromnetz in der heißen Vormonsunzeit durch die Klimaanlagen der Wohlstandsgebiete zusätzlich belastet ist.

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

161

Sanitäranlagen 77 Prozent benutzen die Latrinen zusammen mit den anderen Haushalten. In den bessergestellten Slums verfügen die Haushalte über eigene Latrinen (insgesamt 12 Prozent der Haushalte). In Hazaribag 1 und 2 ist zusätzlich die Benutzung der „hängenden Toilette“ gebräuchlich (insgesamt 8 Prozent der Haushalte). Bei diesen Toiletten fallen die Fäkalien in einen nach oben hin offenen Tank, der sich in dem darunterliegenden Teich befindet, oder in einen offenen Abwasserkanal. Während Hochwasser können diese Toiletten nicht benutzt werden. Schutz gegen Überschwemmungen Neben den „regionalen“ Schutzmaßnahmen wie Deiche und die Pfahlbauweise (siehe Abb. 24, Anhang) weisen 32 Prozent der Haushalte auch individuelle Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser auf. In 18 Prozent der Haushalte bestehen diese Maßnahmen aus einer Erhöhung der Türschwelle auf etwa 30 cm (vgl. Abb. 30, Anhang). 13 Prozent der Haushalte erhöhen ihre Wohnstätte durch Pfähle oder Aufschüttungen. Bivariate Analysen zeigen folgende Zusammenhänge: •



Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Exposition des Haushalts und den individuellen baulichen Schutzmaßnahmen (2x2 Kreuztabelle, Chi-Quadrat-Test, p=0,067, N=623). Die Haushalte wurden als „exponiert“ bewertet, wenn sich der dazugehörige Slum-Cluster während der Feldbegehung im August 2010 weniger als ein Meter über der Wasserfläche befand. Die anderen Haushalte werden als „weniger exponiert“ bezeichnet. Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Baustruktur und den individuellen baulichen Schutzmaßnahmen (Chi-Quadrat-Test, p=0,000, N=622). Die stabileren Häuser waren signifikant öfter geschützt, als die Bambushütten. Dieser Zusammenhang ist eng an den signifikanten Unterschied der Mietpreise gekoppelt. Besser geschützte Wohnungen kosteten durchschnittlich deutlich mehr Miete (BDT 1.350) als nicht geschützte Wohnungen (BDT 870) (T-Test, p=0,000, N=461).

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Somit sind die exponierten und schwächeren Hütten weniger vor Überschwemmungen geschützt. Dieser mangelnde Schutz beruht nicht auf der Unkenntnis der individuellen Schutzmaßnahmen, sondern scheitert an den finanziellen Möglichkeiten. Die Haushalte, die sich bessere Baustrukturen leisten können, investieren auch in individuelle Schutzmaßnahmen. Öffentliche Schutzbauten stellen während der Überschwemmungen weiteres physisches Kapital dar. Vorrangig Schulen und andere öffentliche Gebäude bilden in Dhaka ein relativ geplantes Netz an Notunterkünften. In den Interviews wird deutlich, dass alle Slum-Haushalte solche Zufluchtsorte kennen und nutzen können. Hinweise auf Schulen, die als Notunterkünfte dienen, sind in jedem Untersuchungsgebiet zu hören: “There was no possibility to stay here. The entire house door was under water. Only the school saved us then.” (Fabrikarbeiterin während des Gruppeninterviews in Khilket zur Überschwemmung von 2004) Tab. 13: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen physischen Kapitals in Slum-Haushalten.

Ausprägung des physischen Kapitals

Anteil der Haushalte Unterkunft

Überwiegendes Baumaterial der Wohnung (N=623) (durchschnittliche Monatsmiete, Mittelwertvergleich, ANOVA, p=0,000, N=462)

Ziegel/Zement: 25% (BDT 1.500) Wellblech: 36% (BDT 1.040) Bambus/Plastikfolie: 38% (BDT 670)

Eigentumsverhältnisse (N=625)

Haushalt mietet die Wohnung: 75% Haushalt ist Eigentümer der Wohnung und mietet das Grundstück: 15% Haushalt ist Eigentümer der Wohnung und des Grundstücks: 10%

Qualität des Baumaterials (N=623)

Schadfrei (gut): 21% Beschädigt, aber stabil (mittel): 34% Mangelhaft (schlecht): 45%

Zur Verfügung stehender Wohnraum (N=625)

Anzahl der Personen/Raum > 2: 80% Anzahl der Personen/Raum > 4: 50%

Dichte der Bebauung

Wohnung nur zu Fuß erreichbar: 99%

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

Ausprägung des physischen Kapitals

163

Anteil der Haushalte Infrastruktur

Material der Wege, die zu dem Haushalt führen (N=623)

Lehm: 69% Lehm, mit Ziegeln befestigt: 15% Asphalt: 11% Bambussteg: 5%

Kochstelle (N=623)

Individuelle Tonöfen: 53% Gemeinschaftsküche mit Gasanschluss: 37% Eigener Gasanschluss: 6% Gemeinschaftsküche mit Tonöfen: 4%

Trinkwasserversorgung (N=623)

Gemeinsamer Leitungsanschluss: 64% Gemeinsamer Pumpbrunnen: 25% Eigener Anschluss im Haus: 6% Andere (Wasser von außerhalb, Teich): 5%

Anschluss an Stromleitung (N=625) Anschluss an zuverlässige Elektrizitätsversorgung (Schätzung)

73%

Sanitäranlagen (N=623)

Gemeinsame Latrine: 77% Eigene Latrine: 12% Hängende Toilette: 8% Offenes Feld: 3%

Unter 10%

Schutz gegen Hochwasser Individuelle bauliche Maßnahmen (N=623)

Erhöhte Türschwelle: 18% Relative Erhöhung durch Pfähle o.ä.: 13%

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

6.2.2.2 Finanzkapital Die finanziellen Ressourcen der Haushalte setzen sich aus dem Einkommen, den Ersparnissen und den Wertgegenständen zusammen, die sich im Eigentum des Haushaltes befinden. Das heterogene Bild der Slum-Haushalte in Bezug auf das physische Kapital zeichnet sich auch bei den Monatseinkommen ab. Der (arithmetische) Mittelwert der Haushaltseinkommen pro Monat beträgt BDT 6.700. Dieser Wert liegt 60 Prozent unter dem landesweiten Durchschnitt der Einkommen von städtischen Haushalten (BDT 16.500, vgl. Bangladesh Bureau of Statistics 2011b). Die Armutsgrenze in Städten (berechnet über einen Warenkorb, der 2.122 kcal pro Person und Tag deckt) wird vom Bangladesh Bureau of Statistics (2011b: 73) mit BDT 6.800

164

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

pro Haushalt und Monat definiert. Von extremer Armut wird gesprochen, wenn das Monatseinkommen BDT 5.500 pro Haushalt unterschreitet. In den Untersuchungsgebieten sind in Bezug auf das Einkommen 49 Prozent der Haushalte als extrem arm zu bezeichnen, 13 Prozent als arm und 35 Prozent als nicht arm (N=583). Die Ersparnisse sind insgesamt sehr niedrig. Drei Viertel der Haushalte verfügen über keine Ersparnisse, zehn Prozent haben Ersparnisse im Wert von bis zu BDT 6.000 (ungefähr ein Monatsgehalt) und 14 Prozent darüber. Die Haushalte sind sich durchaus der Bedeutung von Ersparnissen für Krisenzeiten bewusst, aber aufgrund des niedrigen Einkommens bestehen kaum Möglichkeiten, Ersparnisse zu sammeln: “When I had only one daughter, I was glad, I could save money. But then I got two more children and now I am not able to save any more money. I have to feed my children, I must buy medicine when they are ill. That is more important than saving money.” (Frau der HinduMinderheit in Dakshingaon)

Das materielle Eigentum ist hingegen nicht so gering, wie die niedrigen Einkünfte und Ersparnisse vermuten lassen. 40 Prozent der Haushalte haben einen Fernseher, 46 Prozent ein Mobiltelefon, 33 Prozent Schmuck, 34 Prozent ein Grundstück und 54 Prozent ein Haus bzw. eine Hütte in dem Heimatdorf. 65 Haushalte (10 Prozent) verfügen sogar über ein Haus/eine Hütte in Dhaka und im Heimatdorf. Unter Berücksichtigung aller Elemente des Finanzkapitals lassen sich die Haushalte in den Untersuchungsgebieten den folgenden drei Gruppen zuordnen: • • •

Sehr niedriges Finanzkapital: Das Einkommen liegt unterhalb der extremen Armutsgrenze und der Haushalt hat weder hohe Ersparnisse, noch relevantes materielles Eigentum (Schmuck, Fernseher, Mobiltelefon, Land). Niedriges Finanzkapital: Das Einkommen liegt unterhalb der Armutsgrenze und der Haushalt hat geringe oder sehr geringe Ersparnisse. Höheres Finanzkapital: Einkommen über der Armutsgrenze und/oder relativ hohe Ersparnisse

Dieser Zuordnung entsprechend verfügen in den Untersuchungsgebieten (N=572) 21 Prozent der Haushalte über sehr niedriges Finanzkapital, 37 Prozent über niedriges Finanzkapital und 42 Prozent über höheres Finanzkapital. Diese Verteilung zeigt, dass in den Slums die Haushalte überwiegend über ein gewisses Maß an Finanzkapital verfügen. Um in die Slums von Dhaka migrieren und sich dort durchsetzen zu können, ist ein Minimum an finanziellem Kapital notwendig (vgl. Asian Development Bank 2012). Dabei stellen die Fixkosten für Haushalte mit extrem niedrigem Finanzkapital eine Hürde dar. Überraschend ist der relativ hohe Anteil an Haushalten mit höherem Finanzkapital. Die räumliche Verteilung zeigt einen Zusammenhang zwischen dem Finanzkapital und den Untersuchungsgebieten (Chi-Quadrat-Test, p=0,001, N=572). Dakshingaon weist z.B. deutlich mehr Haushalte mit besserem Finanzkapital auf, als statistisch erwartet. In Hazaribag 1 wohnen hingegen kaum Haushalte mit besserem Finanzkapital. Allerdings gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Finanzkapital und den einzelnen Slum-Clustern innerhalb der

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

165

Untersuchungsgebiete71(Chi-Quadrat-Test, Dakshingaon: p=0,108, N=104, Goda Tek: p=0,091, N=123, Khilket: p=0,721, N=89). So wie sich innerhalb der Untersuchungsgebiete verschiedenes physisches Kapital finden lässt, weisen die Haushalte auch eine unterschiedliche Ausprägung an Finanzkapital auf (siehe Tab. 14). Tab. 14: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Finanzkapitals in Slum-Haushalten.

Ausprägung des Finanzkapitals

Anteil der Haushalte Einkommen (N=583)

Haushaltseinkommen/Monat (ø) Haushaltseinkommen „extrem arm“ „arm“ „nicht arm“

BDT 6.700 (urbaner nationaler ø: BDT 16.500) 49% unter BDT 5.500 13% zwischen BDT 5.500 und 6.800/Monat 35% über BDT 6.800/Monat Ersparnisse (N=577)

Ohne Ersparnisse

76%

Bis zu BDT 6.000 Ersparnisse

10%

Über BDT 6.000 Ersparnisse

14% Materielles Eigentum (N=625)

Eigenes Haus bzw. Hütte in Dhaka/auf dem Land/beides

15%/54%/10%

Eigener Grund im Heimatdorf

34%

Eigener Fernseher

41%

Eigenes Mobiltelefon

46% Aggregiertes Finanzkapital (N=572)

„Sehr geringes Finanzkapital“

21%

„Geringes Finanzkapital“

37%

„Höheres Finanzkapital“

42% Quelle: Eigene Erhebung 2009.

7

Einzelne Cluster wurden in Maghbazar und Hazaribag 1 und 2 nicht erhoben, da diese Untersuchungsgebiete gleichzeitig ein Slum und ein Slum-Cluster sind.

166

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Tab. 15: Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten nach physischen und beruflichen Charakteristika. N=625. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Dakshingaon

Goda Tek

Slum seit

1980er Jahre

1990

Bisherige Aufenthaltsdauer des Haushaltsvorstandes (Mittelwert)

19,4 Jahre

10,6 Jahre

Religionszugehörigkeit

Mosl.: 55% Hindu: 45%

Mosl.: 97% Hindu: 3%

Physische Charakteristik Anteil Ziegelhäuser Wellblechhütten Bambushütten

24% 68% 8%

19% 53% 27%

Anteil der Wohnungen mit Betonfundament

70%

47%

Zugang zu Gemeinschaftsküche mit Gas

49%

39%

Wohnungsmiete/Monat (ø) BDT

1.100

870

Zur Verfügung stehender Wohnraum (ø) Pers. p. Zimmer

3,4

4,0

Berufliche Charakteristik Meistgen. Tätigkeiten der Haushaltsvorstände

Geschäftsmann (23%) Rikscha-Fahrer (15%)

Tagelöhner (20%) Rikscha-Fahrer (12%)

Haushaltseinkommen im vorhergeh. Monat (Mittelwert)

7.900 BDT

5.800 BDT

167

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

Hazaribag 1

Hazaribag 2

Khilket

Maghbazar

2005

1990er Jahre

1980er Jahre

1970er Jahre

3,8 Jahre

8,3 Jahre

16,1 Jahre

23,2 Jahre

Mosl.: 99% Hindu: 1%

Mosl.: 100%

Mosl.: 100%

Mosl.: 100%

0% 2% 98%

22% 0% 78%

64% 34% 2%

23% 49% 27%

22%

61%

89%

49%

0%

70%

53%

0%

590

1.200

1.500

970

3,4

4,5

3,5

4,1

Rikscha-Fahrer (43%) Tagelöhner (10%)

Rikscha-Fahrer Rikscha-Fahrer Fabrikarbeiter (15%) (31%) (22%) Geschäftsmann (15%) Tagelöhner (16%) Tagelöhner (11%)

5.500 BDT

6.100 BDT

8.600 BDT

6.700 BDT

168

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

6.2.2.3 Humankapital Die Humanressourcen der Haushalte in den Slums bestehen aus ihren Mitgliedern, deren Bildung und Fähigkeit, einer Arbeit nachzugehen. Individuelle Fähigkeiten spielen in besonderen Situationen eine große Rolle. Alters- und Geschlechtsstruktur der befragten Haushalte In den 625 befragten Haushalten leben insgesamt 2.823 Personen. 1.486 (53 Prozent) sind männlich, 1.337 (47 Prozent) sind weiblich. Die Altersverteilung auf Haushaltsebene ist in Abb. 9 dargestellt. In ungefähr einem Viertel der Haushalte leben Kleinkinder und ebenso ein Viertel der Haushalte hat Kinder im Grundschulalter. Der weibliche Anteil ist in den meisten Altersgruppen geringer als der männliche. Aufgrund der schwierigen Lebensumstände in den Slums wohnen vor allem heranwachsende Frauen nach Möglichkeit an alternativen Wohnorten. In der Altersgruppe der Erwerbstätigen sind jedoch mehr Frauen als Männer. Frauen dieser Altersgruppe sind wesentliche Arbeitskräfte, die für die Hausarbeit und zusätzliches Einkommen dringend benötigt werden. In den Slums leben nur verhältnismäßig wenig ältere Personen (über 59 Jahre). Erstens leben die Familien noch nicht so lang in den Slums, dass sich der Alterungsprozess der Bewohner in den Daten sichtbar niederschlägt. Zweitens versuchen ältere Menschen – wenn sie kaum noch zum Einkommen beitragen können –, den Slum zu verlassen und wieder in die Heimatdörfer zurückzukehren.

Abb. 9: Verteilung der Altersgruppen auf Haushaltsebene. Dargestellt ist der Prozentsatz der Haushalte, die mindestens eine Person in der Altersgruppe aufweisen. N=625. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

169

Bildung Das Bildungsniveau in den Slums ist niedriger als der nationale Durchschnitt: Nur 48 Prozent der männlichen (N=525) und 32 Prozent der weiblichen Haushaltsvorstände (N=100) können lesen und schreiben. Bangladeschweit beträgt die Alphabetisierungsquote bei den Männern 61 Prozent und bei den Frauen 55 Prozent (vgl. Bangladesh Bureau of Statistics 2011b: 77). Tab. 16 zeigt das niedrige Bildungsniveau in den Haushalten. Es kann positiv interpretiert werden, dass in immerhin 80 Prozent der Haushalte mindestens eine Person lesen und schreiben kann. Aber insgesamt fallen die hohen Anteile derjenigen Haushalte in den Altersgruppen auf, in denen niemand lesen und schreiben kann. Das niedrigere Bildungsniveau der Frauen zeigt sich in der Altersgruppe der über 15-Jährigen im Vergleich zu den Männern. In 44 Prozent der Haushalte kann keine der Frauen lesen und schreiben. Bei den Männern sind dies elf Prozentpunkte weniger. Die Tabelle verdeutlicht die Probleme der niedrigen Bildung, besonders bei den unter 16-Jährigen. In ungefähr der Hälfte der Haushalte besucht kein einziges Kind oder kein einziger Jugendlicher eine Schule. Daraus lassen sich die zukünftigen Probleme für viele Haushalte unmittelbar ableiten. Die etwas höhere Bildungsrate der Mädchen gegenüber den Jungen ist als ein Ergebnis der staatlichen Bildungsofferte zu sehen, die Mädchen bis 16 Jahren kostenlosen Zugang zur Schulbildung gewähren soll. Die Bevölkerung in Bangladesch ist sich aufgrund von staatlichen Kampagnen und der Arbeit von NGOs der Bedeutung von Bildung für Kinder bewusst. Die Eltern in den Slums versuchen, für die Bildung der Kinder zusätzlich Geld zu verdienen, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. “I work in two houses. I spend all of my money for my elder daughter‘s study. My husband spends his money for the family. [...] I got many wishes for her future. I want my daughter to be a scholar with a good job. I don’t want to see my daughter working as a servant. So I always tell my daughter to study well and be a strong woman. I don’t want to see her in the slum.” (Hausangestellte aus Madaripur, die seit 30 Jahren in Maghbazar lebt)

Die Ursache für die zahlreichen Kinder, die nicht in die Schule gehen, ist in den finanziellen Problemen zu suchen. Vorrangig die Ausgaben für Schulbücher und Schulkleidung oder die Ausgaben für den Transportweg zur nächsten „Highschool“ stellen oft unüberwindbare Hindernisse dar. Manche Haushalte sind finanziell auf die geringen Einkünfte ihrer Kinder mit angewiesen. In der Altersgruppe der Grundschulkinder gibt es den Fall einer Neunjährigen, die bereits als Hausangestellte arbeitet. In der Altersgruppe der Zehn- bis Fünfzehnjährigen sind die Anteile bereits höher: In 30 Prozent der Haushalte (N=198) tragen Jungen bereits zum Familieneinkommen bei. In 19 Prozent der Haushalte (N=137) tragen Mädchen zum Einkommen bei. Der Anteil der arbeitenden Kinder im Grundschulalter ist höher, als die Daten dies widerspiegeln. Die Kinder aus Slum-Familien, die arbeiten, leben an dem Arbeitsort (z.B. Hausangestellte). Diese werden nicht mehr zum Haushalt dazugezählt und die Kinder werden auch nicht als Slum-Bewohner bewertet.

170

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Tab. 16: Bildungsniveau der Haushalte in den Untersuchungsgebieten.

Altersgruppe/ Geschlecht

Alle im Haushalt können Lesen und Schreiben.

Keiner im Haushalt kann Lesen und Schreiben.

Gesamt (über 5 Jahre) (N=590)

25% der Haushalte

20% der Haushalte

Männer (N=586)

50% der Haushalte

33% der Haushalte

Frauen (N=608)

34% der Haushalte

44% der Haushalte

9 Jahre < Alter < 16 Jahre

Alle besuchten zum Zeitpunkt der Befragung die Highschool.

Keiner besuchte zum Zeitpunkt der Befragung die Highschool.

Jungen (N=198)

45% der Haushalte

50% der Haushalte

Mädchen (N=137)

50% der Haushalte

46% der Haushalte

5 Jahre < Alter < 10 Jahre

Alle besuchten zum Zeitpunkt der Befragung die Grundschule.

Keiner besuchte zum Zeitpunkt der Befragung die Grundschule.

Jungen (N=164)

44% der Haushalte

52% der Haushalte

Mädchen (N=156)

50% der Haushalte

44% der Haushalte

über 15 Jahre

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Fähigkeit zu arbeiten Die Fähigkeit zu arbeiten umschließt die physische und psychische Fähigkeit. Entsprechend dem niedrigen Bildungsniveau in den Untersuchungsgebieten finden sich vorrangig Tätigkeiten, die keine formale Bildung voraussetzen. 80 Prozent der Haushalte weisen Familienmitglieder auf, die informell beschäftigt sind (N=625). Tab. 17 zeigt die Verteilung der Berufe. In den Untersuchungsgebieten ist die größte Gruppe die der Hausfrauen. Über ein Viertel der Frauen über 15 Jahren sind ausschließlich als Hausfrauen tätig. Für das traditionell geprägte Bangladesch ist dieser Wert gering. Bereits hier wird die Notwendigkeit deutlich, dass möglichst viele Haushaltsmitglieder zum Einkommen beitragen. In der Gruppe der informell geprägten Berufe ist der größte Anteil jener der Fabrikarbeiter, wobei in den Fabriken Männer und Frauen tätig sind. Zusammen mit den Gruppen der RikschaFahrer (nur Männer), Hausangestellten (fast ausschließlich Frauen), der Tagelöhner (sowohl Männer als auch Frauen) und „Andere“ – Straßenhändler (nur Männer), Müllsammler (Männer und Frauen), Kellner (nur Männer), Putzpersonal (Männer und Frauen) und Wachpersonal (nur Männer) – arbeiten 57 Prozent der SlumBewohner in Berufen, die stark informell geprägt sind. Die Gruppe der Hausfrauen

171

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

stellt eine Sonderrolle dar, da die Frauen kein Einkommen im eigentlichen Sinn erwirtschaften. Die Tätigkeiten der Geschäftsmänner, Chauffeure und Ladeninhaber weisen formale Kriterien auf, da es Einstellungsvoraussetzungen gibt. In dieser Gruppe waren nur 15 Prozent der Slum-Bewohner tätig. Tab. 17: Charakteristika der Haushaltsvorstände in Abhängigkeit ihres ausgeübten Berufes.

Anteil der SlumBewohner (N=1478)

Monatseinkommen des Haushaltsvorstandes (ø, N=412)

Dauer des Aufenthalts des Haushaltsvorstandes (ø, N=622)

Alter des Haushaltsvorstandes (ø, N=617)

Hausfrau

28%

nicht erhebbar

16,7 Jahre

50,5 Jahre

Fabrikarbeiter (m/w)

19%

BDT 4.980

14,4 Jahre

36,8 Jahre

Rikscha-Fahrer (m)

12%

BDT 4.740

9,5 Jahre

40,1 Jahre

Hausangestellte (w)

12%

BDT 2.330

13,3 Jahre

43,2 Jahre

Tagelöhner (m/w)

9%

BDT 4.400

12,2 Jahre

44,0 Jahre

Geschäftsmann (m)

8%

BDT 6.250

17,1 Jahre

45,1 Jahre

Chauffeur (m)

4%

BDT 6.710

10,1 Jahre

36,5 Jahre

Ladeninhaber (m/w)

3%

BDT 5.670

15,2 Jahre

53,6 Jahre

Andere (m/w)

5%







m: Männer w: Frauen

Quelle: Eigene Erhebung 2009. Anmerkungen: Die Spalte „Anteil der Slum-Bewohner“ gilt für die einzelnen Personen in den Slums. Die Durchschnittswerte (Monatseinkommen, Dauer des Aufenthalts, Alter des Haushaltsvorstandes) beziehen sich darauf, wenn der Haushaltsvorstand den entsprechenden Beruf ausübte.

Die eher formell geprägten Berufe wiesen ein signifikant höheres Monatseinkommen des Haushaltsvorstandes auf (ø=BDT 6.340) als die informell geprägten (ø=BDT 4.430, T-Test, p=0,000, N=438). Aber die Daten belegen, dass es für „Neuankömmlinge“ schwierig ist, formelle Berufe auszuüben. Die Dauer des Aufenthalts ist bei jenen Haushaltsvorständen signifikant höher, welche formell geprägte Tätigkeiten ausüben (formell: 14,8 Jahre, informell: 11,2 Jahre, T-Test, p=0,005, N=447). Das geringe Durchschnittsalter der Fabrikarbeiter ist auf den hohen Anteil junger Frauen (18–25 Jahre) in der Bekleidungsindustrie zurückzuführen. Arbeitslosigkeit ist in den Untersuchungsgebieten ein vergleichsweise geringes Problem. Während im landesweiten Vergleich 18 Prozent der Haushaltsvorstände in ländlichen Regionen und 17 Prozent in städtischen Regionen keine Arbeit ausüben (vgl. Bangladesh Bureau of Statistics 2011b: 12), sind in den Untersuchungsgebieten nur sieben Prozent der Haushaltsvorstände ohne Beruf (N=624). Auf Haushaltsniveau finden sich nur vier Prozent der Haushalte, bei denen kein einziger der 16-

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

bis 59-jährigen Männer arbeitet. Bei 87 Prozent der Haushalte arbeiten sogar alle 16- bis 59-jährigen Männer (N=564). Bei den über 59-jährigen Männern ist der Anteil der Arbeitenden mit 74 Prozent hoch (N=94). Bei den Frauen sind diese Werte erneut deutlich geringer, aber es zeigt sich, dass immer noch viele der Frauen zum Einkommen beitragen: In 40 Prozent der Haushalte arbeiten alle 16- bis 59-jährigen Frauen, bei 54 Prozent der Haushalte arbeitet hingegen keine der 16bis 59-jährigen Frauen (N=587). Von den insgesamt 72 Frauen über 59 Jahren arbeiten noch 26 Prozent (19 Personen). In 25 Haushalten (4 Prozent) leben jeweils eine Frau und ein Mann mit über 59 Jahren, in 114 Haushalten (18 Prozent) lebt entweder eine Frau oder ein Mann mit über 59 Jahren. In 78 Prozent der Haushalte lebt somit keine Person im Ruhestandsalter. Dies und der überraschend hohe Anteil der arbeitenden über 59-jährigen Personen verdeutlicht, dass die Personen, die nicht mehr zum Einkommen beitragen können, vorrangig nicht mehr im Slum leben. Das Verhältnis der Erwerbstätigen zu der Anzahl der Haushaltsmitglieder zeigt, dass bei 25 Prozent der Haushalte mehr als zwei Drittel, bei 49 Prozent der Haushalte jeder Zweite und bei 25 Prozent der Haushalte weniger als ein Drittel erwerbstätig sind (N=625). In den Haushalten, bei denen mehr als die Hälfte der Haushaltsmitglieder arbeiten, verdienen die Haushaltsvorstände signifikant weniger (ø=BDT 4.100/Monat) als in den anderen Haushalten (ø=BDT 5.380/Monat, T-Test, p=0,000, N=612). Das Haushaltseinkommen hingegen unterscheidet sich zwischen den beiden Gruppen nicht signifikant (ø0,5=BDT 6.850, T-Test, p=0,636, N=583). In den Haushalten, in denen mehr Familienangehörige zum Einkommen beitragen, ist der Haushaltsvorstand vorrangig in einem informell geprägten Beruf tätig (2x2-Kreuztabelle, Chi-Quadrat-Test, p=0,040, N=412). Demnach sind in den Haushalten mehr Erwerbstätige zu finden, bei denen die Einkommen der Hauptverdienenden nicht ausreichen. Dies ist vorrangig bei den informell geprägten Berufen der Fall. Obwohl mehr Familienmitglieder zum Einkommen beitragen, ist das Haushaltseinkommen nicht signifikant höher. Diese statistische Auswertung unterstreicht die Problematik der informell geprägten Tätigkeiten. Diese wird auch aus einem Interview deutlich: “What benefit do we get from our work in the rich households? When we work a whole day we get 200 to 500 Taka per week. Is that a salary? It is hardly enough to pay our consumption of betel leaf!” (Hausangestellte während des Gruppengesprächs in Khilket)

Dennoch zeigen die Daten, dass trotz des niedrigen Einkommensniveaus in den informellen Tätigkeiten die Haushalte durch zusätzliche Einkünfte in der Lage sind, ein Einkommen zu erwirtschaften, das mit den formell geprägten Tätigkeiten vergleichbar ist. Und es zeigt sich insgesamt, dass die Slum-Bewohner durch ihren Aufenthalt in dem Slum vielfältige Arbeit finden und ausüben können. Allerdings sind die informellen Beschäftigungen nicht nur mit geringen Einkünften verbunden, sondern auch mit harten Arbeitsbedingungen, meist ohne jegliche Schutzmaßnahmen, die oft zu Krankheitsfällen führen. “My husband often pulls one day the rickshaw, and the next day he is sick. It is too strenuous for him to do that work.” (Hausangestellte während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1)

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

173

“We can do the laundry only for two or three hours. It is impossible to wash the clothes for longer than that. It is septic to our hands and nails.” (Hausangestellte während des Gruppeninterviews in Khilket)

Zum Zeitpunkt der Befragung war in 58 Prozent der Haushalte mindestens eine Person ernsthaft krank. Die Hälfte der Krankheiten dauert bereits seit über drei Jahren an und nur ein Viertel der Kranken war kürzer als ein Jahr erkrankt (N=356). Krankheiten, die medizinisch behandelt werden müssen und die Person an der Arbeit (zumindest teilweise) hindern, werden als „ernst“ bezeichnet. Allerdings ist nur bei sechs Prozent der Haushalte mindestens eine Person so krank, dass sie durchgehend nicht arbeiten kann (N=625). Es ist erstaunlich, dass 45 Prozent der befragten Personen ihre Gesundheit als ordentlich oder sogar gut einstuften. Die gesundheitliche Situation ist im Alltag also eher selten ein Hinderungsgrund, einer Arbeit nachzugehen. Dennoch ist es einleuchtend, dass die Gesundheit durch die Lebensund Arbeitsbedingungen auf lange Sicht stark belastet wird und das Immunsystem der Slum-Bewohner wenig Reserven für zusätzliche Belastungen aufweist. Die kurze Beschreibung eines Rikscha-Fahrers führt dies exemplarisch am Beispiel der Slums neben den Gerbereien in Hazaribag 2 vor Augen: “Of course, there is bad smell. There is gas, people are casting garbage. Sometimes there is so much bad smell we can’t stay here. Hazaribag area is very dirty. This is a dirty place because it is a tannery place. If one man falls into a drain we can’t make him alive after five minutes.” (Rikscha-Fahrer in Hazaribag 1)

Individuelle Fähigkeiten Als relevante individuelle Fähigkeiten sind in dieser Arbeit persönliche Erfahrungen im Umgang mit Überschwemmungen zu zählen. Überschwemmungen treten in Bangladesch so häufig auf, dass jeder Erwachsene bereits mehr als eine Überschwemmung erlebt hat. Etliche der Slum-Bewohner wiederum lebten auch in ihren Heimatdörfern in benachteiligten Regionen und erlebten mehrere große Überschwemmungen. Dadurch stellen Überschwemmungen grundsätzlich bekannte Erscheinungen dar und Handlungsabläufe werden „automatisch“ durchgeführt. Da auch Krisen in Slums häufig auftreten, sind allgemeine Bewältigungsmaßnahmen geläufig, Zufluchtsorte und Anlaufstellen sind bekannt.

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Tab. 18: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Humankapitals in Slum-Haushalten.

Ausprägung des Humankapitals

Anteil der Haushalte

Bildung Alphabetisierungsrate (Personen über 15 können Lesen und Schreiben.)

Männl. Haushaltsvorstand: 48% (N=525) Weibl. Haushaltsvorstand: 32% (N=100)

Keine(r) der Männer/Frauen/keines der Mitglieder der über 15-Jährigen kann Lesen und Schreiben.

33% (N=586) 44% (N=608) 20% (N=590)

Kein Junge/Mädchen zwischen 5 und 9 Jahren im Haushalt besucht regelmäßig die Schule.

52% (N=164) 44% (N=156)

Beruf Familienmitglieder sind in informell geprägtenTätigkeiten beschäftigt.

80% (N=625)

Jungen/Mädchen zw. 10 und 15 tragen zum Haushaltseinkommen bei.

30% (N=198) 19% (N=137)

Alle der 16- bis 59-jährigen Männer/ Frauen sind beschäftigt.

87% (N=564) 40% (N=587)

Gesundheit Mindestens ein Haushaltsmitglied ist 58% (N=625) von einer ernsten Erkrankung betroffen. Mindestens ein Haushaltsmitglied ist arbeitsunfähig.

6% (N=625)

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Zusammenfassend zeigt sich in den Untersuchungsgebieten nur ein niedriges Niveau an Humankapital. Die Familienstruktur und die Erfahrung stärkt das Humankapital der Haushalte. Viele der Haushaltsmitglieder sind in einem Beschäftigungsverhältnis. Diese ermöglichen jedoch nur geringe Einkünfte. Zusammen mit dem niedrigen Grad an Gesundheit und formaler Bildung sind die Haushalte sehr anfällig für Krisen, was mit einer hohen „baseline vulnerability“ bezeichnet werden kann. Eine Übersicht der Elemente des Humankapitals befindet sich in Tab. 18.

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

175

6.2.2.4 Sozialkapital Ein Koch aus Hazaribag 1 (siehe Zitat S. 177) deutet an, dass die Personen in den Slums sich gegenseitig helfen, weil daran „kein Weg vorbeiführe“. Gemeint ist damit, dass die Personen keine andere Möglichkeit haben, als sich gegenseitig zu helfen. Das Sozialkapital ist in den Slums eine starke Ressource, die auf verschiedenen Grundlagen aufbaut. Bestehende Netzwerke in den Untersuchungsgebieten Ein Fünftel der Haushaltsvorstände in den Untersuchungsgebieten stammt entweder direkt aus Dhaka (14 Prozent) oder aus angrenzenden Distrikten (sechs Prozent). 49 Prozent stammen aus der näheren Umgebung (zwischen 50 und 100 km entfernt) und 31 Prozent stammen aus entfernteren Distrikten (N=625). Vier Fünftel der Haushaltsvorstände sind somit Migranten. Schließende Netzwerke Abb. 8 zufolge sind die bestehenden Netzwerke eine wichtige Ursache dafür, dass der Haushalt in einen bestimmten Slum zieht (und nicht woandershin). Dies wurde auch in den Interviews immer wieder betont: “A known person gave us shelter when we came here. [...] We are from the same village, he knows us, that is why he brought us here.” (Geschäftsfrau aus Kishoreganj während des Gruppeninterviews in Khilket) “I have many relatives here. [...] They brought me here.” (Maurer aus Barisal während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1)

Die Bekannten sind dabei üblicherweise entweder Personen aus dem eigenen Dorf oder Verwandte, wie aus den Zitaten deutlich wird. 60 Prozent der befragten Haushalte gaben an, dass mindestens ein Verwandter auch in dem Slum lebt (N=622). 59 Prozent davon (N=376) leben mit zehn oder mehr Verwandten in dem Slum. Ein weiterer Grund ist in der Lebensweise in den Slums zu finden. Der begrenzte Wohnraum limitiert die Privatsphäre, fördert einen Austausch unter den Nachbarn und fordert eine Kompromissbereitschaft. Dies führt jedoch selten zu Streitigkeiten. 85 Prozent der Haushalte geben an, dass sie gute oder sogar sehr gute nachbarschaftliche Beziehungen pflegen (N=624). Dieses positive Plateau ermöglicht es Haushalten, die zunächst keine Verwandten oder Bekannten in dem Slum haben, eine soziale Basis aufzubauen: “I live here for a long time. In the first time I requested some people to give me a job, then they gave me a job, I requested some to give me a rickshaw and they gave me. Then I lived in a mess [dormitory] with some other people and after that we are getting familiar with each other. I have so many friends here now.” (Rikscha-Fahrer aus Madaripur, der mit seiner Familie in Maghbazar lebt.)

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Im alltäglichen Handeln schlagen sich diese Netzwerke in gegenseitiger Unterstützung nieder. 77 Prozent der Haushalte helfen sich bei der Wäsche, dem Kochen und in schwierigen Situationen. Zusätzliche acht Prozent unterhalten sich immerhin über persönliche Probleme (N=624). Auch in den Gruppeninterviews wird die gegenseitige Nachbarschaftshilfe betont: “We help each other generally. [...] It may be financial help. [...] When I am in crisis, I can turn to someone and he will help me.” (Einheitlicher Tenor der Teilnehmer des Gruppeninterviews in Hazaribag 1) “In the slum, we have good relation with surrounding people. We can borrow rice, salt, oil from the slum people. Then we return that. We can do this type of exchange in the slum. [...] My neighbour will ask me, whether I ate today. If I did not, she will offer me to eat with her.” (Auszug aus dem Gruppeninterview mit Frauen in Goda Tek)

Brückenbildende und hierarchieübergreifende Netzwerke Das letzte Zitat zeigt, dass die Slum-Haushalte durchaus zu anderen Personengruppen (in dem Fall den Vermietern) gute Beziehungen pflegen können. Die Vermieter verfügen über Autorität und in vielen Fällen über Vertrauen. Ein Drittel der Befragten sehen in den Vermietern eine Instanz, um Streitigkeiten in den Slums zu schlichten (N=648, Mehrfachnennungen). Dies drückt die Bedeutung der Vermieter aus, allerdings sehen auch hier deutlich mehr Menschen (63 Prozent) in der Nachbarschaft das Potential, die Probleme selbst zu lösen. Arbeitskollegen, Arbeitgeber, Vermieter oder Slum-Bewohner anderer Slum-Cluster spielen im Alltag keine so große Rolle und werden in der Regel ausschließlich in Krisenfällen um Hilfe gebeten. So berichtet eine Hausangestellte aus Maghbazar, dass der Slum vor dem Anschluss an das Wassernetz Wasser durch brückenbildende oder hierarchieübergreifende Netzwerke erhielt: “We got water from the Mosque and from neighbours [outside the slum]. Some time they gave and some time they did not.”

Zwischen den Bewohnern verschiedener Slum-Cluster oder den Slums und den umgebenden Mittelschichtssiedlungen bestehen im Alltag kaum Kontakte. Die Interviews legen den Schluss nahe, dass der Mangel an brückenbildenden und hierarchieübergreifenden Netzwerken es den Slum-Haushalten erschwert, den Slum zu verlassen. Eine Interviewpartnerin bestätigte, dass das Verlassen der Slums für einen Haushalt problematisch ist: “If we move from this known place, it will be big problem to us. It needs a known person everywhere. [...] If we leave this place and we go to another place then we can’t speak a single word without hesitation. Here today if I have any kind of problem, I would solve it very easily. I can manage 200 Taka so soon.” (Hausfrau in Khilket)

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

177

Eine Sonderrolle der hierarchieübergreifenden Kontakte nehmen die NGOs ein, die sich für Entwicklungsperspektiven der Slum-Haushalte einsetzen. 38 Prozent der Haushalte sind in NGO-Aktivitäten involviert. Neben der Errichtung von Sanitäranlagen und Pumpbrunnen bieten die NGOs in den Slums vorrangig das Mikrokreditprogramm (78 Prozent der teilnehmenden Haushalte) und Schulen für Kinder (17 Prozent) an (N=249, Mehrfachnennungen). Bis dato sind die NGOs in Dhaka noch relativ gering vertreten, vor allem in Bezug auf die erreichte arme städtische Bevölkerung. Ein Hauseigentümer in Hazaribag 1 berichtet über das Engagement der NGO DSK: “After we proved to the NGO that we got several children they started a school here. They also provided medical treatment from there. After that they started to build the latrines and the tube wells. They told us that we have to organize one third of the money necessary for the construction.”

Normen Ein weiterer Grund für die starken – vor allem schließenden – Netzwerke liegt in der festen Verankerung von Normen. Das Gemeinschaftsgefühl ist unter den SlumBewohnern sehr stark ausgeprägt und wird individuell nicht hinterfragt, wie diese Äußerungen exemplarisch zeigen: “We poor people always feel for each other. The rich people do not feel for us. The people here in the slum – we all belong together.” (Auszug aus dem Gruppeninterview mit Frauen in Goda Tek) “We have to stay together – to take care of each other and always be careful for each other.” (Mann in Khilket auf die Frage, wie Überschwemmungen auch in Zukunft zu bewältigen sind) “Does the frog get a cold? Whole day the frog lives in the water, but in the evening it sounds and is not ill. And again when it sees people then it jumps into water. Frogs get around - these are frogs so frogs have to help each other. There is no other way.” (Koch aus Hazaribag 1 auf die Frage, wie sein Haushalt die Überschwemmung von 2007 bewältigt hat.)

Die Äußerung des Kochs bezieht sich auf das bengalische Sprichwort: „Banger shordi hoi na!“ (Ein Frosch bekommt keine Erkältung.) Der Zusammenhalt aufgrund der Ausweglosigkeit wird auch in dem folgenden Gesprächsteil deutlich: Person 1: “When one falls in danger then his neighbour donates as like 10 Taka, 20 Taka, 2 Taka, they help in this way.” Person 2: “When this doesn’t solve the problem, then the person just suffers.” Person 3: “No! Up to his death we help him, if he dies there is nothing to do. We help as we can.” (Koch und zwei Fabrikarbeiter in Hazaribag 2 zur Solidarität im Slum)

Die Not in den Slums und die geringen Ressourcen ermöglichen aus der Sicht der Slum-Bewohner keine andere Alternative, als sich gegenseitig zu helfen. Aufgrund dieses Gemeinschaftsgefühls sind sog. Trittbrettfahrer, also Personen, die das System ausnutzen, unwahrscheinlich. Erstens nimmt die Mehrheit der Slum-

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Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Bewohner die Hilfestellungen nur im Bedarfsfall an. Und zweitens werden Trittbrettfahrer schnell erkannt und nicht mehr unterstützt. Die Ressourcen sind derart begrenzt, dass die Slum-Gemeinschaft es sich nicht leisten kann, Trittbrettfahrer zu tolerieren. Die Norm der Gemeinsamkeit wird auch z.B. in folgenden Äußerungen deutlich: “Our neighbours support us when we need more than we have, but of course, we return it next time.” (Hausfrau während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1) Person 1: “We are poor. If we take from other, we will return. We give the old sharee/clothes. We get so poor salary. This is why we give 2 Taka or 5 Taka.” Person 2: “We give according to our ability.” (Zwei Tagelöhnerinnen während des Gruppeninterviews in Khilket) “Suppose my husband’s income is handsome, but her husband’s income is not good, so she may tell me to help her in any way. Then if possible I will give her one KG rice or 10 Taka. Mean this is the system, what else.” (Frau eines Vermieters in Hazaribag 1 während des Gruppeninterviews) “We explain them the important things. And we help each other with little bit of money. When I have something, the other needs it, I help him. We help each other because we are neighbours. We are a community here. 45 households. When I am in need, the others help me.” (Schreiner aus der Hindu-Minderheit in Dakshingaon) “We help each other generally. [...] It may be financial help. [...] When I am in crisis, I can turn to someone and he will help me.” (Tagelöhner in Hazaribag 1 während des Gruppeninterviews)

Für die Slum-Bewohner ist diese Hilfsleistung und die Gegenseitigkeit eine Selbstverständlichkeit. 83 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass eine Person, der sie helfen, sich später bei Gelegenheit revanchieren wird. Nur sechs Prozent sind sich sicher, dass die Person das nicht tun wird (N=625). Auch die Norm des „enforceable trust“ (Systemvertrauen) ist bei den Befragten stark verankert: 77 Prozent meinen, sie erhalten für eine Hilfe ihrerseits auch eine entsprechende Gegenleistung von der Gesellschaft. Nur sieben Prozent haben kein Vertrauen in die Gesellschaft (N=624). Auch die religiöse Überzeugung spielt bei manchen Haushalten eine Rolle: “The money which we spend for helping someone is in the path of the Almighty. We will get our benefit for it. According to my ability we gave food to many people.” (Rikscha-Fahrer während des Gruppeninterviews in Goda Tek)

Hilfsleistungen sind in der islamischen Tradition tief verankert. Die Gabe von Spenden (im Koran mit „Sadaqah“ bezeichnet) ist eng mit der Läuterung (Zakat) verbunden, ein hohes Ziel des Islam. Dazu gehört die Verpflichtung, einen gewissen Prozentsatz seines Einkommens an arme Verwandte und andere arme Personen zu verschenken.

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

179

Vertrauen Neben dem Systemvertrauen ist das spezifische Vertrauen in die Nachbarn und Verwandten hoch. 48 Prozent vertrauen anderen, dass sie Versprechen einhalten (z.B. die Rückzahlung eines Kredits). Weitere 48 Prozent sind sich zumindest teilweise sicher, dass die Person sich anständig verhalten wird. Lediglich vier Prozent haben diesbezüglich kein Vertrauen (N=624). Das Vertrauen ist eng an das schließende Netzwerk gebunden. Die Haushalte kennen sich untereinander und ein Fehlverhalten würde sanktioniert. Der Bekanntheitsgrad ist dabei wesentlich: Kennt man einen Haushalt, so erhält dieser Zugang zu Ressourcen. Kennt man ihn nicht, wird der Zugang verweigert. Deshalb ist es jeweils notwendig, dass ein neues Mitglied von einem alten, bereits bekannten Kontakt „eingeführt“ wird. Diese „introduction“ (bengalisch: „proborton“) ist die entscheidende Voraussetzung für Arbeit und Kredite (siehe auch Kap. 7.3.3): Frage: “What do you have to do when you want to become a rickshaw-puller?” Antwort: “If you have some known people here then it’s no problem.” Frage: “Do you make any contract with the rickshaw-owner, or do you have to pay some deposit money?” Antwort: “No, it is enough when you know the rickshaw-owner.” (Interview mit einem RikschaFahrer in Dakshin Gaon) “We can’t run [our life] if there is no introduction. [...] I am staying here, I can’t get the loan from another place. There is no loan without the introduction.” (Interview mit einem Vermieter in Khilket)

Kriminalität Die Sorge vor Verbrechen innerhalb der Slums ist ein Indikator für den Zusammenhalt der Slum-Haushalte und dem Vertrauen in die Nachbarn. In den Untersuchungsgebieten wurde vermittelt, dass Verbrechen und Diebstähle eher kein Problem seien. 87 Prozent der befragten Haushalte bewerten ihre Umgebung als sicher oder sogar sehr sicher in Bezug auf Kriminalität. Die Studie von Shafi (2010: 6) deutet im Gegensatz dazu ein anderes Bild an: Über 50 Prozent der Einwohner Dhakas bewerten die Stadt im Hinblick auf Kriminalität insgesamt als „gefährlich“. Dieser Unterschied überrascht und ist in der Deutlichkeit schwer nachvollziehbar. Dennoch wurden in den Interviews und der Erhebung mit einer Ausnahme81keine Probleme mit Kriminalität geäußert. Charakteristisch war eher folgende Erläuterung: “If we live in a wealthier area the dacoits [Diebe] enter our house and do their duty. Here there is no problem like that. We have no money, no tension. We have no money that remains after buying food. This is why the dacoits don’t attack us.” (Hausfrau während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1)

8

In Hazaribag 2 wurde von einem Eigentümer erzählt, dass in der vorangegangenen Nacht eine Gruppe von Fremden mit Schusswaffen die Hütten stürmten und drei seiner Kühe entwendeten.

180

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Das hohe Maß an gegenseitigem Vertrauen und persönlichen Kontakten legt nahe, dass die Kriminalitätsrate unter den Slum-Bewohnern gering ist, und es scheint, dass dieser Zusammenhalt und die verhältnismäßig niedrigen finanziellen Ressourcen in den Slums Diebe abschrecken. Eine Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Sozialkapitals in den Untersuchungsgebieten bietet Tab. 19. Tab. 19: Übersicht über die Ausprägungen des gegenwärtigen Sozialkapitals in Slum-Haushalten. (N=625, falls nicht anders angegeben).

Ausprägung des Sozialkapitals

Anteil der Haushalte

Schließende Netzwerke Herkunft der Haushaltsvorstände

Dhaka: 14% An Dhaka angrenzende Distrikte: 6% Nähere Umgebung von Dhaka: 49% Mehr als 100 km entfernt: 31%

Haushalte, die mit mehr als neun Verwandten im selben Slum wohnen

35%

Gute oder sehr gute Beziehung zu den Nachbarn

85%

Gegenseitige Hilfe unter den Nachbarn bei alltäglichen Arbeiten und schwierigen Situationen

77%

Hierarchieübergreifende Netzwerke Akteure beim Schlichten von Streitigkeiten im Slum sind am ehesten:

Nachbarschaftsgruppen: 63% Vermieter: 34% (N=648, Mn.)

Mitglied in einer lokalen NGO

38%

NGO-Programme

78% Mikrokreditprogramm, 17% Bildung (N=249, Mehrfachnennung)

Normen Spezifische Gegenseitigkeit ist üblich.

83%

„Systemvertrauen“

77%

Vertrauen Spezifisches (gegenseitiges) Vertrauen in andere Personen, z.B. beim Verleih von Geld

Hohes spezifisches Vertrauen: 96% Kein spezifisches Vertrauen: 4%

Sicherheitsgefühl in dem Slum

Hohes Sicherheitsgefühl: 87%

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

181

Aktuelle Situation der Slum-Haushalte in Dhaka

6.2.3 Zusammenhänge zwischen den Lebensgrundlagen Für die betroffene arme Bevölkerung ist es problematisch, dass die Lebensgrundlagen grundsätzlich zusammenhängen. Ein niedriges Humankapital geht fast immer mit niedrigem Finanzkapital und schlechtem physischen Kapital einher. Darauf deuten auch die Daten der Erhebung tendenziell hin. Das Haushaltseinkommen korreliert zwar schwach aber signifikant mit dem Anteil der Kinder (zwischen fünf und 15 Jahren), welche die Schule besuchen (k=0,124, p=0,014), und dem Anteil der Erwachsenen (über 15 Jahren), die nicht lesen und schreiben können (k=–0,219, p=0,000). Ein Vergleich der Monatseinkünfte von Haushalten deutet den Zusammenhang zwischen dem Finanzkapital und dem physischen Kapital an: Die durchschnittlichen Einkünfte von Haushalten in Zementhäusern liegen bei BDT 8.440, in Wellblechhütten bei BDT 6.640 und in Bambushütten bei BDT 5.710. Die Mittelwertunterschiede sind statistisch hoch signifikant (T-Tests, p=0,000, N=581). In den Untersuchungsgebieten sind die Zusammenhänge zwischen Finanzkapital, Humankapital und physischem Kapital auf der einen Seite und Sozialkapital auf der anderen Seite jedoch reziprok. Für die statistische Auswertung dieses Zusammenhanges wurden die Haushalte mittels einer Clusterzentrenanalyse in Gruppen mit hohem und mit niedrigem Sozialkapital eingeteilt. Die Clusterzentrenanalyse berechnet die Cluster aufgrund der einfachen euklidischen Distanz und erlaubt die Verwendung von hohen Fallzahlen und ordinal-skalierten Variablen. Die Anzahl von zwei Clustern wurde vom Autor vorgegeben. Die in der Clusterzentrenanalyse verwendeten Variablen sind in Tab. 20 aufgeführt. Tab. 20: Variablen, die in die Clusterzentrenanalyse einfließen.

Variable

Skala

Ausprägung

Interaktion mit den Nachbarn

Ordinal

Helfen sich im Alltag und während Krisen Besprechen Probleme Keine Interaktion oder Streit

Beziehung zu den Nachbarn

Ordinal

Sehr gut/Gut (Anteilnahme) Mittel (Neutral) Schlecht (Missgunst)

1 2 3

Vertrauen in die Nachbarn in Bezug auf das Leihen von Geld (z.B. BDT 100)

Ordinal

Ja, sehr Ja, aber mit Vorsicht Nein

1 2 3

Existenz von Freunden, mit denen Probleme besprochen werden können

Ordinal

Ja, viele Ja, einen Niemanden

1 2 3

Quelle: Eigener Entwurf.

Klassifikation 1 2 3

182

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Die aus der Clusterzentrenanalyse gewonnenen Cluster lassen sich gut interpretieren. Der eine Cluster fasst die Haushalte zusammen, die über ein hohes Sozialkapital verfügen (Anzahl der Haushalte: 475), und der andere Cluster diejenigen mit einem niedrigeren Sozialkapital (Anzahl der Haushalte: 145). Die Ergebnisse der Kreuztabellen sind in Tab. 21 zusammengefasst und zeigen die jeweils signifikanten Zusammenhänge. Die Solidarität innerhalb der Slum-Gemeinschaft ist in den Haushalten mit hohem Sozialkapital ebenfalls stärker ausgeprägt. Tab. 21: Auszüge aus den Ergebnissen der Kreuztabellen zwischen den Clustern des Sozialkapitals und Variablen, die als Indikator für Sozialkapital dienen (N=620).

Variablen, die in die Clusteranalyse einfließen:

Chi-Quadrat-Test

Cluster mit hohem Sozialkapital erfassen... ...Haushalte, die eher zusammen interagieren.

p=0,000

...Haushalte, die eine gute Beziehung zu ihren Nachbarn pflegen.

p=0,000

...Haushalte, die ihren Nachbarn vertrauen.

p=0,000

...Haushalte, die Freunde für psychische Unterstützung haben.

p=0,007

Weitere Variable, als Indikator für Sozialkapital: ...Haushalte, die der Gemeinschaft vertrauen, im Krisenfall zusammenzuhalten.

p=0,005

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Das Sozialkapital ist bei jenen Haushalten stärker ausgeprägt, die ein geringeres Finanzkapital und ein geringes physisches Kapital aufweisen: Haushalte mit hohem Sozialkapital verdienen durchschnittlich BDT 6.250 pro Monat, Haushalte mit niedrigem Sozialkapital hingegen BDT 8.170 pro Monat (T-Test, p=0,000, N=579). Eine Kreuztabelle zwischen den Clustern des Sozialkapitals und der Gruppen des Finanzkapitals zeigt, dass es tendenziell weniger Haushalte mit gleichzeitig geringem Sozialkapital und sehr geringem bzw. geringem Finanzkapital gibt (Chi-Quadrat-Test, p=0,019, N=568). Allerdings gibt es tendenziell mehr Haushalte, die gleichzeitig ein geringes oder sehr geringes Finanzkapital, aber ein hohes Sozialkapital haben. Sozialkapital ist somit als Ausgleich für die fehlenden Lebensgrundlagen zu verstehen. Auf Sozialkapital kann auch dann zurückgegriffen werden, wenn andere Mechanismen versagen. Insgesamt lässt sich somit der Slum als Ort der Verzweiflung und auch der Möglichkeiten beschreiben (in Anlehnung an Chambers 2005). Trotz der vorhandenen Möglichkeiten dominieren jedoch die Probleme der befragten Slum-Haushalte. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der mangelnden Perspektive zu verstehen, den Slum in mittelbarer Zukunft verlassen zu können.

Entwicklungsperspektiven in Slums von Dhaka

183

6.3 ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVEN IN SLUMS VON DHAKA Die erhobenen Daten erlauben Rückschlüsse auf die sozioökonomische Veränderung durch die qualitativen Aussagen der Interviewpartner und durch die bivariaten Analysen der Verweildauer des Haushaltsvorstandes. Zunächst soll die Entwicklungsperspektive aus der Sicht der Slum-Haushalte wiedergegeben werden. 6.3.1 Entwicklungsperspektiven aus Sicht der befragten Slum-Bewohner Die Antworten auf die Fragen bezüglich der Wünsche, wie die eigene Zukunft aussehen soll, lassen sich in drei Gruppen einordnen. Die erste Gruppe von Antworten bezieht sich auf den Willen Gottes: Die Befragten geben an, dass die Zukunft in die Hand Gottes gelegt und nicht aktiv geplant wird, wie z.B. in der folgenden Aussage: “Allah is one and He has created us. I need the work. And I have strength now. I am doing my work. Allah knows what I will do next time.” (Vermieter in Hazaribag 1)

Auch das in Bangladesch sehr geläufige Sprichwort „Allah dibe, Allah nibe.“ (Gott gibt und Gott nimmt) zeugt hiervon. Vieles Unverständliche und Schicksalhafte wird in die Hände Gottes gelegt und somit nicht weiter hinterfragt. In engem Zusammenhang damit fallen die Antworten der zweiten Gruppe fatalistisch aus. Aus diesen Antworten wird deutlich, dass etliche der Slum-Bewohner keine Möglichkeit sehen, Wünsche umzusetzen und die Zukunft zu planen. In den Antworten wird auch Hoffnungslosigkeit deutlich, wie das folgende Beispiel erkennen lässt: “What will we do? May be there will be an accident then what we will do? Then how Allah guides I will do. One child is five years old but another one is four years old. I will admit them this year [to school]. Both are sons. [...] They can do anything when they are older. My life is ending. I came from a poor family and I have nothing.” (Vermieter in Hazaribag 1)

Die dritte Gruppe der Antworten zeugt von der Hoffnung, den Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen und mit Ersparnissen den Slum verlassen und in die Heimatdörfer zurückkehren zu können. Die folgenden Interviewsequenzen stellen eine Auswahl dieser Antworten dar: Frau 1: “We will go to village, when we can buy some land [to work as farmers].” Frau 2: “Because we do not own land in the village, we will go to village when we can educate the children [and they earn a decent income].” (Zwei Frauen aus Barisal, 200 Kilometer südlich von Dhaka, während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1) Frau 1: “We stay here on a rental basis. It is not a matter of taste. We have to stay here though we are suffering. We have to stay here until we become proper people and got some money.” Frau 2: “When we can provide sufficient education to our children, that day we will go back to our village.” Frau 3: “We came to save some money, when we achieved this, we will go back.”

184

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka Frau 1: “We will go back, when we can start a business with our savings in our village.” (Drei Frauen aus Kishoreganj, 100 Kilometer nördlich von Dhaka, während des Gruppeninterviews in Khilket)

Alle diese Haushalte sehen den Slum als Übergangslösung, der es ihnen ermöglichen soll, wieder in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Allerdings erfüllt sich dieser Wunsch nur für wenige der Befragten. Eine Rückkehr ist eher unrealistisch, wie dieser Tagelöhner ausführt: “They always say they will leave [to their village] but they won’t. They will stay here.” (Tagelöhner in Maghbazar)

Über 80 Prozent der Haushalte leben bereits seit über drei Jahren in dem Slum und die Hälfte der Haushalte bereits seit mindestens zehn Jahren. Nur 14 Prozent der befragten Haushalte sind der Meinung, sie werden den Slum innerhalb der nächsten 12 Monate verlassen. Die deutliche Mehrheit (85 Prozent) aller befragten Haushalte rechnet damit, dass sie den Slum in naher Zukunft nicht verlassen (können). Dabei wird die Erwartung, den Slum zu verlassen, mit zunehmender Dauer des Aufenthalts geringer (siehe Tab. 22). Tab. 22: Mittelwertvergleich zwischen Haushalten, die angeben, sie würden den Slum innerhalb der nächsten zwölf Monate verlassen bzw. nicht verlassen, in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts des Haushaltsvorstandes.

N

Mittelwert: Aufenthalt im Slum (in Jahren)

Slum innerhalb von 12 Monaten verlassen

87

9,6

Slum nicht verlassen

528

13,8

Signifikanter Mittelwertunterschied: T-Test, p=0,000, N=615, Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Gründe, den Slum zu verlassen, können auch solche sein, die nicht mit einem Entwicklungsfortschritt verbunden sind: Von den 87 Haushalten, die angeben, sie werden den Slum verlassen, gehen 17 Prozent davon aus, dass der Vermieter sie vertreiben wird. Andere wiederum (31 Prozent) sind der Meinung, sie werden sich die Miete im Slum auf Dauer nicht leisten können. Nur die Antworten der anderen 40 Prozent lassen erkennen, dass sie den Slum verlassen möchten, um an einem besseren Ort zu leben. Die meisten Haushalte sind sich somit bewusst, dass es eher unwahrscheinlich ist – oder noch lange dauern wird –, dass sie in ihre Dörfer zurückkehren können. “When Allah will give us money, we don’t know. If we have money we will go. That will take time. It will take many days.” (Vermieter in Hazaribag 1)

Eine weitere Möglichkeit um Auskünfte zu den Entwicklungsperspektiven der Slum-Bewohner zu erhalten, bieten Fragen bezüglich der Zukunft der Kinder. Hier bestehen konkretere Hoffnungen und teilweise Pläne. Die Hoffnungen scheinen dabei teilweise ebenso utopisch zu sein wie eine Rückkehr in die Dörfer. Oft wur-

185

Entwicklungsperspektiven in Slums von Dhaka

den Hoffnungen ausgesprochen, dass die Kinder später Ärzte oder Hochschullehrer werden, was in Anbetracht der schwierigen Aufnahmeprüfungen oder der hohen Studienkosten sehr unwahrscheinlich erscheint. Aber viele hoffen auch schlicht, dass die Kinder ebenso wie sie einer Arbeit nachgehen können, welche sie einigermaßen ernährt. “I hope I will make study the younger son as I have no ability to higher education. And maybe one will learn tailoring. His mother is a tailor. And I will send one to workshop. I have plans like this. I do not have any other knowledge. I will make them educate as good as possible.” (Rikscha-Fahrer in Hazaribag 1)

Ergänzend zu den Entwicklungsperspektiven aus Sicht der Slum-Bevölkerung werden im Folgenden aus der Verweildauer Rückschlüsse auf Entwicklungsperspektiven gezogen. 6.3.2 Rückschlüsse aus der Verweildauer des Haushaltsvorstandes Die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Variablen und der Verweildauer des Haushaltsvorstandes erlaubt, Tendenzen zu erkennen, wie sich die sozioökonomische Struktur mit der Zeit in einem Slum verändert. Die Haushaltsgröße korreliert schwach aber signifikant mit der Verweildauer (k=0,115, p=0,004, N=623). Die Haushalte wachsen somit mit der Zeit durch Nachwuchs (52 Prozent der erhobenen Personen sind Kinder und Enkelkinder des Haushaltsvorstandes) und durch Zuzug von Verwandten (25 Prozent der erhobenen Personen sind andere Verwandte des Haushaltsvorstandes, N=2826, Mehrfachnennungen). Mit zunehmender Verweildauer lebt auch der größte Teil der Verwandten in demselben Slum (siehe Tab. 23) und auch die absolute Anzahl der Verwandten, die in demselben Slum leben, wächst signifikant (k=0,225, p=0,000). Tab. 23: Mittelwertvergleich zwischen der Verweildauer und dem Wohnort der meisten Verwandten. T-Tests signifikant, N=620.

Wohnort der meisten Verwandten

Mittelwert (Jahre)

Nennungen

StandardabT-Test: weichung

In demselben Slum (1)

19,3

88

16,4

1 u. 2: p=0,02

Anderer Ort in Dhaka (2)

14,6

173

13,2

2 u. 3: p=0,002

Außerhalb von Dhaka (3)

11,0

359

10,2

1 u. 3: p=0,000

Gesamt

13,2

620

12,5

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

186

Die Gegenwart der Haushalte in den Slums von Dhaka

Dieses Ergebnis bestätigt die theoretischen Überlegungen der Netzwerk-gesteuerten Migration. Verwandte aus den Dörfern ziehen den Haushalten in die Slums oder in andere Stadtteile von Dhaka nach. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Slum-Haushalte mit zunehmender Zeit sozial immer stärker in dem Slum etabliert sind. Diese Etablierung ist auch physisch nachweisbar: Mit zunehmender Verweildauer leben die Haushalte in eigenen Hütten. Der Mittelwert der Verweildauer der Hütteneigentümer beträgt 22,1 Jahre, der der Mieter hingegen 10,1 Jahre (T-Test, p=0,000, N=619). Und die Hütten bestehen aus dauerhafterem Material, je länger die Haushalte in den Slums leben (siehe Tab. 24). Die Haushalte in Unterkünften aus Bambus oder Plastikfolie sind im Durchschnitt halb so lang in dem Slum wie die anderen Haushalte. Tab. 24: Mittelwertvergleich der Baumaterialien und der Verweildauer des Haushaltsvorstandes in dem Slum. T-Tests variieren, N=621.

Baumaterial der Unterkunft

Mittelwert Nennungen (Jahre)

Standardabweichung

T-Test

Zement/Beton (1)

15,2

158

12,7

1 u. 2: p=0,241

Wellblech (2)

16,8

225

14,0

2 u. 3: p=0,000

Bambus/Plastik (3)

8,5

238

8,9

1 u. 3: p=0,000

Gesamt

13,2

621

12,5

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Diese Verbesserung des physischen Kapitals ist auch auf den Anstieg des Haushaltseinkommens zurückzuführen. Das Monatseinkommen des Haushaltsvorstandes korreliert nicht signifikant mit der Verweildauer. Der Haushaltsvorstand als Einzelner verdient somit nicht signifikant besser. Aber das Haushaltseinkommen korreliert signifikant (siehe Tab. 25). Mit zunehmender Verweildauer werden die Haushalte größer und mehr Familienmitglieder können zum Einkommen beitragen. Tab. 25: Korrelationsmaße zwischen der Verweildauer und dem Einkommen des Haushaltsvorstandes und dem Haushaltseinkommen.

Monatseinkommen des Haushaltsvorstandes

k=0,041 p=0,310 N=610

Verweildauer (in Jahren)

k=0,138 p=0,001 N=581

Haushaltseinkommen im letzten Monat

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

In der informellen Tätigkeit bestehen für die einzelnen Personen nur begrenzte Entwicklungschancen in Form von höherem Einkommen. Aber der Haushalt an sich vollzieht durchaus eine sozioökonomische Entwicklung. Die Wohnstruktur, das Wohnungseigentum und das Haushaltseinkommen zeigen positive Tendenzen – allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Es war den Haushalten somit nicht möglich, den Slum zu verlassen und in die untere Mittelschicht aufzusteigen.

Zwischenfazit: Das alltägliche leben der Slum-Haushalte

187

Ein Hinweis auf die fehlenden Entwicklungsperspektiven lässt sich auch aus den Ersparnissen ableiten. Haushalte, die länger in den Slums leben, haben dennoch nicht signifikant höhere Ersparnisse (T-Test, p=0,210, N=617). In Anbetracht der hohen Bedeutung von Ersparnissen als Rückhalt für Krankheiten, Lohnausfälle und vor allem für die Bildung der Kinder zeigt sich, dass die Ersparnisse für Entwicklungsperspektiven eine große Rolle spielen. 6.4 ZWISCHENFAZIT: DAS ALLTÄGLICHE LEBEN DER SLUM-HAUSHALTE Die Probleme in den Slums sind geprägt von einer sehr unhygienischen Lebensumgebung mit schlechter Infrastruktur. Die Gesundheit wird zusätzlich durch die auszehrenden Berufe in Mitleidenschaft gezogen, wobei die Einkünfte im Allgemeinen nur die tägliche Nahrung garantieren, aber keine Ersparnisse erlauben oder gar eine Vorsorge für die Behandlung von Krankheiten. Die Ausübung der beruflichen Tätigkeiten ist ebenso unsicher wie der Verbleib am vorhandenen Wohnsitz. Die SlumHaushalte können somit kaum wissen, wie ihre Situation im nächsten Monat sein wird. Diese Ergebnisse sind für den Untersuchungsgegenstand von Slums nicht überraschend und bestätigen die Studien von Pryer (2003). Die informellen Strukturen erschweren durch das Fehlen von Regeln und durch geringe Löhne und lange, auszehrende Arbeitszeiten das Leben in den Slums. Diese Ergebnisse bestätigen die Ausführungen von Kraas & Mertins (2008). Allerdings stellen die Arbeitsmöglichkeiten den wesentlichen Grund für den Zuzug in Slums dar. Die erhobenen Daten zeigen, dass der informelle Sektor flexible und vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung bietet. Die Ergebnisse bestätigen die Studien von Finnegan & Singh (2004), Gagnon (2009) und Bivens & Gammage (2005). Die Ressourcen sind in den Slums ungleich verteilt. In jedem Slum-Cluster gibt es auch wohlhabendere Haushalte, die durchaus einen engen Kontakt zu ihren Nachbarn pflegen. Insgesamt sind die finanziellen Ressourcen nicht so schwach ausgeprägt, wie allgemein angenommen wird. Finanzielle und physische Ressourcen sind also durchaus in den Slums vorhanden. Die hohe Bevölkerungsdichte garantiert dabei eine Vielzahl an Netzwerkkontakten. Es zeigt sich, dass die armen Haushalte über Sozialkapital verfügen und damit alltägliche Krisen bewältigen können. Die Interaktion der schließenden Netzwerkkontakte spielt dabei eine größere Rolle als die der brückenbildenden oder hierarchieübergreifenden Netzwerke. Trotz dieser Möglichkeiten, welche Slums also durchaus bieten, lassen sich keine Entwicklungsperspektiven für die Slum-Haushalte erkennen. Mit der Zeit nehmen die Gründe für einen Haushalt, in einem Slum zu verweilen, eher zu. Vor allem die Ersparnisse nehmen jedoch nicht zu. Eine bedeutende Ursache für den Verlust von Ersparnissen sind in den Slums Krisen wie z.B. Überschwemmungen.

7 SCHWERE ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS VON DHAKA Die alltäglichen Probleme und Krisen werden durch schwere Überschwemmungen deutlich vervielfacht. Es entstehen im Allgemeinen keine neuen Probleme, sondern die vorhandenen Krisen werden ernster und es fällt jedem Haushalt schwerer, mit den Problemen umzugehen. Im Folgenden werden zunächst die Ausmaße schwerer Überschwemmungen in den Untersuchungsgebieten dargelegt (Kap. 7.1). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Haushalte sich in ihren Angaben auf verschiedene Überschwemmungsereignisse beziehen, je nachdem, welches sie in ihrer Unterkunft zuletzt erlebt hatten. Die Auswirkungen von schweren Überschwemmungen und die verwendeten Bewältigungsmaßnahmen werden in Kap. 7.2 und Kap. 7.3 erörtert. Kap. 7.4 analysiert die Faktoren, welche die Vulnerabilität der Haushalte maßgeblich bestimmen. Die Erkenntnisse über die vergangenen Überschwemmungen in den Untersuchungsgebieten werden in Kap. 7.5 gebündelt. Prognosen für die Bewältigung zukünftiger Überschwemmungen werden aus der Sicht der SlumHaushalte und aufgrund eigener Überlegungen in Kap. 7.6 gestellt. 7.1 AUSMASSE SCHWERER ÜBERSCHWEMMUNGEN IN SLUMS VON DHAKA Im Durchschnitt tritt alle 2,6 Jahre Wasser in die Häuser der befragten Haushalte ein. Dieses Wiederkehrintervall ist stark vom Untersuchungsgebiet abhängig (siehe Tab. 26). Hazaribag 1 und Hazaribag 2 sind jene Untersuchungsgebiete, die am meisten von Hochwasserereignissen betroffen sind. Bei Hazaribag 1 dringt Wasser des Buriganga in die Hütten, bei Hazaribag 2 ist es vorrangig Regenwasser, das nicht abfließt und sich mit den Abwässern der Gerbereien vermischt. Große Überschwemmungen, bei denen mindestens eine Woche das Wasser bis zur Bettkante (etwa 0,5 m) in den Hütten steht, treten natürlich seltener auf. Die Jahre, in denen dies der Fall war und die in den Untersuchungsgebieten vorrangig genannt werden, sind ebenfalls in Tab. 26 ersichtlich. Insgesamt wird das Jahr 2004 am meisten genannt (46 Prozent, N=625). Dieses Jahr war zeitlich noch relativ nah an dem Erhebungszeitraum 2009 und die Ausmaße des Überschwemmungsereignisses waren bangladeschweit und in Dhaka deutlich stärker als 2007. Die Jahre 1988 und 1998 wurden von den Befragten meist als die prägendsten Überschwemmungsjahre genannt. 1988 wurde aber in die Erhebung nicht aufgenommen, weil das Ereignis schon zu lange zurücklag. Zu 1998 machten 23 Prozent der Haushalte Aussagen.

190

Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Tab. 26: Wiederkehrintervall von Hochwasser in den Hütten der befragten Haushalte und Informationen zu den genannten Jahren der letzten großen Überschwemmung nach Untersuchungsgebiet. N=625.

ø

Dakshingaon

Goda Tek

Hazaribag 1

Hazaribag 2

Khilket

Maghbazar

Gesamt ø

Intervall in Jahren

5,4

3,1

1,6

1,6

2,8

5,6

2,6

Überschwemmungsjahr

1998/ 2004

2004

2008/ 2009

2004

2004

1998

2004

Höhe

0,8 m

1,1 m

0,5 m

0,8 m

0,7 m

0,9 m

0,8 m

Wasser in der Hütte (Tage)

30,8

15,8

23,2

17,8

20,6

17,7

21,2

Wasser vor der Hütte (Tage)

47,3

25,5

52,0

33,2

33,2

32,1

37,3

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Im Durchschnitt stand das Wasser während der letzten großen Überschwemmung 0,8 m in der Hütte der Befragten, blieb dort drei Wochen und vor der Hütte sogar über fünf Wochen. Über die Exposition der Untersuchungsgebiete lässt sich aus diesen Daten keine Information gewinnen, da sich die Daten auf verschiedene Überschwemmungsjahre beziehen (vgl. Kap. 5.6). Es lässt sich aber erkennen, dass jedes Untersuchungsgebiet erheblich von Überschwemmungen betroffen war. Die konkreten Auswirkungen auf die Haushalte werden im Folgenden dargelegt. 7.2 AUSWIRKUNGEN SCHWERER ÜBERSCHWEMMUNGEN AUF DIE HAUSHALTE Die genannten alltäglichen Probleme wurden in den Untersuchungsgebieten durch Überschwemmungen drastisch verschlechtert. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse wurde deutlich erschwert und die Lebensgrundlagen wurden in Mitleidenschaft gezogen (siehe Tab. 27).

Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Haushalte

191

7.2.1 Auswirkungen auf das Humankapital: Gesundheitssituation der Slum-Haushalte An erster Stelle verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen während der Überschwemmungen erheblich. Die Menschen mussten durch das stark verschmutzte Hochwasser waten und es zum Waschen verwenden. Ebenso wurde das Kochen und Lagern der Nahrungsmittel teilweise unmöglich, wie diese Frau während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1 beschreibt: “In this area we use hanging bathrooms. If there is flood water, every dirt mixes with the water and we have so many problems. We have to use this water to wash our clothes, dishes and also take bath. We get so many diseases like fever, skin diseases, itchy hands and legs. My four children got septic wounds from the dirty water.”

90 Prozent der befragten Personen geben an, dass sie während der Überschwemmungen deutlich weniger zu Essen hatten. Die Auswirkungen davon wurden z.B. von der NDBUS-Mitarbeiterin aus Karail dargestellt: “I became more and more ill. I was too weak, because normally I eat three times a day food, but during flood I only got one time food a day, because I had no money to buy food.”

Aufgrund des Hochwassers und des Niederschlags gab es kaum noch trockenes Brennmaterial und die Kochstellen waren überschwemmt. Dadurch waren 85 Prozent der befragten Haushalte kaum in der Lage, ihre Nahrungsmittel zu kochen. Da zusätzlich das Trinkwasser durch das Hochwasser verschmutzt war, wird von fast jedem Haushalt von Durchfallerkrankungen berichtet: Frau 1: “When we go to medical we need money, now what will we do treatment or eating rice?” Frau 2: “Listen to me, there was sand and dirt in the water. The tubewell was flooded and we got dirty water from it.” Frage: “Did you boil the water to drink it?” Frau 1: “How can we boil the water? It needs 5 Taka per kg firewood! How can we use that money for boiling water – we need firewood to boil rice and eat!” (Zwei Frauen über die Überschwemmung von 2007 in Hazaribag 1) Mann: “During the flood diarrhea was so severe. Most of the people were affected by it. I was ill as well.” Frage: “Were you still able to work?” Mann: “Yes, I took saline from the hospital in Mahakhali [ICDDRB], they provided medicine for free.” (Rikscha-Fahrer aus Maghbazar zur Situation während der Überschwemmung 1998)

In Ausnahmefällen waren aufgrund der Erkrankungen sogar Todesfälle zu beklagen. Person 1: “My husband died from diarrhea during the flood. I could not treat him. I could not buy any medicine for him.”

192

Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka Person 2: “There is a hospital for dysentery patients [ICDDRB]. We took my two nieces, her husband and her son first to the hospital close by. The doctors said we should proceed to the dysentery hospital. There her husband died, but the others were cured.” (Fortsetzung der Interviewsequenz der Witwe aus Goda Tek, siehe S. 151)

In 58 Prozent der Haushalte wurde während der Überschwemmung mindestens eine Person erheblich krank. Bei 32 Prozent der Haushalte betraf dies sogar mindestens zwei Personen (N=625). 70 Prozent der erkrankten Personen waren nicht und zwölf Prozent kaum in der Lage, aufzustehen oder der Arbeit nachzugehen (N=618). 55 Prozent der kranken Personen litten an akutem Durchfall, teilweise auch an Cholera, 23 Prozent an starkem Fieber, 18 Prozent an Hauterkrankungen und zwei Prozent an Typhus (N=576). Durchschnittlich war die Person 16 Tage erkrankt (N=585) und es mussten pro erkrankter Person BDT 1.330 für Medikamente bezahlt werden (N=476). Das Humankapital der Slum-Haushalte war auch dadurch von Überschwemmungen beeinträchtigt, weil der Unterricht ausgesetzt und die Schulen als Notunterkünfte verwendet wurden. 7.2.2 Auswirkungen auf das physische Kapital Notunterkünfte waren während der Überschwemmungen dringend notwendig, weil erhebliche Teile der Slums gravierend beschädigt wurden, wie diese Frauen berichten: Frau 1: “In the evening we cooked food. I just sat down to eat and before I got the first bite, flood water came and washed away everything.” Frau 2: “Yes, in that night at a sudden the flood came and kept everything. Flood even took the children when they were sleeping.” Frau 1: “After that flood the situation was bad! Houses were damaged, roads and culverts were broken.” (Auszug aus dem Gruppeninterview in Hazaribag 1)

Nachdem nur wenige Straßen in den Slums befestigt waren, wurden sie von dem Hochwasser leicht erodiert und unpassierbar. Die offenen Abwasserkanäle und Schleusen waren ebenfalls meist in schlechtem Zustand und wurden von dem Hochwasser zerstört, wodurch das Hochwasser deutlich verlängert wurde. 70 Prozent der Unterkünfte (N=625) wurden zum Großteil stark beschädigt. Die Hälfte der beschädigten Hütten wurde erst nach eineinhalb Monaten repariert (N=426). Insgesamt 15 Prozent der Hütten wurden von dem Hochwasser komplett zerstört (N=625). Bei 49 Prozent aller Haushalte musste mindestens ein Familienmitglied wegen des Hochwassers das Haus verlassen (N=625). Bei der Hälfte dieser Haushalte verließen alle Familienmitglieder das Haus, weil das Wasser zu hoch stand oder das Haus nicht mehr bewohnbar war (N=301). Bei 77 Haushalten (zwölf Prozent aller Haushalte) musste ein Familienmitglied zurückbleiben (meist auf dem Dach), um die vorhandenen Wertsachen zu bewachen.

Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Haushalte

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7.2.3 Auswirkungen auf das Finanzkapital Der Schaden an den Wertgegenständen der Haushalte war dennoch erheblich. 70 Prozent der Haushalte geben an, dass sie Wertsachen während des Hochwassers verloren haben. 40 Prozent davon waren Möbel, 39 Prozent Kleidung, neun Prozent Lebensmittel und sieben Prozent Wertsachen, wie Schmuck, Fernsehgeräte und Dokumente. Fast alles wurde durch das Wasser zerstört oder fortgeschwemmt. Gestohlen wurden nur vier Prozent der Wertsachen (N=842, Mehrfachnennungen). Auswirkungen auf das Haushaltseinkommen Gravierende Auswirkungen hatten Überschwemmungen auch auf das Finanzkapital der Haushalte. Das Haushaltseinkommen ging zurück, Ersparnisse wurden aufgebraucht und materielle Werte veräußert. In 83 Prozent der Haushalte war das Einkommen während der Überschwemmung deutlich geringer (N=625). 43 Prozent der Haushaltsvorstände konnten während der Überschwemmung nicht und 32 Prozent nur deutlich weniger arbeiten (N=624). 71 Prozent der Haushaltsvorstände konnten ihre Arbeit länger als zwei Wochen nicht durchführen (N=453). Die Slum-Bewohner waren nicht nur wegen überschwemmter Wege zur Arbeit bzw. den Arbeitsorten oder wegen Krankheit nicht in der Lage, ihre Arbeit fortzuführen, sondern auch weil sie auf die Kinder aufpassen mussten. Die NDBUS-Mitarbeiterin aus Karail erläutert an einem tragischen Beispiel, dass das Hochwasser für Kinder eine große Gefahr darstellte. Meist musste deshalb eine Person auf die Kinder aufpassen und es fiel eine Arbeitskraft aus: “Two children died in Karail. Their mother went to work in a house. She left the children unattended. When she returned, she did not find her children. Then she found the two bodies floating in the flood water.” (NDBUS-Mitarbeiterin zur Überschwemmung von 2004) “If the family has little children they must not leave them alone. But both – man and woman – have to work. The man alone cannot maintain the family. If the woman has to take care of the children, the family cannot be maintained.” (Interview mit einem Geschäftsbesitzer in Hazaribag 1)

Zusätzlich benötigte der Haushalt während Überschwemmungen deutlich länger, um Trinkwasser zu holen und trockenes Brennmaterial oder Lebensmittel zu organisieren. Die Verringerung des Einkommens stellte die Haushalte vor existentielle Probleme. Nur 39 Prozent der befragten Haushalte verfügten vor der Überschwemmung über Ersparnisse. Ebenso wie die Ersparnisse zum Zeitpunkt der Erhebung (siehe S. 164), waren die Ersparnisse vor der Überschwemmung vorrangig gering. Nur ein Viertel der befragten Haushalte verfügte über Ersparnisse über BDT 6.000. Aufgrund der Einkommenseinbußen und des dringenden Geldbedarfs für Medizin und

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Reparaturarbeiten sowie erhöhter Preise für Brennmaterial und Nahrungsmittel überrascht es nicht, dass 74 Prozent der befragten Haushalte während der Überschwemmung ihre gesamten Ersparnisse aufwendeten. Nur zehn Prozent hatten weniger als die Hälfte ihrer Ersparnisse einsetzen müssen (N=625). 7.2.4 Auswirkungen auf das Sozialkapital In Bezug auf das Sozialkapital zeigen die Daten keine offensichtlichen Verärgerungen über die schließenden Netzwerke. Zwar waren 78 Prozent der befragten Haushalte über andere Personen, NGOs oder Behörden verärgert, weil diese nicht die erwartete Hilfestellung während der Überschwemmung erteilten. Aber nur elf Prozent der Haushalte war über Nachbarn oder Verwandte verärgert. Am meisten waren die Haushalte von der Regierung (57 Prozent) enttäuscht (N=686, Mehrfachnennungen), wie dieser Geschäftsbesitzer in Hazaribag 1: “The government doesn’t valuate the poor persons. The minister took tea with me and promised so many things. But after he had been elected, he was out of reach. Now if we want to meet him it is the most difficult thing in the world.”

7.2.5 Behinderung der Entwicklungsperspektiven durch Überschwemmungen Während der Überschwemmungen wurde ein Großteil der Ersparnisse für Nahrungsmittel oder Medikamente aufgebraucht. Aufgrund der Rückzahlung der Kredite konnte auch Monate nach der Überschwemmung in vielen Fällen kein Geld gespart werden. Ersparnisse sind nach Aussage der Slum-Haushalte aber wesentlich, um den Slum wieder verlassen zu können. Eine Frau in Hazaribag 2 brachte die Relevanz von Ersparnissen auf den Punkt: “We are poor people, what we can save that is our future.”

Insofern verringerten die Überschwemmungen maßgeblich die Entwicklungsperspektiven der Slum-Haushalte. Auch andere Schäden mussten nach der Überschwemmung erst beseitigt werden, wodurch der Haushalt noch Wochen später schwer gezeichnet war. Dies ließ sich aus der Dauer erkennen, die ein Haushalt benötigte, um nach der Überschwemmung wieder ein geregeltes Leben führen zu können. Um die Schäden des Hochwassers und den Schlamm zu beseitigen sowie die Krankheiten zu kurieren, benötigten 30 Prozent der Haushalte über zwei Monate, nachdem das Hochwasser sich zurückgezogen hatte (siehe Abb. 10). Weniger als die Hälfte (43 Prozent) der befragten Haushalte war innerhalb eines Monats in der Lage, die Überschwemmung im Großen und Ganzen zu bewältigen. In dieser Zeit der „Erholung“ war das Haushaltseinkommen weiterhin geringer und der Bedarf an Geld nach wie vor höher als während des normalen Alltags. Zusammen mit der durchschnittlichen Dauer des Hochwassers (45 Tage, N=603) ergab sich somit eine Krisenzeit von durchschnittlich zweieinhalb Monaten.

Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Haushalte

195

Abb. 10: Dauer, bis nach der Überschwemmung ein alltägliches Leben wiederhergestellt wurde. N=614. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Tab. 27 fasst die Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Slum-Haushalte zusammen. Tab. 27: Auswirkungen schwerer Überschwemmungen auf die Slum-Haushalte (N=625). Ausprägung während oder direkt nach der Überschwemmung

Quantitative und qualitative Ergebnisse der Erhebung

HUMANKAPITAL Einschränkungen in den Essengewohnheiten

Nur 10% der befragten Personen konnten wie gewöhnlich oder mit nur geringen Einschränkungen essen.

Möglichkeit zum Kochen

85% der befragten Haushalte konnten aufgrund fehlenden Brennmaterials die Nahrungsmittel nicht kochen.

Krankheitsfälle

In 58% der Haushalte wurde mindestens eine Person schwer krank. In 32% der Haushalte mindestens zwei Personen. 70% der erkrankten Personen konnten nicht aufstehen oder der Arbeit nachgehen. 55% der erkrankten Personen litten an akutem Durchfall. Durchschnittlich mussten pro krankem Haushaltsmitglied BDT 1.300 bezahlt werden und die Person war 16 Tage krank.

Hygienische Umstände

Sie verschlechterten sich drastisch, insbesondere für Frauen und Mädchen.

Bildung

Viele Schulen waren während der Überschwemmung geschlossen.

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Ausprägung während oder direkt nach der Überschwemmung

Quantitative und qualitative Ergebnisse der Erhebung

PHYSISCHES KAPITAL Unterkunft der Haushalte

70% der Hütten wurden beschädigt, 15% komplett zerstört.

Infrastruktur

Unbefestigte Straßen wurden unterspült, Abflusskanäle wurden zerstört oder verstopften.

FINANZKAPITAL Wertsachen

70% der Haushalte verloren Wertsachen. 95% dieser Wertsachen wurden durch das Wasser fortgeschwemmt oder zerstört. Durch Diebstahl wurden nur 4% der Wertsachen entwendet.

Haushaltseinkommen

83% der Haushalte verdienten deutlich weniger.

Arbeitssituation

43% der Haushaltsvorstände konnten die Arbeit nicht fortsetzen, 32% konnten nur deutlich weniger arbeiten. Von diesen konnten 71% ihre Arbeit für zwei Wochen oder länger nicht ausüben.

Ersparnisse

74% der Haushalte wendeten während der Überschwemmung ihre gesamten Ersparnisse auf.

SOZIALKAPITAL Enttäuschung über soziale Netzwerke

78% der Haushalte waren von Netzwerkkontakten enttäuscht. Hierarchieübergreifende Netzwerke: Regierung (57%), NGOs (10%) Brückenbildende Netzwerke: Vermieter (11%), Arbeitgeber (6%) Schließende Netzwerke: Nachbarn (4%), Verwandte (7%)

GESAMTWIRKUNG Unterbrechung des Alltags insgesamt

Durchschnittlich zweieinhalb Monate

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Bewältigungsmaßnahmen

197

7.3 BEWÄLTIGUNGSMASSNAHMEN Die Daten belegen, dass die Slum-Haushalte durchaus in der Lage waren, schwere Überschwemmungen zu bewältigen. Todesfälle waren nur in Ausnahmefällen zu beklagen. Ein Großteil der verlorenen Wertsachen konnte zeitnah ersetzt werden. So wurden 65 Prozent der Gegenstände komplett ersetzt und neun Prozent immerhin zum Teil (N=839). Drei Viertel der Gegenstände konnten in weniger als vier Monaten wieder beschafft werden (N=633). Krankheiten betrafen zwar einen Großteil der Familien, aber trotz der schwierigen finanziellen Ressourcen konnte man diese meist behandeln lassen. Die beschädigten Hütten wurden in 95 Prozent der Fälle repariert und dies geschah bei der Hälfte der beschädigten Hütten innerhalb von eineinhalb Monaten (N=440). Diese – in gewisser Weise – positiven Anzeichen beruhen auf einer Reihe von etablierten Bewältigungsmaßnahmen, die bei jeder Überschwemmung in unterschiedlichen Ausmaßen greifen. 7.3.1 Strukturelle Maßnahmen der Haushalte, NGOs und des Staates Um dem steigenden Hochwasser auszuweichen, berichteten diese Frauen von Bambuskonstruktionen und Ziegeln, auf denen die Betten und anderen Möbelstücke erhöht wurden. Nahrungsmittel und Kleidung wurden teilweise mit Seilen unter dem Dach aufgehängt: Frau 1: “We tied the bed with a rope under the roof.” Frau 2: “We had to move from the school because they told us that school will start again. We were too many people and we literally destroyed parts of the school, so they forced us out of the school. Some of us took shelter at the side of the shop and some returned to their home. There was so much mud and dirt after the water had receded, so we had to put bricks everywhere in order to be able to walk around. The bricks we got from the roadside and we used the kerosene stove to cook”. Frau 3: “At that time there was construction work going on at the Gabtali cow market. We took the bricks from there either by rickshaw or by carrying them on our head.” (Gruppeninterview in Goda Tek zur Überschwemmung von 2004) Frau: “We used three bricks under each post and elevated such the bed.” Frage: “From where did you get the bricks?” Frau: “We took it from the road.” (Frau des Hauseigentümers in Hazaribag 1 zur Überschwemmung von 2007) “We built a platform out of bamboo and put the furniture on it.” (Hausfrau in Dakshingaon zur Überschwemmung 2007)

40 Prozent der befragten Haushalte bereiteten sich vor der Monsunzeit auf eine mögliche Überschwemmung vor, indem sie Ziegel (40 Prozent), Bambus-Stangen (24 Prozent), Seile (15 Prozent) und Sandsäcke (zehn Prozent, N=513, Mehrfachnennungen) bereitlegten. 32 Prozent der befragten Haushalte lagerten haltbare

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Nahrungsmittel (Puffreis, Getreideflocken und Molasse) ein, um für eine mögliche Überschwemmung gewappnet zu sein. Dieser relativ geringe Grad an Vorbereitung ist nicht auf mangelndes Bewusstsein zurückzuführen, sondern auf die mangelnde Möglichkeit, dafür Geld auszugeben. Stellvertretend für viele andere sei hier folgende Hausfrau aus Khilket zitiert: “We hope that we will go to any higher land at the flood moment. We want to stock something for the flood moment. But we can’t do anything due to [lack of] money.”

Bei den meisten Haushalten reichten während der schweren Überschwemmung diese strukturellen Maßnahmen jedoch nicht aus und etliche waren auf die Notunterkünfte des Staates oder Verwandte angewiesen. Von den Personen, welche die Unterkunft während der Überschwemmung verlassen mussten, gingen 43 Prozent in Notunterkünfte, welche vom Staat zur Verfügung gestellt wurden. 30 Prozent konnten bei Verwandten unterkommen, neun Prozent ließen sich auf erhöhten Straßen unter Plastikfolien nieder und sechs Prozent harrten auf den Dächern ihrer Hütten aus (N=302). Die Bereitstellung von Notunterkünften wurde von den Slum-Bewohnern heftig kritisiert, weil die Versorgung mit Lebensmitteln und die hygienischen Bedingungen dort desaströs waren. Allerdings bewahrten die Notunterkünfte die Menschen vor dem unmittelbaren Ertrinken. “We didn’t like the school building. That place was so crowded.” (Hauseigentümerin in Maghbazar zur Situation in der Notunterkunft während der Überschwemmung von 1998) Frau 1: “All of us from this slum area went to the school building in Majar Road, which is a four storied building”. Frau 2: “We simply followed the other people heading to the shelter. First we could not get in the building because there were too many people, but then we forcefully entered into the building.” Frau 1: “The school authority stopped the water supply and closed the bathroom because we were too many people. We suffered so much!” Frau 2: “We bargained with the school authority at least to provide shelter for our children, which they did. We adjusted ourselves outside on the open ground.” Frau 3: “We had no toilet and water to use at that time. It was horrible.” Frau 4: “We just did not get food for three to four days. Then the government started to supply some flattened rice and some water. We only ate little bit and preserved the rest for the next meal.” (Gruppeninterview in Goda Tek zur Überschwemmung von 2004) Frau 1: “There was no possibility to stay here. The flood water reached over the top end of the door. [...] Only the school saved us then.” Frage: “How did you reach the school?” Frau 2: “There were boats available. Boats run during the flood times.” (Gruppeninterview in Khilket zur Überschwemmung 2007)

Bewältigungsmaßnahmen

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Im letzten Zitat wird die Gewährleistung der Transportwege während großer Überschwemmungen mittels Booten angesprochen. Boote standen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Etliche Rikscha-Fahrer konnten während der Überschwemmungen als Bootsfahrer einen Zuverdienst erwirtschaften. Insbesondere wohlhabendere Vermieter verfügen oft über eigene Boote, die sie während der Überschwemmungen zur Verfügung stellen (und damit erneut ein Zusatzeinkommen erhalten). Die Haushalte, die in den Notunterkünften keinen Platz mehr bekamen oder sich aus religiösen oder anderen Gründen nicht in den dichtgedrängten Schulräumen aufhalten wollten, fanden auf erhöhten Straßen Zufluchtsorte, die vor dem Wasser sicher waren: Mann: “Our family and our neighbour went to the embanked road and we stayed under the polythene.” Frage: “How did you get the polythene?” Mann: “I bought it before the monsoon time.” (Rikscha-Fahrer in Dakshingaon)

Das Kochen der Mahlzeiten konnten die Haushalte relativ flexibel über tragbare Öfen gewährleisten. Das Problem war, trockene Brennmaterialien zu erhalten. Die tragbaren Öfen aus Ton (bengalisch: chula) sind in der bangladeschischen Kultur etabliert und werden in den Slums und vor allem in den Dörfern oft verwendet. Frage: “How did you cook your food?” Mann: “We elevated our bed and then placed a stove on it and we cooked.” Frage: “How did you get dry burning material?” Mann: “I had an old rikshaw. We burned its wooden lid.” (Rikscha-Fahrer in Maghbazar)

Die strukturellen Maßnahmen ermöglichten den Haushalten insgesamt ein Ausweichen vor den Wassermassen. Es zeigt sich, dass die Haushalte nur die Möglichkeit von Modifikationen hatten. Der grundlegende Schutz vor dem Ertrinken fiel jedoch vorrangig den größeren baulichen Einrichtungen zu. An dieser Stelle muss somit die durchaus relevante Rolle des Staates betont werden. Nach dieser grundlegenden Sicherung des Überlebens waren die Haushalte vor die Aufgabe gestellt, die Ernährung und die Gesundheit zu gewährleisten. Dafür bedurfte es einer Reihe von nicht-strukturellen Maßnahmen. 7.3.2 Nicht-strukturelle Maßnahmen des Staates und der NGOs Der Staat und die NGOs leiteten Soforthilfemaßnahmen ein. Insbesondere lokalen Krankenhäusern fiel die wichtige Rolle zu, akute Krankheiten zu behandeln. Mit dem International Centre for Diarrhoeal Disease Research, Bangladesh (ICDDRB) in Mahakhali, im Zentrum Dhakas, steht den Haushalten in gewisser Weise eine weltweit führende Forschungseinrichtung zur Verfügung, die im Notfall auch Tausende von Patienten aufnehmen kann. Die Slum-Bewohner konnten zwar lokale

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Krankenhäuser für Behandlungen aufsuchen, aber die Behandlung dort war mangelhaft und die Zustände waren während Überschwemmungen wegen Überfüllung und mangelhafter Ausstattung äußerst kritikwürdig. Der folgende Auszug zeigt besonders dramatische Situationen während der Überschwemmung 1998: Frau 1: “We went to the next governmental hospital for saline. But they asked us for money. They objected, that we are too many people and they do not have sufficient supply.” Frage: “How did you manage then to get the medicine?” Frau 2: “We didn’t. We did not get any drugs from the medical.” Frau 1: “We suffered. We had no food that time, how could we spend money on medicine? We left all on god.” Frage: “Did anybody die because of the flood?” Frau 1: “My newly born grandson died and an old man of that house died as well.” Frage: “How did they die?” Frau 1: “From sickness and from the lack of food.” Frau 2: “My one son died. I took him to the medical, because the house was so wet. But we did not have money for the treatment. He caught a severe cold. I covered him by cloths and kept as close as to my body. After some times I felt the heart beat stopped.” (Gruppeninterview in Goda Tek)

Solche Erlebnisse stellen aber Ausnahmen dar. Ein Minimum an oft überlebensnotwendiger Behandlung erfolgte in den Krankenhäusern auch während schwerer Überschwemmungen, wie etliche Slum-Bewohner in den Interviews bestätigen. Frage: “When you got ill, how did you get the treatment?” Frau: “At the hospital. It was a governmental hospital. Rich people went to private hospitals. The poor people have to go to the governmental hospitals.” (Hauseigentümerin in Maghbazar)

Ähnlich verhielt es sich mit der Verteilung der Soforthilfe. Diese war unzulänglich und es traten viele Fälle von Korruption auf, aber NGOs und die Regierung gewährleisteten trotzdem ein Minimum an Ernährung. Dies zeigt eine Auswahl der Interviewzitate: “Government workers are thieves. Not actually the government. They try to give us some help, but workers, who should supply us, are thieves. That is why we don’t get anything.” (Fabrikarbeiter in Hazaribag 2) Mann 1: “Those liars [Politiker] kept much of the relief. They did not supply all of it.” Frage: “Is this kind of situation common in Bangladesh?” Mann 2: “All the people in our country are fraudulent.” (Gruppeninterview in Goda Tek) “The big leaders in our country consume the relief. The poor do not get it. If the Prime Minister donated five lakh Taka [500.000] to distribute among the poor, then they took four lakh Taka [400.000] for themselves.” (Hauseigentümer in Hazaribag 1)

Bewältigungsmaßnahmen

201

“The government supplied medicine and drink water, but no food. When we had money we ate, but when we didn’t have money we were starving.” (Fabrikarbeiterin in Khilket zu der Überschwemmung von 2007) Mann 1: “Our neighbours took shelter at another school in Mirpur. There they got relief daily, puffed rice, fried rice and biscuit.” Frage: “Did the government supply all these?” Mann 2: “No, the government didn’t give. Relief was supplied by a political party.” Frage: “Did everyone get the relief equally?” Mann 2: “Some people got, some did not.” Mann 1: “We got nothing. The school where we stayed didn’t get anything, not a single glass of water.” (Gruppeninterview in Goda Tek) “We didn’t apply but DSK came here after the flood. The flood water destroyed a lot of our possession. DSK took the information whether houses or tube wells were damaged or not. They repaired tube wells and gave us material to repair the houses.” (Frau während des Gruppeninterviews in Hazaribag 1)

Die Erhebung zeigt, dass 49 Prozent der befragten Haushalte während der schweren Überschwemmung Soforthilfe erhielten. Mehrheitlich wurde diese von der Regierung (54 Prozent) verteilt. 21 Prozent der Haushalte erhielten diese Hilfsgüter von privaten Personen wie lokalen Politikern, die sich bekannt machen wollten, aber auch von selbstorganisierten Gruppen der Mittel- und Oberschicht. 17 Prozent der Haushalte (N=351, Mehrfachnennungen) gaben NGOs als Geber an. Nahrungsmittel (51 Prozent) und Medikamente (30 Prozent) machen den Großteil der Hilfslieferungen aus (N=631, Mehrfachnennungen). Von denen, die Hilfslieferungen erhielten, gaben 57 Prozent an, dass diese bedeutend waren. Für 35 Prozent waren die Hilfslieferungen zwar wichtig, aber zu gering, um einen wirklichen Unterschied zu machen. Für acht Prozent war die Soforthilfe zu gering, um die Not zu lindern (N=301). Die Haushalte, die keine Soforthilfe erhielten, wurden in 80 Prozent der Fälle bei der Verteilung nicht berücksichtigt. Sieben Prozent konnten die Verteilungsstation wegen des Hochwassers nicht erreichen. Fünf Prozent trauten sich nicht oder schämten sich, nach Hilfe zu fragen. Acht Prozent gaben an, dass sie keinen Bedarf an Soforthilfe hatten und deshalb nichts annahmen (N=321). Die Slum-Haushalte wurden also durchaus von der Regierung, wahlkämpfenden Parteien und NGOs unterstützt, konnten sich aber weder auf diese Unterstützungen verlassen, noch reichte diese für die Befriedigung der Grundbedürfnisse aus. Sie gewährleisteten in den meisten Fällen gerade das Überleben. Insgesamt waren die Haushalte deshalb auf ihre eigenen Bewältigungsmaßnahmen angewiesen.

202

Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

7.3.3 Nicht-strukturelle Bewältigungsmaßnahmen der Haushalte Diese Bewältigungsmaßnahmen beruhten auf einem hohen Grad an Erfahrung, die aus den alltäglichen Krisen und bereits erlebten Überschwemmungsereignissen stammten. In erster Linie galt es, das fehlende oder reduzierte Haushaltseinkommen zu kompensieren, damit der Zugang zu Lebensmitteln und Medizin aufrechterhalten werden konnte. Die Aufnahme eines Kredits ist dabei die gängigste Maßnahme. 7.3.3.1 Aufnahme von Krediten Kredite sind besonders wichtig, um die unsicheren Einkünfte und das fehlende Versicherungssystem zu kompensieren. Ein Hausvermieter in Hazaribag 1 bringt diese allgegenwärtigen Kredite auf den Punkt: “We took loan. Everybody took loan. Here is not a single man who did not take loan.”

Sachdarlehen Eine Form des Kredits sind Sachdarlehen. Auf Vertrauensbasis werden dabei Waren als Darlehen zur Verfügung gestellt. 40 Prozent der befragten Haushalte erhielten solche Sachdarlehen zur Zeit der schweren Überschwemmung. 80 Prozent davon waren Lebensmittel, neun Prozent Gegenstände, die für die Arbeit benötigt wurden, vier Prozent Medikamente und fünf Prozent Materialien für das Haus oder Kleidung (N=283, Mehrfachnennungen). Die Haushalte erhielten die Waren vorrangig in Geschäften (56 Prozent) und von den Nachbarn (37 Prozent). Fünf Prozent erhielten Sachdarlehen von Verwandten (N=289, Mehrfachnennungen). Geldkredite Geldkredite im eigentlichen Sinn sind in den Slums noch üblicher. Grundsätzlich geben die Haushalte an, dass es kein Problem sei, in den Slums einen Kredit zu erhalten. Eine Frau in Khilket berichtet z.B. davon, dass sie einen Kredit über BDT 10.000 benötigte und als Geldgeber eine Reihe von Nachbarn gewinnen konnte. Frage: “From where did you get the loan?” Antwort: “I got the loan from my neighbours.” Frage: “Did they give you all the money?” Antwort: “I did not take the loan from only one person. I take it from several persons. I have good relations with all my neighbours. I live here for a long time, so I know them well.”

203

Bewältigungsmaßnahmen

Während der letzten großen Überschwemmungen oder kurz danach hatten zwei Drittel der befragten Haushalte einen Kredit aufgenommen. Details zu der Kreditaufnahme sind in Tab. 28 aufgelistet. Als Kreditverleiher kamen lokale Geldverleiher, Nachbarn, Verwandte und teilweise auch Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) infrage. Formale Kreditverleiher, wie Banken, traten kaum in Erscheinung. Bei lokalen Geldverleihern, Kreditgemeinschaften und auch Nachbarn waren Zinssätze von zehn Prozent pro Monat üblich. In Einzelfällen wurde auch von einer Verzinsung von 20 Prozent pro Monat berichtet. Bei Verwandten schwankten die Zinsen stark. Teilweise wurden von ihnen zehn Prozent pro Monat berechnet, andere vergaben den Kredit ohne Zinsen. NGOs boten die Kredite zu einem jährlichen Zinssatz von durchschnittlich fast 13 Prozent an. Die Mehrheit der Haushalte konnte über schließende Netzwerkkontakte Geld erhalten. Vorteile dieser Kredite sind im Vergleich zu Krediten von lokalen Geldverleihern geringere Zinsen und eine niedrigere Dauer der Rückzahlung. Tab. 28: Ausführungen zu den Kreditgebern während oder kurz nach der letzten schweren Überschwemmung. N variiert.

Autorisation

Formal

Basierend auf langfristigen, persönlichen Beziehungen

1 Durch 2

Ø Zinsrate pro Monat (N=351)

Ø monatl. Dauer Rückzahlung (N=277)

Netzwerkkontakte

Kreditgeber



Bank

1%

15.000

10,0%

15,0

Vermittelt1

Lokale Geldverleiher

16%

8.584

10,0%

13,2

Verwandte

22%

8.820

5,2%

12,8

Nachbarn

23%

6.669

7,8%

8,0

Freunde

3%

4.812

7,5%

6,2

NGOs

25%

10.588

12,9%2

14,7

Vermieter

2%

3.063

3,8%

5,3

Arbeitgeber

5%

7.467

4,6%

11,5

Andere

3%

5200

4,0%

4,6

Schließende Kontakte Brückenbildende Kontakte Hierarchieübergreifende Kontakte

Unbekannt

Ø Kredit betrag in BDT (N=393)

Anteil der Nennungen (N=436, Mehrfachnennungen)

Unbekannt

die persönliche Bürgschaft von Bekannten oder Verwandten ermöglicht. Zinsangaben bei NGOs beziehen sich auf eine Rückzahlung innerhalb von zwölf Monaten. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

204

Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Die Dauer der Rückzahlung hing auch stark von der Höhe des aufgenommenen Kredits ab. Der Durchschnitt der Kredite, die innerhalb von sechs Monaten zurückbezahlt wurden, beläuft sich auf BDT 3.852 (N=102), während der Durchschnitt bei Krediten, die eine längere Laufzeit hatten, bei BDT 10.470 (N=249) lag (T-Test, p=0,000). Abb. 11 zeigt die Verwendung der Kredite während oder kurz nach der Überschwemmung. 68 Prozent der Kredite wurden für Lebensmittel, Medikamente, Arbeitsmaterialien und Kleidung ausgegeben und somit für Sachen, die für das unmittelbare Überleben notwendig sind. Ein Mittelwertvergleich zeigt, dass Kredite, die hauptsächlich für lebensnotwendige Dinge aufgenommen wurden, vom Betrag her geringer waren als jene Kredite, die vorrangig für die Reparatur von Häusern oder Arztbesuche verwendet wurden (BDT 6.470, N=263 im Vergleich zu BDT 12.890, N=128, T-Test, p=0,000). Die für das unmittelbare Überleben notwendigen Kredite waren somit geringer und konnten folglich vorrangig von Nachbarn oder Verwandten erhalten und relativ rasch zurückbezahlt werden.

Abb. 11: Verwendung der Kredite während der letzten schweren Überschwemmung. N=779, Mehrfachnennungen. Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Damit bei der Aufnahme von Krediten von einer Bewältigungsmaßnahme gesprochen werden kann, muss der Haushalt in der Lage sein, den Kredit zurückzubezahlen. Gelingt dies nicht, droht eine Verschuldungsspirale und schließlich sind keine weiteren Kreditaufnahmen mehr möglich. Insgesamt deuten die erhobenen Daten an, dass über die Hälfte der Kredite in einer akzeptablen Zeit zurückbezahlt werden konnte. 78 Prozent der Kredite bis zu BDT 5.000 konnten innerhalb von einem Jahr zurückbezahlt werden. Und immerhin noch 44 Prozent der Kredite über BDT 5.000 wurden vor der potentiellen nächsten großen Überschwemmung getilgt (siehe Abb. 12). Allerdings konnten auch über ein Fünftel der Kredite unter BDT 5.000 und 56 Prozent der Kredite über BDT 5.000 nicht innerhalb von einem Jahr zurückgezahlt werden.

Bewältigungsmaßnahmen

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Abb. 12: Dauer der Kreditrückzahlung für Kredite bis zu BDT 5.000 (N=200) und über BDT 5.000 (N=151). Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Die positive Korrelation (k=0,226, p=0,000, N=376) zwischen dem Haushaltseinkommen und der Kreditsumme zeigt, dass die höheren Kredite tendenziell von Haushalten mit besserem Einkommen aufgenommen wurden. Somit ist die längere Rückzahlungsdauer nicht so gravierend und führt nicht unmittelbar zu einer Verschuldungsspirale. Die Kreditrückzahlung wird maßgeblich durch die sozialen und informellen Strukturen in den Slums ermöglicht, wobei die Flexibilität der informellen Tätigkeiten genutzt wird. Zum Beispiel ist es möglich, dass ein Rikscha-Fahrer nicht nur die üblichen vier bis sechs Stunden pro Tag arbeitet, sondern ausnahmsweise zwölf Stunden. Die Haushalte waren auch deshalb in der Lage, den Kredit zurückzubezahlen, weil bei Bedarf jedes Familienmitglied zum Einkommen beitragen konnte. Ein Tagelöhner in Hazaribag 1 schildert, dass das Einkommen seiner Frau vorrangig für die Kreditrückzahlung verwendet wurde. Die Slum-Haushalte waren oft gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um die Kredite zurückbezahlen zu können. So wurde privates Eigentum veräußert oder das Geld vom Munde abgespart, wie zwei Interviewpartnerinnen ausführten: “I borrowed money, and sold my ear rings, necklace and two bangles. Even I had to sell my son-in-law’s gold chain, ring and take a loan from another person. Later I worked as a tailor and paid the rest of the loan.” (Frau in Dakshingaon zur Situation nach der Überschwemmung von 1998) “We ate half a kilogram [rice] and saved the rest, which we sold. With that money we repaid the loan for repairing the house. [...] It was so shameful, we reserved the water of cooked rice and fed it the children in one meal per day.” (Frau in Goda Tek zur Situation nach der Überschwemmung von 2004)

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Kredite werden zum Teil auch umgeschuldet, wie das erste Beispiel zeigt. In Anbetracht der teilweise hohen Zinsen scheint diese Praxis durchaus sinnvoll, weil Kredite von Bekannten oder Verwandten u.U. zu deutlich geringeren Zinsen aufgenommen werden können. Diese Praxis birgt aber die Gefahr, die Verschuldung weiter zu erhöhen. Die Kreditaufnahme kann zwar kurzfristig die Liquidität des Haushaltes erhöhen, zwingt viele Haushalte dann aber, wieder Kompromisse für die Rückzahlung einzugehen, die langfristig negative Auswirkungen nach sich ziehen. Eine Interviewpartnerin bestätigt diese Problematik: “If we have savings then it is alright. But if we do not, then we have to borrow money for survival. And later it becomes too hard to pay back the money.” (Frau aus Dakshingaon aus dem Beispiel oben)

Demnach war es das Bestreben der Slum-Haushalte, möglichst wenig Kredite aufnehmen zu müssen und das Überleben weitgehend über Hilfsleistungen zu bewerkstelligen. 7.3.3.2 Nicht-organisierte Hilfsleistungen Knapp über die Hälfte der befragten Haushalte (52 Prozent) erhielt während der Überschwemmung Hilfsleistungen, die nicht organisiert waren, sondern im direkten persönlichen Kontakt erfolgten. Diese beinhalteten in erster Linie Lebensmittel und Kleidung. Ratschläge oder Zusprache stellten ebenfalls eine wichtige Unterstützung dar (siehe Abb. 13). Die gegenseitige Hilfe unter Verwandten ist kulturell fest verankert. Besonders die älteren Brüder zeigen ein hohes Verantwortungsbewusstsein für ihre Schwester(n) und deren Familie(n). Die älteren Brüder werden mit „Mama“ bezeichnet. Eine Frau in Dakshingaon berichtet, wie die Verwandten ihnen in typischer Weise während der Überschwemmung von 1998 halfen: “The brothers of my mother supported us, because my mother did not work at that time. ‚Mama‘ came to help us and looked after us during the flood.”

Verwandte außerhalb von Dhaka halfen tendenziell, indem sie betroffenen Haushaltsmitgliedern eine Unterkunft zur Verfügung stellten. Für andere Hilfsleistungen waren die Wege meist zu weit.

Bewältigungsmaßnahmen

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Abb. 13: Hilfsleistungen, die während der letzten schweren Überschwemmung von den Haushalten erhalten wurden (N=966, Mehrfachnennungen). Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Die Hilfsleistungen kamen vorrangig von Verwandten in Dhaka und von den Vermietern der befragten Haushalte (siehe Abb. 14).

Abb. 14: Geber der Hilfsleistungen während der letzten schweren Überschwemmung (N=966, Mehrfachnennungen). Quelle: Eigene Erhebung 2009.

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Die Vermieter zeigen ebenfalls Verantwortung für die ihnen gehörenden Hütten und die darin lebenden Haushalte. Neben den unmittelbaren Hilfsleistungen konnten die Haushalte relativ sicher sein, dass der Vermieter die Schäden an seiner Hütte reparieren würde. Wenn der betroffene Haushalt nicht in einer eigenen Hütte lebte, wurde die Reparatur bei 68 Prozent der beschädigten Hütten vom Vermieter getragen (N=288). Bei den Haushalten, welche die Unterkunft selbst reparierten, erhielten 78 Prozent Hilfe bei der Reparatur durch den Vermieter (N=169). Da die Vermieter meist selbst im Slum-Cluster leben, waren sie für die Haushalte während der Überschwemmung greifbar. Die Vermieter sind oft Nachbarn und pflegen trotz des wirtschaftlichen Unterschieds einen engen Kontakt zu den Mietern. Auch die Hilfe von Nachbarn war bei schweren Überschwemmungen durchaus üblich, wie die elf Prozent der Hilfsleistungen andeuten. Soweit wie möglich, wurde die Hilfe auf Gegenseitigkeit während der Überschwemmungen fortgeführt, wie dieser Geschäftsbesitzer in Khilket betont: “We helped the neighbour with money and food. We did according to our ability. We also helped those people, who came from other areas, by giving old clothes, or some Taka.”

23 Prozent der Haushalte gaben anderen Hilfesuchenden selbst Hilfsleistungen. Über drei Viertel dieser Hilfsleistungen (76 Prozent, N=156, Mehrfachnennungen) ging an Nachbarn. Obwohl die Haushalte alle in ähnlicher Weise von dem Hochwasser betroffen waren, gab es aufgrund der inhomogenen Verteilung der Ressourcen innerhalb der Slum-Cluster meist noch jemanden, der Hilfe leisten konnte, wie eine Hausangestellte in Hazaribag 1 erzählt: Frau: “We help [our neighbours] by giving rice, pulse, and money.” Frage: “How can you help, are you not affected from flood yourself?” Frau: “Suppose my husband’s income is handsome, but her husband’s income is not good, so she may tell me to help her in any way. Then if possible I will give her one kilogram rice or 10 Taka. Mean this is the system, what else.”

Aber es überwogen die Aussagen jener Interviewpartner, die das Ausmaß der gegenseitigen Hilfe während der Überschwemmungen für gering hielten. Die Haushalte wollten sich zwar gegenseitig helfen, doch waren die Schäden und die Betroffenheit der Haushalte oft zu groß. Folgende Interviewsequenzen stellen dies exemplarisch dar: “During the flood everybody was busy. Everybody was under pressure. I got help from my employer. But the other neighbours tried to get help from others. Some got something, some did not.” (Tischler in Dakshingaon zur Situation 1998) “We have not enough money to help others, if we have, we help others. If they have we may get help from them. But, we have not enough money.” (Hausangestellte in Goda Tek auf die Frage, ob die Nachbarn sich während Überschwemmungen gegenseitig helfen) Frage: “Did you eat enough during the flood to satisfy your appetite?” Frau 1: “No, how could we?” Frau 2: “When we went to people, they gave us a small amount of food.”

Bewältigungsmaßnahmen

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Frau 1: “We got very little amount of flattened rice.” Frau 2: “We got for example 250 grammes of flattened rice but we are ten family members. How could we get enough by that? We ate very small amount and drank water to fill our stomach.” (Gruppeninterview der Frauen in Goda Tek)

Es wird deutlich, dass die Hilfsleistungen während der Überschwemmungen sehr gering ausfielen. Auch aus diesem Grund waren die Haushalte während der Überschwemmungen zusätzlich auf das Betteln angewiesen. 7.3.3.3 Betteln Die Haushalte konnten sich während der Überschwemmung an fremde Personen wenden und diese um Geld oder Lebensmittel bitten. Meist gingen die SlumBewohner dabei in die umliegenden Wohngegenden, in denen wohlhabendere Personen leben. Im Sinne des Zakat ist es wahrscheinlich, dass wohlhabendere Personen Geld oder Nahrungsmittel als Spenden geben. Für manche Haushalte ist das Betteln sogar eine eigenständige tägliche Tätigkeit, die vorrangig von älteren Frauen (oft Witwen) als Beruf angegeben wird. Die Interviewpartner berichten oft davon, dass sie während der Überschwemmung zu den umliegenden Häusern gingen, wie z.B. diese Frauen aus Goda Tek: Frau 1: “When my children were starving, then I went from house to house and begged food.” Frage: “Where did you beg for food?” Frau 1: “From the buildings next by, where richer people live.” Frau 2: “We said: ‘Uncle, our children are dying for food.’ They had mercy on us and said: ‘Take these and save your children.’”

Als Antwort auf dieses häufig auftretende Phänomen der bettelnden SlumBewohner, vor allem während Überschwemmungen, organisierten etliche Personen der Mittel- und Oberschicht eine gemeinschaftliche Nothilfe für die SlumBewohner. Die während der schweren Überschwemmungen üblichen Bewältigungsmaßnahmen werden in Tab. 29 zusammengefasst.

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Tab. 29: Bewältigungsmaßnahmen der Slum-Haushalte während schwerer Überschwemmungen (N=625, wenn nicht anders angegeben). Die Spalte Wirkung bewertet die entsprechende Maßnahme aufgrund der Aussagen in den Interviews.

Anteil der Haushalte

Wirkung

Ersparnisse vor der Überschwemmung

44%

Mittel

Lagerung von haltbaren Lebensmitteln

32%

Niedrig

Baumaterialien (v.a. Sand, Ziegel), um den Besitz vor Hochwasser zu schützen

40%

Niedrig

Zuflucht in Notunterkünften

43%

Mittel

Unterkunft bei Verwandten

30%

Hoch

Zuflucht auf erhöhten Straßen

9%

Niedrig

Bewältigungsmaßnahme Vorbereitende Maßnahmen

Nutzen von baulichen Strukturen (N=302)

Nicht-strukturelle Maßnahmen des Staates und der NGOs Organisierte Soforthilfe

49%

Mittel

Soforthilfe verteilende Organisationen (N=351, Mehrfachnennungen)

54% Regierung 21% PrivatpersoMittel nen (z.B. lokale Politiker) 17% NGOs

Nicht-strukturelle Maßnahmen der Haushalte Haushalte erfragen Sachdarlehen.

40%

Hoch

Haushalte nehmen Kredite auf.

67%

Hoch, aber langfristige Folgen

Haushalte erfragen Hilfsleistungen.

52%

Mittel

Quelle: Eigene Erhebung 2009.

Bewältigungsmaßnahmen

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7.3.4 Bewertung der Bewältigungsmaßnahmen Die Bewältigungsmaßnahmen zeigten Wirkung und trugen dazu bei, dass die Haushalte die Überschwemmung bewältigen konnten. Allerdings war jede der beschriebenen Bewältigungsmaßnahmen für sich allein betrachtet dazu nicht in der Lage (siehe auch die Spalte „Wirkung“ in Tab. 29). Vielmehr kann die Bewältigung nur als das Zusammenwirken mehrerer Maßnahmen verstanden werden. Wie aus Abb. 15 ersichtlich ist, mussten 69 Prozent der Haushalte auf mindestens zwei Bewältigungsmaßnahmen zurückgreifen. Über ein Drittel der Befragten Haushalte war sogar auf mehr als zwei Maßnahmen angewiesen. Kreuztabellen belegen, dass die Haushalte, welche keine oder nur eine Bewältigungsmaßnahme anwendeten, diese häufiger auch gar nicht benötigten: So waren in diesen Haushalten die Haushaltsvorstände signifikant häufiger in der Lage, ihren Beruf trotz Hochwasser auszuführen. Das Haushaltseinkommen änderte sich kaum, es wurden tendenziell weniger Haushaltsmitglieder ernsthaft krank und die Haushaltsmitglieder konnten genügend Nahrungsmittel zu sich nehmen (alle: 2x2-Kreuztabelle, Chi-Quadrat-Test, p=0,000, N=621).

Abb. 15: Anzahl der verwendeten Bewältigungsmaßnahmen während der letzten schweren Überschwemmung. Berücksichtigt wurden der Erhalt von Soforthilfe oder Hilfsleistungen, die Aufnahme eines Kredits oder Sachdarlehen (N=622). Quelle: Eigene Erhebung 2009.

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Schwere Überschwemmungen in Slums von Dhaka

Tab. 30 zeigt, dass Haushalte, welche einen höheren und länger andauernden Wasserstand des Hochwassers in Kauf nehmen mussten, mehr als eine Bewältigungsmaßnahme benötigten. Ärmere Haushalte waren der Tabelle zufolge eher auf mehrere Bewältigungsmaßnahmen angewiesen. Tab. 30: Mittelwertvergleiche zur Anzahl der verwendeten Bewältigungsmaßnahmen und den Ausmaße der letzten schweren Überschwemmung sowie dem Haushaltseinkommen.

Anzahl der verwendeten Bewältigungsmaßnahmen

Anzahl der Nennungen (N)

Mittelwert

Höhe des Hochwassers im Haus

≥2

411

0,8 m