Vergil und die Tradition von den römischen Urkönigen 3515070192, 9783515070195

Die hier zum ersten Mal breit ausgeführte Gesamtanalyse der einschlägigen antiken Texte zu den römischen Urkönigen führt

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German Pages 194 [198] Year 1997

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INHALTSVERZEICHNIS
EINFÜHRUNG
1. DIE SATURNSAGE DER AENEIS - ÜBERLIEFERUNG UND NEUERUNG
1.1. Sinn und Zweck der Saturnsage der Aeneis
1.2. Vermeintliche Vorbilder in früherer Tradition
1.2.1. Saturn König Italiens bei republikanischen Historikern? Das Zeugnis der frühchristlichen Autoren
1.2.2. Saturn König Italiens bei republikanischen Historikern? - Gegenargumente
1.2.3. Das Problem der Sacra historia des Ennius
1.3. Von Dichtung zu Geschichte: die Problematik der Umwandlung der Saturnsage
2. ZU DEN FRÜHEREN SATURNTRADITIONEN
2.1. Vergils Georgica 2,536ff. und die bodenständige Saturntradition
2.1.1. Saturn bei Varro rust. 3,1,5
2.1.2. Saturn bei Dionysios von Halikarnaß 1,36
2.2. „Kronos im Westen“
2.3. Die Saturnia-Tradition
2.3.1. Der besondere Charakter der vorvergilischen Saturnia- Tradition: Dionysios von Halikarnaß 1,34
2.3.1.1. Die übrigen Zeugnisse der vorvergilischen Saturnia- Tradition
2.3.2. Spuren der vorvergilischen Saturnia-Tradition in einigen weiteren Texten
2.3.3. Abschließende Bemerkungen zur Saturnia-Tradition
2.4. Rückblick auf Kapitel 2
2.5. Anhang: Der Janus der Aeneis im Verhältnis zur früheren Tradition
3. DIE HISTORISIERUNG DER SATURNSAGE DER AENEIS
3.1. Hintergrund: Die Distinktion zwischen höheren und „gewordenen“ Göttern. Der Begriff Euhemerismus
3.1.1. Saturn und die allegorische Deutung der höheren Götter
3.2. Der Prozeß der Historisierung
3.2.1. C. Iulius Hyginus und die Historisierung der Saturnsage
3.2.1.1. Das Verhältnis zwischen Janus und Saturn bei Hygin
3.2.2. Pompeius Trogus und die Historisierung Saturns
4. ZUR REZEPTION UND ENTWICKLUNG DER HISTORISIERTEN URGESCHICHTE DER AENEIS
4.1. Die Urkönige bei Sueton?
4.2. Origo gentis Romanae
4.3. Servius
4.4. Die christlichen Autoren: Vorbemerkungen
4.4.1. Tertullian
4.4.2. Minucius
4.4.3. Lactanz
4.4.4. Schlußfolgerungen
5. DIE LAURENTISCHE KÖNIGSREIHE
5.1. Das Verhältnis der längeren und der kürzeren Königsreihe zueinander
5.2. Der zeitliche Ansatz des regnum Laurentum
5.3. Die Königsreihe in der christlichen Chronistik des Ostens
6. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
6.1. Zusammenfassung
6.2. Ausblick ins Mittelalter
LITERATUR
PERSONEN- UND SACHREGISTER
STELLENREGISTER
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Vergil und die Tradition von den römischen Urkönigen
 3515070192, 9783515070195

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Marianne Wifstrand Schiebe

Vergil und die Tradition von den römischen Urkönigen Hermes Einzelschriften 76

Franz Steiner Verlag Stuttgart

MARIANNE WIFSTRAND SCHIEBE

VERGIL UNDDIE TRADITION VONDEN RÖMISCHEN URKÖNIGEN

HERMES ZEITSCHRIFT FÜR KLASSISCHE PHILOLOGIE

EINZELSCHRIFTEN HERAUSGEGEBEN VON

JÜRGEN BLÄNSDORF JOCHEN BLEICKEN WOLFGANG KULLMANN

HEFT 76

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

1997

MARIANNE WIFSTRAND SCHIEBE

VERGIL UND

DIE VON

TRADITION DEN

RÖMISCHEN URKÖNIGEN

FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART

1997

HERMES-EINZELSCHRIFTEN (ISSN 0341– 0064)

Redaktion: Prof. Dr.JÜRGEN BLÄNSDORF, AmRömerberg 1c, D-55270 Essenheim (verantwortlich fürLatinistik) Prof. Dr. JOCHEN BLEICKEN, Humboldtallee 21, D-37073 Göttingen (verantwortlich für Alte Geschichte) Prof. Dr. WOLFGANG KULLMANN, Bayernstr. 6, D-79100 Freiburg (verantwortlich fürGräzistik) Jährlich

Erscheinungsweise:

6 Bände 3–

verschiedenen Umfanges

Bezugsbedingungen: Bestellung zurFortsetzung möglich. Preise derBände nachUmfang. Eine Fortsetzungsbestellung gilt, falls nicht befristet, bis auf Widerruf. Kündigung jederzeit möglich.

Verlag:

Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Birkenwaldstr. 44, D-70191 Stuttgart, Postfach 101061, D-70009 Stuttgart

DieHerausgeber bitten, Manuskripte andieobengenannten Redaktionsadressen zu senden. Erwünscht sind füralle Manuskripte Schreibmaschinenblätter miteinseitiger Beschriftung (links 4 cmfreier Randerforderlich). DerRedaktion angebotene Manuskripte dürfen nicht bereits veröffentlicht sein oder gleichzeitig veröffentlicht werden; Wiederabdrucke erfordern dieZustimmung des Verlages. Textverarbeitung:

DerVerlag begrüßt es, wennmöglichst viele Manuskripte über PCrealisiert können. Nährere Auskünfte aufAnforderung

werden

DieDeutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Hermes / Einzelschriften] Hermes: Zeitschrift fürklassische Philologie. Einzelschriften.

– Stuttgart:

Steiner. Früher Schriftenreihe. - Nebent.: Hermes-Einzelschriften Reihe Einzelschriften zu:Hermes NE:Hermes-Einzelschriften H.76. Wifstrand Schiebe, Marianne: Vergil unddieTradition vondenrömischen Urkönigen. –1997

Wifstrand Schiebe, Marianne:: Vergil unddieTradition vondenrömischen Urkönigen / Marianne Wifstrand Schiebe. –Stuttgart: Steiner, 1997 (Hermes; H. 76) 2 07019– 515– ISBN 3–

ISO 9706

Jede Verwertung desWerkes außerhalb derGrenzen desUrheberrechtsgesetzes istunzulässigundstrafbar. Diesgilt insbesondere fürÜbersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie fürdieSpeicherung inDatenverarbeitungsanlagen. Gedruckt aufsäurefreiem, alterungsbeständigen Papier. © 1997 byFranz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Druck: Druckerei Peter Proff, Eurasburg. Printed

inGermany

VORWORT Die vorliegende Arbeit ist im wesentlichen das Ergebnis eines zweijährigen Projekts, das vom Schwedischen Forschungsrat für Geistes- und Gesellschaftswissenschaften finanziert wurde (Humanistisk-Samhällsveten1994). Dank der Arbeitsruhe, die mir wähskapliga Forskningsrådet; 1992– rend der Projektzeit durch die ungewohnte finanzielle Sicherheit zuteil wurde, konnte ich mich derForschung vollzeitlich widmen undso die Untersuchung, die ich schon seit Jahren als dringend empfand, ohne Unterbrechung zu Ende führen. DerForschungsrat hatauch dankenswerterweise dieDruckkosten mitgetragen. Entscheidende Vorarbeiten wurden während meiner Zeit als Gastwissenschaftlerin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 1991 geleistet. Die freundliche Aufnahme im dortigen Seminar für Klassische Philologie, die wissenschaftliche Diskussion undderfortwährende Kontakt mit demSeminar, insbesondere mit Frau Prof. Dr. Antonie Wlosok, haben sowohl Konzeption wie Durchführung der Arbeit höchst wesentlich gefördert. Der Aufenthalt wurde durch ein Reisestipendium derUniversität Uppsala (Sederholms fond) sowie ein Gastwissenschaftlerstipendium derJohannes-Gutenberg-Universität ermöglicht. Zwei schwedischen Gelehrten bin ich zuDank verpflichtet. Herr Prof. Dr. Lennart Rydén hatmich mitwertvollen Kommentaren zudenAbschnitten 5.2. und5.3. unterstützt. Zurnumismatischen Thematik desAbschnitts 3.2.1.1. konnte ich mich mit Herrn FK Harald Nilsson beraten. DenHerausgebern derHermes-Einzelschriften, denHerren Professoren Blänsdorf, Bleicken undKullman, danke ich für dieAufnahme dieser Arbeit in die Reihe sowie für wertvolle Hinweise. Herrn Professor Blänsdorf sei besonders gedankt für seinen unermüdlichen Beistand bei derHerstellung derDruckvorlage. Uppsala

imDezember 1996

Marianne Wifstrand Schiebe

INHALTSVERZEICHNIS

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EINFÜHRUNG

1. DIE SATURNSAGE DER AENEIS - ÜBERLIEFERUNG UND NEUERUNG 1.1. Sinn undZweck derSaturnsage derAeneis 1.2. Vermeintliche Vorbilder infrüherer Tradition 1.2.1. Saturn König Italiens bei republikanischen Historikern? DasZeugnis derfrühchristlichen Autoren 1.2.2. Saturn König Italiens bei republikanischen Historikern? Gegenargumente

1.2.3. Das Problem der Sacra historia des Ennius 1.3. VonDichtung zuGeschichte: die Problematik derUmwandlung der Saturnsage

2. ZU DEN FRÜHEREN SATURNTRADITIONEN 2.1. Vergils Georgica 2,536ff. unddiebodenständige Saturntradition 2.1.1. Saturn bei Varro rust. 3,1,5 2.1.2. Saturn bei Dionysios vonHalikarnaß 1,36 2.2. „Kronos im Westen“ 2.3. Die Saturnia-Tradition 2.3.1. Der besondere Charakter der vorvergilischen SaturniaTradition: Dionysios von Halikarnaß 1,34 2.3.1.1. Die übrigen Zeugnisse der vorvergilischen SaturniaTradition 2.3.2. Spuren der vorvergilischen Saturnia-Tradition weiteren Texten

in einigen

2.3.3. Abschließende Bemerkungen zur Saturnia-Tradition 2.4. Rückblick auf Kapitel 2 2.5. Anhang: DerJanus derAeneis im Verhältnis zurfrüheren Tradi-

tion

3. DIE HISTORISIERUNG DER SATURNSAGE DER AENEIS 3.1. Hintergrund: Die Distinktion zwischen höheren und„gewordenen“ Göttern. DerBegriff Euhemerismus 3.1.1. Saturn unddieallegorische Deutung derhöheren Götter 3.2. DerProzeß derHistorisierung 3.2.1. C. Iulius Hyginus unddie Historisierung derSaturnsage 3.2.1.1. Das Verhältnis zwischen Janus undSaturn bei Hygin 3.2.2. Pompeius Trogus unddie Historisierung Saturns

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4. ZUR REZEPTION UNDENTWICKLUNG DER HISTORISIERTEN URGESCHICHTE DER AENEIS 4.1. Die Urkönige bei Sueton? 4.2. Origo gentis Romanae 4.3. Servius 4.4. Die christlichen Autoren: Vorbemerkungen 4.4.1. Tertullian 4.4.2. Minucius 4.4.3. Lactanz 4.4.4. Schlußfolgerungen

5. DIE LAURENTISCHE KÖNIGSREIHE 5.1. DasVerhältnis derlängeren undderkürzeren Königsreihe zueinander

5.2. Derzeitliche Ansatz desregnum Laurentum 5.3. Die Königsreihe in derchristlichen Chronistik desOstens

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6. ZUSAMMENFASSUNG UNDAUSBLICK 6.1. Zusammenfassung 6.2. Ausblick insMittelalter

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LITERATUR

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PERSONEN- UNDSACHREGISTER

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STELLENREGISTER

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EINFÜHRUNG Griechische Autoren interessierten sich mindestens seit dem 5. vorchristlichen für die älteste Geschichte Italiens. Sie stellten sich gerne vor, daßItalien in frühester Zeit vonwiederholten Einwandererwellen aus Griechenland besiedelt worden sei. Die frühen römischen Historiker sind ihnen offensichtlich teilweise darin gefolgt, undauch Varro hatz. B. die älteste Geschichte Italiens im Lichte solcher Theorien betrachtet¦1¿. Die vorliegende Untersuchung berührt jedoch diese Traditionen nurmittelbar. Im Zentrum des Interesses steht statt dessen eine andere Fassung, die inwechselnder Form in mehreren erhaltenen lateinischen TextenderKaiserzeit vorliegt unddie im Gegensatz zudengerade genannten Vorstellungen sich primär undspezifisch auf Rom selbst undseine nächste Umgebung konzentriert. Nach dieser Fassung hat in derfrühesten Zeit entweder Saturn allein oder Janus, zunächst allein unddann neben Saturn, an derStätte des späteren Rom geherrscht. Einige Texte verfolgen die Geschichte weiter undstellen einen Anschluß andieAeneassage her: nach Saturn sei Picus andie Herrschaft gelangt; ihm sei Faunus gefolgt unddiesem wiederum Latinus. In die Zeit desLatinus wurde bekanntlich dieEinwanderung derTrojaner unter Aeneas verlegt. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, denHintergründen undder Entwicklung der Tradition von den römischen Urkönigen Saturn, Janus usw. nachzugehen. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Frage, wie ihr wichtigstes Element, die Herrschaft Saturns, sich zu dem reichen Schatz von Vorstellungen über Kronos undSaturn im allgemeinen undzur Saturnsage derAeneis imbesonderen verhält. Eine monographische Gesamtdarstellung derThematik wurde m. W. bisher nicht unternommen. Die einzelnen Stellen sind selbstverständlich vielfach in denverschiedensten Zusammenhängen mehr oder weniger eingehend behandelt worden, undauch Einzelaspekte sind immer wieder Gegenstand der Diskussion gewesen. Sie standen aber weniger oft imMittelpunkt desInteresses, sondern wurden in der Regel mehrzufällig undnebenbei besprochen, etwa andendiesbezüglichen Stellen derkommentierten Ausgaben oder in Untersuchungen zu denbetreffenden Autoren¦2¿. Gerade diezusammenhängende Perspektive läßtjedoch Muster erkennen, die bei derBetrachtung einzelner Textbelege versteckt bleiben. Imfolgenden wird sich herausstellen, daß die Tradition von denrömischen Urkönigen weit weniger einheitlich, weit weniger statisch ist, als normalerweise vorausgesetzt wird, und, was besonders wichtig ist, daßsie keineswegs so alt undso verbreitet gewesen ist, wie esnachdeneinschlägigen Stellen dermodernen Literatur denAnschein hat. DieTerminologie hatmireinige Schwierigkeiten bereitet. Ichbin mirbewußt, , das ich im folgenden wiederholt verwenden werde, daßdasWort „Urgeschichte“

Jahrhundert

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S. dazu unten S. 85 (mit Fußn. 35).

Eine Ausnahme bildet derausführliche Artikel vonBRELICH 1976 (erste Auflage 1955), der fast schon eine kleine Monographie ausmacht.

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Einführung

nicht ideal ist, daes falsche Vorstellungen erwecken könnte. Ich habejedoch kein besseres gefunden. UmMißverständnissen vorzubeugen, sei hier von vornherein klargemacht, daßich denBegriff lediglich als Bezeichnung füreine Vorstellung von der allerältesten Zeit, wie auch immer verstanden, verwende. Er kann sich also durchaus aufeinen Stoff beziehen, dernoch primär als Sage empfunden wird, und Sagenbesagt nicht, daßeine historische Sichtweise zugrundeliegt. Begriffe wie „ geschichte“oder „ mythische Geschichte“würden als übergeordneter Begriff nicht zutreffen. Zwarerscheint vonunserem heutigen Standpunkt ausderhier behandelte Stoff gewiß durchgehend als Sagengeschichte, aber nicht wie er uns erscheint, sondern ausschließlich, wie er den antiken Menschen vorgekommen ist, soll das Thema der Untersuchung sein, undvon ihrem Standpunkt aus träfe eine solche Gesamtbenennung nicht zu. Eins meiner Hauptanliegen besteht geradezu darin, zu verfolgen, wieeinbestimmter „ seinen legendären Charakter einbüßte Sagenstoff“ undstattdessen als getreues Bild derhistorischen Vergangenheit verstanden wurde. Die Texte, die im folgenden besprochen werden sollen, verteilen sich grob gesehen auf zwei Zweige, deren Unterscheidung für das Verständnis der Entstehung undderEntwicklung unserer Tradition vongrößter Bedeutung ist. Deneinen Zweig werde ich im folgenden den mythisierenden nennen, während ich den anderen als denhistorisierenden bezeichne. Diese Begriffe stehen ausschließlich füreine jeweils charakteristische Sichtweise; dasWort „mythisierend“darf nicht so verstanden werden, als enthielte es zugleich eine Aussage über die Herkunft oder dasAlter derso bezeichneten Vorstellung oder garüber dasWesen oder die Funktion vonMythen imallgemeinen. Es weist lediglich auf denUmstand hin, daßnach dem Standpunkt der betreffenden Texte die ewigen Götter leibhaftig und sichtbar auf Erden auftreten können. Unter solchen Umständen besteht also dieMöglichkeit, daß ein Gott (etwa Kronos/Saturn) als König über Menschen herrscht. Demgegenüber umfaßt derhistorisierende Zweig Texte, dieein solches leibhaftiges Auftreten ewiger Götter unter denMenschen nicht zulassen, dafür aber denbetreffendenGott für einen ursprünglichen Menschen halten, derdann nach seinem Todzu den Göttern aufsteigt oder von den Menschen als Gott betrachtet wird. Wo Kronos/Saturn hier als König auf Erden auftritt, handelt es sich somit umeinen menschlichen, auf Erden geborenen König. Die Diskussion geht mit Notwendigkeit von der Aeneis aus. Ich hoffe und glaube, daßmeine Untersuchung deutlich an denTag legt, daßdie Tradition von den römischen Urkönigen undihren Taten, so wie wir sie kennen, in der Aeneis ihren Ausgangspunkt hat undohne diese in vorliegender Form gar nicht denkbar wäre. Erst auf diesem Hintergrund werden die kaiserzeitlichen Behandlungen der römischen Urgeschichte voll verständlich. Denersten Anstoß zurAuseinandersetzung mitdemStoff gabmirdieArbeit an meiner Dissertation (1981). Bei derAnalyse desThemas Goldene Zeit bei Vergil (ebenda Kap. 2) ging mirauf, daßdie Information, die diewissenschaftliche Literatur imallgemeinen zudenmitSaturn unddergoldenen Zeit verknüpften Traditionen gibt, undder tatsächliche Inhalt der einschlägigen antiken Texte so schlecht miteinander in Einklang stehen, daßeine kritische Gesamtmusterung desTextmaterials erforderlich ist, umdie wahren Verhältnisse aufzudecken. Besonders auf-

Einführung

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fallend fand ich die Tendenz, eine mehr oder weniger eng mitderSaturnsage der Aeneis übereinstimmende Fassung in praktisch jeden Text derrömischen Literatur (und etliche dergriechischen), die sich in irgendeiner Weise auf Saturn beziehen, hineinzuinterpretieren. Wasdievor- undaußervergilischen Verhältnisse betraf, ließ dergegebene Rahmen jedoch damals nureinige vorläufige Hinweise zu¦3¿. Ichmußte michimübrigen damit begnügen, eine künftige, eingehendere Quellenuntersuchung zur Saturnsage der Aeneis in Aussicht zu stellen, undmich statt dessen vorerst darauf konzentrieren, auffällige Mißverständnisse über Saturn, so wie er bei Vergil selbst dargestellt wird, auszuräumen¦4¿. Einige Jahre später konnte ich die angesagte gründlichere Quellenuntersuchung vorlegen (1986). Es ging mirhier darum, durch ausführliche Analyse derzutreffendenTexte klarzustellen, daß die Flucht Saturns undseine darauf folgende Herrschaft in Latium vorderAeneis nicht belegt sind unddaßdies höchst wahrscheinlich kein Zufall ist - die Tradition hat vermutlich noch gar nicht existiert¦5¿. Ein besonderer Abschnitt wurde demeigenartig unklaren Verhältnis gewidmet, das in derAeneis zwischen Saturn undJanus besteht. Aus demVergleich mit weiteren, Janus undSaturn bzw. nurJanus betreffenden Textstellen schloß ich auf die Existenz einer vonderAeneis unabhängigen, vor ihrbestehenden Tradition vonJanus als frühem König und Kulturstifter Latiums¦6¿. Zwar bin ich mir damals über die grundsätzliche Differenz mythisierender undhistorisierender Sehweise undihre Bedeutung für die Beurteilung derTexte zuwenig im klaren gewesen. Auch habe ich, wie mir inzwischen deutlich geworden ist, den Variantenreichtum der nachvergilischen Tradition unterschätzt. Dennoch sind die meisten Ergebnisse heute mindestens so aktuell wie damals, ja, in derTat lassen sich teilweise noch erheblich weitgehendere Schlußfolgerungen ziehen. Nicht zuletzt hätte mit mehr Nachdruck betont werden müssen, daß die dort in Fußnote 7 kurz besprochenen Stellen bei Tertullian, Minucius undLactanz nicht alsArgumente dafür verwendet werden dürfen, daßschon die Annalistik Saturn als historischen König Italiens gekannt habe, sondern vielmehr ausderDiskussion ausscheiden müssen. Damit ist diebetreffende These imPrinzip schon erledigt¦7¿. Einen entscheidenden Schritt auf demWeg zu einer exakteren Erfassung der vorvergilischen Verhältnisse bedeutete meine während meiner Zeit als Gastwissenschaftlerin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführte UntersuLactanz undVarro: Beobachtungen zuinst. 1,13,8 anHandeiniger Stellen chung „ derCivitas Dei Augustins“¦8¿.Dieser Artikel setzt sich mitderSaturndeutung Varros

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S. besonders Anm. 2:11 und2:12, S. 135ff. Meine Bemühungen richteten sich v. a. gegen die verbreitete Gewohnheit, für die 4. (und 6.) Ekloge bzw. fürdieGeorgica dieselbe Saturnkonzeption vorauszusetzen, die in derAeneis vor41). liegt. S. dort S. 21ff.; 35ff.; vgl. 42f. Vgl. auch unten Abschnitt 2.1 (S. 39– Wie ich heute denfür die Frage wichtigsten Text, Lact. inst. 1,14,12, beurteile, wird unten Abschnitt 1.2.3. dargelegt. Ausführlich zudiesem Problem jetzt unten Abschnitt 2.5. und3.2.1.1. Tert. apol. 10,7f.; nat. 2,12,26ff.; Min. Fel. 23,9; Lact. 1,13,8. Vgl. dazu eingehend unten Abschnitt 1.2.1. Wiedort dargelegt wird, ist dieThese ausmehreren Gründen ohnehin wenig wahrscheinlich. WIFSTRAND SCHIEBE 1994.

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Einführung

auseinander. Gerade Varro wird häufig als potentieller Urheber oder zumindest Vermittler einer derAeneis zugrundeliegenden historisierenden Saturnfassung angesehen. Schon in meiner Dissertation¦9¿ stellte ich mich zu solchen Hypothesen skeptisch, da ich sie durch keine Textbelege gestützt fand. Nunwar mir im Zusammenhang miteiner systematischen Lektüre derCivitas Dei klar geworden, daß dieses Werk, unsere wichtigste Quelle für mehrere, sonst verlorene Schriften Varros, die entscheidende Evidenz enthält. Varro hat, wie dort hervorgeht, durchgehendSaturn imSinne dertheologia naturalis oder theologia physica alskosmisches Prinzip, als Teil deranima mundi gedeutet. Wirkönnen diesen seinen Standpunkt heute noch direkt in demunserhaltenen fünften Buch derLingua Latina, § 57ff. und64, überprüfen¦10¿. Dementsprechend habe ich in demgenannten Artikel - an Agahd anknüpfend, derin seiner Diskussion zudenFragmenten einiger Bücher der Antiquitates rerum divinarum Varros eine Auffassung vonSaturn als historischem König fürdaswichtige 16. Buch dieses Werks ausgeschlossen hatte¦11¿ - ausführlich dargelegt, daßVarro weder als Urheber, noch als Zeuge einer Tradition vonSaturn als menschlichem König, ob in Latium oder anderswo, in Frage kommt. Mit derZeit nahm ein Plan Gestalt an, die römische Urgeschichte derAeneis aus einer umfassenderen Perspektive zubeleuchten, d. h. nicht nurzu studieren, wiesie entstanden ist undwie sie sich zurfrüheren Tradition verhält, sondern einen weiteren Schwerpunkt bei der Rezeption unddernachfolgenden Entwicklung des Motivs zusetzen, namentlich in seiner historisierten Form. Diese Perspektive wird über die Klärung derGeschichte unseres Motivs unddie Würdigung der Leistung Vergils hinaus auch wertvolle Einblicke in die antike Gedankenwelt gewähren. Die relevanten Texte aktualisieren u. U. gewisse weltanschauliche Probleme, mitdenen derantike Mensch genauso zuringen hatte wiedermoderne, namentlich dieFrage nach demVerhältnis zwischen Gott undMensch, in demhier aktuellen Material vor allem imKonflikt derbeiden Gattungen Dichtung undGeschichte spürbar. Meine Untersuchung geht grundsätzlich vondenantiken Texten aus, nicht von modernen wissenschaftlichen Erörterungen dazu. Nurso läßt sich ein zutreffender Überblick über dieTraditionen gewinnen. Außerdem ermöglicht dasVerfahren eine straffere undgezieltere Argumentation. Aufsystematische Polemik gegen einzelne Hypothesen wird verzichtet. Solche Polemik wäre sehr aufwendig und würde ohnehin, aber erst aufUmwegen, zumgleichen Ergebnis wiedieTextanalyse selbst führen. So z. B. werden in derwissenschaftlichen Literatur Begriffe wieSaturnia, Saturnia tellus, Saturnius (mons) ständig als selbstverständliche Belege für die Flucht Saturns undseine darauf folgende Herrschaft in Latium betrachtet. Daßdies jedoch zuUnrecht geschieht, geht ausdemTextmaterial selbst so evident hervor, daßein Eingehen auf die diesbezüglichen Äußerungen einzelner Forscher sich erübrigt¦12¿. NurinAusnahmefällen sind mirausführlichere Auseinandersetzungen mit der Sekundärliteratur sinnvoll oder notwendig erschienen. Generell kann gesagt werden, daß die für meine Untersuchung in Frage kommenden Texte nur selten

9 S. besonders Anm. 2:11, S. 135. 10 S. dazu unten S. 62. Vgl. Abschnitt 3.1.1. a. E. 11 AGAHD S. 54.

12 S. unten 2.3.

Einführung

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unklar oder mehrdeutig sind. Erst die lange Tradition vonvorgefaßten Meinungen, falschen Prämissen undoberflächlicher Betrachtung hatUnklarheiten geschaffen. Die ausdrückliche Auseinandersetzung mitderFachliteratur beschränkt sich daher imfolgenden meist aufBeiträge vonprinzipieller Bedeutung. Früheren Darstellungen, dieinirgendeiner Weise entscheidend zumeinem eigenen Verständnis dererörterten Texte undFragen beigetragen haben - wasnicht heißen muß, daßich mich ihnen immer anschließe - versuche ich allerdings durch angemessene Hinweise stets gerecht zuwerden.

1. DIE SATURNSAGE DER AENEIS - ÜBERLIEFERUNG UND NEUERUNG 1.1. SINN UNDZWECK DER SATURNSAGE DER AENEIS Saturns inLatium (6,792ff.; 8,314ff.; vgl. 7,45ff.). Besonders ausführlich wird sie im 8. Buch geschildert. Gerade der Umstand, daßdiese Schilderung so gutbekannt ist undso häufig angeführt wird, mußwohl derGrund sein, weshalb derausgefallene Charakter ihres Inhalts niemals besonders besprochen oder hervorgehoben wird. Es handelt sich in derTatumeine eigenartige Geschichte. DerKontext ist derBesuch desAeneas bei Euander. Aufeinem kleinen Spaziergang ander Stätte, woeinst Romliegen wird, erzählt Euander seinem Gast von

DieAeneis bietet dieersten Belege fürdieHerrschaft

derVergangenheit desOrts. Er schildert u. a., wie Saturn, vonJuppiter ausdem Olymp vertrieben, nach Latium gekommen sei undderprimitiven Bevölkerung die 323); er zeigt auf die Ruinen zweier alter Städte, Zivilisation gebracht habe (V. 314– 358). Die friedliche Herrschaft Sadie Saturn undJanus gebaut haben sollen (355– turns in dieser Gegend sei die goldene Zeit gewesen (8,324f.; vgl. 6,792ff.). 315

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“haec nemora indigenae Fauni nymphaeque tenebant, gensque virum truncis etdurorobore nata, quisneque mosneque cultus erat, neciungere tauros autcomponere opesnorant autparcere parto, sedramiatque asper victu venatus alebat. primus abaetherio venit Saturnus Olympo arma Iovis fugiens et regnis exul ademptis. is genus indocile ac dispersum montibus altis composuit legesque dedit, Latiumque vocari maluit, his quoniam latuisset tutus in oris. aurea quaeperhibent illo subrege fuere saecula: sic placida populos in pace regebat, deterior donec paulatim acdecolor aetas etbelli rabies etamorsuccessit habendi. tummanus Ausonia et gentes venere Sicanae, saepius et nomen posuit Saturnia tellus;

haec duopraeterea disiectis oppida muris, reliquias veterumque vides monumenta virorum. hancIanus pater, hanc Satumus condidit arcem: Ianiculum huic, illi fuerat Saturnia nomen.”

Betrachten wireinmal mitunvoreingenommenen Augen diese Geschichte. Saturn, ein Gott, steigt vom Himmel auf die Erde herab. Es geschieht nicht freiwillig, so wie die Götter im Mythos die Gewohnheit haben, gelegentlich die Welt der Menschen zu besuchen. Nein, Saturn ist verjagt worden, undder Weg zurück zum

1.1. SinnundZweck derSaturnsage derAeneis

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Olymp ist ihmfür immer gesperrt. Er kommt nun, auf welchem Weg wird nicht gesagt, nach Latium. Hier fühlt er sich offensichtlich vor dem neuen Herrscher des Himmels, seinem Sohn, derihnvertrieben hat, sicher - es scheint, als wäre er noch auf der Flucht verfolgt worden - daher nennt er dasLand später Latium. ZurZeit seiner Ankunft lebt in Latium eine primitive, nurhalb menschliche Bevölkerung, ganz ohne Kultur undZivilisation. Saturn baut eine erste Gesellschaft auf, über die er alsKönig herrscht. Dies ist diegoldene Zeit. Abernachundnachverschlechtern sich die Zeiten, Krieg undHabsucht nehmen zu,fremde Völker brechen ins Land ein. Die goldene Zeit ist vorbei, die Herrschaft Saturns auch. Wasnach seiner Regierung ausihmwird, geht allerdings ausderAeneis nicht hervor. Undin derTat ließe sich diese Frage nicht leicht beantworten, denn weder kann Saturn, unvergänglich wie er ist, einfach sterben, noch kann er in denHimmel zurückkehren. Vergil hates wohlweislich vermieden, aufdasProblem einzugehen. Soweit ich sehen kann, ist dieGeschichte, dieEuander hier erzählt, in dergesamten antiken Literatur einmalig. Ichkenne keinen zweiten Text, in welcher Gattung auch immer, wo in dieser Weise ein wahrer, ursprünglicher, unsterblicher Gott endgültig auf die Erde geschickt wird, ohne die Möglichkeit, in den Himmel zurückzukehren - dieentsprechenden Stellen derFasti Ovids ausgenommen, diedie Aeneis als direktes Vorbild haben¦1¿. Mythos undDichtung sind reich anBeispielen, wo die Grenzen zwischen menschlicher undgöttlicher Welt überschritten oder verwischt werden. In alter Zeit besuchten die Götter bekanntlich gerne die Menschen undhielten sich für längere oder kürzere Zeit auf Erden auf. Die wichtigsten Grundlagen der Zivilisation undviele andere Erfindungen haben die Götter während ihrer Wanderungen auf der Erde denMenschen persönlich geschenkt. Der Mythos weiß sogar zuerzählen, daßZeus selbst aufKreta geboren wurde unddort aufwuchs. Später leitete erimmer wieder Liebesverbindungen mitirdischen Frauen ein. VondenKindern desZeus sindderSage nachdiemeisten aufErden geboren, also nicht nur diejenigen, die sterbliche Mütter hatten und (gegebenenfalls) erst sekundär zudenGöttern erhoben wurden - auch Olympier wieHermes, Apoll und Artemis, von vornherein unsterbliche Zeuskinder, haben das irdische Licht als erstes erblickt¦2¿. Auch unter anderen Bedingungen läßt derMythos manchmal einen höheren Gott regelrecht unter denMenschen leben. So z. B. mußte Apoll als Strafe für ein Vergehen ein Jahr lang (nach einer Fassung sogar neun Jahre lang¦3¿) bei Admet dienen, undDemeter hielt sich aufderSuche nach ihrer Tochter lange unter den Menschen auf. Und es läßt sich sogar eine - in unserem Zusammenhang besonders interessante - Tradition belegen, nach der Saturn allem Anschein nach dauerhaft auf Erden¦4¿ geherrscht haben soll. Suchen wir aber nach engeren

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Ov. fast. 1,233ff.; 6,31f. Zu den Geburtsmythen s. LAAGER. Mythen voneiner irdischen Geburt lassen sich für die meisten Götter belegen, wennsieauchmanchmal (wieimFalle derAthene) eherAusnahmen sind.

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Serv. Aen. 7,761. Verg. georg. 2,536ff.; Varro rust. 3,1,5; Dion. Hal. 1,36,1. S. dazu unten Abschnitt 2.1.2.1.2. Diese Stellen sindechte Beispiele dermythisierenden Sehweise unddürfen nicht mit solchen Fällen verwechselt werden, indenen Saturn/Kronos alsgeborener Mensch verstanden wird.

Vgl. dieDarstellung imfolgenden.

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l. Die Satumsage der Aeneis - Überlieferung und Neuerung

Gegenstücken zu der von Vergil in Aen. 8,314ff. erzählten Sage, bleibt der Erfolg aus. Der normale Weg geht sonst von der Erde in den Himmel, nicht umgekehrt. Wer ursprünglich menschlicher Natur ist -wie Herakles, Dionysos, die Dioskuren - erfahrt dabei auch einen Wesenswandel ins Göttliche. Daß aber ein Gott eine neue Existenz unter den Menschen beginnt, weil er den Himmel hat verlassen müssen und nicht mehr zurückkann, ist eine auffallende Umkehrung der sonst im Mythos und Sage vorkommenden Relation zwischen menschlicher und göttlicher Existenz5. Entfernt vergleichbar wäre höchstens die Sage von Hephaistos auf Lemnos: ihn hatte Zeus, oder nach einer anderen Fassung Hera, vom Olymp geschleudert. Er landete auf Lernnos, wo die Sintier ihn aufnahmen6. Hephaistos kehrt aber schließlich doch in den Olymp zurück und bietet also schon aus dem Grund keine Parallele zu Satum, der für immer und sozusagen aus politischen Gründen aus dem Himmel verbannt worden ist. Besiegte und erledigte Götter laufen sonst nicht davon, um sich unter den Menschen zu verstecken, und zumal nicht, um dort einen Neuanfang als Menschenkönige und Kulturstifter zu machen?. Daß sie das nicht tun, hängt sicherlich nicht zuletzt gerade mit dem Problem zusammen, das oben in Verbindung mit dem Ende der goldenen Zeit Satums in Latium gestreift wurde: einen solchen Ex-Olympier, dem der Himmel nicht mehr offen steht, wird man nicht so leicht wieder los. Die Unsterblichkeit des betreffenden Gottes wird zum Nachteil. Aus diesem Grund erscheint es mir unwahrscheinlich, daß Vergil einen überkommenen Mythos genau dieses Inhalts, sei es einen griechischen, sei es einen römischen8, fertig vorgefunden hat. Die Sage weicht zu stark von den bekannten 5 6

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Sterbliche Natur kann in unsterbliche verwandelt werden. Unsterblichkeit kann dagegen. wie sich von selbst versteht, nicht rückgängig gemacht werden. II. I ,590ff. (Zeus); ibid. l8,395ff. (Hera). Nur im ersten Fall spricht die Ilias von einem Aufenthalt unter den Menschen; im zweiten Fall soll (der neugeborene) Hephaistos ins Meer gefallen sein und von Eurynome und Thetis aufgenommen und enogen worden sein. Spätere Darstellungen verbinden gelegentlich beide Fassungen, s. Apollod. bibl. 1,3,5; Serv. Aen . 8,454 u. ecl. 4,62. Die Sage vom Sturz der Titanen kennt eine Variante, nach der die Titanen den Tartaros wieder verlassen dürfen. Bezeichnenderweise werden sie dabei in eine andere der Welt der Menschen ferne Gegend versetzt: sie bewohnen seitdem die J.La!(dpu.w vfjaOL (Hes. erga 173a-e, seit langem regelmäßig als- frühe- Interpolation angesehen, s. WESTS. l94f., jedoch vielleicht doch authentisch, s. VAN DER V ALK; Pind. 01. 2,70ff.; vgl. Pyth. 4,291). Bekanntlich hat die römische Tradition kaum eigentliche Göttermythen aufzuweisen. Es liegt nahe zu vermuten, daß die Positionen in der vielerörterten Frage, warum dies so sei, die Beurteilung der Saturnsage mitgefarbt haben. So steht die Entscheidung WISSOW AS (in ROSCHER 4 s. v. Saturnus, Sp. 433f.), daß die Flucht und die Ankunft Saturns in Latium griechischer Herkunft sei, mit seiner Überzeugung in Einklang, was an römischer Mythologie überhaupt vorhanden sei, seien alles Nachbildungen und Übertragungen griechischer Sagen (WISSOW A 1912 s. 9). Die Diskussion um die Mythenarmut Roms spielt für meine Untersuchung schon aus dem Grund keine unmittelbare Rolle, weil es mir ausschließlich um die Klarstellung und Entwirrung der in den Texten vertretenen Traditionen und um ihre Bedeutung für die antiken Autoren selbst geht, und nicht um eine Beurteilung aus moderner religionswissenschaftlicher Sicht. Ich möehte nichtsdestoweniger betonen, daß ich keinen Anlaß sehe, zu bezweifeln, daß die unten Kap. 2.1.1 . und 2.1.2. zu besprechende Satumtradition (die häufig flllschlich mit der Saturnsage der Aeneis gleichgesetzt wird) in bodenständiger, außerliterarischer Volkstradition wurzelt.

1.1. Sinn undZweck derSaturnsage derAeneis

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Mustern antiker Mythen ab, ohne daßsich fürdasAbweichende daran eine ersichtliche Begründung finden läßt. Wer einen Gott als Kulturstifter oder Städtegründer braucht, demstünde ja das Pantheon ohnehin zurVerfügung, ohne daß manden betreffenden Gott für immer ausdemHimmel verjagen unddamit auch die eigene Geschichte blockieren müßte. Wenn wires aber nicht miteinem überkommenen Mythos zutunhaben, welches ist dann der ursprüngliche Kontext dieser Sage? Auseinem historischen oder historisch-antiquarischen Kontext kann sieja in derhier vorliegenden Form nicht stammen. Der Historiker ist zwar ohne weiteres damit einverstanden, daßgewisse Götter, wie Hercules, Castor undPollux, Faunus oder Romulus, einst Menschen gewesen sind, undselbstverständlich können sie dabei auch Könige gewesen sein, wie die beiden letzten. Dagegen schließt sich für ihn ein König, der gar nicht als Mensch geboren ist, sondern von vornherein ein unsterblicher Gott ist, der sein Dasein im Himmel gegen eine Existenz als König eines irdischen Reichs eingetauscht hat, vonvornherein aus¦9¿. Dereinzig denkbare Entstehungsrahmen dürfte die Dichtung sein. Das heißt nunnicht, daßdie licentia poetica unddie fürdie Dichtung charakteristische freie Verwendung des mythologischen Apparats allein ausreichen, umdie Entstehung einer so seltsamen Geschichte zuerklären. DasKonzept fällt so stark ausdemRahmen, daßwirdarin unbedingt eine übergeordnete Absicht besonderer Artvermuten müssen¦10¿.

Eine solche übergeordnete Absicht, ausderheraus derausgefallene Charakter unserer Sage sich guterklären läßt, finden wir, wiemir scheint, amehesten in der Aeneis selbst. In derGesamtkonzeption dieses Werks kommt nämlich der Saturngeschichte eine ganz besondere Rolle zu,dieesnahelegt, daßsie allein undspezifisch für die Aeneis geschaffen worden ist. Einentscheidendes Anliegen derAeneis ist die Ankündigung derwiederkehrendengoldenen Zeit unter Augustus. Diese neue goldene Zeit hateinen ganz besonderen Charakter: sie besteht in der Verbreitung der römischen Herrschaft über die ganze Erde. Augustus hat das Recht unddie Verpflichtung, das imperium Romanumüber denganzen Erdkreis auszudehnen. Diedurch römische Waffen aufrechterhaltene friedliche Weltordnung (vgl. 1,286ff., unten angeführt, und 6,851ff.) ist mitderneuen goldenen Zeit identisch. Gewiß ein sehr kühner Anspruch - undeine völlige Umfunktionierung herkömmlicher Goldzeitvorstellungen. Als logische Basis undBegründung dieses Anspruchs dient die einstige goldene Zeit unter Saturn. Saturn warfür Vergil aus demGrunde wichtig, weil er seit alters herdie Leitfigur dergoldenen Zeit war. Indemdie Herrschaft Saturns in Latium als die goldene Zeit bezeichnet wird, und nicht die Epoche davor, als Saturn im Himmel herrschte, erfährt das Motiv eine Über die Diskussion zurMythenarmut orientiert in ausgezeichneter Weise GRAF 1993, bes. 31ff. 9 Vgl. unten Abschnitt 1.3. und3.1.1. 10 Allenfalls bliebe noch die Möglichkeit, daß das Motiv für ein philosophisches Werk geschaffen worden sei, dassich gelegentlich dichterischer/mythischer Ausdrucksmittel bedient, wiedies die Dialoge Platons tun. Wirmüßten in einem solchen Fall natürlich genausosehr nachdemprimären Anliegen fragen.

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1. Die Satumsage der Aeneis - Überlieferung und Neuerung

Romanisierung: die einstige goldene Zeit verschiebt sich demnach von einem universalen Glückszustand, wie sie früher immer verstanden worden war, zu einer Epoche der römischen Geschichte. Diese Romanisierung des Goldzeitbegriffs bildet die historische Rechtfertigung des Anspruchs, daß mit Augustus die goldene Zeit wiederkehrt. Von Rom geht mit Recht die neue goldene Zeit aus, denn Augustus Caesar ist der geschichtlich rechtmäßige Erbe Saturns, des einstigen Goldzeitkönigs. Er führt die neue goldene Zeit ein, und erst unter seiner Herrschaft erweitert sich die goldene Zeit zu einer universalen Glücksepoche, zur pax Romana. Augustus ist der Neubeleber und Vollender der römischen Geschichte, die einst ihren Anfang mit der goldenen Zeit Saturns nahm und sich nun im römischen Weltimperium erfüllt: "Nascetur pulchra Troianus origine Caesar, irnperium Oceano, famam qui terminet astris, Iulius, a magno demissum nomen lu1o. hunc tu olim caelo spolüs Orientis onustum accipies secura; vocabitur hic quoque votis. aspera turn positis mitescent saecula bellis: cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus iura dabunt; dirae ferro et compagibus artis claudentur belli portae..." (Juppiter zu Venus, Aen. 1,286-294) "hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arva Saturno quondam; super et Garamantas et Indos proferet imperium ..." (Anchises zu Aeneas, Aen. 6,791-795)

Die primäre, übergeordnete Absicht, der eigentliche Kernpunkt der Saturnfassung der Aeneis, besteht, so glaube ich, gerade darin, die einstige goldene Zeit für Rom allein in Anspruch zu nehmen. Saturn, seit jeher mit den Vorstellungen von der goldenen Zeit verknüpft, ist erst ein Mittel dieser Absicht. Auch in der Aeneis ist er die Leitgestalt der goldenen Zeit, aber um die erwünschte Einengung auf Rom zu erreichen, läßt ihn Vergil nach seinem Sturz vom Olymp fliehen, auf die Erde steigen und nach Latium gelangen, um ihn dort, nach der eigentlichen, traditionellen Saturnzeit des Mythos, regieren zu lassen und die goldene Zeit sich hier erst 11 erfüllen zu lassen. Man sieht: in diesem Kontext ist die Sage von Saturn, der aus dem Olymp flieht und sich in Latium niederläßt, bei aller Eigentümlichkeit so durch und durch sinnvoll, daß es sich schon aus diesem Grund schlecht denken läßt, daß Vergil eine so perfekt passende Fassung fertig vorgeformt vorgefunden hätte und sie komplett mit der Himmelsflucht Saturns und der Verschiebung der goldenen Zeit aus einem anderen Kontext übernommen hätte. Es ist nicht nur einfacher und vernünftiger, 11 Daßnur die Herrschaft Saturns in Latium, keine andere Epoche, als Goldzeit gilt, geht völlig eindeutig aus 8,324f. und 6,792ff. hervor. Es handelt sich also nicht etwa um eine Fortsetzung der eigentlichen goldenen Zeit.

1.1. SinnundZweck derSaturnsage derAeneis

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anzunehmen, daßdie Sage fürdie spezifische Deutung derrömischen Geschichte, die die Aeneis zumAusdruck bringt, geschaffen wurde; es wäre m.E. methodisch bedenklich, dies nicht anzunehmen, da,wieich schon betont habe, die Saturnsage derAeneis in derunserhaltenen antiken Literatur einmalig ist. Ihre Einmaligkeit ist sogar zweifach, denn erstens läßt sie entgegen allen bekannten Schemen einen unsterblichen Gott sozusagen sekundär eine Existenz unter denMenschen beginnen, undzweitens stellt sie gerade durch ihre besondere Verschiebung undEinengung dereinstigen goldenen Zeit einen Bruch mitdergesamten vorangehenden Tradition dar: soweit die goldene Zeit in der antiken Literatur bis zur Aeneis mythologisch festgelegt wurde, gehörte sie nämlich immer indieeigentliche Universalherrschaft Saturns, d. h. in die Zeit Saturns vor Juppiter, wie schon das goldene Geschlecht bei Hesiod, Erga 111: σ β α ν α ὲ νἐπ ρ σ , ὅ ῷἐμ ό ν ο ίλ ο ἳμ ὶΚ υἦ τ᾽οὐρα ευ ε . ν Beide Eigentümlichkeiten lassen sich ambesten aufdeneinen Faktor zurückführen, daßes Vergil primär umdie Romanisierung dergoldenen Zeit ging. Daßsich dabei durch die Unsterblichkeit Saturns ein unlösbares Problem ergab, hat Vergil, um seinen Hauptzweck zuerreichen, stillschweigend in Kauf genommen: dasübergeordnete Anliegen warfür ihn ausschlaggebend. Vergil selbst deutet durch nichts an, daß seine Saturnfassung etwas Neues darstellt. Ganz im Gegenteil - er läßt nämlich denEindruck entstehen, als werde durch Euanders Erzählung imachten Buch überliefertes Sagengut vermittelt. Andererseits ist es sicherlich kein Zufall, daßdie ausdrückliche Darlegung der Saturnsage gerade andiese Stelle derAeneis verlegt wurde. Diegeschickte Einbeziehung in die Erzählung Euanders gabVergil eine vorzügliche Möglichkeit, seine neugeschaffene Sage gewissermaßen für Tradition auszugeben, sie aber zugleich dem Publikum in genügender Ausführlichkeit vorzuführen. Von den insgesamt 35 Versen derdirekten Rede Euanders beanspruchen die Saturnsage (V. 319– 329; 355358) unddie fürdasVerständnis derKulturstiftertätigkeit Saturns notwendige Vorgeschichte (314– 318) allein schon volle 20 Verse. DieBreite derDarstellung dürfte

nicht nur für Aeneas, den eben erst angekommenen Fremden, bestimmt sein, sondern auch fürdaserste Publikum derAeneis, demdieGeschichte genauso unbekannt gewesen

istwiedemAeneas.

1.2. VERMEINTLICHE VORBILDER IN FRÜHERER TRADITION 1.2.1. Saturn König Italiens bei republikanischen Historikern? DasZeugnis der frühchristlichen Autoren

Rührt nundie Sage in der Form, wie sie in derAeneis vorliegt, vonVergil selbst her, so schließt das selbstverständlich nicht an sich aus, daß bestimmte Einzelzüge vonVergil ausfrüherer Tradition übernommen worden sein könnten. So z. B. ließe sich denken, daßVergil zurFlucht Saturns voneiner vorliegenden Fassung inspiriert worden wäre, die imGegensatz zurAeneis voneinem historisierenden Standpunkt aus konzipiert wäre, so daß dort sowohl Saturn wie Juppiter als einstige Menschen dargestellt wurden. Die Flucht unddie Herrschaft Saturns könnten sehr

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1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

wohl ursprünglich auseinem solchen Zusammenhang stammen, denn hier würde ja daserschwerende Problem garnicht bestehen: Saturn wäre in diesem Fall ein normaler, irdischer König, der von seinem ebenfalls menschlichen Sohn aus seinem irdischen Reich vertrieben nach Latium gekommen wäre unddort ein zweites Reich gegründet hätte. DaßdasMotiv vonderFlucht Saturns undseiner darauf folgenden Herrschaft in Latium primär in einem historiographischen Rahmen, etwa in der Annalistik, entstanden sei, entspricht einer in der wissenschaftlichen Literatur häufig vertretenen Ansicht. Die Annahme hatals Voraussetzung - ohne daßdiese Tatsache explizit ausgesprochen wird - daßVergil den Saturn sozusagen in den Himmel zurücktransponiert hätte, ihn sekundär wieder zueinem ursprünglichen Gott gemacht hätte, umihndann vomOlymp fliehen lassen zukönnen. Es wird sogar gelegentlich vermutet, daßrömische Historiker der republikanischen Zeit recht allgemein diese angeblich Vergil zurAnregung dienende Fassung derrömischen Urzeit vertreten hätten. Diekonkrete Textevidenz, diedieBasis dieser Theorie bildet, beschränkt sich auf die oben (Einführung Fußnote 7) schon genannten Stellen bei Tertullian, Minucius undLactanz. Diese Stellen kreisen alle umSaturn, undzwar soll demonstriert werden, daßSaturn keineswegs ein Gott sei; vielmehr sei er ein normaler Mensch gewesen, undim Grunde seien sich auch die Heiden selbst darüber einig. Als Zeugen fürdiese Behauptung wird eine Reihe vonheidnischen Autoren angegeben, aus der republikanischen Zeit ein gewisser Cassius¦12¿ sowie Cornelius Nepos, Diodor undVarro (letzterer nurbei Lactanz). DasSchicksal Saturns - Flucht, Ankunft undAufnahme in Italien usw.- verrate eindeutig sein

rein menschliches Wesen. Niemand bestreitet heute, daßzwischen diesen Textabschnitten eine direkte Verbindung besteht. Minucius hängt vonTertullian ab¦13¿, Lactanz übernimmt dann vonMinucius dievondiesem ausTertullian übernommenen Autoren. Als logische Konsequenz dieser Erkenntnis müßte die Frage gestellt werden, ob die an diesen Stellen erwähnten heidnischen Autoren überhaupt fürdie Rekonstruktion derGeschichte unseres Motivs verwendet werden können. Tertullian, der sie zumersten Malnennt, führt sie nämlich nuralsZeugen fürdasmenschliche Wesen Saturns an, nicht dagegen als Zeugen für dessen Flucht unddarauf folgende Taten in Italien. Erst sekundär, bei derÜbernahme desStoffs durch Minucius undLactanz, wirddie Autorenliste mit dieser Thematik in Verbindung gebracht, und zwar explizit überhaupt erst von Lactanz, implizit schon vonMinucius. Das bedeutet, daßdiese Stellen keine Belege füreine Tradition vonSaturn alshistorischem König Italiens in der Annalistik (Cassius¦14¿) oder auch sonst bei republikanischen Autoren sind - die Abschnitte Tertullians natürlich schon gar nicht, da sie nichts dergleichen behaupten, aber auch nicht die Stellen bei Minucius undLactanz. Dievonihnen hergestellte Verbindung deraufgezählten Autoren mitderVorstellung vonSaturn als historischem König Italiens beruht nicht auf selbständigen, von Tertullian unab

12 S. zudiesem unten Fußn. 23 und34. 13 DaßTertullian gegenüber Minucius diePriorität besitzt, wird heute nicht mehr angezweifelt. Zur Frage s. besonders BECKER 1967. Minucius verwendet das Apologeticum, nicht Ad nationes. ZumVerhältnis dieser beiden Werke Tertullians zueinander vgl. unten Fußn. 22. 14 S. denHinweis in Fußn. 12.

1.2. Vermeintliche Vorbilder in früherer Tradition

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hängigen Kenntnissen derrepublikanischen Literatur. Sonderbarerweise scheint diese Konsequenz garnicht gezogen worden zusein. Vermutlich hat mandenentscheidenden Unterschied in derFunktion derAutorenreihe beiTertullian einerseits undMinucius undLactanz andererseits übersehen. Es ist sogar indenletzten Jahrzehnten eine alte Hypothese, nachderalle drei Apologetenihre Angaben über heidnische Mythologie unddgl. einer gemeinsamen Quelle entnommen hätten¦15¿, in neuer, radikaler Gestalt spezifisch fürdiehier behandelten Abschnitte wieder zuEhren gekommen. P. L. SCHMIDT¦16¿ setzt sich nämlich für die These ein, daß unsere Apologeten in dem, was sie über Saturn undJanus sagen, eine Quelle reproduzieren, die die Fassung der römischen Urgeschichte widerspiegelt, dievondenAnnalisten deszweiten Jahrhunderts v. Chr. geschaffen wordenseiundauchbeiVarro vorgelegen habe. Dieunmittelbare Vorlage, dienicht nur Tertullian verwendet habe, sondern die auch Minucius undLactanz zusätzlich zum jeweiligen christlichen Vorgänger herangezogen hätten, sei Suetons De regibus, ein Werk, dasin seinem zweiten Buch eine Artrömische Stadtchronik enthalten habe. Die Autorenreihe sei insgesamt (also einschließlich Varros, der nurvonLactanz genannt wird) aus Suetons Chronik übernommen worden. Diese für unsverlorengegangene suetonische Chronik gehe ihrerseits aufein - ebenfalls verlorenes - Werk des Verrius Flaccus zurück, unddieses baue eben in seiner Schilderung derrömischen Urgeschichte auf Varro unddenAnnalisten¦17¿. Es wird deshalb notwendig sein, die oben genannte Frage in einiger Ausführlichkeit zubesprechen. DieArgumentation liegt in Ansätzen schon in meinem Artikel von 1986 vor¦18¿. Ausführlicher habe ichmich 1994 geäußert. Dendort erbrachten Erweis, daß Varro vonLactanz zuUnrecht als Zeuge für die Taten Saturns in Italien angeführt wird - was schon deutlich genug gegen die Zuverlässigkeit der Information bei Lactanz spricht - brauche ichhier nicht zuwiederholen¦19¿. Ichhabe ebenda S. 184 aufdensoeben genannten, häufig übersehenen Unterschied in der Funktion der Autorenreihe bei Tertullian im Vergleich zuLactanz undMinucius hingewiesen. Umdie entscheidende Bedeutung dieser Differenz für unsere jetzige Diskussion klarer herausstellen zukönnen, empfiehlt es sich, die Textstellen von Tertullian undMinucius ausdrücklich anzuführen. AufdenText des Lactanz kann hier ausdemgerade genannten Grund verzichtet werden¦20¿.

71 vertreten. 15 Einst vonWILHELM vorgelegt, dannnochinanderer FormvonAGAHD S. 40– 16 1978 (Sp. 1632f.) und1989. 17 Eine Übersicht des Inhalts dieser vermeintlich kanonischen Fassung derrömischen Urgeschichte inacht Punkten gibt SCHMIDT 1989 S. 100. Wirwerden imfolgenden häufig genug mitSCHMIDTS These zutunhaben, dapraktisch alle vonmirbehandelten Texte vonihmin seine postulierte Traditionskette einbezogen werden. S. zuSuetons Deregibus unten 4.1.; zu demvonSCHMIDT angenommenen zugrundeliegenden Werk desVerrius Flaccus s. Kap. 4, Fußn. 34. Ich werde in keinem derFälle SCHMIDTS Einzelargumentation Punkt fürPunkt besprechen. Einsolches Verfahren erübrigt sich, dadiedirekt amText ausgeführte Analyse ohnehin schon ausreicht, umdieThese abzuweisen. 18 S. 45, Fußn. 7. 19 Vgl. auch oben Einführung S. 11f. Zu Varros Saturndeutung s. noch unten Abschnitt 3.1.1.

a. E.

20 DerTextwirdunten 4.4.3. ausanderem Gesichtspunkt

analysiert.

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1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

Tert. apol. 10,7 (DEKKERS CC 1 1954): Saturnum itaque, quantum litterae, neque Diodorus Graecus aut Thallus, neque Cassius Seuerus¦21¿ aut Cornelius Nepos, neque ullus commentator

eiusmodi antiquitatum aliud quam hominem promulgauerunt; si quantum rerum argumenta, nusquam inuenio fideliora, quam apud ipsam Italiam, in quaSaturnus post multas expeditiones postque Attica hospitia consedit, exceptus ab Iano, uel Iane, utSalii uolunt. (8) Mons, quemincoluerat, Saturnius dictus; ciuitas, quamdepalauerat, Saturnia usque nunc est; tota denique Italia post Oenotriam Saturnia cognominabatur. Abipso primum tabulae et imagine signatus nummus.

etindeaerario praesidet¦22¿.

Zwei Arten vonEvidenz fürdasmenschliche Wesen Saturns werden hier getrennt vorgelegt: einmal die literarische Evidenz aus demheidnischen antiquarischen Schrifttum¦23¿, dann die sachlich-historische Evidenz, die von Saturns Tätigkeit in Italien zeugt¦24¿: der Hügel Saturnius, die Stadt Saturnia, die Münzen (die sein Schiff zeigen), das aerarium Saturni usw.¦25¿. Was die Autoren, die den ersten Typ von Evidenz bezeugen sollen, nunimeinzelnen über Saturn geschrieben haben, bleibt zumgrößten Teil eine offene Frage¦26¿; jedoch müssen wirdenSchluß ziehen, daß sie, so wie Tertullian sie kennt undversteht, nichts von der Aufnahme Saturns durch Janus und seinen Taten in Italien gesagt haben. Die strikte Aufteilung in litterae einerseits undrerum argumenta andererseits ist doch wohl nur sinnvoll, wenn der spezifisch zur zweiten Evidenzkategorie ausführlich dargelegte Inhalt nicht auch noch für die erste Kategorie zutrifft¦27¿.

21 Vgl. unten Fußn. 23 und34.

22 Vgl. denParalleltext Tert. nat. 2,12,26ff. (CC 1 BORLEFFS): Exstat apud lit‹te›ras uestras , apud Cornelios Nepotem et usquequaque Saturni census. Legimus apud Cassium Seueru‹m› Tacitum, apud Graecos quoque Diodoru‹m› , quique alii antiquitatum canos colligerunt. (27) Necfideliora uestigia e‹ius›quam in ipsa Italia signata sunt. Nampost plurimas terras et ‹Attica›hospitia Italiae uel, ut tunc uocabatur, Oenotriae consedit, e‹ xceptu›s ab lano siue s quemcoluerat, Satu‹rnius›dictus, urbs quamdepalauerat, lane, utSalii uocant. (28) Mo‹n› enique›Italia deSaturno uocabatur. (29) Tali teste terra, quae Saturnia usque nunc est; tota d‹ ominatur›orbi, etiamsi deorigine Saturni dubitatur, deactutarnen ‹constat›hominem nunc d‹

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illum fuisse. DasVerhältnis derbeiden Werke Adnationes undApologeticum ist, wieBECKERS Analysen 104, gezeigt haben, so zu beurteilen, daß Ad nationes eine Vorarbeit dar1954, bes. S. 42– stellt, während das Apologeticum die endgültige Fassung bildet. Cassius Severus fällt aus demRahmen, daer nicht zurrichtigen Autorenkategorie gehört. Deshalb geht mandavon aus, daßTertullian Cassius Hemina gemeint habe. (Minucius schreibt, wie wir sehen werden, Cassius in historia.) Vgl. meinen Artikel 1994, S. 185,

Anm. 48. 24 „Nach den literarischen Belegen will jetzt TERT. auch noch mitarchäologischen Zeugnissen aufwarten.“(HAIDENTHALLER S. 167.) 25 ZumHügel Saturnius undzurSaturnia-Tradition imallgemeinen unten S. 51f. ZuTertullian s. 2.3.2. DasMotiv derMünzprägung wirdunten S. 105ff. eingehend besprochen. 26 Es magsogar sein, daßdie Auffassung, Saturn sei ein Mensch gewesen, ihnen teilweise zu Unrecht zugeschrieben wird. Esistjedenfalls, wieausmeiner Darstellung imfolgenden mehrfach hervorgehen wird, ernsthaft zubezweifeln, daßCornelius Nepos undCassius - werimmer er auch sein mag- Saturn für einen Menschen hielten. In diesem Sinne ist meine Erörterung 1994 S. 185 (Nepos) zu korrigieren. Vgl. auch folgende Fußnote. 27 Der einzige dervonTertullian in apol. 10,7 genannten Autoren, derheute noch direkt überprüft werden kann, ist Diodor. In seinen erhaltenen Büchern findet sichjedenfalls nichts, was

1.2. Vermeintliche Vorbilder infrüherer Tradition

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Ein sehr wichtiger Punkt ist der, daßdas, wasTertullian über die Taten Saturns im sachlichen Inhalt nicht mitdemübereinstimmt, wasMinucius undLactanz dazu sagen. Es unterscheidet sich sogar von allen anderen uns bekannten Fassungen. Tertullians Saturnfassung ist, wie ich erst an späterer Stelle meiner Untersuchung ausführlich nachweisen kann, eine Kompositfassung, die teils von einer Tradition mitbeeinflußt ist, die ursprünglich nichts mit Saturn als König Italiens zutunhat, teils auch Einzelheiten enthält, die unssonst ganz undgar unbekannt sind. Zudem verrät sie ein, wie ich meine, persönliches Mißverständnis Tertullians, wasdie Stadt Saturnia betrifft. Dieses seltsame Gebilde erklärt sich am ehesten als dasErgebnis einer höchst privaten Auswahl Tertullians. Wie wiederholt in denfolgenden Kapiteln meiner Darstellung hervorgehen wird, kannes aufkeinen Fall als Spiegelung der Normalfassung der mit Janus und Saturn verknüpften römischen Urgeschichte bezeichnet werden. Es steht einfach für sich¦28¿. Mitdiesem verwirrenden Text konfrontiert sahsich Minucius veranlaßt, etwas Ordnung zuschaffen, d. h. die ihmallzu fremd anmutenden Elemente auszuschließen - Saturns Attica hospitia, denmons Saturnius, den zweiten Namen Italiens, Oenotria, unddessen zeitliches Verhältnis zumNamen Saturnia, die Behauptung, die von Saturn erbaute Stadt Saturnia existiere noch, die alternative Namensform des Janus - undstattdessen die Darstellung aus der ihm geläufigen Tradition zu

erzählt,

ergänzen. Min. Fel. Octavius 23,9 (KYTZLER BT 1982): Saturnum enim, principem huius generis et examinis, omnes scriptores vetustatis Graeci Romanique hominem tradiderunt. scit hoc Nepos et Cassius in historia, et Thallus ac Diodorus hoc loquuntur. (10) is itaque Saturnus Creta profugus Italiam metu filii saevientis accesserat, et Iani susceptus hospitio rudes illos homines et agrestes

multa docuit utGraeculus et politus: litteras imprimere, nummos signare, instrumenta conficere. (11) itaque latebram suam, quodtuto latuissset, vocari maluit Latium, et urbem Saturniam idemde suonomine et Ianiculum Ianus admemoriam uterque reliquerunt.

Minucius greift dabei nicht auf historisch-antiquarische Vorlagen zurück - er normalisiert vielmehr Tertullian, inerster Linie in Anlehnung anVergil undOvid. Dies geht nicht nurdaraus hervor, daßer fast wörtlich Aen. 8,322f. zitiert - latebram suam, quod tuto latuisset, vocari maluit Latium - sondern auch daraus, daßer die Etymologie Latium - latere überhaupt erst einführt undausdrücklich die Flucht und

demInhalt der zweiten Evidenzkategorie bei Tertullian entspricht. Dagegen wird bei ihman mehreren Stellen Saturn (Kronos) alsMensch dargestellt, wennichauchnicht mehrwie 1994 (S. 185) zubehaupten wagen würde, dies sei Diodors persönliche Auffassung. Daßheute häufig angenommen wird, dieTradition vonderFlucht Saturns undseiner darauf folgenden Regierung inItalien liege bei Diodor vor, gehtvoneiner falschen Vorstellung vom Inhalt der unten Abschnitt 2.2. zubesprechenden Diodorstellen aus. Für Tacitus (in nat. 2,12,27 an Stelle vonThallus erwähnt) gilt, daßer in hist. 5,2 in einem Referat verschiedener Traditionen zumUrsprung derJuden eine Flucht Saturns von Kreta nennt. Es handelt sich hier nicht umeine Flucht nach Italien, ja, nicht umdenrömischen Saturn überhaupt, sondern umeine euhemerisierende Gleichsetzung vonSaturn undJahwe. S. dazuetwas eingehender unten Kap.4, S. 145f. (bes. Fußn. 139). 28 S. besonders Abschnitt 2.3.2. und4.4.1.

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1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

den Namen Iuppiter nennt¦29¿, Themen, die die christliche Polemik liebt, die aber, wie es scheint, vondenheidnischen Historikern nicht rezipiert wurden¦30¿. Der einzige Zugbei Minucius, dermitSicherheit weder vonVergil/Ovid, noch vonTertullian inspiriert worden sein kann, ist die Behauptung, Saturns ursprüngliches Reich sei Kreta. Vondieser Einzelheit giltjedoch, daßsie eher nicht miteiner historischen Normalfassung verknüpft gewesen sein dürfte¦31¿. Dieser imVerhältnis zuTertullian sehr abgeschliffenen Darstellung derSaturngeschichte stellt Minucius die von Tertullian inspirierte Behauptung voran, alle scriptores vetustatis, Griechen wie Römer, seien sich darin einig, daß Saturn ein Mensch gewesen sei, nennt dann die Autoren, die er im Apologeticum fand, und überbrückt denÜbergang durch die Worte is itaque Saturnus, Worte, die nicht nur Lactanz, sondern auch wiramehesten soverstehen, daßbeidenbetreffenden Autoren tatsächlich etwas zu finden sei, wasdemunmittelbar folgenden Bericht entspricht. Minucius bezweifelt gewiß nicht, daßes sich wirklich umeine alte historische Tradition handelt, ebensowenig wie später Servius undder anonyme Autor derOrigo gentis Romanae¦32¿, schon deswegen nicht, weil er vonderHistorizität des italischen Königs Saturn überzeugt ist, sodaßer ausdiesem Grund derGliederung Tertullians gegenüber weniger aufmerksam gewesen sein wird. Bei Lactanz schließlich ist der von Minucius begonnene Prozeß dann noch einen Schritt weitergerückt. Er übernimmt überhaupt nurdie Autorenreihe, der er noch den Namen Varros hinzufügt. Im sonstigen Inhalt geht er an Minucius und Tertullian vorbei undgreift ausschließlich direkt aufdieFasti zurück¦33¿. Wenn wir wirklich annehmen wollen, Tertullian hätte aus einer Quelle geschöpft, die dann auch noch vonMinucius undLactanz eingesehen worden wäre undauch bei ihnen gewisse direkte Spuren hinterlassen hätte, dann befinden wir uns in einer äußerst komplizierten, umnicht zu sagen ausweglosen Argumentationslage, einer totalen Aporie, wenn es gilt, zu entscheiden, was in dieser vermeintlichen Quelle gestanden haben könnte. Eins dergrößten Probleme wäre dabei, die Frage zu schlichten, welchen Stoff die Quelle wohl den aufgezählten heidnischen Autoren zugeschrieben haben wird. Wemwollen wirRecht geben, Tertullian oder Lactanz? Schon diese Frage müßte genug sein, umzurAufgabe derHypothese zu führen.

1.2.2. Saturn König Italiens beirepublikanischen Historikern? - Gegenargumente Allein wegen dergerade besprochenen Stellen ist Cassius

29 23,13 Eiusfilius luppiter Cretae excluso parente regnavit. 30 S. unten Abschnitt 1.3. (S. 34ff.).

Hemina¦34¿

zumZeugen

31 S. dazu unten 4.4.2. (S. 145f.). 32 S. unten S. 124f. (OGR) bzw. 132 (Servius). 33 S. unten 4.4.3. (S. 148ff.). 34 Nebenbei gesagt mußdie Korrektur Cassius in historia bei Minucius weder darauf deuten, daß Minucius hier dieursprüngliche Quelle Tertullians konsultiert (soSCHMIDT 1978 Sp. 1632), noch notwendigerweise zeigen, daßer gerade anHemina denkt unddaßdieser ihmeinBegriff ist. Es genügt vollkommen, anzunehmen, daßer gewußt hat, Cassius Severus sei kein Historiker. DaderKontext bei Tertullian ausdrücklich einen Historiker verlangt, mußte Tertullian

1.2. Vermeintliche Vorbilder in früherer Tradition

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für eine in der Annalistik vertretene Urgeschichte mit Janus undSaturn an der Spitze gemacht worden¦35¿. Andere Argumente für eine solche Urgeschichte in der Annalistik gibt es nicht. Dagegen gibt es schwerwiegende grundsätzliche Einwände dagegen. Ein Einwand hat mit der geläufigen Gottesvorstellung zu tun: alles was wirindererhaltenen republikanischen Literatur anReflexionen über die Götter und ihr Wesen besitzen, spricht dagegen, daßrepublikanische Autoren auch nurin geringem Ausmaß die höheren Staatsgötter für ehemalige Menschen gehalten hätten. Falls dies überhaupt vorgekommen ist, muß es eine reine Ausnahme gewesen sein¦36¿.

Ein weiterer Einwand ist der, daßderhistorisierende Zweig unserer Tradition nicht von der Einheitlichkeit ist, die zuerwarten wäre, wenn er auf einem schon längst in derGattung vorgeformten underprobten Modell gebaut hätte. Schon der Umstand, daß Janus manchmal dabei ist, manchmal nicht, ist auffallend undverlangt eine Erklärung. Manvergleiche die vonMacrobius Sat. 1,7,19ff. ausJulius Hyginus wiedergegebene Fassung mitdementsprechenden Abschnitt derEpitoma Pompei Trogi Justins (43,1,3ff.). Diese beiden Texte, deren Vorlagen fast gleichzeitig entstanden sind, weisen unter sich starke inhaltliche Unterschiede auf¦37¿. Ein dritter Einwand betrifft Saturn als Glied der latinischen Königsreihe, die über zwei weitere Generationen (Picus undFaunus) an Latinus unddamit an die Aeneastradition anschließt. Schon Wissowa warder Meinung, daß diese Königsreihe - einschließlich des Janus - zumStoff des frühen römischen historisch-antiquarischen Schrifttums gehört habe, ja, daß sie dort im zweiten Jahrhundert vor Christus entstanden sei¦38¿. Nunergibt sich ausdieser Königsreihe für Saturn, sobald er als historischer König verstanden wird, ein zeitlicher Ansatz, der so spät ist, daßes mirundenkbar erscheint, daßdie Königsreihe in dieser Form primär als historisches Konstrukt entstanden sein sollte. Ein historischer König mußein geborener Mensch sein¦39¿, unddie Dauer seines Lebens undseiner Regierung selbstverständlich innerhalb derGrenzen menschlicher Bedingungen bleiben¦40¿. Das bedeutet, daß die Regierung Saturns erst in die dritte Generation vor demtrojanischen Krieg fallen würde¦41¿. Das ist im Hinblick auf den Umstand, daß Saturn schon seit denAnfängen derlateinischen Literatur mitKronos gleichgesetzt wird, auffallend

35 36

geirrt haben - er hatte eben nicht Cassius Severus gemeint, sondern irgendeinen Historiker Cassius. Also schrieb Minucius Cassius in historia. Inentsprechender Weise geriet Cornelius Nepos nurdeswegen, weilerhiererwähnt wird, unter dieZeugen fürdieSaturn-Janusgeschichte. WasVarro betrifft, hatmanauchandere Argumente zu finden geglaubt, vgl. unten Fußn. 79. S. unten S. 77ff. Vgl. auch S. 35. Dereinzige überzeugende Kandidat unter denAnnalisten 157). S. die Fragmente 2, 4 und5. wäre, soweit ich sehen kann, Cn. Gellius (HRR 1, 148– Zu Macrobius-Hygin s. unten 3.2.1.f.; zuJustin-Pompeius Trogus 3.2.2.

37 38 1912 S. 66. 39 FürPicus undFaunus gilt, daßsie immer - also auchinderAeneis - als geborene Menschen zu betrachten sind. Sie sind grundsätzlich difacti, d. h. sie sind erst nach ihrem menschlichen Dasein zuGöttern erhoben worden. Vgl. imfolgenden sowie bes. Abschn. 3.1. (S. 77ff.). 40 Entsprechendes gilt natürlich fürJanus ebenso wiefürSaturn. ZuPicus undFaunus s. die vorige Fußnote.

41 Daswäre also nach derinklusiven Zählweise derAlten die vierte nachGenerationen zudatieren s. unten Fußn. 51.

Generation.

ZurMethode,

26

I. Die Saturnsage der Aeneis - Überlieferung und Neuerung

spät. Vom Standpunkt der Mythologie gesehen gehört Kronos/Saturn der Vorgeschichte der olympischen Göttergeneration an. Bekanntlich waren in der griechischen Tradition die olympischen Götter durch zahlreiche Verwandtschaftsbeziehungen mit größeren und kleineren Helden der Sage verbunden, und diese Beziehungen sind sehr früh genealogisch systematisiert worden. Der ehrwürdigste Stammbaum, der argivische, der eine eindrucksvolle Reihe berühmter Namen wie Io, Danaos, Perseus und Herakles umfaßte, reichte in der Form, wie sie wahrscheinlich schon von Hellanikos gegen Ende des 5. Jahrhunderts ausgestaltet wurde, mehr als zwanzig Generationen vor den trojanischen Krieg zurück 4 2. An der Spitze dieses Stammbaums steht Phoroneus oder dessen Vater Inachos. Tochter des Phoroneus ist Niobe, die in der Tradition als die erste sterbliche Geliebte des Zeus galt43. Welchem römischen Annalisten oder Antiquar wäre es wohl unter solchen Umständen eingefallen, bei einer Umdeutung Satums zu einem historischen König ihn erst zum dritten Vorgänger des Latinus, selbst schon ein Zeitgenosse des trojanischen Kriegs, zu machen? Wer sich gegebenenfalls vorgenommen hätte, eine von der Mythologie inspirierte römische Urgeschichte zu schaffen und dabei die Sage von der Niederlage Satums im Kampf mit der nächsten Göttergeneration zum Ausgangspunkt zu nehmen, hätte doch wohl ganz automatisch einen weit höheren zeitlichen Ansatz gewählt44. In diesem Zusammenhang soll schon kurz auf das sogenannte Pelasgerora.kel. das ich unten anläßlich der Traditionen von den Namen Satumia und Satumius eingehender besprechen will45. und auf die daraus sich ergebenden lmplikationen hingewiesen werden. Die Pelasger sollen den betreffenden Orakelspruch in Dodona erhalten haben und davon veranlaßt worden sein. nach llalien überzusetzen. Die ersten Verse des Orakels spielen auf italische Lokalitäten an; ein Teil des Landes. schätzungsweise Latium. wird dabei J:ar6p!'IO'> ata genannt. Hier wird also vorausgesetzt. daß schon vor der Zeit der Einwanderung der Pelasger eine solche Bezeichnung für einen Teil Italiens verwendet worden sei 46 . Das führt uns bis in die Zeit Deukalions zurück -dieser soll nämlich die Pelasger aus ihrer thessalischen Heimat vertrieben haben 47 . Damit befinden wir uns in der Zeit etwa um die neunte Generation vor Troja48. 42 Der Berechnung zugrunde liegen v. a. die Generationsangaben bei Dion. Hai. 1.11 und 1.17. Die Gesamttradition zum argivischen Stammbaum ist bequem bei MEYER S. 67-104 zugänglich (Stammbäume des Hellanikos in Übersicht ibid. S. 108). Vgl. auch FGrHist 4 (Hellanikos). Komm. zu fr. 4 (Bd I a) S. 433.22ff. bzw. KRISCHAN Sp. 260 (Pelasgos 10). 43 Diod. 4.14.4; Dion. Hai. 1.17.3: Apollod. bibl. 2.1.1; Hyg. fab. 145. 44 Auch wenn die unmittelbare Inspirationsquelle nicht die griechische Mythologie. sondern etwa die Sacra historia des Ennius gewesen wäre (vgl. WISSOWA 1912 S. 66. Fußn. 5; zur Sacra historia s. im übrigen unten 1.2.3.). wäre er gewiß nicht anders verfahren. Es soll hier vorgreifend betont werden. daß die erhaltenen historisierenden Texte keine Absicht verraten. den Machtwechsel der Göttergenerationen nachbilden zu wollen. In Wirklichkeit dürfte die assoziative Verbindung damit eher problematisch gewesen sein. s. dazu gleich unten 1.3. (S. 34ff.). 45 S. unten S. 55 und 62f. 46 Dion. Hai. 1.18.3 sagt ausdrücklich. zu dieser Zeit soll Italien I:a.ropv[a genannt worden sein. Vgl. unten S. 55. 47 Dion. Hai. 1,17.3: vgl. Diod. 14.113.2. 48 Deukalion wurde schon von Hellanikos in der neunten (inkl. Zählung: 10.) Generation vor der Zerstörung Trojas angesetzt (FGrHist 4. Bd. I a. Komm. zu Hellanikos fr. 4. S .• 464). Dies ist auch die GenerationszahL die sich für Deukalion aus einer Kombination der Angaben bei

1.2. Vermeintliche Vorbilder in früherer Tradition

27

Freilich ist das Pelasgerorakel erst für Varro bezeugt. Es ist vermutlich eine literarisch-antiquarische Konstruktion undals solche vielleicht nicht früher entstanden als im letzten vorchristlichen Jahrhundert¦49¿. Wieweit die Vorstellung voneiner solchen Benennung Latiums zuso früher Zeit über das letzte Jahrhundert vor Christus hinausreicht, entzieht sich unserer Spekulation¦50¿. Aber so viel kann wohl getrost vorausgesetzt werden, daßniemand vonsich ausundohne besondere Gründe aufdie Idee kommen konnte, dieRegierung Saturns erst indiedritte (vierte) Generation vordemtrojanischen Krieg zuverlegen, falls nachanderer Ansicht dieGegend damals schon seit etlichen Menschenaltern Saturnia (oder dgl.) genannt wurde.

Es bleibt, so meine ich, keine andere Wahl, als daßdie Urkönigsreihe in dieser Form nicht primär aus der Historiographie stammt. Der Spätansatz Saturns mußein sekundärer, vomhistorisierenden Standpunkt aus unerwünschter Effekt

sein¦51¿. Die chronologischen Komplikationen dürften im Ursprungskontext nicht vorhanden gewesen sein. Ich sehe deshalb allen Anlaß, anzunehmen, daß die Aeneis selbst, die den ersten unserhaltenen Beleg derKönigsreihe enthält¦52¿, auch wirklich derursprüngliche Kontext ist. Dabei besteht daseigentlich Neue, dasdie Aeneis hier bietet, im Hinzufügen Saturns amAnfang der Reihe¦53¿, denn eine kürzere, unproblematische

Dion. Hal. 1,11 und 1,17 ergibt. Vgl. wie imMarmor Parium (FGrHist 239, Bd. 2 B S. 993) die Flut Deukalions in die Zeit des Kranaos, des zweiten Königs von Athen, verlegt wird. Eine alternative Auffassung, z. B. bei Kastor von Rhodos (FGrHist 250, ibid. S. 1140: fr. 4), verlegt sie indieZeit desKekrops, desersten athenischen Königs. DieEroberung Trojas fällt unter denelften König (Menestheus). Dieelf athenischen Könige vorTroja sind vomMarmor Parium ankanonisch. Ineiner früheren Form umfaßte die Liste neun Könige vorTrojas Fall. Vgl. auch unten Fußn. 51 unddiedort angegebene Literatur sowie CADUFF S. 90f. S. auch 111, bes. 110 (Generationszahlen). MEYER S. 105– 49 S. dazuunten Kap. 2, Fußn. 54. 50 Daßdie Saturnia-Tradition insgesamt weit über Varro hinaus zurückgeht, steht fest. Varro ling. 5,42 bezeugt sie fürEnnius, s. unten S. 61 und63. 51 Eine ausdrückliche zeitliche Einordnung derUrkönige Saturn undJanus liegt vorderChronik des Hieronymus nirgends vor. (S. dazu unten S. 37f.) Die erhaltenen historisierenden Texte zeigen keine Spur davon, daßdieThematik überhaupt besprochen worden wäre. Dennoch erlaubt es dieOrigo gentis Romanae (OGR), denAnfang derKönigsreihe einigermaßen exakt zu fixieren. Janus ist in diesem Text ausnahmsweise mit Ion identisch, der nach dieser Fassung nach Italien eingewandert sein soll. Seine Mutter ist Creusa, dieTochter desKönigs Erechtheus (OGR 2). Inderathenischen Königsliste, so wiediese mindestens seit demMarmor Parium (1. Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. Vgl. oben Fußn. 48) ohne Abweichungen festliegt, gilt Erechtheus als der sechste König Athens. Es folgen nach ihm bis zur Eroberung Trojas weitere fünf Könige. Er gehört somit der sechsten Generation vor Troja an. S. auch unten S. 128. (Zudenschematischen Prinzipien derDatierung nach Generationen wie auch zumAlter undUrsprung derathenischen Königsliste s. FGrHist 3 b Suppl. 2, S. 12f. = Anm.

121.)

52 Aen. 7,45ff.

53 Zubeachten ist, daßdieReihe bei Vergil eine rein genealogische ist. Es ist somit selbstver-

ständlich undunproblematisch, daßJanus nicht mit aufgezählt wird. Persönlich glaube ich, daßdie Tatsache, daßin dernachfolgenden Tradition Janus manchmal dabei ist, manchmal nicht, z. T. dadurch zuerklären ist, daßmandie Liste in Aen. 7 auch zugleich als politische Regentenliste auffaßte, wasdie Unsicherheit über die Rolle des Janus, die in der Aeneis äußerst unklar ist, noch steigerte. (Vgl. dazu unten 2.5. und3.2.1.1.) Daß Vergil die 7,45ff. genannte Serie nicht als erschöpfende politische Folge verstanden hat, geht jedenfalls aus

28

1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

Serie, die Picus, Faunus undLatinus umfaßte, hat offensichtlich schon bei Varro Die geringe Länge desStammbaums spielt in derAeneis keine Rolle, da sein Anfang ohnehin als beliebig weit zurückliegend gedacht werden kann¦55¿. Theoretisch kann Saturn ja sehr wohljahrhundertelang in Latium regiert haben, da er ein ursprünglicher, unsterblicher Gott ist¦56¿. Vergil selbst konnte also darauf vervorgelegen¦54¿.

zichten, zwischen Saturn unddenvonihmausbestehender Tradition übernommenenGliedern derKette weitere Namen einzuschieben, obwohl er dies leicht hätte tun können undobwohl es im Hinblick auf die offensichtlich sehr inhaltsreiche Geschichte zwischen demEnde dergoldenen Zeit undderAnkunft Euanders vor-

teilhaft gewesen wäre¦57¿. Ihmdürfte aus anderen Gründen daran gelegen gewesen sein, denStammbaum nicht weiter zuverlängern. Dennes muß, so scheint es mir, eine bewußte Konstruktion sein, daßin dieser Weise eine Parallelität derAbstammung der beiden Gründerhelden Aeneas undLatinus entsteht. Gewiß: Aeneas hat mitderMutter Venus unddemGroßvater Juppiter dievornehmere Herkunft. Aber es wird doch kaum ein Zufall sein, daßnunsowohl dereine wie der andere Held Saturn als Urgroßvater haben, Aneas mütterlicherseits, Latinus väterlicherseits¦58¿. So bleibt der Stammbaum des Latinus schließlich nicht allzu weit hinter dem des Trojaners zurück. Die Chronologie war demgegenüber gleichgültig. Unddie wahrenchronologischen Probleme sind erst dannentstanden, als Saturn ausGründen, die noch zubesprechen sind, sekundär historisiert wurde.

1.2.3. DasProblem derSacra historia desEnnius

Alle diese Einwände betreffen die Auffassung, daß Vergil ein Vorbild in der republikanischen Geschichtsschreibung gehabt habe. Es dürfte nunmehr klar sein, daß diese Möglichkeit kaumernsthaft erwogen werden kann. Es bleibt aber noch eine Möglichkeit, undzwar außerhalb der eigentlichen Historiographie. Wir kennen 7,177ff. und 11,850, wohl auch aus 8,328ff. hervor.

54 S. dazuunten Kap. 5. 55 Beachte, daßSaturn inAen.8,319 durch dasWort primus alserster Einwanderer gekennzeichnetist. Erst nach ihmfolgen dieAusoner, dieSicanae gentes (d.h. dieSikuler) u. a. (ibid. 328ff.). Nacheiner vielfach belegten Tradition sollen dieSikuler dieersten Bewohner Latiums gewesen sein, diealso schon vordenAboriginern unddenPelasgern dort angesiedelt gewesen ἶαmitdiesen). S. Dion. Hal. 1,9,1; ςα ιο ν ρ τό α sein sollen (das Pelasgerorakel verbindet dieΣ Servius undServius auctus zuAen. 11,317; Serv. Aen. 7,795; vgl. Fest. p. 424 L Sacrani undVarro ling. 5,101. Vgl. unten Kap. 3 Fußn. 35. 56 ZuPicus undFaunus s. obenFußn. 39. 333. Diese Verse zeigen deutlich, wieirrelevant die chronologischen Aspekte für die 57 8,326– Aeneis selbst sind. Alles das, wasgemäß derErzählung Euanders sich nachdergoldenen Zeit Saturns ereignet haben soll, mußja im Grunde innerhalb einer Zeit vonweniger als zwei

58

Menschenaltern (Picus, Faunus) stattgefunden haben. Die Ankunft Euanders fällt herkömmlich in die Zeit des Faunus, Dion. Hal. 1,31,1– 2; Iust. 43,1,6; OGR 5,1. Nacheiner bodenständigen römischen Tradition, dieDion. Hal. 1,31,2 wiedergibt, soll Faunus ςdesMars gewesen sein, amehesten wohl sein Sohn - so hatAppian reg. fr. 1 ο ν ο γ ό einἀπ und 1 a (VIERECK & ROOS BT 1962), derhier offensichtlich auf Dion. Hal. baut, die Angabe gedeutet - oderaber aucheinNachkomme imallgemeinen. Jedenfalls läge Saturn nachdieser Tradition mindestens einen Schritt weiter zurück imStammbaum.

1.2. Vermeintliche Vorbilder infrüherer Tradition

29

nämlich ein bestimmtes Werk anderen Charakters¦59¿, das ohne jeden Zweifel die höheren Götter als einstige Menschen dargestellt hatunddas zudem vonchronologischen Komplikationen deroben beschriebenen Artfrei gewesen sein muß. Es handelt sich um die Sacra historia des Ennius. Das Werk hat offensichtlich u. a. eine historisierende Umsetzung des Machtwechsels Saturn - Juppiter enthalten. Unsere einzige Quelle für dengenaueren Inhalt dieses sonst verlorenen Werks sind dieDivinae institutiones desLactanz. DieSacra historia wird vor allem in inst. 14 recht ausgiebig verwendet. AmEnde dieses Abschnitts (1,14,12) erfahren 1,11– wir interessanterweise voneiner Verfolgung Saturns durch Juppiter; es soll dabei Saturn gelungen sein, gerade noch zu entkommen und sich in Italien zu verstecken¦60¿. Es liegt somit nahe, damit zurechnen, dieSacra historia habe Vergil zu Saturns Flucht, Ankunft undHerrschaft in Latium angeregt. Bekanntlich hatderSacra historia desEnnius die Ἲ ήdesEuheφ α ρ ὰἀναγ ρ ε meros als Vorlage gedient. Wieengsich Ennius andasOriginal angeschlossen hat, ist eine häufig besprochene Frage. Daßes sich umeine Übersetzung im engeren Sinn gehandelt haben sollte, wirdinderRegel bestritten. Auchrechnen die meisten damit, daßEnnius das Werk mit Zusätzen undErweiterungen versehen hat¦61¿. Gerade zuLact. inst. 1,14,12 teilen sich seit langem die Meinungen. Einige halten den Inhalt desSatzes insgesamt füreinen Zusatz desEnnius; andere wiederum sind der Meinung, Ennius habe nurdie Etymologie Latium - latere hinzugefügt, die dann später vonVergil in Aen. 8,322f. aufgegriffen worden sei¦62¿. Wie ich selbst hervorgehoben habe, mußdie Frage nach derZuverlässigkeit des Lactanz als Zeuge für denInhalt derSacra historia hier mitberücksichtigt werden¦63¿. Anundfür sich liegt die Annahme nahe, daßdie Thematik schon in der grie-

59 „Pseudohistorisch“isteine oft verwendete Bezeichnung. 60 Der abschließende Abschnitt des Kapitels (1,14,10–12) lautet folgendermaßen (Text nach BRANDT CSEL 1890): Reliqua historia sic contexitur: Iouem adultum, cumaudisset patrem atque matrem custodiis circumsaeptos atque in uincula coniectos, uenisse cum magna

Cretensium multitudine Titanumque acfilios eius pugna uicisse, parentes uinculis exemisse, patri regnu m reddidisse atque inCretam remeasse. (11)posthaec deinde Saturno sortem datam, utcaueret nefilius eumregno expelleret; ilium eleuandae sortis atque effugiendi periculi gratia insidiatum Ioui, ut eumnecaret; Iouem cognitis insidiis regnum sibi denuo uindicasse ac fugasse Saturnum. (12) quicumiactatus esset peromnes terras persequentibus armatis, quos ad eumcomprehendendum uelnecandum Iuppiter miserat, uixin Italia locum in quolateret inuenit. 61 S. dazu WINIARCZYK 1994 S. 287f. Die Forschung zur Sacra historia läßt sich in WINIARCZYKS Artikel bequem überblicken.

62 Zudiesen Alternativen s. JACOBY 1909 Sp. 956. JACOBY selbst ist davon überzeugt, daßdie Flucht unddie Ankunft Saturns in Italien schon zumStoff desEuhemeros gehört habe. Vgl. auch WINIARCZYK (wie vorige Fußn.).

WasdiePhrase betrifft, diedieEtymologie Latium-latere enthalten soll (uix inItalia locum in quolateret inuenit), hatLactanz selbst hier zweifellos andievergilische Herleitung in Aen. 8,322f. gedacht. Genau genommen sagt derTextjedoch nichts voneiner solchen Etymologie. Die Aeneis ist dererste Text, derdenNamen Latium mitSaturn in Verbindung bringt. Vom Wortlaut desLactanz ausgehend könnte also höchstens behauptet werden, dieSacra historia habe Vergil zudieser Herleitung anregen können, nicht jedoch, daßsie sie selbst enthalten habe.

63 S. meinen Artikel 1986 S. 57ff.

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1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

chischen Vorlage enthalten gewesen sei. DieFlucht nachItalien wäre eine denkbare historisierende Umsetzung derVerbannung indenTartaros¦64¿. Aber so ansprechend dieThese aufdenersten Blick auch ist, erscheint sie miraufdemHintergrund der α ν ρ ὰἀ Gesamtevidenz weniger überzeugend. Die großen Exzerpte aus der Ἱε ¦65¿lassen vermuten, daß sich die Aufmerksamkeit nach dem Sturz des γ ραφή Kronos ganz undgar auf Zeus undseine Taten konzentrierte, so daßdas weitere Schicksal des Kronos nicht mehr zurSprache kam. Entsprechendes gilt vonden ή nahestehenden Texten¦66¿, die φ ὰἀναγρα ρ ε unten Kap. 2 zubesprechenden, der Ἱ außerdem dem Kronos während seiner eigentlichen Weltherrscherperiode den Westen - Italien, Sizilien, Libyen - als Hauptgebiet undbesonderen Schwerpunkt seiner Herrschaft zuweisen. Unter solchen Umständen kommt eine Flucht des Kronos nachItalien kauminFrage; wahrscheinlicher wäreeine Vertreibung gerade vondort, sodaßdie etwaige Flucht, falls nunNäheres darüber gesagt worden wäre, ihnanderswohin geführt hätte, vielleicht nochweiter indenWesten, ähnlich wie es nach Johannes Lydos mens. p. 123 bei Krates derFall gewesen sein soll. Sollte diese besondere Konzeption von der Weltherrschaft des Kronos aus Euhemeros übernommen worden sein¦67¿, wird die Wahrscheinlichkeit, daß Euhemeros von einer Flucht desKronos nach Italien erzählt haben sollte, noch geringer. Der Vorschlag, Ennius hätte dasOriginal umdenBericht über die Flucht Saturns undseine Ankunft in Italien erweitert, erscheint mirdeshalb erwägenswerter als dieTheorie, ήenthalten gewesen. φ ρ ὰἀναγρα dieThematik sei schon inder Ἱε Das Problem mußaber imZusammenhang mitder Frage betrachtet werden, welcher ArtdieQuelle war, derLactanz seine Information überdieSacra historia entnahm. DaßdieDivinae institutiones tatsächliche Fragmente undReminiszenzen desWerks enthält, wird im allgemeinen nicht bezweifelt undscheint auch mireine durchaus berechtigte Annahme zusein¦68¿. Entscheidend istjedoch nicht dieser Umstand allein. Unsere Stelle gehört nicht zudenAbschnitten, vondenen angenommenwerden muß, daßsie im Prinzip dentatsächlichen Wortlaut derSacra historia wiedergeben¦69¿. Aus diesem Grund ist es hier von entscheidender Bedeutung, ob Lactanz direkt auseinem ihmvorliegenden Exemplar derSacra historia zitiert, oder ob er sein Wissen auseiner anderen Quelle schöpft, die ihrerseits - direkt oder indirekt - ausderSacra historia zitiert. Nurimersten Fall können wirpraktisch sicher sein, daßLactanz seine Vorlage nicht hier unddanacheigenem besten Wissen ergänzt hat, weil sie eventuell unvollständig waroder ihm unvollständig vorkam. 64 Vgl. JACOBY ebd. (oben Fußn. 62). 11). 62 (=Diod. 6,1,1– 46; Eus. praep. ev. 2,2,52– 65 Diod. 5,41– 66 S. Abschnitt 2.2. a. E. (Kleindruck). ή sindeindeutig Weltherrscher, Kronos genauso wievorihm φ α ὰἀναγρ ρ 67 DieKönige der Ἱε Uranos undnach ihmZeus. Fürdie zwei letzteren bezeugen unsdies Diod. 5,46,3 undEus. praep. ev. 2,2,57 (=Diod. 6,1,6). Vgl. unten Kap. 2, Fußn. 32. 68 Dies mußv. a. aufGrund derstilistischen Argumente vonNORDEN sowie vonLAUGHTON undFRAENKEL als sicher gelten. 69 Zursprachlichen Form derFragmente unddendaraus sich ergebenden Implikationen s. v. a. LAUGHTON. Vgl. auch WINIARCZYK 1994 S. 285f. Von den Fragmenten machen einige den Anspruch darauf, regelrechte Zitate zusein, während andere mehrdieFormeines Referats oder einer freieren Zusammenfassung haben.

1.2. Vermeintliche Vorbilder in früherer Tradition

31

Was wirim allgemeinen vonderÜberlieferung undZugänglichkeit frühlateinischer Autoren in so später Zeit wissen, läßt die zweite Alternative als wesentlich realistischer erscheinen¦70¿. Das bedeutet deshalb, daßgewisse Zweifel daran bleiben, ob der Inhalt von 1,14,12 wirklich ausderSacra historia stammt. Zugegebenermaßen läßt sich eine Thematik wiedie Flucht unddas Sich-Verstecken Saturns an undfür sich leichter mit einem historisierenden als mit einem mythisierenden Kontext verbinden. Aber nach wie vor halte ich es für ein sehr schwerwiegendes Argument, daß wir vor der Aeneis keinen einzigen zuverlässigen Beleg für die Ankunft Saturns in Italien besitzen¦71¿. Auch müßte noch geklärt werden, welche Absicht Ennius verfolgt haben könnte, falls er Saturn nach Italien hätte kommen lassen undihn sich dort hätte verstecken lassen. Daßer das Vaterland hätte verherrlichen wollen, indem mit Saturn die goldene Zeit dorthin gebracht werden sollte, kommt nicht in Frage. Saturn ist in derSacra historia keine Idealgestalt. Nach inst. 1,13,2 soll nämlich die Sacra historia erklärt haben, daß Saturn, Ops undihre Zeitgenossen Kannibalen gewesen seien. Ein Menschenfresser als König dergoldenen Zeit schließt sich a priori aus. Dereigentliche Held derSacra historia ist Juppiter, nicht Saturn. Juppiter ist der Kulturstifter; er bringt den Menschen leges undmores (inst. 1,11,45; 1,13,2; epit. 13,4) - er setzt z. B. dem Kannibalismus ein Ende (1,13,2) - er lehrt sie die Agrikultur (1,11,45). Es kann sich aber auch nicht umeinen Wunsch gehandelt haben, auf diese Weise eine persönliche Beziehung zwischen Saturn unddemLand, indemdie Saturnalien gefeiert wurden, herzustellen. Dies wäre ein sehr gekünsteltes Vorgehen - besser hätte sich eine solche Verbindung imZusammenhang mitdereigentlichen Alleinherrschaft Saturns angeboten. Es wäre dabei nicht einmal notwendig gewesen, denSchwerpunkt der Herrschaft Saturns in den Westen zu verlegen¦72¿, denn wir sehen, daß nach dem Zeugnis desLactanz inderSacra historia Juppiter aufseinen Reisen durch die Welt dafür gesorgt haben soll, daß ihm überall Kulte eingerichtet wurden¦73¿. Entsprechendes hätte für Saturn in Frage kommen können. Demgegenüber läßt sich die Idee von der Flucht Saturns vomOlymp in Aen. 8 als Teil des besonderen Konzepts der Aeneis hervorragend erklären, so daß sie trotz aller Ausgefallenheit durchaus dort im Rahmen des Gesamtkonzepts überhaupt erst erfunden worden sein könnte, ohne ein besonderes Vorbild zubenötigen. Zubeachten ist, daßLactanz in 1,14,12 nurerwähnt, daß Saturn in Italien angekommen sei und sich dort versteckt habe. Davon, daß er dann dort noch zum König geworden sei, erfahren wir nichts. Dieser Umstand spricht an sich für die Zuverlässigkeit der Information. Hätten wir es nämlich mit einem von Lactanz selbst hinzugefügten Stoff zutun, hätte maneher vermutet, er würde auch noch die Regierung Saturns in Italien ergänzt haben. Aber nursoviel erfahren wir, daßSaturn auf der Flucht vor den Verfolgern, die Juppiter nach ihm ausgeschickt hat, durch die Welt geirrt ist undsich schließlich mit knapper Not in Italien hat ver70 S. WINIARCZYK 1994 S. 286 und289f. 71 Vgl. meine Argumentation 1986 S. 57ff. 72 Wie es bei Diod. 5,66,5 derFall ist. 22. Vgl. epit. 19,4. Vgl. für das griechische Original Eus. praep. ev. 2,2,61 (= 73 Inst. 1,22,21– Diod. 6,1,10). Bei Diodor 5,66,4 bereist Kronos dieWelt (s. unten 2.2.).

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1.DieSaturnsage derAeneis - Überlieferung undNeuerung

stecken können. Ohne Zweifel ist Lactanz sich dessen bewußt gewesen, daßdie Sacra historia eine etwaige Regierung Saturns in Italien nicht als goldene Zeit, so

wie die Aeneis sie darstellt, schildern konnte. Dagegen ist nicht anzunehmen, daß ihmklargewesen ist, daßin denvonihmselbst wiedergegebenen Abschnitten tatsächlich einiges überhaupt gegen eine Herrschaft Saturns nach derFlucht spricht. Hätte er als König geherrscht, hätte er es doch wohl schwerlich vermeiden können, vonJuppiter oder dessen Vasallen entdeckt zuwerden, wodieser durch dieWelt reiste und überall seine Freunde undVerwandten als Herrscher einsetzte¦74¿. Es scheint mireindeutig zusein, daßLactanz in seiner Quelle nichts voneiner weiteren Tätigkeit Saturns inItalien gefunden hatunddaßer auchnicht damit gerechnet hat, daßeine solche in derSacra historia erwähnt sein müßte. Wäre dies nämlich der Fall gewesen, dannerscheint es dochwohlunvorstellbar, daßeres versäumt haben sollte, in 1,13,8, wo die Reihe der historiarum ac rerum antiquarum scriptores aufgezählt wird, die die Taten Saturns in Italien überliefert haben sollen¦75¿, außer den aus Minucius übernommenen Autoren unddemvonihm selbst vermutungsweise hinzugefügten Varro auch noch Ennius, oder Euhemeros, oder beide, zu nennen. Wie eine Bemerkung in inst. 1,11,47 zeigt, gehört Ennius als Verfasser derSacra historia fürLactanz nachweislich zudieser Autorenkategorie, Euhemeros folglich auch. Das Fehlen ist um so auffallender, als Lactanz im selben Kapitel, kurz bevor er die betreffenden Autoren aufzählt, auch schon eine Stelle aus der Sacra historia angeführt hat, die u. a. vonSaturn handelt¦76¿. ήnach dem Sturz φ ρ α γ ρ ὰἀ ν α Es wurde oben schon erwähnt, daß in der Ἱε des Kronos die Aufmerksamkeit sich wahrscheinlich ganz demZeus zuwandte. Dies erklärt vermutlich auch, warum Lactanz in seiner Quelle zurSacra historia nichts über eine Herrschaft Saturns in Italien nach derFlucht gefunden hat. Saturn wird aus dem Blickfeld verschwunden sein. Wir können aber hier vielleicht ein Stück weiter auf dem Weg zur Präzisierung der Vorlage des Lactanz kommen. Wichtig ist, daß Lactanz persönlich damit gerechnet haben dürfte, daß jede Darstellung vom Sturz Saturns im Prinzip mit seiner Flucht nach Italien und seiner dortigen Herrschaft enden müßte - dies warja für ihndie zugrundeliegende historische Wahrheit. Dennoch hat er in seinem Referat die Herrschaft nicht ergänzt, dennoch hater den Namen des Ennius nicht unter denZeugen fürdie Taten Saturns in Italien genannt. Das mußdoch wohl bedeuten, daßer eine Quelle gehabt hat, die nicht nurnichts über eine solche Herrschaft Saturns verlauten ließ, sondern ausder deutlich hervorgegangen sein muß,daßdasbetreffende Thema inderSacra historia nicht vorkam, so daßer sich deshalb nicht berechtigt fühlte, einfach aufGrund seinereigenen Vermutung Ennius undEuhemeros in die Autorenliste aufzunehmen, wieer dies mitVarro getan hatte¦77¿. Ichglaube deshalb, daßdie Quelle, die Lactanz verwendet hat, entweder erschöpfend oder zumindest mitziemlicher Vollständigkeit 74 Inst. 1,11,45, epit. 13,4; 1,22,22, epit. 19,4. 75 Zur Stelle s. oben S. 21 undunten Abschn. 4.4.3. Dort auch Text. 76 Dies ist dieoben schon genannte Stelle 1,13,2 überdenKannibalismus zurZeit Saturns und seine Abschaffung durch Juppiter.

77 Er wird gewiß davon ausgegangen

sein, daßeine Fortsetzung dieser Artstillschweigend vorauszusetzen sei, daßaber die Sacra historia sie zugunsten anderer Thematiken übergangen habe.

1.2. Vermeintliche Vorbilder infrüherer Tradition

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die Saturngeschichte derSacra historia wiedergegeben hat, undzwarineiner Weise, daßdemLeser klar wurde, daßhier nichts oder fast nichts ausgelassen worden war. Wenndiese Annahme richtig ist, liegt es auch näher, davon auszugehen, daß die Quelle wirklich davon erzählt hat, wie Saturn in Italien angekommen sei und sich dort versteckt habe, alsdaßhier eine Ergänzung desLactanz vorläge¦78¿. So viel kannjedenfalls festgestellt werden, daßdieSacra historia, wennLactanz ein korrektes Bild vonihrem Inhalt gibt, als potentielle Inspirationsquelle für denGesamtinhalt derSaturnsage derAeneis nicht in Frage kommt. NachLactanz zu urteilen, könnte sie Vergil den Anstoß dazu gegeben haben, Saturn aus dem Himmel fliehen zulassen undihnnach Latium kommen zulassen, umsich dort zu verstecken, aber nurdazu, nicht zu seiner darauf folgenden Herrschaft undseiner damit verbundenen Tätigkeit, undauch nicht zur Aufnahme Saturns durch Janus. Allerdings müssen die oben geäußerten Bedenken, ob Lactanz wirklich ein korrektes Bild vonderSacra historia vermittelt, nach wievorberücksichtigt werden. 1.3. VONDICHTUNG ZUGESCHICHTE: DIE PROBLEMATIK DER UMWANDLUNG DER SATURNSAGE

Wenn wir bei den nachvergilischen Autoren davon lesen, wie Saturn als erster König in Italien herrschte, oder wie er von Janus aufgenommen wurde, wie er Janus im Ackerbau unterrichtete, wie die Münzprägung von ihm oder zur Erinnerung an ihn erfunden wurde, dann hatdasjedenfalls nichts mit Ennius zutun¦79¿. reliqua historia sic contexitur, die das abschließende Referat in cap. 14 einleiten (1,14,10), werden nicht sozudeuten sein, daßhierderrestliche Teil derSacra historia referiert wird (so MONAT in seiner Übersetzung S. 151). Mutmaßlich bringt die Sacra historia die Hauptdarstellung, den Bericht über Juppiters Herrschaft undTod, aus dem Lactanz in 1,11 mehrere Abschnitte wiedergibt, erst nachdemSturz Saturns, wieesderzeitlichen Folge der , undzwar die SaturngedieGeschichte“ Ereignisse entspricht. Historia dürfte hier vielmehr „ , d.h.das,wasdieses Werk, so derRestderGeschichte“ schichte, bedeuten. Esfolgt also hier „ wieLactanz seine Quelle versteht, nochüber Saturn zuerzählen hatte. Nurvonihmhandelt ja das gesamte 14. Kapitel; amAnfang (1,14,1) wird die Fassung derSacra historia ausdrücklich

78 Die Worte

denaufSaturn bezogenen Dichterstellen des13.Kapitels gegenübergestellt. 79 Alsweiteres Argument dafür, daßeine mitderSaturnsage derAeneis verwandte Fassung bei Ennius vorgelegen habe, wird häufig aufVarro ling. 5,42 hingewiesen, wodie Bezeichnung

Saturnia (Italien oder Latium) für Ennius bezeugt wird. Das Argument trifft jedoch ebensowenig fürEnnius wiefürVarro selbst zu.DieStelle wirdunten S. 61ff. besprochen. 26 vorliegenden Saturn-Janus-Geschichte ein GRAF 1992 sieht in derbei Macr. Sat. 1,7,19– gelehrtes Aition derSaturnalienfeier. DasAition beschreibe dasRitual derSaturnalien - inder Erzählung von der einmaligen Entstehung des Festes spiegele sich sein jährlich sich wiederholendes Ritual wider. GRAF interessiert sich inerster Linie fürdieFunktion derGeschichte, während Herkunft undAlter imHintergrund stehen. Aber wenn ich GRAF richtig verstehe, sollte hierin auch die ursprüngliche Funktion der Geschichte liegen. Halb beiläufig erwägt er (S. 15), obdieGeschichte vielleicht aufEnnius zurückgehe - daSaturn hier als Sterblicher gilt, wasindieRichtung derSacra historia weise - odervielleicht aufVarro. 26>) als causa 23>; 3.2.1.