Klerus und abweichendes Verhalten: Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg 9783666357695, 3525357699, 9783525357699


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German Pages [504] Year 1994

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Klerus und abweichendes Verhalten: Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg
 9783666357695, 3525357699, 9783525357699

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 106

V&R

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler Band 106 Irmtraud Götz v. Olenhusen Klerus und abweichendes Verhalten

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Klerus und abweichendes Verhalten Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg

von

Irmtraud Götz v. Olenhusen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Götz von Olenhusen,

Irmtraud:

Klerus u n d abweichendes Verhalten: zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg / von Irmtraud Götz v. Olenhusen. Göttingen: Vandenhoeck u n d Ruprecht, 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 106) I S B N 3-525-35769-9 NE: GT © 1994, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in G e r m a n y . Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig u n d strafbar. Das gilt insbesondere f u r Vervielfältigungen, Übersetzungen, M i k r o v e r f i l m u n g e n und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. D r u c k und B i n d u n g : Guide-Druck G m b H , Tübingen

Inhalt Vorwort Einleitung

9 11

1. Fragestellung, Quellengrundlage und methodische Überlegungen 2. Forschungsstand

11 19

Kapitel 1: Die Ausgangslage: Position und Rolle des katholischen Klerus im neuen Staat Baden

25

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Demographische Rahmenbedingungen Die Inferioritätsdebatte Parität Geistliche als Staatsbeamte Geistliche als Gymnasialprofessoren Pfründsystem und Pfründvergabe Pfründbesetzungsrechte Tischtitel Pensionierung Dekanate und Landkapitel Militärdienstpflicht der Geistlichen Die Jurisdiktionsgewalt der katholischen Kirche über den Klerus Die Jurisdiktionsgewalt der katholischen Kirche über Laien Konkursprüfungen Weiterbildungsmaßnahmen Zusammenfassung

Kapitel 2: Sozialisationsinstanzen der Priesterlaufbahn und sozialer Wandel im Klerus 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die primäre Sozialisation des Priesters Die sekundäre Sozialisation an den badischen Mittelschulen Die theologische Fakultät der Universität Freiburg Kirchliche Erziehungsanstalten Kirchliche Strafanstalten Die soziale und regionale Herkunft des Klerus der Erzdiözese Freiburg 7. Der Priestermangel in Baden Zusammenfassung

25 28 38 40 43 46 60 62 63 64 73 74 88 90 92 94

95 95 96 102 103 117 130 139 142 5

Kapitel 3: Abweichendes Verhalten von Geistlichen der Erzdiözese Freiburg 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

143

Abweichendes Verhalten, N o r m und Sanktion Idealtypen katholischer Pfarrer Formelle und informelle Kontrollinstanzendes katholischen Klerus Zur Konstruktion von Deliktarten Die Initiatoren von Disziplinaruntersuchungen Abweichendes Verhalten und Delikttypen Die strukturelle Diskrepanz zwischen Geburts- und Wirkungsorten des Klerus 8. Delikte nach Wirkungsorten der Delinquenten 9. Bürokratische Steuerung abweichenden Verhaltens 10. Dunkelzifferquote Zusammenfassung

143 146 147 158 164 168

Kapitel 4: Unklerikalisches Verhalten und Ultramontanisierung

181

1. Das tridentinische Priesterideal und die Bestimmungen des Kanonischen Rechtes zur Disziplin des Klerus 2. Die Strafgewalt der Priester 3. Die Sakralisierung des Priesterbildes 4. Unklerikalisches Verhalten Zusammenfassung Kapitel 5: Sexualdelikte A. >Einfache< Sexualdelikte 1. Kirchenbehörde, Klerus und Sexualmoral vor 1848. 2. Der Umgang von Gemeinden und Kirchenbehörde mit den Sexualdelikten 3. Schwangerschaften 4. Väter mehrerer Kinder 5. Schicksale der Priesterkinder. 6. Priesterehen 7. Schicksale von Pfarrhaushälterinnen 8. Statistik der Sexualdelikte und Ultramontanisierung 9. Warum sanken die Sexualdelikte nach Abschluß der Ultramontanisierung? Zusammenfassung B. Sexualdelikte im Sinne des Strafgesetzbuches 1. Statistik der Sexualdelikte im Sinne des Strafgesetzbuches 2. Vergewaltigungen 3. Unzucht mit Mindegährigen und Unmündigen 4. Homosexualität Zusammenfassung

6

172 174 176 177 179

182 186 188 192 206 207 207 210 217 220 223 225 229 230 232 236 237 239 239 247 266 271 275

Kapitel 6: Scheitern des Reformkatholizismus und Anfänge der Ultramontanisierung 1. Die katholische Aufklärung als Voraussetzung der Entstehung eines katholischen Liberalismus 2. Die Antizölibatsbewegung 3. Die Reformgeistlichkeit: Aufklärer und »Wessenbergianer« — Liberale, Deutschkatholiken und Demokraten 4. Ansätze zur Ultramontanisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 5. Der Klerus in der Revolution von 1848/49 Zusammenfassung Kapitel 7: Kirchenstreit, Kulturkampf, Ultramontanisierung des Klerus und das katholische Milieu in Baden 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7 8.

Der badische Kirchenstreit Bonifaz Jäckle Der badische Kulturkampf 1860-1879 Kulturkampf und abweichendes Verhalten des Klerus Reichsgründung und Antiklerikalismus Examensgesetze und Pfründvergabe Widerspruch, Unterwerfung und Abwanderung Altkatholische Priester und altkatholische Gemeinden

277 277 281 284 299 305 307

309 309 314 316 327 346 356 373 385

Zusammenfassung und Schluß

388

Anmerkungen

399

Abkürzungsverzeichnis

437

Quellen und Literatur

439

1. Ungedrucke Quellen.

439

2. Gedruckte Quellen und Literatur

440

Register 1. Ortsregister 2. Personenregister. 3. Sachregister

493 493 496 499

7

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1992 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Habilitationsschrift angenommen. Prof. Dr. Gottfried Schramm hat, nach der Emeritierung von Prof. Dr. Hans-Günter Zmarzlik, bereitwillig die Betreuung der Arbeit übernommen und mir darüber hinaus geholfen, Probleme zu lösen. Prof. Dr. Heribert Smolinsky und Prof. Dr. Hugo Ott haben dankenswerterweise die weiteren Gutachten verfaßt. Für Rat und Tat danke ich Michael Berget, Erhard Blankenburg, Ingeborg Denzlingen Albrecht und Cornelius Götz v. Olenhusen, Barbara Herrmann, Christof Heymann, Sigrid Hofmaler, Hans-Jürgen Kremer, Gerd Krumeich, Gabriele Moser, Heide Peper-Ludwig, Michael Reinhard, Sylvia Renkewitz, Christoph Schmider und Manfred Thaller. Widmen möchte ich das Buch dem Direktor des Erzbischöflichen Archivs Freiburg, Dr. Franz Hundsnurscher, ohne den die Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Freiburg im August 1994

Irmtraud Götz von Olenhusen

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Einleitung

1. Fragestellung, Quellengrundlage und methodische Überlegungen Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage nach den Mechanismen der Ultramontanisierung 1 des deutschen Katholizismus zwischen 1840 und 1880 sowie der damit zusammenhängenden Entstehung des katholischen Milieus. 2 Zu unterscheiden ist zwischen dem frühen Ultramontanismus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, der häufig mit Erweckungserlebnissen einherging, und dem Ultramontanismus, der die Kulturkämpfe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einleitete. Von der zweiten Form des Ultramontanismus wird in dieser Arbeit allein die R e d e sein. 3 Während der frühe Ultramontanismus in erster Linie antirationalistisch und antirevolutionär ausgerichtet war, richtete sich seine spätere Erscheinungsform unter einem innerkirchlich wieder erstarkten Papsttum gegen alle politisch und kirchenpolitisch liberalen Bewegungen. Außerdem versuchte die Amtskirche die Folgen der Säkularisation so weit als möglich rückgängig zu machen und bei der weiter voranschreitenden Trennung von Staat und Kirche den kirchlichen Einfluß in so großem U m fang wie möglich zu bewahren. Dies betraf in erster Linie Ehe, Familie und Schule. Zu diesem Zweck bediente man sich zunehmend klassisch liberaler Kampfmittel, nämlich der Öffentlichkeitsarbeit, Vereinsbildung und wenn es geboten schien, sogar der Forderung nach Wahlrecht und staatsbürgerlichen Rechten. Deswegen kann man im Untersuchungszeitraum Ultramontanisierung mit katholischer Milieubildung synonym setzen. Gleichzeitig wurden alle Trägerschichten einer innerkirchlichen Liberalisierung oder Demokratisierung ausgeschaltet. Mitbestimmung innerhalb der Kirche stand weder für den Klerus noch gar fur Laien zur Debatte. Im Vormärz überlappten sich beide Erscheinungsformen des Ultramontanismus, wobei in den Ländern des Deutschen Bundes ganz unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. Während im protestantisch dominierten Preußen der frühe Ultramontanismus Anhänger in verschiedenen Schichten der katholischen Bevölkerung gewinnen konnte und sich hier bereits in den 1840er Jahren in der Rheinprovinz Ansätze zu katholischer Vereinsbildung finden lassen, trifft dies für Südwestdeutschland nicht zu. Insbesondere im Großherzogtum Baden, aber auch in Württemberg und der bayerischen Pfalz, blieb die katholische Aufklärung - vertreten etwa durch Wessenberg 4 und seine Anhänger — bis zur Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 im niederen Klerus 11

und unter der anwachsenden liberalen Volksbewegung vorherrschend. Weder von einer Rekonfessionalisierung des Bewußtseins noch von einer erfolgreichen Ultramontanisierung der Amtskirche kann hier, im Gegensatz zu Preußen, die R e d e sein. Ein methodisch vertretbarer Zugang zur sozialgeschichtlichen Erforschung der Binnenmechanismen von Säkularisierung und Rekonfessionalisierung sowie der sukzessiven Trennung von Staat und Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwies sich auf überregionaler Ebene schnell als unrealisierbar. Die heftigen »Kulturkämpfe« zwischen Staat und Kirche einerseits, Liberalismus und Ultramontanismus andererseits mußten im Rahmen eines Beitrages zur Sozialgeschichte der Religion 5 des 19. Jahrhunderts eine besondere Berücksichtigung finden. Diese Kulturkämpfe sind als europäisches Phänomen 6 in ihren extrem unterschiedlichen Verlaufsformen nach wie vor erklärungsbedürftig. Zwei Phänomene scheinen dabei von besonderem Interesse. Zum einen das des >RückschrittsNormalpfarrerparteipolitisch< aktive Pfarrer, das waren in der Regel Parlamentarier bzw. diejenigen, die wegen der Teilnahme an der Revolution von 1848/49 auffällig oder straffällig geworden waren. 2) diejenigen Priester, die den »sittlichen« und sozialen N o r m e n eines katholischen Pfarrers nicht entsprachen und deswegen auffällig geworden waren. Das sind Kleriker, gegen die Untersuchungen wegen Vernachlässigung ihrer seelsorgerlichen Pflichten, Wirtshausbesuches, Teilnahme an Tanzveranstaltungen, Kartenspiel, Alkoholkonsums bis hin zu Alkoholismus, wg. Sittlichkeitsdelikten, Schwangerschaften der Pfarrhaushälterinnen, hoher Verschuldung etc. durchgeführt wurden. Dazu k o m m e n diejenigen, die zunächst mit dem bürgerlichen Gesetz in Konflikt gerieten u n d erst anschließend mit kirchendisziplinarischen Folgen zu tun hatten. Selbstverständlich treten hier alle möglichen Mischformen auf. Gruppe 1 und 2 überschneiden sich zum Teil, weil Gegner des Zölibats eher in den gelegentlich nachweisbar berechtigten Verdacht gerieten, uneheliche Kinder zu haben. Reformerisch eingestellte Pfarrer einerseits, betont ultramontane Pfarrer andererseits, gerieten öfter in Konflikt mit der Kirchenbehörde oder ihren Gemeinden als solche, die sich gegenüber den verschiedenen Richtungen eher indifferent verhielten. Über die Personalakten gerieten auch die katholischen Gemeinden ins Blickfeld, Zumindestens immer dann, wenn es zum Konflikt zwischen Pfarrer und Gemeinde kam, was häufiger als vermutet der Fall war. Der Pfarrer war bis zur endgültigen Trennung von Staat und Kirche 1919 Staatsbeamter und Kirchenbeamter; bei jedem Konflikt stand er zwischen Staat, Kirchenbehörde und Gemeinde, d. h. er war bestimmten politischen und kirchenpolitischen Konstellationen einerseits, vorpolitischen und politischen Bewegungen an der Basis andererseits unmittelbar ausgesetzt und mußte auf diese reagieren. Statistisch ausgewertet wurden Sozialdaten von 4680 Personen 21 und zwar aller Priester, die seit Gründung der Erzdiözese dort angestellt waren und bis einschließlich 1899 zum Priester geweiht wurden. Aufgenommen wurde zunächst die Priesterkartei im Erzbischöflichen Archiv Freiburg, die auf den 16

Nekrologen des Klerus der Erzdiözese basiert. 22 D a die Sozialdaten des Klerus der Weihejahrgänge 1870 — 1914 bereits sehr genau ausgewertet wurden, 2 3 konnte fur die Sozialstatistik auf eine sekundäre Analyse der Daten für diesen Zeitraum zurückgegriffen werden. D a m i t w u r d e ein Sozialprofil des gesamten Klerus der Erzdiözese Freiburg von 1 8 2 1 / 2 7 bis 1914 hergestellt. Für die Verbindung von quantitativer u n d qualitativer Analyse sollten deswegen diejenigen Personalakten ausgewählt werden, die fur folgende U n t e r fragen inhaltlich möglichst aussagekräftig zu sein versprachen: 1. W i e wandelt sich die gesellschaftliche Funktion des katholischen Pfarrers im 19. Jahrhundert? 2. Wer wird überhaupt Pfarrer u n d warum? 3. W i e werden aus liberalen ultramontane Pfarrer? 4. Welche R o l l e spielt der Pfarrer bei der Entstehung des katholischen Milieus u n d des politischen Katholizismus? Infolge der konfliktreichen Trennung von Staat u n d Kirche, der U l t r a m o n tanisierung u n d der badischen Kulturkämpfe entwickelten sich die Vorstellungen über abweichendes Verhalten zwischen Staat u n d Kirche i m m e r m e h r auseinander. Bis zur beginnenden Ultramontanisierung waren sich Staat u n d Kirche weitgehend einig, in welchen Fällen etwa »unklerikalisches Verhalten« als Delikt u n d damit als strafwürdig einzuschätzen sei. Seit Ende der 1830er Jahre begannen nicht nur hier Differenzen, sondern auch in den G e m e i n d e n selbst bildeten sich deutlicher Parteiungen heraus, die eine sehr unterschiedliche Auffassung davon hatten, wie sich ein Priester zu verhalten habe. Da Anzeigen gegen Pfarrer in der R e g e l von Mitgliedern der Pfarrgemeinde ausgingen (die Kirchenbehörde bzw. Staatsbehörde entschied dann, ob eine U n tersuchung eingeleitet w u r d e oder nicht), spiegelt sich w i e d e r u m in dem, was von den Beschwerdeführern als abweichend bzw. strafwürdig w a h r g e n o m m e n wurde, der Wandlungs- bzw. Entstehungsprozeß des katholischen Milieus wider. Nicht untersucht w u r d e die R o l l e der Pfarrer in der katholischen Volkspartei 24 bzw. ab 1888 der badischen Zentrumspartei, 2 5 den katholischen Vereinen 2 6 u n d der Caritas. Voraussetzung j e d e r ernstzunehmenden Sozialgeschichte ist die Verbindung von Sozial-, Kultur-, Geistes- u n d politischer Geschichte, da nur so die Komplexität menschlichen Denkens u n d Handelns deutlich werden kann. Besonderer Wert w u r d e auf die Zusammenhänge bzw. Diskrepanzen von Ideologie u n d Realität, D e n k e n u n d Handeln gelegt. Ausgehend von der A n n a h m e , daß Sozialgeschichte von Kirche u n d R e l i gion die Möglichkeit bietet, den tiefergehenden Prägungen des gesellschaftlichen Handelns auf die Spur zu k o m m e n , w u r d e ein Weg gesucht, die E n t stehung des katholischen Milieus in den »Kulturkämpfen« des 19. Jahrhundert unter A n w e n d u n g sozialwissenschafdich fundierter M e t h o d e n zu untersuchen. Dabei sollten die Menschen in ihrer Subjektivität nicht verschwinden, wie es gerade in der historischen Sozialwissenschaft leicht geschieht. M e n s c h lichem D e n k e n , Fühlen u n d Handeln wird allzuoft rein interessengeleitete

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Rationalität unterstellt; sicherlich ein Produkt der expliziten oder impliziten Zugrundelegung von Modernisierungstheorien. Für die Interpretation der Rolle der katholischen Kirche in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurden die folgenden Überlegungen als Arbeitshypothesen vorangestellt, die die Subjektivität konfessionell geprägter Wahrnehmungen betreffen: Mentalitätsunterschiede haben ihre Wurzeln in verschiedenen Lebenswelten. Der Katholizismus insgesamt war niemals ein homogenes Milieu;27 hier gab es seit Beginn der Neuzeit Teile mit bürgerlichem Bewußtsein, das dann von orthodoxen Kirchenbehörden in verzerrter Form, ζ. B. als »protestantisch« wahrgenommen wurde. Gleichermaßen nahmen protestantische Liberale restaurative Tendenzen in den evangelischen Kirchen als >katholisierend< wahr. Ebenso wie lutherische Orthodoxe mehr vorpolitische Grundeinstellungen mit katholischen Ultramontanen teilten, unterschied sich das katholische Bürgertum zur Zeit der Reichsgründung kaum von liberalen Kulturprotestanten. Erst die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Ultramontanismus und Liberalismus drängte liberale Katholiken beschleunigt aus der Kirche; im Gegenzuge nahmen liberale, protestantische Kulturkämpfer alles Katholische selektiv nur noch als ultramontan wahr. Die jeweiligen politischen und kirchenpolitischen Einstellungen der Geistlichen der Erzdiözese Freiburg sollten jenseits solch konfessionalistischer Denkmuster analysiert werden. Eine der wesentlichen Absichten meiner Arbeit ist es, subjektive Wahrnehmungen mit Hilfe der Kategorien von Generationszugehörigkeit, sozialer und regionaler Herkunft zu objektivieren und damit die Merkmale zu gewichten, die Einstellungen und Verhaltensweisen der katholischen Geistlichen prägten. Damit wurden Strukturen der kollektiven Biographie des katholischen Klerus gefunden, die immer wieder durch die Schilderung der Einzelbiographie konterkariert werden müßten. Individuelle Biographien verschließen sich häufig den gängigen sozialwissenschaftlichen Kategorien; auf ausführliche Darstellungen und individualpsychologische Interpretationen einzelner Lebensläufe wurde vor allem deswegen verzichtet, weil das den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte. Stattdessen wurde versucht, einzelne Fallbeispiele aus dem Bereich der den Geistlichen zur Last gelegten Delikte ausführlicher zu schildern, um das Verhältnis des Individuums zu seinem sozialen Umfeld sichtbar zu machen. Hier wurde auf Generalisierungen verzichtet, weil diese wiederum ins Einzelne gehende lokalgeschichtliche und biographische Studien vorausgesetzt hätten. Die Konfessionsproblematik wurde von der Religionssoziologie in einer die Geschichtswissenschaft anregenden Weise bisher von verschiedenen Seiten beleuchtet. Am bekanntesten sind die Thesen und Materialien Max Webers zur »Protestantischen Ethik«.28 Auf eine eingehende Diskussion dieser Thesen, die selber vom Konfessionalismus der Kulturkampfzeit geprägt schienen, soll hier verzichtet werden. Nur dort, wo es um empirische Befunde geht, wird kritisch darauf verwiesen.29 18

Neuere religionssoziologische Arbeiten, die sich wiederum auf Klassiker — vor allem Emile Dürkheim, Max Weber, Georg Simmel, Alfred Schütz sowie Niklas Luhmann - stützen, bzw. kritisch mit diesen auseinandersetzen, bestimmten Theorie und Methode meiner Arbeit. Vor allem die Arbeiten der Religionssoziologen Helmut Geller,30 Alois Hahn, 31 Franz-Xaver Kaufmann 32 bzw. des Volkskundlers Michael N. Ebertz 33 hatten Einfluß auf das methodische Vorgehen im einzelnen, das in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit erörtert werden wird.

2. Forschungsstand Der kulturelle und soziale Wandel im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts ist bisher wenig erforscht; es überwiegen insgesamt (ältere) Arbeiten zur konfliktreichen Trennung von Staat und Kirche und (neuere) zum politischen und sozialen Katholizismus im Kaiserreich;34 an einer modernen Ansprüchen genügenden Gesamtdarstellung des Kulturkampfes etwa mangelt es noch immer. 35 Die Geschichtsschreibung über den Katholizismus im 19. Jahrhundert war lange durch die Vorurteilsstrukturen der Kulturkampfzeit geprägt. Sie spiegelt die Geschichte eines Katholizismus, der durch Ultramontanisierung und Kulturkampf in ein Ghetto getrieben und dadurch objektiv wie subjektiv mit dem Stigma kultureller Inferiorität versehen war. Gleichsam kompensatorisch wurde in den letzten Jahren die »Modernität« des Katholizismus, der Weg aus dem Ghetto der Konfessionsschranken — vor allem im ausgehenden Kaiserreich — betont. 36 Sozialgeschichtliche Arbeiten zu Entstehung und Wandel des katholischen Milieus fehlen fast ganz;37 insgesamt betrachtet nehmen für die politische Geschichtsschreibung die Liberalismusforschung, für die Sozialgeschichte die Arbeiterbewegung — gemessen an der quantitativen Bedeutung ihrer Anhänger — einen ungleich größeren Raum ein. In dem jüngsten und prominenten kursorischen Uberblick Thomas Nipperdeys über die Rolle von Kirchen und Religion im 19. Jahrhundert wird — dem Forschungstrend folgend — nach der Modernität des deutschen Katholizismus gefragt.38 Es ist ohne Frage legitim — wie es Nipperdey tut — nach der Bedeutung des Katholizismus für die moderne Welt zu fragen und dabei die modernen Züge des organisierten Katholizismus im Kaiserreich aufzuzeigen. Nipperdey versucht dies am Beispiel der katholischen Vereine, von denen er in ein und demselben Satz behauptet, daß diese »spontan« entstanden seien und daß sie unter »geistlicher Leitung« standen.39 Theoretisch ist dies kein Widerspruch, aber es ist historisch falsch. Hier muß ebenso differenziert werden, wie in bezug auf den modernen Charakter dieser Vereine. Kirchliche Vereine wurden auf Anweisung der Kirchenbehörden von Geistlichen gegründet und kontrolliert, 19

während die wenigen Laieninitiativen in das säkulare Partei- und Verbandswesen mündeten. Pauschalierungen, wie die folgenden, fuhren dazu, kirchlichen und politischen Katholizismus noch stärker zu vermischen, als es die historische Realität erfordert, in der — v.a. über klerikale Führungsschichten — Religion, Kirche und Parteipolitik eine schwer zu durchschauende Bindung eingingen. »Die Vereine, die zuerst die geistlich-weltlichen Aktivitäten kirchlich anregten und einhegten, führten über die traditionelle, autoritative, kirchliche Kultur hinaus in die sich modernisierende Welt, deren Elemente wurden in die katholische Welt hineingenommen. Sie waren, das hat man lange verkannt - ein Stück Teilemanzipation und Modernisierung des Katholizismus. Diese sozusagen ungeplante Modernität hat natürlich auch zu Spannungen und Zielkonflikten zwischen Laien, Verbandsgeistlichen und der Amtskirche und den Integralisten gefuhrt, gerade im Jahrzehnt vor 1914; aber auch das hat den Modernisierungsprozeß nicht aufgehalten.«40 Für Nipperdey ist der Modernisierungsprozeß ein gleichsam unaufhaltbares Naturereignis. Deswegen betont er so unverhältnismäßig stark die ungeplante Modernisierung des katholischen Milieus und nicht den überaus erfolgreichen Abwehrkampf gegen alles, was inhaltlich mit Aufklärung assoziiert werden kann. Damit verkehrt Nipperdey Ursache und Wirkung des Säkularisierungsprozesses: »Kurz, aus der rein religiösen Orientierung wächst soziale und säkulare Aktivität, entsteht ein Stück emanzipatorischer Modernität.«41 Die Gründung katholischer Laienvereine war in erster Linie — ebenso wie die konservativer Vereine im protestantischen Preußen seit 1848/49 — eine gegenrevolutionäre Maßnahme. Fortgesetzt wurden solche Aktivitäten dann als generelle Abwehr von modernisierenden Einflüssen und später als Selbstbehauptung gegen kulturkämpferische Maßnahmen der Liberalen, die die Existenz der katholischen Kirche in Deutschland bedrohten. Aus der Dialektik von Massenmobilisierungen in Form moderner Organisationen und konservativer Absicht kann man jedoch nicht schließen, die katholische Kirche habe Modernität gefördert. Denn hätte die Kirche bzw. der politische Katholizismus hier nicht eingegriffen, hätten sich dieselben Menschen früher oder später in säkularen Verbänden organisiert, d. h. zunächst vor allem in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Hier müßte also differenziert werden zwischen der technischen Effizienz neuer und komplexer Organisationen einerseits und Modernisierung im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und mentalen Bereich andererseits. Dies gilt im ganz besonderen Maße für die katholischen Frauenvereine,42 die ein — vorsichtig ausgedrückt — äußerst ambivalentes Verhältnis zur Moderne besaßen. 43 Während sich die Männerwelt im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive aus dem katholischen Gemeindeleben zurückzog, war die stärkere Einbindung von Frauen und Kindern durchaus in patriarchalischem Interesse. Dieses Phänomen gilt vermutlich klassenübergreifend und relativ unabhängig von Zeit und Ort. Selbst 20

dort, wo Kulturkampf und später die soziale Frage die Männer für die Zentrumspartei mobilisierten, wurde eine enge Kirchenbindung zum spezifisch weiblichen Verhalten.44 Nipperdey unterstellt mit seiner Argumentation eine sich kontinuierlich modernisierende Homogenität des Katholizismus, die es indessen nie gegeben hat. Die mit der Ultramontanisierung einhergehenden Rekonfessionalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts kann man keinesfalls als Teil der Modernisierung begreifen, sondern ganz im Gegenteil, als ausgesprochenen Widerstand gegen die Moderne. Die ultramontane Formierung des katholischen Milieus verhinderte und behinderte Modernisierungsprozesse auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und mentaler Ebene. Gleichzeitig trug sie zur sozialmoralischen Stabilisierung von Bevölkerungsschichten bei, die in den Folgen der Industrialisierung mit gewissem Recht eine Bedrohung ihrer materiellen Existenz und psychosozialen Identität erblickten. Erst mit den beginnenden Auflösungsprozessen des katholischen Milieus (das gilt zumindest für den männlichen Teil der katholischen Bevölkerung) im Wilhelminischen Deutschland kam es zu einem Modernisierungsschub innerhalb des politischen und sozialen Katholizismus. Aber auch hier überlebte die religiös-moralische Liberalismus- und Kapitalismuskritik, die sich nicht mit der spezifischen Lage des Lohnarbeiters abfinden wollte. Vormoderne Vorstellungen und Organisationsformen lebten noch lange neben der »modernen« Programmatik« der Verbandsführungen weiter und behinderten deren Bemühungen um eine Zentralisierung der Verbandsleitungen und eine Vertretung spezifischer Klasseninteressen.45 Die Modernisierungsdebatte ist nicht Thema dieser Arbeit; angesichts der Forschungslage erschien es jedoch notwendig, hier die eigene Position zu bezeichnen. Der Prozeß der Ultramontanisierung war kein organischer Prozeß, sondern ein für die davon betroffenen Träger des Reformkatholizismus schmerzhafter Wandlungsprozeß, der entweder mit Abwanderung, Auswanderung oder Unterwerfung unter die kirchliche Autorität endete. Diesen Prozeß übergeht Nipperdey systematisch und konsequent. Entsprechend marginalisiert er die oppositionellen Bewegungen vor 1848 ebenso wie den Liberalen Katholizismus im Umfeld des I. Vatikanischen Konzils: »Freilich, von den vielen - manche meinen Hunderttausenden - Laien, die anfangs mitprotestierten, haben sich nur wenige dann wirklich von der Gesamtkirche losgesagt. Die Altkatholiken blieben eine Gelehrtenhäresie, eine kleine Protestkirche bürgerlicher Bildung, die Opposition verebbte.«46 Mit einem Bild einer Flut, der die Ebbe folgte, wird ein organischer, naturhafter Prozeß suggeriert, der nicht berücksichtigt, daß gerade der bürgerliche und gebildete Teil der Katholiken, als Träger innerkirchlicher Reformen, sich nun der Kirche noch weiter entfremdet hatte. Es wird verschwiegen, daß durch die Ultramontanisierung Chancen für interkonfessionelle politische Bewegungen zerstört wurden; liberale Katholiken konnten das Ausmaß der 21

antikatholischen Affekte protestantischer Liberaler nur dann billigen, wenn sie ihre katholische Identität ganz verleugneten; die Probleme liberaler Katholiken — so scheint es — werden in der Forschung ungern wahrgenommen.47 Eine der aggressivsten Kulturkampfreden im deutschen Reichstag 48 wurde bezeichnender Weise von dem Altkatholiken Eduard Windthorst49 — einem Neffen des Zentrumsfuhrers Ludwig Windthorst50 — gehalten. Der gegenwärtige Forschungsstand über den Kulturkampf in Deutschland berücksichtigt nicht, daß dieser auch den vorläufigen Abschluß der innerkatholischen Auseinandersetzungen seit der Aufklärung darstellte, die mit der vorläufigen Durchsetzung des Ultramontanismus endeten. Die Kulturkämpfe begleiteten so nicht nur den Beginn der Trennung von Staat und Kirche bzw. die vorläufige Festschreibung der protestantischen Kulturhegemonie, sondern auch die Ultramontanisierung des europäischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Die kleindeutsch-preußische Nationalgeschichtsschreibung hatte die protestantische Kulturhegemonie bekanntermaßen potenziert und Bismarck entsprechend gedankt. Als einer der wenigen katholischen Historiker des deutschen Reiches würdigte Franz Schnabel dagegen die religiöse Kultur der katholischen Aufklärung im deutschen Südwesten und den daraus entstandenen liberalen Katholizismus.51 In der neueren Sozialgeschichtsschreibung spielen — von wenigen Ausnahmen abgesehen - katholische Aufklärung, R e formkatholizismus und liberaler Katholizismus, die vor allem in Südwestdeutschland zwischen 1750 und dem I. Vatikanischen Konzil 1869/70 eine kulturell dominante Rolle spielten, kaum eine Rolle. 5 2 Forschungen darüber, welches Ausmaß und welche Ausbreitung die R e formbewegungen im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts wirklich hatten, haben erst in alleijüngster Zeit für den Deutschkatholizismus begonnen; 53 über die altkatholische Bewegung der Kulturkampfzeit ist kaum etwas bekannt. Die politische und kirchenpolitische Bedeutung, regionale Differenzierung und soziale Zusammensetzung der Trägerschichten dieser R e formbewegungen ist bisher kaum erforscht. Ein ganz besonderes Defizit besteht also nach wie vor bei der Erforschung des katholischen Milieus, bei der kritischen Hinterfragung konfessionsspezifischer Mentalitäten sowie bei der Wahrnehmung und Erforschung von innerkirchlichen Oppositionsbewegungen. Insbesondere in der Liberalismusforschung scheint das Inferioritätsverdikt der Kulturkampfzeit immer noch nicht überwunden. Als liberale Bildungsbürger treten hier in der Regel Protestanten auf. Katholische liberale oder gar demokratische Bewegungen wurden bisher fast ausnahmslos marginalisiert. In den groß angelegten Forschungsprojekten über das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert kommt zwar der evangelische Pfarrer am Rande vor, nicht aber der katholische. Mit guten Argumenten wurde hier in Frage gestellt, ob (evangelische) Pfarrer überhaupt zum Bildungsbürgertum gehören,54 nach dem soziologischen Status des katholischen Pfarrers wurde erst gar nicht ge-

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fragt; auch die Konfessionsproblematik in der Gesamtsituation des deutschen Bürgertums im 19. Jahrundert w u r d e nur aus der defizitären Perspektive — als Bildungsrückstand — wahrgenommen. 5 5 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war »Ultramontanismus« 56 die polemische Bezeichnung fur die kirchenpolitischen Ziele einer Minderheit u n d der Kulturkampf stellte den Abschluß der innerkatholischen Auseinandersetzung dar, aus der der Ultramontanismus siegreich hervorging. In der deutschen Geschichte der Reichgründungszeit erscheinen die konfessionellen Auseinandersetzungen dagegen fast ausschließlich als Problem der inneren Reichsgründung, als Krise bei der nationalen Integration einer katholischen Minderheit ins neue Kaiserreich. Gegen diese R e d u k t i o n spricht schon der zeitlich vor der R e i c h s g r ü n d u n g liegende Verlauf des badischen Kulturkampfes, in d e m die nationale Frage zunächst k a u m eine R o l l e spielte. U b e r das Verhältnis von Staat u n d Kirche in Baden 5 7 sowie die einzelne Phasen der innerkatholischen Geschichte des Erzbistums hegen wichtige Arbeiten vor, 58 die in den jeweiligen Kapiteln entsprechend gewürdigt werden sollen.

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Kapitel 1 Die Ausgangslage: Position und Rolle des katholischen Klerus im neuen Staat Baden 1. Demographische Rahmenbedingungen Zwischen dem Regierungsantritt Karl Friedrichs von Baden-Durlach 1746 und seinem Tode im Jahre 1811 hatte sich das Herrschaftsgebiet des Fürsten etwa verzehnfacht. Mit dem Beitritt zum Rheinbund 1806 wurde er zum Großherzog des neuen Mittelstaates Baden. 1807 hatte Baden 922469 Einwohner, 100 Jahre später hatte sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. 1 In den beiden größten Städten Badens, Mannheim und Karlsruhe, hatte sich gleichzeitig die Bevölkerungszahl um das Vier- bzw. Dreifache vermehrt. Bis 1849 betrug der Katholikenanteil ca. zwei Drittel, danach sank er leicht zugunsten der evangelischen Bevölkerung ab. Die ökonomische Ausgangsbasis der katholischen Bevölkerung war im Durchschnitt von vornherein schlechter als die der Protestanten; Katholiken waren auf dem Lande, und dort in den weniger fruchtbaren Gegenden, überdurchschnittlich stark vertreten.2 Diese Regionen, vor allem der Odenwald und der Schwarzwald, gehörten zu den ausgesprochenen Auswanderungsgebieten; dadurch erklärt sich wohl auch im wesentlichen der leicht absinkende katholische Bevölkerungsanteil. 3 1825 gab es in Baden 737 rein katholische Gemeinden, 1925 nur noch 86 Gemeinden mit einem Katholikenanteil von 100 Prozent. 4 Während 1864 noch 74 % aller Einwohner in Landgemeinden lebten, betrug dieser Anteil 1910 nur noch 53 %. 5 Als besonders besorgniserregend empfand die katholische Kirche die durch die Binnenwanderung in die Städte verursachte wachsende Anzahl von Mischehen. Bereits zwischen 1864 und 1880 verdoppelte sich ihre Anzahl, wobei der Anteil mit katholischer Kindererziehung unter diesen beständig abnahm. Während 1864 59,5 % aller Kinder aus gemischten Ehen katholisch getauft wurden, waren es 1880 nur noch 50 %.6 Statistisch fielen diese Zahlen für die Entwicklung der Konfessionsverhältnisse kaum ins Gewicht; sie waren eher ein Ausdruck für den Bedeutungsverlust der Kirchenbindung in den Städten. Der Haupturbanisierungsschub erfolgte in Baden erst nach der Reichsgründungszeit. Obwohl nach dem Ende des Kulturkampfes viele neue katholische Kirchen gebaut wurden, hatte man in der Seelsorge mit dem Wachstum der Städte nicht Schritt halten können. Wäh25

rend 1836 durchschnittlich 829 Katholiken von einem katholischen Geistlichen betreut wurden, so war diese Relation bis 1910 auf 1:1251 Katholiken angewachsen. Damit hatte sich die Katholikenanzahl pro Seelsorger um ca. 50 % erhöht, d. h. der Priesternachwuchs hatte sich relativ stark vermindert. Die durch Urbanisierung, Industrialisierung und Bildung ausgelösten Säkularisierungseffekte führten, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, nicht nur generell zu einer Entkirchlichung, sondern vor allem zu einer Feminisierung und Infantilisierung des kirchlichen Einflusses. Von nun an sollten zum einen Frauen in das Zentrum der seelsorgerlichen Bemühungen rücken,7 zum anderen verstärkte man die Bemühungen um die Kinder bzw. die Familie. Damit sollte dem Säkularisierungsdruck entgegengewirkt werden, der zur Abwanderung vor allem der männlichen Jugend aus der Kirche führte. Insbesondere in den Städten, in denen eine soziale Kontrolle über den Kirchenbesuch nur noch bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen lückenlos gewährleistet war, existierten am Ende des 19. Jahrhunderts bereits die Formen von Kerngemeinden aktiver Katholiken, wie sie heute die Regel darstellen und in denen meist die Frauen das aktivste Potential der Gemeindearbeit darstellen. Selbstverständlich stellte Baden hier keine Ausnahme gegenüber anderen deutschen oder europäischen Staaten dar. Der Einfluß der Kirchen nahm insgesamt ab, auch wenn die katholische Kirche es schaffte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Form der Massenreligiosität zu kreieren. Gerade in Baden erzielte die katholische Kirche jedoch keine spektakulären Erfolge bei der — gegen den säkularen Trend — gesamteuropäisch insgesamt erstaunlich erfolgreichen Rekonfessionalisierung der katholischen Bevölkerung. Die Gründe dafür liegen in den demographischen und politischen Rahmenbedingungen, die hier nur angedeutet werden sollen.8 Erstens stellten die badischen Katholiken die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Daher waren Appelle an Uberfremdungsängste durch Protestanten — im Gegensatz zu Preußen — nur ausnahmsweise erfolgreich. Zweitens wurde, wegen der enormen Zersplitterung der Region im Alten Reich, die Konstituierung des Großherzogtums Baden kaum als Fremdherrschaft empfunden, und drittens wirkte, vor allem bis Ende der 1870er Jahre, der Liberalismus in hohem Maße als Integrationsideologie. Nur die Teile der Bevölkerung, die an traditionale Lebensformen gebunden blieben und mit der bürgerlich-liberalen Kultur des Vormärz wenig Berührungspunkte gehabt hatten, sollten in Baden für den entstehenden politischen Katholizismus in größerem Ausmaß gewonnen werden. Dafür können nicht in erster Linie ökonomische Gründe verantwortlich gemacht werden, sondern spezifische regionale Besonderheiten. Nur dort, wo kulturell-religiöse Traditionen und spezifische ökonomische Bedingungen zusammentrafen, gingen Religion und Politik im 19. Jahrhundert noch eine wirksame Verbindung ein, die weit bis ins 20. Jahrhundert hineinreichen sollte. Die katholische Bevölkerung, die 1771 bei der Vereinigung der beiden Markgrafschaften zu integrieren war, gehörte zum Bistum Speyer. Zwischen

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1801 und 1805 kamen die Besitzungen des Fürstbischofs von Konstanz, die pfälzischen Ämter Bretten, Heidelberg, Ladenburg und Mannheim mit den Amtern Lichtenau und Willstädt, das Stift Odenheim nebst einigen Abteien, die Herrschaft Lahr, die Reichsstädte Offenburg, Gengenbach, Zell, Überlingen und Pfullendorf dazu; zuletzt erhielt Baden den Breisgau mit Freiburg, die Baar mit Villingen, die Ortenau, das Stift St. Blasien, die Grafschaft Bonndorf, die Stadt Konstanz und schließlich die Souveränität über sämtliche Reichsstände und Reichsrittergüter, insbesondere über den größten Teil des Fürstentums Fürstenberg, das Fürstentum Leiningen und andere.9 Flächenmäßig gehörten die größten Gebiete zum Bistum Konstanz (Südbaden), ein etwa gleich großer Teil jeweils zu den Bistümern Straßburg und Speyer (Mittel- und Nordbaden), die kleinsten Teile zum Bistum Worms, Würzburg und Mainz (Nordbaden). 10 Die freiheitliche Verfassung von 1818,11 die auf eine liberale Gesellschaftsordnung zielte, sollte nicht nur zu einer badischen Staatsbürgeridentität der neuen Einwohner beitragen, sondern auch die Gleichbehandlung der christlichen Konfessionen garantieren. Die ersten Jahre des neuen Großherzogtums standen noch völlig im Schatten der napoleonischen Kriege und der Neuordnung Europas. Erst nach dem Wiener Kongreß traten die protestantischen süddeutschen Staaten in Verhandlungen mit dem Hl. Stuhl ein, um zu einer Neuordnung der Bistumsgrenzen zu gelangen. Erklärtes Ziel dieser Staaten war es, die Bistumsgrenzen analog der staatlichen Neuordnung verlaufen zu lassen, was schließlich auch weitgehend durchgesetzt werden konnte. Bis dahin wurde den jeweiligen Bischöfen bis zu ihrem Tode die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten überlassen. Nach deren Tode wurde sie vorübergehend den Generalvikariaten in Bruchsal und Konstanz übertragen. 12 Das vielscheckige Muster der konfessionellen Landkarte des Großherzogtums Baden im 19. Jahrhundert gibt — wenn auch in rasterartiger Reduzierung und Vergröberung — die vielfältigen regionalen und lokalen Traditionen wieder. 13 Im Laufe des Jahrhunderts wandelte sich die Konfessionsmischung nicht so sehr auf regionaler Ebene als vielmehr in größeren Städten, den Zentren der beginnenden Industrialisierung, aber auch in kleinen Amtsorten. Die Mobilität der Bevölkerung folgte einem ausgeprägt konfessionellen Muster. Unter den durch Agrarkrisen, Zehntablösung und Realteilung pauperisierten Teilen der ländlichen Bevölkerung waren Katholiken, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überrepräsentiert. Entsprechend hoch war vermutlich der Anteil der Auswanderer.

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2. Die Inferioritätsdebatte N a c h E n d e des Kulturkampfes setzte im deutschen Kaiserreich die »Inferioritätsdebatte« ein. 1 4 Im gesamten mittleren und höheren Schulwesen waren Katholiken, ebenso wie in Regierungsämtern, in der staatlichen Bürokratie, unter den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Eliten, vor allem aber im Militär - zumindest am E n d e des 19. Jahrhunderts - stark unterrepräsentiert. Das Defizit der Katholiken, so stellte es sich bei einer Fülle statistischer Untersuchungen heraus, die vor allem seit Ende des Jahrhunderts angestellt wurden, war e n o r m hoch. D i e wenigsten Untersuchungen operierten aber diachron; von katholischer Seite wurde argumentiert, daß die Ursachen dieses Bildungsdefizits in einer Benachteiligung der Katholiken durch die protestantischen Staaten begründet lägen, von den Protestanten wurde die weniger fortschritts- und aufstiegsorientierte Mentalität der Katholiken ins Feld gefuhrt. E i n e für die religionssoziologische Debatte entscheidende Frage ist es, ob es ein Bildungsdefizit von Katholiken gab, das nicht allein mit der ö k o n o m i schen und infrastrukturellen Benachteiligung der Katholiken infolge des R e formationsverlauf erklärt werden kann. M a x Weber kam in seiner Abhandlung »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« zu dem Schluß, daß die unterschiedliche Position von Protestanten und Katholiken im modernen Erwerbsleben i m wesentlichen nicht durch äußere Umstände, sondern durch die verschiedene »innere Eigenart« der Angehörigen beider Konfessionen bedingt sei. »Der Grund des verschiedenen Verhaltens muß also der Hauptsache nach in der dauernden inneren Eigenart und nicht nur in der jeweiligen äußeren historisch-politischen Lage der Konfessionen gesucht werden«.15 Martin Offenbacher — ein Schüler M a x Webers — zog aus einer statistischen Analyse über Konfession und soziale Schichtung bzw. der Interpretation der wirtschaftlichen und sozialen Lage der badischen Katholiken die sozialdarwinistisch gefärbte Schlußfolgerung: »Der Katholik in Baden ist ruhiger; mit geringem Erwerbstrieb ausgestattet, gibt er auf einen möglichst gesicherten Lebenslauf, wenn auch mit kleinerem Einkommen, mehr, als auf ein gefährdetes, aufregendes, aber eventuell Ehren und Reichtümer bringendes Leben. Es äussern sich in diesem verschiedenartigen Verhalten gegenüber dem modernen wirtschaftlichen Daseinskampf die Wirkungen einer grundverschiedenen Stellungnahme beider gegenüber der modernen Kulturentwicklung«.16 Es mag hier dahingestellt bleiben, wie stark M a x W e b e r seinen Schüler b e e i n flußt hat, bzw. welchen Stellenwert umgekehrt die statistische Untersuchung Offenbachers für die weitreichenden Schlußfolgerungen seines Lehrers hatte. Sämtliche Aussagen über eine spezifisch katholische Mentalität im R a h m e n der Inferioritätsdebatte vor und nach der Jahrhundertwende waren völlig spekulativ, indem sie sich einerseits auf die ultramontane Ideologie, andererseits

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auf Statistiken stützten, die rein punktuell angelegt waren. In die Interpretation der Daten wurden keinesfalls alle Variablen einbezogen, die als maßgebend für das Bildungsverhalten angesehen werden können. Die Katholiken wurden als einheitliche Gruppe mit einer einheitlichen Mentalität hingestellt. Die Frage, ob es sich hier in erster Linie nicht etwa um die Kulturhegemonie bürgerlicher Schichten anstatt um eine konfessionell-protestantische handelte, wurde so nicht gestellt. Die Ergebnisse der Statistik erschienen so eindeutig, das Denken war durch den Kulturkampf noch so stark geprägt, daß dem Faktor der Konfession ein unverhältnismäßig großes Gewicht beigemessen wurde. Ein solcher Konfessionalismus wurde folgendermaßen auf den Begriff gebracht: »Bestimmte gesellschaftliche Gruppen bleiben in einem Wandlungsprozeß, in positiver Weitung als Fortschritt* bezeichnet, zurück, und ihre >Rückständigkeit< wird nicht primär auf ζ. B. soziale oder ökonomische, sondern auf konfessionelle Einflüsse reduziert«. 17

Neuere Untersuchungen, die dagegen eine unbefangene Gewichtung vornehmen könnten, fehlen weitgehend. 18 Trotzdem sollen eine Reihe, vor allem historischer Argumente, vorgebracht werden, die den Konfessionalismus der Jahrhundertwende in Frage stellen bzw. die Argumente der Inferioritätsdebatte geradezu umkehren. Hypothetisch wird von der Annahme ausgegangen, daß nur für gesellschaftliche Gruppen, die nicht an den wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Fortschritten der Industrialisierung partizipieren konnten, die Ideologie des ultramontanen Katholizismus einleuchtend war. Dafür spricht auch die Zusammensetzung der Anhängerschaft der populistischen Integrallsten innerhalb des politischen Katholizismus, 19 deren Herausbildung als Parteiflügel sich parallel zur Inferioritätsdebatte vollzog. Einige Aspekte der Debatte sollen im einzelnen am Beispiel Badens diskutiert werden. Die »Inferioriät« der badischen Katholiken bestand nicht nur in einem insgesamt geringeren Bildungsgrad, sondern auch in der Art ihrer Ausbildung. Insbesondere an den neuen Schultypen — Realschulen und technischen Hochschulen — sowie in den naturwissenschaftlichen Studiengängen der Universitäten und an den Technischen Hochschulen waren — wie im gesamten Deutschen Reich — Katholiken noch stärker unterrepräsentiert als im höheren Bildungswesen insgesamt. Dies hatte eine gleichzeitig mit der Arbeit von Offenbacher erscheinende statistische Untersuchung — ebenfalls am Beispiel Badens - schlagend nachgewiesen, aber auch nur für den Zeitraum seit 1869. 20 Im Durchschnitt der Jahre 1885/95 betrug der Anteil der Protestanten in Baden, die eine höhere Schule besuchten, 48 %, obwohl ihr Bevölkerungsanteil nur 37 % betrug. Der Bevölkerungsanteil der Katholiken betrug 61,3 %, der Anteil katholischer höherer Schüler aber nur 42 %. Bei den Juden war der Anteil höherer Schüler fast sieben mal so hoch wie ihr Bevölkerungsanteil: der Schüleranteil betrug 10%, der Bevölkerungsanteil 1,5 %. Bei den einzelnen Schultypen waren die Unterschiede noch sehr viel deutlicher ausgeprägt: 21 29

Besuch höherer Schulen nach Konfession der Schüler (1885/1895) Protestanten

Katholiken

Israeliten

Gymnasien Realgymnasien Oberrealschulen Realschulen Höhere Bürgerschulen

43% 69% 52% 49% 51 %

46% 31 % 41 % 40% 37%

9,5 % 9% 7% 11 % 12%

Durchschnitt

48%

42%

10%

Die berühmte Studie von Offenbacher machte in erster Linie kulturelle und mentale Unterschiede zwischen den Konfessionen für dieses Bildungsgefälle zuungunsten der Katholiken verantwortlich. Obwohl die Standortnachteile der Katholiken und die damit verbundenen günstigeren Vermögensverhältnisse der Protestanten in Baden evident waren, wurde diese Erklärung als nicht hinreichend angesehen. Insbesondere wurde von Offenbacher ignoriert, daß sich diese Verhältnisse mit Industrialisierung und Reichsgründung zuungunsten Südbadens noch wesentlich verschlechterten.22 In Baden Hegen — mit einer einzigen Ausnahme — keine Anhaltspunkte dafür vor, daß es im 19. Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen Schulbesuch und konfessioneller Mentalität gab. Diese Ausnahme besteht darin, daß vor und nach dem badischen Kulturkampf mehr Katholiken traditionelle Gelehrtenschulen mit Latein- und Griechischunterricht besuchten, als man aufgrund der ungünstigen Ausgangslage der benachteiligten Katholiken hätte erwarten können. Die Zugehörigkeit zur katholischen Konfession hatte — gerade umgekehrt zu den Argumenten der Inferioritätsdebatte — insoweit einen bildungsfördernden Einfluß auf vorindustrielle Produzenten, als katholische Landpfarrer häufig bäuerliche und Handwerkerfamilien dazu brachten, einen ihrer Söhne — mit dem Berufsziel Pfarrer — auf die höhere Schule zu schicken. Eine detaillierte Studie über den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und höherem Schulbesuch in Baden zwischen 1834/36 und 1890 zeigte, daß es hier infrastrukturell, soziokulturell und ökonomisch bedingte Barrieren waren, die »vorindustrielle Produzenten« beider Konfessionen davon abhielten, ihre Kinder auf weiterfuhrende Schulen zu schicken.23 Nur bei gezielter Unterstützung von Angehörigen dieser sozialen Schichten war man hier in der Lage und bereit, zumindest einem der Söhne eine weitergehende Ausbildung zu bieten. Im folgenden möchte ich einige Ergebnisse dieser Arbeit zugespitzt darstellen und durch verschiedene Überlegungen ergänzen. Die protestantische Landbevölkerung war an den traditionellen Gymnasien und Lyzeen erheblich schwächer vertreten als die katholische. Das lag eindeutig an der hohen Rekrutierungsrate katholischer Priester aus der ländlichen Bevölkerung. Insgesamt stieg und fiel der Anteil von Handwerkern und Landwirten an den höheren Schülern von Gymnasien und Lyzeen in katholi30

sehen Einzugsbereichen absolut u n d relativ etwa in demselben M a ß wie ihr Anteil am Priesternachwuchs der Erzdiözese Freiburg. 24 Das Ausmaß, in dem die ländliche katholische Bevölkerung ihre Söhne auf das Studium der katholischen Theologie vorbereiten Heß, hing w i e d e r u m von der wirtschaftlichen Situation ab. Diese w u r d e bestimmt a) von den Einkommensverhältnissen in der Landwirtschaft, b) von der Anzahl von Stipendien für Mittelschüler, c) von den Aussichten, als katholischer Pfarrer ein d e m Ansehen dieses Standes unter der kirchentreuen, ländlichen Bevölkerung angemessenes Ausk o m m e n zu finden. Die napoleonischen Kriege u n d die staatliche N e u o r d n u n g hatten in ganz Deutschland zu einem erheblichen Defizit u n d anschließend zu einem gesteigerten Bedarf an Akademikern, so auch an Pfarrern beider Konfessionen, geführt. Vermutlich hatte die katholische Bevölkerung, nicht nur in Baden, n o c h voll an d e m daraus resultierenden Wachstum der Universitäten zwischen 1815 u n d 1830 partizipiert. 25 Eine darauf folgende zyklische Wachstumskrise der Universitäten, die insgesamt einen Akademikerüberschuß u n d entsprechend auch einen U b e r s c h u ß an Pfarramtskandidaten produziert hatte, führte zu einer generellen Stagnation des Bildungssektors. Verstärkt durch die vorrevolutionäre Wirtschaftskrise, die erst Mitte der 1850er Jahre abflaute, war der Besuch der höheren Schulen insgesamt zurückgegangen. Mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft hatte der »Beruf« des Geistlichen — insbesondere f ü r städtische, bürgerliche u n d gebildete Schichten — an Attraktivität verloren. 2 6 A u f g r u n d der Differenzierung u n d Professionalisierung der bürgerlichen Berufe boten sich z u n e h m e n d m e h r Alternativen fur die akademische Berufswahl. 2 7 Das Studium der Theologie beider Konfessionen hatte außerdem nur bis Ende der 1830er Jahre die Alternative zwischen d e m Beruf des geisdichen Gymnasialprofessors u n d d e m des Pfarrers geboten. Die philologischen Studienfächer traten ab den 1840er Jahren in Konkurrenz zur Theologie, 2 8 zudem existierte ein erheblicher Akademikerüberschuß. Die zweite Phase des großen Priestermangels der 1840er Jahre war eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung. Erst jetzt begannen die Kirchen, Aktivitäten zu entwickeln, u m in verstärktem Ausmaße den fehlenden Priesternachwuchs aus den Schichten zu rekrutieren, die bisher an den Universitäten k a u m vertreten gewesen waren. Trotz des traditionell h o h e n Anteils an Stiftungen für die Ausbildungskosten katholischer Schüler, insbesondere z u m Zwecke des Theologiestudiums, m u ß t e n zusätzliche Stipendien u n d Anreize entwickelt werden, u m d e m Säkularisierungstrend in der Wahl der akademischen Studienfächer zu begegnen. Ab 1845 stieg der Anteil der ärmeren ländlichen Bevölkerung im mittleren u n d höheren Schulwesen entsprechend an. Erheblich verstärkt w u r d e dieser neue Trend durch die Bewilligung eines landesherrlichen Stipendiums für Schüler, die beabsichtigten, später den Beruf des katholischen Geistlichen zu ergreifen. Die Anzahl dieser Stipendiaten war 31

vor allem in den 1850er und 1860er Jahren so hoch, daß allein dieses eine Stipendium nicht nur äußerst positive Auswirkungen auf den Priesternachwuchs hatte, sondern auf den Bildungsstandard der ärmeren katholischen Bevölkerung überhaupt, da nur ca. 20 % der Stipendiaten später katholische Priester wurden. Viele der Stipendiaten studierten schließlich doch nicht Theologie oder wechselten an der Universität das Studienfach, auch wenn dies Rückzahlungsverpflichtungen zur Folge hatte.29 Die folgende Grafik, in der die Anzahl protestantischer und katholischer Stipendiaten — wenn auch lückenhaft — aufgeführt ist, verdeutlicht nicht nur den hohen Stellenwert der Stipendien für die katholische Bevölkerung, sondern zeigt zugleich den rapiden Einbruch, den das katholische Stipendienwesen durch den badischen Kulturkampf bereits ab 1863 erfuhr. In den 1870er Jahren sank die Anzahl der Stipendiaten gegen Null, worauf das stark angewachsene Bildungsdefizit der Katholiken zwischen 1870 und 1900 unmittelbar zurückgeführt werden kann. Während des Kulturkampfes rekrutierte sich der katholische Priesternachwuchs Badens vor allem aus einem einzigen privaten katholischen Internat.30 Seit Ende des Kulturkampfes setzte sich diese Entwicklung fort, indem der katholische Priesternachwuchs kaum mehr aus dem staatlichen Schulsystem kam, sondern aus kirchlichen Anstalten, die allein der Ausbildung des Priesternachwuchses vorbehalten waren. Damit verschwanden für die ärmere katholische Bevölkerung Kompensationsmöglichkeiten, die einen gewissen Ausgleich für ihre — verglichen mit der protestantischen Bevölkerung — schlechteren Startbedingungen geboten hatten. Zwischen 1845 und 1863 hatte in Baden die Förderung potentieller zukünftiger Priester die Funktion, die schlechteren Bildungschancen der katholischen Bevölkerung abzugleichen. Erschwerend hinzu kam die Depression der 1870er Jahre, in der die Lebenshaltungskosten erheblich anstiegen. Jede wirtschaftliche Krise betraf das Bildungsverhalten der ländlichen Bevölkerung sehr viel einschneidender als das der größeren Städte, da diese nicht nur das Schulgeld und den Wert einer ausfallenden Arbeitskraft, sondern auch den Aufwand für Kost und Logis in der Stadt aufbringen mußte. Bei steigenden Lebenshaltungskosten wurde die auswärtige Unterbringung eines Schülers zum Luxus. Das Schulgeld hatte sich überdies zwischen 1874 und 1905 mehr als verdoppelt.31 Da in den R e gionen mit mehr als 50 % protestantischer Bevölkerung die Schuldichte erheblich höher war, pendelten hier wesentlich mehr Schüler täglich zur Schule, was im Zuge der besseren Erschließung durch die Eisenbahn noch erleichtert wurde.32 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden schließlich auch für die mittleren und unteren Schichten der städtischen Bevölkerung die Bildungschancen radikal begrenzt. Das Bürgertum hatte sich nach unten abgeschottet. Während im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sich aus den 2 % der Oberschicht und des Bildungsbürgertums 50 % der Studenten rekrutierten und die mittleren Schichten in etwa in ihrer durchschnittlichen Stärke vertreten waren, rekru32

Stipendiaten an badischen Mittelschulen 1847/48 und 1857-1863

Я Ш Nichtkonfessionell

7ΖΆ

Protestantisch

ЕЕШ Katholisch

S 3

Landesherrl.Stip.

1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870

1871 1872 1873 1874

ШШ Nichtkonfessionell

У/Л

EH3 Katholisch

ES3 Landesherrl.Stip.

Protestantisch

tierten sich aus den unterbürgerlichen Schichten nur etwa 2 % der Studierenden; die Hälfte davon waren Tagelöhner und Arbeiter. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg die Selbstrekrutierung der Gebildeten aufgrund der Stagnation des Bildungswesens, während es im Kaiserreich aufgrund der Industrialisierung zu einer Plutokratisierung der höheren Bildung kam. Erst nach der Jahrhundertwende kam es zu einem nennenswerten Anteil der Söhne unterer Beamter, Angestellter und Arbeiter am Besuch höherer Lehranstalten, 33 und damit — so meine Schlußfolgerung — auch von Katholiken. Den bedeutsamsten Einbruch in das konfessionsspezifische Bildungsverhalten stellte die Kulturkampfzeit dar. Waren bis dahin die Katholiken an den badischen Gelehrtenschulen um ca. 5 % unterrepräsentiert gewesen, 34 so be33

gann mit dem badischen Kulturkampf der 1860er Jahre eine Entwicklung, die auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes im Jahre 1875 dazu führte, daß beide Konfessionen 50 % der höheren Schüler stellten. Die Katholiken waren damit um mehr als 10 % unterrepräsentiert. Zehn Jahre später hatten die Protestanten die Katholiken deutlich überflügelt,35 so daß die Katholiken in den 1880er und 1890er Jahren im höheren Schulwesen um fast 20 % unterrepräsentiert waren. Je moderner der Schultyp, desto stärker ausgeprägt war die Benachteiligung der Katholiken. 1885 wurden die traditionellen Gymnasien und Lyzeen, was die Schülerfrequenzen betraf, erstmals von den Realgymnasien (seit 1870 mit Latein-, aber weiterhin ohne Griechischunterricht) überflügelt, und seitdem begann hier eine Schere zwischen der Bedeutung alter und neuer Schultypen zu klaffen. Der Besuch der Gelehrtenschulen nahm erst ab und stagnierte dann, während der der Realanstalten weiter wuchs.36 Hier lag die geringere Frequenz der katholischen Schüler eindeutig in den überwiegend protestantischen Einzugsgebieten der neuen Anstalten begründet. Gegen eine den Realien abgeneigte katholische Mentalität spricht, daß die Quoten des Schulbesuchs sich bei Protestanten und Katholiken zwischen 1875 und 1900 völlig parallel entwickelten und gerade nicht den Schwankungen unterworfen waren wie die der Gymnasien und Lyzeen. Abgesehen von der insgesamten geringeren Schuldichte in den katholischen Regionen überwogen gerade die neuen Schultypen — relativ und absolut — in den Regionen mit mehr als 50 % protestantischer Bevölkerung, vor allem aber auf dem Gebiet der ehemaligen Markgrafschaft Baden-Durlach (Amter Karlsruhe, Durlach, Pforzheim, Lörrach, Schopfheim, Mühlheim und ein Teil des Amtes Emmendingen) und der ehemaligen Kurpfalz (Amter Mannheim, Schwetzingen, Weinheim, Heidelberg sowie in Teilen der Amter Bretten, Eppingen und Sinsheim). In diesen Regionen, die flächenmäßig weniger als ein Drittel des Großherzogtums Baden umfaßten, lag mehr als die Hälfte aller Mittelschulen. Von den insgesamt 45 badischen Gelehrtenschulen mit Hochschulzugangsberechtigung befanden sich 25, von den insgesamt 30 Realanstalten oder nicht-humanistischen Gymnasien 17 in den oben bezeichneten Regionen. 37 Damit entsprach der Besuch katholischer Schüler in diesen Schultypen insgesamt tatsächlich nicht ihrem Bevölkerungsanteil; sie waren hier in beträchtlichem Ausmaße unterrepräsentiert.38 Wenn man bedenkt, daß in Baden, nach der Volkszählung von 1895, 61,5 % der Katholiken, aber nur 46,5 % der Protestanten in Gemeinden unter 2000 Einwohnern bzw. 35,8 % (in absoluten Zahlen waren das 296 645) der Protestanten und 20,9 % der Katholiken (in absoluten Zahlen 220 928) in Städten über 5000 Einwohnern lebten, 39 kann es keineswegs verwundern, daß der Anteil der Katholiken an dem Besuch höherer Schulen geringer war. Nimmt man noch die weitaus schwächere Wirtschaftskraft der katholischen Bevölkerung hinzu,40 so könnte man die Argumente der Inferioritäts34

debatte — wie bereits gesagt — auch an diesem Punkt umkehren: Gemessen am Stadt/Landgefalle zuungunsten der Katholiken, ihren wirtschaftlichen Verhältnissen und an den Schulstandorten war der Anteil der katholischen höheren Schüler bis zum Kulturkampf erstaunlich hoch. Offenbachers Argumentation ging nun dahin, gerade das enorme Stadt/ Landgefälle der Zeit um die Jahrhundertwende der katholischen Mentalität zuzurechnen, weil das Städtewachstum weit überdurchschnittlich den Protestanten zugute gekommen sei. Dieses Ergebnis ist zu korrigieren bzw. mindestens zu überprüfen. Die Ursachen können auch hier in der infrastrukturell bedingten Benachteiligung katholischer ländlicher Regionen liegen, die ihre Ursachen im Reformationsverlauf haben mögen, zum anderen aber wird dieser Trend durch die Durchsetzung des Ultramontanismus verstärkt worden sein. Die Ultramontanisierung auch des badischen Katholizismus hatte, wie man annehmen darf, die politische Folge, daß die Regierung bei Vergabe höherer staatlicher Amter an Katholiken noch zurückhaltender wurde. Dabei bestand innerhalb des entstehenden politischen Katholizismus ein Interesse, sowohl in der wirtschaftlichen Benachteiligung der ländlichen Bevölkerung durch die Industrialisierung von der Katholiken in Teilen der katholischen Rheinprovinz und im Südwesten rein quantitativ stärker betroffen waren als Protestanten - als auch in dem weitgehenden Ausschluß der Katholiken von führenden Positionen in Regierung, Bürokratie und Militär eine gemeinsame Wurzel zu sehen. Diese sah man zunächst in einer pauschalen Benachteiligung aller Katholiken und damit in einer Verletzung des Verfassungsgebots der Parität. Dies ist nur ganz bedingt richtig. Streng unterschieden werden muß hier zwischen einer Benachteiligung bei der Vergabe von staatlichen Amtern und den strukturellen Ursachen der generell wesentlich schlechteren Bildungschancen unterbürgerlicher Schichten. Während in den protestantischen Staaten Katholiken sowohl in der R e gierung, als auch in Spitzenpositionen von Bürokratie und Militär vermutlich auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterrepräsentiert waren, verschärfte sich dies sicherlich in der Kulturkampfära.41 Mit Beginn der liberalen Ära orientierten sich Großherzog und Regierung bekanntermaßen stärker an Preußen, und es ist zu vermuten, daß dies Einfluß sowohl auf die Berufungspolitik an die Universitäten als auch auf die Zusammensetzung des hohen Offizierskorps hatte. Nach 1870 hatten Katholiken auch in Baden wesentlich geringere Chancen als Protestanten, einen R u f an eine deutsche Universität zu erhalten. Für Juden galt dies bekanntermaßen ohnehin. Aber auch nach Ende des Kulturkampfes, seit den 1890er Jahren, war zumindest ein explizites Bekenntnis zum Bismarck'schen Nationalstaat Voraussetzung für einen Katholiken, um höhere Staatsämter zu erlangen.42 Dabei waren die Verhältnisse in der Reichsgründungszeit in den südwestdeutschen Staaten wegen der vorherrschenden, antipreußischen Mentalität geradezu umgekehrt. Die Konfession spielte bei den antipreußischen Einstellungen praktisch keine Rolle. Stattdessen befürchtete man zu Recht die Gefährdung der liberalen

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Traditionen durch Übernahme preußischer Militär- und Verwaltungsnormen. Bei den Liberalen hatte es in Baden beispielsweise schon vor den Auseinandersetzungen um die Heeresreform von 1868 großen Unmut erregt, daß nach der Niederlage von 1866 ein preußischer Offizier zum Chef des badischen Generalstabes und ein preußischer General zum Präsidenten des Kriegsministeriums ernannt worden war.43 Daß es sich bei beiden um Protestanten handelte, bedürfte eigentlich keiner Erwähnung. Solche außenpolitischen Entscheidungen haben - soziologisch betrachtet - nur ganz indirekt etwas mit konfessionellen Einstellungs- und Verhaltensmustern zu tun. Bei der gesamten Inferioritätsdebatte wurde überdies die Existenz eines katholischen Liberalismus überhaupt nicht berücksichtigt. Es ließ sich weder ein Beleg dafür finden, daß Katholiken in vergleichbaren sozialen Positionen weniger aufstiegs- oder bildungsorientiert gewesen wären als Protestanten, noch dafür, daß gemäßigt liberalen, bürgerlichen Katholiken bestimmte Positionen nicht zugänglich waren. Die in Baden besonders stark vertretenen Altkatholiken hatten die römisch-katholische Kirche ja gerade deswegen verlassen, weil sie nicht die traditionalistische Mentalität der Ultramontanen teilten, sondern eine bürgerlich-nationale Weltanschauung vertraten und äußerst aufstiegsorientiert waren. N u n könnte man einwenden, daß die Altkatholiken selbst in Baden eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung darstellten. Aber erstens trifft das vor allem auf die größeren Städte nicht zu, und zweitens waren sich die Zeitgenossen darin einig, daß die Anzahl der Sympathisanten des Altkatholizismus beträchtliche Ausmaße erreichte. 44 Bei dem in absoluten und relativen Zahlen insgesamt niedrigen Besuch weiterführender Schulen im 19. Jahrhundert könnte eine sozialgeschichtliche Untersuchung der altkatholischen Bewegung in Baden und ihres Bildungsverhaltens hier zu neuen Aufschlüssen über >katholische Mentalität führen. Allen mir bekannten statistischen Untersuchungen, die im Zusammenhang mit der Inferioritätsdebatte erstellt wurden, ist gemeinsam, daß sie sich im wesentlichen auf die Zeit nach dem Kulturkampf beschränken und diese Befunde auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückprojizieren, 45 und daß sie die Zugehörigkeit zum Liberalismus oder zur altkatholischen Religionsgemeinschaft nicht berücksichtigen. Man müßte also für eine Uberprüfung der Hypothese einer katholischen Mentalität, die angeblich weniger erwerbs- und aufstiegsorientiert war, Fallstudien auf Mikroebene betreiben, die nicht nur Konfessionsmischung, materielle Verhältnisse und Infrastruktur berücksichtigen, sondern auch die politisch — ideologischen Einstellungen. Das Bildungsverhalten protestantischer ländlicher Unterschichten wird sich von dem katholischer, bei gleicher Entfernung von höheren Schulen, kaum unterschieden haben. 46 Eine genauere Analyse des Katholikenanteils am höheren Schulwesen in Baden würde vermutlich eindeutig zeigen, daß das Bildungsdefizit der katholischen Bevölkerung ebenso zyklischen Schwankungen unterworfen war wie 36

die wirtschaftliche Entwicklung. Keinesfalls kann dieses Bildungsdefizit auf eine >katholische Mentalität zurückgeführt werden. Insbesondere für große Teile Südbadens wäre ein solcher Befund besonders erstaunlich, weil hier die katholische Aufklärung — bis weit über den Kulturkampf hinaus — einen bedeutenden Teil der Bevölkerung geprägt hatte. Liberale Katholiken waren also vermutlich genauso aufstiegs- und erwerbsorientiert wie liberale Protestanten. Viele der Demokraten und radikalen Liberalen waren Katholiken,47 und wanderten nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 aufgrund der politischen Verfolgung aus. Vermutlich ist auch die relative Abnahme der katholischen Bevölkerung eher ein Produkt höherer Auswanderungsquoten von Katholiken als höherer Zuwanderungsquoten von Protestanten, wie sie Offenbacher als Folge einer erhöhten Aktivitätsbereitschaft aus protestantischer Gesinnung suggeriert. Wenn, wie zu vermuten, aus armen katholischen Dörfern die jüngere Generation, die eine Zukunfbperspektive vermißte, nach Ubersee auswanderte und so nicht die industrielle Reservearmee in den badischen Städten vermehren konnte, so würde dies gerade nicht von einer traditionalistischen und »bequemen« Lebeneinstellung zeugen. Durch die unhistorische Anlage seiner Untersuchung nimmt Offenbacher solche Verluste gerade der katholischen Bevölkerung an politisch besonders aktiven und erwerbsorientierten jungen Männern und Frauen nicht zur Kenntnis. Mit der gescheiterten Revolution von 1848/49 und der die politische R e aktion begleitenden Ultramontanisierung des kirchlichen Lebens gerieten Katholiken schließlich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in die Defensive. Nur Lokalstudien einzelner Dissidentengemeinden könnten Aufschluß darüber geben, welchen Bildungsgang die Katholiken einschlugen, die kirchlich, politisch und ökonomisch für den »Fortschritt« optierten. Für die kulturelle und wirtschaftliche Situation der badischen Katholiken im 19. Jahrhundert muß also die Anwendbarkeit der Thesen Max Webers über den Zusammenhang zwischen »protestantischer Ethik« und dem »Geist des Kapitalismus« bezweifelt werden. Traditionale Mentalitäten, die noch nicht von der Marktwirtschaft geprägt waren, gab es in beiden Konfessionen. Der antimarxistische Impetus der Weberschen Soziologie isoliert den Einfluß der Konfession auf unzulässige Weise und verstellt so den Blick auf die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ursachen des Bildungsdefizits der ländlichen Bevölkerung. Ohne Zweifel hat dagegen die Konfessionalisierung des Bewußtseins während der Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts zu einer Benachteiligung von Katholiken geführt, insbesondere was ihre Repräsentanz unter den kulturellen und politischen Eliten betrifft.

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3. Parität Die Konstitutions- und Organisationsedikte des neuen Großherzogtums folgten weitgehend, soweit sie kirchliche Angelegenheiten betrafen, den Grundsätzen österreichisch-josefinischen Staatskirchenrechts bzw. gingen in einzelnen Punkten — im Sinne staatlicher Kontrolle - noch darüber hinaus. Im »Konstitutions-Edikt vom 14. Mai 1807, die kirchliche Staatsverfassung des Großherzogtums Baden betreffend,« 48 definierte sich Baden als christlicher, paritätischer Staat. Evangelische und katholische Kirche waren rechtlich gleichgestellt. Die beiden christlichen Konfessionen 49 wurden unter besonderen staatlichen Schutz gestellt, beiden sollte der gleiche Zugang zu Regierungsämtern gewährt werden, wobei direktive und administrative Amtspositionen Christen vorbehalten blieben, während exekutive Funktionen auch anderen Konfessionen, also Juden, freistehen sollten. Gleichzeitig wurde den Juden damit das Staatsbürgerrecht verliehen; das Ortsbürgerrecht und damit aktives und passives Wahlrecht blieben bis 1848 an die Zugehörigkeit zu einer der beiden christlichen Konfessionen gebunden, danach an die Zugehörigkeit zu einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft, zu denen nicht nur Juden, sondern auch Deutschkatholiken, später die Altkatholiken und die freien religiösen Gemeinden sowie einige Sekten gehörten. Abgeschlossen wurde die Judenemanzipation in Baden 1862 mit der Einführung der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit und schließlich mit der gesetzlichen Übertragung des Gemeindebürgerrechtes auf alle Juden. 5 0 Während den »Untertanen mosaischen Glaubens« 51 nur Duldung ihrer Religionsausübung zugesichert wurde, stellte der Landesherr die der Katholiken und Protestanten unter seinen ausdrücklichen Schutz. Er nahm für sich die »Iura maiestatica circa sacra« für beide Konfessionen in Anspruch und legitimierte so die Eingliederung der kirchlichen in die staatliche Verwaltung bzw. die völlige Kontrolle über alle kirchlichen Amtshandlungen. Nach der Aufhebung überkommener Rechte der Patronate des badischen Adels im Konstitutionsedikt von 1807 wurde mit dem Organisationsedikt von 1809 versucht, auch die Verwaltung des Kirchen- und Schulwesens zu bürokratisieren und damit den feudalen Kräften — Adel und Kirche — zu entziehen. 52 In Baden stellte der Adel keine preußischen Verhältnissen auch nur annähernd vergleichbare Macht dar.53 Die Hauptkonflikte spielten sich hier zwischen Staat und Kirche ab, wobei der konservative Adel die Kirchen in ihren Ansprüchen unterstützte. Zwar hatte der Urheber der Konstitutions-Edikte 1807 einen ausführlichen Konkordatsentwurf vorgelegt, doch angesichts der Situation des Papsttums blieben solche Entwürfe — mit Ausnahme von Bayern — in den Schubladen der süddeutschen Regierungen hegen. 54 Die Vorstellung, nach dem Vorbild Napoleons die historisch-moralische Autorität des Katholizismus nutzen zu können und trotzdem das Staatskirchentum durch ein Konkordat zu legalisieren, wurde für ein halbes Jahrhundert ad acta gelegt. Das erstrebte 38

Ziel, Bistümer analog den Landesgrenzen zu erhalten, hoffte man zu R e c h t auch ohne Konkordat erreichen zu können. Mit der Zirkumskriptionsbulle für die oberrheinische Kirchenprovinz »Provida sollersque« vom 16. August 1821 schuf Pius VII. schließlich — ohne Rechtsgarantien für die Kirche — die erstrebten Landesbistümer. Das Bistum Freiburg wurde für Baden, R o t t e n burg für Württemberg, Mainz für Hessen-Darmstadt, Fulda für Kurhessen, Limburg für Nassau neu konstituiert. Diese fünf Bistümer wurden in einem Metropolitanverband zusammengefaßt. Nach zähen Kämpfen wurde auf Vorschlag des Kardinalstaatssekretärs Consalvi Freiburg zum Erzbistum bestimmt. Zusammen mit den Suffraganbistümern gehörte die Erzdiözese damit zur Oberrheinischen Kirchenprovinz. 55 D e m Erzbistum Freiburg wurden noch die beiden Fürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen und Hechingen zugewiesen. Diese bildeten eine Enklave im Bistum Rottenburg, kamen 1850 an Preußen und spielten so auch kirchenpolitisch eine Sonderrolle innerhalb des Erzbistums. In den Frankfurter Verhandlungen einigten sich die beteiligten Regierungen gleichzeitig auf Grundsätze des Staatskirchenrechts, die mit den Grundsätzen der badischen Konstitutionsedikte vollkommen übereinstimmten, diese aber weiter konkretisierten. 56 Hier wurden vor allem die Bestimmungen über die Bischofs- und Erzbischofsernennungen festgelegt.57 Diese führten schon anläßlich der ersten Erzbischofswahl zu einer fün^ährigen Sedisvakanz; nach dem Tode des Erzbischofs Hermann v. Vicari 58 sollte der erzbischöfliche Stuhl sogar 14 Jahre unbesetzt bleiben. 59 Mit dem Konstitutionsedikt von 1807 wurde die katholische Kirchenkommission aufgehoben. Ihre Funktion übten nun die neugeschaffenen Provinzialregierungen aus, bis letztere mit dem Organisationsedikt vom 26. November 1809 in Kreisregierungen mit untergeordneten Bezirksämtern umgewandelt wurden. Im Rahmen der Neuordnung der Geschäftsbereiche der Ministerien wurde das Katholische Kirchendepartement errichtet und dem Ministerium des Innern unterstellt. Seit 1812 hieß diese Behörde im Rahmen einer weiteren Umorganisation Katholische Kirchensektion,60 wobei der 1809 festgelegte Aufgabenbereich über alle den Staat berührenden katholischen Angelegenheiten erhalten blieb. Dieser bestand in der »... Oberaufsicht auf die Amtsführung der katholischen Geistlichen und der Bezirks- und Kreisbehörden in allen den Staat berührenden katholischen kirchlichen Sachen«. 61 Nur in rein innerkirchlichen Angelegenheiten verzichtete der Staat auf die Ausübung seiner Hoheitsrechte. Weltliche 62 und gemischte 63 Gegenstände, insbesondere in Eheangelegenheiten, waren dem Einflußbereich der katholischen Kirche entzogen. Geprägt vom Geist des aufgeklärten Absolutismus nahm der Staat für sich das R e c h t in Anspruch, auch in rein kirchlichen Angelegenheiten »von allen Gewaltshandlungen der Kirchen in ihrem Innern« Kenntnis zu nehmen sowie »zu allen öffentlichen Verkündigungen, welche die Kirchengewalt beschließt ..., das Staatsgutheißen zu erteilen«. 64

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Dieser Vorbehalt des staatlichen Plazets fiel erst mit dem Kirchengesetz vom 9. Oktober 1860. Kirchliche Verordnungen und Erlasse waren ab 1860 nur noch gleichzeitig mit ihrer Verkündigung der Regierung anzuzeigen. Positiv gewendet wurde der katholischen Kirche bei »Leitung ihrer Glieder zu einem bloß innerlichen oder sittlichen Zweck« bzw. zu kirchlichen Zwekken die Anwendung von »Unterricht, Warnung, Zuspruch, Ausschließung von einzelnen kirchlfichen] Vortheilen, und Ausschließung von der Kirchengemeinschaft«65 zugestanden. Diese Maßnahmen bedurften keiner besonderen staatlichen Genehmigung. Damit war der katholischen Kirche das Recht zur religiösen und sittlichen Erziehung ihrer Mitglieder, insbesondere der Jugend, erteilt worden. Dies Schloß explizit das Recht ein, über Katholiken Kirchenbußen zu verhängen, die bürgerliche Verhältnisse (Eigentum und Freiheit) nicht berührten, vor allem die Exkommunikation. Wie wir sehen werden, wurde dieses Recht im Kirchengesetz von 1860 teilweise wieder eingeschränkt.66 Ebenso durfte die Kirche die Kirchen- und Schuldiener beaufsichtigen, soweit deren Verhalten rein kirchliche Belange betraf. Hier stand der Kirche de jure nur zu, durch die Erteilung der Priesterweihe eine Vorauswahl deqenigen zu treffen, die als würdig erkannt wurden, ein kirchliches Amt zu bekleiden, de facto hatte sie aber - bis auf die Phasen der akuten Konflikte zwischen Staat und Kirche — den weitaus überwiegenden Einfluß auf die Besetzung der Pfründen, indem der Großherzog in der Regel den Vorschlägen des Ordinariats folgte. Auch Laien konnte die Kirche die Würdigkeit und Fähigkeit zu- oder absprechen, ein kirchliches Amt bzw. ein Schulamt in den katholischen Schulen zu bekleiden. Das bedeutete aber nicht, daß sie diese Amter selber verleihen konnte. Nur Hilfspriester und Schuldienergehilfen konnte die Kirche zur Amtsführung ermächtigen, wobei auch hier dem Staat ein absolutes Vetorecht zustand.

4. Geistliche als Staatsbeamte Bis zur Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht und der Einführung der fakultativen Zivilehe mit Errichtung bürgerlicher Standesämter67 waren die badischen Geistlichen »bei Verkündung und Einsegnung der Ehe, bei der Annahme der Personen zur Taufe oder Beschneidung, oder zur Ablegung eines Religionsbekenntnisses bei dem Ubertritte von einer Kirche zur anderen, endlich im Begraben der Todten nicht blos Kirchendiener, sondern auch Staatsbeamte«.68 Bereits vor der Ultramontanisierung, d. h. bevor die katholische Kirche offensiv die freie Jurisdiktionsgewalt und die »freie« Ausübung ihres religiösen und sitdichen Erziehungsauftrages einforderte, kam es im Alltagsleben zu einer Reihe von Kollisionen zwischen staatlicher und kirchlicher Bürokratie. 40

Mehrfach hatte sich bereits Wessenberg 69 als Generalvikar und Bistumsverweser des Bistums Konstanz vor 1827 über Anmaßungen von staatlichen Beamten gegenüber kirchlichen Amtsträgern verwahrt. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten der neuen badischen Verfassung forderte er 1819 — als Vertreter der katholischen Kirche in der Ersten Kammer - eine entsprechende Vorschrift, da selbst Bürgermeister sich - wenn auch mißbräuchlich - als Vorgesetzte der Pfarrer aufspielten und Beamte diese vor Amt zitierten. 70 Wessenbergs Antrag blieb jedoch ohne Folgen. Konflikte schwelten weiter vor sich hin; der für das Konstanzer »Archiv der Pastoralkonferenzen« des Jahrgangs 1827 bestimmte Aufsatz: »Von der Abneigung vieler Beamten gegen die Geistlichen«, passierte die Vorzensur nicht. Das Oberzensur-Kollegium in Karlsruhe sah sich veranlaßt, diesen Aufsatz eines katholischen Geistlichen dem Innenministerium mit dem Antrag zugehen zu lassen, die Konflikte zwischen Staats- und Kirchendienern nicht öffentlich auszutragen, sondern intern zu bereinigen. Wessenberg erklärte sich damit einverstanden, auch seinerseits die Geisdichen anzuweisen, sich gegenüber den Beamten anständig zu benehmen, wenn das Ministerium im selben Sinne tätig werde. So hatten Kirchenbehörde und Regierung zwar ihre Untergebenen immer wieder gleichermaßen ermahnt, es an gegenseitiger Achtung und Höflichkeit nicht fehlen zu lassen; primär ging es jedoch um die Frage, ob die Bezirksämter als untere staatliche Behörden bzw. die Kreisdirektorien als unechte Mittelbehörden die vorgesetzten Dienststellen für Pfarrer in ihrer Eigenschaft als Staatsdiener waren. Konkret sollte sich die Diskussion, die das Ministerium unbedingt vermeiden wollte, bereits im folgenden Jahr an der Frage entzünden, ob die Bezirksämter befugt waren, das persönliche Erscheinen eines Geistlichen auf dem Bezirksamt anzuordnen. 71 Die Lösung des Konfliktes ist typisch für das Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert. Nach der badischen Behördenorganisation war es gar keine Frage, daß die Pfarrämter den Bezirksämtern schon von ihrer Funktion her untergeordnet waren. Eine ausdrückliche Formulierung der Uber- und Unterordnungsverhältnisse zwischen geistlichen und weltlichen Beamten wurde aber peinlichst vermieden. Für den Fall einer amtlichen Untersuchung gegen einen Kirchendiener einigte man sich darauf, eine solche nur gemeinschaftlich mit der Kirchenbehörde vorzunehmen. Wiederholt drang etwa die Katholische Kirchensektion darauf, daß die staatlichen Amter mit den Pfarrämtern gleichberechtigt verkehrten, obwohl die Bezirksämter und Kreisregierungen die vorgesetzten Behörden der Geistlichen in ihrer Eigenschaft als Standes- und Schulaufsichtsbeamte waren. Geistliche sollten nicht »aufgefordert« werden, vor Amt zu erscheinen, sondern es sollte höflich darum »nachgesucht« werden. Außerdem sollten die Beamten »zur Erhaltung des für diesen Stand so unentbehrlichen Ansehens« beitragen, indem sie ζ. B. im Geschäftsverkehr mit den Pfarrämtern »weißes Papier und ein schickliches Format« verwendeten, diese höflich behandelten und ihnen alles in allem das Gefühl gaben, gleichberechtigt zu sein. 72 Doch die mitderen Behörden ließen nicht locker. Sie wollten das vorgesetzte Ministerium zwingen, offen auszu41

sprechen, daß die Pfarrer formell den mittleren B e a m t e n eben doch nicht gleichrangig zuzuordnen wären. Als das Direktorium des Neckarkreises die oben zitierte Verfügung wegen des »unbezweifelten Subordinationsverhältnisses« der Pfarrer unter die Ämter als »anomalig« bezeichnete und darum nachsuchte, diese weiterhin zum Erscheinen auffordern zu dürfen, 7 3 beschied das Ministerium auch diesen Vorstoß abschlägig. Es verstehe sich von selbst, daß ein Pfarrer in seiner Eigenschaft als weltlicher B e a m t e r verpflichtet sei, dem Ersuchen einer staatlichen B e h ö r d e nachzukommen: »Wenn ein Pfarrer in der Eigenschaft eines Beamten des bürgerlichen Standes oder als Vorsteher des Gemeindekirchenrates 74 vom Amte um etwas ersucht wird, so versteht es sich doch von selbst, daß er dem Ansehen entsprechen muß. Ohnehin möchte unter Personen, die auf Bildung Anspruch machen können, eine höfliche Schreibart immer eher zum Ziele fuhren, als eine minder höfliche«. 75 Bis zum Badischen Kirchenstreit von 1 8 5 2 / 5 3 gaben sich beide Seiten damit zufrieden, daß kirchliche B e h ö r d e n in der F o r m — wenn auch keinesfalls in der Sache — gleichrangig behandelt wurden. Unmittelbar nach Errichtung der Oberrheinischen Kirchenprovinz, n o c h bevor die Landesherrliche Verordnung v o m 3 0 . 1 . 1 8 3 0 von R o m verworfen worden war, gab Generalvikar H e r m a n n v. Vicari der Interessenidentität von Staat und Kirche beredten Ausdruck und zeigte sich mit dem Erreichten durchaus zufrieden. Ganz i m Sinne des Staatskirchentums sprach er sich für ein harmonisches Zusammenwirken von Staats- und Kirchenbehörden aus, u m »nach ihren wechselseitigen B e stimmungen die Wohlfahrt der Untertanen zu befördern«. In diesem Zusammenhang definierte Vicari den Aufgabenbereich des katholischen Geistlichen. Hauptaufgabe des Geistlichen sei es, durch W o r t und Beispiel seiner G e meinde »das beseligende R e i c h Gottes« zu verkündigen, u m sie vor dem » R e i c h der Finsternis« zu bewahren. E i n gutes Beispiel zeige sich im alltäglichen U m g a n g ebenso wie im Geschäftsverkehr in äußerlich anständigem B e nehmen. W e n n die B e a m t e n der v o m Landesfürsten eingesetzten B e h ö r d e n für die Einhaltung der Gesetze und eine »gute bürgerliche Ordnung« sorgten und den Geistlichen achteten, so würde dieser den B e a m t e n »zur Erleichterung seines Berufes die Hand bieten«. »Der Geistliche wird diese Pflicht umso treuer erfüllen, j e mehr er seine Stellung erkennt, und dabei beherziget, daß das Reich, das er zu verkünden hat, nicht von dieser Welt ist, und ihm keine andere Gewalt zu Gebot steht, als die Gewalt der Tugend, die er lehrt und übt«. 76 Paradoxerweise begannen für die katholische Kirche in Baden die Probleme erst, als derselbe H e r m a n n v. Vicari als Erzbischof begann, gegen das Staatskirchentum anzukämpfen. Bis zum badischen Kirchenstreit von 1 8 5 3 brauchte die katholische Kirche eigene Zwangsmittel gegen Laien nicht. D i e Zusammenarbeit von staatlichen B e h ö r d e n und Geistlichen funktionierte in aller R e g e l hervorragend. Es bestand eine Arbeitsteilung, die durchaus i m Interesse der Kirche war. D i e Kirche verkörperte das moralische Prinzip; die

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Zwangsmittel, um Sittlichkeit, R u h e und Ordnung im Sinne des christlichen Staates auszuüben, lagen bei der staatlichen Polizeigewalt und der weltlichen Justiz. Gleichzeitig begann die Kirche ihrerseits dort, wo Liberale und Demokraten sich erfolgreich gegen eine Bevormundung der privaten Existenz des Individuums durch die absolutistische Wohlfahrtspolizei zu wehren begannen und sich eine pluralistische Gesellschaft entwickelte, in der dem Anspruch des Staates als Vollstreckungsmacht einer sittlichen Ordnung gegenüber dem bürgerlichen Individuum immer engere rechtsstaatliche Grenzen gezogen wurden, den Polizeistaat zu vermissen. 77

5. Geistliche als Gymnasialprofessoren Geistliche Professoren stellten an katholischen Gymnasien und Lyzeen bis in die 1830er Jahre das Gros der Mittelschullehrer und bis 1848 immer noch einen bedeutenden Anteil. Erst in den 1840er Jahren begann sich das Fachlehrerprinzip durchzusetzen, so daß in den 1860er Jahren der geistliche Lehrer fast nur noch das Fach Religion unterrichtete. Unter den Gymnasialprofessoren des Vormärz war der Typus des Gelehrten, der durchaus auch einen R u f an eine Universität erhalten konnte, keine Seltenheit. Erst in dieser Zeit schotteten sich die Universitäten als höhere Lehranstalten vom mitderen Schulwesen ab und entwickelten ihr eigenes Laufbahnwesen. Bis dahin existierte eine nicht unbedeutende Mobilität unter diesen Lehranstalten. Diese Professoren waren Säkularisierungseinflüssen — allein schon qua Bildung — in ganz besonderem Maße ausgesetzt, insbesondere, wenn sie, was allerdings selten vorkam, auch naturwissenschaftliche Fächer unterrichteten. Dies äußerte sich - wie später noch zu zeigen sein wird - in einer besonders hohen Q u o t e abweichenden Verhaltens geistlicher Professoren, das öfter als bei den Seelsorgern zur Abwanderung aus der katholischen Kirche führte. Das lag vor allem an der Möglichkeit, daß Geistliche, die an den gelehrten Schulen tätig waren, dort auch nach einer Entziehung der Seelsorgeerlaubnis durch das Ordinariat weiter ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Aufgrund des noch enzyklopädistischen und universalen Charakters von Ausbildung und Lehre war weder der Fakultätswechsel eines Dozenten an den Universitäten etwas Außergewöhnliches noch der Fachwechsel eines Lehrers an den gelehrten Mittelschulen. Dadurch waren die geistlichen Lehrer vom Wohlwollen der Kirchenbehörde unabhängig, solange sie vom Ministerium gestützt wurden. Selbst wenn sie ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus kirchlichem Pfründvermögen bezogen, konnten sie damit rechnen, vom Ministerium anderwärtig eingesetzt und versorgt zu werden. Geistliche beider Konfessionen prägten so weit über die Säkularisation hinaus die Universitätspropädeutik. Das, was wir heute als höheres Schulwesen bezeichnen, waren in Baden die Mittelschulen, erst ab 1909 war offiziell von 43

»höheren Lehranstalten« die Rede. 7 8 Hierunter zählten zunächst Lateinschulen, Gymnasien und Lyzeen. Durch landesherrliche Verordnungen wurde 1807 das Mittelschulwesen der staatlichen Aufsicht der General-StudienKommission, ab 1809 der Evangelischen und Katholischen Kirchensektion, ab 1836 dem Oberstudienrat und seit 1862 dem Oberschulrat unterstellt. Erst diese letzte Behörde war von den Instanzen der kirchlichen Verwaltung völlig getrennt. Diese Ministerialbehörden entschieden über die Besetzung der Lehrerstellen. Bis 1830 rekrutierten sich die Mittelschullehrer fast ausschließlich aus Geistlichen beider Konfessionen. In Mannheim und Heidelberg waren bereits 1807 konfessionell gemischte Lyzeen eingerichtet worden, aber diese ersten Anfänge der Entkonfessionalisierung und Säkularisierung des badischen Mittelschulwesens blieben in den Anfängen stecken. Im gleichen Jahr war an der Universität Heidelberg ein philologisches Seminar eingerichtet worden, doch bis zur Einrichtung der überkonfessionellen Schulbehörde im Jahre 1836 wurden Geistliche bei der Anstellung zum Mittelschullehrer den Philologen vorgezogen. Immer wieder wurden Petitionen an die Zweite Kammer gerichtet, die auf eine stärkere Berücksichtigung von Nichttheologen drängten. Noch 1824 verfügte die katholische Kirchensektion, daß keiner der nur philologisch ausgebildeten Lehramtskandidaten vom Staat angestellt werden könne, ebenso verfuhr die evangelische Kirchensektion. Hier wurde noch 1828 die Verfugung erneuert, daß nur Theologen als Lehrer an Mittelschulen angestellt werden sollten.79 Bis in die 1830er Jahre blieben alle Schulreformideen Absichtserklärungen, wofür von der liberalen Opposition vor allem die konfessionell getrennte Verwaltung des Schulwesens verantwortlich gemacht wurde. Immer wieder setzten sich Abgeordnete in der Zweiten Kammer für die Gleichberechtigung der Theologen und Philologen im Schuldienst ein. Das mittlere Schulwesen blieb in Baden 30 Jahre lang noch ebenso vielfältig wie die südwestdeutsche Landkarte vor dem Reichsdeputationshauptschluß. Weder die Schuldauer noch die Voraussetzungen für den Übergang zur Universität waren einheitlich geregelt. Eine solche Regelung — die Einführung des Abiturientenexamens — erfolgte am 31.12.1836 mit Verordnung des Staatsministeriums.80 Damit ging gleichzeitig die Ära des geistlichen Gymnasialprofessors ihrem Ende entgegen. An seine Stelle trat der weltliche, staatlich geprüfte Fachlehrer. Erstmalig wurde mit der Verordnung von 1836 ein Ausbildungsgang mit Berechtigungsnachweis für Lehrer an den Mittelschulen institutionalisiert. Lehrer an Gelehrtenschulen sollten nur noch aus den Reihen der staatlich geprüften Lehramtskandidaten rekrutiert werden. Zur Aufnahme unter die Lehramtskandidaten selber wurde eine Staatsprüfung eingeführt, die zweimal im Jahr stattfand. Die Prüfimg erstreckte sich auf Philologie (Sprachen, Literatur, klassische Altertumskunde), Geschichte, Mathematik, Naturgeschichte, Physik, Philosophie und Pädagogik. Je nach Studienschwerpunkten wurden die Anforderungen in den Fächern, deren Anzahl und Kombination noch nicht genau geregelt war, erhöht oder ermäßigt. Auch die Prüfung für ein einzelnes Fach war zulässig, wo44

bei die Nachteile einer solchen Wahl für eine öffentliche Anstellung dem einzelnen überlassen bleiben sollten. Nach zwei Jahren »praktischer Übung im Lehrfache« - der Lehramtskandidat mußte mindestens ein Jahr sechs Wochenstunden in einer Gelehrtenschule hauptsächlich Sprachen, aber auch Realien unterrichtet haben — konnte er sich zum staatlichen Abschlußexamen melden. Praktikantenstellen gab es mit und ohne Gehalt, wobei fur die Besetzung der ersteren solche Kandidaten berücksichtigt werden sollten, die bereits ein Jahr unentgeltlich ihre Lehrfähigkeit bewährt hatten. Das Fachlehrerprinzip war zwar noch nicht konsequent eingeführt, aber die »Vereinigung mehrerer, nicht verwandter Lehrfächer in der Hand eines Lehrers [sollte] so viel wie möglich vermieden werden«.81 Eingeführt wurden für alle Gelehrtenschulen das Klassenlehrerprinzip und Lehrerkonferenzen, ein genau reglementierter Lehrplan folgte wenig später im Februar 1837. Nach der Verordnung von 1836 blieb es fur Geistliche noch durchaus möglich, Mittelschullehrer bzw. Gymnasialprofessor zu werden, ja vermutlich war es für ihn sogar leichter als für andere unbemittelte Akademiker. Häufig konnte ein junger Geistlicher als Vikar oder Benefiziat seine Dienstpflichten als Hilfspriester oder Kaplan mit denen eines Lehramtspraktikanten verbinden. Da die Finanzierung auch des mittleren Schulwesens noch fast ausschließlich aus den Schulstiftungen erfolgte, kam es den Städten häufig gelegen, wenn die Lehrer der gelehrten Schulen aus Pfründvermögen finanziert wurden.82 Generell vertrat auch der Oberstudienrat die Ansicht, daß es weiterhin der Regelfall sein sollte, daß sich die Lehrer der Gelehrtenschulen aus Theologen rekrutieren sollten. Doch angesichts der sukzessiven Spezialisierung an den Universitäten und den damit für jedes Fach verbundenen höheren Anforderungen fanden sich immer weniger Theologen, die ein Doppelstudium mit den entsprechenden Prüfungen auf sich nahmen. Eine stets geringer werdende Anzahl von geistlichen Lehrern hatte ein philologisches Examen absolviert und nur ganz ausnahmsweise ein naturwissenschaftliches, so daß seit den 1850er Jahren gleichsam naturwüchsig der geistliche Lehrer zum Lehrer allein für das Fach Religion wurde. Das hatte zur Folge, daß der Status des geistlichen Lehrers an den Gelehrtenschulen sank. Religion war zum Nebenfach geworden. Als das Erzbischöfliche Ordinariat aufgrund einer 1860 veranstalteten Umfrage diese Entwicklung realisierte, war es zu spät. Die Aufforderung des Erzbischofs vom 9.2.1860 an jüngere Geistliche und die Alumnen des Priesterseminars, sich auch den Prüfungen in Philologie zu unterziehen,83 um als Hauptfach- und Religionslehrer wieder mehr Einfluß und Ansehen zu gewinnen, verhallte weitgehend ohne Erfolg. Den Vorschlag des Oberstudienrates, die philologische Prüfung für Theologen zu erleichtern, lehnte Vicari allerdings in Verkennung der gewandelten Realität ab. Als 1867 eine Neuregelung der Prüfungsordnung für die wissenschaftlichen Lehrer an den Mittelschulen erfolgte, war der Ubergang zum Fachlehrersystem institutionalisiert, ohne daß eine philologisch-theologische Kandidatenprüfung vorgesehen war.84 Der 45

geistliche Lehrer war innerhalb von nur drei Jahrzehnten vom Inhaber des Monopols an der höheren Bildung zum Religionsfachlehrer geworden. Damit hatte die Religion, entsprechend der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, auch im höheren Schulwesen die randständige Rolle eingenommen, die ihr die bürgerliche Gesellschaft insgesamt noch zubilligte. In Baden war die Säkularisierung des höheren Schulwesens wegen des geringeren Einflusses des Neuhumanismus auf die Reformen der Lehrerausbildung und Lehrpläne langsamer verlaufen als in Preußen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war so der Geisdiche beider Konfessionen noch Träger bürgerlicher Bildung und Kultur. Infolge der Säkularisierung, die sich am deutlichsten in der Ausdifferenzierung der Universitätsausbildung zeigte, und der damit einhergehenden Veränderung des Sozialprofils des badischen Klerus, verlor der Geistliche diese Rolle. Das neue, ultramontane Priesterideal war einerseits eine Reaktion auf diese Entwicklung, andererseits verstärkte es diese noch. Die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht war eine der Konsequenzen, die daraus folgte.

6. Pfründsystem und Pfründvergabe Die Einkünfte des katholischen Pfarrers basierten das ganze 19. Jahrhundert im wesentlichen auf dem Pfründsystem. Das Amt des Geistlichen war mit dem Genuß des Einkommens aus dem Pfründvermögen gekoppelt, das im wesentlichen aus Grundlasten und -eigentum bestand. Von der Säkularisation wurden Pfarrkirchen- und Pfarrpfründvermögen kaum tangiert, ebensowenig wie das Stiftungsvermögen für Kultus, Unterricht und Wohltätigkeit.85 Die einschneidendste Veränderung im Einkommen des katholischen Weltklerus seit dem Mittelalter erfolgte mit der Aufhebung der Feudallasten und vor allem mit der Zehntablösung. Durch die von den Ständekammern beschlossenen Gesetze, die am 28.10.1831 und 15.11.1833 in Kraft traten, wurde dieser Prozeß eingeleitet, der sich im wesentlichen über die nächsten 25 Jahre erstrecken sollte. Die Beibehaltung des Pfründsystems war von zentraler Bedeutung für die materielle und rechtliche Situation des Klerus, vor allem aber für seine Stellung in der Gemeinde. In Baden blieb dieses System, das auf dem Kirchenpatronatsrecht gründete, für die katholische Kirche bis 1923 im wesentlichen erhalten. Das Pfründeinkommen bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum größten Teil noch aus Naturalkompetenzen und -abgaben, die auf dem Grund und Boden lasteten, der das Gebiet der Pfarrei umfaßte. Die Haupteinnahmequelle des Klerus waren Pacht- und Zehntabgaben; die Pfarrbesoldung ruhte im allgemeinen auf dem Kleinen Zehnten, während Baulast für Kirche und Pfarrhaus auf dem Großen oder Kornzehnten ruhten. 1808 entsprach das Pfründeinkommen der Pfarrei Appenweier (Dekanat 46

Offenburg) einem Wert von 937 Gulden. Der Anteil an Geld betrug davon 115 Gulden (50 Gulden Anniversargebühren, 60 Gulden Stolgebühren und 5 Gulden Bodenzinsgülte86). Die Naturaleinkünfie setzten sich zusammen aus: Grundstückserträgen (5 Viertel Acker,87 1 Thauer Matten und 3/4 Jauch Garten im Wert von 28 Gulden); Naturalkompetenzen (30 Ohm Wein (75), 8 Viertel Weizen (48), 30 Viertel Roggen (20), 3 Gersten (9), 600 Bund Stroh (30), 10 Klafter Holz (40));88 dem Kleinzehnten (Heu (50), Hanf (33),Rebs (60), Magsamen (50), Welschkorn (30), Haber (= Hafer), Wicken (20), Bohnen (6), Erdäpfel (40), Klee (3)). Von diesem Einkommen mußte der Pfarrer einen Vikar unterhalten, für die Besoldung eines Kaplans erhielt er von der Gemeinde außerdem einen Zuschuß von 180 Gulden. Im Haushalt waren zwei weibliche Dienstboten tätig. 1863 betrug das Einkommen der Pfarrei 2400 Gulden, 1910 4173 Mark, davon Kapitalzinsen 2147 Mark, Güterträgnisse 167 Mark, Naturalkompetenzen 1859 Mark, aus dem Kirchenfond 13,17 Mark (9,43 M. für die Bittprozessionen, 4,28 M. für die Fronleichnamsprozession). Von der Gemeinde erhielt er bei besetzter Vikarsstelle 309 Mark mit der Verpflichtung zur Abhaltung der Frühmesse und der Verbindlichkeit zur »Persolvierung von 1 Sakrum« (Abhaltung einer Messe), die auf dem Pfarrgarten ruhte. Das Einkommen der Pfarrei Biberach, die im selben Dekanat lag, betrug 1808 dagegen nur 560 Gulden (350 Gulden in Geld und 210 Gulden in Naturalabgaben). Hier erfolgte beispielsweise auch die Zehntabgabe in Form von Geld (103 Gulden).89 Während sich das Einkommen der Pfarrei Appenweier zwischen 1808 und 1863 nominell mehr als verdoppelt hatte (von 937 auf 2400 Gulden), war das der Pfarrei Biberach im selben Zeitraum nur von dem geringen Ertrag von 560 Gulden auf 900 Gulden angestiegen und betrug im Jahre 1910 2123 Mark. Das relativ hohe Einkommen der Pfarrei Gengenbach (ebenfalls im Landkapitel Offenburg), die 1808 3050 Gulden abwarf — allerdings inklusive des Unterhalts für drei Vikare —, war nominell bis 1863 kaum gestiegen, nämlich auf 3500 Gulden, und damit real beträchtlich gesunken, belief sich aber im Jahre 1910 immerhin auf 8101 Mark. Davon betrug der Anteil der Naturaleinkünfte noch 1910 mehr als zwei Drittel der Gesamteinkünfte. Im Jahre 1808 beschäftigte der Pfarrer drei männliche und vier weibliche Dienstboten, d. h. der Anteil der Selbstbewirtschaftung war relativ groß. An Naturalkompetenzen erhielt der Gengenbacher Pfarrer 1808 30 Viertel Weizen (96), 20 Viertel Roggen (90), 30 Viertel Haber (75), 20 Viertel Gerste (80), 600 Bund Stroh (60), 5 Fuder Wein (300) und 60 Klafter Holz (200). Schon aus diesen wenigen Beispielen ist deutlich geworden, welche Vielfalt im Pfarreinkommen herrschte und wieviel Zeit es gekostet haben mochte, das Pfründvermögen zu verwalten. Allerdings wurde auch immer wieder geklagt, daß mancher Pfarrer aus Zeitmangel, Bequemlichkeit oder um des Heben Friedens willen auf einen Teil seiner Einkünfte verzichtete. Der Pfarrer verwaltete das Pfründvermögen selbständig, nur bei Veräußerun47

gen von Grundstücken mußte er bei der Katholischen Kirchensektion bzw. beim Katholischen Oberkirchenrat die Genehmigung einholen. Der Zehnte wurde entweder verpachtet oder nach Einsammlung versteigert und zum Teil selbst verbraucht, insbesondere für Besoldungen von Dienstboten. Dazu kamen Grund- und Pachtzinsen von Gütern, die zum Pfründbesitz gehörten. Auch diese konnten aus Naturalien oder Geld bestehen.90 Die Naturalkompetenzen hatten den Vorteil, wertbeständig zu sein, während Geldabgaben stets gleich blieben und in ihrem Wert stetig abnahmen.91 Andererseits hatte die erste Form des Pfründeinkommens den Nachteil, daß die Bewirtschaftung einer Pfarrpfründe äußerst zeitaufwendig sein konnte. Die Stolgebühren, die der Pfarrer für einzelne Verrichtungen gesondert berechnen konnte (Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Gottesdienste in Kapellen), stellten einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Teil seines Einkommens dar. Bei gering dotierten Pfründen stellten diese, neben Gebühren für Jahrtagsmessen, manchmal die einzigen Geldeinnahmen dar. Außerdem erhielten die Pfarrer gelegentlich Gebühren für außergewöhnliche obrigkeitsstaatliche Verrichtungen wie Eidesbelehrungen von Zeugen auf dem Bezirksamt oder Abnahme von Schulprüfungen. Auf dem Pfründeinkommen ruhten auch Abgaben, außerdem wurde der Pfarrer mit der Zeit steuerpflichtig wie alle anderen Bürger auch, d. h. auch hier verlor er erst sukzessive seine Privilegien.92 1822 war ein Gesetz beschlossen worden, in dem evangelische und katholische Pfarrer hinsichtlich der Veranlagung zu den direkten Steuern gleichgestellt wurden;93 1828 kam es zur Aufhebung von Freibeträgen für Geistliche beider Konfessionen ebenso wie fur Schullehrer. Während sie also von nun an mit ihrem gesamten Einkommen der Klassensteuer unterworfen waren, blieben sie von der Gebäude-, Grund- und Gefällsteuer zunächst befreit.94 1863 betrug das durchschnittliche Pfründeinkommen der Pfarrer ca. 1300 Gulden Die Einkommen schwankten zwischen 500 und 5000 Gulden, wobei solche enormen Unterschiede selbst innerhalb eines Landkapitels vorkamen. Es gab aber auch Regionen mit durchschnittlich relativ hohen und niedrigen Einkünften. Das Durchschnittseinkommen des Kapitels Veringen 1863 betrug beispielsweise 1879 Gulden (zwischen 700 und 4700 Gulden), das des Kapitels Engen 1122 Gulden (zwischen 700 und 1900 Gulden), das des Kapitels Mühlhausen nur 1055 Gulden. Am höchsten dotiert waren die Pfründen in Hohenzollern. So kann es nicht verwundern, daß immer wieder Klagen darüber laut wurden, daß manche Pfarrer sich permanent um jeweils besser dotierte Pfründen bewarben. Die Fluktuation unter dem Klerus war bis zur Abschaffung des Pfründsystems hoch. Nur ausnahmsweise blieb ein Pfarrer sein Leben lang auf einer Pfründe, nur selten blieb er länger als zehn Jahre an einem Ort. Häufig bewarben sich Pfarrer, aber auch Lehrer, bald nach Antritt einer neuen Stelle wieder auf eine andere. Die Katholische Kirchensektion stellte schließlich 1837 den Grundsatz auf, 48

daß in der Regel kein Benefiziat, Pfarrer oder Schullehrer fur eine Pfründe vorgeschlagen werden sollte, der nicht »wenigstens drei Jahre auf seiner Stelle ausgeharrt« habe.95 ZwölfJahre später sah sich das Ordinariat veranlaßt, beim Ministerium den Antrag zu stellen, diesen Zeitraum auf fünfjahre zu erhöhen, weil zu viele Geistliche unaufhörlich ihre Stellen wechselten, während andere dadurch keine Chancen hätten, überhaupt eine definitive Anstellung zu erhalten. Der Wettbewerb um bessere Pfründen habe sich geradezu zur Sucht entwickelt: »Ja so groß und heftig ist der Drang nach Veränderung, daß sie im Kompetieren blind zufahren, und erst dann die Stelle, die sie aufs Neue erhalten, mit der zu vergleichen anfangen, die sie vorher inne hatten; - daher die Erscheinung, daß manche, nachdem ihnen das Erbetene zu Teil geworden ..., die neue Bitte stellen, an ihrem früheren Orte verbleiben zu dürfen«.96 Wenig später erfolgte im Regierungsblatt die Bekanntmachung, daß Bewerbungen auf Pfründen nur berücksichtigt werden könnten, wenn der Benefiziat mindestens funfjahre auf der Stelle war, die er zum Zeitpunkt der Bewerbung innehatte. Durch das Pfründsystem und die damit verknüpfte Bewirtschaftung oder Verpachtung von Grund und Boden sowie das komplizierte System von Feudalabgaben und -leistungen waren evangelische und katholische Pfarrer im 19. Jahrhundert noch sehr stark in die wirtschaftlichen Beziehungen der Gemeinde eingebunden. Das führte, wie noch zu zeigen sein wird, im Zuge der Zehntablösung und der Infragestellung ständischer Privilegien und Bindungen, insbesondere seit Mitte der 1840er Jahre häufig zu Konflikten. Bewirtschaftete der Pfarrer noch einen Teil der Pfarrgüter selber, wie dies im ersten Drittel des Jahrhunderts keine Ausnahme darstellte, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Für die Gemeinden hatte dies den Vorteil, daß der Geisdiche seinen Parochianen mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn sich Landpfarrer, die sich der praktischen Aufklärung und liberalen Reformen verpflichtet fühlten, ökonomisch entsprechend weiterbildeten. In Eingaben an die Standesherren und Petitionen an die Zweite Kammer versuchten diese Geistlichen darüber hinaus, die Situation ihrer Gemeinden materiell zu verbessern. In der Armenfürsorge in den Hunger- und Krisenjahren des Vormärz waren dagegen fast alle Geistlichen aktiv. Etliche dieser Landpfarrer hatten sich, auch wenn sie nur noch nebenher landwirtschaftlich tätig waren, auf einem Gebiet spezialisiert. Insbesondere Bienen- und Rosenzucht, Wein-, Gemüse- und Obstanbau konnten in dem immer selbst genutzten Pfarrgarten betrieben werden. Manch einer dieser Spezialisten war weit über seine Gemeinde hinaus für solche »Arkanwissenschaften« bekannt und verfaßte entsprechende Ratgeber für die Landbevölkerung. 97 In landwirtschaftlichen Vereinen — sowohl in den Reformvereinen des Vormärz als auch in den Bauernvereinen des Kaiserreichs - waren Landpfarrer nicht nur Ehrenmitglieder, sondern sie trugen häufig kompetent zu ihrem Wirken bei.98 49

a) Zehntablösung Der Pfarrzehnte wurde zunehmend als nachteilig für die Seelsorge in den Gemeinden empfunden, da er relativ häufig zu Prozessen zwischen Pfarrer und Gemeinde führte: »Kleine Garben und schlechter Zehentwein waren oft die Ursache vieler und gehässiger Prozesse. Wenn nun gar noch die Geisdichkeit, die ihre Besoldung oft in Zehentabgaben bezog, sich hiezu veranlasst sah, so musste dies natürlich um so mehr zu recht betrübenden Erscheinungen Anlass geben und dem sonst wohltätigen Einfluss, den ihr Tun und Wirken begleiten soll, Einbusse tun. Nichts konnte also für die Wirkung der Lehren, welche die Geistlichen predigten, nichts für die Beförderung der Sitte, Moral und des Charakters nachteiliger sein, als eben der Besitz von Zehenten in den Händen der Geistlichkeit, der steten Zank und Zwietracht zwischen dieser und der Gemeinde veranlasste und jene nur zu oft dem Verdachte des Eigennutzes und der Habgier aussetzte«.99 Für die Pfründnießer stellte schließlich die Zehntablösung trotzdem ein Problem dar. Der Aufwand für Einsammlung, Aufbewahrung und Verwaltung des Zehnten war zwar teilweise erheblich gewesen, auch hatte es genügend Klagen von Seiten der Zehntpflichtigen über die Höhe und der Zehntherren über die Qualität der Abgaben gegeben, auf der anderen Seite führte die Zehntablösung selber zu einer Fülle von Streitigkeiten, die sich häufig über viele Jahre hinzogen. Die Aufbringung der Ablösungsgelder machte den Bauern, trotz der staatlichen Übernahme von 20 % des Ablösungskapitals, das den zwanzigfachen Betrag der mittleren jährlichen Zehnteinnahmen ausmachte, große Schwierigkeiten. Streitigkeiten entstanden nicht nur bei der Ermittlung des Durchschnittsertrages des Zehnten, sondern auch über den Marktwert der Naturalprodukte. Die Verschuldung — meist bei jüdischen Geldverleihern führte zu zahlreichen Konkursen und entsprechend zu einem immer wieder aufflackernden Antisemitismus. Häufig gaben die Folgen der Zehntablösung auch den letzten Anstoß zur Auswanderung nach Ubersee. In der Revolution von 1848/49 entlud sich die Verbitterung der Bauern dort in Gewaltaktionen, wo in den Standesherrschaften noch feudale Bannrechte bestanden. Die letzten feudalen Lasten wurden schließlich 1849 mit der Allodifikation der Schupflehen aufgehoben. 100 Noch vor Inkrafttreten des ersten Zehntablösungsgesetzes erließ Erzbischof Boll, auf Rat des Geistlichen Rates Franz Joseph Herr, 101 eine Weisung an alle Dekanate. Danach sollten die Geistlichen sich während der bevorstehenden Zehntablösung umsichtig und mit Würde verhalten, vor allem sollten sie in der Öffentlichkeit nicht über dieses Thema sprechen und »jeden Anschein vermeiden, daß sie auf das Volk einwirken« wollten. 102 Im ganzen, so der Geistliche Rat Herr, sei nichts von der Zehntablösung zu halten. Der Bauer werde wenig gewinnen, weil er viel Bargeld aufbringen müsse, und das Ganze werde nur auf einen Spekulationsgewinn für die Juden herauslaufen. Für die Kirche werde die Zehntablösung nur Nachteile haben, 50

da der Klerus nun materiell entweder von der Gemeinde oder vom Staat abhängig werden würde. Beides sei gleichermaßen ungünstig. Wenn der Pfarrer die Kapitalrendite von der Gemeinde beziehe, werde dies aus folgenden Gründen üble Folgen haben: »1. Weil die Gemeindekasse immer leer ist. 2. Weil sie [die Pfarrer] von der Brutalität der Ortsvorstände abhängig gemacht werden, und sich eine Menge Demütigungen gefallen lassen müssen, um zu ihrer Sache zu kommen; 3. Weil sie ihre hirtenamtliche Aufsicht über Vogt und Gericht hintansetzen müßten und es nicht mehr wagen können, ihnen ein mißbeliebiges Wort zu sagen, wenn sie nicht in ihrem Lebensunterhalt verkümmert werden wollen«.103 Eine solche Rendite bleibe unsicher, auch wenn der Staat dafür bürge: in Kriegszeiten verschlingt der Krieg alle Barschaft, und der Pfarrer darbt oder bettelt. der Staat treibt zuerst seine Abgaben bei, und dann ist gewöhnlich nichts mehr im Gemeindebeutel. Nun kömmt der Exequent für den Pfarrer: itzt gangen die Verwünschungen des Pfaffen an; er wird mit jeder Betreibung verhaßter, und doch soll er wirken, die Menschen fürs Gute zu gewinnen«.104 Deswegen solle man sich Zeit lassen, alles reiflich überlegen, und darin der Ersten Kammer folgen, »die einen raschen Gewaltzugriff der Liberalität aufhält«. Es gebe viele Fälle, in denen mit einzelnen Gemeinden Verhandlungen notwendig seien, weil diese wegen ihrer Armut, besonderer Lokalverhältnisse und Absatzproblemen das Ablösungskapital nicht aufbringen könnten. Insbesondere im Schwarzwald bei unteilbaren Bauerngütern wäre die Vereinbarung über jährliche Aversalsummen für beide Seiten von Vorteil. Wenn der Bauer nicht zahle, könne der Pfarrer die Vereinbarung aufkündigen, was dieser seinerseits nicht gern tun werde, weil die Einsammlung des Zehnten bei zerstreuten und weit voneinander entfernten Höfen sehr kostspielig sei. Je nach lokalen Verhältnissen kam es dann auch bei der Ablösung des Pfarrzehnten zu unterschiedlichen Regelungen, die sich auf das Pfründeinkommen auswirken konnten. 105 Die katholische Kirche konnte durch die Zehntablösung immer wieder Grundbesitz erwerben. Immerhin besaßen 1848 evangelische und katholische Kirche zusammen 1,6% der land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen in Baden, die im wesentlichen zum Pfründvermögen gehörten. 106 Von den 5751 Zehntberechtigungen waren bis 1847 4300, bis 1857 5684 abgelöst worden, davon waren 1808 Pfründen beider Konfessionen betroffen. Bis 1847 waren 1060 der Pfarrerkompetenzen mit einem Zehntablösungskapital von 5.496.579 Gulden erledigt. Das Gesamtablösungskapital für Pfarrdienste betrug 8.973.076 Gulden, d. h. durchschnittlich 4.962 Gulden pro Pfründe. Der potentielle Zinsertrag hätte also ca. 250 Gulden im Jahr betragen, was etwa 20 % des durchnittlichen Pfründeinkommens ausmachte. Bei niedrig dotierten Pfründen konnte eine ungünstige Anlage der Zehntablösungskapitalien dazu fuhren, daß das Einkommen des Pfarrers unter das 51

als standesgemäß empfundene Existenzminimum fiel. Das Ablösungskapital, das aus Abgaben für allgemeine Kirchen- und Schulausgaben erwuchs, mußte von den Gemeinden in besonderen Lokalfonds angelegt werden. Die Ablösungssummen für die Pfarrer- und Lehrerbesoldung konnten entweder kapitalisiert werden, wobei den ehemaligen Zehntherren eine 5 %ige Kapitalrendite gezahlt werden mußte, oder es konnten dafür Liegenschaften und Gefalle gekauft werden, die den Pfnindnießern zur Nutzung überlassen wurden. Wenn aus verschiedenen Gründen beides der Gemeinde nicht möglich war, ging das Ablösungskapital an die Staatskasse, die ebenfalls eine Rendite von 5 % an die Berechtigten zahlte. Die Zehntablösung stellte in Baden nicht nur die größte Kapitalumschichtung des 19. Jahrhunderts überhaupt dar, sondern führte gerade für die Kirchen zu einer tiefgreifenden Änderung des bisherigen Finanzierungssystems. Verschiedenste Fonds mußten neu errichtet werden; die Verwaltung der kirchlichen Vermögen wurde noch komplizierter, als sie es ohnehin schon war, vor allem aber begannen sich die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Pfarrer und Gemeindeangehörigen aufzulösen. Ebenso umstritten und lokal unterschiedlich geregelt wie Zehntabgaben und -ablösung waren die Rechte der Geistlichen beider Konfessionen an der Nutzung der Allmenden, die in der badischen Landwirtschaft einen ebenso bedeutenden Stellenwert besaßen wie in den kommunalpolitischen Auseinandersetzungen.107 In der Regel waren Geistliche — ebenso wie Schullehrer — nicht Orts-, sondern Ehrenbürger, obwohl sie das Ortsbürgerrecht wie jeder andere erwerben konnten. Durch landesherrliche Verordnungen von 1810 und 1813 sowie schließlich durch die Gemeindeordnung von 1831 wurde die Regelung des Allmendgenusses der Autonomie der Gemeinden überlassen. Noch 1919 kam es in einer Gemeinde zu einem heftigen Konflikt, weil die sozialdemokratischen Mitglieder des Bürgerausschusses dem Dorfpfarrer das Recht auf den Allmendgenuß absprachen. Das Bezirksamt entschied zugunsten des Pfarrers, aber der Frieden in der Kirchengemeinde wurde nicht mehr wiederhergestellt.108 Bestand das Einkommen der Pfründen hauptsächlich aus Pfarrgütern oder Wäldern, gestaltete sich die ökonomische Situation der Geistlichen — von den Schwankungen der Ernteerträge abgesehen - materiell eher günstiger, als wenn er von Kapitalzinsen abhängig war. Die zu Anfang des Jahrhunderts noch übliche Selbstbewirtschaftung von Pfründgütern wurde zunehmend durch Verpachtung ersetzt. Eigenhändige Feldarbeit vertrug sich mit dem Bild des modernen Seelsorgegeistlichen nicht mehr.109 Aber auch die Verpachtung der Pfarrgüter war zeitaufwendig und meist unbefriedigend. Der Pfarrer konnte diese nur auf eine unbestimmt befristete Zeit verpachten, nämlich solange er Nutznießer der Pfründe war. Die allmähliche Kapitalisierung des Pfarrvermögens, insbesondere in den Städten, hatte auf zwei ganz verschiedenen Ebenen gravierende Folgen. 52

1. Der materielle Status des katholischen (und evangelischen) Pfarrers verschlechterte sich zusehends, sowohl im Vergleich zum Bildungs- oder Wirtschaftsbürgertum als auch zu Landwirten oder Handwerkern mit mittlerem oder größerem Besitz, die in Baden aber in der Minderheit waren. 2. Auf dem Lande zog sich der Pfarrer allmählich aus der Landwirtschaft zurück. Mit der Trennung von Staat und Kirche wurden seine beruflichen Funktionen immer spezialisierter. Aus dem ökonomisch kompetenten Landpfarrer wurde ausschließlich der Seekorger und Kultträger. Trotz der Tendenzen zur Vereinheitlichung und Entnaturalisierung der Pfarrerbesoldung war der Anteil an Naturaleinkommen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch relativ hoch und ist selbst heute noch nicht ganz verschwunden. b) Staatsdotationen zur Aufbesserung des Pfründeinkommens Vom kirchenrechtlichen Standpunkt aus betrachtet stand der Kirche die alleinige Verwaltung des gesamten Kirchenvermögens zu,110 die landesherrliche Verordnung von 1830 hatte jedoch eine rein staatliche Verwaltung der kirchlichen Vermögen zur Folge. Bereits seit 1820 war die Unterscheidung zwischen kirchlichem und weltlichem Stiftungsvermögen eingeführt worden. Damit wurde dann seit 1830 die sukzessive Abschaffung der kirchlichen Mitaufsicht über Schul- und Armenfonds legitimiert.111 Mit der Einrichtung einer »Allgemeinen katholischen Kirchenkasse« im Jahre 1834, in der die Interkalarfonds aufgingen,112 übte die Katholische Kirchensektion bzw. das Ministerium des Innern die alleinige Verfügungsgewalt über Einnahmen und Ausgaben der katholischen Kirche aus. Oberaufsicht führte die dem Staatsministerium unterstellte Großherzogliche Oberrechnungskammer. 113 Während die Konvention von 1859 vom Grundsatz der kirchlichen Vermögensverwaltung ausging, unterstellte das Kirchengesetz vom Oktober 1860 — nach Aufhebung der Konvention — das den kirchlichen Bedürfnissen gewidmete Vermögen der gemeinsamen Verwaltung von Staat und Kirche. Diese Bestimmung hatte aber rein programmatischen Charakter; konkrete Regelungen blieben späteren Vollzugsverordnungen überlassen.114 Erst 1877 erhielt die katholische Stiftungsverwaltung das Aufsichtsrecht über eine neu eingerichtete Interkalarkasse, die nunmehr nach Freiburg verlegt wurde. 115 Wir werden auf die Konflikte um die beträchtlichen Stiftungsvermögen zwischen Staat und Kirche noch ausführlich zu sprechen kommen. 116 Obwohl zu keinem Zeitpunkt von staatlicher Seite bestritten wurde, daß dem jeweiligen Pfründinhaber das ausschließliche Nutzungsrecht des Pfründeinkommens zustand, kam es immer wieder zu Versuchen, über die Vereinheitlichung der Pfarrerbesoldung den Klerus zumindest materiell vom Staat abhängig zu machen. Eine grundlegende Reform scheiterte entsprechend an den Konflikten zwischen Staat und Kirche. Wegen der relativen Abnahme der Pfründeinkünfte bestand aber immer wieder so akuter Handlungsbedarf, daß sich die Freiburger Kirchenbehörde 53

genötigt sah, Staatsdotationen für katholische Geistliche zuzustimmen, obwohl dies deren Abhängigkeit vom Staat noch erhöhte. Besonders verwickelt waren die Auseinandersetzungen zwischen Gemeinden, Standesherren und Amtskirche um die Baulasten für Kirche und Pfarrhaus, die z.T. bis heute, sogar in Form von Diensten, fortdauern. 117 Die heutigen Staatsleistungen an die Kirchen beruhen ebenfalls z.T. auf der Kapitalisierung und Vereinheitlichung feudaler Naturalkompetenzen, zum anderen Teil auf den im 19. Jahrhundert gewährten Staatsdotationen. c) Die Besoldung der Pfarrverweser und Vikare Die Besoldung der Pfarrverweser erfolgte aus den Interkalargefällen, während die Vikare aus dem Pfründeinkommen unterhalten und besoldet werden mußten. Das Gehalt der Pfarrverweser war einheitlich geregelt und wurde kontinuierlich den steigenden Lebenshaltungskosten angepaßt. Es betrug im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts einen Gulden 30 Kreuzer pro Tag, also ca. 550 Gulden jährlich; das Gehalt wurde 1858 auf 800 Gulden und schließlich 1909 auf 1700 Mark erhöht. Erst im Kulturkampf wurde 1876 auch die Erhöhung der Bezüge von Pfarrverwesern mit dem Gesetz über die Staatsdotation zur Aufbesserung des Einkommens von Geistlichen einer staatlichen Genehmigungspflicht unterworfen. Wegen des von der Kirchenbehörde angeordneten Boykotts des Kulturexamens fur Geistliche durften Pfründen nicht mehr durch Geistliche besetzt werden, die unter die Verordnung des staatlichen Examens fielen. In der folgenden Ära der »ewigen Pfarrverweser«, die bis 1880 andauern sollte, befürchtete man nun, daß die Kirchenbehörde die Gehälter der Pfarrverweser einfach den Pfründeinkommen anpassen würde, um so die materiellen Folgen des Boykotts für den Klerus zu unterlaufen. Der Unterhalt der Vikare oder Hilfspriester durch die Pfarrer führte vor allem bis 1848/49 zu einer Fülle von Auseinandersetzungen in den Pfarrhäusern. 118 Die jungen Vikare waren oft unzufrieden mit Unterkunft und Verpflegung, was mitunter sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führte. Streit gab es auch dann, wenn die Pfarrer Gebühren für Verrichtungen kassierten, die sie ihren Vikaren übertragen hatten. 1848 sah sich die Kirchenbehörde deswegen veranlaßt, eine Verordnung betreffend die Verhältnisse der Vikare zu den Pfarrern zu erlassen. In dieser Verordnung hieß es: »Mehrere Vikare haben sich wegen Regelung ihrer Verhältnisse zu ihren Pfarrherren anher gewendet, und das Ansuchen gestellt, Anordnung zu treffen, 1) daß kein Vikar angestellt werde, heilige Messen zu appliciren, für deren Applikation der Pfarrer das Stipendium beziehe; 2) daß kein Vikar angehalten werde, an Sonn- und Feiertagen fur die Pfarrgemeinde zu appliciren, wozu der Pfarrer verpflichtet sei; 3) daß den Vikaren ein billiger Teil der Stolgebühren, zugewiesen werde«.119 54

Gleichzeitig wurden aber auch die Vikare darauf hingewiesen, daß sie in den schweren Zeiten der Revolution nicht zu hohe Ansprüche stellen sollten und daß die Rechtslage bei den Ansprüchen des Vikars, insbesondere auf einen Anteil an den Stolgebühren, überall verschieden sei: »Der Stol gebührt, wo nicht anders angeordnet, oder in alter Übung ist, dem Pfarrer (jura parochi); nicht aber dem Vikar. Die Vikare haben ihre sichere Vikariatseinnahme; während zumal in gegenwärtiger Zeit der Pfarrer seine Einnahmen oft nicht sicher, nicht zur Verfallzeit, und oft gar nicht erhält. Auch haben die Pfarrer durch Zehntablösungen viel verloren; oder durch neue Lasten, ζ. B. Einquartierungen, viele Auslagen. Die Vikare sollen sich daher mit ihren Vikarseinnahmen begnügen, und keinen Stoltheil in Anspruch nehmen, wo nicht dieses schon durch Übung oder Vorschrift bestimmt ist«.120 Wahrend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Unterkunft, Verpflegung und Besoldung eines Vikars ca. 300 Gulden veranschlagt wurden, war diese Summe am Ende des Jahrhunderts auf 1100 Mark angestiegen. 121 d) Vom Pfründsystem zum Besoldungssystem Die erste Aufbesserung der Einkommen katholischer Pfarreien erfolgte auf Antrag des Innenministeriums mit landesherrlicher Genehmigung ab 1. August 1847 »Rücksichten auf die Standesverhältnisse der Curat-Geistlichkeit und die deshalb nötige Fürsorge für ein angemessenes Auskommen« 122 machten es nach Ansicht des Ministeriums nötig, die Einkommen der Pfarrer, deren Pfründen weniger als 600 Gulden abwarfen, bis mindestens zu dieser Höhe aufzubessern. Der Katholische Oberkirchenrat erstellte eine Übersicht der aufzubessernden Pründeinkommen. Dabei wurden freie Wohnung und Stolgebühren nicht berücksichtigt. Insgesamt gab es in Baden 1847 67 Pfarreien mit einem Einkommen unter 600 Gulden. Pfarreien mit Einkünften unter 600 fl. Unter 400 400-450 450-500 500-550 550-600

fl. fl. fl. fl. fl.

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Es wurde vom Staatsministerium bewilligt, die erforderliche Aufbesserungssumme von 5595 Gulden 15 kr. dem Interims-Revenue-Hauptfonds zu entnehmen. Schon vorher vom Katholischen Oberkirchenrat bewilligte Personalzulagen wurden nachträglich genehmigt. Gleichzeitig verfügte das Staatsministerium, daß zukünftig solche Zulagen keinesfalls mehr ohne besondere höchste Ermächtigung bewilligt werden durften. 123 Hier zeigte sich erstmals der Versuch, nicht nur generell den katholischen 55

Klerus über die Pfründvergabe materiell vom Staat abhängig zu halten, sondern auch den einzelnen spüren zu lassen, ob er politisch mißliebig war oder nicht. Bewilligung von Personalzulagen, Zuschüsse für Krankheitskosten und Kuraufenthalte hingen völlig von der Willkür des Staatsministeriums ab. Angesichts der wachsenden politischen Unruhe seit Beginn der 1840er Jahre auch im katholischen Klerus versuchte die Regierung jede Gelegenheit zu nutzen, um die Multiplikatoren der liberalen Bewegung zu disziplinieren. Erst seit 1851 beantragten wieder verschiedene Geistliche über den katholischen Oberkirchenrat Personalzulagen und wurden darin vom Innenministerium unterstützt. Selbst mit 600 Gulden jährlich könne man — zumindest in Amtsstädten — nicht standesgemäß leben. Auch habe sich gezeigt, so die Begründung des Innenministeriums, daß sich um Pfründen mit einem Ertrag unter 600 Gulden kaum Geistliche bewerben würden, die geeignet seien, in Amtsorten angemessen zu wirken. Mit Zustimmung des Erzbischöflichen Ordinariats stimmte das Innenministerium dem Antrag des Katholischen Oberkirchenrates zu, das Einkommen von fünf Pfründen auf jährlich 800 Gulden aufzubessern, da »auch in der Persönlichkeit der derzeitigen Inhaber der Pfarreien kein Grund hegt, ihnen die beantragte Besserstellung vorzuenthalten ...«.124 Dem Antrag wurde stattgegeben. Seit Inkrafttreten des Kirchengesetzes vom Oktober 1860 stellten evangelische und katholische Kirche verschiedentlich Anträge auf Einführung einer allgemeinen Kirchensteuer, um von Staatsdotationen unabhängig zu werden. Ein örtliches Kirchensteuergesetz trat schließlich 1888, ein Landeskirchensteuergesetz erst 1892 in Kraft, wobei die evangelische Kirche in Baden allgemeine Kirchensteuern seit 1895, die katholische Kirche seit 1900 erhob.125 Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes in der ersten Hälfte der 1870er Jahre war die Frage Kirchensteuer oder Staatsdotation heftig umstritten. Die Kirchen und die protestantischen Liberalen traten im Sinne des Selbstverwaltungsprinzips grundsätzlich für eine entsprechende Selbstbesteuerung ein, während die katholischen Liberalen und Altkatholiken darin zu Recht eine Existenzgefährdung der altkatholischen Gemeinden erblickten. In diesem Konflikt liegt tatsächlich ein Teil der »Tragödie des deutschen Liberalismus« verborgen, die bisher in der Liberalismusforschung kaum beachtet wurde. In Frankreich und Italien waren die Bürger zur gleichen Zeit entweder klerikal-konservativ oder antiklerikal-liberal eingestellt. In Deutschland saßen die liberalen Katholiken zwischen allen Stühlen. Während die liberalen Protestanten auf den Konstitutionalismus innerhalb des Staatskirchentums setzen konnten, indem sie durch Synoden und den Landtag die Willkür des Landesherren und summus episcopus auf der gleichen Ebene bekämpften, waren die katholischen Liberalen während des Kulturkampfes in ein unauflösbares Dilemma verstrickt. Die innerkatholische konstitutionelle Bewegung war mit dem Unfehlbarkeitsdogma unwiderruflich gescheitert, und die daraufhin entstandenen altkatholischen Gemeinden waren auf staatliche 56

Unterstützung angewiesen. Die Eigenfinanzierung hätte ihre fragile Existenz schnell zunichte gemacht. Das hatte zur Folge, daß die Liberalen nicht nur in der Frage der Kirchensteuer konfessionell unterschiedliche Interessen vertraten. Im Großherzogtum Baden waren katholische Liberale gezwungen, um innerkatholischer liberaler Prinzipien wegen politisch-liberale Prinzipien aufzugeben. In der Frage der Kirchensteuer erleichterte dies der badischen Regierung die Durchsetzung eines Kompromisses in ihrem Interesse — nämlich eines zeitlich befristeten Dotationsgesetzes dem nach sechs Jahren ein Landeskirchensteuergesetz folgen sollte. Die evangelische Kirche sollte durch die Aussicht auf Erhöhung der Bezüge ihrer Amtsträger überdies auf die Tolerierung der liberalen Schulpolitik der Regierung eingestimmt werden. Von der Katholischen Kirche dagegen war ohnehin kein Einlenken, weder in der Frage der Simultanschule noch in sonst einem Punkt, zu erwarten. Der erfolgreich durchgeführte Boykott der Staatsprüfung für Geistliche seit 1867 hatte überdeutlich gezeigt, daß die Freiburger Kurie nicht mit leeren Drohungen arbeitete, sondern auch auf Kosten ihres Klerus die Machtfrage stellte. Der Gehorsam des Klerus gegen den Erzbischof, mit dem dieser zwangsläufig staatliche Verordnungen und Gesetze mißachtete, waren Regierung, staatlichen Behörden und Liberalen gleichermaßen unerträglich. Selbst die Kulturkampfregierung unter Jolly126 wollte auf jeden Fall die Geistlichen beider Konfessionen formal paritätisch behandeln, obwohl die Regierung mit den Liberalen darin einig war, »daß der Staat nicht an rebellische Pfarrer Geld zahlen dürfe«.127 Staatszuschüsse an Geistliche sollten — nach Ansicht der Regierung - nur solchen Geistlichen gewährt werden, die einen Gehorsamkeitsrevers gegenüber dem Staat unterschrieben. Dieses U n terfangen, das die katholischen Geistlichen aufgrund der Kulturkampfsituation von vornherein von dem Genuß der staatlichen Zuschüsse ausgeschlossen hätte, da eine solche Unterschrift sie ihr Amt als katholischer Pfarrer gekostet hätte, stieß auf breiteren Widerstand. Beibehalten wurde dagegen der Ausschluß solcher Geisdichen von der Aufbesserung ihrer Besoldung, die gegen die Bestimmungen über Amtsmißbräuche von Geisdichen des badischen Kirchengesetzes vom Oktober 1860 oder gegen die Bestimmungen der §§ 95, 97, 110, 11, 130, 130a, 131 und 132 des Reichsstrafgesetzes und des Reichsgesetzes von 1875 über die Beurkundung des Personenstandes und der Eheschließung verstoßen hatten. Gleiches wurde allerdings auch der Kirchenbehörde bei Vorhegen eines dienstpolizeilichen Erkenntnisses gegen einen Pfarrer zugestanden.128 Schließlich zog sich Jolly mit einem Schachzug aus der Affäre, dessen — wenn auch widerwillige Tolerierung — die positivistische Rechtsauffassung der gemäßigten und gouvernementalen Kräfte zeigte. Ein neuer Gesetzesentwurf, der 1876 schließlich die mehrheitliche Billigung beider Kammern fand, sah die Versicherung des unbedingten Gesetzesgehorsams durch die Kirchenoberhäupter vor.129 Damit war die Parität gegenüber den beiden Kirchen faktisch preisgegeben, denn fur den Großherzog als evan57

gelischem Landesbischof entfiel diese Bestimmung, während Bistumsverweser Lothar Kübel einen Suprematseid schon 1874 verweigert hatte. 130 Ebenso stellte es eine Verletzung der Parität dar, daß der katholischen Kirche zunächst eine gleich hohe Summe als Staatsdotation bewilligt wurde wie der evangelischen, obwohl 2 / 3 der Bevölkerung Katholiken waren und es entsprechend mehr Pfarreien gab.131 Die katholischen Geistlichen kamen erst nach Ende des Kulturkampfes in den Genuß von Staatsdotationen, indem die Regierung 1882 auf den Gehorsamkeitsrevers verzichtete. Bis auf Bayern waren in allen deutschen Staaten katholische Pfarrer geringer besoldet als evangelische, und auch sonst herrschten überall vergleichbare Verhältnisse, d. h. in der katholischen Kirche bestand das Pfründsystem weiter, während es in den evangelischen Kirchen weitgehend einem Besoldungssystem gewichen war. Außerdem gewährten alle deutschen Staaten in irgendeiner Form Zuschüsse zu den Gehältern von Geistlichen beider Konfessionen. 132 Die folgenden Angaben beziehen sich auf den Zeitraum um 1908, wobei die erste Zahl die Besoldung nach sechs, die zweite die nach ca. 25 Dienstjahren bzw. die jeweils höchste Besoldungsstufe bezeichnet. Dabei ist zu berücksichtigen, daß evangelische Geistliche in der Regel das Einkommen ihrer PfKinden, das über die hier genannten Beträge hinausging, an die Kirchenkasse abfuhren mußten, während es sich für die katholischen Geistlichen um Mindestbeträge handelte, um das ihr Einkommen aufgebessert wurde, wenn es unter diesen Beträgen blieb. Höhere Pfründerträge waren aber die Ausnahme. Der katholischen Kirche ging es bei dieser Regelung vor allem um das Prinzip, keine historisch legitimierbaren Gebräuche und Rechte aufzugeben. Jahresgehälter Geistlicher im deutschen Kaiserreich um 1900 Preußen Sachsen Hessen Baden Württemberg Elsaß-Lothringen Bayern

Evangelische Geistliche 3200/6000 3400/6000 2600/5700 2400/5400 2600/4900 2500/4400 2400/3400

Katholische Geistliche 2200/4000 keine Angabe keine Angabe 2100/3600 2000/3800 2100/2500 2400/3600

Damit waren die Gehälter der Geistlichen beider Konfessionen — trotz der Aufbesserungen durch den Staat — im Verhältnis zu den Beamten immer noch niedrig. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die unentgeltliche Nutzung des Pfarrhauses hier nicht mit einberechnet wurde. In Baden waren die Einkommen der Geistlichen zwar relativ im gleichen Verhältnis gestiegen wie die der hohen und mittleren Beamten, nämlich zwischen 1830 und 1900 ungefähr um das Doppelte, aber auf einer absolut viel niedrigeren Stufe. Die Gehälter der unteren Beamten dagegen waren im selben Zeitraum um das vier- bis siebenfache gestiegen. 58

Jahreshöchstgehälter badischer Beamter 1831 Minister Oberhofrichter Amtmann Wachtmeister Gendarm

9000 £1.

1855

133

1888

1902

18000 M .

18000 M.

6000

fl.

6000

fl.

2400 400

fl. fl.

2800 575

fl. fl.

5500 M . 1500 M .

10000 M. 5500 M. 1800 M .

200

fl.

300

fl.

1260 M.

1400 M .

Jahresdurchschnittsgehälter katholischer Geistlicher der Erzdiözese Freiburg Vikar Pfarrverweser Pfarrer

200 550 1100 £1.

fl.

fl. 800 1300 £1.

fl.

1000 M. 1700 M.

1100 M . 2700 M .

e) Die Besoldung der evangelischen Pfarrer Grundsätzlich unterschied sich das Besoldungssystem der evangelischen Kirche zunächst nicht von dem der katholischen. Insgesamt hatten die evangelischen Pfarrer ein etwas höheres Einkommen und erhielten auch relativ höhere staatliche Zuschüsse, was im allgemeinen damit gerechtfertigt wurde, daß sie in der Regel eine zahlreiche Familie zu ernähren hatten. 134 Früher als in der katholischen Kirche wurde hier versucht, ein einheitliches Besoldungssystem nach Dienstalterstufen durchzusetzen und damit das Pfründeinkommen zu regulieren. Bereits die Generalsynode von 1834 hatte ein Regulierungs- und Klassifikationssystem der Pfarrbesoldungen beraten. Die Argumente waren auch hier dieselben. Der häufige Stellenwechsel der Pfarrer sollte vermieden und außerdem sollten die Geistlichen von dem großen Aufwand der Verwaltung der Pfründvermögen zugunsten einer intensiveren Seelsorgetätigkeit entlastet werden. Alle Verordnungsentwürfe scheiterten an Einwänden, die einerseits in einer zentralen Verwaltung und Umverteilung der Pfründeinkommen einen zu hohen Kostenaufwand erblikkten und andererseits aus konservativen Erwägungen am Althergebrachten festhalten wollten. 135 Erst eine Durchfuhrungsbestimmung zum Kirchengesetz vom Oktober 1860 brachte den ersten Schritt zu einem modernen Besoldungssystem, indem eine Minimalbesoldung in fünf Einkommensklassen nach Dienstalter eingeführt wurde. Während das Mindesteinkommen auf 800 Gulden festgesetzt wurde, betrug das Einkommen in der II. Klasse bei einem Dienstalter von mindestens 10 Jahren zwischen 801 und 1050 Gulden, das in der III. 1051-1300 Gulden (mindestens 18 Dienstjahre), in der IV. 1301 — 1800 Gulden und in der V. Klasse bei einem Dienstalter von mindestens 30 Jahren über 1800 Gulden. Jedes Pfründeinkommen, das über diese Beträge hinausging, wurde in eine Zentralpfarrkasse abgeführt, die wiederum die zu gering dotierten Pfründen aufbesserte. Bis in die 1870er Jahre handelte 59

es sich um eine reine Umverteilung der Pfründeinkommen. Nachdem diese bei weitem für die Pfarrbesoldung nicht mehr ausreichten, gingen in die Zentralpfarrkasse auch die seit 1876 bewilligten Staatsdotationen zur Aufbesserung der Pfründeinkommen ein sowie die seit dem Landeskirchensteuergesetz von 1892 erhobenen Kirchensteuern. Die Kirchensteuern waren allerdings so gering bemessen, daß sie die Staatsdotationen keineswegs ersetzen konnten. Letztere wurden erst im Dritten Reich abgeschafft; 1931 wurden sie zum letzten Mal bewilligt und liefen 1934 in der 1876 geschaffenen gesetzlichen Form aus. Seit 1861 wurde so in der evangelischen Kirche Badens stufenweise ein einheitliches Besoldungssystem realisiert, das bereits seit 1834 gefordert worden war.136

7. Pfründbesetzungsrechte In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand der katholischen Kirche nur das uneingeschränkte Recht zu, die Priester zu weihen und ihnen nach der Amtsverleihung durch den Landesherrn die kirchliche Investitur zu verleihen oder abzusprechen. Das Pfründbesetzungsrecht hatte der Landesherr zunächst für sich beansprucht und ausgeübt. Sehr zum Leidwesen der Kirchenbehörde übten aber de facto die unteren staatlichen Behörden bis hin zum Bürgermeister einen erheblichen Einfluß auf die Besetzungen der Pfründen aus, da die Kreisregierungen, die die Bewerbungslisten an die Ministerialbehörde einzureichen hatten, in der Regel nicht in der Lage waren, Auskünfte über die Bewerber zu geben und sie deswegen bei den Bezirksämtern oder Gemeinderäten einholten.137 Allein Pfarrverweser und Vikare konnte die Kirchenbehörde dagegen ohne Genehmigung staatlicher Behörden so einsetzen und versetzen, wie sie es für richtig hielt. In allen Staaten der späteren Oberrheinischen Kirchenprovinz wurde mit wechselndem Erfolg aus der landesherrlichen Souveränität dessen Patronatsrecht abgeleitet. Die katholische Kirche dagegen beharrte auf den feudalen Rechtsprinzipien, akzeptierte das persönliche Patronatrecht von Fürsten wie Feudalherren und lehnte — nicht nur hier — konsequent jede staatliche Souveränität in kirchlichen Fragen ab. Bei jeder aufgehobenen Standesherrschaft sollten die Pfründvergaberechte an den Erzbischof fallen. Während die Schulpatronate in Baden 1870 faktisch aufgehoben wurden, blieben die kirchlichen bis 1919 weitgehend erhalten. Erst mit dem Kirchengesetz von 1860 bzw. mit der entsprechenden Ausführungsverordnung von 1861 hatte der badische Staat die Patronatrechte entsprechend den kanonischen Vorschriften als »jus personae patronatus« und nicht als Folge der Landeshoheit anerkannt.138 Da sich von den 839 badischen Pfründen ca. 230 im Privatpatronat befanden, spielte deren komplizierte Rechtsgeschichte, insbesondere bei der Pfründbesetzungsfrage und bei den Auseinandersetzungen anläßlich der Ablösung von 60

Feudallasten, eine wichtige Rolle. In den 40 Jahren zwischen 1831 und der Reichsgründung hatte auch dies eine, nur für den Einzelfall rekonstruierbare, Fülle von Rechtstreitigkeiten zur Folge. Von 1831 bis zu seinem Tode im Jahre 1836 beanspruchte der erste Freiburger Erzbischof Bernhard Boll 139 unter Berufung auf das Patronatrecht des Konstanzer Bischofs das Kollaturrecht auf 49 Pfarreien und 6 Kaplaneien. Dieses wurde erst seinem Nachfolger, Erzbischof Ignaz Anton Demeter,140 als persönliches Recht und nur für 24 Pfarreien gewährt.141 Erst im Badischen Kirchenstreit von 1853 verlangte die Freiburger Kirchenbehörde dezidiert die Besetzungsrechte für Pfründen, auf denen kein kanonisch begründetes Patronatrecht ruhte. Nur dieses erkannte die katholische Kirche grundsätzlich an, nicht aber das daraus abgeleitete Recht des Landesherrn auf das Staatspatronat. Komplizierter wurden die Verhältnisse noch dadurch, daß einige Standesherren im Verlaufe der Revolution von 1848/49 auf ihre Patronatrechte verzichtet, diesen Verzicht in der Restaurationszeit aber wieder zurückgenommen hatten. Schon aufgrund der Denkschrift der Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz vom März 1851 war die Regierung mit dem Ordinariat in Verhandlungen wegen der Pfründbesetzungsfrage eingetreten. Die Willkür bei den folgenden Zugeständnissen an die Kirche war bemerkenswert. Im März 1853 wurde dem erzbischöflichen Stuhl das Recht eingeräumt, »diejenigen nicht im Privatpatronat befindlichen katholischen Kirchenpfranden, welche in den Monaten Juni und Dezember eines jeden Jahres durch Todesfall erledigt werden, für diesen Erledigungsfall zu verleihen«.142 Damit gab sich Hermann v. Vicari nicht zufrieden. Er teilte der Regierung mit, daß er in der Zukunft alle umstrittenen Pfründen — nach kirchlichem Recht — selbst besetzen werde, und bedachte als erstes die Spitalpfarrei in Konstanz mit einem ultramontan eingestellten Priester aus Tirol, der wegen des Priestermangels in die Erzdiözese Freiburg aufgenommen worden war. Aber auch ohne diese im liberalen Konstanz noch besondere Art der Provokation war der Konflikt zwischen Staat und Kirche offen ausgebrochen. Die Machtprobe, die hier begann, endete erst mit der weitgehenden Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Republik. Seit 1919 konnte damit der Freiburger Erzbischof alle Pfründen frei besetzen. Die inzwischen vollends anachronistische Notwendigkeit, auf feudalen Prinzipien materieller Art zu beharren, war damit hinfällig, und entsprechend ging auch die katholische Kirche wenige Jahre später zum Besoldungssystem über. Zunächst wurde die Pfründbesetzungsfrage Gegenstand der Verhandlungen zwischen Baden und dem Heiligen Stuhl, die 1855 begannen. Obwohl die 1859 geschlossene Konvention143 am geschlossenen Widerstand der Liberalen scheiterte, sollten die bis dahin ausgehandelten Vereinbarungen über die Patronatrechte im Kirchengesetz vom Oktober 1860 beibehalten werden; doch auf Anweisung aus R o m beharrte der Erzbischof nun wieder auf dem Standpunkt des >Alles oder Nichtsliberal< verstanden wurde, deutlich. Während für Erzbischof Demeter allem Anschein nach bereits Anhänger Wessenbergs als liberal galten, wußte Generalvikar Hermann v. Vicari 168 aus Erfahrung und persönlicher Kenntnis der Dekane, daß es unter diesen, bis auf eine Ausnahme — nämlich den neugewählten Dekan des Landkapitels Stühlingen, Dominikus Künzer169 - gar keine Liberalen gab. Sie gehörten nämlich, wie später zu zeigen sein wird, fast ausnahmslos einer jüngeren Generation an als die Wessenbergianer, die unter den Dekanen der 1830er Jahre tatsächlich noch zahlreich vertreten waren. Domkapitular Hug 170 räumte zwar ein, daß einige Dekane aus Fahrlässigkeit, andere aus Feigheit, nicht, wie es ihre Pflicht wäre, gegen den Klerus einschreiten würden, aber schon unter Domdekan Burg sei die Abschaffung der Dekanswahl als untaugliches Mittel gegen solche Übelstände mit richtigen Argumenten abgelehnt worden. Da die Wahl der Dekane durch die Kirchenbehörde bestätigt werden müsse, stehe es jederzeit in ihrem freien Er-

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messen, unerwünschte Personen bzw. einen »Parteihäuptling« von der Übernahme dieses Amtes abzuhalten. Einseitig von der Kirchenbehörde ernannte Dekane würden sogar ausgesprochen schädliche Auswirkungen haben: »Die Geistlichkeit würde in solchen einseitig aufgestellten Obrigkeiten nur die Spione und Gehilfen der Eigenmacht zu ihrer Unterdrückung sehen: so lange sie die Wahl mit dem Kirchen-Oberhaupte gemeinschaftlich ausübt, so erkennt sie in den Dekanen eine freundliche Mittelobrigkeit zwischen ihr selbst und der oberen Kirchenbehörde, der sie lieber Achtung und Gehorsam leistet, als einem aufgezwungenen Vorgesetzten«.171 Im übrigen empfehle es sich, auch die Dekanate von Zeit zu Zeit zu visitieren und pflichtvergessene Dekane ihres Amtes zu entheben. Geldstrafen sollten schon allein deswegen nicht wieder eingeführt werden, weil solche zu Rekursbeschwerden an das Ministerium Veranlassung geben könnten, die, j e nachdem sie einem Referenten in die Hände kommen, ein für uns widerliches und demütigendes Endurteil veranlassen dürften«. Das Aussprechen eines Verweises durch den Erzbischof, der ja nicht staatsgenehmigungspflichtig sei, sollte allerdings in die Vorschlagstabellen bei Pfründbewerbungen aufgenommen werden; wiederholte Verweise sollten den Ausschluß von kirchlichen Ehrenämtern überhaupt zur Folge haben. Während also erste Schritte unternommen wurden, Reformgeistliche stärker an die Weisungen der Kirchenbehörde zu binden, wurden ihren Bildungsbestrebungen noch keine Grenzen gesetzt. Im Gegenteil: auch 1838 sahen die Mitglieder der Freiburger Kirchenbehörde einhellig in der »Bildung« einen Wert an sich. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren katholische Geistliche hier noch gehalten, sich — im Sinne der praktischen Aufklärung und ihrer Rolle als Volkslehrer — in bezug auf allgemeine und wissenschaftliche Bildung auf dem laufenden zu halten: »Mit dem herrschenden Zeitgeiste darf der Geistliche eben so wenig unbekannt sein, als mit neuen Produkten im Gebiete der Wissenschaften«.172 Einstimmig gebilligt wurde 1838 die Ausdehnung der Fortbildungsmaßnahmen, wie sie Wessenberg durch Kapitels- und Regiunkelkonferenzen des Klerus eingeführt hatte, auf die ganze Erzdiözese. Dabei sollten kritische Erörterungen von katholischen Glaubenslehren zukünftig allerdings unterbunden werden, ebenso die Diskussion bischöflicher Anordnungen und Disziplinarverfügungen: »Jedem Kapitels-Geistlichen ist es unbenommen, bescheidene Bedenken, Anstände und Zweifel über den richtigen Verstand und Sinn von Glaubens- und Sittenlehren, und über richtige Anwendung der letzteren auf einzelne Fälle, in den Pastoralkonferenzen vorzutragen, um Belehrung darüber einzuholen; keineswegs aber um mit sophistischen Spitzfindigkeiten und Auskrämerei Andere in Verlegenheit zu setzen, und mit Polemisier-Sucht dieselben kompromittieren zu wollen«.173

70

Nur konstruktive Kritik sollte - bescheiden - vorgetragen werden dürfen, d. h. »wohlerwogene Urteile« zusammen mit Verbesserungsvorschlägen. Selbst das sollte in Gegenwart von Laien unterbleiben: »Noch viel weniger kann einem Geistlichen gestattet sein, solche Zweifel und Bedenken jemals in Gesellschaft von Laien, und besonders von seiner Pastoration Anvertrauten vorzutragen. Dies würde vielmehr als eine eidbrüchige Frechheit anzusehen sein, indem dadurch bei dem Volke die Achtung, Ehrfurcht und Zuversicht des Glaubens geschwächt, und er so zum Unglauben mit seinen verderblichen Folgen für die Sittlichkeit zu leicht verleitet werden möchte«.174 Ebenfalls »zur Beförderung intellektueller und moralischer Bildung des Kiews« sollten überall dort, wo noch nicht geschehen, Kapitels-Bibliotheken und Lesezirkel eingeführt werden, was folgendes Procedere erforderte: Ein Geistlicher, der in einer Poststadt wohnte, wurde zum Direktor des Lesezirkels gewählt. Dieser bestellte Bücher und Zeitschriften aus den Bereichen Kirche und Politik, Weltgeschichte, Erd- und Völkerkunde, Landeskultur und Landwirtschaftsführung sowie ästhetische Schriften, Liedgut und gute Erbauungsschriften und ließ diese nach einem Plan kursieren. Die Kapitularen konnten diese Schriften nach Bedürfnis mit schriftlichen Bemerkungen versehen, gegebenenfalls sollten besonders interessierende Werke zum Gegenstand einer Kapitelskonferenz gemacht werden. Abschließend Heß man es in allen Punkten bei der traditionellen Stellung der Dekane bewenden. Der Vorstoß des Erzbischofs, seine eigene Position zu stärken, war damit gescheitert. Den erzbischöflichen Dekanen wurden auf Beschluß des Domkapitels folgende Pflichten auferlegt: 1. Aufsicht über den Klerus, 2. Abhaltung von Pfarr- und Kirchenvisitationen, 3. Die Pflicht zur Ermahnung und Belehrung fehlender Geistlicher und das Recht, sie zu diesem Zwecke vorzuladen. Bei Nichtbeachtung ihrer Maßnahmen Meldung der betreffenden Geistlichen an das Erzbischöfliche Ordinariat, 4. Entgegennahme von Beschwerden und Klagen, 5. Investitur neuer Pfarrer. Das Gehalt der Dekane sollte, je nach Kapitelsvermögen, von den Kapitularen selber festgelegt werden. Auch in den Kapiteln, wo dies bisher nicht üblich war, sollte der sogenannte Dekanatsmonat eingeführt werden, d. h. die Einkünfte des ersten Monats einer vakanten Pfründe sollten in die Kapitelskasse fließen, wovon aber die Kosten für einen Pfarrverweser (1 Gulden 30 kr. pro Tag) abgezogen werden mußten. Kapitels-Versammlungen sollten nur noch mit Genehmigung des Erzbischöflichen Ordinariats abgehalten werden. Insgesamt wurde die zentrale Bedeutung der Dekanate als Mittlerstelle zwischen Kirchenbehörde und Klerus einerseits, Kirchenbehörde und Volk andererseits, beibehalten. Weder der Klerus noch das Volk durften unmittelbar mit 71

dem Erzbischöflichen Ordinariat Kontakt aufnehmen, es sei denn auf ausdrückliche Anweisung. Der Geschäftsweg lief in jedem Fall über das Dekanat. »Das Dekanat ist die Mittelstelle zwischen Klerus und dem Erzbischof. Es ist aber auch das Organ zwischen dem Volk und der Kirchenbehörde, so daß alle Bitten, Beschwerden, Dispensationen, Anklagen, Aufreg[ung]en nie unmittelbar an das Ordinariat, sondern mittelbar durch den Kapitels-Vorsteher eingereicht werden müssen«. 175

Dieser Geschäftsgang galt auch für untergeordnete staatliche Behörden; nur das Ministerium selber verkehrte unmittelbar mit dem Erzbischöflichen Ordinariat. Eine Ausnahme stellten nur Beschwerden über die Dekane selber dar. Diese Passi über den Geschäftsgang und Geschäftsführung wurden aus den Statuten des Kapitels Wiesental übernommen. Der Erzbischof änderte hier nur eine einzige Formulierung, in der nämlich dem Klerus ein »vernünftiger Glaube« und ein »vernünftiger Gehorsam« empfohlen wurde. Seine im folgenden zitierte Begründung, mit welcher er eine Legitimationsmöglichkeit für Unbotmäßigkeiten jüngerer Geistlicher ausmerzen wollte, stieß nicht auf Widerspruch des Domkapitels: »Daß hier dem Klerus ein vernünftiger Glaube und ein vernünftiger Gehorsam anempfohlen wird, mag vor zwölf Jahren, wo das Büchlein erschienen ist, immer als vernünftig, jedoch auch dort als überflüssig erscheinen. Seit zwölf Jahren aber ist dieser Zusatz sehr gefährlich. Ein großer Teil unser jungen Geistlichen hält den R a tionalismus fur vernünftigen Glauben, und eine Bekrittelung aller erzbischöflichen Verordnungen und den daraus folgenden grobstolzen Ungehorsam für vernünftigen Gehorsam. Diese Erklärung gäbe diesen jungen Männern das Messer in die Hand, u m uns damit zu verwunden«. 1 7 6

Nach wie vor wurden also erzbischöfliche Dekane, Kammerer und - je nach Größe der Landkapitel — mehrere Definitoren gewählt, die ihre Regiunkel zu verwalten hatten. Außerdem hatte jedes Landkapitel einen Kapitelssekretär. 1838 wurden der Katholischen Kirchensektion von Domkapitular J. Adam Martin177 entsprechend den Beschlüssen des Domkapitels verfaßte Kapitelsstatuten vorgelegt, denen das Ministerium das Plazet verweigerte, weil sie nicht der Landesherrlichen Verordnung entsprachen. Nur weil geplant sei, die Amter bei einer bevorstehenden Trennung der Justiz von der Verwaltung neu einzuteilen, habe man die erzbischöflichen Dekane provisorisch anerkannt und davon abgesehen, auf den Vollzug des geltenden staatlichen Rechts zu dringen. Das Domkapitel beschloß, gegen die landesherrliche Verordnung in den betreffenden Punkten Protest einzulegen, tat dies 1839, aber alles blieb beim Alten.178 In den Kapitelsstatuten wurde außerdem festgelegt, daß jedes Pfarramt ein Pfarrarchiv zu führen hatte. Darin waren aufzubewahren: 1. Stiftungsakten der Pfarrei 2. Stiftungs- und Bauakten der Kirche 72

3. Akten der pfarrlichen Amtsführung: a) Trauungs-, Geburts-, Tauf- und Totenbücher b) Bischöfliche und landesfürstliche Verordnungen c) Pfarramtliche Korrespondenz d) Pfarramtliche Konstitute der Pfarrgenossen e) Verkündbücher. Empfohlen wurde dem Pfarrer außerdem ein Familienbuch, Volkslisten (mit Erfassung der »Eingeborenen«, An- und Abwesenden sowie Fremden), ein Verzeichnis der Schul- und Christenlehrpflichtigen, der Erstkommunikanten (mit Noten über Fleiß, Fortgang und Sittlichkeit), ein Verzeichnis der Ortsarmen (mit Angabe der Spenden der öffentlichen Armenpflege und Kollekten), ein Tagebuch über die seelsorgerliche Amtsführung (mit Predigten, Katechesen, pfarrlichen Anordnungen und Verfügungen in Kirche und Schule, Auftreten von Krankheiten, Todesfällen und öffentlichen Ärgernissen) sowie ein N o tabilienbuch über wichtige Ereignisse in der Pfarrei zu führen, besser noch eine Pfarrgeschichte »mit kirchlich-politisch-physisch und moralischen Ereignissen bis auf die neueste Zeit, die dann chronologisch fortgesetzt werden soll«. 179 Außerdem wurde der Pfarrer angehalten, ein Testament aufzusetzen, insbesondere dann, wenn er keine armen Eltern oder Geschwister habe. Dabei sei zu beachten, daß die Legate zu Gunsten einzelner Dienstboten nicht auffallend hoch ausfallen dürften.

11. Militärdienstpflicht der Geistlichen Grundsätzlich waren alle Privilegien des Klerus mit dem Kirchenkonstitutionsedikt aufgehoben worden, so auch die Befreiung von der Militärdienstpflicht. Im Konscriptionsgesetz von 1812 war aber verfügt worden, daß wegen des gravierenden Priestermangels Theologiestudenten vorläufig milizbefreit sein sollten. Diese Bestimmung war 1821 durch Verordnung des Staatsministeriums auf unbestimmte Zeit verlängert worden. In Baden dauerte der Kriegsdienst, von dem man sich durch Bezahlung eines Ersatzmannes auch freistellen lassen konnte, sechs Jahre. 1823 beantragte Wessenberg in der Ersten Kammer, diese Befreiung auch in das neue Konskriptionsgesetz aufzunehmen, das zur Beratung und Verabschiedung durch die Kammern anstand. Erstens, so begründete er seinen Antrag, widerspreche der Kriegsdienst nach kirchlichen Vorschriften den Standesmerkmalen des Klerus grundsätzlich, und zweitens könne man so dem immer empfindlicher werdenden Priestermangel abhelfen. Gerade Theologiestudenten kämen oft aus armen Verhältnissen, so daß sie nicht in der Lage seien, einen Ersatzmann zu stellen. Nach sechs Jahren Militärdienst aber seien sie für den geistlichen Stand verloren. Einem Mißbrauch der Befreiung könne dadurch gesteuert werden, daß jeder, der das Studium der Theologie aufgebe oder den geistlichen Beruf nicht antrete, in die 73

Dienstpflichtigkeit zurückfalle.180 Die Kommission über das Konskriptionsgesetz lehnte eine Berücksichtigung des Antrags ab, da alle ständischen Exemtionen durch die Verfassung abgeschafft seien, mit Ausnahme der bundesgesetzlichen Regelungen über die Standesherren.181 Tatsächlich finden sich in den Personalakten einige wenige Fälle, in denen zukünftige Geistliche ihr Studium wegen der Militärdienstpflicht unterbrachen. Nach der Deutschen Wehrordnung von 1870 wurden Theologiestudenten der Ersatzreserve zugewiesen und von militärischen Übungen befreit, Geistliche grundsätzlich nur in der Krankenpflege und Seelsorge verwendet. Im Reichstag des Kaiserreichs wurden verschiedene Anträge des Zentrums auf völlige Befreiung katholischer Theologen vom Wehrdienst jedoch abgelehnt. Im Reichsmilitärgesetz von 1888 wurde ebenfalls bestimmt, daß Geistliche beider Konfessionen nicht zu militärischen Übungen herangezogen werden sollten. Schließlich wurde 1890 auf Antrag der Konservativen ein Zusatz zu diesem Gesetz verabschiedet, nach dem auch Theologiestudenten für die Dauer ihres Studiums vom Militärdienst zurückgestellt und nach Empfang der Subdiakonatsweihe der Ersatzreserve zugewiesen wurden. In Friedenszeiten waren damit Theologiestudenten vom Wehrdienst befreit.182 Da es keine Möglichkeiten gab, den Wehrdienst zu verweigern, erschienen diese Maßnahmen dazu geeignet, das Studium der Theologie attraktiver zu machen.

12. Die Jurisdiktionsgewalt der katholischen Kirche über den Klerus Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die faktische Disziplinar- und Strafgewalt über den katholischen Klerus ebenso zum Politikum wie die Frage, von wem der Klerus finanziell abhängig sein sollte. Bis dahin blieb es, wie im Falle der Kapitelsstatuten, bei mehr oder weniger zaghaften Versuchen der intern überdies nicht konsensfähigen Kirchenbehörde, ihren Einfluß zu stärken. Im 1. Organisationsedikt vom 14. Mai 1807, das das Verhältnis von Staat und Kirche im Großherzogtum Baden grundsätzlich regelte, wurde der Kirche jede Strafgerichtsbarkeit über weltliche Vergehen von Laien und Klerikern entzogen. Ausdrücklich belassen wurde der Kirche jede richterliche Gewalt »in Sachen des Gewissens oder der Religions- und Kirchenpflichten«, solange sie nicht zum Nachteil des Staates mißbraucht werde.183 Als rechtmäßige Gegenstände der Kirchengewalt wurden hier nur anerkannt: 1. Die Ermächtigung zur Amtsführung der Kirchendiener sowie die Zurücknahme bei Unfähigkeit oder Unwürdigkeit. 2. Die Leitung der Kirchen- und Schuldiener zur Erreichung des kirchlichen Zweckes ihrer Anstellung. 74

3. »Polizei über ihre Diener und Glieder in Bezug auf deren häusliches und öffentliches Verhalten«. In weltlichen und »gemischten« Gegenständen, die die »geistige und leibliche Wohlfahrt« des Staatsbürgers gleichermaßen beträfen, gehe die Kirchengewalt nur so weit, daß sie ohne weltliche Folgen bleibe. Alles Nähere sollte einem Konkordat zwischen Baden und dem »römischen Hof« vorbehalten bleiben, 184 das aber schließlich erst 125 Jahre später, nämlich im Jahre 1932, zustande kommen sollte. D e jure hatte der Klerus damit seine privilegierte Gerichtsbarkeit verloren, 185 de facto waren sich jedoch Regierung und Kirchenbehörde stillschweigend darüber einig, daß ein Kleriker nur in Extremfällen vor ein weltliches Gericht gestellt werden sollte. Von der Polizeigerichtsbarkeit war der Klerus — wenn auch unausgesprochen und ohne rechtliche Legitimation — zunächst ganz und gar eximiert. Erst im Kulturkampf kam es ganz vereinzelt zur Verhängung von Polizeistrafen gegen Geistliche. 186 Statt dessen blieb es — auf der Basis des Gewohnheitsrechtes — der Kirchenbehörde vorbehalten, nicht nur Dienstwidrigkeiten, sondern auch kleinere Delikte und Ordnungswidrigkeiten, die eigentlich unter das Polizeistrafgesetzbuch fielen, kirchenrechtlich zu ahnden. Eigentlich bedurften kirchengerichtliche Urteile keiner staatlichen Genehmigung, weil diese ja die bürgerlichen Verhältnisse badischer Staatsbürger gar nicht tangieren durften. Da aber mit der Zeit jedem klar werden mußte, daß es kaum kirchliche Strafen ohne irgendwelche bürgerlichen Konsequenzen gab, wurden fast alle Maßnahmen der Kirche gegen Geistliche in diesem Sinne genehmigungspflichtig. Für alle kirchlichen Rechtsfälle galt ohnehin der Grundsatz des »recursus ab abusu«. 187 Ausdrücklich genehmigungsbedürftig waren kirchliche U r teile letzter Instanz, d. h. die des Papstes als auswärtiger Macht. 188 Zwischen 1806 und 1831 funktionierten die über die Grundsätze der Kirchenverfassung hinausgehenden stillschweigenden Ubereinkünfte zwischen Staat und Kirche ohne Konflikte. Laien beschwerten sich in keinem einzigen Fall über die Tätigkeit von Kirchengerichten, die allem Anschein nach weder unter den Generalvikariaten Bruchsal und Konstanz noch in den ersten Jahren nach Errichtung des Erzbistums in nennenswertem Umfang tätig waren. Kirchengerichtliche Urteile gegen Kleriker wurden der zuständigen Behörde vorgelegt, da sie zwangsläufig die bürgerlichen Verhältnisse der Geistlichen tangierten, wenn die Kirchenbehörde ζ. B. gegen diese Geldbußen, Freiheitsstrafen oder Amtsenthebungen verhängte. Wegen der im einzelnen ungeklärten Rechtsverhältnisse über die Grenzen der Jurisdiktionsgewalt der Kirche verhielten sich die kirchlichen Behörden äußerst zurückhaltend, insbesondere aber deswegen, weil man es als demütigend empfand, Urteile dem Ministerium zur Genehmigung vorzulegen. Im Jahre 1832 gelangte ein im Vorjahr von der Kirchenbehörde gegen den Priester Weickgenannt verhängtes Urteil dem Ministerium des Innern (Plenum) zur Kenntnis. Besonders deudich wird anläßlich dieses Falles die unterschiedliche Auffassung über den Stellenwert des bürgerlichen Individuums in 75

der staatlichen und kirchlichen Rechtsauffassung. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Eingrenzung der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt über den Klerus durch die badische Regierung wird die Reaktion auf das Urteil des Kirchengerichts im folgenden ausführlich erörtert. Der Priester Weickgenannt war von der Kirchenbehörde nach wiederholten Strafen und Verwarnungen vom Dienst suspendiert und zu einem Aufenthalt im Diskolorium des ehemaligen Priesterseminars Meersburg auf unbestimmte Zeit verurteilt worden. Während die Katholische Kirchensektion das Urteil genehmigt hatte, nahm das Innenministerium auf die Beschwerde des Priesters nun daran Anstoß. Nach einem Jahr und drei Monaten hatte Weickgenannt um seine Freilassung gebeten, die das Ordinariat ablehnte, weil eine nachhaltige Besserung seines Verhaltens in Freiheit nicht gewährleistet sei. Daraufhin beschwerte sich der Gefangene direkt beim Innenministerium und legte damit den »recursus ab abusu« ein. In den Augen des Ministeriums war der Priester vom Erzbischöflichen Ordinariat formell zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. 189 Obwohl die Grenzen der Disziplinarstrafgewalt der erzbischöflichen Kirchenbehörde nicht festgelegt waren, stand es für die Regierung außer Zweifel, daß dieses Urteil die Kompetenzen der Kirchenbehörde überschritt. Das Ministerium verfügte die Aufhebung des Urteils und die Entlassung des Priesters aus dem Diskolorium. In der Begründung der Urteilsaufhebung klingt das Entsetzen des Innenminister Winter 190 über das Vorgehen der Kirche in jedem Wort mit. »Ohne darauf einzugehen, welches die Grenzen der bischöflichen Disziplinargewalt sind, bleibt es jedenfalls unzweifelhaft, daß die der Todesstrafe zunächst stehende lebenslängliche Freiheitsstrafe, sie mag im Zuchthaus oder im Diskolorium erstanden werden, eine peinliche Strafe ist, und auch schon der gesunden Vernunft nach, nicht unter Disziplinarstrafe gerechnet werden kann. Mag es immerhin sein, daß dem Klerus ein unmoralischer Geistlicher ein großes Ärgernis ist, daß er die Schande, die dadurch seiner Meinung nach, dem ganzen Stande zugeht, mehr als ein anderer Stand in der bürgerlichen Gesellschaft fühlt, wiewohl kein Vernünftiger die Immoralität einzelner dem ganzen Stand zurechnen wird, so kann dieses Ärgernis doch nicht zu der Berechtigung fuhren, die Existenz eines Individuums zur Erhaltung der Standesehre gewissermaßen in ewiger Nacht zu begraben, sondern alles was der Kirche im äußersten Falle zusteht, besteht darin, daß sie ein solches Mitglied mit landesherrlicher Genehmigung von sich ausstoßen kann«.191 Die bischöfliche Gerichtsbarkeit, wie sie das Konzil von Trient beschlossen habe und auf das sich das Ordinariat als Rechtsgrundlage seines Vorgehens bezog, sei längst nicht mehr in Gebrauch. Auch die päpstliche Bulle »Ad D o minici gregis custodiam« von 1827 192 habe die Staatsgenehmigung nur unter der Voraussetzung erhalten, daß daraus nichts abgeleitet werden könne, was die landesherrlichen Hoheitsrechte einschränke. Keine andere Stelle als der Staat könne die peinliche Gerichtsbarkeit ausüben. Das Erzbischöfliche Ordinariat fühlte sich durch dieses Vorgehen völlig mißverstanden. Generalvikar Hermann v. Vicari führte aus, was die katholische Kir76

che unter Freiheitsentzug verstand und was seines Erachtens den Unterschied zwischen einem Zuchthaus und einem Priesterstrafhaus ausmache. Nicht nur sei ein Diskolorium in jeder Hinsicht wesentlich komfortabler als ein staatliches Gefängnis, sondern vor allem stehe dahinter ein ganz anderes Konzept von Strafvollzug. Der Kirche gehe es bei der Maßnahme des Freiheitsentzuges nicht in erster Linie u m Strafe oder Vergeltung, sondern u m Besserung. »Vor allem müssen wir bitten, ein Zuchthaus und aedes discolorium zu unterscheiden, schon in Hinsicht auf die Nahrung und gewisse Gemächlichkeiten, wegen deren unbekümmertem Genüsse mancher ungezwungen die Freiheit dem klösterlichen Leben geopfert hat; dann aber auch wegen seiner Richtung. Die Besserungsanstalt bleibt jeweils die Hauptidee, die Eigenschaft als Strafanstalt ist nur untergeordneter Art, weil sie sich von jener nicht trennen läßt. - Die kürzere oder längere Dauer seines Aufenthaltes an diesem Orte hängt nicht von uns, sondern einzig vom Schuldigen ab; es liegt bei ihm, ob er sich befähigen wolle, der menschlichen Gesellschaft zurückgegeben und derselben nützlich zu werden. Wie mehr sich ein Bewußtwerden sittlicher Lebensgrundsätze und eine Ehrerbietung für menschliche und christliche Pflichten in ihm entwickelt, desto näher rückt er seiner Entlassung. Man bietet ihm selbst die Hand, und ist froh über einen brauchbaren Mann mehr, der wieder im kirchlichen Dienste verwendet werden kann. Weit entfernt, in ewiger Nacht begraben zu werden, trifft er in dem Augenblicke anSehet. So hat man dem Ordinariat die Flügel beschnitten ...guterWie, schämst du dich nicht, diese abscheuliche mittelalterliche Reliquie der Dummheit und der Geistesknechtschaft bei dir zu tragen? ...< U n d mit Zorn und Verachtung warf der Jugendbildner, der, obgleich Priester, notorisch Logenbruder war, den Rosenkranz auf die Bank.« 1 5

Geistliche 16 und weltliche Professoren fühlten sich, ebenso wie ein großer Teil des Seelsorgeklerus, im Vormärz weitgehend dem liberalen Fortschrittsdenken ihrer Zeit verpflichtet. Die Mittelschüler unterstanden, entsprechend den ständischen Vorstellungen, der Seelsorge der geistlichen Lehrer, nicht der Gemeindegeistlichen. An den Gelehrtenschulen des Vormärz war — vielleicht auch aus diesem Grunde — die Abnahme der allgemeinen Beichte die Regel. 1 7 Für Leopold Kist war dies ein weiteres verwerfliches Beispiel für den Indifferentismus und Rationalismus der vorultramontanen Zeit. Für den Außenstehenden scheint es auch ein einleuchtendes Beispiel dafür zu sein, daß öffentlicher und kirchlicher Erziehungsauftrag des katholischen Geistlichen schon im Vormärz nicht mehr zu vereinbaren waren. Die Einzelbeichte des Schülers gegenüber dem Klassenoder Fachlehrer hätte wohl zu einer Interessenkollision und Rollendifiusion beitragen müssen.

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Ebenfalls in den schwärzesten Farben schildert Leopold Kist die vorherrschende religiöse Toleranz im Leben der angehenden Akademiker. Protestanten und Juden besuchten angeblich unbeanstandet den katholischen Schulgottesdienst ebenso wie den Religionsunterricht. Oftmals wußten die Schüler gar nicht, ob ein Mitschüler katholisch war oder nicht. Rühmend wird als Ausnahme von der Regel der Oberstudienrat Dr. Zell 18 hervorgehoben, der als Prüfungskommissar entsetzt gewesen sei, daß den Schülern ein protestantisches und damit kirchenfeindliches Geschichtsbild an einer »stiftungsgemäß katholischen Anstalt« vermittelt wurde. Alle anwesenden Professoren, Honoratioren und Schüler seien über dessen Äußerungen bei der öffentlichen Schulprüfung 1842 »aufs höchste verblüfft und indigniert« gewesen. Uberall seien anschließend Äußerungen zu hören gewesen wie: »>Aber der Jesuit, der Ultramontan, der Römling, der Pfaffenknecht! Seine mittelalterlichen Ansichten und mönchischen Winkelzüge sind eine Schmach für das X I X . Jahrhundert!«Modernisten< 102

gab, die sich als solche öffentlich profilierten. Dem Erzbischof wurde seit Ende des Kulturkampfes zunehmend Einfluß auf die Besetzung der Lehrstühle der theologischen Fakultät eingeräumt. Bei der öffentlichen Auseinandersetzung um den Modernisteneid, die mit dem Motu proprio »Sacrorum antistum« Pius X. vom 1. September 1910 einsetzte, hielten sich die Mitglieder der theologischen Fakultät der Universität Freiburg zunächst völlig heraus.46 Vor allem der Ordinarius für Kirchengeschichte Georg Pfeilschifter, aber auch sein jüngerer Kollege Josef Sauer, der als Nichtordinarius noch vorsichtiger vorging, versuchten allerdings universitätsintern die anderen Fakultäten zu mobilisieren, was auf Widerstand aller anderen Mitglieder der theologischen Fakultät stieß. Die Auseinandersetzung in der liberalen Öffentlichkeit verschärfte sich, als Pius X. erklärte, daß sein Dispens von der Ablegung des Modernisteneides für Professoren an staatlichen Universitäten nicht für solche Professoren gelte, die kirchliche oder seelsorgerliche Funktionen ausübten bzw. ein kirchliches Benefizium innehatten.47 Nicht nur an der Universität Freiburg, sondern in ganz Baden flammte die ohnehin latent gebliebene Kulturkampfstimmung wieder auf.48 Insgesamt ist festzuhalten, daß sich vor allem die Inhalte der Priesterausbildung änderten, nicht aber die formalen Strukturen der Aufklärungszeit, die auf dem Leistungsprinzip im Sinne moderner Wissenschaftlichkeit beruhten und zur Spezialisierung tendierten. Ebenfalls beibehalten wurde im wesentlichen der in der Aufklärungszeit ausdifferenzierte Fächerkanon der theologischen Fakultät.49

4. Kirchliche Erziehungsanstalten Das Tridentinische Dekret über die Einrichtung von Seminaren, in denen unter der Oberaufsicht der Bischöfe die Priesterausbildung in den jeweiligen Diözesen erfolgen sollte, wurde zwar zunächst — vor allem bis 1648 — befolgt, die meisten Seminare gingen jedoch sehr schnell ein. In der Regel war die Priesterausbildung den Jesuitenkollegien oder den theologischen Fakultäten, die ebenfalls mit Jesuiten besetzt waren, angeschlossen. Im Bistum Konstanz wurde der Seminarbesuch im 18. Jahrhundert zwingende Voraussetzung für die Priesterweihe. Mit Beginn der Regierungszeit des Bischofs Damian Hugo v. Schönborn (1740) wurde ein Priesterseminar ein Meersburg errichtet und damit eine dreijährige Ausbildung für die Alumnen eingeführt; alle Priesteramtskandidaten, die sich einer solch langen Ausbildung entziehen wollten, waren konsequenterweise nicht zur Priesterweihe zugelassen worden. Die Atmosphäre im Seminar wurde daraufhin so unerfreulich, daß Damian Hugo »lieber Schweinehirte als Superior bei solchen widerspenstigen Leuten« sein wollte.50 In den 1760er Jahren lag die Blütezeit des Seminars, der Barockkatholizismus gelangte hier zur vollen Entfaltung. 103

»In diesen Jahren scheint ein gewisser Glanz von der Fürstbischöflichen Residenz, die jetzt vollendet und bezogen war, auf das Seminar gefallen zu sein. Theater und Opemauffiihrungen fanden nach Vorbild des Konstanzer Jesuitengymnasiums statt. Die Seminaroberen zeigten sich als großzügige Gastgeber. Fast täglich wurden hohe Gäste im Seminar bewirtet und >so tractiert, daß alles was nur der Tisch trage, aufgetragen wurdeKleckern< oder >Mäkeln< etc. Aus der Hausordnung geht hervor, daß das neue Priesterseminar eine geschlossene Anstalt war, in der sogar der Briefverkehr kontrolliert wurde: »Kein Alumnus darf ohne vorläufige Anzeige bei den Obern etwas in die Stadt schikken oder daraus empfangen, im Besonderen unterliegen die ab- und zugehenden Briefe der Kontrolle der Obern; nur an bekannte Honoratioren werden verschlossen Briefe weggelassen, alle übrigen müssen unverschlossen sein. Briefe und Gepäcke auf die Post oder fiir Boten werden ungehindert fortgelassen. heimliche Schmuklereien[!], so wie unterhaltene heimliche Korrespondenzen eignen sich zur schärfsten Ahndung und im Wiederholungsfalle zur Höchsten Anzeige und Entlassung.«84 O h n e ausdrückliche Erlaubnis durfte niemand das Haus verlassen, und wenn, dann nur in Begleitung eines vom Regens auszuwählenden Kollegen. Spaziergänge waren nur unter Aufsicht gestattet Wenn weniger als die Hälfte mitging, fielen diese aus; das Einkehren in Privat- oder gar Wirtshäusern war verboten. Tagsüber war die Pforte mit einem kleinen, nachts mit einem großen Schloß versehen, dessen Schlüssel abends dem Subregens übergeben wurde. Besuche durch Studenten waren nicht gestattet, mit Ausnahme der Theologen des 3. Kurses, die sich von 13.00-14.00 im Rekreationssaal oder im Garten aufhalten durften. Als 1840 diese Regelung versuchsweise gelokkert wurde, kam es sofort zu Klagen des Seminarvorstandes über die »Rohheit« der studentischen Besucher. Außerdem wurde Bier eingeschmuggelt, zwei Alumnen hatten ohne Erlaubnis liberale Zeitungen abonniert, ein 111

Alumne unterhielt angeblich eine »geheime, verbotene Beziehung«; ein Jahr später war die Lockerung der Hausordnung wieder aufgehoben. Dabei wurde jedoch die Befürchtung laut, daß den Priesteramtskandidaten nach der Endassung aus dem Seminar die ungewohnte Freiheit zum Verhängnis werde könnte. 85 Nur gelegentlich fanden sich Hinweise auf eine sukzessive Tilgung wessenbergianischer Auffassungen und Gebräuche. Während 1828 noch von einem deutschen Brevier die R e d e war, wurde 1835 in der Liste der Bücher, die die Alumnen bei Eintritt in das Seminar mitzubringen hatte, ein römisches Brevier aufgeführt. Der Romanisierung der Liturgie entsprach eine stärkere Betonung äußerer Tugendmittel und damit eine Ablehnung der stark verinnerlichten Glaubensauffassung von Sailer und Wessenberg einerseits, rationalistisch ausgerichteter Theologen andererseits. Der Regens wußte zu berichten, daß sich die Alumnen allmählich an die aszetischen Übungen gewöhnen würden. So könne man hoffen, daß sie auch ihre künftigen Pflegeempfohlenen dazu anhalten würden, da sie nun aus Erfahrung wissen, daß ohne Anwendung der Tugendmittel nimmermehr die menschliche Tugend in der Tiefe des Gemütes Wurzeln fasse und den Hindernissen u[nd] Gefahren standhaft zu begegnen im Stande sei.«86 Der Tagesablauf der Alumnen war zwar streng geregelt, aber zwischen dem Aufstehen um 5.30 morgens bis zum Zubettgehen um 9.00 abends waren zumindest bis 1843 — täglich ca. 5-6 Stunden der Privatarbeit und fast vier Stunden dem Essen und der Erholung zugedacht, etwa eine Stunde war dem gemeinsamen Gebet und dem Gottesdienst gewidmet. Die Morgenandachten wurden nach Sambuga, Dereser und Sailer gestaltet, bei Tisch wurde aus erbaulichen Biografien vorgelesen, die vorzugsweise ebenfalls Sailer zum Verfasser hatten. Das 1835 neu in den Lektüreplan aufgenommene Werk von Thomas Moore — »Reisen eines Irländers um die wahre Religion zu suchen« — sollte über Jahre hinweg ein offenbar beliebter Vorlesungsstoff bleiben. Dieses Buch, so der Regens, »zeige den einzigen richtigen Weg zur Erkenntnis des positiven Christentums«. Die schriftlichen Arbeiten der Alumnen wurden sorgfältig korrigiert, und im Falle liberaler Abweichungen von den Ansichten der Kirchenbehörde mußten diese neu geschrieben werden. So hatten sich 1835 zwei Alumnen bei der Behandlung des Themas »Uber die Bildung des Geistlichen überhaupt« kritischer Ausdrücke wie »mönchische Bildungsanstalten«, »Reste des Mönchtums« und Angriffe auf das kirchliche Disziplinarrecht erlaubt, die nur zu offensichtlich auf das Freiburger Priesterseminar gemünzt waren. Der Regens meinte hier die Lehren eines Freiburger Theologieprofessoren zu hören, dessen Namen er nicht nannte, wobei aber jeder wußte, daß niemand anders als Heinrich Schreiber 87 gemeint gewesen sein konnte. Erst seit 1837 — unter dem neuen Regens Merkt —, vor allem aber seit 1839, als sich der Einfluß des Subregens Rössing 88 stärker auswirkte, kann man von 112

einer Ultramontanisierung der praktischen Priesterausbildung sprechen. Seit 1839 wurden die asketischen Übungen romanisiert, 89 häufiger Beichte und Kommunion praktiziert als bisher, 90 und auch Exerzitien bekamen einen größeren Stellenwert. Bei der Einübung des neuen Diözesanrituals von 1838 9 1 wurde besonderer Wert auf die umstrittenen Benediktionen, Exorzismen, Prozessionen und öffentlichen Fürbitten gelegt, 92 die Wessenbergianern und Liberalen gleichermaßen als überlebter, mittelalterlicher Aberglaube galten. Zum Vorlesen bei Tisch traten Märtyrer- und Heiligenbiografien wie: »Die geistlichen Helden der französischen Revolution« oder das Leben des heiligen Franz von Sales sowie Missionsberichte in den Vordergrund. Selbstaufopferung anstelle von Selbstverwirklichung wurde zum Ideal des angehenden Priesters erhoben. Offenbar fand dies bei den Alumnen noch wenig Anklang, denn einzelne, so heißt es in einem Bericht aus dem Sommer 1841, hätten »noch« einen gewissen »Selbstdünkel«, ebenso wurden »gewisse szientistische Blößen«, »Armut an christlichen Ideen« sowie eine »gewisse Trockenheit und Kälte« an der inneren Haltung einzelner Priesteramtskandidaten moniert. 93 Ein Alumne leugnete angeblich die Jungfrauschaft Mariens, wobei sich aber herausstellte, daß dieser die inkriminierte Äußerung bereits als Theologiestudent des ersten Semesters im Jahre 1838 getan hatte. Der Einfluß des Liberalismus, der in Baden inzwischen zur Volksbewegung geworden war und die Debatten der Bürger und Studenten beherrschte, war, wie später zu zeigen sein wird, in der kurzen Zeit der Seminarausbildung nur bei wenigen der jungen Theologen wirksam zu bekämpfen. Eine konsequente Isolierung von der Außenwelt, die diesem Ziel dienen sollte, war in einer Universitätsstadt kaum durchzufuhren. Der Einfluß des städtischen und akademischen Milieus wurde dann auch hauptsächlich für die Disziplinschwierigkeiten verantwortlich gemacht, die im Priesterseminar zu beklagen waren: »Am meisten Schwierigkeiten bei Handhabung der Disziplin verursacht die Z u dringlichkeit der Stadtleute, die in der Tat maßlos ist u[nd] die krankhafte Anhänglichkeit mancher Alumnen an ihre Universitätsfreunde.« 94

O b an Stelle dieser Probleme in der Weltabgeschiedenheit St. Peters andere traten, konnte nicht ermittelt werden. Die ersten beiden Berichte des Seminarvorstands aus St. Peter waren auch die letzten, die aufgefunden wurden. Nachdem es einige Aufregungen über ein Loch in der Mauer des Klostergartens von St. Peter gegeben hatte, das möglicherweise zu unerlaubten Handlungen gefuhrt hatte, wurde im Sommer 1843 die Wiederherstellung von R u h e und Ordnung in St. Peter gemeldet: »Das Betragen der Alumnen bietet keinen Anlaß zur Klage. Die Gartenmauer, durch deren Fehlerhaftigkeit die gute Ordnung teilweise bedroht war, ist nun zweckmäßig hergestellt.« 95

113

с) Das Priesterseminar St. Peter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Aus der Zeit nach dem Umzug des Priesterseminars nach St. Peter, das damit dem theologischen Konvikt weichen mußte, konnte kaum mehr etwas Authentisches in Erfahrung gebracht werden. 96 Stärker ultramontan ausgerichtet wurde die Ausbildung im Priesterseminar vermutlich erst seit der Verlegung von Freiburg nach St. Peter im Jahre 1842. Obwohl 1842 durch die Wahl Hermann v. Vicaris zum Erzbischof, der schon unter Wessenberg Generalvikar gewesen war, eine Kontinuität der kirchenpolitischen Ausrichtung des Erzbistums gewahrt zu sein schien, folgte dieser als Erzbischof dem Trend seiner Zeit zur Ultramontanisierung. Vor 1850 vermied er jedoch offene Konflikte mit der Regierung und versuchte auch im Domkapitel, Kompromisse zwischen den Wessenbergianern und den Ultramontanen anzustreben. Während der gesamten Regierungszeit Hermann v. Vicaris von 1842 bis 1868 war vom Klerus nicht er, sondern der Einfluß seiner ultramontanen »Kamarilla«, vor allem des Hofkaplans Strehle und des juristischen Beraters und späteren Direktors der erzbischöflichen Kanzlei, Heinrich Maas, für die Ultramontanisierungsschübe verantwortlich gemacht worden; der Einfluß der Ultramontanen setzte sich dann unter dem Bistumsverweser Lothar Kübel endgültig durch. Ganz deutlich wurde dies allerdings erst in den 1880er Jahren, als sämtliche wichtigen Lehrkräfte und der Leiter des Priesterseminars in R o m ausgebildet worden waren, zumeist im Collegium Germanicum. 97 Der Subregens und spätere Regens Theodor Lender,98 dem die Pfarrseelsorge für Frauen und Jungfrauen in St. Peter oblag, war Anfang der 1850er Jahre die treibende Kraft bei der Gründung der Schwesterngemeinschaft von der ewigen Anbetung auf dem Lindenberg. 99 Die dadurch bewirkte Wiederbelebung der traditionellen Wallfahrt zum Lindenberg, in deren Kapelle der Erzbischof bereits 1849 die Wiederabhaltung von Gottesdiensten gestattet hatte, löste unter dem umliegenden Klerus eine heftige Diskussion aus. Der aufgeklärte Klerus war entsetzt, während die meisten Angehörigen des Priesterseminars ihren ultramontanen Vorsteher unterstützten. Bereits seit 1834 erfolgte die Abwendung von den Wessenberg'schen Idealen der Priesterausbildung; damit einher ging die scharfe Abwehr liberaler politischer und kirchenpolitischer Einstellungen, die auch unter den Theologiestudenten eine wachsende Anhängerschaft fanden. Bei der Anstellung von Lehrkräften wurde darauf geachtet, daß keine jungen Theologen, die frisch von der Universität kamen und über deren Einstellung man nicht viel wußte, eingestellt wurden, sondern ältere, erfahrene Seelsorger. In der Anfangszeit des Seminars hatte man aus pädagogischen Gründen gerade Wert auf jüngere Lehrkräfte gelegt, weil man sich davon ein besseres Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Alumnen versprach. Von einer Ultramontanisierung der Priesterausbildung im Freiburger Seminar kann man nach den vorhegenden Quellen — nur bedingt sprechen. Diese setzte massi114

ver vermutlich erst ab 1842 in St. Peter ein; seit dieser Zeit war die praktische Ausbildung der Priesteramtskandidaten auch der staatlichen Kontrolle entzogen.100 d) Das Collegium theologicum Nach den Bestimmungen des Tridentinischen Konzils waren in der päpstlichen Bulle »Provida solersque« nicht nur bischöflich geleitete Priesterseminare, sondern auch Konvikte fur die Theologiestudenten vorgesehen. Mit der Aufhebung des österreichischen Generalseminars im Jahre 1790 war auch das bis dahin bestehende theologische Konvikt geschlossen worden. Bereits in einer der ersten Sitzungen der Ersten Kammer verlas Wessenberg eine Motion, in der er die Einrichtung eines Konvikts für Theologiestudenten forderte, um die religiöse und sittliche Bildung der Geistlichen zu heben und weiterem Priestermangel vorzubeugen. Rotteck verwahrte sich leidenschaftlich gegen eine solche Anstalt. Schon das Gutachten der Generalstudienkommission von 1809, so führte er aus, habe es mit den katholischen Aufklärern gehalten, die in Konvikten und Seminarien für angehende Priester allein den Zweck sahen, diese auf den Zölibat vorzubereiten, der bekanntermaßen gegen alle Gesetze der Natur, Menschheit, Vernunft und Geschichte verstoße und gegen den sich jeder echte Christ empören müsse. Zwar sei der Zölibat gegenwärtig vom Staate noch geduldet, dürfe aber keinesfalls durch Einrichtung einer klösterlichen Zwangsanstalt noch unterstützt werden. Weder für die wissenschaftliche Ausbildung noch für die »allgemeine moralische Veredelung« seien Konvikte erforderlich, denn sonst müßte man sie ja für alle Studenten einrichten. Alleine der Triebunterdrückung der künftigen Zölibatäre solle diese Anstalt gewidmet sein. Mit düsteren Worten deutete Rotteck an, wohin eine solche Triebunterdrückung führen müsse, wobei er nichts anderes gemeint haben kann als Homosexualität: » Viele und häßliche Auswüchse sind es, welche beim Zusammenleben unter klösterlicher Zucht, leicht in den edelsten Naturen aufkommen. Das schrecklichste solcher Übel wird uns durch die kläglichsten Zeugnisse und die allgemeinste Erfährung kund. Doch ich will den Schleier nicht wegreißen von dieser moralischen Pest, welche gewöhnlich, ja fast unabwendbar, in größeren Konvikten herrscht. Traurige Bilder sind es, welche dem Menschenbeobachter aus der Dämmerung jener Klausuren und Dormitorien entgegen kommen. Die gegen die klösterliche Regel ankämpfende Phantasie der wohlgenährten Jünglinge bricht sich gern die häßliche Bahn, heimliche Laster, welche die Natur herabwürdigen, schleichen sich ein, und von einem Verdorbenen geht die moralische Ansteckung auf zwanzig Reine über Ich sage nichts weiter Was wäre auch weiter zu sagen?«101

Die Einrichtung von Konvikten würde zwar, so räumt Rotteck ein, dem Priestermangel abhelfen, aber auf Kosten der moralischen Qualität der künftigen Volkslehrer. Nicht unterdrückte Persönlichkeiten brauche die Gesellschaft für diesen Zweck, sondern »kräftige Männer«, die aus freiem Ent115

schluß zur Tugend der Enthaltsamkeit fähig seien, solange die Kirche das Zölibatsgelübde noch fordere. Trotz der rhetorisch glänzend vorgetragenen Einwände Rottecks stimmte die Erste Kammer, was angesichts deren Zusammensetzung nicht verwundern kann, mit 16 gegen zwei Stimmen für Wessenbergs Antrag und ersuchte die Regierung um Einrichtung eines theologischen Konvikts. Doch zehn Jahre lang geschah erst einmal gar nichts. Nachdem schon die Dotation des neu zu errichtenden Freiburger Priesterseminars große Schwierigkeiten bereitet hatte und dieses 1827 endlich bezogen werden konnte, ließ die Katholische Kirchensektion den Antrag des Erzbischöflichen Ordinariats, die freien Plätze im Priesterseminar mit Theologiestudenten zu belegen, sieben Jahre unbeantwortet. Erst 1835 deutete das Ministerium an, daß man beabsichtige, theologisches Konvikt und Priesterseminar räumlich zu trennen. Zwei Jahre später kam es dann zu konkreten Verhandlungen. Obwohl Erzbischof Demeter in dem Plan, das Priesterseminar in die ehemalige Benediktinerabtei nach St. Peter zu verlegen, die Absicht sah, die Priesteramtskandidaten dem bischöflichen Einfluß zu entziehen,102 stimmte er nolens volens zu. Wie sich langfristig zeigen sollte, wirkte sich die Trennung durchaus im Sinne der Kirchenbehörde aus. In den Bestrebungen, Einfluß auf Statuten und Leitung des neuen Konvikts für Theologiestudenten zu erwirken, erlitt das Erzbischöfliche Ordinariat eine fast vollständige Niederlage. Selbst eine Mitaufsicht des Bischofs über die Studenten wurde nicht genehmigt. Die Aufsicht über das Konvikt lag in den Händen einer Kommission, die aus drei Professoren der theologischen Fakultät und dem Direktor des Konvikts bestand, die alle vom Ministerium ernannt wurden. Als Universitätsanstalt stand das Collegium theologicum ohnehin unter unmittelbarer Aufsicht des Innenministeriums.103 Die Hausordnung des Konvikts, die den Studenten bewußt Möglichkeiten zur Teilnahme an bürgerlichen Geselligkeitsformen und den studentischen Bräuchen beließ, die nach den Vorschriften des tridentinischen Konzils als unklerikalisch galten, war ein ständiger Stein des Anstoßes für die Freiburger Kirchenbehörde. Als die Regierung im Jahre 1840 den Erzbischof Demeter beauftragte, Statuten für das Theologische Konvikt entwerfen zu lassen, wurde ausdrücklich betont, daß diese »unter Vermeidung klösterlichen Zwanges«104 einen Studenten entsprechendes Zusammenleben ermöglichen sollte. Nach langjährigen Streitigkeiten wurde dem Konvikt 1847 von der Regierung eine Hausordnung oktroyiert, die den Theologiestudenten nicht nur einmal in der Woche den Besuch des Theaters erlaubte, sondern ihnen auch sonst — gegen den Wunsch der Kirchenbehörde - relativ viele Freiheiten ließ. Weder enthielt diese ein Wirtshausverbot noch regelte sie die Schlafenszeiten. Der Besuch der heiligen Messe war nur sonntags und zweimal wöchentlich vorgeschrieben. Einer der drei Theologieprofessoren, die der Aufsichtskommission des Theologischen Konvikts angehörten, der Ordinarius für Kirchengeschichte Peter Anton Schleyer,105 schrieb empört auf das regierungsamtliche Dekret, das die freizügige Hausordnung offiziell einführte: 116

»Theater, Komitate, Kommerse, Besuch des Fecht- oder Haubodens erlaubt!! nein, das ist doch zu arg. Nach diesen Statuten ist das Kollegium im Grunde nicht viel mehr als eine Pensionsanstalt und die Stelle der Aufsichtskommission kann füglich der Universitätamtmann übernehmen.« 1 0 6

Nachdem 1848 eine beträchtliche Anzahl der Konviktoristen mit der Märzbewegung sympathisiert hatte und als sich schließlich im Frühjahr 1849 32 von insgesamt 57 dem Zug der »Freiburger akademischen Legion« nach R a statt angeschlossen hatten, kehrte auch im Konvikt in den 1850er Jahren wieder R u h e und Ordnung ein. Weder unter Lothar v. Kübels Ägide als Konviktsdirektor (1857-1867) 107 noch unter seinem Nachfolger Joseph Kamill Litschgi 108 kam es zu besonderen Vorkommnissen. Die Schließung des Konvikts während des Kulturkampfes sollte hingegen gravierende Folgen für die Erzdiözese haben. 109

5. Kirchliche Strafanstalten a) Die Priesterkustodie in Freiburg Zu den ständischen Privilegien des Klerus in Mittelalter und früher Neuzeit gehörte die Unterstellung unter die kirchliche Gerichtsbarkeit, insbesondere auch unter deren Strafvollzug. Obwohl diese Privilegien im Großherzogtum abgeschafft worden waren und die Jurisdiktionsgewalt der Kirche über den Klerus auf eine reine Disziplinarordnung beschränkt war, wurde das Priestergefängnis bzw. Diskolorium in Meersburg nicht formell abgeschafft. Für das neue Priesterseminar in Freiburg war jedoch — entsprechend der badischen Gesetzgebung — weder ein Diskolorium noch eine Kustodie, d. h. eine Art Untersuchungsgefängnis, eingeplant worden. Am 26. Februar 1828, also kurz nach Einzug der Alumnen des neuen Priesterseminars in Freiburg, wurde der Seminarvorstand von Generalvikar Hermann v. Vicari jedoch beauftragt, für den in die Kustodie einberufenen Priester Klein, Vikar zu Geiersheim, ein Bett zu mieten, da alle vorhandenen Betten von Alumnen belegt waren. Das wirft nicht nur Licht auf die finanzielle Situation des Priesterseminars, in dessen Etat kein Geld für ein zusätzliches Bett vorhanden war, sondern auch auf das Problem, mit dem sich die folgenden beiden Abschnitte beschäftigen werden, nämlich was mit solchen Priestern geschehen sollte, die eines Vergehens gegen ihre Standespflichten beschuldigt wurden und deshalb zu einer Disziplinaruntersuchung nach Freiburg zitiert worden waren. Das Diskolorium des ehemaligen Priesterseminars in Meersburg war — wie gesagt — zwar beibehalten worden, wurde aber nur für die wenigen Fälle benutzt, in denen ein kirchengerichtliches Urteil gegen einen devianten Priester mit staatlicher Genehmigung zustandegekommen war 110 oder in denen einem Priester vom Justizministerium auf dem Gnaden117

wege gestattet wurde, dort eine Freiheitsstrafe zu verbüßen, die ein weltliches Gericht über ihn verhängt hatte. Weil der Umfang der bischöflichen Strafgewalt im Großherzogtum Baden zunächst ganz ungeklärt war, scheute sich die Kirchenbehörde, Urteile auszusprechen, die zur staatlichen Genehmigung vorzulegen waren. Deswegen bestand offensichtlich Unsicherheit darüber, ob die Regierung es überhaupt zulassen würde, wenn das Ordinariat ein neues Priestergefängnis bzw. Straf- oder Korrektionshaus einrichten wollte, das nicht so fern ab lag wie das in Meersburg. Bis zur Ultramontanisierung stellten Disziplinarfälle aus den verschiedenen, bereits erörterten Gründen absolute Ausnahmeerscheinungen dar, und es schien vor 1840 kein dringender Handlungsbedarf zu bestehen, dafür irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Für diese Kustodie bestand auch kein eigener Etat, sondern die »geistlichen Herren, die vom ... Ordinariat ad custodiam verwiesen wurden«, 111 mußten vom Erzbischöflichen Pedell bedient und auf Kosten der Erzbischöflichen Kanzleikasse verpflegt werden. Erst seit 1840 machte man sich im Ordinariat Gedanken über eine sinnvolle Beschäftigung und sitdiche Besserung der »Sträflinge bzw. zur Heilung ihrer >moralischen Gebrechen*«. Für diesen Zweck wurde 1841 der Dompräbendar Ambs, später der Dompräbendar Sulzer und 1845 Alban Stolz als »Pater spiritualis« mit einer monatlichen Zusatzvergütung von 50 fl. beauftragt, die von der Katholischen Kirchensektion genehmigt wurde. 112 Gegenüber dem Ministerium begründete der Erzbischof eine Fortschreibung dieser Ausgabe auch nach der Verlegung des Diskoloriums von Meersburg nach St. Peter damit, daß ein Aufenthalt in der Kustodie — im Gegensatz zum Diskolorium — ein Strafort für leichtere Vergehen sei, in der ein Aufenthalt von acht Tagen bis zu vier Wochen keine entehrenden Folgen habe. 1 ' 3 Mit zunehmendem Priesternachwuchsmangel übernahm die Kustodie immer mehr Räume im Seminarsgebäude. 1843 bestand sie aus fünf Zimmern; eines wurde als Verhörzimmer benutzt, drei dienten zum Aufenthalt der Pönitenten, die im Unterschied zu Insassen des Diskoloriums oder des Demeritenhauses etwa eine Stunde am Tag Ausgang hatten. Nach einem Tagesplan für die Kustodie hatten sich die Insassen vorwiegend mit geistlichen Übungen, der Lektüre aszetischer Bücher und dem Verfertigen schriftlicher Arbeiten über vorgegebene Themen zu beschäftigen.114 Als das Priesterseminar nach St. Peter umzog, wurden alle Möblierungsgegenstände dorthin mitgenommen, so daß nun der Vorstand des neuen theologischen Konvikts gebeten wurde, Möbel leihweise zur Verfugung zu stellen. Erst nach der gescheiterten Revolution wurden die Kosten für die Möblierung beim Ministerium beantragt und genehmigt. Die Kustodie in Freiburg war also zunächst ein Notbehelf, wurde dann aber später, als 1842 die geistliche Strafanstalt von Meersburg nach St. Peter verlegt und schließlich 1864 zusätzlich in Weiterdingen ein Demeritenhaus errichtet worden war, für besondere Fälle beibehalten. 118

Uber das Diskolorium in St. Peter konnten ebensowenig Akten aufgefunden bzw. eingesehen werden wie über das dortige Priesterseminar. Nur gelegentlich gewährten die Personalakten Einblicke in bezug auf den Strafvollzug in St. Peter. Der Pfarrer von Urach, Johann Nepomuk Renn, 1 1 5 war 1849 wegen Ungehorsams zu einer sechswöchigen Diskoloriumsstrafe in St. Peter verurteilt worden. Obwohl vom Ordinariat sämtliche Trauerfeierlichkeiten für Robert Blum verboten worden waren, hatte R e n n während einer großen Versammlung im Freien eine Trauerrede gehalten, von der es hieß, daß sie gedruckt werden sollte. 116 Am 29.11.1849 beschwerte sich Renn über das schlechte Essen in der Strafanstalt St. Peter bei Kost zweiter Klasse: 117 »So schlecht gekocht ißt fürwahr keine Seele in meiner Pfarre Urach. Trotzdem, daß ich seit Montag, wo ich hier angekommen bin, nicht einen Drittel des mir Aufgetragenen aß, so fühlte ich doch stets ein Drücken im Magen und Spannung im Kopfe, so daß ich selbst am geistigen Arbeiten, worauf ich es vornehmlich abzielte, hier, gehindert werde. Sedes hatte ich noch gar keine, seit ich hier bin. Hätte ich gewußt, daß man hier in Bezug auf Kost schlechter behandelt würde als die gemeinsten Verbrecher im Zuchthause, so hätte ich durch ärztliches Zeugnis leicht nachweisen können, daß meine Unterleibsorgane leiden.«118 Nachdem der katholische Oberkirchenrat mit Schreiben vom 28.1.1850 darauf beharrte, daß Renn wegen seiner R e d e in Vöhrenbach am Pfingstmontag 1849 anläßlich der Beratung über die Wahl zur konstituierenden Versammlung, in der er gegen die Fürsten, Geldaristokraten, Bürokraten und Pfaffen geredet habe, vom Erzbischöflichen Ordinariat zur Verantwortung gezogen werde, mußte Renn weitere sechs Wochen im Diskolorium St. Peter verbringen. Sein Rekurs wurde abgelehnt, ebenso die Bitte des Gemeinderats und Bürgerausschusses vom 24.12.1850 um Strafverschonung. Der Pfarrverweser Franz Schmidt 119 war bereits 1847 wegen Trunkenheit und Dienstnachlässigkeiten verwarnt und 1852 wegen Verletzung der Residenzpflicht, Nichtabhaltung von Predigten und Christenlehre, Wirtshausbesuchen und Trunkenheit sowie wegen unsittlicher Handlungen an einem Mädchen aus der Filialgemeinde zunächst zu einer Art Untersuchungshaft ins Diskolorium St. Peter bei Verpflegung Dritter Kostklasse eingewiesen worden; die Zeit bis zur Abfassung des Straferkenntnisses rechnete man üblicherweise — und so auch hier - auf die Strafzeit an. Am 16.11.1852 entfernte sich Schmidt unerlaubt aus dem Diskolorium; dafür wurde ihm die Spaziergangserlaubnis auf drei Monate entzogen, und er wurde in die Vierte Kostklasse zurückgestuft. In der Urteilsbegründung vom 9.12.1852 hieß es, daß seine früheren Verfehlungen sich strafverschärfend ausgewirkt hätten. Die Freiheitsstrafe belief sich auf ein Jahr Diskolorium Dritter Kostklasse, nach deren Erstehung er für zwei Jahre auf einen Tischtitel von 250 fl. pro Jahr zu setzen sei, um in dieser Zeit seine wiedergewonnene Würdigkeit für eine Verwendung in der Seelsorge zu beweisen. Zudem hatte er sämtliche Untersuchungs- und Straferstehungskosten zu tragen. 1854 wurde er von einem staatlichen Gericht wegen Verfuhrung mindeijähriger Mädchen unter 14 119

Jahre zu einem Jahr Arbeitshausstrafe verurteilt und zwangsläufig ganz vom Dienst suspendiert; zwei Jahre später wanderte er nach Amerika aus. b) Das Demeritenhaus in Weiterdingen Seit Anfang der 1860er Jahre war es für straffällig gewordene Geistliche kaum mehr möglich, in amerikanischen Diözesen eine Anstellung als Seelsorger zu finden. Das erhöhte den Druck auf die Kirchenbehörde, einen Ort zu finden, an dem man Unverbesserliche, Untaugliche oder Suchtkranke unterbringen konnte. 1864 wurde das ehemalige Schloßgebäude der Familie Hornstein in Weiterdingen (Hegau) für diesen Zweck erworben. Insbesondere für solche Priester, die entweder wegen der Höhe einer staatlichen Freiheitsstrafe120 gar nicht mehr oder wegen ihres Strafregisters vermutlich nie oder auf lange Zeit nicht mehr in der Seelsorge verwendet werden konnten, siedelte man hier das sogenannte Demeritenhaus Weiterdingen an. Die Bezeichnung »Demeritenhaus« verschleierte geschickt den Zweck, den diese Anstalt zu erfüllen hatte. Sie sollte ganz neutral als Aufenthaltsort für Priester gelten, denen die Ausübung der Seelsorge — aus welchen Gründen auch immer — nicht mehr möglich war. Aber in der näheren Umgebung Weiterdingens wußte jeder, daß hier unverbesserliche Priester hinkamen. Deswegen galt ein Aufenthalt in Weiterdingen als ausgesprochen entehrend. Auch kürzere Freiheitsstrafen wurden dort verbüßt, während man bei kleineren Vergehen dazu überging, die Delinquenten über mehrere Jahre hinweg an Priesterexerzitien teilnehmen zu lassen. Die Jesuiten, die 1854 aus Baden ausgewiesen worden waren und bis zu ihrer Vertreibung während des preußischen Kulturkampfes nach Gorheim (Hohenzollern), also in den seit 1850 zu Preußen gehörenden Teü der Erzdiözese, ausgewichen waren, hatten sich bereits 1853 geweigert, Strafexerzitien abzuhalten.121 Insbesondere die ignatianischen Exerzitien galten seit der Ultramontanisierung wieder als einziges Mittel, durch äußere Einwirkungen einen Gesinnungswandel im Sinne einer zweiten Menschwerdung zu bewirken. Gerade einiges von dem, was die Aufklärung als mechanisches Getriebe abgelehnt hatte, wie das Rosenkranzbeten oder das Breviergebet, wurde in Form einer »Gesinnungswandel-Maschine«122 als probates Mittel angesehen, um im Sinne einer »klinischen Heilung« eingesetzt zu werden. »Jeder dieser Bekehrungsapparate befolgt zunächst das Prinzip der Isolierung des zu Bekehrenden von der Außenwelt und überstülpt diese mit detaillierten, kleinlichen Vorschriften, die genau zu beachten sind. Hinter der genauen Regelbeachtung steht das Prinzip der >sitdichen BuchführungWer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«abgebrühte< ist ein weitgehend ungelöstes Problem auch des heutigen staatlichen Strafvollzuges. Die einzige radikale Möglichkeit, das System des geistlichen Strafvollzuges zu verbessern, sah Direktor Beetz darin, die Kurzzeitpönitenten durch Exerzitien während ihres gesamten Aufenthaltes, der vier Wochen nicht übersteigen sollte, nicht nur von den anderen zu isolieren, sondern auch wirklich positiv in ihren Gesinnungen zu beeinflussen. Falls die Strafzeit von vier W o chen nicht ausreiche, müßten sie nach permanenten, strengen ignatianischen Exerzitien nach St. Peter oder in ein Kloster verbracht werden: »Nur durch beständige Exerzitien wäre es möglich, die Diskolorianten vollständig zu isolieren, denn nur dadurch könnten sie verhindert werden, mit jemand Anderem in Berührung zu kommen, als allein mit der Direktion des Hauses. Wäre dann jeweils die Strafzeit auch kürzer, so würde sie aber durch die beständigen Exerzitien um so empfindlicher und würde abschreckender wirken, als eine halb- oder selbst ganzjährige Diskolorstrafe mit den Annehmlichkeiten der Vita Communis. Dazu käme noch der sehr beachtenswerte Vorteil, daß vierwöchentliche Ignatianische Exerzitien viel intensiver auf den betreffenden Büßer einwirken müßten, als die seitherigen dreitägigen Übungen, die namentlich bei gefallenen Priestern in der Regel von sehr oberflächlicher Wirkung sind«. Bei rückfälligen Diskolorianten sollten solche Exerzitien unter erschwerten Bedingungen — ζ. B. Entziehung des Tischweines — wiederholt werden, bzw. Strafexerzitien sollten über mehrere Jahre hinweg jeweils kurze Zeit verhängt werden. Dieser R a t wurde vom Ordinariat ebenso beherzigt, wie der Entwurf der neuen Statuten im wesentlichen genehmigt wurde. Beetz hatte dazu gründlich die Schriften von Karl Borromäus, dem »Reformator des Klerus«, wie er ihn nannte, studiert. Aus diesen Statuten wird im folgenden noch einmal ausfuhrlich zitiert werden, weil der Direktor hier ein Konzept des Strafvollzugs entwickelt, das modernen Grundsätzen ziemlich nahe kommt, nämlich dem der Zwangspsychotherapie von Süchtigen, Triebtätern und anderen Delinquenten. Über die Wirksamkeit solcher Therapien, insbesondere wenn der »Patient« in das Milieu zurückkehrt, das ihn krank gemacht hat, können hier keine Aussagen gemacht werden. Es sei nur an die Argumentation der Jesuiten erinnert, die Strafexerzitien für weitgehend unwirksam hielten, wenn nicht eine gewisse Bereitschaft des Betroffenen bestehe, sich diesen zu unterziehen.

126

Einleitend wurde in den neuen Statuten das Demeritenhaus unter den »besonderen Schutz des unbefleckten Herzens Maria, der Zuflucht der Sünder« gestellt. Die Marienverehrung sollte ab jetzt einen besonderen Stellenwert erhalten. An allen gebotenen Muttergottesfeiertagen sollte vom Vorstand und sämtlichen Priestern des Hauses zu einer passenden Zeit gemeinsam der R o senkranz und die lauretanische Litanei in der Hauskapelle gebetet werden. Zu Patronen des Priesterhauses wurden bestimmt der Apostel Petrus als »leuchtendes Vorbild bußfertiger Priester«, der hl. Conrad, der hl. Franz v. Sales, Karl Borromäus und Vincenz von Paul. Bemerkenswert an der Hausordnung sind die psychologischen Reflexionen und das Operieren mit Schuldgefühlen anstelle der traditionellen Vorstellungen von Zucht und Ordnung, wobei in der Realität wohl das eine das andere nicht ausschloß. »Mehr noch an der äußeren Ordnung und Disziplin soll dem Direktor an der inneren Umwandlung der ihm unterstellten Priester gelegen sein«. 147 D e r Direktor soll durch Liebe Vertrauen gewinnen, vor allem aber durch ein eigenes Beispiel: »Er soll den gefallenen Mitbrüdern nicht so sehr Vorwürfe machen, als vielmehr ein beständiger Vorwurf sein durch seine Tugenden, durch ein zurückgezogenes Opferleben und seeleneifriges Wirken«.148 Nach der neuen Hausordnung wurde nun konsequent zwischen Demeriten (Lebenslänglichen) und Diskolorianten (wieder in der Seelsorge zu verwendenden Priestern) unterschieden. 1884 wurde das Demeritenhaus erneut einer Visitation durch einen R e g i e rungskommissar unterzogen, ohne daß sich daraus besondere Vorkommnisse ergeben hätten. Zehn Jahre später kam es noch einmal zu einem Konflikt mit dem Ministerium, aus dem die Freiburger Kirchenbehörde nun siegreich hervorging. Das Ordinariat bestritt das Aufsichtsrecht des Staates über das D e m e ritenhaus in Weiterdingen, das in den Bereich der inneren Angelegenheiten der Kirche gehöre, und verwahrte sich gegen die Protektion der Diskolorianten und Demeriten durch Regierungskommissare. In einem Schreiben an das Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts wurde die Verwerflichkeit einzelner Diskolorianten geschildert, und man verbat sich insbesondere Visitationen durch untergeordnete Behörden ohne ausdrückliche Anweisung des Ministeriums. Der Präsident des Ministeriums beharrte zwar auf der Aufsichtspflicht des Staates gegenüber kirchlichen Anstalten, »in denen gegen die Freiheit von Personen gerichtete Maßnahmen« zum Vollzug gebracht würden, 149 aber bis 1914 erfolgte keine staatliche Visitation des Demeritenhauses. Direktor Beetz erbat j e d o c h für den Fall einer solchen Maßnahme um Instruktionen. Das Ordinariat wies ihn an, gegebenenfalls zunächst seinem Protest Ausdruck zu geben und bei passiver Haltung alle Vorgänge genau zu beobachten. A u f keinen Fall solle er Unterredungen unter vier Augen zulassen, sondern bei allen Verhören anwesend bleiben. Nicht verhindert werden könnten dagegen Unterredungen außerhalb des Hauses. B e i Hausdurchsuchungen sei

127

nach der Strafprozeßordnung ein schriftlicher Hausdurchsuchungsbefehl vorgeschrieben, den er sich zeigen lassen müsse. Bei Anordnung sanitätspolizeilicher Untersuchungen sei darauf zu achten, daß tatsächlich nur die sanitären Anlagen inspiziert würden und nichts anderes.150 Zum ersten Mal von der Kirchenbehörde wurde das Demeritenhaus schließlich 1902 visitiert und zwar von Erzbischof Nörber persönlich. Zum ersten Mal wurde in diesem Zusammenhang diskutiert, daß es sich bei den Insassen nicht in erster Linie um moralisch zu verurteilende Normbrecher handelte, sondern es wurde differenziert. Entweder handele es sich — so führte es der Direktor der Anstalt gegenüber dem Erzbischof aus - bei den Insassen des Demeritenhauses um psychisch Kranke und Suchtkranke oder um Priester, die ihren Beruf verfehlt hätten. Der Diskurs der Medizin und Psychiatrie begann sich nach der Jahrhundertwende auch im Katholizismus durchzusetzen. Pastoralmedizin und Pastoralpsychologie als moderne Teildisziplinen der Pastoraltheologie, in denen das traditionelle Sündenverständnis um den modernen Krankheitsbegriff ergänzt wurde, setzten sich zwar erst nach dem Ersten Weltkrieg durch;151 auch eine dezidierte Auseinandersetzung der Theologie mit psychotherapeutischen Ansätzen und der Psychoanalyse erfolgte dann - vereinzelt — in den 1920er Jahren. Desto moderner aber muten die Überlegungen des Direktors Beetz an. Nach seinem Besuch in Weiterdingen teilte Erzbischof Nörber dem Direktor seine erschütternden Eindrücke mit, die dringend einer Abhilfe bedürften: »Seit m e i n e m Besuch in Weiterdingen habe ich schwere Sorge u m den Erfolg mit den armen, dort internierten Priestern. Es sind ja lauter geistig schwer Erkrankte, die man mit Liebe und fast götdicher Geduld aus ihrem Elend herausfuhren m u ß . Es sind Leute, die sich selbst nicht verstehen k ö n n e n . Leider sind die armen geistlichen R u i n e n fast ganz sich selbst überlassen.«. 152

Nörber schlug vor, die Insassen nach einem festen Plan arbeiten zu lassen, da sie sonst nur völlig verbittert würden, indem sie sich gegenseitig die »chronique scandaleuse« der Erzdiözese vererben und die Anstalt meistens ungebessert verlassen würden. Erleichtert, daß endlich einmal überhaupt jemand, und jetzt sogar der Erzbischof persönlich, Kenntnis von seiner deprimierenden und schwierigen Aufgabe nahm, führte Beetz seine Diagnose der Demeriten aus, indem er diese in drei Kategorien einteilte: »1. Die geistigen Abnormitäten ..., die m e h r in psychiatrische Anstalten oder Hospitäler gehören. 2. die unglücklichen Priester, die ihren Beruf verfehlt haben. Das sind entschieden die Bedauernswertesten, mit denen ich auch stets das tiefste Mitleid hatte. 3. die dritte Kategorie sind die Schwächlinge u[nd] zwar bibuli, oder luxuriosi, oder beides zugleich«.

Doch auf beiden Seiten blieb es bei Absichtserklärungen. Auf Vorschlag des Erzbischofs wurden zwar ab 1902 die Themen für schriftliche Arbeiten vom 128

Ordinariat vergeben und an dieses eingeschickt, doch in der Regel erfolgten auch von dieser Seite keine Reaktionen. Ein Beichtvater der Anstalt beschwerte sich beim Erzbischöflichen Ordinariat über die demoralisierenden Folgen einer solchen Gleichgültigkeit. Beetz ließ zwar einen Kostenvoranschlag für die Einrichtung einer Buchbinderei in der Anstalt erstellen, aber die Insassen lehnten einen solchen Betrieb ab, weil sie befürchteten, dort Arbeiten für das Erzbischöfliche Ordinariat ohne Honorar verrichten zu müssen. Immer wieder erfolgten heftige Beschwerden über Beetz, immer noch wurde er von den Insassen eines unsitdichen Verhältnisses zu derselben barmherzigen Schwester verdächtigt 153 wie bereits 1882. 1910 erfolgt eine Visitation der Anstalt durch Domkapitular Brettle, die keine der Vorwürfe bestätigte, doch Beetz resignierte aus Gesundheitsgründen und ließ sich pensionieren. Der neue Direktor Fehringer' 54 sorgte dafür, daß den Demeriten Arbeiten auf Honorarbasis übertragen wurden. Nochmals tauchte der Plan auf, eine Buchbinderei einzurichten, aber eine solche Tätigkeit erschien den Insassen zu »sträflingsmäßig«. Schließlich übernahmen sie für Buchverlage bezahlte Lektorats- und Korrekturarbeiten, 1912 wurde ihnen die Persolvierung von Sacra gegen Stipendien übertragen. Aber weder die Jesuitenexerzitien vier mal im Jahr, noch die bezahlte Arbeit erhöhten die Zufriedenheit unter den Insassen wesentlich. Der neue Direktor machte sich Gedanken um neue Statuten, in denen wieder stärker der Uberwachungs- und Strafgedanke als der der Besserungs- und Beschäftigungstherapie vorherrschte. Durch einen Benediktinerpater hatte er Kenntnis von den Statuten der Korrektionshäuser anderer Diözesen erhalten, die sämtlich strengere Bestimmungen enthielten als die von Weiterdingen. Ohne weiteres könnten ζ. B. in anderen Diözesen Insassen ohne Sustentationsgehalt ausgeschlossen werden, wenn sie sich nicht an die Hausordnung hielten; Post werde überall kontrolliert. Obwohl man insgesamt für die Wahrnehmung von Grundrechtsverletzungen sensibler wurde, war die Briefzensur in den Statuten von 1883 immer noch vorgesehen. Ordinariatsassessor Rösch, 1 5 5 Doktor beider Rechte, schrieb hier an den Rand: »Das geht zu weit«. 156 Noch im selben Jahr bat Fehringer aus Gesundheitsgründen um seine Enthebung vom Amt. Sein Nachfolger wurde Direktor Geiger, 157 mit dessen Amtstätigkeit die Q u e l lenüberlieferung abbricht. Insgesamt war die Frequentierung Weiterdingens nicht sehr hoch, da hier offenbar nur ganz schwere Fälle als Demeriten untergebracht wurden. 1872 wurden dort 13 Insassen gezählt, 1874 vier, 1879 wurde das Gehalt der Beichtväter wegen »Entvölkerung« bis auf weiteres sistiert, 1901 wurde nur ein einziger Insasse gezählt, während sich die Zahl 1911 auf mindestes vier erhöht hatte. 158 Insgesamt waren, wie später zu zeigen sein wird, die Deliktquoten des Klerus der Erzdiözese stark zurückgegangen. Über die Diskolorianten, die sich in Weiterdingen nur kurzfristig aufhielten, konnten ebensowenig Zahlen ermittelt werden, wie über die im Diskolorium St. Peter. Aus naheliegenden Gründen hüllte sich die Kirchenbehörde über die Strafanstalten für ihren Klerus in Schweigen und versuchte, die staatliche Kontrolle dieser Anstalten zu unterbinden. Für das Diskolorium in St. Peter gelang 129

dies von Anfang an, nämlich seit 1842, während dasselbe Ziel für das Demeritenhaus Weiterdingen erst 1894 erreicht wurde. Der badische Staat betrachtete die Verhängung von Freiheitsstrafen für katholische Priester seit der Revolution 1848 als innere Angelegenheit der Kirche. Bereits seit dem badischen Kirchenstreit von 1853 wurden den Ministerialbehörden Kirchengerichtsurteile, die längere Freiheitsstrafen vorsahen, nicht mehr zur Genehmigung vorgelegt. Der Staat akzeptierte dies im Interesse der Zusammenarbeit von Staat und Kirche. Selbst während des Kulturkampfes verzichtete die Regierung Jolly auf die Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze im Bereich des kirchlichen Strafvollzugs. Die Betroffenen selber konnten nur um den Preis der Exkommunikation den »recursus ab abusu« einlegen. Zu der »freiwilligen« Unterwerfung unter die von der Kirchenbehörde verhängten Strafen gab es nur die Alternative, die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu verlieren, denn Laisierungen wurden vor dem II. Vatikanum noch nicht praktiziert. Nur ganz wenige Priester wählten diesen Weg, wobei die meisten sich häufig noch auf dem Totenbette mit der Kirche aussöhnten, damit ihr abweichendes Verhalten bereuten und sich der Macht der Amtskirche unterwarfen.

6. Die soziale und regionale Herkunft des Klerus der Erzdiözese Freiburg Schon in den 1840er Jahren hatte der Beruf des Priesters für städtische und gebildete Schichten der Bevölkerung seine Attraktivität verloren. Im Verlaufe der Ultramontanisierung verhielt sich der Wandel in der Sozialstruktur des Klerus diametral entgegengesetzt zum sozialen Wandel in der Gesamtbevölkerung. Urbanisierung und Industrialisierung ließen den städtischen Priesternachwuchs versiegen — dieser entstammte am Ende des 19. Jahrhunderts fast nur noch traditionalistischen Milieus. Sozialdaten der katholischen Priester des 18. Jahrhunderts sind spärlich überliefert. Für den südwestdeutschen R a u m gibt es eine einzige statistische Analyse, 159 nach der die überwiegende Anzahl der Alumnen des Priesterseminars Meersburg zwischen 1735 und 1777 aus städtischen und gebildeten Kreisen stammte. Genauere Zahlen Hegen hier nur für die Weihejahrgänge 1735 bis 1766 vor, von denen immerhin fast zwei Drittel, nämlich 63 %, aus Städten kamen; die meisten aus Freiburg, Konstanz, Rottenburg, Rottweil, Überlingen und Villingen. Die vier erstgenannten Städte hatten Jesuitengymnasien, Villingen ein Franziskaner- und ein Benediktinergymnasium, die Reichsstadt Uberlingen seit dem 13. Jahrhundert eine Lateinschule und von 1685 bis 1803 eine Pfarrschule, die von Franziskanern geführt wurde und zeitweise mit theologischen Kursen den R a n g eines Lyzeums einnahm. Aufgrund ungenauer Angaben über die Berufe der Väter konnte die soziale Herkunft der Alumnen des Priesterseminar Meersburg nur relativ summarisch eingegrenzt werden. Sozial 130

entstammten die Priesteramtskandidaten »den städtischen Mittelschichten und der bäuerlichen Oberschicht, die ihren Söhnen das erforderliche Studium in den Städten ermöglichen konnten«. 160 Als obere Grenze der sozialen Herkunft wurde so der niedere Adel, als untere die der städtischen Mittelschichten markiert. Zu erklären ist dieser Sozialstruktur des niederen Klerus im 18. Jahrhundert damit, daß auf dem Lande der Besitz von Vermögen eine Voraussetzung dafür war, einen Privadehrer für den obligatorischen Lateinunterricht zu engagieren. Diese Privatlehrer waren meist selber Kleriker und besserten damit ihr Einkommen auf. Unter den Städten wiederum waren diejenigen, die über eine höhere Lehranstalt verfügten, als Herkunftsorte deutlich überrepräsentiert. Bemerkenswerterweise kam damit der Priesternachwuchs im 18. und frühen 19. Jahrhundert vorwiegend aus Städten, in denen es höhere Schulen gab, am Ende des 19. Jahrhunderts dagegen fast ausschließlich aus ländlichen Regionen. Dieser Unterschied ist umso bedeutsamer, als das 19. Jahrhundert ja gerade durch die Urbanisierung geprägt war. Seit Ende des 18. Jahrhunderts waren die Geburtsorte des Klerus der Erzdiözese Freiburg vollständig zu ermitteln, die Berufe der Väter in ausreichender Zahl erst für die ab 1830 geweihten Priester.161 Es stellte sich heraus, daß für das Alltagsverhalten von Priestern Generationszugehörigkeit und regionale Herkunft weitaus bedeutsamere Indikatoren waren als die soziale Herkunft. Von der Generationszugehörigkeit ist der Wandel der Sozialstruktur nicht zu trennen. Der sozialen Umstrukturierung des Klerus der Erzdiözese Freiburg ging jeweils eine Nachwuchskrise voraus, die nicht nur zu einem gravierenden Priestermangel führte, sondern auch zu neuen Rekrutierungsmustern für den Beruf des Geistlichen. Da in den späteren Kapiteln aus pragmatischen Gründen die Generationszugehörigkeit nach den Jahren bestimmt wurde, in denen die Priesterweihe erfolgte, wird dies auch hier der Fall sein. Dies schien auch deswegen vertretbar zu sein, weil im 19. Jahrhundert - mit ganz geringfügigen Abweichungen — katholische Theologen im Alter zwischen 24 und 25 Jahren zum Priester geweiht wurden. Für alle untersuchten Kategorien abweichenden Verhaltens wurden die Differenzen zwischen Geburtsjahr und Weihejahr der betreffenden Priester ermittelt; diese waren vollkommen unerheblich. Die Weihejahre wurden wiederum in Jahrzehnten zusammengefaßt. Obwohl hier im einzelnen die Angabe kürzerer oder anderer Jahresintervalle aussagekräftiger gewesen wäre, wurden wegen der Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit in der Darstellung die 10-Jahres-Intervalle vorgezogen. In den Jahrzehnten bis 1830, in den 1840er Jahren und in den 1870er Jahren entschlossen sich kaum junge Männer, den Beruf des Geistlichen zu ergreifen, während die 1830er Jahre, die Zeit zwischen Mitte der 1850er und Ende der 1860er Jahre sowie — nach Ende des Kulturkampfes — die Epoche des wilhelminischen Deutschlands durch hohe Nachwuchszahlen geprägt war. 162 Dies spiegelt sich in der folgenden Tabelle wider:

131

Der Klerus der Erzdiözese nach der Priesterkartei EAF Weihejahrzehnte

N

1770-1779 1780-1789 1790-1799 1800-1809 1810-1819 1820-1829 1830-1839 1840-1849 1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 Summe

74 142 218 270 181 397 446 222 388 466 270 209 572 3855

1,9 3,7 5,7 7,0 4,7 10,3 11,6 5,8 10,1 12,0 7,0 5,4 14,8 100,0

a) Das Stadt/Landgefälle Waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchschnittlich 45,9 % des badischen Klerus in Ortschaften unter 2000 Einwohnern geboren, so waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits 60,1 %, in den 1870er Jahren stammten infolge des Kulturkampfes sogar 70,2 % der Priester aus dörflichem Milieu. Dagegen lebten 1864 noch 74 % aller Einwohner in Landgemeinden, und 1910 betrug dieser Anteil nur noch 53 %. Aus Städten mit mehr als 5000 Einwohnern kamen entsprechend zunächst ca. 30 % bis 40 % aller badischen Priester, im letzten Drittel des Jahrhunderts nur noch zwischen 10 % und 20 %. Es soll auch hier keine statistische Genauigkeit vorgetäuscht werden, die aufgrund der vorliegenden Zahlen und statistischen Methoden nicht möglich war, bzw. nicht notwendig erschien. Der folgenden Tabelle wurden die Einwohnerzahlen aller Gemeinden nach der Volkszählung von 1880 zugrunde gelegt, d. h. der dynamische Faktor des Bevölkerungswachstums und der Urbanisierung konnte hier nicht ganz korrekt berücksichtigt werden. 163 U m die Ungenauigkeiten, die durch Nichtberücksichtigung des Wachstumsfaktors — vor allem der Städte — entstanden, abzugleichen, wird die Anzahl der Priester, die im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den größten Städten Badens stammten, unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums dargestellt. Vor allem in Amts-, Industrie- und Großstädten nahm der Priesternachwuchs im Laufe des Jahrhunderts — trotz des Bevölkerungswachstums — auch in absoluten Zahlen stark ab. Umgekehrt proportional verhielt sich diese Entwicklung — mit Ausnahme der Nachwuchskrise der Kulturkampfzeit, in der auch die absoluten Nachwuchszahlen in den ländlichen Gemeinden stark sanken — auf dem Lande. Differenziert und verstärkt wurde diese Entwicklung noch durch das Nord/Südgefälle. 164 Aus mittelgroßen Städten Südbadens, 132

Die regionale Herkunft des Klerus der Weihejahre 1790-1914 (N=4670) nach Größe der Geburtsorte (1880) in Prozent

1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910

-1760-1809-181» -1828-1828-1848 -1868-1888-1878 -1888-1888-1808 -1814 Η

unter 6 0 0 E l n w .

EEHJ 2 0 0 0 - 6 0 0 0 E l n w .

7ΖΔ

600 - 2000 Elim.

ES3

mehr ale 6 0 0 0 E l n w .

den Hochburgen des katholischen Liberalismus, stammten zunehmend relativ und absolut weniger Geistliche als aus vergleichbaren Städten Mittel- und Nordbadens. Gerade für die Städte kann die schlechtere Infrastruktur — insbesondere das höhere Schulwesen betreffend 165 — des Südens keine Erklärung für dieses Phänomen bieten. Hier müssen die kirchenpolitischen und politischen Einstellungen der Bewohner südbadischer Städte den entscheidenden Faktor für den signifikant niedrigeren Anteil am Priesternachwuchs der Erzdiözese Freiburg darstellen. Dieser Befund zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Zahlenangaben für die einzelnen Städte gesondert für die Jahre betrachtet, in denen der Priesternachwuchs insgesamt besonders zahlreich war.166 Anzahl der Neupriester mit Geburtsort Konstanz Bevölkerung insgesamt

Weihejahrzehnt

N

1812: 4 503 1 8 5 2 : 7 556

1820-1829

1864: 8 516 1875: 12 103 1880: 13 380

1830-1839 1840-1849 1850-1859

21 19

Katholikenanteil 1875: 8 1 , 3 % 1880: 79,6 % 1910: 74,6 % Bevölkerungszunahme

27,3

8 9

24,7 10,4 11,7

1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899

10 4 2 4

13,0 5,2 2,6 5,2

Summe

77

100,0

1812/1880: 196,6 %

133

Die Zahlen des Priesternachwuchses der Stadt Konstanz zeigen eindeutig, daß die rapide Abnahme bei der Wahl des Priesterberufes hier nicht mit geringen Bildungschancen, d. h. vor allem weniger höheren Schulen im ländlichen Bereich zusammenhängt; in Konstanz selber gab es immer genügend höhere Schulen, im Gegensatz zum gesamten südbadischen Raum, der gegenüber Nordbaden erheblich benachteiligt war.167 Die absolute und relative Abnahme des Priesternachwuchses in Konstanz hing eindeutig mit den liberalen Optionen der Konstanzer Bürger zusammen. Hier verloren die Nationalliberalen bei den Reichstagswahlen erst 1890 ihre absolute Mehrheit; das Zentrum erreichte jedoch infolge des Kulturkampfes seit 1877 immerhin mehr als 20 % der Stimmen und bewegte sich in der Folgezeit zwischen 13,5 % (Septennatswahlen 1887) und 39,1 % (1903).168 Selbst am Sitz des Erzbischofs machten sich die säkularisierenden Einflüsse des Stadtlebens überdeutlich bemerkbar. Ende des Jahrhunderts, als die Nachwuchskrise in der Priesterrekrutierung überwunden war und die Weihequoten höher waren als in den 1830er Jahren, hatte die Anzahl von Priesterberufen in absoluten Zahlen den Stand der 1850er Jahre wieder erreicht, während die Bevölkerung um mehr als das Doppelte angewachsen war. Anzahl der Neupriester mit Geburtsort Freiburg Bevölkerung insgesamt

Weihejahrzehnt

N

1820-1829

21

17,9

1830-1839 1840-1849

24

20,5 12,0

1812: 10 108 1852: 16 441 1864: 19 167 1875: 30 595 1880: 36 380 1895: 53 118

1850-1859 1860-1869

14 17 18 5

14,5 15,4 4,3

1910: 83 324

1870-1879

Katholikenanteil:

1880-1889

1

0,9

1875: 74,5 %

1890-1899

17

14,5

1880: 78,1 % 1910: 6 8 , 7 % Bevölkerungszunahme

Summe

100,0

1812/1880: 259,9 %

Aus Mannheim, der einzigen Großstadt Badens, kamen dagegen absolut und relativ erheblich weniger Neupriester, aber auch hier folgte die Entwicklung dem Trend der anderen Städte, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt.169 U m die Jahrhundertwende hatten hier die Neupriesterquoten noch nicht einmal den Stand der 1830er Jahre erreicht, wobei man hier bedenken muß, daß die absoluten Zahlen insgesamt so niedrig sind, daß eine statistische Ausdifferenzierung kaum mehr aussagekräftig ist. Bei den Mannheimern, die sich für den Priesterberuf entschieden, handelte es sich um individuelle Ausnahmen. 134

Anzahl der Neupriester mit Geburtsort Mannheim Bevölkerung insgesamt

Weihejahrzehnt

N

1820-1829 1830-1839

4 8 3

1 8 1 2 : 1 8 213 1852: 24 316 1864: 30 551 1875: 53 465

4 4

12,9 25,8 9,7 12,9 12,9

1870-1879

0

0,0

1880-1889 1890-1899

3 5

9,7 16,1

Summe

31

100,0

1895: 91 119 1910: 193 902

1840-1849 1850-1859 1860-1869

Katholikenanteil 1875: 43,7 % 1895: 43,3 % 1910: 42,8 % Bevölkerungszunahme 1812/1880: 1 9 3 , 5 %

b) Die Sozialstruktur des Klerus Während von den Vätern der zwischen 1830 und 1840 geweihten Priester nur 23,7 % in der Landwirtschaft tätig waren, betrug dieser Anteil in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg 44,8 % und hatte sich damit beinahe verdoppelt. Die folgende Grafik zeigt den Wandel in der sozialen Herkunft in groben Linien.170 Entsprechend dem Verfahren des matched sample171 wurden im Rahmen dieser Arbeit nur die Berufe der Väter von Kontrollpersonen und Devianten erfaßt.172 Aus diesen Stichproben wurde dann auf die Gesamtmenge hochgerechnet. Je höher der Prozentsatz der Devianten und damit der Kontrollpersonen war, desto genauer sind auch die Hochrechnungen, auf denen meine Angaben basieren. Da die Berufe der Väter in den Stichproben einschließlich der Weihejahrgänge 1899 erhoben wurden, konnten die Ergebnisse der Hochrechnung für den Zeitraum der Weihejahrgänge 1870 bis 1899 mit der vollständigen Erhebung Gerhard Merkels173 für diesen Zeitraum verglichen werden. Wegen der geringen Devianzquoten gerade in diesem Zeitraum variierten die Angaben um plus/minus 3 %. Trotzdem wurden für die folgende Grafik die genaueren Angaben von Merkel übernommen. Um alle Zahlen vergleichbar zu halten, wurde die Einteilung der Berufe von Merkel übernommen, ebenso wie die regionale Einteilung. Der besseren Übersichtlichkeit halber wurden diese dann nicht nach den wirtschaftlichen Sektoren der Berufszählung zusammengefaßt, sondern nach einem gemischten Verfahren. Landwirte, Gutsbesitzer und bäuerliche Tagelöhner wurden unter »Landwirtschaft« zusammengefaßt, wobei die Anzahl der beiden letzten Berufsgruppen unerheblich war. Die Größe der Betriebe wurde nicht berücksichtigt. »Handwerker« wurden unabhängig von ihrem Status als Meister oder Gesellen betrachtet, insbesondere weil dies aus den Berufsangaben selten hervorging. Unter den »Gebildeten«174 stellten Lehrer die Hauptgruppe. Dazu 135

Die soziale Herkunft des Klerus (N=2328) Beruf des Vaters in % der Weihejahre 1830-1914 (1830-1869-Stichprobe) 100% 75% -

50%-

25%-

o%-

1830 1840 1860 1870 1880 1890 1900 1910 -1839 -1848 1850 -1869 -1889 -1879 -1Θ89 -1899 -1909 -1914

Υ / Λ Landwirtschaft SSI

-Gebildete·

Qffl

Handwerker



Reet

^ H

Handel u.Qastwirte

wurden noch Arzte und Ingenieure, mittlere Beamte, Gymnasialprofessoren, ein einziger Universitätsprofessor sowie Angehörige der Oberschicht gezählt. Darunter wurden die wenigen Angehörigen des gehobenen Adels, Privatiers und ein höherer Offizier gerechnet. Die Anzahl all dieser Berufsangaben war so unerheblich, daß auf eine Überprüfung des Bildungsgrades solcher Väter verzichtet wurde. Außerdem wurde der einzige Fabrikant dieser Gruppe zugeordnet, obwohl dies genaugenommen nicht vertretbar ist. Unter »Rest« wurden zusammengefaßt: Untere Beamte wie Eisenbahnschaffner, Grenzpersonal und Postschalterbeamte; kleine Angestellte, wie Kanzleigehilfen und Kanzlisten; einfache Soldaten, sowie noch zwei andere Gruppen, die nichts miteinander gemein haben, als ihre geringe Anzahl, nämlich Arbeitersöhne und uneheliche Kinder. Weil der Anteil dieser heterogenen Gruppe vor allem in den 1860er Jahren stark zunimmt, soll die Entwicklung in der folgenden Tabelle noch etwas genauer nachgezeichnet werden, wobei deudich wird, daß der Anteil der Arbeitersöhne im gesamten Untersuchungszeitraum verschwindend gering war.175 Die sozialen Rekrutierungsmuster des Klerus konnten durch die Kirchenbehörde nicht direkt gesteuert werden. Als die Gebildeten, in erster Linie mittlere Beamte und Lehrer, ihre Söhne nicht mehr Pfarrer werden ließen, nahm zunächst der Anteil der niedrigsten Statusgruppen des tertiären Sektors (Eisenbahnschaffher, Grenzpersonal, Postschalterbeamte, Kanzleigehilfen, Schreiber) relativ zu, der in der Grafik unter »Rest«176 zusammengefaßt wurde. Absolut sank der Priesternachwuchs aus allen Schichten während des Kulturkampfes ganz rapide ab. Erst nach Ende des Kulturkampfes konnte die Kirche in einem konsolidierten katholischen Milieu, das sich scharf nach außen abgrenzte, neuen Priesternachwuchs finden. 136

Die soziale Herkunft des Klerus der Erzdiözese Freiburg 1830 - 1900 (Stichprobe) Beruf des Vaters unehelich Arbeiter Landwirtschaft

N 2,6

30 15 244 286 32

1,3 21,1 24,8 2,8

Handel

37

3,2

Diener Verwaltung, Staat (niedrig) Verwaltung, Staat (mittel)

15

1,3 4,9

Handwerker Gastwirte

Lehrer Arzte, Ingenieure Oberschicht Rest Unbekannt Summe

56 34 72 26 7 17

2,9 6,2 2,3

283

0,6 1,5 24,5

1154

100,0

Der katholische Pfarrer entfernte sich nicht nur in seinem Selbstverständnis, sondern auch in seiner sozialen Herkunft vom bürgerlich-liberalen Milieu. Vom privilegierten Stand mit Beamtenstatus entwickelte er sich zum Repräsentanten der einfachen katholischen Landbevölkerung und des alten Mittelstandes. Weder an der Urbanisierung noch an der Industrialisierung konnte das entstehende katholische Milieu partizipieren. c) Die Konfessionsmischung Die folgenden Angaben über die konfessionelle Mischung der Geburtsorte ist nur bedingt aussagekräftig, weil das jeweilige konfessionelle Umfeld nicht mitberücksichtigt werden konnte. Die folgenden Zahlen sagen also nichts darüber aus, ob es sich etwa bei den Orten um katholische Diasporagemeinden, um Orte in vorwiegend katholischen Regionen handelte oder um gemischtkonfessionelle Gebiete. 177 Da aber die errechneten Zahlen auch für sich sehr aussagekräftig sind, werden sie in der folgenden Tabelle wiedergegeben. Die Tabelle zeigt deutlich, daß der Priesternachwuchs aus gemischtkonfessionellen Orten konstant abnimmt, nämlich von mehr als 50 % um 1800 auf weniger als 30 % um 1900. Parallel dazu steigen die Rekrutierungsquoten aus rein katholischen Ortschaften, d. h. in der Regel Dörfern in infrastrukturell benachteiligten Regionen, vor allem nach der Jahrhundertmitte stark an. Ein besonders auffälliger Befund zeitig sich in den (vorrevolutionären 1840er Jahren, in denen die Priesterrekrutierung in eine große Krise geriet. In dieser Zeit stieg die Rekrutierungsquote aus Diasporagemeinden überdurchschnittlich stark an, nämlich von 5,7 % auf 11,0 %, d. h. fast um das Doppelte, während die Q u o t e aus rein katholischen Orten ihren niedrigsten Stand überhaupt, nämlich 38,2 % erreichte. Diese Befunde zu interpretieren, ist nicht ganz einfach. Sie weisen jedoch daraufhin, daß 137

es der katholischen Kirche bei Nachwuchskrisen noch am ehesten gelang, Reserven in Orten zu mobilisieren, in denen Katholiken eine Minderheit darstellten. Bei großem Priestermangel, wie in den 1840er Jahren, stieg der Prozentsatz der Diasporagemeinden sprunghaft an. Die Konfessionsmischung an sich hat dagegen Säkularisierungsprozesse eher befördert. Das spricht für die am Anfang dieser Arbeit geäußerte Vermutung, daß es Überfremdungsängste in bezug auf Protestanten in Baden kaum gab. Die Milieubildung erfolgte also verstärkt entweder in der Diasporasituation oder in ländlichen Regionen, die von der Industrialisierung nicht profitiert hatten. Herkunft des Klerus der Erzdiözese Freiburg nach Katholikenanteil der Geburtsorte N 1790-1799 1800-1809 1810-1819 1820-1829 1830-1839 1840-1849 1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899

12 11 9 13 23 19 28 34 19 16 66

0 - 50% % 8,1 5,2 5,9 3,6 5,7 11,0 8,7 7,9 7,6 9,1 12,6

5 0 - 95% N %

9 5 - 100 % N %

75 88 72 180 185 88 142 171 76 51 154

61 112 72 167 193 66 152 225 155 108 302

50,7 41,7 47,1 50,0 46,1 50,9 44,1 39,8 30,4 29,1 29,5

41,2 53,1 47,1 46,4 48,1 38,2 47,2 52,3 62,0 61,7 57,8

Summe N 148 211 153 360 401 173 322 430 250 175 522

100,0 100,0 100,0 100.0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

d) Das Nord/Südgefälle Generell läßt sich ein regionalspezifischer Trend in der Rekrutierung des Priesternachwuchses von Süden nach Norden zeigen. Hier dürften eine größere Bereitschaft zur Ultramontanisierung in den gemischt-konfessionellen Regionen des Nordens und eine zunehmende infrastrukturelle Benachteiligung Südbadens zusammen kommen. Besonders prägnant zeigt eine Zusammenfassung der ermittelten Daten nach drei Großregionen, daß die Strukturen der Priesterrekrutierung auch politische Optionen deutlich machen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint vor allem der Standort des Priesterseminars und die eher städtische Herkunft eine Rolle gespielt zu haben. Aus Nordbaden kam ein relativ geringer Anteil des Priesternachwuchses. Den deutlichsten Bruch markiert aber der politische Epochenumbruch. Vor der Revolution von 1848/49, deren Scheitern auch die offensive Ultramontanisierung einleitet, stammten etwa 14,1 % des Priesternachwuchses aus der liberalen und teilweise revolutionären Bodenseeregion, in den 1850er Jahren nur noch 8,2 %. Ganz umgekehrt liegen die Verhältnisse im badischen Mittelland; hier stieg die Rekrutierungsquote von 11,9 % in den 1840er Jahren auf 18,2 % in den 1850er Jahren. Während des Kulturkampfes nahm die 138

Q u o t e der Neupriester, die aus den ländlichen Regionen Nord- und Mittelbadens stammten, deutlich ab, während die in Südbaden leicht anstieg. Im preußischen Teil der Erzdiözese stieg der Anteil der Neupriester dagegen relativ an; dies ist ein Hinweis auf die zeitlich verschobenen Bildungen des katholischen MiHeus, das sich in Hohenzollern (Preußen) ζ. B. während des preußischen Kulturkampfes deutlich herausbildete, und zwar gegen den Trend in Südbaden. In den südlichen, zu Baden gehörigen Dekanaten der Erzdiözese erfolgte die Milieubildung erst nach der Neubegründung der badischen Zentrumspartei (1888). Deutliche Auswirkungen auf die Rekrutierung des Priesternachwuchses waren im Untersuchungszeitraum nicht mehr zu erwarten. Der Klerus der Erzdiözese Freiburg: Regionale Herkunft nach Weihejahrzehnten (1790—1899) Nordbaden u. Mittelland N 1790-1799 1800-1809 1810-1819 1820-1829 1830-1839 1840-1849 1850-1859 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 Summe

Südbaden N

N 45,9

65 75

43,9 35,2

64

40,5

87

158 182

42,5 44,3 48,0 56,5 56,7

168 198 79 111

45,2 48,2

85 186 247 124 104 321 1611

68 115

Hohenzollern

54,0 55,1

15 23

10,1 10,8

7

4,4

44,6 33,7

46 31 13 32

12,4 7,5 7,3

49,0 58,8 60,6

156 102 57 174

35,8 40,3 32,2 32,8

33 27 16 35

9,7 7,6 10,7 9,0 6,6

48,7

1315

42,5

278

8,7

7. Der Priestermangel in Baden Am schärfsten äußerte sich die Wandlungs- und Schrumpfungskrise des Katholizismus zwischen 1840 und 1890 in einem mehr oder weniger gravierenden Priestermangel. Während 1836 nur 58 von 843 Pfründen und 224 Vikarsstellen der Erzdiözese Freiburg nicht besetzt werden konnten, so waren es 1847 schon 213 von insgesamt inzwischen 1121 Priester- und Hilfspriesterstellen zusammen. Durch den steigenden Nachwuchs der 1850er und 1860er Jahre sank die Zahl der vakanten Stellen im Jahre 1865 auf 144, stieg dann aber im Jahre 1886 noch über das Niveau des Jahres 1847 1886 konnten von 1114 Stellen insgesamt ein Viertel (226) 178 nicht mehr besetzt werden. Die folgende Grafik zeigt in absoluten Zahlen die jeweilige Anzahl der Neupriester pro Weihejahrgang, die in der Erzdiözese tätig waren. 139

Der Klerus der Erzdiözese Freiburg der Weihejahre 1800-1914 in absoluten Zahlen (N=3421)

Trotz der massiven Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche und trotz der zunehmenden Politisierung des Klerus zweifelte die Regierung zu keiner Zeit an der Notwendigkeit einer ausreichenden Versorgung der katholischen Bevölkerung mit Priestern. Im Jahre 1847 stellte die badische Regierung die Summe von 3600 fl. als Stipendienhilfe für badische Theologiestudenten zur Verfügung, die noch im selben Jahr wegen der hohen Anzahl von Bewerbern auf 18.000 fl. jährlich angehoben wurde. 179 Der badische Kulturkampf stellt insofern eine Ausnahme dar, als man einen vorübergehenden Priestermangel bewußt in Kauf nehmen wollte, um die katholische Kirche zu zwingen, die staatliche Souveränität anzuerkennen. Schon 1844 hatte die badische Regierung die Hauptursache des Priestermangels im gesellschaftlichen Wandel von einer agrarisch-ständischen zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gesehen: »Die äußeren Reize der Kirchenämter sind großenteils verschwunden, der Entbehrungen sind viele, und die irdische Belohnung ist nur gering. In der aufblühenden Industrie und in den technischen Fächern haben sich für die gebildete Jugend reichliche Quellen einer weit behaglicheren Existenz eröffnet, als jene eines katholischen Geistlichen, der den Pflichten und Entsagungen seines Standes nachkommt«.180 Die badische Kirchenbehörde mußte zu neuen Mitteln greifen, um den potentiellen Priesternachwuchs aus der ärmeren, ländlichen, katholischen Bevölkerung zu aktivieren. Dies geschah in breitem Umfang durch Stipendien, Stiftungen und die Schaffung geschlossener Anstalten, in denen schon Knaben unter klerikaler Leitung auf den Priesterberuf vorbereitet wurden. Die zwangsläufige Folge war, daß — im Vergleich zu der ersten Jahrhunderthälfte — vor allem seit den 1880er Jahren ein ganz anderer Pfarrertypus überwog. Aus dem Geistlichen, der eher die reicheren und städtischen Schichten der ka140

tholischen Bevölkerung repräsentierte, wurde der arme Priester vom Lande. Dieser war in der Regel der Sohn einer kinderreichen Familie, für den kirchliche Stipendien und Priesterinternate die einzige Möglichkeit darstellten, überhaupt einen akademischen Beruf zu ergreifen. Wurde er schließlich doch nicht Priester, mußte er häufig Stipendien oder Darlehen frommer Verwandter zurückzahlen. Dazu kam der psychische Druck der Familie, meistens der Mutter. Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang, daß es auch Kontinuitäten in der Rekrutierung des Priesternachwuchses gab, die statistisch schwer erfaßbar sind. Erstens gab es ausgesprochene Priesterdynastien, d. h. Pfarrer, die einem Neffen Theologiestudium und Priesterausbildung finanzierten, was relativ häufig vorkam; zweitens gab es eine Reihe lokaler, frommer Stiftungen, die einem Gemeindeangehörigen das Studium finanzierte. Solche traditionellen Rekrutierungsmuster blieben — wenn auch in abgeschwächter Form — wohl während des gesamten 19. Jahrhunderts wirksam. Die Möglichkeiten für die Freiburger Kirchenbehörde dagegen, auf breiter Ebene wirksame Mittel gegen den Priestermangel ergreifen zu können, waren ein Ergebnis der restaurativen politischen Wende nach der Revolution. Den entscheidenden Hebel sah die katholische Kirche in der Errichtung von geschlossenen Knabenkonvikten alleine zum Zwecke der Heranziehung künftiger Theologiestudenten, wie sie schon im Konzil von Trient gefordert worden waren. Eine solche Anstaltserziehung, insbesondere die Verpflichtung Unmündiger für den späteren Priesterberuf, erschien Liberalen und badischen Regierenden des Vormärz gleichermaßen inhuman und indiskutabel; sie wurde deshalb kategorisch abgelehnt. Zwar wurde 1845 in Freiburg von Erzbischof Hermann v. Vicari ein privates Internat für zukünftige Theologiestudenten errichtet, das seit 1850 offiziell als Erzbischöfliches Knabenseminar geführt werden konnte; staatlich anerkannte Internate für den Priesternachwuchs konnten aber erst auf Grund des Oktobergesetzes von 1860 gegründet werden, das den Kirchen das Recht der freien Erziehung des Klerus einschließlich der Errichtung geistlicher Studienanstalten zugestand.181 Diese hatten für die Rekrutierung der Priester eine doppelte Funktion. Zum einen ermöglichten sie in der Regel den Söhnen ländlicher Schichten überhaupt den Besuch einer höheren Schule, zum anderen wurde eine klerikale Anstaltserziehung Grundlage zur Erziehung eines Priesters nach ultramontanem Bilde, der so schon frühzeitig den Versuchungen und Einflüssen der Welt entzogen werden konnte. Schon der Priesternachwuchs der 1870er Jahre war zu fast einem Drittel in solchen Internaten aufgewachsen; in der ersten Hälfte der 1880er Jahre entstammte fast die Hälfte der wenigen neu geweihten Priester diesen Instituten. Die Schließung aller Erzbischöflichen Konvikte für Neuzugänge an Schülern und Theologiestudenten während des Kulturkampfes im Jahre 1874 hatte katastrophale Folgen. Zwischen 1875 und 1886 sank die Zahl der Neupriester noch unter das Niveau der 1840er Jahre. Nach Ende des Kulturkampfes folgte eine neue Generation Geistlicher, die sich in bezug auf die soziale und regio141

nale Herkunft deutlich von den Generationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschied. Noch deutlicher wird dieser stark ausgeprägte Trend, wenn man die Sozialstruktur der Alumnen des Priesterseminars Meersburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinzunimmt. 182 Die Rekrutierung des Priesternachwuchses verschob sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Ortsgröße ganz deutlich von den Städten auf das Land, in sozialer Hinsicht von den städtischen Mittelschichten auf die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung und regional vom Süden nach Norden. 183

Zusammenfassung Die Sozialisation des Priesternachwuchses an den badischen Mittelschulen und an der Universität Freiburg war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch stark von aufklärerischem Gedankengut und zunehmend von den liberalen Grundeinstellungen der Lehrkräfte bestimmt. Im Rahmen der Ultramontanisierung versuchte die erzbischöfliche Kirchenbehörde demgegenüber, zumindest für zukünftige Kleriker, eine streng katholische Erziehung durchzusetzen, die idealiter in geschlossenen Anstalten stattfinden sollte. Dies gelang vor 1848/49 nur ausnahmsweise. Der Priesternachwuchs rekrutierte sich - entgegen dem Urbanisierungstrend der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — immer mehr aus dörflichen Gemeinden und kleinen Landstädten. Unter den Einwohnern von Ortschaften, in denen die Lebensverhältnisse unter dem Einfluß der Bürokratisierung einerseits, der Industrialisierung andererseits, einem deutlichen säkularen Wandel ausgesetzt waren, nahm die Quote des Priesternachwuchses relativ zur Bevölkerungsentwicklung rapide ab. Im Großen zeigt der soziale Strukturwandel des badischen Klerus a) eine Entbürgerlichung, d. h. den Verlust gebildeter und städtischer Schichten, b) eine Nichtintegration des gesamten Sektors industrieller Produktion (im Untersuchungszeitraum fanden sich nur insgesamt 20 Söhne von Industriearbeitern und noch weniger von Fabrikanten). c) eine insgesamt gegenläufige Entwicklung zur Urbanisierung (in der einzigen Großstadt Badens mit industrialisiertem Umfeld (Mannheim) waren zwischen 1820 und 1900 nur 31 zukünftige Geistliche geboren; davon 15 vor 1850 und 16 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und damit d) eine partielle Ausweitung von Bildungschancen für die ländliche katholische Bevölkerung. Damit entsprach die soziale und regionale Herkunft des badischen Klerus jeweils in etwa der Klientel und der Wählerschaft der Katholischen Volkspartei und der späteren Badischen Zentrumspartei, die in größerem Ausmaß ländliche Wählerschichten mobilisierte.184 142

Kapitel 3 Abweichendes Verhalten von Geistlichen der Erzdiözese Freiburg 1. Abweichendes Verhalten, Norm und Sanktion In jeder Gesellschaft ist abweichendes Verhalten »normal«. - Abweichendes Verhalten weicht von den sozialen Normen ab. Normen sind informelle bis kodifizierte Vorstellungen unterschiedlicher Reichweite und Verbindlichkeit darüber, wie Menschen in einer Gesellschaft sich verhalten können, sollen oder müssen. >Genies< weichen ebenso von der N o r m ab wie Studenten, die ein Examen nicht bestehen; Kranke weichen unter Gesunden von der N o r m ab wie Gesunde auf dem Operationstisch. Zahlreiche normative Dissense sind institutionalisiert oder toleriert, trotzdem sind in keiner Gesellschaft alle Wertsysteme gleichermaßen anerkannt.1 Normen kennzeichnen konkrete Verhaltenserwartungen, die auf Gewohnheiten und Werten aufbauen. Auch Sitten und Gebräuche, für deren Einhaltung es weder besondere Kontrollmechanismen gibt noch Sanktionen bei deren Nichtbeachten, stellen in einem weiten Sinne Normen dar, die Verhalten und Bewußtsein beeinflussen. Daneben gibt es Konventionen, die gewisse diffuse Sanktionen wie Spott, gesellschaftliche Isolation und Boykott nach sich ziehen. 2 Von Normen im strengen Sinn kann man jedoch nur sprechen, wenn zu deren Einhaltung geregelte Kontrollmechanismen und »organisierte Sanktionen« vorliegen. Zu den wesentlichen Elementen einer N o r m gehören N o r m geber, Normadressat und die normierte Situation, in der ein bestimmtes Verhalten erwartet oder vorgeschrieben wird, und die Sanktion, die bei abweichendem Verhalten eintritt. Sanktionen sind »Reaktionen auf Abweichungen von Verhaltensregelmäßigkeiten, durch die demonstriert wird, daß das abweichende Verhalten nicht hingenommen wird«. 3 Sanktionen können positiv oder negativ sein, d. h. sie können sowohl dadurch verhängt werden, daß diejenigen, die sich den Normen gegenüber angepaßt verhalten, Vorteile oder Lob erhalten, als auch durch Bestrafung oder Achtung der Nichtangepaßten. In der Folge wird der Begriff Sanktion in dem soziologischen Sinne einer Reaktion auf Normabweichungen gebraucht, durch das Verhalten gesteuert werden soll. Belohnung und Strafe sind, im Gegensatz zum alltagssprachlichen Gebrauch, gleichermaßen Verhaltenssanktionen, durch die Verhaltensweisen verstärkt oder abgebaut werden sollen. Die Rechtsordnung einer Gesellschaft gehört zu den Normensystemen 143

jeder menschlichen Gesellschaft. Kriminalität ist daher ein Beispiel abweichenden Verhaltens, das die Summe der strafrechtlich mißbilligten Rechtsbrüche bezeichnet, d. h. durch kodifiziertes R e c h t definiert ist. R e c h t und soziale Kontrolle gehören zusammen, wobei R e c h t ein Instrument der sozialen Kontrolle darstellt. Der sozial relevante Mechanismus, der der Durchsetzung der Normen dienen soll, wird in der Soziologie als soziale Kontrolle bezeichnet und wird auch synonym mit >Sanktion< gebraucht. Popitz hat soziologisch überzeugend dargelegt, daß Normen, die bewahrt werden sollen, auch »zu Tode sanktioniert werden können« und daß sich Strafen »verbrauchen«.4 In der Regel fuhren gehäufte Verletzungen bestimmter Normen dazu, daß immer höhere Dosierungen von Sanktionsmitteln erforderlich werden. Wenn die Normverletzung aber zur Regel wird und die meisten Mitglieder einer Gesellschaft wissen, daß die meisten anderen diese Norm auch verletzen, kommt es zu einem Sanktionsverbrauch und damit zu einem Normverfall. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verstöße gegen eine N o r m so häufig werden, daß die betreffende Gesellschaft diese gar nicht verfolgen könnte, selbst wenn sie wollte. Desto gefährlicher ist das Wissen über nichtsanktionierte Normverstöße. Aus diesem Grunde garantiert das Nichtwissen von nichtsanktionierten Normverstößen gesellschaftliche Stabilität; Popitz spricht hier von einer »Präventivwirkung des Nichtwissens«. Der öffentliche Diskurs darüber kündigt in pluralistischen Gesellschaften in der Regel einen Normwandel an, in dessen Folge es beispielsweise zu Reformen des geltenden Rechts kommt. Am Beispiel der katholischen Kirche und speziell am Beispiel des katholischen Klerus der Erzdiözese Freiburg sollten die spezifischen Ausformungen von Normen und Sanktionen im 19. Jahrhundert untersucht werden. Machtsoziologisch betrachtet, ist es dabei von besonderem Interesse, wie es der katholischen Kirche gelang, ihre N o r men nicht zu verändern, sondern — im Gegenteil — die Angleichung bestimmter Normen an die entstehende bürgerliche Gesellschaft rückgängig zu machen. In diesem Zusammenhang wird im folgenden unterschieden zwischen den Kontrollinstanzen einerseits, die abweichendes Verhalten aktenkundig machten, und den Sanktionsinstanzen, die abweichendes Verhalten formell sanktionierten. Zu den Kontrollinstanzen gehören für die hier vorliegende U n tersuchung alle diejenigen, die den katholischen Geistlichen bei einer Sanktionsinstanz anzeigten und damit formelle Sanktionen herbeiführen wollten. Dabei sind staatliche und kirchliche Behörden sowohl Kontroll- als auch Sanktionsinstanzen. Die Mitglieder der Kirchengemeinden, der politischen Gemeinden und der eigenen Gruppe bzw. des Klerus als Stand hatten und haben nur informelle Sanktionsmechanismen zur Verfügung und werden hier in erster Linie als Kontrollinstanzen behandelt. Das abweichende Verhalten des katholischen Klerus im 19. Jahrhundert ist mit den Begriffen N o r m und Sanktion nur auf der formalen Ebene leicht zu definieren. Wie sich zeigen wird, war er verschiedenen Normensystemen mit 144

unterschiedlichsten Wirkungs- und Geltungsgraden der Sanktionsmechanismen ausgesetzt. Deswegen wurden auch die Begriffe »negativ« und »positiv« abweichendes Verhalten vermieden, weil das Verhalten in differenzierten Gesellschaften den unterschiedlichsten Erwartungen ausgesetzt ist. Im 19. Jahrhundert haben wir es mit einer sich rasch wandelnden Gesellschaft zu tun, in der verschiedene Institutionen und Gruppen darum kämpften, wer die vorherrschenden Normen setzen solle. Im speziellen Fall des Großherzogtums Baden geht es um ein Staatsgebilde, in dem Regionen mit verschiedenen kulturellen Deutungs- und Normsystemen zu einer neuen politischen Einheit zusammengefaßt wurden, die wiederum in sich nicht homogen waren. In dieser Arbeit stehen die Normen verschiedener »Katholizismen« im Mittelpunkt, um deren Geltungsgrad erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden. U m und über den Pfarrer verliefen diese Diskurse, die den Wandel sozialer, moralischer und religiöser Deutungsmuster im gesellschaftlichen Wandel widerspiegeln. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert; das sind in diesem Fall die badische Regierung mit dem Großherzog an der Spitze und das Freiburger Ordinariat mit dem Erzbischof. Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, daß diese beiden Institutionen Sanktionsmöglichkeiten mit einem sehr unterschiedlichen Geltungs- und Wirkungsgrad besaßen, die wiederum Veränderungen unterworfen waren. Die Normenkonflikte, die hier untersucht werden, betreffen in erster Linie die Wechselwirkung zwischen Säkularisierung und Rekonfessionalisierung in ihrer Auswirkung auf den katholischen Klerus. Dieser war von allen Seiten unterschiedlichsten Verhaltenserwartungen ausgesetzt, wobei er im Verlaufe der Trennung von Staat und Kirche zunehmend diametral entgegengesetzten Normen entsprechen sollte. Erst mit Ende des Kulturkampfes, als sich eine katholische Subkultur herausgebildet hatte, wurden die unterschiedlichen Normensysteme von Staat und Kirche gegenseitig weitgehend akzeptiert. Religion war noch längst nicht zur Privatsache geworden, Staat und Kirche hatten sich seit den 1880er Jahren zur Erhaltung des status quo arrangiert, während die politischen Parteien um die Zukunft der Kirchen in einem parlamentarischen System stritten. Linksliberale und Sozialdemokraten waren im Kaiserreich mit ihrem Konzept einer völligen Trennung von Staat und Kirche weder mehrheitsfähig, noch hätten sie es in dem bestenfalls semikonstitutionellen System politisch durchsetzen können.

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2. Idealtypen katholischer Pfarrer Idealiter werden hier zwei Priestertypen gegenübergestellt: a) der >aufgeklärte< Geistliche, der sich an der modernen, bürgerlich dominierten und vorherrschenden Kultur orientierte und b) der >ultramontane< Pfarrer, der sich an das religiös-kulturelle Deutungssystem hielt, welches die Amtskirche vertrat. In der Realität suchten beide die Akzeptanz von Staat, Kirche und Gesellschaft. Die Normenkonflikte spitzten sich jedoch in einer Weise zu, daß Typ a) von der Kirche nicht mehr geduldet wurde und Typ b) im Kampf u m die Kulturhegemonie unterlag und in eine Subkultur abgedrängt wurde, das sogenannte katholische »Milieu«.5 Dieser Prozeß wurde im wesentlichen über den Klerus gesteuert, da dieser Normadressat von Staat und Kirche einerseits, Norm^efeer für die kirchentreue katholische Bevölkerung andererseits war. Im Großherzogtum Baden herrschte auf Seiten des Staates bis 1918 ein obrigkeitsstaatliches, von absolutistisch-aufgeklärten Vorstellungen geprägtes Paradigma vor. 6 Das Bürgertum sowie die mittlere und untere Beamtenschaft waren durch aufgeklärt-liberale Einstellungen geprägt, die bereits im Vormärz weite Teile der unterbürgerlichen Bevölkerung erreichten. In dieser Konstellation konnte die Amtskirche, d. i. die Kurie des Erzbistums Freiburg, erst relativ spät zu konkreten Maßnahmen im Sinne der Ultramontanisierung des Katholizismus greifen. Es ist gezeigt worden, daß die sozialen Rekrutierungsmuster des Klerus im Laufe des 19. Jahrhunderts einem deutlichen Wandel unterlagen, der ihn weg von der bürgerlichen Kultur und hin zu den unterbürgerlichen Schichten führte, die unter seiner Führung eine eigene Subkultur aufbauten. Erst nach 1878/79, dem Ende der liberalen Ära, näherte sich das Bürgertum der Amtskirche wieder stärker an und entwickelte im politischen Katholizismus eigenständige Positionen. Im folgenden soll gezeigt werden, wie und von wem die rechtlich nicht genau begrenzbare Sanktionierung der Verhaltensweisen des Klerus als Priester, Seelsorger und Völkslehrer gesteuert wurde. Dabei werden zunächst die Kontrollinstanzen untersucht, d. h. diejenigen, die die Definitionsmacht besaßen, das Verhalten der Priester in einer Weise als abweichendes zu disqualifizieren, daß dies für die Betroffenen zu formellen Sanktionen führte.

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3. Formelle und informelle Kontrollinstanzen des katholischen Klerus Die Integration der zu der protestantischen Markgrafschaft neu hinzugekommenen überwiegend katholischen Bevölkerung in den von einem protestantischen Fürsten beherrschten Staat war nach der Konsolidierung des Staatshaushalts eine der Hauptaufgaben badischer Innen- und Kulturpolitik. Hier konnten die badischen Regierungen an die aufgeklärt-absolutistischen Reformen Josef II. in den ehemals vorderösterreichischen Besitzungen (Breisgau, Ortenau) anknüpfen. Das heißt, der Phase der ultramontanen Gleichschaltung, um die es hier geht, war eine Phase vorgelagert, in der der badische Staat dem Klerus seinerseits erfolgreich im aufgeklärt-absolutistischen Sinne seinen Stempel aufgeprägt hatte. Dies geschah allerdings ohne unmittelbare Zwangsmaßnahmen, denn was unbedingt vermieden werden sollte, war eine Rekonfessionalisierung der Bevölkerung. Oberstes Prinzip war Toleranz, um gehorsame katholische und protestantische Untertanen zu haben. Erst als sich zeigte, daß schon dieses von oben verordnete Ausmaß an Aufklärung und Bildung zu immer stärkerer Politisierung des Klerus und schließlich zu dessen Beteiligung an der Revolution von 1848/49 führte, war der badische Staat aus antirevolutionären Erwägungen bereit, der katholischen Kirche mehr Einfluß bei der Erziehung und Disziplinierung des Klerus einzuräumen. Bis zum badischen Kirchenstreit 1853/54 arbeiteten Staat und Kirche bei der Sozialdisziplinierung des Klerus zusammen. Großherzog Karl Friedrich unterstützte Wessenberg in seinen Reformanliegen; erst sein Nachfolger, Großherzog Ludwig, wollte sich mit den päpstlichen Wünschen arrangieren und ließ Wessenberg mit seinem Regierungsantritt 1818 fallen. Am Beispiel einer Kirchenvisitation aus dem Jahre 1809, die noch im Auftrage Wessenbergs durchgeführt wurde, 7 soll gezeigt werden, wo der Visitator die Hauptschwierigkeiten sah, das Ziel zu erreichen, das er mit seinem Vorgesetzten und der Regierung teilte: Er sollte die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch die katholischen Teile Badens, die nicht zum Bistum Konstanz gehört hatten, den Konstanzer Verhältnissen entsprechend reformiert wurden. Der Pfarrer, Geistliche Rat und spätere Bischof von Mainz, Joseph Vitus Burg (1768-1833), 8 zunächst ein enger Vertrauter Wessenbergs, war der wohl einflußreichste geistliche Vertreter des aufgeklärt-absolutistischen Staatskirchentums im Großherzogtum; mit seinen exzellenten Verbindungen zur Regierung hätte er beste Chancen gehabt, seine Reformvorstellungen durchzusetzen. Politisch konservativ und gouvernemental wie Burg war, hatte die Aufklärung bei ihm deutliche Grenzen; Zölibatsgegner waren ihm ebenso ein Greuel wie Ultramontane. Als Mitglied des Freiburger Domkapitels war er bei seinen Kollegen unbeliebt: Die einen nahmen ihm übel, daß er Wessenberg im selben Moment fallen gelassen hatte wie die Regierung, die anderen lehnten ihn wegen seiner staatskirchlichen Anschauungen ab. Und so wurde auch nicht er, wie es Wünsch der Regierung gewesen war, 1827 Generalvikar 147

des Erzbischofs Boll, sondern Herrmann v. Vicari, der spätere Erzbischof. Im Domkapitel herrschte Erleichterung darüber, daß Burg 1830 Bischof von Mainz wurde und somit ein unbequemer Reformer aus Freiburg abtrat. Im Gegensatz zu Wessenberg war Burg ein moderner Bürokrat, während ersterer Zeit seines Lebens den Idealen einer gemäßigten Aufklärung verhaftet blieb. Gerade deswegen waren sowohl Wessenberg als Bistumsverweser bis 1827, als auch der neue Erzbischof auf ihn angewiesen. Mit der Neuordnung der kirchlichen Verwaltung im Jahre 1808 gerieten die badischen Dekanate der alten Diözese Straßburg unter die Zuständigkeit des Generalvikariats Konstanz. Unmittelbar danach bereiste Burg diese Landkapitel, nämlich Lahr, Offenburg und Ottersweier. Der Visitationsbericht gibt Auskunft über Stand der Seelsorge, Herkunft, Ausbildung und Reformbereitschaft des Klerus dieser Kapitel. Aus der Sicht der Wessenbergschen R e f o r men war das Ergebnis — Ausbildungsstand der Geistlichen und religiöse Gebräuche betreffend — niederschmetternd. Fast überall - so Burgs Visitationsbericht - sei noch der traditionalistische Straßburger Katechismus verbreitet; nur an ganz wenigen — vormals österreichischen — Orten sei gelegentlich der »Normalkatechismus« in Gebrauch. Die von Staats wegen abgestellten Feiertage würden an den meisten Orten immer noch eingehalten; Wallfahrten, Benediktionen und sonstiger Aberglaube seien auf dem Lande alltäglich. Die Figuralmusik sei noch weit verbreitet, den deutschen Choralgesang treffe man ebenso selten an wie deutsche Messen. Die Predigt gelte als Nebensache, der Ritus als Hauptsache; Wessenbergianer sahen dieses Verhältnis genau umgekehrt. Die Geistlichkeit des Kapitels Offenburg bestehe beinahe nur aus ehemaligen Ordensgeistlichen, in den beiden andern Dekanaten sehe es etwas, aber nicht viel besser aus: »Das Personale der Geistlichkeit des Kapitels Offenburg bestehet, wie die Tabelle es ausweiset, beinahe aus lauter Klostergeistlichen, aus den Klöstern Allerheiligen, Gengenbach, Schuttern und Ettenheimmünster. Diese bieten dem scharfen Blick eines Visitators eine sonderbare Mischung von Charakteren und Pastoralgrundsätzen dar. Es läßt sich auch leicht denken, daß Männer, die in so verschiedenen Instituten ihre wissenschaftliche und religiöse Bildung erhielten, ganz verschieden in ihrer Denkungsart und Handlungsweise sein müssen«. 9

Die kirchenpolitischen Einstellungen des Klerus waren entsprechend heterogen. Insbesondere die Benediktiner von Gengenbach empfand Burg als besonders »mönchisch«; diese wiederum hätten ihn wie einen Illuminaten behandelt. Ein ehemaliger Kapuziner habe sogar »mit Frechheit seine Orthodoxie gegen das Ketzertum im Konstanzer Bistum« verteidigt. Nur mit den Verhältnissen zwischen den Konfessionen, insbesondere zwischen großherzoglichen Beamten und Pfarrern, war der Visitator Burg einigermaßen zufrieden, wenn er auch hier einen boshaften Seitenhieb auf das Wohlleben beider nicht unterlassen kannte, das seinen puritanischen Ansichten zuwiderlief: 148

»Überall wurde dem Äußerlichen nach zu urteilen, wechselseitiges Einverständnis, und sogar Zutrauen zwischen den Großherzoglichen Beamten und Geistlichen dieser Gegenden getroffen. Es finden sich erstere bei diesen sehr oft bei köstlichen Mahlzeiten ein«.10 Aber so weit, daß Konfessionsunterschiede verschwanden, durfte die Toleranz auch für Burg nicht gehen. E r fuhrt Beispiele von evangelischen und katholischen Pfarrern gemischter Gemeinden an, die sich eine Kirche teilten und sich dabei so gut verstanden, daß sie ihre Gebräuche und Einstellungen einander annäherten. Gleichzeitig würden jedoch die protestantischen Pfarrer gelegentlich davor warnen, den traditionellen katholischen Ritus aufzugeben, denn sonst wären ihres Erachtens die katholischen Gottesdienste bald genauso leer wie die evangelischen. Immer wieder kam Burg zu einem vernichtenden Urteil über den Klerus, der nun seiner Kontrolle unterlag: »Allgemeine Charakterzüge der Geistlichkeit des Kapitels Offenburg. Daß der Mensch als solcher, Anlage zum Bösen habe, daß der Geistliche niemals aufhöre Mensch zu sein, wird von niemand widersprochen; daß aber der Geistliche ab solcher eine ganz eigene Anlage zum Bösen haben solle, darf um die Ehre der Kirche zu retten, welche ihre Mitglieder selbst bildet, und als Muster guter christlicher Charaktere öffentlich aufstellet, nicht gerade hinzugestanden werden. Wie aber, wenn uns die unleugbare Erfahrung davon wirklich überzeugte? Soll ein von der Kirche in der Absicht ausgeschickter Visitator, um die dem Geistlichen anklebenden Mängel kennenzulernen, und fur ihre Verbesserung Vorschläge zu machen, soll er entweder zur Ehre der Kirche nicht sehen, oder das Gesehene nicht gestehen?«11 Selbstredend kommt Burg zu dem Schluß, daß man die bittere Wahrheit erkennen und ihre Ursachen beseitigen müsse. Bequemlichkeit, Ungehorsam und sinnlichen Lebensgenuß sah er als die Hauptlaster dieses Klerus an. Abhilfe erwartete er von folgenden Mitteln: »1. Man halte den Geistlichen auf das strengste an zur Tätigkeit. a) Alle Sonn- und Festtage in der Früh zu predigen, nachmittags zu katechisieren, die Sonntagsschule selbst zu besuchen. b) In der Woche auf wenigstens zweimal die Schule zu besuchen. c) Die größeren Schüler, welche zur Kommunion bestimmt sind, zweimal in der Woche privat in dem Religions-Handbuch zu unterrichten. d) Über alles dies ein schriftliches Verzeichnis zu führen, und eine Abschrift davon dem Dekanate zweimal im Jahre d.i. nach Ostern, und nach Allerheiligen einzugeben, welches dasselbe mit Bemerkungen an das Ordinariat einschicken soll. e) Uber alle amtlichen Verrichtungen und Korrespondenzen ein Protokoll zu führen und dem bischöflichen Visitator vorzulegen. f) Jährlich zweimal wenigstens bei den Pastoralkonferenzen zu erscheinen, und zwei gelehrte Abhandlungen vorzulegen. 2. Man sehe darauf, Dekane in jedem Kapitel aufzustellen, welche Muster aller Vorschriften seien könnten, und auf deren Gewissen und leidenschaftslosen Bericht man sich verlassen könne. Man bemühe sich solche Männer zu bilden, und wo es notwendig ist, mit Instruktionen zu belehren. 149

3. Man sehe vorzüglich auf Subordination und lasse keinen Fehltritt dagegen ungerügt. 4. Man lasse die Kapitel öfters visitieren«.12 Außerdem fordert der Visitator Einrichtung von Kapitelskonferenzen, wie Wessenberg sie in Konstanz eingeführt hatte, sowie Lesevereine, um die Allgemeinbildung des Klerus zu heben, dies alles aber ohne Druck und Strafen. Die Kapitelskonferenzen sollten im Erzbistum Freiburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich flächendeckend eingeführt werden, verloren aber im Laufe der Zeit den Charakter wissenschaftlicher Diskurse, und die Zeitschriften, die allein dem Abdruck dieser Konferenzaufsätze dienten, gingen ein.13 Kirchenvisitationen fanden dagegen bis Ende des Jahrhunderts nur punktuell statt. Der Visitationsbericht, aus dem hier zitiert wurde, schließt mit dem Satz: »Mein Gutachten ist: Geduld, Geduld, und ehrenvolle Behandlung«. 14 Burg wurde 1809 zum Statthalter des Generalvikariats Konstanz über die 98 badischen Pfarreien des ehemaligen Bistums Straßburg und wechselte auf die Pfarrei Kappel am Rhein über. Trotz seines vorsichtigen Taktierens kam es 1812 zum offenen Konflikt mit dem Klerus der drei Dekanate, als Burg im Auftrag Wassenbergs den Geschäftsbereich der Kammerer einschränkte.15 Zwar setzte sich hier die Konstanzer Kirchenbehörde durch, aber »der größere Teil des Ortenauer Klerus [blieb] straßburgisch gesinnt und stur«.16 Kirchenvisitationen wurden schwerpunktmäßig erst wieder in den Jahren 1837 bis 1839, 1851 bis 1854 und regelmäßig seit den 1880er Jahren durchgeführt. Die Errichtung der Verwaltung des Erzbistums sowie die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche banden einen großen Teil der Arbeitskraft der Kirchenbehörde. Die Visitationsordnung von 1837 hatte ebenso wie die folgenden eher eine Erfassung des religiösen und sittlichen Zustandes der Kirchengemeinden im Auge als eine Disziplinierung der Pfarrer.17 Von den 50 Fragen, die der Pfarrer selbst schriftlich zu beantworten hatte, betrafen nur zwei dessen eigenes Verhalten und hatten eher die Funktion, diesen an seine Pflichten zu erinnern, als deren Einhaltung zu kontrollieren. Sie betrafen die Aufsichtspflicht des Pfarrers gegenüber den Vikaren, Meßnern und Lehrern sowie die Frage, ob sich der Geistliche an das vorgeschriebene Ritual von 1834 halte, bzw. welche sonstigen kirchlichen Bräuche in der Gemeinde herrschten. Uber die Frage, wer in welchem Umfang die Strafgewalt über den katholischen Klerus im 19. Jahrhundert ausübte - Staat oder Kirche - konnte es, wie im vorigen Kapitel gezeigt, zu keiner verbindlichen Regelung kommen. Die Strafpraxis der Kirchenbehörde spielte sich weitgehend in einem — aus staatlicher Perspektive — rechtsfreien Raum ab. Im Rahmen der Ultramontanisierung versuchte das Ordinariat seinerseits, in immer stärkerem Maße das »kanonische Recht«, 18 insbesondere die Bestimmungen des Konzils von Trient über die Sozialisation des katholischen Klerus und ein entsprechendes, standesgemäßes Verhalten durchzusetzen. Wie sich zeigen wird, gelang das durch Uberwachen und Strafen der Priester durch die Freiburger Kurie. Die Durchsetzung der Normen des tridentinischen Priesterideals erfolgte damit 150

schließlich in mehreren Schüben. Während bei Kirchenvisitationen das pfarramtliche Funktionieren und weniger das offiziell nicht existierende Privatleben der Pfarrer kontrolliert wurde, die ja selber die Visitationsfragen beantworten mußten, wird im folgenden Abschnitt untersucht, auf wessen Veranlassung hin de facto die Disziplinaruntersuchungen eingeleitet wurden. Das Spektrum der Anzeigenden war groß; theoretisch konnte jeder einen Pfarrer bei der Kirchenbehörde anzeigen, sei es beim Dekanat oder direkt beim Erzbischöflichen Ordinariat. Staatliche und kirchliche Behörden, kommunale Amtsträger (Bürgermeister, Gemeinderat, Bürgerausschuß), aber auch einzelne Bürger oder informelle Gruppen von Bürgern zeigten Geistliche bei der Kirchenbehörde an. Überdies gab es auch anonyme Anzeigen, deren Anteil ganz beträchtlich schwankte. Besonders im Vormärz sahen sich die vorgesetzten Pfarrer von Vikaren (»Prinzipale«) häufig veranlaßt, bei den kirchlichen Behörden vorstellig zu werden, wenn sie Disziplinarschwierigkeiten mit den jungen Hilfsgeistlichen hatten, mit denen sie nicht allein fertig wurden. Außerdem denunzierten sich Amtskollegen auch gegenseitig. Erst mit dem Kulturkampf und nach Abschluß der ersten Phase der Ultramontanisierung verkehrten sich die hierarchischen Verhältnisse gelegentlich, nämlich dann, wenn junge Vikare ihre Vorgesetzten wegen zu liberaler Pastoration oder unklerikalischen Lebenswandels anzeigten. Noch bis in die 1870er Jahre galt das Anciennitätsprinzip uneingeschränkt, d. h. Vikare mußten sich in jedem Falle den Anordnungen ihrer Prinzipale beugen, auch wenn diese in den Augen der Kirchenbehörde im Unrecht waren. Die Beschwerde eines Vikars über seinen Vorgesetzten galt zunächst grundsätzlich als Unbotmäßigkeit, als Auflehnung gegen die Autoritätsstrukturen. Dies änderte sich im Verlaufe der Ultramontanisierung, und ultramontan sozialisierte Vikare begannen gegen aufgeklärte und liberale Pfarrer mit Selbstbewußtsein aufzutreten. Das Anzeigen von Kollegen und Vorgesetzten war bis 1850 absolut verpönt; erst in den 1860er Jahren kam es häufiger zu Denunziationen von Amtsbrüdern gegeneinander. Vor 1850 waren also weder der Klerus selber, abgesehen von den Prinzipalen bezüglich ihrer Vikare, noch die Gemeinden in größerem Umfang an der sozialen Kontrolle der Geistlichen beteiligt. Erst als sich nach 1850 Beschwerden von »unten«, d. h. aus den Gemeinden, sowohl bei kirchlichen als auch bei staatlichen Behörden häuften, setzte damit eine flächenddeckend wirksame, soziale Kontrolle des Klerus ein. Die folgende Tabelle zeigt, daß der Anteil der Gemeindeangehörigen — bezogen auf alle Anzeigen gegen Pfarrer während des ganzen Untersuchungszeitraums — am höchsten war; der hohe Anteil staatlicher Behörden und Institutionen kommt vorwiegend durch die Sanktionierung politischen und kirchenpolitischen Verhaltens zustande. Anklagen wegen Hochverrat aufgrund der Teilnahme an der Revolution von 1848/49 sind hier am häufigsten vertreten, es folgen die kirchenpolitischen Delikte im badischen Kulturkampf.

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Initiatoren von Disziplinaruntersuchungen 1822-1914 N Gemeindeangehörige Staatl. Institutionen Kirchenbehörde Pfarrer anonym Prinzipal Andere Vikar Summe

568 338 239 129 121 105 72 13

35,8 21,3 15,1

1585

100,0

8,1

7,6 6,6 4,5 0,8

Hier sei zunächst nur festgehalten, daß bei 1855 Disziplinaruntersuchungen in 1585 Fallen ermittelt werden konnte, wer Anzeige erstattet hatte. Oft — und dies betrifft die Fälle, in denen die Kirchenbehörde eine Untersuchung einleitete — kamen Domkapitularen oder dem Erzbischof Gerüchte zu Ohren, aufgrund derer sie selber die Einleitung einer Untersuchung veranlaßten. Oder es fanden sich Hinweise auf Skandale oder Konflikte in der lokalen liberalen Presse, was vor allem seit dem Kulturkampf der Fall war. Wenn es nicht gerade um Kirchenreformer ging, leitete die Kirchenbehörde selber höchst ungern Disziplinaruntersuchungen ein, um Skandale, die mit Zeugenverhören verbunden waren, zu vermeiden. Häufig mußte sich eine Gemeinde vielfach beschweren, um ihr Ziel durchzusetzen, manchmal wurde dies erst erreicht, nachdem eine Deputation der Gemeinde persönlich in der Erzbischöflichen Kanzlei erschienen war. In den Statistiken dieses Kapitels wurden nur solche Beschwerden berücksichtigt, die zur Einleitung eines Untersuchungsverfahren führten, welches mit einer formellen Sanktionierung des Verhaltens eines Priesters endete. Beschwerden, die ohne Folgen blieben, wurden vermutlich fast gegen jeden Pfarrer erhoben. 19 Bis 1848 überwachten Staat und Kirchenbehörde den Klerus. Die Kompetenzen beider Instanzen waren hier nicht eindeutig geregelt, so daß der Erfolg aller Maßnahmen gering war. Die soziale Kontrolle erfolgte im wesentlichen auf formellem Wege, wobei sowohl die landesherrlichen als auch die erzbischöflichen Dekane passiven Widerstand gegen ihre Aufsichtspflicht leisteten. Solange zwischen Beamten und Geistlichen über ihre gemeinsame Aufgabe, die Sozialdisziplinierung der Bevölkerung, weitgehend Einigkeit bestand, hatten Beschwerden von Gemeindeangehörigen kaum eine Chance, gehört zu werden. Zum Teil lief die soziale Kontrolle des Pfarrers in den Landgemeinden noch über traditionelle Rügebräuche wie Katzenmusiken oder — etwa im Falle einer schwangeren Pfarrhaushälterin — indem man »Schlotzer« vor die Tür des Pfarrhauses legte. Nur in den seltensten Fällen versuchte man den Pfarrer vor 1850 bei einer Behörde anzuzeigen. Das politische System funktionierte noch ebenso absolutistisch-bürokratisch wie das der sozialen Kontrolle. 152

Druck auf den Klerus wurde von oben, nicht von unten ausgeübt. Dies begann sich erst mit der Revolution von 1848/49 zu ändern. a) 1806 - 1849 Vor der Errichtung des Erzbistums Freiburg wurden, analog der Kirchenvisitation durch Joseph Vitus Burg, von der Katholischen Kirchensektion Aufträge an staatliche Behörden erteilt, Bestandsaufnahmen über den katholischen Klerus zu erstellen. Dabei wurde, soweit ersichtlich, kaum zu Disziplinarmaßnahmen gegriffen. 20 Aus dem Jahre 1811 beispielsweise existiert eine Aufstellung des Rreisrevisorats des Dreisamkreises über die bei den katholischen Pfarrämtern angestellten Hilfspriester. 21 Aus dem tabellarischen Bericht geht hervor, daß die meist jungen Vikare von ihrer Ausbildung her eine relativ homogene Gruppe darstellten. Mehr als zwei Drittel dieser 31 Vikare hatte in Freiburg Theologie studiert und die praktische Ausbildung im Priesterseminar Meersburg, also unter der Ägide Wessenbergs, absolviert. Das Amtsrevisorat erstellte die Ubersicht offensichtlich unter rein utilitaristischen Gesichtspunkten mit der unausgesprochenen Fragestellung künftiger Verwendbarkeit. Dabei spielte der Bildungsstand dieser jungen Geistlichen die Hauptrolle. Bei den neun älteren Hilfspriestern, die meist keine Seminarausbildung genossen hatten, wurde etwa bei einigen vermerkt, daß sie für Seelsorge, Beichte und Krankendienst noch tauglich seien, sonst aber nicht. Insbesondere wurde notiert, wie eifrig die Vikare in der Schule tätig waren, ob sie Kenntnisse in der Pädagogik aufwiesen und ob einer dieser jungen Männer auch im höheren Schulwesen einsetzbar sei, wenn die Präbendarstellen mit dem Mittelschulwesen verbunden sein würden. Obwohl in dieser Tabelle auch eine Rubrik »Sittliches Betragen« vorhanden ist, handelte der Amtsrevisor diesen Punkt nur sehr kursorisch ab. Alle Beurteilungen lauten hier von gut bis vorzüglich, mit einer aufschlußreichen Ausnahme: Einem ehemaligen Ordensgeistlichen wurde Mangel an Urbanität bescheinigt, der sich vermutlich aber mit der Zeit geben werde. Ansonsten ließen sich keine Aufschlüsse darüber gewinnen, ob und wie vor 1827 die Aufsicht über den Klerus geregelt war. Nach Errichtung der Oberrheinischen Kirchenprovinz im Jahre 1821 sollte es noch sechs Jahre dauern, bis der erste Freiburger Erzbischof inthronisiert werden konnte. 22 In dieser Zeit des »Interregnums« durch den Bistumsverweser Wessenberg, dessen Einfluß bei der Regierung immer geringer wurde, konnten wesentliche Strukturen in der Priestersozialisation durch die Katholische Kirchensektion im Ministerium des Innern, unter maßgeblichem Einfluß von Josef Vitus Burg, präformiert werden, die das ganze Jahrhundert hindurch wirksam blieben. Die Kapitelskonferenzen, an denen Burg im Geiste Wessenbergs soviel gelegen war, wurde durch Ordinariatsbeschluß 1833 im gesamten Erzbistum eingeführt. 23 Solange entsprechende Regional- und Lokalstudien nicht vorliegen, läßt 153

sich über die ersten Jahrzehnte seit Bestehen des Großherzogtums Baden wenig über die Überwachung und Bestrafung des katholischen Klerus sagen. Aus den wenigen bekannten Einzelfällen geht hervor, daß Staat und Kirche zwar gleichermaßen daran gelegen war, über einen auch sittlich vorbildlichen Priesterstand zu verfügen, daß aber weder einheitliche Normen bestanden, was darunter zu verstehen sei, noch formelle Verfahren, diese N o r men auch durchzusetzen. Klagen über den Klerus setzten von beiden Seiten — Staat und Kirche — gleichermaßen seit 1830 ein, und beiderseits wurde Handlungsbedarf angemeldet. Erst jetzt kam den Beteiligten zum Bewußtsein, daß hier ein rechtsfreier R a u m vorhanden war, um den nun heftige Konflikte entstanden. 24 Standeswidriges Verhalten war nach den Maßstäben bürgerlichen Rechtes, das von der Gleichheit vor dem Gesetz ausgehen mußte, nicht sanktionierbar. Allein die Disziplinargewalt über die staatlichen Beamten war eindeutig geregelt. Sie unterstanden direkt dem Staatsministerium; bei disziplinarrechtlichen Maßnahmen bestand für sie - bis zum Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der liberalen Ära — nur die Beschwerdemöglichkeit an den Großherzog persönlich. Gegenüber den kirchlichen Beamten hielten sich vor 1853/54 jedoch weder die erzbischöflichen noch die großherzoglichen Dekane zu einer disziplinarrechtlichen Funktion verpflichtet. Kaum einer von ihnen war bereit, die ihnen unterstellten Geistlichen zu überwachen. Am 7 Oktober 1836 eröffnete das Ministerium des Innern der Katholischen Kirchensektion: »Dabei, daß die Geistlichen in ihrem Stande angemessenes Betragen beobachten, ist wie die Kirche ebenso auch der Staat beteiligt, und es wird am angemessensten sein, daß der Staat die desfallsige Aufsicht durch den landesherrlichen Dekan ausüben lasse, wie dies auch der § 45 des Organisations-Edikts von 1809 litt C. andeutet. Da jedoch die Dekane, wie es sich bei Anlaß einer Amtsvisitation zeigte, sich in dieser Beziehung nicht kompetent halten, so dürften sie über diese ihre Pflicht näher zu belehren sein. Hierüber hat sich die Katholische Kirchensektion gutachtlich anher zu äußern«.25 Wenig später wurden die landesherrlichen Dekane angewiesen, wenn sie von dem standeswidrigen Betragen eines Geistlichen ihres Bezirks, sei es durch eigene Beobachtung oder durch das Gerücht, Kunde erhalten, bei der dortseitigen Stelle hievon Anzeige zu machen und der Anzeige, falls die urkundliche Zeugenschaft nötig sein sollte, den aufgenommenen Akt beizuschließen, worauf alsdann die Katholische Kirchensektion nach den Umständen das weitere einleiten wird«.26 Davon wurden die Kreisregierungen benachrichtigt und veranlaßt, den Dekanen ihres Regierungsbezirks diese Ministerialanweisung schriftlich mitzuteilen. Zum Beispiel teilt das Ministerium der Katholischen Kirchensektion einen Auszug aus dem Tagebuch der Amtsvisitation durch die Regierung des U n terrheinkreises mit. Der Oberamtmann berichtet hier von Klagen über den sitdich nachteiligen Einfluß der katholischen Geistlichen auf die Bevölkerung. Diese Klagen beständen darin, 154

daß die katholischen Geistlichen in Kleidung und Benehmen die Würde ihres Standes verletzten, insbesondere mit ihren Haushälterinnen, wozu sie oft ganz junge Mädchen wählen, auf eigenem Fuße leben, welcher dem Verhältnis des Herrn zum Dienstboten nicht entspricht«.27 Im folgenden wird deutlich, daß der Beamte die zugrundeliegende Norm, den Priesterzölibat, selber nicht akzeptierte, gleichzeitig aber der Ansicht war, daß eine öffentliche Verletzung dieser N o r m keinesfalls geduldet werden dürfe. Für den badischen Staat kam dem katholischen Klerus, gerade im Hinblick auf die ärmere, katholische Bevölkerung, entscheidende Bedeutung für die Legitimität von Herrschaft überhaupt zu. Die Hauptangst bestand darin, daß durch das unsittliche Verhalten der katholischen Priester das Verhältnis von Herrschaft und Beherrschten gefährdet werden könnte. Der Oberamtmann schwankte nun selber zwischen zwei Prinzipien. Entweder müsse man die Normübertretungen schärfer sanktionieren, oder, was er für den richtigen Weg hielt, eine N o r m abschaffen, die doch zwangsläufig übertreten werde. Normverletzungen, die öffentliches Ärgernis erregt, dürften nicht geduldet werden. »Ein Mittel gegen das öffentliche Ärgernis wird in strenger Kirchendisziplin liegen, welche sehr zu erschlaffen droht Das durchgreifende einzige Mittel dem Übel abzuhelfen, scheint mir in der Aufhebung des Zölibats zu liegen, welchem sogar die Landleute nicht mehr abgeneigt sind«. Soziologisch ausgedrückt befürchtete die Regierung für den Fall, daß N o r m Übertretungen von Agenten legitimer Herrschaft in öffentlich sichtbarer Weise zur Regel werden könnten, eine generelle Anomie, d. h. einen Zusammenbruch des Normsystems. 28 Tatsächlich darf die Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln zur Erreichung dieser Ziele nicht zu groß werden, da sonst Herrschaft ihre Legitimität zu verlieren droht. Der badische Staat war auf die Macht der katholischen Kirche angewiesen, um gehorsame Untertanen zu behalten. Deswegen konnte man es sich von Regierungsseite auch nicht erlauben, auf die Kirchenbehörde zu starken Druck auszuüben bzw. in deren Machtsphäre einseitig einzugreifen, ohne die Souveränität des Staates damit auf die Probe zu stellen. Es galt an der göttlichen Legitimität der katholischen Kirche zu partizipieren, ohne die eigene in Frage zu stellen. An dem folgenden Fall wird dies besonders deutlich. Eine Beschwerde der Regierung des Unterrheinkreises über das unsittliche Verhalten von zwei katholischen Geistlichen beschäftigte in der zweiten Hälfte des Jahres 1837, auf dem Höhepunkt der Kölner Wirren, das Ministerium. Nachdem sich die Katholische Kirchensektion hatte mitteilen lassen, gegen welche Priester konkret zu benennende Beschuldigungen der Unsittlichkeit erhoben wurden und ihr gleichzeitig hervorragende dekanatsamtliche Zeugnisse über den sittlichen Wandel der Betroffenen übermittelt worden waren, ordnete das Innenministerium ein zurückhaltendes Vorgehen an; auf jeden Fall solle ein einseitiges Eingreifen staatlicher Behörden unterbleiben. Man

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hielt es nicht für angebracht, nähere Erhebungen anzustellen, da diese »den Anschein einer Anstoß erregenden Untersuchung haben würden«, und überließ es der Katholischen Kirchensektion, dem Erzbischöflichen Dekanat oder dem Erzbischöflichen Ordinariat, in geeigneter Form über die Beschwerden Mitteilung zu machen. 29 Der Generalvikar H e r m a n n v. Vicari antwortete auf die Vorhaltungen des Ministeriums mit einem dreifachen Gegenangriff: Erstens gingen die Beschuldigungen gegen die beiden Geistlichen H o r m u t h und Trogano auf anonyme Anzeigen zurück, zweitens seien sittliche Verfehlungen von Geistlichen, wenn sie vorkämen, in erster Linie auf die Verführung durch staatliche Beamte zurückzuführen, drittens erlaube man dem Erzbischöflichen Ordinariat ja nicht, konsequent gegen solche Verfehlungen vorzugehen. Anonymen Anzeigen gehe die Kirchenbehörde grundsätzlich nicht nach, denn, so Vicari: wir wollen uns nicht von einem heidnischen Kaiser Trajan beschämen lassen, der im Jahre 104 an Plinius Secundus, Statthalter in Bithynien schrieb: >Eingebrachte Klagschriften ohne Namen des Klägers dürfen bei keiner Art der Beschuldigung auch gegen Christen nicht statt finden; sie würden zu den schlimmsten Folgen fuhren und sind dem Geist der Zeit zu wider.«Herren< die hiesige Pfarrei wieder besetzt wissen und dazu helfen wollen, ist wahrhaft empörend. Als die sechs Wochen Kompetenzzeit vorüber waren, gelangte ein Verzeichnis der siebzehn Kompetenten durch Vermitte-

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lung des Abgeordneten Heilig alsbald an hiesigen Gemeinderat. Auf dieser Liste waren drei Namen als besonders genehm von Heilig bezeichnet: Warth in Bruchsal, Schuler in Offenburg und Kissling in Lörrach. Bürgermeister Mager ließ den Gemeinderat zusammenkommen, um darüber zu beraten und die Herren beschlossen, Herrn Dilger nicht anzunehmen, da gegen jeden anderen unter den übrigen, besonders warfen sie ihre Auge auf Schuler in Offenburg, der ihrer künftigen höheren Bürgerschule ein Lehrkraft geben sollte. Nun kam wieder die Nachricht, es sei keiner von allen würdig, die hiesige Pfarrei zu erhalten, als Dilger. Da aber der Gemeinderat diesen nicht wolle, so habe Stadtpfarrer Benz in Karlsruhe den H. Oster bei kompetenter Gesellschaft im Wirtshaus vorgeschlagen. Nun kommt gar gestern die briefliche Nachricht an Herrn Heilig, Oster sei seit dem 6. März vom Großherzog als Stadtpfarrer ernannt, und seine Investitur - so sagte man, - werde nichts im Wege stehen, da ja auch Hansjakob um Erlaß des Staatsexamens habe einkommen dürfen, und wenn er auch nicht kirchlich investiert würde, er käme dennoch. Und wenn er komme, so werde er den katholischen Männerverein vernichten und helfen, die einzelnen hiesigen kirchlichen Stiftungen zum Schulfonde einzuverleiben und was dergleichen liberale Süßigkeiten noch mehr sind. So träumen die hiesigen Liberalen«. Am 18. März 1874 beschwerte sich der Gemeinderat der Stadt Pfullendorf bei der Freiburger Kirchenbehörde darüber, daß der Wiederbesetzung der Pfarrei, die nun bereits fast vier Jahre vakant sei, von Seiten der Kirchenbehörde Steine in den Weg gelegt würden. In Pfullendorf begrüße man die Ernennung des R u d o l f Oster, da dieser die für ihre Gemeinde »nötigen persönlichen Eigenschaften« besitze, und hoffe sehr, daß ihm die kirchliche Einsetzung nicht versagt werde, da dies zu neuen Konflikten zwischen Kirche und Staat fuhren werde, die auch negative Rückwirkungen auf die eigene Gemeinde haben würden: »Wir verhehlen nicht, daß die kirchliche Bestätigung Herrn Osters uns sehr erwünscht erscheint, weil wie gesagt, in bezug auf das kirchliche religiöse Leben der Gemeinde und auch nicht minder in bezug auf die Schule ein segensreiches Wirken von ihm zu erwarten steht. Dieses darf mit Rücksicht auf die philologische Tätigkeit Herrn Osters wohl angenommen werden. Es würde uns sehr leid sein, wenn ohne Rücksicht auf unsere gegenwärtige Vorstellung dem Herrn Oster die kirchliche Einsetzung versagt und dadurch ein Konflikt mit Großh. Staatsregierung veranlaßt würde, der gewiß auch auf die hiesige Gemeinde nachteilige Rückwirkung äußern, und die Gegensätze schroffer gestalten müßte — eine Erscheinung, die wir nur tief beklagen könnten und vor deren mißlichen Folgen für die Ruhe und den Frieden der Gemeinde wir hiermit ausdrücklich Verwahrung einlegen«. Nie wird ausgesprochen, daß die Honoratioren, die zu dieser Zeit noch fast ausschließlich in der Politik vertreten waren, unbedingt einen liberalen und gebildeten Pfarrer haben wollten, aber es besteht kein Zweifel, daß man dies mit dem in der Folge zitierten Schreiben der Kirchenbehörde unmißverständlich klar machen wollte, und auch, daß man die Investitur eines Ultramontanen nicht kampflos hinnehmen werde. Die »guten« Katholiken, die in der Bodenseeregion noch eher den unterbürgerlichen Schichten angehörten,

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gewannen über die Zentrumspartei in Baden erst seit Ende der 1880er Jahre politischen Einfluß. Doch zurück zu den Vorgängen in Baden-Baden. W i e versuchte man nun, Oster sittüch zu diskreditieren? In entscheidenden Einzelheiten ist der Fall leider nicht mehr ganz rekonstruierbar. In der Personalakte R u d o l f Osters befinden sich mehrere Briefe einer Frau (ohne namentliche Unterschrift und meist ohne Datum) an Professor Alban Stolz, der offenbar eine andere weibliche Person, die auch nicht genannt sein wollte, schon einige Zeit vor dem 9. Februar 1874 gebeten hatte, Erkundigungen über Oster einzuziehen. Das Datum 9. Februar ist wichtig, da Oster später der Kirchenbehörde vorwarf, einen Tendenzprozeß gegen ihn fuhren zu wollen, und die Namen der Denunzianten verlangte, die ihn eines unsittlichen Verhältnisses zu einer Frau bezichtigten. Während Osters späterer persönlicher Einvernahme im Erzbischöflichen Ordinariat am 30. April 1874 wurde von den Vertretern der Kirchenbehörde (Domkapitular Josef Marmon und Kanzleidirektor Dr. Maas) durch den Sekretär Arnold Vögele ausdrücklich zu den Akten bemerkt, daß das Gerücht eines unsittlichen Verhältnisses erst am 20. März an die Kirchenbehörde gelangte: »Zu den Akten wird dem Herrn Geistlichen Lehrer Oster bemerkt, das ausweislich der diesseitigen Akten derselbe am 9. März 1874 seine Präsentation auf die Pfarrei Pfullendorf dem Erzb. Kapitelsvikariat vorlegte, während aus wirklich derselben Akte das berührte Gerücht erst am 20. März hierher kam und erst infolge dessen der erwähnte Informativprozeß angeordnet wurde«. Wäre Alban Stolz der Empfehlung seiner Informantin gefolgt, ihre Briefe nach Abschrift zu vernichten, wäre auch das Datum ihres zweiten Briefes, nämlich des 9. Februar 1874, nicht überliefert; außerdem wäre es nicht mehr ersichtlich, daß insgesamt vier ausführliche Briefe zur >Klatschszene< um R u d o l f Oster in Baden-Baden von derselben Hand verfaßt wurden. Diese kannte Oster zwar persönlich, wurde aber von ihm offensichtlich geschnitten, seit sie ihm bedeutet hatte, daß sie sein, ihrer Meinung nach, allzu freies Verhalten nicht billige. Das monierte Verhalten bestand vor allem darin, daß er gelegentlich Frauenbesuch empfing, seit er in Baden-Baden mit Ende seiner Vikarszeit eine Privatwohnung bezogen hatte und nicht mehr im Pfarrhaus wohnte. Außerdem hatte er sich mit der Zeit von seinen früheren Bekannten zurückgezogen und verkehrte, wie oben bereits erwähnt, nun mit >feineren< Leuten. Insgesamt handelte es sich bei den Alban Stolz übermittelten Informationen ausschließlich um Gerüchte aus zweiter oder dritter Hand. Oster - so die Antwort auf die nicht überlieferte Frage - unterhalte »seit mehreren Jahren eine Bekanntschaft in aller Form und aller Welt bekannt mit der ungefähr fünfundzwanzig Jahre alten ledigen Tochter des Privatmanns Wollenweber in Baden-Baden. Sie begab sich jede Woche mehrmals in die Wohnung des gsd. Herrn, wo sie Stunden verbrachte. Kamen andere Personen, welche Wichtiges zu besprechen hatten, so wich dieselbe nicht, wollte man nicht in ihrer Gegenwart re-

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den, so begab sie sich in das Schlafzimmer des Herrn, bis der dazwischen Gekommene seine Anliegen beseitigt hatte. Es kam auch vor, daß ältere Bekannte des Hhw. Herrn, nachdem sie zuvor den Besuch des Fräuleins dem geistlichen Herrn abgepaßt hatten, sich sogleich zu ihm begaben und daß aber das Fräulein auf dem Wege des Schlafzimmers ebenfalls beseitigt war«. Als besagtes Fräulein Wollenweb er im vergangen Jahr krank war und zu einer längeren Kur in die Schweiz reiste, ging, so wird es zart angedeutet, das Gerücht, sie bringe dort ein uneheliches Kind von Oster zur Welt. Als die Informantin, die von vorherein nur unter der Bedingung überhaupt zu Mitteilungen bereit war, daß ihr Name nie genannt werden durfte, offenbar auf ihren ersten Brief hin von Alban Stolz nach Namen von möglichen Zeugen gegen Oster befragt wurde, reagierte sie in ihrem zweiten Brief vom 9. Februar bestürzt: »Hochwürdiger Herr Professor! Auf Ihre Anfrage um nähere Anhaltspunkte in der Sache kann ich nicht befriedigend für Sie antworten. Was das fragliche Haus betrifft, kann ich es unmöglich erfahren, da ich keine Nachforschungen anstellen darf. Im übrigen habe ich alles angegeben, was ich weiß und mir durch ganz zuverlässige Personen, die nicht aus Hang zu übler Nachrede davon sprachen mitgeteilt wurde. Auf eine Anklage auf dem Wege des Rechtes waren meine Angaben nie berechnet; das wissen Sie, hochverehrter Herr Professor, sehr wohl. Die Person welche mich ersuchte, Ihnen diese Sache vorzutragen, hatte, so wie ich, da ich auf Ihren Vorschlag einging, nichts anderes im Auge, als dem Ärgernis ein Ziel zu setzen. Dazu glaubten wir, reiche Ihr hoher Einfluß hin. Es lag auch Ihnen ganz nahe, ein Wort mit dem Betreffenden zu sprechen, da Sie einige Zeit in Baden Aufenthalt genommen und der Fragliche ebenfalls hier war. Also schien es uns leicht, auf ihre Hilfe in der Sache zu rechnen, da Sie ja sehr gut während Ihres Hierseins die damals am stärksten umlaufenden Gerüchte vernommen haben konnten. Um eine Anklage vor Zeugen war es uns nie zu tun, da ich ja von vorneherein mir jeden Gebrauch meines Namens verbeten hatte«. Nachdem hier kaum verwertbare Informationen geliefert worden waren, wandte sich Lothar Kübel höchstpersönlich — und zwar ebenfalls vor dem 20. März, nämlich am 11. März 1874 — an den Inhaber einer Spezerei und Delikatessenhandlung, Max Reichert, 1 0 7 den Abgeordneten der Katholischen Volkspartei in der Zweiten Badischen Kammer, mit der »vertraulichen« Bitte, ihm Näheres über Osters Verhalten zu berichten. Auch dieser wußte jedoch in seinem Brief an Lothar Kübel vom 15. März 1874 außer den bereits bekannten Gerüchten nicht viel zu berichten. Oster sei in derselben Zeit verreist gewesen wie Fräulein Wollenweber und habe sich einen englischen Reiseanzug machen lasse. Angeblich wolle er die junge Dame heiraten und altkatholischer Pfarrer werden. 108 Er habe früher mit den Angehörigen der hiesigen Freimaurerloge verkehrt und eine äußerst tolerante Haltung gegenüber deren liberalen Ansichten eingenommen; »Ich« — so der Abgeordnete Reichert — »übersetzte es in antikirchlich«. 364

Nun wurde Domkapitular Weickum am 20.März beauftragt, sich persönlich nach Baden-Baden zu begeben und dort eine Untersuchung — das sittliche Verhalten des Geistlichen Lehrers Oster betreffend — einzuleiten. Die von Max Reichert als in Frage kommend genannten Zeugen sollten von ihm eidlich einvernommen werden. Alle diese Zeugen bzw. deren Ehemänner waren kleine Kaufleute oder Handwerker und Mitglieder des Katholischen Männervereins in Baden-Baden. Alle konnten nur dieselben Gerüchte vom Hörensagen wiederholen, und daß Oster »immer so kurz geschnittene Kleidung« trage. Die Ehefrau des 46jährigen Buchbinders Josef Wagner, Luise Wagner, hatte ausgesagt, daß die ehemalige Magd von Fräulein Wollenweber im vergangenen Jahr auf ihre Frage, ob ihre Dienstherrin krank sei, erwidert habe: »Da wird wieder einmal so ein junger Oster weggeputzt«. Diese Magd sei jetzt »nach Straßburg in Diensten«. Am 1. April 1874 erteilte Lothar Kübel dem Erzbischöflichen Stadtpfarramt Baden-Baden den Auftrag, zu ermitteln, wo sich diese Magd jetzt aufhalte. Am 4. April 1874 erfolgte eine Anfrage des Innenministeriums, ob die kirchliche Einsetzung des auf die Patronatspfarrei Pfullendorf ernannten Geistlichen Lehrers Rudolf Oster inzwischen erfolgt sei. Bevor Domkapitular Weickum Baden-Baden wieder verließ, hatte er versucht, den Dekan Grafmüller109 mit der Fortfuhrung der Untersuchung zu beauftragen. Dieser jedoch lehnte das Ansinnen aus »triftigen Gründen« ab und stellte überdies Oster hervorragende dienstliche Zeugnisse aus. Außerdem kommentierte er den ganzen Vorgang treffend mit der Bemerkung, daß »allerdings in Baden die Unsitte eingerissen [sei], daß die Kapläne in ihren Wohnungen dauernd von ledigen Frauenzimmern besucht würden. Daß unter diesen große Eifersucht herrsche und es viel Klatsch und Tratsch gäbe. Herrn Oster könnte man höchstens den Vorwurf machen, daß er darauf nicht genügend geachtet habe«.

Schließlich übernahm der Pfarrer Thomas Gutgesell110 aus Lichtental die undankbare Aufgabe, die Untersuchung zu Ende zu fuhren. Er zog es vor, mutmaßliche Zeugen zunächst inoffiziell durch einen jungen Vikar befragen zu lassen und sie erst dann offiziell und eidlich einzuvernehmen, wenn absehbar war, daß sich der damit verbundene öffentliche Skandal auch lohne: »Da die erste Untersuchung in Baden großes Aufsehen gemacht hat und eine zweite voraussichtlich noch größeres erregen würde, so hielt es der Unterzeichnete für zweckmäßig vorerst vor einer eidlichen Einvernahme abzustehen, bis er sich überzeugt hätte, daß wirklich auch etwas in fraglicher Sache zu eruieren wäre, und beauftragte deshalb den Sekretär bei der ersten Untersuchung, Herrn Vikar Brammer in Baden, deshalb bei den betreffenden Personen Recherchen anzustellen und erst im bejahenden Falle dieselben zur Einvernahme vorzuladen«.

Wie sich später herausstellte führte dieses Verfahren zum Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Eine Zeugin war über die inoffizielle Ausforschung durch einen Vikar so empört, daß sie nicht nur die Aussage verweigerte, sondern auch mit Strafanzeige wegen übler Nachrede drohte. 365

A m 28. April 1874 erstattete Pfarrer Gutgesell einen Zwischenbericht, in dem er davon abriet, die Untersuchung fortzufuhren, da alle bisher befragten Zeuginnen entweder nichts wußten oder nichts wissen wollten. Nur daß die Magd, die angeblich die Urheberin des Gerüchtes von der Abtreibung in der Schweiz war, Karolina heiße, aus Kuppenheim stamme und nun in Straßburg diene, hatte der Pfarrer durch seine Vernehmungen herausgebracht. In der Folge wurde von Lothar Kübel nicht nur das Stadtpfarramt Kuppenheim bemüht, das am 3. Mai 1874 immerhin den Nachnamen dieser Magd liefern konnte, sondern auch die Bistumsverwaltung in Straßburg, der es nach einem weiteren Schreiben Kübels vom 17. Juni 1874, in dem er auf die D r i n g lichkeit der Angelegenheit hinwies, gelang, die Magd aufzuspüren und zu vernehmen. D o c h diese wollte besagte Äußerung betreffs einer mutmaßlichen A b treibung Fräulein Wollenwebers niemals getan haben. Im Juli 1874 teilte das Erzbischöfliche Ordinariat Straßburg durch seinen Generalsekretär A. Straub mit, daß man die Magd verhört habe, sie aber trotz massiven Drucks hartnäckig leugne, irgendetwas über ein unsittliches Verhältnis zwischen dem Geistlichen Oster und Fräulein Wollenweber gewußt oder geäußert zu haben, geschweige denn von einer Abtreibung oder heimlichen Niederkunft in der Schweiz. »Ungeachtet aller Vorstellungen meinerseits, verharrte die genannte Person auf dem System des Leugnens, verwickelte sich zwar einige Male in den Antworten, war aber nicht zum Geständnis über die angegebenen Tatsachen zu bringen. Die Unpäßlichkeiten der Fräulein Wollenweber seien nicht derart gewesen das sie auf die Folgen eines sittlichen Vergehens hätten schließen lassen, auch sei die Reise in Schweiz eine gewöhnliche Erholungsreise gewesen. Karolina Busam verneint hartnäckig jemals an den laufenden Gerüchten von Schwangerschaft etc. teilgenommen zu haben; ihrer Aussage nach rühren dieselben von der Schusterfrau Maier her, die an der Familie Wollenweber suche Rache zu nehmen, weil ihr die Arbeit sei entzogen worden«. D e r Generalsekretär des Bistums Straßburg schließt seinen Bericht damit, daß er persönlich der Zeugin zwar kein Wort geglaubt habe, daß sie aber trotzdem als Zeugin unbrauchbar sei: »Wenn mir ein Urteil über die Karolina Busam zusteht, so muß ich erklären das mir die ganze Persönlichkeit derselben in betreff der Wahrheitstreue wenig Vertrauen einflößt und ich mich des Verdachtes nicht entschlagen kann, daß es ihr an Aufrichtigkeit fehlt. Ich bin fest überzeugt das durch sie höchst schwer zu der Kenntnis der Wahrheit wird zu gelangen sein, die zu einem gerichtlichen Verfahren notwendig ist«. Weder die Kirchenbehörde des Schweizer Bistums St. Gallens noch die des Bistums Chur, die ebenfalls von Lothar Kübel um Amtshilfe ersucht worden waren, hatten etwas über eine Niederkunft Fräulein Wollenwebers in Erfahrung bringen können. Oster selber ging nun seinerseits in die Offensive. E r beschuldigte den D o m kapitular Weickum, die Untersuchung allein zu dem Zweck gefuhrt zu haben,

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ihn zum Verzicht auf die Pfarrei Pfullendorf zu bewegen, und beantragte in seiner persönlichen Vernehmung in Freiburg am 6. Mai 1 8 7 4 , die Umstände zu untersuchen, die zu der Untersuchung geführt hätten. W e i c k u m hatte angeblich gegenüber einer Zeugin in B a d e n - B a d e n , nachdem diese Skrupel hatte, überhaupt irgendeine Aussage zu machen, nicht nur erklärt, daß es Pflicht »aller guten Katholiken« sei, dem B i s c h o f j e t z t , in der »großen Bedrängnis der Kirche«, treu zur Seite zu stehen, sondern auch, daß sie sich weder u m ihren R u f n o c h u m Oster Sorgen zu machen brauche: »Ihr Name wird nicht veröffentlicht werden, wie überhaupt der Prozeß gar nicht geführt wird, wenn Herr Oster sich freiwillig dem Bischof unterwirft und auf die Pfarrei verzichtet; dann werden milde Ermahnungen des Bischofs hinreichen, Herrn Oster auf den guten Weg zurückzuführen, wir brauchen dann nicht zu diesen Maßregeln greifen«.111 W i e nicht anders zu erwarten, wurde Domkapitular W e i c k u m am 10. O k t o ber 1 8 7 4 von der Anklage freigesprochen, seine Amtspflicht verletzt zu haben, indem er bewußt einen Tendenzprozeß gegen Oster geführt habe. D a gegen wurde Oster am selben Tag der »unbewiesenen Anklage« gegen einen Kirchenrichter (»coram j u d i c e eccl«.), »kirchlich unzuverlässigen, unpriesterlichen Verhaltens und des sittlich anstößigen B e n e h m e n s für schuldig« erklärt. E r sei »deshalb für die Dauer eines Jahres zur Erlangung einer Pfründe für unfähig zu erklären, auch in sämtliche Untersuchungskosten zu verfallen«. A m 4. N o v e m b e r 1 8 7 4 verlangte Oster n o c h einmal, daß i h m die N a m e n seiner Denunzianten genannt würden, wie es sein gutes R e c h t sei, damit er diese verklagen könne. A m 5. N o v e m b e r beauftragte das Erzbischöfliche O f ficialat das Dekanat Ettenheim, dem Geistlichen Lehrer Oster in Karlsruhe zu eröffnen, daß die gegen ihn geführte Untersuchung nicht aufgrund einer Denunziation, sondern ex officio gepflogen, derselben und unserem Urteile vom 10. v. M. eine solche (bei den betreffenden Untersuchungsakten nicht sich befindliche) Denunziation auch nicht zugrunde gelegt wurde. Wir sind deshalb nicht in der Lage, seiner Bitte zu entsprechen, und durfte er in dieser kirchlichen Sache alle seine Rechte vor dem kirchlichen Richter zweiter Instanz geltend machen«. Oster war verständlicherweise empört über dieses Urteil und verlangte W i e dergutmachung und Wiederherstellung seines guten Rufes. Als der kirchliche R i c h t e r der Zweiten Instanz, der B i s c h o f von R o t t e n b u r g , j e d o c h erklärt hatte, daß der Bistumsverweser Lothar Kübel auf keinen Fall einer R e s t i t u tionspflicht unterliegen werde, selbst wenn das Urteil gegen Oster in der zweiten Instanz aufgehoben werden würde, verzichtete dieser auf den R e kurs. In seinem letzten Schreiben an die Kirchenbehörde, mit dem er der Kurie der Erzdiözese Freiburg die Gefolgschaft aufkündigte, spielten wohl zwei Faktoren die Hauptrolle. Vermutlich war Osters E m p ö r u n g über das Verhalten der Kirchenbehörde echt, von der er j a völlig zu R e c h t annahm, daß sie bewußt einen Tendenz-

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prozeß gegen ihn gefuhrt hatte. Auf der anderen Seite muß er genau gewußt haben, daß er sich gegenüber seiner Kirchenbehörde selbst unloyal verhalten hatte, indem er nicht sofort auf die Pfarrei Pfiillendorf verzichtet hatte, nachdem diese die Annahme des großherzoglichen Dispenses vom Staatsexamen genauso bewertete, als hätte er um diesen Dispens nachgesucht, was er implizit ja auch tatsächlich getan hatte. Rudolf Oster machte schnell Karriere im Staatsdienst. 1878 wurde er Direktor des Realgymnasiums in Villingen, 1880 Vorstand der Höheren Bürgerschule in Waldshut, 1896 Direktor des Realgymnasiums Ettenheim. Im Jahre 1877 war er eine Zivilehe eingegangen, die offenbar 15 Jahre später gescheitert war. Das Pfarramt Waldshut bat 1892 um Aufhebung der Exkommunikation der Olga Kasterer aus Baden-Baden, in die diese durch das Eingehen einer Zivilehe, überdies mit einem katholischen Priester, automatisch verfallen war. Diese Bitte wurde unter der Voraussetzung, daß sie sich zum römisch-katholischem Glauben bekenne und ihr seitheriges Verhältnis zu dem Priester Professor Oster total aufgebe, gewährt. Auch von Oster erhoffte man »deo ad juvante« nun die Rückkehr zur Kirche. Tatsächlich söhnte sich Oster kurz vor seinem Tode mit der Kirche aus, auch seine Exkommunikation wurde aufgehoben. b) Johann Emil Glattfelder112 Aufschlußreich fur den milieuspezifischen Kontext der schwierigen politischen Situation von Reichsgründung und Kulturkampf ist ein Vergleich im Verhalten der Kirchenbehörde in dem zweiten Fall eines Priesters. Dieser hatte ebenfalls im Jahre 1875 bei der Regierung — allerdings explizit — um Dispens vom Staatsexamen nachgesucht. Während im Fall Oster konkrete Außerungsformen eines katholischen Milieus in dem kleinstädtischen Kurort Baden-Baden deutlich werden, führt das zweite Fallbeispiel in sozial ganz andere Verhältnisse. Doch in beiden Fällen geht es um soziale Abgrenzungen. Im Fall Oster grenzten sich Angehörige des alten Mittelstandes mit traditionalistischen Moralvorstellungen gegen die aufstiegsorientierte Identität eines jungen Priester mit bildungsbürgerlichen Attitüden ab. Der Fall Glattfelder zeigt dagegen die Abwehr des traditionalen, ländlichen Milieus gegen Modernisierung und Industrialisierung. Auch hier wird der »Staatspriester« mit jemandem identifiziert, der mit den Herrschenden gemeinsame Sache macht. Seit der Verschärfung der Kirchengesetze wagte es nur noch ein einziger Priester, sich den Anordnungen der Kirchenbehörde in dieser Frage zu widersetzen. Dieser scheiterte jedoch, im Gegensatz zu Rudolf Oster, nicht in erster Linie an der Strategie der Kirchenbehörde, sondern durch die inzwischen erfolgte Mobilisierung der kirchentreuen katholischen Bevölkerung in einigen Regionen Badens. Der Fall des Priesters Johann Emil Glattfelder wäre in der noch mehrheit368

lieh liberalen Bodenseeregion zur selben Zeit kaum möglich gewesen. Ausgetragen wurde der Konflikt im Dekanat Gernsbach in Nordbaden, in der Nähe von Baden-Baden. Wie schon im Fall Oster ansatzweise deutlich geworden ist, bestand in dieser Gegend, in Stadt und Land bereits ein katholisch-ultramontanes Milieu, das sich in Südbaden erst später entwickelte. An dem Boykott der fast rein katholischen Gemeinde 113 beteiligten sich nur Beamte nicht, die entweder um ihre berufliche Laufbahn furchten mußten oder als solche ohnehin liberal eingestellt waren. Schließlich versuchte der >Staatspriester< Glattfelder, um wenigstens einige Gottesdienstteilnehmer aufweisen zu können, nicht-ultramontane Katholiken aus der Umgegend zu mobilisieren. Nicht zufällig handelte es sich dabei um einen Fabrikanten und dessen Arbeiter bzw. Angestellte. Der Bericht des von der Kirchenbehörde geschickten Pfarrverwesers, der im Dezember 1875 erst einmal die weitere Entwicklung abwarten sollte, mag die Situation verdeutlichen: »Glattfelder hat am 18ten d[ieses] M[onats] zum erstenmal dahier celebriert; der Meßner mußte ihm dienen, und anwesend war seine Mutter. A m 19ten hatte er 2 Meßdiener, den Sohn eines pensionierten Grenzaufsehers, dem man mit Entziehung der Pension drohte, und den des Schulbaukostenverrechners, den sein Tochtermann, der im Geheimen in Cultur macht, dazu überredet hat. A m 19ten wohnten dem Morgengottesdienst bei: der Lehrer, genannter Rechner, ein Badener und ein unbekanntes Mädchen; Mittags der Lehrer, Lehrerin und Kind, Rechner, beide Töchter mit der Magd und die Haushälterin Glattfelders. A m 25ten in der Mette: Lehrer, Frau und Kind, Rechner, die Haushälterin, die Magd des Ratsschreibers und ein Unbekannter; im Hochamt: Lehrer und Sohn, Rechner und Rathsschreiber nebst Magd, genannter Grenzaufseher und 7 dienstthuende Personen aus der Ziegelhütte zwischen Oos und Badenscheuern, die aber nicht zur hiesigen Pfarrei gehört. Am 26.: Lehrer u. Sohn, Grenzaufseher u. Sohn, Rathsschreiber nebst Schwägerin u. Magd u. 18 Personen von der Ziegelhütte, unter denen sich Protestanten und solche Katholiken befanden, die schon längst keine Kirche mehr besuchten; Glattfelder hat den Ziegeleibesitzer, der Freimaurer und von der Frau geschieden ist, besucht und um Zusendung von Personen gebeten«. 1 1 4

Der Fall des Pfarrverwesers Glattfelder, der um Dispens vom Staatsexamen nachgesucht hatte, und von der Regierung 1875 auf die Pfarrei Balg (Dekanat Gernsbach, Nordbaden) präsentiert wurde, war bezeichnend für die Solidarität der »guten« Katholiken zu dieser Zeit und damit für das katholische Milieu. Die Gemeinde boykottierte den Besuch des Gottesdienstes — trotz des Weihnachtsfestes — so lange, bis der Pfarrer aufgab.

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с) Die »Sperrlingspriester«115 Auf dem Höhepunkt des Badischen Kulturkampfes im Jahre 1874 wurde das Kirchengesetz von 1860, das den Klerus als politische Größe ausschalten und den Ultramontanismus kulturpolitisch neutralisieren sollte, noch erheblich verschärft. Obwohl es 1871 und 1872 Verhandlungen zwischen der badischen Regierung und der Freiburger Kurie gegeben hatte, die den Badischen Kulturkampf beilegen sollten, wurde dies durch den preußischen Kulturkampf hinfällig. Baden konnte und wollte nicht an seiner Reichstreue zweifeln lassen. Da jedoch in den Verhandlungen der Jahre 1871 und 1872 ohnehin keine Seite von ihren Prinzipien ganz hatte abgehen wollen (die Kirche nicht von dem Standpunkt, sie habe das Recht, über die Ausbildung und Disziplinierung ihres Klerus allein zu entscheiden, die Regierung nicht vom Prinzip der Staatsaufsicht über den Klerus), ist es ohnehin fraglich, ob ein Kompromiß zustandegekommen wäre. Die Verordnung über die Staatsprüfung von Geistlichen wurde jedoch nun analog den Reichsgesetzen über den Amtsmißbrauch der Geistlichen116 in ihrer Anwendung verschärft. Das neue badische Gesetz über die rechtliche Stellung der Kirchen im Staat vom 19. Februar 1874 machte nicht nur die Zulassung zu einem Kirchenamt — bisher nur die Übernahme einer Pfründe — , sondern auch die öffentliche Ausübung kirchlicher Funktionen vom Bestehen des >Kulturexamens< abhängig. Zuwiderhandlungen gegen diese Bestimmung wurden mit Geldstrafen von 30 bis 600 Mark, im Wiederholungsfalle mit Gefängnisstrafen von drei bis sechs Monaten bedroht. Kirchliche Würdenträger, die ihren Klerus zur Mißachtung dieser Bestimmungen nötigten, wurden mit Geldstrafen bis zu 1500 Mark oder Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr bedroht. Damit sollte eine Fortsetzung des Boykotts der Kirchengesetze, wie ihn die Kirchenbehörde bisher bei der Kulturexamensverordnung von 1867 erfolgreich — wenn auch auf Kosten des Klerus — praktiziert hatte, unmöglich gemacht werden. Dies wurde dem Bistumsverweser Lothar Kübel sehr schnell deutlich. Er ließ am 31. Januar 1874, also noch bevor die neuen Gesetzesparagraphen endgültig in Kraft getreten waren, einem ganzen Jahrgang der Priesteramtskandidaten eine Art Notweihe erteilen und setzte sie sofort als Vikare ein. Diesen wurde die Ausübung einer geistlichen Funktion durch die Regierung untersagt. Alle ohne Ausnahme hielten sich jedoch an die Weisungen der Kirchenbehörde. Die insgesamt 35 Vikare wurden in der Regel zunächst zu Geldstrafen verurteilt, die sie meist nicht bezahlen konnten, so daß sie statt dessen einige Tage oder Wochen im Gefängnis verbringen mußten. Anschließend wies Lothar Kübel ihnen wieder einen Vikarsposten zu, und entsprechend wurden diese Vikare dann zu zum Teil mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Häufig wurden sie auch nach der ersten Gefängnisstrafe von der Kirchenbehörde wieder zur Ausübung ihrer Funktionen angewiesen, bis sie erneut verhaftet wurden. 370

Das Vorgehen der Regierung überschritt alle Grenzen, die der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gebot. Es handelte sich im badischen Kulturkampf nicht mehr >nur< um eine Form des Rechtspositivismus, mit dem die Liberalen auf legalem Wege bis dahin den Einfluß des ultramontanen Katholizismus bekämpft hatten, sondern bei dem Vorgehen gegen die »Sperrlingspriester« wurde de facto gegen einen fundamentalen Rechtsgrundsatz verstoßen. Das oberste Prinzip: »sine lege nulla poena« wurde hier in einer Weise umgangen, daß erhebliche Zweifel geäußert wurden, ob sich dies noch legitimieren ließ. Die »Sperrlinge« waren am 31.1.1874 geweiht worden, das Gesetz, aufgrund dessen ihnen ihre Amtstätigkeit untersagt werden sollte, war erst am 19.2.1874 in Kraft getreten. Also erließ Jolly, nachdem er sich vom Staatsministerium dazu hatte ermächtigen lassen, das Amendement der Zweiten Kammer zur Übergangsbestimmung des Gesetzes anzuwenden, am 10. August 1874 eine Regierungsverordnung, mit der er dem Weihejahrgang 1874 die Ausübung aller öffentlichen kirchlichen Funktionen untersagte. Im Sommer 1875 befanden sich 31 der 35 Neupriester im Gefängnis. Niemand übernahm hier, wie bei der Prominenz, die Zahlung der Geldstrafen. Während Lothar v. Kübel zu einer Geldstrafe von 500 Mark oder ersatzweise zu zehn Wochen Gefängnis verurteilt wurde, weil er die Anstellung der Vikare nicht rückgängig machte, kam es nicht zu seiner Verhaftung. Als auch er die Geldstrafe nicht bezahlte, erging ein Pfändungsbeschluß. Zweimal kam es im Sommer 1875 zu spektakulären Versteigerungsaktionen der persönlichen Habe des Bistumsverwesers. Am 17 Juni wurde gepfändeter Wein versteigert, am 21. August »ein Kanapee, ein Bild von Erzbischof Hermann, ein Bild von Papst Pius IX. und ein Ölgemälde, die Madonna mit dem Jesuskinde«.117 Alle diese Gegenstände ersteigerte eine der fuhrenden Persönlichkeiten der Katholischen Volkspartei, der Abgeordnete der Zweiten Kammer, Rechtsanwalt Ludwig Marbe. So konnte er Lothar Kübel dessen Besitz zurückerstatten und einen möglichen Gefängnisaufenthalt verhindern, indem er die Zahlung der Geldstrafe ohne Gesichtsverlust für den Bistumsverweser ermöglichte. Die Neupriester des Weihejahrgangs 1874 wurden dagegen im Rahmen der Machtprobe zwischen Staat und Kirche von beiden Seiten durch Verordnungen gezwungen, eine Märtyrerrolle zu übernehmen. Insofern erhöhten diese sogenannten »Sperrlingspriester« die Deliktquote gegen die Kulturkampfgesetze eher künstlich, denn sie handelten auf strikte Anweisung der Kirchenbehörde und nicht auf eigene Initiative. In ihren sonstigen Verhaltensweisen unterschieden sie sich nicht von dem Rest ihrer Generation und entsprachen auch keineswegs der stilisierten Märtyrerrolle, in die sie gepreßt werden sollten oder in der sie sich selbst sahen.118 Deswegen wurden diese Fälle in der Statistik der kirchenpolitischen Delikte gesondert berücksichtigt, bzw. nur in einem eingeschränkten Sinne als Delikte bewertet. Einer der »Sperrlingspriester« trat zum Beispiel später zum Altkatholizismus über, was keineswegs in das Bild paßte, daß die Kirche von diesen jungen Priestern malte.119 371

Bistumsverweser Lothar Kübel entschloß sich schließlich, das Kulturexamen zwar weiter boykottieren zu lassen, aber keine neugeweihten Priester mehr in Baden einzusetzen. Bis 1880 mußten die seit 1874 geweihten Priester entweder ins Ausland oder in andere deutsche Staaten, häufig etwa nach Bayern, ausweichen. Sie waren damit die Hauptopfer der Politik von Staat und Kirche, wenn sie sich nicht, wie ζ. B. der Priester Joseph Flach,120 der nach Amerika gegangen war, woanders viel wohler fühlten. Dieser wurde 1883 wegen Priestermangels in die Erzdiözese Freiburg zurückberufen und erkrankte sofort an einem psychosomatischen Magenleiden, das er schon früher gehabt hatte, das aber in Amerika verschwunden war. Er selber führte das auf die Tatsache zurück, daß dort »Wünsche der Priester und der Gemeinden so weit wie möglich berücksichtigt« würden, »hier dagegen gar nicht«. Als seine Krankheit lebensbedrohlich wurde, ließ die Kirchenbehörde ihn wieder gehen. Mit der Verschärfung der Examensgesetze und dem Altkatholikengesetz, von dem noch die Rede sein wird, war im Jahre 1874 der Höhepunkt des badischen Kulturkampfes erreicht. Gleichzeitig wurde deutlich, daß die Polarisierung zwischen Nationalliberalen und Regierung einerseits, Ultramontanen und Kurie andererseits, eine Schärfe erreicht hatte, die auf beiden Seiten nicht aufrechtzuerhalten war. Der Großherzog zeigte sich nicht länger bereit, den Kulturkampf zu unterstützen. Auch die protestantische Geistlichkeit wurde von jedem Kulturkampfgesetz mitgetroffen und in beiden Konfessionen drohte ein weiteres Absinken des Priesternachwuchses, bei den Katholiken sogar der völlige Verlust. Im katholischen Klerus war die Grenze der Leidensfähigkeit erreicht. Die letzten Kulturkampfmaßnahmen der Jahre 1875/76 brachten eine weitere Demütigung der katholischen Geistlichen, indem die Unterwerfung unter die Kulturkampfgesetze — analog dem preußischen »Brotkorbgesetz« — über die Frage der Priesterbesoldung erreicht werden sollte. Obwohl die Liberalen grundsätzlich ebenso gegen eine Staatsdotation zur Aufbesserung der Priesterbesoldung eingestellt waren wie die Freiburger Kirchenbehörde, wurde den Kirchen weiterhin ein Besteuerungsrecht verweigert. Erkauft wurde der schwierige Kompromiß mit den Nationalliberalen durch einen Passus, der von den Kirchenoberhäuptern einen unbedingten Gesetzesgehorsam verlangte, wenn sie für die Besoldung ihrer Geistlichen in den Genuß der Staatszuschüsse kommen wollten. Damit war die neue Regelung formell paritätisch, de facto aber nicht, da ja der Großherzog das Oberhaupt der protestantischen Landeskirche war. Ganz abgesehen davon, daß dies - auf dem Weg zur Trennung von Kirche und Staat - ein extrem inkonsequentes und etatistisches Vorgehen war, wurden die katholischen Geistlichen gegenüber den protestantischen damit materiell erheblich benachteiligt. Die Staatszuschüsse, die von der Zweiten Kammer zur Aufbesserung der Einkommen der Geistlichen gewährt wurden, um das Gefälle zu den Beamtengehältern, das sukzessive größer geworden war, zu 372

verringern, wurde beiden Konfessionen in gleicher Höhe zugebilligt.121 Dabei wurde aber das Konfessionsverhältnis von 1:2 nicht berücksichtigt, so daß die katholischen Pfarrer hier de facto erheblich benachteiligt wurden. Doch die Kosten des Kulturkampfes waren auf beiden Seiten hoch. Liberale und Ultramontane hatten im Kampf um das »Weltanschauungsmonopol« keine Opfer gescheut.

7. Widerspruch, Unterwerfung und Abwanderung Vor allem die Schulfrage war es gewesen, die den noch weitgehend liberal ausgerichteten Klerus gegen den politischen Liberalismus eingenommen hatte. Aber mit der Einfuhrung der obligatorischen Simultanschule im Jahre 1876 hatte sich schließlich die Kulturhegemonie der Liberalen im Ausbildungssektor langfristig erfolgreich durchgesetzt. Trotzdem führte dies in der Erzdiözese Freiburg nur ausnahmsweise zu einem extremen Ultramontanismus. Weder kirchenpolitisch noch in der Frömmigkeitspraxis setzte sich eine Mehrheit des Klerus aktiv für eine Romanisierung bzw. Ultramontanisierung ein. Die Disziplinierungsmaßnahmen der Kirchenbehörde führten insgesamt zu einer Entpolitisierung und Resignation des badischen Klerus. Politisch aktiv wurde er bis zur »Ära Wacker« nicht mehr. Die überwiegende Mehrheit der badischen Geistlichen war nach der Reichsgründung keinesfalls an einer weiteren Polarisierung der Fronten interessiert gewesen. Gegenüber den Kulturkampfmaßnahmen der Liberalen herrschte eine resignative Grundstimmung vor. Unter dem Eindruck der Reichsgründung und der Beschlüsse des I. Vatikanischen Konzils mehrten sich die Stimmen in der katholischen Presse und im Klerus, die für eine Aufhebung des Boykotts der Ortsschulräte eintraten. Nachdem Lothar v. Kübel zuerst eine Reihe von Bedingungen gestellt hatte, auf die Jolly nicht einging, nahm der Bistumsverweser schließlich das Verbot Vicaris an seinen Berus zurück, in den Ortsschulräten mitzuarbeiten. Ebenso wuchs im Laufe des Jahres 1872 das Unbehagen im Klerus darüber, daß die Freiburger Kurie sich auf keinen Kompromiß in der Frage des Kulturexamens einlassen wollte. Erst die weitere Verschärfung der Kulturkampfgesetze, mit denen Jolly sich sofort dem neuen preußischen Kulturkampf anpaßte, stellte die Bereitschaft des Klerus nach der Reichsgründung, sich der politischen Realität zu stellen, wieder in Frage. Die Polarisierung zwischen Ultramontanen und Liberalen wurde erheblich verstärkt durch das Entgegenkommen, das die badische Regierung der entstehenden Altkatholikenbewegung entgegenbrachte. Die Gründung altkatholischer Gemeinden und das Altkatholikengesetz von 1874, mit der Anerkennung gleicher Rechte für Altkatholiken, führte — ganz im Gegensatz zur Intention der Altkatholiken — zu einer neuen Phase des Freund-Feind-Denkens im katholischen Klerus und zu dessen weiteren Entliberalisierung. Dort, 373

wo altkatholische Gemeinden entstanden waren, mußten sich die katholischen Geistlichen, ob sie wollten oder nicht, innerlich und äußerlich von diesen distanzieren. Die Polemik der Altkatholiken gegen die Ultramontanen, die gegenüber einem großen Teil des badischen Klerus gar nicht angebracht war, mußte diesen Prozeß noch verstärken. Dazu kam der zunehmend fühlbare Priestermangel, der zu einer Arbeitsüberlastung führte. Nach der Verschärfung des Kulturexamens von 1874 und der Fortführung des Boykotts durch Lothar Kübel entstand im Jahre 1875 zum zweiten Mal der Wunsch, die Kirchenbehörde möge endlich einen sinnlosen Kampf aufgeben. Nicht nur die drei fuhrenden Vertreter des IClerus in der Zweiten Kammer bzw. in der Katholischen Volkspartei, Lender, Hansjakob und Förderer, plädierten jetzt für einen Kompromißkurs. Es wurde sogar eine Versammlung von Geistlichen geplant, die die Absetzung von Maas und Strehle fordern wollte, die als ultramontane Drahtzieher hinter dem Verhalten der Kirchenbehörde angesehen wurden. Doch der wachsende Unmut äußerte sich weder in offenem und/ oder organisiertem Widerspruch, noch in einer bedrohlichen Anzahl von Abwanderungen, d. h. Ubertritten zum Altkatholizismus oder Kirchenaustritten des badischen Klerus. Nur sechs Pfarrer traten zwischen 1874 und 1879 zum Altkatholizismus über, einer zum Protestantismus. Alle anderen liberalen Priester, deren Zahl schwer geschätzt werden kann, unterwarfen sich dem kirchenpolitischen Kurs der Freiburger Kurie.

a) Agitation gegen das Unfehlbarkeitsdogma Im Jahre 1870 war die liberale Opposition im Klerus weitgehend ausgeschaltet und ruhig gestellt. Nur eine kleine Gruppe von Pfarrern betrieb noch eine Agitation gegen das Unfehlbarkeitsdogma, um zumindest symbolische Protestaktionen, wie eine Zustimmungsadresse an den Württemberger Bischof Hefele, zu formulieren. Als dieser sich jedoch, als letzter der deutschen Bischöfe, im April 1871 den Beschlüssen des Konzils unterwarf, war die geplante Adresse des Freiburger Klerus gar nicht zustandegekommen, weil die Initiatoren schon im Vorfeld namhaft gemacht werden konnten und sich notgedrungen Unterwerfungsritualen unterzogen, die im folgenden geschildert werden sollen. Am 15. November 1870 erfolgte im Badischen Beobachter,122 dem Organ der Ultramontanen, der Abdruck eines Briefes, den der Pfarrverweser Karl Bläß123 von Weinheim an Pfarrer Huggle 124 in Neuenburg (Dekanat Neuenburg, Breisgau) geschrieben hatte. In einem Kommentar der Zeitungsredaktion wurde dem Abscheu darüber Ausdruck verliehen, daß ein Angehöriger des badischen Klerus angesichts »der jetzigen Lage des heiligen Vaters und der Kirche« einen solchen Brief habe schreiben können. Doch Klerus und Volk würden den Abweichler schon einer richtigen Beurteilung unterziehen. In dem abgedruckten Brief hieß es: 374

»Ein frischer Hauch bewegt z.Z. einen Teil des badischen Klerus. Die in R o m gefaßten Beschlüsse erfreuen sich nicht der Zustimmung derselben. Wir sagen uns los von der sogenannten ultramontan-jesuitischen Partei, und sprechen die Hoffnung aus, daß aus der nationalen Einigung auch ein erfrischender Hauch in die deutsche katholische Kirche dringen werde«.

Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß die Regierung oppositionelle Geistliche vor der Entsetzung von ihren Pfründen schützen werde. Der Verfasser des Briefes forderte den Adressaten auf, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, falls er seinen Ansichten beistimme, bat aber um absolutes Verschweigen seines Namens. Dieser wurde im Badischen Beobachter auch nicht mit abgedruckt, aber offensichtlich der Kirchenbehörde mitgeteilt. Der Brief war an eine ganze Reihe von Geistlichen versandt worden, deren Namen und Reaktionen Bläß aber in der Folge, bis auf zwei Ausnahmen, nicht preisgab: Domkapitular Dr. Haiz hätte ihm ebenso wie Dr. Hansjakob von einer Agitation abgeraten. In dem Verhör, das zehn Tage später in der Erzbischöflichen Kanzlei stattfand, bekannte sich Bläß sofort als Verfasser dieses Briefes und unterwarf sich den Beschlüssen des Vatikanums: »Ich bekenne mich als Verfasser dieses Briefes und erkenne das Ungesetzliche dieses Verfahrens an. Ich sehe ein, daß ich mich durch diese Ausdrücke, welche ich in der ersten Erregung und Übereilung niedergeschrieben habe, gegen das Dogma der Kirche verfehlt habe. Ich unterwerfe mich den Beschlüssen des Vatikanischen Konzils, insbesondere dem Dogma über die Unfehlbarkeit des Papstes innerlich und äußerlich, und nehme es in dem Sinn an, in welchem das Konzil es verkündet hat«.125

Außerdem erklärte Bläß, daß er in keiner Verbindung zur Regierung gestanden habe und dies auch in Zukunft nicht beabsichtige. Er räumte ein, daß er ein Organ der kirchlichen Opposition, den »Rheinischen Merkur«, abonniert habe, und versprach, in Zukunft darauf zu verzichten. Die »Münchener Stimmen« habe er dagegen nicht regelmäßig gelesen. Das Verhör endete damit, daß Bläß auch noch die restlichen, in seinem Brief belegten, kirchenkritischen Äußerungen widerrief und sich verpflichtete, wie dies in solchen Fällen üblich war, den Adressaten seiner Schreiben seinen gewandelten Standpunkt deutlich zu machen, sich in Zukunft nicht mehr an der Agitation gegen das Unfehlbarkeitsdogma zu beteiligen, ja, »nach Kräften bei[zu]tragen, daß diese Agitation aufhöre«. Unmittelbar nach diesem Verhör erschienen in der zweiten Novemberhälfte in mehreren liberalen Zeitungen 126 die sogenannten »Janusthesen«. Als Verfasser wurde ein badischer Geistlicher angegeben, dessen Name den Zeitungsredaktionen bekannt sei. Inhalt und Zweck der Janusthesen, so das Erzbischöfliche Ordinariat, sei die Auflehnung gegen die römisch-katholische Kirche. Selbstverständlich wurde von fast allen Geistlichen der Erzdiözese, insbesondere von der Kirchenbehörde, darüber spekuliert, wer der Urheber dieser ketzerischen Thesen war. Entsprechend kursierten viele Gerüchte, in 375

denen öfters der N a m e des Pfarrers Josef Matt 127 fiel. Der Verdächtigte wurde sofort persönlich in das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg vorgeladen. Matt gegenüber wurde der Inhalt dieser Zeitungsartikel noch einmal in folgender Zusammenfassung vorgehalten: »Das Vaticanische Konzil sei kein ökumenisches Concil; seine Beschlüsse, insbesondere die Definition von dem unfehlbaren Lehramte des Papstes seien keine gültigen; man müsse sich von der Papstkirche lossagen, eine deutsche Nationalkirche gründen; der moderne Culturstaat müsse vom Clerus als dem Träger der Wissenschaft, der Zivilisation, der Geistesfreiheit verteidigt werden«.128 Außerdem aber hatten die Janusthesen noch ganz konkret zur Einführung von, dem Protestantismus analogen, Gemeindeverfassungen aufgefordert sowie zum Ergreifen des s.g. »recursus ab abusu« (= das Einlegen der Berufung gegen ein kirchengerichtliches Urteil beim Staat) gegen Urteile der Kirchenbehörde gegen häretische oder schismatische Geistliche. Aufschlußreich, nicht nur für diesen speziellen Fall, ist Matts Reaktion auf die Vorladung. Er bat darum, ihn vom persönlichen Erscheinen zu entbinden. Erstens sei er krank und könne dies nötigenfalls durch ein ärztliches Zeugnis belegen, und zweitens wolle er »nicht in Freiburg herumlaufen und für Etwas angesehen werden«, was er nicht sei. Er schrieb an den Bistumsverweser persönlich: »Euer Gnaden wollen meine offene Sprache mir zu gut halten - so Etwas bleibt in der Regel längere Zeit an einem hängen und ich wünschte nicht bei meinen Kollegen, denen das wohl nicht geheim bliebe, in ein schiefes Licht zu kommen«.129 Nachdem die Kirchenbehörde auf seinem persönlichen Erscheinen, wenn auch eine Woche später, beharrte, wurde Matt deutlicher. Er schrieb kategorisch: »Ich k o m m e morgen nicht«, 130 räumte aber in einem Nachsatz ein, daß er, wenn er wieder ganz gesund sei, k o m m e n werde, und bat noch einmal flehentlich, ihn vom persönlichen Erscheinen zu dispensieren. Vermudich waren Matts Befürchtungen berechtigt. W i e bei anderen Disziplinaruntersuchungen durch die Kirchenbehörde festzustellen war, wußten Kollegen oft sogar eher als der Betroffene, daß er nach Freiburg vorgeladen war, und dies bedeutete in der Regel wirklich nichts Gutes. Meistens wurde dem Dekan ja vor Ort die Untersuchung überlassen, und solange es nicht zu einer förmlichen Zeugeneinvernahme kam, konnten Aufsehen und Gerede vermieden werden. In diesem Fall aber war die Kirchenbehörde dringend daran interessiert, daß oppositionelle Tendenzen im Klerus auch unter den Geistlichen selbst möglichst geheim blieben. Der U n m u t über das Unfehlbarkeitsdogma unter den Geisdichen war weit verbreitet, aber unter dem Druck des Kulturkampfes war es nicht zu erwarten, daß eine Mehrheit daran interessiert war, öffentlich zu demonstrieren, daß der Klerus keine homogene, geschlossene Gruppe war. Eine Vorladung auf die Erzbischöfliche Kanzlei hatte immer zwei Seiten. Es ging einerseits eine abschreckende Wirkung davon auf diejenigen aus, die sich ähnlicher Vergehen schuldig fühlten wie der Vorgeladene, auf der anderen Seite konnte sie aber auch, gerade wenn es u m kirchen376

politische Fragen ging, für andere Opponenten ermutigend wirken. Dunkelzifferquoten bei Delikten aller Art haben - wie bereits früher erörtert - eine präventive Wirkung. Da es seit dem badischen Kirchenstreit, insbesondere aber seit dem Schulstreit, nicht mehr unbedingt als verpönt galt, Kollegen bei der Kirchenbehörde anzuzeigen, wurde es zunehmend riskanter, etwa bei Kapitelskonferenzen offen seine Meinung zu sagen. Schließlich kam man Pfarrer Matt entgegen. Es wurde zwar nicht auf ein persönliches Verhör verzichtet, aber dieses fand in seiner Pfarrgemeinde statt. Man bestand auf diesem Verhör, obwohl Matt schriftlich seine »Verfehlungen« eingestand und seine oppositionellen Ansichten widerrief. Er habe seine »subjektive Ansicht im Gehorsam dem Urteil der Kirche« unterworfen; weder mit den Janusthesen noch mit einer anderen Veröffentlichung habe er irgend etwas zu tun. 131 Schließlich wurde Josef Matt am 5. Dezember 1870 wegen des Verdachts der Agitation gegen das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit von Dompräbendar Josef Schmitt und Ordinariatssekretär Arnold Vögele im Gasthaus zum Schlüssel in Peterstal (Dekanat Offenburg) verhört. Er gestand noch einmal mündlich ein, daß er von Anfang an ein Gegner der Unfehlbarkeit gewesen sei. Begierig habe er alle kritischen Stimmen dazu gelesen. Es sei seine Absicht gewesen, mit dazu beizutragen, daß zumindest eine Dankesadresse des badischen Klerus an Bischof Hefele von Rottenburg zustande komme. Die Kirchenbehörde war aber in erster Linie daran interessiert, Namen von weiteren oppositionellen Geistlichen zu erfahren bzw. deren Organisationsformen kennenzulernen. Frage: »Es soll sich ein Verein katholischer Geistlicher im Großherzogtum Baden organisiert haben, um gegen die Beschlüsse des allgemeinen Vatikanischen Konzils, namentlich gegen das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes eine Agitation hervorzurufen. Was ist Ihnen bekannt von der Entstehung dieses Vereins?« Matt antwortete, daß ihm von einem förmlichen Verein nichts bekannt sei. Er habe allerdings mit Pfarrer Bläß von Weinheim darüber gesprochen, daß es sicher eine größere Anzahl von Geistlichen gebe, die ebenfalls Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas seien und die man sammeln müsse. Der Aufforderung, Namen von anderen Geistlichen zu nennen, die seinen Standpunkt teilten, lehnte Matt kategorisch ab, da er diesen unbedingte Diskretion zugesichert habe. Ebenfalls weigerte er sich, den Namen des Laien aus Regierungskreisen zu nennen, der ihm die vertrauliche Mitteilung hatte zukommen lassen, daß die Regierung jeden Geistlichen, der in der Opposition gegen dieses Dogma verharre, im Genüsse seines Einkommens schützen werde. Außerdem wurde er zu einer in der Konstanzer Zeitung abgedruckten Erklärung befragt, in der sich badische Geistliche von der Katholischen Volkspartei lossagten. Aus seiner Antwort geht hervor, daß er, wie andere liberale Geistliche auch, die Katholische Volkspartei solange und vor allem insofern unterstützte, als sie die Kulturkampfmaßnahmen bekämpfte und

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standespolitische Ziele des Klerus unterstützte, nicht aber, wenn es um allgemeine politische Fragen ging. Frage: »Welche Geistlichen haben sie unterschrieben?« Antwort: »Ich weiß nicht, wer sie verfaßt hat, auch nicht, wer sie unterzeichnet hat. Ich habe noch vor einem Jahre die Volkspartei in meinem Bezirke aufs Kräfigste unterstützt. Ich leugne aber nicht, daß ich meine politischen Ansichten dahin modifiziert habe, daß ich einen fernem und ohne Zweifel fruchtlosen Widerstand gegen die nationale Einigung unter Preußens Führung für unsere andern und eigentlich religiösen Interessen nachteilig halte. In rein religiösen und rein kirchlichen Fragen wird die katholische Volkspartei immer meine Sympathien haben und mich in einem solchen Sinne tätig finden. Wer die Konstanzer Zeitung zu dieser Veröffentlichung gewählt hat, ist mir unbekannt«. Ihm wurde vorgehalten, daß er Pfarrer Romer 1 3 2 (Konstanz) die briefliche Mitteilung gemacht habe, daß folgende Geistliche unter den Vereins- und Gesinnungsgenossen der liberalen Opposition zu finden seien. Deren Namen: Pfarrer Joseph Benz in Eichsei, 133 Pfarrer Prestle in Warmbach, 134 Pfarrverweser Dilger in Weilersbach, 135 Professor Dr. Friedrich Kössing in Freiburg, 136 Pfarrer Frey in Rippoldsau, 137 habe er auch Pfarrverweser Bläß brieflich mitgeteilt, während Matt sich angeblich nicht mehr erinnern konnte, wie er auf diese Namen gekommen sei, und auch nicht, daß er Bläß überhaupt geschrieben hab. Den letztgenannten Geistlichen nahm er in Schutz. Matt benutzte hier bezeichnenderweise — wohl in einer Art Identifikation mit dem Aggressor — das Vokabular, das alle Kritiker der Kirche, einschließlich seiner selbst, implizit als Leute ohne gute kirchliche Gesinnung kennzeichnete: »Für die gute kirchliche Gesinnung des Pfarrer Frey in Rippoldsau kann kein Zweifel bestehen. Sein Name kann nur infolge eines Irrthums oder Mißverständnisses mit irgend einer Agitation in Beziehung gebracht werde«. Pfarrer Matt geriet nie wieder in Konflikte mit der Kirchenbehörde. b) Josef Dilger Josef Dilger wurde 1837 in Falkau (Dekanat Stühlingen), einem Schwarzwalddorf mit 391 Einwohnern, von denen 387 katholisch waren, als Sohn des Glasarbeiters Nikolaus Dilger geboren. Das Abitur legte er 1858 in Freiburg »mit sehr gutem Erfolg« ab und studierte dann von 1858-1861 ebenfalls mit »sehr gutem Erfolg« an der theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Er erhielt ein Stipendium, das er hätte zurückzahlen müssen, wenn er nicht Pfarrer geworden wäre. 1862 wurde er zum Priester geweiht und trat 1863 seine erste Vikarstelle in Engen an. Hier zeigte ein Konflikt gleich in seiner ersten Gemeinde, daß er sich gegenüber unterbürgerlichen Schichten nicht gerade einfühlsam verhielt und sein Verhalten von diesen auch als über-

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heblich empfunden wurde. Dilger hatte sich in einer Weise über die spezifischen Verhaltensweisen der Unterschichtjugend geäußert, die in der Gemeinde auf eisige Ablehnung stieß. Gerade in der ehemals revolutionären Gemeinde Engen wurde jedes Verhalten eines Priesters, der in obrigkeitsstaatlicher Manier an die sozialdisziplinierenden Methoden von Polizei oder Bezirksamt erinnerte, scharf abgelehnt. Gegenüber dem Ordinariat rechtfertigte er sich damit, daß er nur den ungenügenden Besuch der Marienandacht am Samstag abend gerügt und die Eltern darauf hingewiesen habe, daß sie Kinder und Jugendliche zum Besuch dieses Gottesdienstes anhalten sollten, da dies der beste Weg sei, um die Straßenjugend zu disziplinieren. Noch im selben Jahr wurde Dilger versetzt. Bei dem aufgeklärt-liberalen Dekan Ochs, 138 der schon Anton Albrecht fördern wollte, fand Dilger dagegen Anerkennung. Dieser schlug 1864 den jungen Vikar fur die mit 1200 Gulden gutdotierte Pfarrkuratie Illenau (Dekanat Ottersweier) vor, weil dieser »... ein sehr intelligenter, solider, charaktervoller junger Priester ist, der seiner Konfession Ehre zu machen weiß, und dem Umsichgreifen des von protestantischer Seite gehegten Pietismus die gehörigen Schranken zu setzen verstehen wird. Auch kann Vikar Joseph Dilger mit Recht auf Anstand und Bildung Anspruch machen«. Dekan Ochs hatte immer noch nicht begriffen, daß die Zeit eines bürgerlichen Priesterideals endgültig vorüber war. Dilger kam 1864 als Pfarrverweser nach Waldkirch (bei Waldshut) in den Hotzenwald, der bekannt für seinen traditionalistischen Katholizismus war. Hier waren Priester mit liberal-bürgerlichem Auftreten fehl am Platze, sie wurden als Teil der herrschenden Elite wahrgenommen, die auf Kosten der Bauern und Unterschichten bürgerliche Normen vertraten. Der Fall Dilger ist besonders interessant, weil er theoretisch in der >Sozialen Frage< durchaus die Partei der unterbürgerlichen Schichten vertrat, diese aber gleichzeitig durch sein bürgerliches Verhalten verletzte und schließlich konsequenterweise dieses Dilemma löste, indem er zum Altkatholizismus übertrat. In einer Arbeit »Pro admissione ad curam animarum« behandelte er 1865 ausführlich die Frage: »Wie können die Kräfte und der Einfluß der Kirche zur Hebung und Besserung der sozialen Zustände nach Berücksichtigung der Verhältnisse der Neuzeit bestätigt werden?« Er betonte in dieser Arbeit die Vorrangigkeit der sozialen Frage vor allen anderen. Angesichts des »Despotismus des materiellen Kapitals, dem organisierten Zerstörungskrieg wider die Industrie des kleinen Mannes« und der damit einhergehenden Massenverarmung müßten neue Wege beschritten werden. Der Liberalismus ä la Schultze-Delitzsch kuriere nur an Symptomen herum, während die Lassalleaner mit ihren Staatsexperimenten völlig falsch lägen. Staatssozialismus könne nur funktionieren, wenn mit einem Zauberschlage aller Hochmut, alle Eitelkeit, aller Ehrgeiz höherer Intelligenz, alle Selbstsucht und Habsucht unter der Bourgeoisie wie unter den arbeitenden Klassen ein Ende nähmen«. 379

Eine Revolution sei schon deswegen abzulehnen, weil sie eine »Heilung des Kranken durch dessen Vernichtung« bedeuten könne. Keine der bestehenden politischen Parteien könne die soziale Frage lösen, weil der Grund allen Übels nicht im Gegensatz von Kapital und Arbeit, sondern in der Entchristlichung der Gesellschaft liege. »Mit Naturnotwendigkeit« sei also die Katholische Kirche die einzige Institution, die die soziale Frage lösen könne. Das Kapital als solches sei weder gut noch böse; die Denkweise der modernen Nationalökonomie, die Anwendung von deren Theorien — sekundiert vom Staat — durch die moderne Industrie, verursache die Verelendung der Massen. Das einzige Heilmittel dagegen seien eine christliche Wissenschaft und Volkswirtschaft, eine christliche Industrie und ein christlicher Staat. Christliche Askese und Caritas seien Aufgabe des Bürgertums, statt Egoismus sei Entsagung, Selbstverleugnung und opferwillige Hingabe gefordert. Für diese Arbeit erhielt Dilger »Admissio« auf fünf Jahre, d. h. sie wurde mit »Sehr gut« bewertet, obwohl der Dekan des Landkapitels Waldshut, Kajetan Geßler, zu Recht darauf verwies, daß dieser Beitrag nicht originell sei, sondern Dilgers Hand durch Kettelers »Die großen sozialen Fragen der Gegenwart« geführt worden sei. Dilgers theoretische Stellung zur sozialen Frage widersprach seinem Alltagsverhalten diametral. Er war nicht bereit, sein Ego zu unterdrücken, sondern erregte durch seine »Ansprüchlichkeit« in seiner Gemeinde Anstoß. 1866 beschwerten sich die Mitglieder der weltlichen Stiftungskommission über Dilgers Verschwendung der Pfarrbaufondsgelder. Er hatte im Pfarrhaus Doppelfenster einbauen und den Beichtstuhl polstern lassen. In dem Konflikt ging es aber wohl nicht so sehr um die Kosten für diese Maßnahmen als um die Selbstverständlichkeit, mit der er diese beanspruchte, und um sein anmaßendes Verhalten gegenüber den anderen Mitgliedern der Stiftungskommission. Die Beschwerdeführer drückten dies folgendermaßen aus: »... dieser Unfehlbare hat einmal angewiesen, er weiß, was er tut und damit fertig«. Da hier an einem Alltagskonflikt besonders deutlich wird, daß es bei der Auseinandersetzung zwischen Pfarrer und Gemeinde um die Konfrontation verschiedener kultureller Systeme ging, soll diesem an und für sich bedeutungslosen Konflikt noch etwas Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Art und Weise, wie die Polsterung der Beichtstühle in der Beschwerdeschrift kommentiert wird, macht eine Spannung deutlich, die weit über persönliche Animositäten hinausgeht: »[Dilger ließ] in die vorhandenen Beichtstühle, jeweils ein, Haar- und ein Strohpolster machen ..., die Erstem vom feinsten Leder, u m darauf zu sitzen, die Letztern, u m die Füße darauf zu stellen. Also das Machenlassen gepolsterter Beichtstühle mußte einem jungen, starken und gesunden Pfarrverweser vorbehalten bleiben - so fragt man sich — während schon Jahrhunderte alte und ältere ehrwürdige Geistliche und Greise, sich mit den gewöhnlichen Stühlen behalfen! — Dieser junge Herr, — sitzt so oft und so gerne bis zur Mitternacht in Bierstuben, wo man auch keine gepolsterten Stühle hat, wie kann