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German Pages 337 [324] Year 2019
CORPVS MEDICORVM GRAECORVM SVPPLEMENTVM EDIDIT
ACADEMIA BEROLINENSIS ET BRANDENBVRGENSIS
VI
JUTTA KOLLESCH KLEINE SCHRIFTEN ZUR ANTIKEN MEDIZIN
DE GRUYTER AKADEMIE FORSCHUNG BEROLINI IN AEDIBVS WALTER DE GRUYTER MMXIX
JUTTA KOLLESCH KLEINE SCHRIFTEN ZUR ANTIKEN MEDIZIN
DE GRUYTER AKADEMIE FORSCHUNG WALTER DE GRUYTER, BERLIN 2019
Dieser Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und mit Mitteln des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Senatskanzlei – Wissenschaft und Forschung erarbeitet.
ISBN 978-3-11-065341-0 E-ISBN (PDF) 978-3-11-065711-1
Library of Congress Control Number: 2019932025 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin /Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
JUT TA KOLLESCH ZUM 85. GEBURTSTAG
VORWORT
Der vorliegende Band vereint eine Auswahl der über fünf Jahrzehnte verstreut publizierten und zum Teil nicht mehr einfach zugänglichen wissenschaftlichen Fachbeiträge von Jutta Kollesch, die 1957 mit der Arbeit am Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum begann und von 1961 bis 1998 als Arbeitsstellenleiterin die Editionsreihen an der Berliner Akademie betreute und mit großem Engagement nachhaltig prägte. Sie verstand es, die Schriftenreihen als Ort für die international maßgebenden Editionen auf dem Gebiet der antiken Medizingeschichte über die Jahrzehnte weiterzuentwickeln, formal zu konsolidieren und auch in politisch und wissenschaftspolitisch herausfordernden und sich stark wandelnden Zeiten während der Periode der DDR und in den Jahren nach dem Umbruch 1989/90 eine klare Linie zu geben. Dabei achtete sie stets auf ein durchdringendes Verständnis der Überlieferungssituation und auf eine konzise Umsetzung der Befunde in den kritischen Apparaten. Nach dem Beispiel ihrer Edition der Galenischen Schrift Über das Riechorgan (CMG Suppl. V ) wurden die Bände ab 1965 mit möglichst wortgetreuen und dennoch flüssig zu lesenden Übersetzungen herausgegeben. Auch eine gepflegte Drucklegung und Typographie waren ihr stets wichtig, und zwar auch dann, als die Bände in den neunziger Jahren nicht mehr in der Druckerei gesetzt wurden, sondern an der Arbeitsstelle in der Form reproduktionsreifer Druckvorlagen erstellt werden mussten. Den Ruhestand hat Jutta Kollesch nach 1998 nicht wirklich angetreten. Sie arbeitet mit gleich bleibender Energie ohne Unterbrechung an der Arbeitsstelle weiter, wo ihr sachkundiger Rat von allen Kollegen und Kolleginnen bis heute sehr geschätzt wird. Neben ihrer editorischen und redaktionellen Tätigkeit, für die sie viel Zeit aufgewendet hat, trat sie auch regelmäßig bei internationalen Tagungen und Kongressen mit kleineren Arbeiten in Erscheinung, die eine Vielzahl von Aspekten der griechischrömischen Medizingeschichte beleuchten. Die Kernthemen, die diesem Band auch die Struktur geben, waren dabei Fragen zur medizinischen Sprache als früher Form der Fachprosa (I), breitgefächerte Studien zur hippokratischen Medizin und ihrer Fortwirkung im 4. Jh. v. Chr. (II). Noch mehr Aufmerksamkeit erhielt das immense Werk Galens, dessen Einbettung in die Zweite Sophistik die Autorin überzeugend herausgearbeitet hat (III 1). Einzelne Bestandteile der Lehre Galens hat sie gewinnbringend mit aristotelischen Ansätzen verglichen (III 5–6). Ihre kritischen Ausführungen zur Authentizität der wirkungsmächtigen Schrift Ars medica fanden große Resonanz und wurden kontrovers diskutiert (III 7). Grundlegend waren ihre Arbeiten zu den pseudogalenischen Definitiones medicae (IV 1–4), deren kritische Edition weit vorangeschritten ist. Auch mit ihren Beiträgen zur Geschichte des Corpus Medicorum (V I 1–4) leistete sie Pionierarbeit. Der Band schließt mit einer Reihe von fachkundigen
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Vorwort
Rezensionen (V II), in denen weitere Aspekte ihrer eigenen umfassenden Forschung Niederschlag fanden. Eine vollständige Übersicht über die Publikationen von Jutta Kollesch findet sich in der ihr gewidmeten Festschrift: Text and Tradition. Studies in Ancient Medicine and its Transmission (hrsg. von K.-D. Fischer u.a., Leiden 1998, S. 301–314). Die Auswahl der hier abgedruckten Beiträge wurde in enger Abstimmung mit der Jubilarin getroffen. Die Arbeiten sind dabei weitgehend ohne Änderungen reproduziert worden. Einige wenige Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die ursprüngliche Seitenzahl ist am Rand vermerkt, damit die Beiträge nach ihrer Erstveröffentlichung zitiert werden können und Bezugnahmen auf die ursprünglichen Publikationen verifizierbar sind. Verweise auf Arbeiten, die im vorliegenden Band auch Aufnahme fanden, wurden entsprechend ergänzt. Auf eine Vereinheitlichung und Aktualisierung der bibliographischen Angaben wurde verzichtet. Die Auszeichnungsschriften wurden zurückgenommen und alle Anmerkungen stets als Fußnoten gedruckt. Ein Index erschließt Verweise auf antike Personen, Autoren und Werke. Der Herausgeber dankt den Verlagen als Trägern der Urheberrechte für die Erlaubnis, die Beiträge hier wieder abdrucken zu dürfen. Ein ganz besonderer Dank gilt Diethard Nickel, der dieses Vorhaben von den Anfängen bis zur Druckfassung tatkräftig unterstützt hat, und Carl Wolfram Brunschön, der die Drucklegung des Bandes besorgte. Im November 2018
Roland Wittwer
INHALTSVERZEICHNIS
I. Medizinische Literatur und ihre Sprache 1. Darstellungsformen der medizinischen Literatur im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. ........
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(Philologus 135, 1991, S. 177–183)
2. Zur Mündlichkeit hippokratischer Schriften ....................................................................
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(in: Tratados hipocráticos. Actas del VIIe Colloque international hippocratique [Madrid, 24–29 de septiembre de 1990], hrsg. v. J. A. López Férez, Madrid 1992, S. 335–342)
3. Die Sprache von Ärzten nichtgriechischer Herkunft im Urteil Galens ............................
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(Philologus 138, 1994, S. 260–263)
4. Medizin und ihre Fachsprache im Altertum: eine Übersicht ...........................................
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(in: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, hrsg. v. L. Hoffmann, H. Kalverkämper, H. E. Wiegand, in Verbindung mit Ch. Galinski, W. Hüllen, Berlin u. New York 1999, 2. Halbband, S. 2270–2277)
5. Zur Geschichte des medizinischen Lehrbuchs in der Antike ...........................................
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(in: Aktuelle Probleme aus der Geschichte der Medizin. Verh. d. XIX. Internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin, Basel, 7.–11. September 1964, hrsg. v. R. Blaser u. H. Buess, Basel u. New York 1966, S. 203–208)
II. Medizin der klassischen Zeit 1. Die Stellung der knidischen Heilkunde in der wissenschaftlichen Medizin der Griechen .......................................................................................................................
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(in: Corpus Hippocraticum. Actes du Colloque hippocratique de Mons [22–26 septembre 1975], hrsg. v. R. Joly, Mons 1977 [Editions Universitaires de Mons, Série Sciences Humaines 4], S. 106–122)
2. Knidos als Zentrum der frühen wissenschaftlichen Medizin im antiken Griechenland ......................................................................................................................
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(Gesnerus 46, 1989, S. 11–28)
3. Die Medizin und ihre sozialen Aufgaben zur Zeit der Poliskrise .....................................
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(in: Hellenische Poleis. Krise – Wandlung – Wirkung, hrsg. v. E. Ch. Welskopf, Berlin 1974, S. 1850–1871)
4. Vorstellungen vom Menschen in der hippokratischen Medizin ...................................... (in: Der Mensch als Maß der Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, hrsg. v. R. Müller, Berlin 1976 [Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Alte Geschichte u. Archäologie d. Akademie d. Wiss. d. DDR 8], S. 269–282)
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Inhaltsverzeichnis 5. Die diätetischen Aphorismen des sechsten Epidemienbuches und Herodikos von Selymbria ....................................................................................................................
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(in: Die hippokratischen Epidemien. Theorie – Praxis – Tradition. Verh. d. Ve Colloque international hippocratique, veranst. von der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Medizin in Verbindung mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Freien Universität Berlin, 10.–15.9.1984, hrsg. v. G. Baader und R. Winau, Stuttgart 1989 [Sudhoffs Archiv, Beih. 27], S. 191–197)
6. Phantasie statt Anatomie ..................................................................................................
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(in: La science médicale antique. Nouveaux regards, Etudes réunies en l'honneur de Jacques Jouanna, hrsg. v. V. Boudon-Millot, A. Guardasole u. C. Magdelaine, Paris 2007, S. 289–293)
7. Zur Säftelehre in der Medizin des 4. Jahrhunderts v.u.Z. .................................................
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(in: Acta Congressus Internationalis XXIV Historiae Artis Medicinae, 25–31 Augusti 1974 Budapestini, hrsg. v. J. Antall, G. Buzinkay, F. Némethy, Bd. II, Budapest 1976, S. 1339–1342)
8. Zu Aristoteles’ Bewertung von Erfahrung und Theorie in der Medizin und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Heilkunde im Hellenismus ..............................
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(in: Aristoteles als Wissenschaftstheoretiker. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. v. J. Irmscher und R. Müller, Berlin 1983 [Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 22], S. 179–182)
9. Die anatomischen Untersuchungen des Aristoteles und ihr Stellenwert als Forschungsmethode in der Aristotelischen Biologie ........................................................
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(in: Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse. Akten des Symposions über Aristoteles’ Biologie vom 24.–28. Juli 1995 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, hrsg. v. W. Kullmann u. S. Föllinger, Stuttgart 1997 [Philosophie der Antike, Veröffentl. d. Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung 6], S. 367–373)
III. Galen als Arzt und Forscher 1. Galen und die Zweite Sophistik ........................................................................................
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(in: Galen: problems and prospects. A collection of papers submitted at the 1979 Cambridge conference, hrsg. v. V. Nutton, London 1981, S. 1–11)
2. Galen und seine ärztlichen Kollegen .................................................................................
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(Das Altertum 11, 1965, S. 47–53)
3. Aus Galens Praxis am römischen Kaiserhof ......................................................................
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(in: Neue Beiträge zur Geschichte der Alten Welt, hrsg. v. E. Ch. Welskopf u. a., Bd. II: Römisches Reich, Berlin 1965, S. 57–61)
4. Arztwahl und ärztliche Ethik in der römischen Kaiserzeit ...............................................
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(Das Altertum 18, 1972, S. 27–30)
5. Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre ....................................
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(in: Aristoteles – Werk und Wirkung, Paul Moraux gewidmet, hrsg. v. J. Wiesner, Zweiter Band: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben, Berlin u. New York 1987, S. 17–26)
6. Aristotelisches in der Systematik Galens ............................................................................
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(in: Proceedings of the World Congress on Aristotle [Thessaloniki, August 7–14, 1978], Publication of the Ministry of Culture and Sciences, Bd. 1, Athen 1981, S. 238–241)
7. Anschauungen von den ἀρχαί in der Ars medica und die Seelenlehre Galens ............... (in: Le opere psicologiche di Galeno. Atti del terzo colloquio galenico internazionale, Pavia, 10–12 settembre 1986, hrsg. v. P. Manuli und M. Vegetti, Neapel 1988 [Elenchos 13], S. 215–229)
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Inhaltsverzeichnis IV. Die pseudogalenischen Definitiones medicae 1. René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens .........................................
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(Klio 48, 1967, S. 183–198)
2. Eine hippokratische Krankheitseinteilung in den pseudogalenischen Definitiones medicae .........................................................................................................
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(in: La maladie et les maladies dans la Collection hippocratique. Actes du VIe Colloque international hippocratique [Québec, du 28 septembre au 3 octobre 1987], hrsg. v. P. Potter, G. Maloney u. J. Desautels, Québec 1990, S. 255–264)
3. Zur σημείωσις-Lehre der empirischen Ärzteschule .........................................................
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(in: Verh. d. XX. Internationalen Kongresses für Geschichte d. Medizin, Berlin, 22.–27. August 1966, hrsg. v. H. Goerke und H. Müller-Dietz, Hildesheim 1968, S. 273–277)
4. Zum Fortleben der pseudogalenischen Definitiones medicae in der Medizin des lateinischen Mittelalters ...............................................................................................
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(in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 14, 1968/1969, S. 55–59)
V. Die Tradition der griechischen Medizin in der Spätantike 1. Therapeutische Grundsätze im Werk des Vindician ..........................................................
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(NTM, Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 3, 1966, H. 7, S. 27–31)
2. Zur Übersetzungstätigkeit des Caelius Aurelianus ...........................................................
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(in: Medizingeschichte und Gesellschaftskritik. Festschrift für Gerhard Baader, hrsg. v. M. Hubenstorf, H.-U. Lammel, R. Münch, S. Schleiermacher, H.-P. Schmiedebach u. S. Stöckel, Husum 1997 [Abh. zur Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften 81], S. 19–25)
VI. Das Berliner Corpus der antiken Ärzte 1. Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Medizin ..................
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(Philologus 117, 1973, S. 278–283)
2. Gut Ding will Weile haben. Zur Vorgeschichte des Corpus der antiken Ärzte ................
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(in: Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften. Internationale Fachtagung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Akademienvorhabens Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum, hrsg. v. Ch. Brockmann, W. Brunschön u. O. Overwien, Berlin u. New York 2009 [Beiträge zur Altertumskunde 255], S. 19–29)
3. Die Organisation und Herausgabe des Corpus Medicorum Graecorum: Ergänzende Details aus der Korrespondenz zwischen Hermann Diels und Johannes Mewaldt ......................................................................................................
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(in: Hermann Diels [1848–1922] et la science de l’antiquité. Entretiens préparés et présidés par W. M. Calder III et J. Mansfeld [Vandœuvres – Genève, 17–21 août 1998], Genf 1999 [Entretiens sur l'Antiquité Classique XLV], S. 207–226)
4. Die Erschließung der antiken medizinischen Texte und ihre Probleme – das Corpus Medicorum Graecorum et Latinorum. Erreichtes und Geplantes ................
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(Gesnerus 46, 1989, S. 195–210)
VII. Rezensionen M. Michler, Die Klumpfußlehre der Hippokratiker. Eine Untersuchung von De articulis cap. 62 mit Übersetzung des Textes und des galenischen Kommentars, Wiesbaden 1963 (Sudhoffs Archiv, Beih. 2) ................................................................................................. (Deutsche Literaturzeitung 85, 1964, Sp. 826–829)
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Inhaltsverzeichnis E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Mit einem Vorwort und einer Tafel von R. Herrlinger, Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv, Beih. 4) .............
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(Deutsche Literaturzeitung 88, 1967, Sp. 359–362)
F. Kudlien, Untersuchungen zu Aretaios von Kappadokien, Akademie d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. 1963, 11, Wiesbaden 1964 .............................................
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(Deutsche Literaturzeitung 88, 1967, Sp. 1077–1079)
C. Fabricius, Galens Exzerpte aus älteren Pharmakologen, Ars Medica II 2, Berlin u. New York 1972 ...................................................................................................
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(Deutsche Literaturzeitung 94, 1973, Sp. 202–206)
Galeno, La dieta dimagrante. Edizione critica del testo e della versione latina, traduzione e commento a cura di N. Marinone, Turin u.a. 1973 (Historica – Politica – Philosophica. Il pensiero antico – Studi e testi 5) .......................
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(Gnomon 47, 1975, S. 206–208)
J. Bertier, Mnésithée et Dieuchès, Leiden 1972 (Philosophia Antiqua 20) ...........................
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(Gnomon 47, 1975, S. 439–442)
H. Grensemann, Knidische Medizin, Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum, Ars Medica II 4,1, Berlin u. New York 1975 ...................................................................................................
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(Deutsche Literaturzeitung 97, 1976, Sp. 408–412)
W. D. Smith, The Hippocratic Tradition, Ithaca u. London 1979 (Cornell Publications in the History of Science) ..............................................................
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(Anzeiger für die Altertumswissenschaft 37, 1984, Sp. 12–14)
The Hippocratic Treatises “On Generation”, “On the Nature of the Child”, “Diseases IV”. A commentary by I. M. Lonie, Ars Medica II 7, Berlin u. New York 1981 ......................
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(Deutsche Literaturzeitung 106, 1985, Sp. 663–666)
J.-H. Kühn u. U. Fleischer, Index Hippocraticus. Cui elaborando interfuerunt sodales Thesauri Linguae Graecae Hamburgensis. Curas postremas adhibuerunt K. Alpers, A. Anastassiou, D. Irmer, V. Schmidt, Fasc. I: Α – Δ; Fasc. II: Ε – Κ, Göttingen 1986/1987 ........................................................................................................
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(Deutsche Literaturzeitung 108, 1987, Sp. 774–776)
ʿALĪ IBN RIḌWĀN, Über den Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf. Arabischer Text nebst kommentierter deutscher Übersetzung, hrsg. v. A. Dietrich, Göttingen 1982 (Abh. d. Akademie d. Wiss. in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge, 129) ...........................................................................................
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(Bibliotheca Orientalis 45, 1988, Sp. 731–734)
H. Grensemann, Knidische Medizin, Teil II. Versuch einer weiteren Analyse der Schicht A in den pseudohippokratischen Schriften De natura muliebri und De muliebribus I und II, Stuttgart 1987 (Hermes Einzelschr. 51) ............................................................................. 𝟹𝟸𝟻 (Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 96, 1989, S. 161–163)
F. Skoda, Médecine ancienne et métaphore. Le vocabulaire de l'anatomie et de la pathologie en grec ancien, Paris 1988 (Ethnosciences 4) ....................................................................
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(Archives internationales d’Histoire des Sciences 39, 1989, S. 402–404)
Verzeichnis der antiken Autoren und Personen ..........................................................................
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1. DARST ELLUNGSFORMEN DER MEDIZINISCHEN LI T ERAT UR IM 5. UND 4. JAHRHUNDERT V.CHR.*
Die Fachprosa, die seit den Anfängen der Prosaschriftstellerei neben Philosophie und den frühen Formen der Historiographie zu deren bevorzugten Anwendungsbereichen gehörte, hatte – zumindest auf dem Gebiet der Medizin – in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts bereits ein beachtliches Ausmaß angenommen. Das bezeugen nicht zuletzt die im Corpus Hippocraticum überlieferten medizinischen Texte, die in der Mehrzahl aus dem ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhundert stammen und nicht nur eine große Vielfalt im Inhalt, sondern auch deutliche Unterschiede in der Form der Darstellung aufweisen. Während eine Klassifizierung dieser frühen Fachprosatexte nach inhaltlichen Kriterien bereits seit der Antike erfolgreich praktiziert wird1, lassen sie sich auf Grund ihres besonderen literarischen Charakters nur in Ausnahmefällen unter gängige literarische Gattungsbezeichnungen subsumieren2. Die Darstellungsformen dieser Schriften reichen von handbuchartigen Zusammenstellungen von Krankheitsbeschreibungen über problemorientierte Untersuchungen, Spruchsammlungen und hypomnematische Aufzeichnungen bis hin zu Lehrvorträgen und Reden. Die Lektüre der hippokratischen Schriften macht deutlich, daß bei der unterschiedlichen formalen Gestaltung der Texte neben dem Inhalt auch die jeweilige Kommunikationssituation, d.h. die Frage nach den Rezipienten und der Funktion der Schriften, eine Rolle gespielt hat. Die Aspekte der literarischen Kommunikation, die in der Forschung zum Corpus Hippocraticum schon seit längerem als Denkansatz genutzt werden, sollen im Vordergrund unserer Betrachtungen stehen; aus Raumgründen kann vieles allerdings nur angedeutet werden. Daß die Mehrzahl der medizinischen Schriften von Ärzten für Ärzte geschrieben wurde und daß ihr Mitteilungszweck darin bestand, Fachwissen zu vermitteln, | darf als sicher gelten3. Hierher gehören alle Schriften, die, wie die handbuchartigen Zusam-
*
Erschienen in: Philologus 135, 1991, S. 177–183.
1
Vgl. H. Diller, Das Selbstverständnis der griechischen Medizin in der Zeit des Hippokrates, in: La Collection hippocratique et son rôle dans l’histoire de la médecine. Colloque de Strasbourg (23–27 octobre 1972), hrsg. von L. Bourgey u. J. Jouanna, Leiden 1975 (Université des Sciences Humaines de Strasbourg, Travaux du Centre de Recherche sur le Proche-Orient et la Grèce Antiques 2), 80, und P. Potter, Short Handbook of Hippocratic Medicine, Québec 1988, 14. Zu den Schwierigkeiten, mit denen eine Einteilung der hippokratischen Schriften nach literarischen Genera verbunden ist, s. G. Maloney, P. Potter, W. Frohn-Villeneuve, Répartition des œuvres hippocratiques par genres littéraires, Projet Hippo, Université Laval (Québec) 1979, 2f. Vgl. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1959, 19f., und H. Diller, Ausdrucksformen des methodischen Bewußtseins in den hippokratischen Epide-
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Darstellungsformen der medizinischen Literatur
menstellungen und der größte Teil der problemorientierten Untersuchungen, eine additive oder systematische Darstellung der für die medizinische Praxis relevanten Sachverhalte bieten, die in mehr oder weniger ausgeprägter Form das für derartige Fachtexte typische Stilmittel der Ausdrucksknappheit aufweisen und eine vor allem didaktische Funktion haben. Einen weiteren Schriftentyp, der Fachwissen vermittelt und sich in erster Linie an Ärzte wendet, verkörpern die ebenfalls den problemorientierten Untersuchungen zuzurechnenden Abhandlungen, in denen theoretische oder methodische Fragestellungen behandelt werden. Als Beispiele hierfür seien die von Polybos, einem Schüler und Schwiegersohn des Hippokrates, stammende Schrift De natura hominis und die Abhandlung De prisca medicina genannt, denen gemeinsam ist, daß ihre Verfasser sich mit zeitgenössischen und früheren philosophischen Theorien und ihrem Einfluß auf die Medizin auseinandersetzen. In De natura hominis wendet sich der Autor mit scharfer Kritik gegen monistische Theorien in der Philosophie und in der Medizin und stellt dem seine Lehre von den vier Säften Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle als den konstitutiven Bestandteilen des menschlichen Körpers entgegen4. Die gezielte Polemik einerseits und die besonders dem ersten Teil der Schrift anhaftende Tendenz zur Schematisierung andererseits, die in der Zuordnung der vier Primärqualitäten und der vier Jahreszeiten zu den vier Körpersäften sinnfällig zum Ausdruck kommt und durch eine vielfach mit Antithesen arbeitende Sprache noch unterstrichen wird, verleihen der Abhandlung einen gleichsam programmatischen Charakter, der zu der Vermutung Anlaß gegeben hat, daß wir es bei ihr mit einer Grundsatzerklärung des Polybos zu tun haben, die dieser geschrieben und öffentlich vorgetragen hat, als er nach dem Weggang des Hippokrates von der Insel Kos dessen Nachfolge antrat5. Eine Art Programmschrift, die als Appell an die Ärzte gerichtet war, stellt auch De prisca medicina dar. Der Verfasser dieser Schrift bekämpft mit Nachdruck das zunehmende Eindringen kosmologisch-spekulativer Theorien in die Medizin und fordert die Ärzte auf, zu dem angestammten Aufgabenbereich der medizinischen Kunst, d.h. den konkreten Gegebenheiten des menschlichen Körpers, zurückzukehren, mit denen sie es in der ärztlichen Praxis zu tun haben6. Als zu dem für Ärzte bestimmten Schriftenkreis gehörig erweisen sich auch | jene Texte, denen wie den „Epidemien“ zum persönlichen Gebrauch oder zu Archivierungszwecken bestimmte Aufzeichnungen zugrunde liegen, und die Spruchsammlungen des Corpus Hippocraticum, z.B. die „Aphorismen“ und die „Koischen Prognosen“, die im 4. Jahrhundert unter dem speziellen Aspekt der Lehrbuchfunktion entstanden sein dürften. Sie sind, inhaltlich gesehen, keine selbständigen Werke, sondern Sammlungen von medizinischen Lehrsätzen aus älteren Schriften, die, wie K. Deichgräber es formuliert hat, nach dem Grundsatz „einprägsamer Kürze bei
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mien, Archiv f. Begriffsgeschichte 9, 1964, 133 = Kleine Schriften zur antiken Medizin, hrsg. von G. Baader u. H. Grensemann, Berlin u. New York 1973 (Ars Medica II 3), 106. Siehe Hipp., De nat. hom. 1–7: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) I 1,3, hrsg., übers. u. erl. von J. Jouanna, Berlin 1975, S. 164,3–186,12. Siehe J. Jouanna, in: CMG I 1,3, S. 61. Siehe Hipp., De prisca med. 20: CMG I 1, hrsg. von J. L. Heiberg, Leipzig u. Berlin 1927, S. 51,6–23.
Darstellungsformen der medizinischen Literatur
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klarer Verständlichkeit“7 stilistisch überarbeitet und in übersichtlicher Anordnung dargeboten wurden, und waren daher als Nachschlagewerke für Ärzte, aber besonders auch zum Auswendiglernen im Rahmen der ärztlichen Ausbildung geeignet8. Hervorhebenswert erscheint uns, daß die Ärzte die als Zusammenstellungen von Krankheitsbeschreibungen und problemorientierte Untersuchungen charakterisierten Darstellungsformen auch bei Schriften benutzten, die in erster Linie für eine breitere Leserschicht geschrieben wurden und sich als Aufklärungsschriften für den medizinischen Laien verstehen. Deutlich ausgesprochen wird das zu Beginn der Schrift De affectionibus9. Der Verfasser hält es für erforderlich, daß jeder verständige Mann, der sich dessen bewußt ist, daß die Gesundheit das höchste Gut für die Menschen ist, in einem für den Laien angemessenen Umfang über medizinische Kenntnisse verfügt. Sie sollen ihn einerseits in den Stand setzen, im Krankheitsfall auf Grund eigener Entscheidungen für seine Gesundheit aktiv zu werden, und es ihm andererseits auch ermöglichen, das, was die behandelnden Ärzte auf Grund ihrer Spezialkenntnisse sagen und verordnen, zu beurteilen, und deshalb sieht er es als seine Aufgabe an, den Laien das entsprechende nosologische und therapeutische Grundwissen mitzuteilen. Aufklären will auch der Autor von De morbo sacro10. Seine Absicht ist es, die Menschen von dem Aberglauben zu befreien, daß die „heilige Krankheit“, die Epilepsie, eine von den Göttern gesandte Krankheit ist, die magisch-rituelle Behandlungsmethoden erfordert, und zugleich will er sie über das wahre Wesen der Epilepsie unterrichten. Er tut dies, indem er zunächst die Vorstellungen von dem göttlichen Charakter dieser Krankheit ad absurdum führt und diejenigen, die sich aus der Not der von ihr betroffenen Menschen durch die Behandlung mit magischen Praktiken und Reinigungsriten ein einträgliches Geschäft machen, als Zauberer, Entsühner, Gaukler und Marktschreier, kurz gesagt, als Scharlatane, entlarvt11. Danach unternimmt er den Versuch, seinen Lesern die Epilepsie als | ein anderen Krankheiten vergleichbares natürliches Geschehen begreifbar zu machen und damit zugleich zu beweisen, daß sie, wie jede andere Krankheit auch, mit natürlichen Mitteln zu behandeln ist. Eine Aufklärungsschrift besonderer Art ist das vier Bücher umfassende Werk „Über die Lebensweise“, dessen Gegenstand die Gesundheitserziehung ist. Der Verfasser der Schrift weiß, daß er mit der Behandlung dieses Sujets in einer langen Tradition steht12. Er rechnet es sich aber als persönliches Verdienst an, als erster herausgefunden zu haben, daß die Gesundheit auf dem richtigen Verhältnis zwischen körperlicher Belastung und Nahrungsaufnahme beruht und daß man deshalb durch die Befolgung einer geregelten Lebensweise kleinere gesundheitliche Schäden korrigieren und so den 7
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K. Deichgräber, Hippokrates' De humoribus in der Geschichte der griechischen Medizin, Akademie der Wissenschaften u. der Literatur, Abhandlungen der geistes- u. sozialwiss. Klasse 1972, 14, Wiesbaden 1972, 18. Vgl. ebd., 15. Hipp., De affect. 1: VI, S. 208,2–22 Littré. Vgl. dazu W. Jaeger, 43f. Vgl. H. Grensemann, in: Die hippokratische Schrift „Über die heilige Krankheit“, hrsg., übers. u. erl., Berlin 1968 (Ars Medica II 1), 5. Hipp., De morbo sacro 1: S. 60,2–66,5 Grensemann = V I, S. 352,2–364,8 Littré. Siehe Hipp., De diaeta I 1,1: CMG I 2,4, hrsg., übers. u. erl. von R. Joly unter Mitarbeit von S. Byl, Berlin 1984, S. 122,3–10.
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Ausbruch von Krankheiten wirksam verhindern kann13. In der Schrift werden zwei Zielgruppen von Lesern angesprochen. Ein umfangreiches Programm mit detaillierten Vorschriften für die Ernährung, für körperliche Übungen, Schlaf und Wachen sowie für den Geschlechtsverkehr, das entsprechend dem individualisierenden Charakter der hippokratischen Medizin unter Berücksichtigung der verschiedenen Körperkonstitutionen, des Geschlechts, der Lebensalter, Jahreszeiten und klimatischen und geographischen Bedingungen zusammengestellt wurde, richtet sich an die kleine Gruppe von Menschen, die es sich auf Grund ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit leisten konnten, nur ihrer Gesundheit zu leben14. Für die zweite Zielgruppe, die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung, hat er ein gesondertes Programm entwickelt. Es enthält weniger ins einzelne gehende, nur an den Jahreszeiten orientierte Diätvorschriften und bot den Menschen mit einer sich aus ihrer beruflichen Tätigkeit ergebenden unregelmäßigen Lebensweise nach der Auffassung des Verfassers die Möglichkeit, unter den diätetischen Empfehlungen die den jeweiligen Umständen angemessenen auszuwählen und sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen15. Ob die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung, die in De diaeta direkt angesprochen wird, tatsächlich imstande war, medizinische Texte dieser Art zu lesen, erscheint uns allerdings fraglich. Denn die Aufklärungsschriften unterscheiden sich weder in ihrem wissenschaftlichen Anspruch noch im Wortgebrauch von den Texten, die für Ärzte geschrieben wurden. Wenn die Autoren trotzdem sicher sein konnten, daß die für ein breiteres Publikum verfaßten Werke ihre Leser unter den medizinischen Laien fanden, so sind dafür mehrere Gründe verantwortlich zu machen. Erstens gab es in der Antike, zumal in dieser frühen Zeit, | noch keine nur für die Eingeweihten verständliche Fachsprache, wie das heute der Fall ist. Zweitens waren diejenigen, von denen wir annehmen dürfen, daß sie sich mit der Lektüre medizinischer Schriften abgaben, kaum weniger gebildet als die Ärzte, von denen diese Texte verfaßt wurden. Der dritte und entscheidende Grund dafür dürfte jedoch die Form der medizinischen Praxis in der Antike gewesen sein. Das Besondere an ihr gegenüber dem, was wir heute kennen, bestand zunächst darin, daß sie in weitaus stärkerem Maße in der Öffentlichkeit stattfand; das heißt, daß Kranke z.B. auf öffentlichen Plätzen im Beisein einer großen Menge von Schaulustigen behandelt wurden16 und daß selbst bei der Krankenvisite im Hause des Patienten Familienangehörige oder Freunde und Bekannte anwesend waren, die an dem Geschehen Anteil nahmen17. Ein weiterer Gesichtspunkt, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muß, ist der, daß die Patienten, sofern sie es sich finanziell leisten konnten, sich von wissenschaftlich gebildeten Ärzten behandeln zu lassen, in einem für uns kaum vorstellbaren Ausmaß aktiv an dem Heilungsprozeß beteiligt wurden. Mit anderen Worten, für diese Ärzte gehörte es zur Krankenbehandlung dazu, die Patienten über das Wesen der jeweiligen Krankheit 13 14 15
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Siehe ebd. I 2: CMG I 2,4, S. 122,23–126,4. Siehe ebd. III 69–85: CMG I 2,4, S. 200,25–216,32. Siehe ebd. III 68,1–69,1: CMG I 2,4, S. 194,17–200,25. Vgl. dazu G. Harig u. J. Kollesch, Gesellschaftliche Aspekte der antiken Diätetik, NTM 8, 1971, 2, 16–18, R. Joly, in: CMG I 2,4, S. 35f., und mit Vorbehalt J. Ducatillon, Du Régime, Livre III. Les deux publics, Revue des études grecques 82, 1969, 33–42. Vgl. Hipp., De artic. 42. 44: II, S. 167,10–16; 171,7–10 Kühlewein = IV, S. 182,15–20; 188,14–16 Littré. Vgl. Ruf. Ephes., Quaestiones medic. 1,3. 9: CMG Suppl. IV, hrsg., übers. u. erl. von H. Gärtner, Berlin 1962, S. 24,16f.; 26,18.
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zu unterrichten und sie von der Richtigkeit der von ihnen verordneten therapeutischen Maßnahmen zu überzeugen, was seinerseits nicht unerheblich zur Verbreitung medizinischer Kenntnisse beigetragen haben dürfte18. Wir können daher wohl mit Recht davon ausgehen, daß dieser Kreis von Personen nicht nur an den für sie verfaßten Aufklärungsschriften, sondern an der medizinischen Literatur generell interessiert war und eben jenen medizinischen Laien verkörperte, den Aristoteles (Polit. III 11, 1282 a 3f.) im Unterschied zum Praktiker, dem δημιουργός, und zum wissenschaftlich gebildeten Arzt, dem ἀρχιτεκτονικός, als πεπαιδευμένος περὶ τὴν τέχνην bezeichnet hat. Zum Schluß möchten wir noch auf zwei kleinere Abhandlungen der hippokratischen Schriftensammlung eingehen, die sich schon allein auf Grund ihrer formalen Gestaltung als Texte zu erkennen geben, die für ein breiteres Publikum verfaßt wurden. Es sind dies die Schrift De arte, die es sich zur Aufgabe macht, die Existenzberechtigung der ärztlichen Kunst zu verteidigen, und die Abhandlung De flatibus, in der die im Körper eingeschlossene Luft und ihre Bewegung im Körper zur allgemeinen Krankheitsursache erklärt wird. Beide Autoren bedienen sich zur Darstellung ihres Gegenstandes der Mittel der sophistischen Rhetorik. Sowohl De arte als auch De flatibus sind im Stil der auf Publikumswirkung bedachten epideiktischen Reden gehalten, mit denen sie, wie der Vergleich mit den Reden des Gorgias und speziell mit seiner Lobrede auf Helena zeigt, nicht nur inhaltliche Aspekte wie das Preisen oder die Verteidigung eines | Gegenstandes und das Schmähen der Widersacher, sondern auch die Technik der Komposition und die durch den Gebrauch von Redefiguren und rhythmisierter Prosa gekennzeichnete sprachlich-stilistische Gestaltung gemeinsam haben19. Daß beide Texte als mündliche Vorträge konzipiert wurden, ist wohl mit Recht nie bestritten worden. In Anbetracht der formalen Gestaltung der beiden Reden besteht auch kein Zweifel, daß sie zum Vortrag vor einem hauptsächlich aus medizinischen Laien bestehenden Publikum bestimmt waren, dessen Beifall eher durch die Form der Darbietung als durch den sachlichen Gehalt des Dargebotenen zu erringen war. Dieser Erwartungshaltung entspricht es, wenn in der modernen Forschung weitgehend die Auffassung herrscht, in diesen beiden Texten gehe es allein um virtuose Handhabung der sprachlichen Ausdrucksmittel und dialektisches Argumentieren, nicht aber um seriöse Wissenschaft, wie sie sonst in den medizinischen Schriften aus dieser Zeit anzutreffen ist; und so lag denn auch der Schluß nahe, daß ihre Autoren nicht Ärzte, sondern Sophisten bzw. Rhetoren waren. Demgegenüber hat J. Jouanna bei einer neuerlichen inhaltlichen Analyse der beiden Reden nicht nur das Besondere der in ihnen vertretenen Ansichten, sondern vor allem auch die in ihnen nachweisbaren engen Beziehungen zur vorsokratischen Philosophie und zur zeitgenössischen Medizin herausgestellt; auf diese Weise hat er den, so meinen wir, überzeugenden Beweis geliefert, daß sie in der hippokratischen Medizin im umfassenden Sinn dieses Begriffes verwurzelt sind, und damit zugleich glaubhaft zu machen versucht, daß ihre Autoren 18
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Vgl. W. Jaeger, 21f.; H. Diller, Hippokratische Medizin und attische Philosophie, Hermes 80, 1952, 394f. = Kleine Schriften, 55f. Siehe J. Jouanna, in: Hippocrate, Des vents, De l’art, hrsg. u. übers., Paris 1988, 10–24 u. 167–174; vgl. dens., Rhétorique et médecine dans la Collection hippocratique. Contribution à l’histoire de la rhétorique au V e siècle, Revue des études grecques 97, 1984, 34–40, und H. Diller, Hippokrates, Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, Reinbek bei Hamburg 1962, 176.
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ebenso wie die Verfasser der anderen Schriften des Corpus Hippocraticum Ärzte waren20. Unter diesen Voraussetzungen wird man vielleicht auch nicht mehr unterstellen müssen, daß sich hinter überspitzten Formulierungen, vorschnellen Verallgemeinerungen, der Beschränkung auf besonders instruktives Beweismaterial oder vereinfachender bzw. laienhaft anmutender Darstellung komplizierter medizinischer Sachverhalte Mangel an Sachkenntnis verbirgt, sondern dafür die Kommunikationssituation verantwortlich machen dürfen, in der pointierte Beweisführung und Allgemeinverständlichkeit mehr gefragt waren als abwägendes Argumentieren und fundierte Spezialkenntnisse. Anlässe dafür, sich der Kunst der Überredung zu bedienen, waren für die Ärzte vor allem dadurch gegeben21, daß die Ausübung des Arztberufes in der Antike weder von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht noch von staatlicher Seite geregelt und kontrolliert wurde, so daß die Ärzte unter dem Druck der | Konkurrenz gezwungen waren, um die Gunst der Patienten zu kämpfen und dabei auch die Mittel der Überredungskunst anzuwenden, wenn es darauf ankam, eine breite Öffentlichkeit von den eigenen Qualitäten als Arzt zu überzeugen. Das erfolgreiche Auftreten als Redner spielte aber auch bei der Bewerbung um eine Anstellung als öffentlicher Arzt eine Rolle; denn die Wahl des Kandidaten, der bei dieser Gelegenheit eine Rede zu halten hatte22, oblag nicht einem Gremium von Fachleuten, sondern erfolgte z.B. durch die Volksversammlung, deren Vertreter sich bei der Entscheidungsfindung, wie einer entsprechenden Bemerkung Platons (Gorg. 456 b/c) zu entnehmen ist, mehr von dessen rhetorischen Fähigkeiten als von dessen ärztlichem Können leiten ließen. An karrierebewußten Ärzten, die bereit waren, diesen Erfordernissen Rechnung zu tragen, indem sie sich die für ihre Zwecke notwendigen rhetorischen Kenntnisse aneigneten, hat es mit Sicherheit nicht gefehlt. Nach Ansicht von V. Langholf wäre es aber auch denkbar, daß die Reden, welche die Ärzte bei einer derartigen Gelegenheit gehalten haben, von professionellen Redenschreibern, wie das für Gerichtsreden bezeugt ist, als Auftragsarbeit verfaßt wurden und daß in diesem Falle ,,der Inhalt … das Werk des Arztes, die Formulierung das des Rhetors …, die Wirkung auf das Publikum das Werk beider (wäre)“23. Langholf hält es im Anschluß an H. Diels sogar für möglich, daß De flatibus eine solche Rede ist, die in einem öffentlichen Bewerbungsverfahren gehalten wurde24. Dem widerspricht nach unserem Dafürhalten jedoch, daß die für derartige Reden obligatorischen Angaben zum beruflichen Werdegang des Arztes25 in De flatibus fehlen, und dasselbe gilt auch für De arte, so daß im Falle dieser beiden Texte die Frage nach dem Verwendungszweck offenbleiben muß.
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Siehe J. Jouanna, in: Hippocrate, Des vents, 25–38; 47f.; 175–190, und Rhétorique, 40f.; vgl. auch V. Langholf, Kallimachos, Komödie und hippokratische Frage, Medizinhistorisches Journal 21, 1986, 21f. Zum Folgenden vgl. auch J. Jouanna, Rhétorique, 41f. Vgl. Xenoph., Memorab. IV 2,5. Siehe V. Langholf, 26f. (Zitat S. 27). H. Diels, Hippokratische Forschungen III, Hermes 46, 1911, 273f., hat sowohl in De flatibus als auch in De arte Reden von Anwärtern auf den Posten eines öffentlichen Arztes sehen wollen. Vgl. Xenoph., Memorab. IV 2,5.
2. ZUR MÜNDLICHKEI T HIPPOKRAT ISCHER SCHRIF T EN*
Die Eingangsworte der Schrift Über die alte Heilkunst: „Alle, die es unternommen haben, über die Medizin zu sprechen oder zu schreiben …“1 belegen eindeutig, daß Mündlichkeit auch noch nach dem Aufkommen der Schriftlichkeit eine gängige Form der wissenschaftlichen Kommunikation auf dem Gebiet der Medizin war. Eine Chance, daß derartige mündliche Darlegungen, die jeweils aus einem ganz konkreten Anlaß und vor einem diesem Anlaß entsprechend zusammengesetzten Publikum vorgetragen wurden, der Nachwelt erhalten blieben, ist mit der prinzipiellen Möglichkeit gegeben, daß mündliche Vorträge und Reden zuvor schriftlich ausgearbeitet oder nachträglich aufgezeichnet wurden. Aus der griechischen Redenliteratur wissen wir allerdings, daß die schriftliche Fassung nicht in jedem Fall wörtlich mit dem mündlichen Vortrag übereinstimmen mußte, sondern im Hinblick auf die neue Kommunikationssituation in ihrem Wortlaut mehr oder weniger verändert werden konnte. Wir dürfen aber davon ausgehen, daß bei der Überarbeitung der mündliche Charakter dieser Texte gewahrt blieb, so daß wir hier in der Tat von mündlicher Literatur sprechen können. Dem Zufall ist es zu danken, daß uns in der Sammlung der hippokratischen Schriften, die mit Sicherheit nur einen Bruchteil der medizinischen Literatur aus der Zeit des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jh. v.Chr. repräsentieren, zwei kleine Abhandlungen überliefert sind, die sich auf Grund ihrer formalen Gestaltung eindeutig als Vertreter der mündlichen medizinischen Literatur zu erkennen geben. Es sind dies die Abhandlung De flatibus, in der die im Körper eingeschlossene Luft und ihre Bewegung im Körper als allgemeine Krankheitsursache proklamiert wird, und der Traktat De arte, dessen Verfasser es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Existenzberechtigung | der ärztlichen Kunst zu verteidigen. Der rhetorische Charakter dieser beiden Texte steht außer Frage. Wie J. Jouanna unlängst ausführlich dargelegt hat, haben sie speziell mit den auf Publikumswirkung bedachten epideiktischen Reden sowohl gestalterische Elemente wie das Preisen oder die Verteidigung eines Gegenstandes und das Schmähen der Widersacher als auch die Technik der Komposition und die durch den Gebrauch von Redefiguren und rhythmisierter Prosa gekennzeichnete sprachlichstilistische Gestaltung gemeinsam2. *
Erschienen in: Tratados hipocráticos. Actas del VIIe Colloque international hippocratique (Madrid, 24–29 de septiembre de 1990), hrsg. v. J. A. López Férez, Madrid 1992, S. 335–342.
1
V M 1 (CMG I 1, S. 36,2) (I 570 L.): Ὁκόσοι μὲν ἐπεχείρησαν περὶ ἰητρικῆς λέγειν ἢ γράφειν … Siehe J. Jouanna, in: Hippocrate, Des vents, De l’art, hrsg. u. übers., Paris 1988, S. 10–24 u. 167–174; vgl. dens., Rhétorique et médecine dans la Collection hippocratique. Contribution à
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Angesichts dieses besonderen Charakters der beiden Texte dürfte auch kein Zweifel bestehen, daß sie zum Vortrag vor einem hauptsächlich aus medizinischen Laien bestehenden Publikum bestimmt waren, dessen Beifall eher durch die Form der Darbietung als durch den sachlichen Gehalt des Dargebotenen zu erringen war. Das bedeutet freilich nicht, daß den Verfassern der beiden Reden, wie behauptet wurde3, allein an der virtuosen Handhabung der sprachlichen Ausdrucksmittel und am dialektischen Argumentieren gelegen war, nicht aber an seriöser Wissenschaft, wie sie sonst in den hippokratischen Schriften anzutreffen ist. Denn trotz aller Besonderheiten stehen diese beiden Abhandlungen – das hat die neuerliche inhaltliche Analyse der Schriften von J. Jouanna nach unserem Dafürhalten überzeugend gezeigt – mit ihren engen Beziehungen zur vorsokratischen Philosophie und zur zeitgenössischen Medizin fest auf dem Boden der hippokratischen Heilkunde im umfassenden Sinn dieses Wortes4. Diese Feststellung ist insofern von Bedeutung, als damit zugleich glaubhaft gemacht werden konnte, daß die Verfasser von De flatibus und De arte nicht, wie bislang allgemein angenommen, Sophisten bzw. Rhetoren, sondern ebenso wie die Autoren der anderen Schriften des Corpus Hippocraticum Ärzte waren. Daß die hippokratischen Ärzte durchaus Anlaß hatten, sich der Kunst der Überredung zu bedienen, bei der es mehr auf pointierte Beweisführung und Allgemeinverständlichkeit als auf abwägendes Argumentieren und das Ausbreiten fun|dierter Spezialkenntnisse ankam, hängt in erster Linie mit den Besonderheiten der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit in der Antike zusammen. Da sie weder von einem Befähigungsnachweis abhängig gemacht noch von staatlicher Seite kontrolliert wurde, waren die Ärzte unter dem Druck der Konkurrenz häufig genug gezwungen, um die Gunst der Patienten zu kämpfen und dabei auch auf die Mittel der Überredungskunst zurückzugreifen, wenn es darum ging, eine breite Öffentlichkeit von den eigenen Qualitäten als Arzt zu überzeugen. Die Gelegenheit, sich als Redner hervorzutun, war für die Ärzte ferner bei der Bewerbung um die Anstellung als öffentlicher Arzt gegeben; denn bekanntlich wurde die Auswahl unter den Kandidaten, die aus diesem Anlaß eine Rede zu halten hatten, nicht von einem Gremium von Fachleuten getroffen, sondern von einem Laienpublikum, z.B. von der Volksversammlung, d.h. von einem Personenkreis, bei dem nicht ausgeschlossen werden konnte, daß er sich bei der Entscheidungsfindung weniger von dem ärztlichen Können der Kandidaten als vielmehr von deren rhetorischen Fähigkeiten leiten ließ5. Daß De flatibus und De arte tatsächlich mündlich vorgetragen wurden, läßt sich freilich nicht mehr beweisen, und schon gar nicht, bei welcher Gelegenheit dies ge-
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l’histoire de la rhétorique au Ve siècle, REG 97, 1984, S. 34–40; E. Maass, Untersuchungen zur Geschichte der griechischen Prosa, Hermes 22, 1887, S. 566–572; F. Blass, Die attische Beredsamkeit, l. Abt.: Von Gorgias bis zu Lysias, 2. Aufl., Leipzig 1887, S. 89–91; Th. Gomperz, Die Apologie der Heilkunst, 2. Aufl., Leipzig 1910, S. 9–15; J. Kollesch, Darstellungsformen der medizinischen Literatur im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr., Philologus 135, 1991, S. 181f. (= oben, S. 19). Siehe z.B. J.-H. Kühn, System- und Methodenprobleme im Corpus Hippocraticum, Wiesbaden 1956, S. 58; H. Diller, Hippokrates, Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 187f. Siehe Jouanna, in: Des vents (Anm. 2), S. 25–38; 47f.; 175–190, und Rhétorique (Anm. 2), S. 40f.; vgl. auch V. Langholf, Kallimachos, Komödie und hippokratische Frage, Medizinhistorisches Journal 21, 1986, S. 21f. Siehe Pl., Gorg. 456 b–c.
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schah6. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß bei ihnen alle Voraussetzungen gegeben sind, die das Wesen der zum mündlichen Vortrag bestimmten Reden ausmachen, und daß sie als Repräsentanten dieser Literaturgattung für uns wertvolle Zeugnisse der mündlichen medizinischen Literatur aus hippokratischer Zeit darstellen. In der hippokratischen Sammlung gibt es noch eine weitere Gruppe von Schriften, bei denen wahrscheinlich eine mündliche Kommunikationssituation angenommen werden kann. Sie können zwar auf Grund ihres größeren Umfangs und ihrer formalen Gestaltung nicht der Gattung der kunstgerechten Rede zugerechnet werden, sie vermitteln aber ebenso, wie es für De flatibus und De arte zu konstatieren ist, durch ausschließlichen Gebrauch von Verben des Sagens bei Verweisen auf bereits Mitgeteiltes oder noch Mitzuteilendes, durch auffallend häufige Verwendung des Verbs in der ersten Person, nicht selten begleitet von ἐγώ oder ἔγωγε, und schließlich durch den ebenfalls häufigen Gebrauch des Verbs φάναι in der ersten Person im Sinne von „ich behaupte“ den Eindruck des gesprochenen Wortes und unterscheiden sich dadurch deutlich von den schriftlichen Texten des CH7. Als Vertreter dieser Gruppe von Texten, die im Unterschied zu den | beiden Reden als Lehrvorträge bzw. Vorlesungen bezeichnet werden, sind in unterschiedlichen Zusammenhängen folgende sieben Schriften genannt worden: De prisca medicina, De natura hominis, De aere aquis locis, De morbo sacro, De morbis IV, die Abhandlung De genitura/De natura pueri und bestimmte Abschnitte aus De muliebribus I8. Wir wollen uns im Folgenden speziell mit De natura hominis und dem Schriftenkomplex De genitura/De natura pueri, De morbis IV und De muliebribus I beschäftigen, zumal da sich an Hand dieser Texte besonders eindrücklich die Schwierigkeiten vor Augen führen lassen, vor die wir uns gestellt sehen, wenn wir darauf angewiesen sind, den Charakter eines Textes vorzugsweise auf Grund von sprachlich-stilistischen Kriterien zu beurteilen. Beginnen wir mit De natura hominis. Dieser Text wendet sich nicht nur expressis verbis an ein hörendes Publikum9, in ihm finden sich auch gehäuft alle für die gesprochene Rede charakteristischen Merkmale, die wir oben erwähnt haben10. Sie finden sich allerdings nur im ersten Teil der Schrift, in den Kapiteln 1–9, in denen der Autor zunächst scharfe Kritik an den monistischen Theorien in der Philosophie und Medizin übt, um dann vor diesem Hintergrund seine eigene Viersäftelehre mit um so größerer Wirkung vorzutragen. In dem zweiten, weitaus längeren Teil der Schrift fehlen Verben des Sagens gänzlich, selbst andere Verben in der ersten Person suchen wir hier vergebens. Wenn es denn zutrifft, daß für Texte, die zum mündlichen Vortrag bestimmt waren, d.h. mit denen der Autor die direkte Kommunikation mit seinem Publikum suchte, eine der gesprochenen Sprache verpflichtete Ausdrucksweise kennzeichnend ist, sollte eine solche Diskrepanz, wie sie sich uns in der formalen Gestaltung der bei6 7 8
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Vgl. Kollesch (Anm. 2), S. 182 (= oben, S. 19–20). Siehe Jouanna, Rhétorique (Anm. 2), S. 29–32. Siehe J. Ilberg, Die Ärzteschule von Knidos, Leipzig 1925, S. 9f. u. 23; A.-J. Festugière, Hippocrate, L’ancienne médecine. Introduction, traduction et commentaire, Paris 1948, S. IX; I. M. Lonie, The Hippocratic treatises “On generation”, “On the nature of the child”, “Diseases IV”. A commentary, Berlin u. New York 1981, S. 51; Jouanna, Rhétorique (Anm. 2), S. 30f. Nat. Hom. 1,1 (CMG I 1,3, S. 164,3–5) (VI 32 L.). Siehe z.B. Nat. Hom. 1,1; 2,1. 3. 4. 5; 5,1. 2. 4 (CMG I 1,3, S. 164,5. 8; 166,12; 168,4. 9; 170,2. 3; 174,11. 12; 176,2; 178,9) (VI 32; 34; 36; 40; 44 L.).
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den Teile von De natura hominis auftut, doch zu denken geben. Und so fragen wir uns ernsthaft, ob in diesem Fall der bewußte Einsatz der gesprochenen Sprache als Stilmittel wirklich als Ausdruck der Mündlichkeit gewertet werden darf oder ob es nicht vielmehr die im ersten Teil der Schrift geführte polemische Auseinandersetzung war, die den Autor dazu veranlaßte, hier die Form von Rede und Gegenrede als Mittel der Darstellung zu wählen. Anderenfalls sähe man sich, so meine ich, gezwungen, erneut über die Einheit der Schrift nachzudenken; zumindest scheint uns, daß ein derart eklatanter Stilbruch innerhalb eines Textes, | wenn man ihn unter dem Aspekt der Mündlichkeit betrachtet, nur damit erklärt werden könnte, daß der zweite Teil von De natura hominis nachträglich, möglicherweise im Zusammenhang mit der schriftlichen Herausgabe des Werkes, an den ursprünglich als Rede gehaltenen ersten Teil zur Vervollständigung des Textes angefügt wurde. Anderer Art sind die Schwierigkeiten bei dem Schriftenkomplex De genitura/De natura pueri, De morbis IV und den in Frage kommenden Abschnitten aus De muliebribus I. Von diesen Texten gilt es auf Grund innerer Indizien als erwiesen, daß sie vom gleichen Verfasser stammen.11 Der extrem häufige Gebrauch der Verbform φημί – von den 39 Belegen in den hippokratischen Schriften, die J. Jouanna ermittelt hat, entfallen 23 allein auf diesen Schriftenkomplex12 – und der ebenfalls häufige Gebrauch anderer Verben des Sagens in der ersten Person, ferner die bis zum Überdruß strapazierte An- und Abkündigung des jeweils zu behandelnden bzw. behandelten Gegenstandes mit zum Teil formelhaften Wendungen, zahlreiche Exkurse, die ausdrücklichen Hinweise auf die Wiederaufnahme des Gedankenganges, der durch einen Exkurs unterbrochen worden war, oder der Verweis auf die Wiederholung eines besonders wichtigen Sachverhalts und vieles Ähnliche mehr sprechen zweifellos für die Mündlichkeit dieser Texte. J. Ilberg hat die Auffassung vertreten, daß wir es bei den genannten Schriften mit ἀκροάσεις, mit Vorlesungen bzw. Lehrvorträgen, eines Arztes zu tun haben, die aus dem Schulbetrieb der Ärzteschule von Knidos hervorgegangen sind.13 Ausschlaggebend dafür waren für ihn vor allem die in hohem Maß an der gesprochenen Sprache orientierte Ausdrucksweise des Autors und sein von didaktischen Gesichtspunkten bestimmtes Vorgehen bei der Darlegung der von ihm behandelten Themen. Für die Beantwortung der Frage nach der Kommunikationssituation, in die diese Schriften einzuordnen sind, d.h. für die Beantwortung der Frage nach dem Verfasser, den intendierten Rezipienten und nach der Funktion bzw. dem Verwendungszweck, ist aber in diesem speziellen Fall, so meinen wir, unbedingt noch ein weiterer Faktor zu berücksichtigen. Die Abhandlungen De genitura/De natura pueri, De morbis IV und die dem gleichen Autor zuzuweisenden Partien aus De muliebribus I unterscheiden sich nicht nur durch Stil, Sprachgebrauch und methodische Verfahrensweise von den anderen Werken des CH; zu den Besonderheiten dieser Schriften gehört auch, daß der Verfasser in jeder | von ihnen auf mindestens eine der anderen verweist: In De genitura/De natura pueri einmal ohne Angabe des Titels auf De morbis IV14 und zweimal auf seine Schrift 11 12 13 14
Siehe Lonie (Anm. 8), S. 43–51. Siehe Jouanna, Rhétorique (Anm. 2), S. 32 Anm. 1. Siehe Ilberg (Anm. 8), S. 9–23. Genit./Nat. Puer. 3 (V II 474 L.).
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über Frauenkrankheiten15, in De morbis IV einmal auf seine Schrift über Frauenkrankheiten16 und in den Frauenkrankheiten dreimal auf De genitura/De natura pueri17. Wenn wir davon ausgehen, daß sich unser Autor nicht an ein lesendes, sondern an ein hörendes Publikum gewandt hat, macht die Bezugnahme auf bereits gebotene oder noch zu bietende Darlegungen in den anderen Schriften die Annahme erforderlich, daß er bei seinem Auditorium die Vertrautheit mit den jeweiligen anderen Abhandlungen voraussetzen bzw. auch für die Zukunft mit demselben Auditorium rechnen konnte.18 Wir haben es bei diesen Texten also nicht wie bei den anderen mündlichen Werken mit Einzelvorträgen zu tun, die bei einer einmaligen Gelegenheit vor einem dem jeweiligen Anlaß entsprechenden Publikum gehalten wurden, sondern mit einem Vortrags- bzw. Vorlesungszyklus, der in einem mehr oder weniger langen Zeitraum vor einem Auditorium zu Gehör gebracht wurde, das sich wenigstens zu einem Teil aus dem gleichen Personenkreis zusammensetzte. Als äußerer Rahmen dafür würde, vom modernen Standpunkt aus gesehen, in der Tat am ehesten, wie bereits von J. Ilberg angenommen, der Lehrbetrieb an einer medizinischen Schule in Frage kommen. Eine solche Annahme verbietet sich jedoch; denn nach allem, was wir heute über die ärztliche Ausbildung in der Antike wissen, hat es in Griechenland in der Zeit des ausgehenden 5. Jh., in der unsere Texte entstanden sind, wie auch noch lange danach, medizinische Schulen, verstanden als Ausbildungsinstitute mit festgefügten Organisationsstrukturen, wie sie für einen regelrechten Vorlesungsbetrieb vorauszusetzen sind, nicht gegeben19. Eine wirkliche Lösung des Problems bedeutet es unseres Erachtens aber auch nicht, wenn I. M. Lonie als Alternativvorschlag den Gedanken ins Spiel bringt, daß unser Autor möglicherweise unter den Sophisten zu suchen ist und daß er mit seinem Vorlesungszyklus vor einer nichtprofessionellen Zuhörerschaft aufgetreten sein könnte, weil es im 5. und 4. Jh. die Domäne der Sophisten war, umfangreiche Vorlesungen über ausgesprochen fachspezifische Themen vor einem Laienpublikum zu halten20. I. M. Lonie | weist darauf hin, daß es in diesem Zusammenhang nicht unerheblich ist, daß in keinem der Texte, die unserem Verfasser zugeschrieben werden können, Therapievorschriften gebracht werden21. Wir wollen nicht bestreiten, daß das Fehlen jeglicher Angaben zur Therapie dafür sprechen könnte, daß sich der hippokratische Autor mit seinen Vorlesungen an ein breites, nicht nur aus Ärzten bestehendes Publikum wenden wollte. Andererseits darf man aber nicht übersehen, daß sowohl die Abhandlung Über das Werden des Kindes als auch De morbis IV ihrer Anlage und ihrem Anspruch nach ausgesprochen theoretische Schriften sind, in denen man ohnehin keine therapeutischen Hinweise erwartet. Und was die gynäkologische Schrift unseres Autors betrifft, die als handbuchartige Zusammenstellung von Frauenkrankheiten zweifellos einen stärkeren Praxisbezug 15 16 17 18 19
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Ebd. 4; 15 (VII 476; 496 L.). Morb. IV 57 (VII 612 L.). Mul. I 1; 44; 73 (V III 10; 102; 152–154 L.). Vgl. Lonie (Anm. 8), S. 51. Vgl. V. Nutton, Museums and medical schools in classical antiquity, History of Education 4, 1975, S. 7f. Siehe Lonie (Anm. 8), S. 51. Siehe ebd.
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hatte, so ist auf Grund der besonderen Überlieferungssituation dieses Textes eine definitive Entscheidung in der Frage, ob sie in ihrer Originalfassung Angaben zur Therapie enthielt oder nicht, kaum mehr möglich. I. M. Lonies Vermutung erscheint uns aber nicht so sehr im Hinblick auf die von unserem Autor intendierten Rezipienten, sondern vor allem im Hinblick auf die Person des Verfassers anfechtbar. Den eindeutigen Beweis dafür, daß dieser selbst Arzt war und nicht ein Sophist, der über medizinische Themen nur zu reden verstand, liefert eine Textpassage aus De natura pueri, in der unser Autor ausführlich über einen Fall von Schwangerschaftsabbruch aus seiner eigenen Praxis berichtet22. Das genuine Anliegen eines Arztes dürfte auch dahinterstehen, wenn er in seinen Ausführungen gelegentlich Kunstfehler, deren sich andere Ärzte aus Unkenntnis, wie er meint, schuldig gemacht haben, kritisch vermerkt23. Sich diesen Argumenten zu verschließen fällt uns schwer, so daß sich uns erneut die Frage nach dem Verwendungszweck des zur Debatte stehenden Schriftenkomplexes und seinen Rezipienten stellt. Wenn wir es uns einfach machen wollten, könnten wir sagen, daß diese Schriften, obwohl sie sich als mündliche Texte geben, gar nicht zum mündlichen Vortrag bestimmt waren, sondern sich von vornherein an ein lesendes Publikum wandten; und damit wäre dann auch das Problem der Bezugnahme von einer Schrift auf die andere aus der Welt geschafft, weil es sich in schriftlich fixierten Texten erst gar nicht als solches stellt. Wir halten es jedoch durchaus für denkbar, daß diese Schriften tatsächlich als Vortragszyklus zu Gehör gebracht wurden, allerdings nicht im Rahmen eines Lehrbetriebs, sondern in Form einer Vortragsreihe für Ärzte. Möglichkeiten für die|se Art der wissenschaftlichen Kommunikation waren mit Sicherheit an so berühmten medizinischen Zentren wie Kos oder Knidos gegeben, von denen man annehmen kann, daß dort jeweils eine größere Zahl gleichgesinnter Ärzte versammelt war, und die damit auch die besten Voraussetzungen für einen gegenseitigen Gedankenaustausch unter Ärzten, sei es in Form von Gesprächen oder in Form von Vorträgen, boten.
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Nat. Puer. 13 (V II 490 L.). Siehe Morb. IV 47 (V II 576 L.); Mul. I 2; 62; 65 (VIII 20; 126; 134 L.).
3. DIE SPRACHE VON ÄRZT EN NICHTGRIECHISCHER HERKUNF T IM URT EIL GALENS*
Im Leben und Werk Galens gibt es zweifellos vieles, was ihn als Kind einer Zeit ausweist, deren geistig-kulturelles Leben in starkem Maße von der Zweiten Sophistik geprägt war1. Was den Arzt aus Pergamon mit den Vertretern dieser Strömung verband, war nicht zuletzt seine literarisch-rhetorische Bildung. Von ihr zeugen sowohl seine weitgespannten literarischen Interessen, die sich über das spezielle Gebiet der Medizin hinaus auch auf die Behandlung philosophisch-erkenntnistheoretischer, logischer, ethischer und sprachwissenschaftlicher Probleme erstreckten, als auch die sprachlichstilistische Gestaltung seiner literarischen Werke. Oberstes Gebot beim Schreiben war für Galen die σαφήνεια, die Klarheit des Ausdrucks, die zu erreichen er nur dann für möglich hielt, wenn man – wie er es von sich selbst behauptete – dem bei den Griechen üblichen Sprachgebrauch, der συνήθεια τῶν Ἑλλήνων, folgte2. Das allgemein übliche Griechisch, das der Pergamener sich zum Maßstab gesetzt hatte, war nach seinen Ausführungen in der Schrift De pulsuum differentiis (II 5: VIII 584,17–585,5. 8–11; 587,3–8 Kühn) die sog. Gemeinsprache, genauer gesagt, die literarische Koine, d.h. nicht die Sprache der Kaufleute, Händler und Steuerpächter, sondern die der gebildeten Oberschicht, in der aufgewachsen zu sein er sich rühmt. Dem Kontext dieser Stelle ist zu entnehmen, daß er die Koine nicht, wie offenbar auch üblich, als einen von den vier alten griechischen Dialekten unterschiedenen Dialekt, sondern als eine Weiterentwicklung des Attischen begriff3. So wird verständlich, warum Galen sich einerseits zwar mit allem Nachdruck von denjenigen distanzierte, die einem übertriebenen Attizismus huldigten, sich andererseits aber berechtigt fühlte, anderen Unbildung vorzuwerfen, wenn sie nicht wie er selbst über die auf einem gründlichen Studium der alten Autoren beruhende Kenntnis der attischen Sprache des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. verfügten4. | * Erschienen in: Philologus 138, 1994, S. 260–263. 1
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Vgl. dazu J. Kollesch, Galen und die Zweite Sophistik, in: Galen: Problems and Prospects, hrsg. von V. Nutton, London 1981, 1–11 (= unten, S. 139–148). Siehe z.B. Gal., De puls. diff. II 2: VIII 567,2–16 Kühn. Vgl. dazu I. v. Müller, Galen als Philologe, Verh. d. 41. Versammlung deutscher Philologen u. Schulmänner in München 1891, 85 u. 87; B. P. Reardon, Courants littéraires grecs des IIe et IIIe siècles après J.-C., Paris 1971, 62; K. Deichgräber, Parabasenverse aus Thesmophoriazusen II des Aristophanes bei Galen, SB d. Deutschen Akademie d. Wiss., Kl. f. Sprachen, Literatur u. Kunst 1956, 2, Berlin 1956, 27. Vgl. auch Gal., De comp. med. per gen. I 10: XIII 408,3f. Kühn. Siehe z.B. Gal., De alim. fac. II 11,1: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) V 4,2, S. 282,13–23; De ord. libr. suor. 5: Scripta minora II 89,18–22 Müller = XIX 60,14–18 Kühn; De morb. temp. 4: VII 418,3–7 Kühn; vgl. auch Deichgräber (Anm. 2), 5.
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Die scheinbare Diskrepanz zwischen Bildungsanspruch und distanzierter Haltung gegenüber den dezidiert klassizistischen Tendenzen der Zweiten Sophistik entspricht, so meinen wir, der Einstellung des Pergameners zur historischen Tradition in der Medizin, die im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen in der Zweiten Sophistik insofern eine Sonderstellung behauptete, als ihr Umgang mit dem klassischen Erbe die Kenntnis und Weiterentwicklung der hellenistischen Medizin einschloß. Wie wir an anderer Stelle festgestellt haben5, war für Galen als bildungsbeflissenen Arzt die Kenntnis der alten medizinischen Autoritäten eine Selbstverständlichkeit; ebenso selbstverständlich war es für ihn aber auch, daß er, immer bestrebt, den höchsten Grad an Wissenschaftlichkeit zu wahren, bei der Entwicklung seiner eigenen medizinischen Theorien nicht auf die vielfach überholten medizinischen Vorstellungen einer weit zurückliegenden Vergangenheit zurückgreifen konnte, sondern an die Forschungsergebnisse der hellenistischen Ärzte und seiner unmittelbaren Vorgänger und Zeitgenossen anknüpfen mußte. Mit diesem pragmatischen Standpunkt stimmt es auch überein, wenn er es als berechtigt anerkannte, daß die Darstellung und Beschreibung zuvor unbekannter Sachverhalte es erforderten, neue Begriffe zu prägen6. Das Recht, der zeitgenössischen Sprachentwicklung auf diese Weise Rechnung zu tragen, nahm er auch für sich in Anspruch, und das um so selbstverständlicher, als er sich damit in bester Gesellschaft wußte. Denn seinen eigenen Untersuchungen zur attischen Sprache, die in umfangreichen Sammlungen von Ausdrücken aus den Werken der attischen Prosaschriftsteller und aus der Alten Komödie sowie in semantischen Studien ihren Niederschlag gefunden hatten7, verdankt er die Erkenntnis, daß auch die alten Autoren dem jeweils herrschenden Sprachgebrauch gefolgt waren8. Galen selbst bezeichnete sein literarisches Ziel als ἑλληνίζειν, worunter er in erster Linie den korrekten Gebrauch des traditionell üblichen Wortschatzes verstand9. Aufgrund dieser seiner Zielstellung glaubte er nicht nur den Attizismus strengster Observanz, sondern vor allem die von ihm im Anschluß an die gängige rhetorische Terminologie als „Barbarismus“ gekennzeichneten Verstöße gegen den herkömmlichen Wortgebrauch bei den jüngeren Ärzten10 attackieren zu müssen. Er fühlte sich dazu | 5 6
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Kollesch (Anm. 1), 8f. (= unten, S. 147). Siehe z.B. Gal., De morb. temp. 4: V II 417,15–418,3 Kühn; Über die medizinischen Namen: S. 16,23–17,1 Meyerhof – Schacht. Zu den Titeln dieser heute verlorenen Schriften s. Gal., De ord. libr. suor. 5 und De libr. propr. 17: Scripta minora II 90,1–17 und 124,7–14 Müller = XIX 61,3–17 und 48,8–15 Kühn. Vgl. dazu J. Ilberg, Über die Schriftstellerei des Klaudios Galenos IV, Rhein. Mus. 52, 1897, 617–619 = Nachdruck Darmstadt 1974, 118–120; v. Müller (Anm. 2), 86f.; W. Herbst, Galeni Pergameni de atticissantium studiis testimonia collecta atque examinata (Pars I), Leipzig 1910, 3–9; Deichgräber (Anm. 2), 9–12. Siehe Gal., De comp. med. per gen. I 10: XIII 407,18–408,6 Kühn; Über die medizinischen Namen: S. 31,32–35,3 Meyerhof – Schacht. Gal., Meth. med. I 9: X 71,4–7 Kühn; vgl. Herbst (Anm. 7), 9f. Z.B. Gal., De morb. caus. 11: VII 39,16–18 Kühn; De puls. diff. II 5: VIII 586,12–587,1 Kühn. Vgl. auch v. Müller (Anm. 2), 87; L. Rydbeck, Fachprosa, vermeintliche Volkssprache und Neues Testament. Zur Beurteilung der sprachlichen Niveauunterschiede im nachklassischen Griechisch, Uppsala 1967, 202f., und neuerdings auch P. Manuli, Galen and Stoicism, in: Galen und das hellenistische Erbe, Verh. d. IV. Internationalen Galen-Symposiums, 18.–20. Sept. 1989, hrsg. von J. Kollesch u. D. Nickel, Stuttgart 1993 (Sudhoffs Archiv, Beih. 32), 56–60, die im Zusammenhang mit Galens Kritik an den stoischen Philosophen auf dieses Problem eingeht.
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um so mehr berechtigt, als er durch die Vernachlässigung der συνήθεια τῶν Ἑλλήνων die Verständigung in der Sache gefährdet sah. Wir wollen keineswegs bestreiten, daß Galen sich bei seiner Kritik an der Sprache der medizinischen Autoren aus dem Beginn der Kaiserzeit tatsächlich von sachlichen Erwägungen leiten ließ und daß seine Kritik, die sich gegen den „Barbarismus“ richtete, angesichts der Tatsache, daß es in der Antike noch keine feststehende medizinische Terminologie gab, auch begründet war, selbst wenn es sich, soweit wir das bei der ungünstigen Quellenlage beurteilen können, bei den von ihm kritisierten divergierenden Bedeutungsinhalten häufig genug lediglich um terminologische Unschärfen handelte. Historisch gesehen, unberechtigt erscheint es uns dagegen, wenn der Pergamener für die von ihm als „barbarisch“ apostrophierten Verstöße gegen die συνήθεια τῶν Ἑλλήνων bei den jüngeren medizinischen Autoren deren mangelnde Übung im Umgang mit der griechischen Sprache verantwortlich macht, weil er damit in unzulässiger Weise das Sprach- und Stilempfinden, das sich erst im Klassizismus der Antoninenzeit herausbildete und in dem er aufwuchs, als Maßstab für die Beurteilung der im 1. und beginnenden 2. Jahrhundert üblichen Fachprosa benutzt, die, wie die Untersuchungen von L. Rydbeck11 gezeigt haben, literarisch weitgehend anspruchslos war. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man feststellt, daß sein Vorwurf der mangelnden Übung im Umgang mit der griechischen Sprache vor allem jene Ärzte trifft, die aus nichtgriechischsprachigen Landesteilen des römischen Imperiums stammten und von denen er daher annahm, daß sie das Griechische in ihrer Jugend gar nicht oder zumindest nur ungenügend gelernt hatten. So schreibt Galen z.B. in seinem Kommentar zum V I. Buch der hippokratischen „Epidemien“ (In Hipp. Epid. VI comm. IV 11; V 15; V II: CMG V 10,2,2, S. 213,2–5; 293,11–13. 27–30; 413,34–39) von dem Hippokrateskommentator Rufus aus Samaria nicht nur, daß dieser unfähig gewesen sei, die Werke eines Hippokrates eigenständig zu erklären, und deswegen lediglich Erklärungen aus den Kommentaren seiner Vorgänger gesammelt habe, sondern er weiß auch zu berichten, daß Rufus aus Unkenntnis der griechischen Sprache mißglückte Erklärungen früherer Kommentatoren lobte und daß er dies deswegen tat, weil er als Jude ein Mann war, „dessen Heimat in dem Lande des Palästinenser genannten Volkes ist und der die griechische Sprache nicht verstand, bevor er nach der Stadt Rom kam“. Selbst einem Mann wie dem aus dem kilikischen Anazarba gebürtigen pharmakologischen Autor Dioskurides, dessen fachliche Qualifikation für Galen außer Frage steht, wirft der Pergamener Unkenntnis der griechischen Ausdrücke vor (De simpl. med. temp. et fac. XI 1: XII 330,10–14 Kühn). Seine Formulierung läßt keinen Zweifel daran, daß er auch im Falle des Dioskurides die aus mangelnder Vertrautheit mit der griechischen Sprache resultierenden Fehler im Wortgebrauch mit dessen Herkunft in einen ursächlichen Zusammenhang brachte12. | Daß Galens empfindliche Reaktion auf die Sprache speziell der Ärzte nichtgriechischer Herkunft nicht nur sachliche Gründe hatte, daß dabei auch seine Überzeugung von der geistigen Überlegenheit der Griechen über die Barbaren13 eine Rolle spielte, 11 12 13
Rydbeck (Anm. 10), 177–194. Vgl. ebd., 202f. Siehe z.B. Gal., De san. tuenda I 10,17–20: CMG V 4,2, S. 24,21–25,2; Exhortatio ad medicinam (Protrepticus) 5,3: CMG V 1,1, S. 120,13–16; De plac. Hipp. et Plat. III 3,18: CMG V 4,1,2,
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lehrt ein Blick in das bereits zitierte zweite Buch seiner Schrift De pulsuum differentiis (II 5: V III 584,17–588,1 Kühn). Die Kontroverse, die Galen hier mit Archigenes von Apameia in Syrien über die Qualitäten der Pulse führt14, kulminiert in der Feststellung, daß er sich mit Archigenes nicht verständigen könne. Er begründet das damit, daß dieser weder seine, d.h. Galens, eigene Sprache, nämlich das in der Koine aufgegangene Attisch, spreche noch einen anderen griechischen Dialekt noch auch eine der barbarischen Sprachen in reiner Form. Die Sprache des Archigenes sei vielmehr ein Gemisch aus kilikischen, syrischen, keltischen und attischen Wörtern. Mit einem unüberhörbar ironischen Unterton bezeichnet Galen ihn deshalb als polyglott, während er von sich selbst bekennt, daß er außerstande sei, so viele Sprachen zu lernen, um der Rede des Archigenes folgen zu können, grenze es doch schon ans Wunderbare, wenn jemand zweisprachig sei. Aus dem Munde eines Mannes, der einen großen Teil seines Lebens in Rom zugebracht hat, wo er mit Sicherheit vielen Menschen begegnete, die zweisprachig waren, bedeutet dies eine erstaunliche Feststellung, die wir wohl nicht allzu ernst nehmen dürfen. Denn der eigentliche Grund dafür, daß Galen es so entrüstet von sich weist, einem Archigenes zuliebe fremde Sprachen zu lernen, dürfte eher der gewesen sein, daß er es für eine unerhörte Zumutung hielt, daß jemand, der wie er das Griechische – nach seinen eigenen Worten die schönste, lieblichste, wohltönendste und menschlichste aller Sprachen – spricht, barbarische Sprachen lernen soll, d.h. Sprachen, die er u.a. dadurch charakterisiert sieht, daß ihre Laute denen der Schweine, der Frösche, der Dohlen oder der Raben gleichen, unziemliche Stellungen der Zunge, der Lippen und des ganzen Mundes erfordern oder ähnlich wie beim Schnarchen tief aus der Kehle heraufgeholt werden15. Wie wir eingangs sagten, ist für Galen die σαφήνεια des Ausdrucks beim Schreiben oberstes Gebot gewesen. Das unterscheidet seine Prosa von der der Sophisten der Antoninenzeit und kennzeichnet sie als Fachsprache. Literarische Aspekte waren für ihn gleichsam nur von zweitrangiger Bedeutung. Trotzdem erweist er sich beim Schreiben in sprachlich-stilistischer Hinsicht als Kind seiner Zeit, und aus dieser Abhängigkeit heraus ist auch seine Kritik an der Sprache seiner Vorgänger zu erklären.
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S. 188,32–190,1; vgl. G. Strohmaier, Araber, Römer und Germanen im Urteil eines griechischen Mediziners, Das Altertum 38, 1992, 105–108. Vgl. dazu auch Deichgräber (Anm. 2), 30–33. Gal., De puls. diff. II 5: VIII 585,18–586,19 Kühn.
4. MEDIZIN UND IHRE FACHSPRACHE IM ALT ERT UM: EINE ÜBERSICHT*
1. Die Fachsprache in der griechischen Medizin Im antiken Griechenland gehörten die Ärzte zu den ersten, die das Schreiben in Prosa auf einem Fachgebiet, das einer jahrhundertealten mündlichen Tradition verpflichtet war, als Mittel der Kommunikation systematisch genutzt haben. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit dürfte auf dem Gebiet der Medizin spätestens in der ersten Hälfte des 5. Jh.s v.Chr. erfolgt sein, zu einer Zeit, als die griechischen Ärzte darangingen, die empirisch gewonnenen Kenntnisse durch die Anwendung der von den Naturphilosophen übernommenen Theorien und Fragestellungen auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen und damit auch das Selbstverständnis der Medizin als einer eigenständigen Wissenschaft zu fördern. Die schriftliche Fixierung der Beobachtungen, die die Ärzte im Umgang mit den Patienten gemacht hatten, bot ihnen einerseits die Gelegenheit, Wissen zu speichern und zu verbreiten, andererseits aber auch die Chance, aus den engen Bahnen der Tradition auszubrechen, indem sie ihre ganz persönlichen Ansichten in schriftlicher Form bewußt in Gegensatz zu den überkommenen Anschauungen stellten und damit zugleich der Gefahr entrissen, von diesen wieder verschüttet zu werden (vgl. Lonie 1983, 147). 1.1. Die ältesten erhaltenen griechischen medizinischen Texte stammen aus dem Ende des 5. und dem Anfang des 4. Jh.s v.Chr. Sie gehören zu einer umfangreichen Sammlung von Schriften, die unter dem Namen des berühmten Arztes Hippokrates von Kos (um 460–370 v.Chr.) tradiert worden ist. Keine von diesen Schriften kann mit Sicherheit dem Hippokrates als Autor zugewiesen werden. Wir dürfen jedoch davon ausgehen, daß eine größere Anzahl von ihnen von Angehörigen der koischen Ärzteschule verfaßt wurde, als deren geistiger Ahnherr Hippokrates galt, daß eine andere Gruppe aber in der Tradition der Ärzteschule von Knidos, einer der Insel Kos benachbarten Stadt an der kleinasiatischen Küste, stand. Die Lehrinhalte dieser beiden Schulen unterschieden sich vor allem darin, daß die koischen Ärzte eine individualisierende Krankheitsauffassung vertraten, während die Nosologie der Knidier stärker symptomatologisch ausgerichtet war und systematisierende Tendenzen aufwies. Alle Schriften der hippokratischen Sammlung sind im ionischen Dialekt, in der zu dieser Zeit gültigen Sprache der wissenschaftlichen Prosa, abgefaßt. Gemeinsam ist ihnen auch das für die hippokratische Medizin kennzeichnende Bemühen, die gesunden und krankhaften Vorgänge im menschlichen Körper auf natürliche Gegebenheiten wie den Säftehaushalt des Körpers, Ernährung, Lebensweise und Klimaverhältnisse zurückzuführen und dementsprechend die Krankheiten mit natürlichen und * Erschienen in: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, hrsg. v. L. Hoffmann, H. Kalverkämper, H. E. Wiegand, in Verbindung mit Ch. Galinski, W. Hüllen, Berlin u. New York 1999, 2. Halbband, S. 2270–2277.
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rational begründbaren Mitteln zu behandeln. In Inhalt und Darstellungsform weisen die Texte jedoch beträchtliche Unterschiede auf. Inhaltlich decken sie Spezialgebiete wie Physiologie, innere Medizin, Knochenchirurgie, Gynäkologie, Embryologie, Zeugungsphysiologie, Ätiologie, Prognose und Diätetik ab. Die Formen der Darstellung umfassen neben den für die medizinische Literatur generell typischen Sammlungen von Krankheitsbeschreibungen auch problemorientierte Untersuchungen, Spruchsammlungen, hypomnematische Aufzeichnungen und Reden. Bei der unterschiedlichen formalen Gestaltung der Texte hat neben dem Inhalt und der Individualität des Verfassers auch die jeweilige Kommunikationssituation, d.h. die Frage nach den Rezipienten und der Funktion der Schriften, eine Rolle gespielt. Die meisten von ihnen wurden zweifellos von Ärzten für Ärzte geschrieben und dienten dem Zweck, Fachwissen zu vermitteln. Das trifft zumindest auf alle Texte zu, in denen für die medizinische Praxis relevante Sachverhalte wie die Beschreibung von Krankheiten mit Angaben zur Symptomatik, zur Ätiologie, zum Krankheitsverlauf und -ausgang sowie Therapiehinweisen oder prognostische Zeichen, diätetische Indikationen, der Einfluß von Umweltfaktoren auf das gesunde und krankhafte Körpergeschehen und physiologische Konzeptionen systematisch oder additiv dargestellt sind. In der hippokratischen Sammlung finden sich aber auch Schriften, die zwar auch von den Ärzten gelesen wurden, aber in erster Linie für eine brei|tere Leserschicht geschrieben worden sind und sich als Aufklärungsschriften für den medizinischen Laien verstehen. Auffällig ist, daß diese Texte, die den medizinischen Laien bestimmte Kenntnisse vermitteln sollten, die es ihnen ermöglichten, selbst etwas für ihre Gesundheit zu tun oder doch wenigstens das Vorgehen der behandelnden Ärzte sachkundig zu beurteilen, sich weder im Wortgebrauch noch in ihrem wissenschaftlichen Anspruch von denen unterscheiden, die für Ärzte geschrieben wurden. Ein wesentlicher Grund dafür, daß medizinische Publikationen auch unter Nichtmedizinern ihre Leser fanden, bestand darin, daß es in der Antike noch keine nur für den Fachmann verständliche Fachsprache gab. Denn im Unterschied zur modernen medizinischen Fachsprache, deren Terminologie weitgehend aus dem Griechischen und Lateinischen übernommen worden ist, waren die medizinischen Begriffe, die von den Autoren der hippokratischen Schriften verwendet wurden, Bestandteil des allgemein üblichen Wortschatzes und somit auch für den Laien verständlich. Von einer Fachsprache kann allenfalls insofern die Rede sein, als die Texte einen ihrem speziellen Gegenstand entsprechenden Fachwortschatz verwenden, der wie in der modernen Medizin Bezeichnungen von Körperteilen und -organen, Krankheitsnamen, die Benennung von Symptomen, Untersuchungsmethoden und therapeutische Maßnahmen beinhaltet. Für diese „medizinische“ Sprache ist es jedoch kennzeichnend, daß weder die Wörter, mit denen medizinische und speziell anatomische Gegebenheiten benannt wurden, in ihrer Bedeutung eindeutig festgelegt waren noch für eine bestimmte Gegebenheit immer dasselbe Wort benutzt wurde. So wird z.B. das Wort ἀρτηρία im Singular zur Bezeichnung sowohl für die Luftröhre als auch für die Aorta oder das Wort vεῦρον zur Bezeichnung für Sehnen, Bänder und Nerven gebraucht, und umgekehrt wird z.B. der Magen mit den Wörtern στόμαχος und γαστήρ oder die Speiseröhre mit dem speziellen Ausdruck οἰσοφάγος und mit dem auch für den Magen gebrauchten Wort στόμαχος bezeichnet. Ein Grund für das Schwanken bei der Benennung vor allem der inneren Körperteile dürfte zweifellos das mangelhafte anatomische Wissen der Hippokratiker gewesen sein, das nicht zuletzt
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darauf zurückzuführen ist, daß für die humoralpathologisch orientierte hippokratische Medizin die genaue Kenntnis der in den inneren Organen bestehenden festen Körperstrukturen nicht unbedingt erforderlich war und daß demzufolge nur ein geringes Interesse an anatomischen Untersuchungen bestand. Da aber andererseits schwankender Terminologiegebrauch auch in den beiden knochenchirurgischen Schriften Über die Knochenbrüche und Über das Einrenken der Gelenke zu beobachten ist, die eine erstaunlich genaue Kenntnis vom Knochenbau des menschlichen Körpers erkennen lassen, wird man den entscheidenden Grund für dieses Phänomen wohl eher darin zu sehen haben, daß die Namen der Körperteile generell für die Ärzte aus hippokratischer Zeit keine Fachlexeme waren, sondern Wörter der Alltagssprache, deren Gebrauch beliebig war. Die frühe Entwicklungsstufe der Medizin, die die hippokratischen Schriften repräsentieren, spiegelt sich auch im Gebrauch von Krankheitsnamen wider. Die Grundlage der Nosologie der hippokratischen Ärzte bildete die Lehre von den Körpersäften als den konstitutiven Bestandteilen des menschlichen Körpers, deren Mischungsverhältnisse für Gesundheit und Krankheit ausschlaggebend waren: unter Gesundheit verstanden sie die ausgewogene Mischung der Säfte, unter Krankheit ein gestörtes Mischungsverhältnis, das durch das Überwiegen des einen oder das zu geringe Vorhandensein eines anderen Saftes zustande kam. Eine derartige Störung im Säftehaushalt des Körpers betraf nach ihren Vorstellungen immer, auch bei lokal begrenzten Erkrankungen, den ganzen Organismus und bedingte entsprechend der bei jedem einzelnen Menschen individuell verschiedenen Säftemischung eine Vielfalt individueller Krankheitsformen, die an dem jeweiligen Patienten in ihrer Besonderheit beobachtet werden mußten. Diese Krankheitsvorstellung führte dazu, daß die Hippokratiker in ihren Krankheitsbeschreibungen zwar mit größter Sorgfalt alle Symptome des Krankheitsverlaufs und auch den Ausgang der Krankheit erfaßten, daß sie aber häufig darauf verzichteten, die verschiedenen Symptome zu einem Krankheitsbild zusammenzufassen und dieses als solches zu diagnostizieren. Das erklärt denn auch die Tatsache, daß selbst in den nosologischen Schriften der hippokratischen Sammlung einerseits keineswegs alle dort beschriebenen Erkrankungen einen Namen tragen und andererseits unter Krankheiten, die mit einem Namen versehen sind, bisweilen verschiedene Verlaufsformen angeführt werden, die unter Umständen so stark differieren, daß es nur schwer vorstellbar ist, daß sie | tatsächlich ein und demselben Krankheitsbild entsprochen haben. Die Benennung der Krankheiten erfolgte, wie bereits der Arzt Galen von Pergamon (129–um 200) im 2. Kapitel des 2. Buches seiner Schrift Die therapeutische Methode zutreffend festgestellt hat, hauptsächlich nach dem von der Krankheit betroffenen Körperteil (z.B. πλευρῖτις, Rippenfellentzündung; περιπνευμονία, Lungenentzündung), nach den auffälligsten Symptomen (z.B. εἰλεός, Darmverschluß; σπασμός, Krampfzustände), nach beiden genannten Faktoren (z.B. κεφαλαλγία, Kopfschmerz), nach der angenommenen Krankheitsursache (z.B. χολέρα, eine von der Galle hervorgerufene Darmerkrankung), nach der Ähnlichkeit mit äußeren Erscheinungen, wobei die Metaphern dem Bereich der Zoologie, der Botanik, der unbelebten Natur oder dem Alltagsleben entlehnt sein können (z.B. καρκίνος, Krebs; ἄνθραξ, Karbunkel) und schließlich gelegentlich auch mit dem Namen dessen, der eine Krankheit zuerst behandelt hat (z.B. das nach dem Kentauren Cheiron benannte Geschwür), oder mit dem Patientennamen (z.B. das nach dem tro-
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janischen Helden Telephos benannte Geschwür). Die von Galen angeführten Benennungsmotive behielten die ganze Antike hindurch ihre Gültigkeit und spielen nach Wiese (1984, 49f.) auch heute noch bei der Bildung neuer Termini in der klinischen Medizin eine Rolle. Die griechischen Krankheitsnamen, wie sie uns in größerer Zahl zum erstenmal in den hippokratischen Schriften begegnen, sind zum festen Bestandteil der modernen medizinischen Terminologie geworden, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß lediglich die Namen identisch sind, während die klinischen Bilder, die von den hippokratischen Ärzten und in der heutigen Medizin mit den betreffenden Krankheitsbezeichnungen verbunden werden, in den seltensten Fällen eine Identifikation zulassen. Da die hippokratischen Schriften auf naturwissenschaftlichem Gebiet die einzigen Fachtexte aus dem ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jh. sind, die uns vollständig überliefert wurden, ist es in Ermangelung von Vergleichsmaterial nur schwer zu beurteilen, ob die stilistischen Besonderheiten, die sie im Vergleich mit medizinischen Werken aus späterer Zeit aufweisen, lediglich Ausdruck eines archaischen Stils sind oder ob es sich bei ihnen um Kennzeichen einer fachinternen Kommunikation handelt. Während man früher eher dem ersten Erklärungsmodell zuneigte, sind in jüngerer Zeit Stimmen laut geworden, die den Grund für die sprachlichen Besonderheiten in der besonderen Kommunikationssituation sehen möchten. Langholf (1977, 9ff.) und Hellweg (1985) haben dies am Beispiel der Krankheitsfallbeschreibungen aus dem ersten und dritten Buch der hippokratischen Epidemien zu zeigen versucht, in denen die z.B. auch für moderne Krankenanamnesen typische Ausdrucksknappheit bzw. Sprachökonomie besonders auffällig ist, die mit dem Ziel, mit möglichst geringem sprachlichem Aufwand möglichst viel Information zu vermitteln, durch Stilmittel wie formelhafte Sprache, Substantivierung, Parataxe, Nominalsatzgebrauch oder Asyndese gekennzeichnet ist. Die eingehenden Stiluntersuchungen von Langholf und Hellweg haben deutlich gemacht, daß die stilistischen Besonderheiten in diesen Texten weder mit archaischer Schreibweise noch mit der Klassifizierung der Krankheitsfallbeschreibungen als tagebuchartige Aufzeichnungen eines Arztes für den eigenen Gebrauch hinreichend erklärt werden können; die für die Ausdrucksknappheit kennzeichnenden Stilmerkmale, die sich, wenngleich weniger ausgeprägt, auch in zahlreichen anderen Schriften der hippokratischen Sammlung finden, seien vielmehr neben anderen Gestaltungsprinzipien bewußt als sprachliches Ausdrucksmittel eingesetzt worden. Denn die Autoren, die ihre Werke für ihre ärztlichen Kollegen verfaßten, konnten davon ausgehen, daß der von ihnen angesprochene Leserkreis über das erforderliche Fachwissen verfügte, das es ihnen ermöglichte, nur angedeutete Fakten in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. 1.2. Bereits im 4. Jh. v.Chr. setzte eine Entwicklung ein, die in den folgenden Jahrhunderten in den verschiedensten Disziplinen der Medizin zu einem beachtlichen Wissenszuwachs führte und in dem umfangreichen Werk des Arztes Galen von Pergamon, der vor allem die Gebiete Anatomie, Physiologie, Nosologie und Pharmakologie durch eigene Forschungsergebnisse bereicherte, ihren letzten Höhepunkt und zugleich ihren Abschluß fand. Diese Entwicklung im einzelnen nachzuvollziehen ist nicht möglich, da sie für uns angesichts des Umstandes, daß das literarische Schaffen der hellenistischen Ärzte durch die Ungunst der Überlieferung nahezu gänzlich verlorengegangen ist, nur noch in den medizinischen Schriften aus der römischen Kaiser-
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zeit faßbar ist. Die größten Erkennt|nisfortschritte wurden in der Epoche des Hellenismus auf dem Gebiet der Anatomie erzielt. Während man sich im 4. Jh. noch damit begnügte, Tiere zu sezieren und die an ihnen erhobenen anatomischen Befunde auf den Menschen zu übertragen, war es den beiden Ärzten Herophilos von Chalkedon und Erasistratos von Keos, die in der ersten Hälfte des 3. Jh.s v.Chr. in Alexandria tätig waren, zum ersten und zugleich auch zum letzten Mal in der Antike möglich, systematische Sektionen auch an menschlichen Leichen durchzuführen und auf diese Weise den Bau der inneren Organe am Menschen selbst zu studieren. Die Ergebnisse seiner anatomischen Untersuchungen hat Herophilos in einer Schrift mit dem Titel „Anatomie“ in mindestens vier Büchern festgehalten, aus der jedoch nur wenige wörtliche Bruchstücke erhalten sind. Allein der Umfang seines anatomischen Werkes, aber auch die Nachrichten, die uns von den späteren Autoren über seine anatomischen Aktivitäten überliefert sind, lassen den Schluß zu, daß Herophilos das gesamte Körperinnere vom Gehirn bis zum Urogenitaltrakt sezierte und dabei nicht nur äußere Gestalt und Lage der einzelnen Organe betrachtete, sondern erstmalig auch deren Aufbau und Strukturen eingehend untersuchte. Das erklärt auch die zahlreichen anatomischen Entdeckungen, die mit seinem Namen verbunden sind. Hervorzuheben ist vor allem seine Entdeckung der Nerven, die auf der Erkenntnis beruhte, daß Gehirn, Rückenmark und Nerven eine morphologische Einheit bilden. Zu den von ihm als erstem erhobenen anatomischen Befunden gehören ferner, um nur einige Beispiele zu nennen, die Gehirnventrikel, die venösen Sinus im Gehirn und deren Zusammenfluß, die anatomische Unterscheidung zwischen Venen und Arterien auf Grund der unterschiedlichen Wandstärke der beiden Gefäße, die Identifizierung der Nebenhoden und der Ampulla des Samenleiters im Bereich der samenableitenden Organe des männlichen Genitale und die Ovarien als Teil der weiblichen Geschlechtsorgane, die er jedoch in Analogie zu den männlichen Hoden ebenfalls als Hoden bezeichnete. Von Erasistratos wissen wir, daß er die Herzklappen und ihre Funktion beschrieben hat. Er hat sich nachweislich auch mit der Anatomie des Gehirns und der Nerven beschäftigt und soll im Alter auf Grund genauerer anatomischer Studien wie vor ihm bereits Herophilos zu der richtigen Erkenntnis gelangt sein, daß die Nerven ihren Ursprung im Gehirn und nicht, wie er zuvor angenommen hatte, in der Hirnhaut haben. Der enorme Kenntniszuwachs auf dem Gebiet der Anatomie führte zwangsläufig auch zu einer spürbaren Bereicherung des anatomischen Wortschatzes. Bei der Prägung neuer Bezeichnungen scheint sich wiederum Herophilos besonders hervorgetan zu haben. Das beweist nicht nur die relativ große Zahl von Termini, die ihm zugeschrieben werden, sondern auch der Umstand, daß mehrere von ihnen in der Antike sich als maßgebliche Bezeichnungen durchgesetzt und darüber hinaus in latinisierter Form auch Eingang in die moderne anatomische Nomenklatur gefunden haben. Bei der Bildung anatomischer Namen haben für Herophilos verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle gespielt. Zum Beispiel hat er dem Nebenhoden auf Grund seiner Lage am Hoden, den er abweichend vom sonst üblichen Sprachgebrauch als „didymos“ bezeichnete, den auch heute noch üblichen Namen Epididymis gegeben. Den ersten Abschnitt des Dünndarms nannte er Zwölffingerdarm (Duodenum), weil er für diesen eine Länge von 12 Fingerbreiten ermittelt hatte. Daneben begegnen Bezeichnungen, für deren Bildung die von ihm festgestellte Ähnlichkeit der jeweiligen anatomischen Gebilde vor allem mit Gegenständen des täglichen Lebens ausschlaggebend
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war. Auf diesem Verfahren beruhen Benennungen wie „griffelförmiger Auswuchs“ für den dünnen, spitz zulaufenden Knochenfortsatz an der Unterseite des Schläfenbeins (Processus styloideus ossis temporalis), den er mit einem zum Beschreiben von Wachstafeln benutzten Griffel verglich, oder „Weinkelter“ für den in der älteren anatomischen Nomenklatur als Torcular Herophili, heute als Confluens sinuum bezeichneten Abschnitt der Blutleiter der harten Hirnhaut, der für das Blut ebenso wie die Kelter für den Wein zugleich Sammelbecken und Abfluß ist. Auf Herophilos geht auch die Bezeichnung der inneren Augenhaut als „Netzhaut“ (Retina) zurück, die er offensichtlich auf Grund der Tatsache, daß sie den Glaskörper umgibt, mit einem Fischernetz verglich, das, wenn es aus dem Wasser heraufgezogen wird, in ähnlicher Weise seinen Inhalt umschließt. Der in der hippokratischen Medizin anzutreffende Gebrauch von Synonymen setzte sich selbst bei der Bildung neuer anatomischer Termini in der hellenistischen Anatomie fort und findet sich gelegentlich auch noch im 2. nachchristlichen Jh. bei Galen, was um so mehr verwundert, als gerade er häufig genug | den nichtterminologischen Sprachgebrauch anderer medizinischer Autoren kritisiert und keinen Zweifel daran läßt, daß er selbst eine unmißverständliche Ausdrucksweise im Interesse einer fruchtbaren Kommunikation innerhalb eines Fachgebiets, das über eine nur den Fachleuten verständliche Terminologie verfügt, für unverzichtbar hält. Als besonders nützlich sollten sich die anatomischen Studien der hellenistischen Ärzte, bei denen zum erstenmal zugleich auch pathologische Befunde erhoben wurden, für die Chirurgie erweisen (vgl. Michler 1968). Denn während in der hippokratischen Medizin lediglich die mit konservativen Mitteln und Methoden arbeitende Knochen- und Wundchirurgie einen hohen Entwicklungsstand erreicht hatte, waren nunmehr auch Entwicklungsmöglichkeiten für die operative Chirurgie gegeben, für deren erfolgreiche Ausübung genauere Kenntnisse von der Lage und Struktur der Körperorgane eine unabdingbare Voraussetzung waren. Die Anfänge einer operativen Chirurgie lassen sich bereits bei den Ärzten aus frühhellenistischer Zeit nachweisen, ihren Abschluß fand diese Entwicklung, in deren Verlauf große Fortschritte in der Kenntnis speziell von Organerkrankungen und den damit verbundenen pathologischen Veränderungen zu verzeichnen sind, im 2. Jh. n.Chr. Sie wurde begleitet sowohl von der Weiterentwicklung und Verfeinerung des chirurgischen Instrumentariums als auch von der Einführung neuer Verfahren wie der Gefäßunterbindung und der Anwendung narkotischer Mittel zur Schmerzlinderung, deren Wirkung jedoch eher bescheiden war. Zu den größeren operativen Eingriffen auf dem Gebiet der allgemeinen Chirurgie gehörten Amputationen, das Entfernen von Fisteln, Bruchoperationen, die Operation von Gefäßerweiterungen und verschiedene Verfahren zur Beseitigung von Blasensteinen einschließlich des Blasensteinschnitts. Darüber hinaus konnten aber auch zum erstenmal auf Spezialgebieten wie der Gynäkologie und der Augenheilkunde chirurgische Eingriffe vorgenommen werden, die wie der Starstich oder die Operation des prolabierten Uterus oder des angeborenen Verschlusses der weiblichen Genitalorgane neue Behandlungsmöglichkeiten erschlossen, die über die Erfolge einer rein medikamentösen Therapie, wie sie bislang üblich war, weit hinausführten. Ähnlich wie die Anatomie brachte auch die Ausbildung der operativen Chirurgie eine Bereicherung der medizinischen Sprache mit sich. Dem Gegenstand entsprechend, kamen vor allem Namen für chirurgische Instrumente, für Verbände, Pflaster und andere chirurgische Anwendungen hinzu, ferner Ausdrücke, die die Ope-
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rationsverfahren betreffen, und nicht zuletzt auch Benennungen für Erkrankungen und pathologische Phänomene aus dem Bereich der operativen Chirurgie. Zu den Teilgebieten der Medizin, die in der Epoche des Hellenismus besonders große Fortschritte für sich verbuchen konnten, gehört schließlich noch die Heilmittellehre. Der Kenntniszuwachs auf diesem Gebiet erstreckte sich zum einen auf die in der Medizin verwandten Arzneistoffe, die sog. einfachen Heilmittel, deren Zahl zunahm, nachdem als Folge der Expansionspolitik Alexanders des Großen in verstärktem Maße mit den Völkern des Orients Handel betrieben wurde, und zum anderen auf die Zusammenstellung von Rezepturen für die Zubereitung von Arzneiformen verschiedenster Art. Zu den Arzneiformen, die am häufigsten vorkommen, gehören z.B. Pflaster, Salben, erweichende Mittel und Streupulver zur äußeren Anwendung, Tränke, Tabletten und Zäpfchen zur inneren Anwendung und zur Behandlung bestimmter Körperteile Ohrentropfen, Augenkollyrien und Gurgelmittel. Für die Benennung dieser zusammengesetzten Heilmittel waren ähnlich wie bei der Bildung der Krankheitsnamen unterschiedliche Gesichtspunkte maßgebend. Bezeichnungen wie schmerzstillende Mittel, zusammenziehende Mittel, harntreibende Mittel, Reizmittel oder Brechmittel orientieren sich an der Wirkung der jeweiligen Arzneien. Nach den als Hauptbestandteil der jeweiligen Medikamente angesehenen Ingredienzien sind Namen wie Mittel mit Mohn, Mittel mit Maulbeeren oder Tablette mit Bernstein gebildet. Der Farbe des Heilmittels verdankt z.B. die Bezeichnung „grünes Pflaster“ seine Entstehung. Bisweilen sind die Medikamente aber auch nach ihrem Erfinder benannt. Bei dieser Art der Benennung sind zwei Varianten möglich: entweder erscheint der Eigenname im Genitiv (z.B. malagma Apollophanis, erweichendes Mittel des Apollophanes), oder es wird ein von dem Eigennamen abgeleitetes Adjektiv gebildet (z.B. Erasistration, Umschlag des Erasistratos; Zopyrios, Tablette des Zopyros). Die Bereicherung des Arzneimittelschatzes ist speziell für die ärztliche Praxis von großem Nutzen gewesen, wie die in größerer Zahl erhaltenen Rezeptsammlungen aus der römischen Kaiserzeit und der Spätantike beweisen, die die Tradition der | hellenistischen Rezeptliteratur fortsetzten. Ihre abschließende theoretische Grundlegung erfuhr die Pharmakologie in der Schrift des Arztes Dioskurides aus Anazarba (2. Hälfte des 1. Jh.s) mit dem Titel Über Arzneistoffe, die Beschreibungen von Arzneistoffen aus den drei Naturreichen, von ihren medizinischen Wirkungen und von ihren Anwendungsbereichen enthält, und in Galens Werk Über Mischung und Wirkung der einfachen Heilmittel, in dem der Pergamener die Lehre von den Wirkungen der Arzneistoffe unter systematisierenden Gesichtspunkten dargestellt hat. 2. Der Beitrag der römischen Medizin zur Entwicklung der medizinischen Fachsprache Anders als in Griechenland konnte sich in Rom eine auf empirisch gewonnenen Kenntnissen und religiös-magischen Bräuchen beruhende Hausmedizin, die von Laien praktiziert wurde, über viele Jahrhunderte hin als bestimmende Form der Heilkunde behaupten. Das änderte sich erst, als es griechischen Ärzten, die nach der Eroberung der griechisch-hellenistischen Staaten durch die Römer in größerer Zahl nach Rom kamen, gelang, die Römer durch Therapieerfolge, die sie für sich verbuchen konnten, von der Nützlichkeit einer wissenschaftlich begründeten Medizin zu überzeugen. Die Pflege der Medizin als Wissenschaft, für die Rom als Metropole des neu
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entstandenen Weltreichs die besten Voraussetzungen bot, blieb allerdings weiterhin eine Domäne der griechischen Ärzte. Die Leistung der Römer beschränkte sich weitgehend darauf, die Medizin der Griechen unter dem Gesichtspunkt der praktischen Nutzbarkeit zu rezipieren, um auf diese Weise ihre Akzeptanz bei Ärzten und medizinischen Laien gleichermaßen zu erhöhen. Dieses Ziel verfolgte zweifellos die acht Bücher umfassende Darstellung der Medizin des Celsus, der einzige erhaltene Teil einer umfangreichen Enzyklopädie, in der ursprünglich noch die Disziplinen Landwirtschaft, Rhetorik, Rechtswissenschaft, Philosophie und Kriegswesen ausführlich abgehandelt worden waren. Der Teil der Enzyklopädie, der der Medizin gewidmet ist, wurde während der Regierungszeit des Kaisers Tiberius (14–37) geschrieben. Er basiert weitgehend auf griechischen Schriften aus hellenistischer Zeit. Das Werk des Celsus ist für uns jedoch nicht nur als Quelle für die Medizin dieser Epoche interessant, sondern auch als Zeugnis für die Herausbildung der lateinischen medizinischen Fachsprache, dem als vergleichbare Repräsentanten noch die Rezeptsammlungen des Scribonius Largus (1. Jh.), des Theodorus Priscianus (um 400) und des Cassius Felix (5. Jh.) sowie die Schrift über akute und chronische Krankheiten des Caelius Aurelianus (5. Jh.), bei der es sich um eine freie Übersetzung des gleichnamigen Werkes des griechischen Arztes Soran von Ephesos (Anfang des 2. Jh.s) handelt, an die Seite gestellt werden können. Bei der Benutzung der griechischen medizinischen Texte, die den lateinischen Autoren als Quelle für die Abfassung eigenständiger Werke oder als Übersetzungsvorlage dienten, sahen diese sich mit einer über Jahrhunderte gewachsenen medizinischen Fachsprache konfrontiert, über die ihre Muttersprache infolge des niedrigen Entwicklungsstandes der römischen Hausmedizin nicht verfügte. Das stellte sie vor die schwierige Aufgabe, sozusagen aus dem Stand heraus eine Sprache zu schaffen, die es ihnen ermöglichte, die in den von ihnen benutzten griechischen Quellen dargestellten Sachverhalte adäquat wiederzugeben. Daß der lateinische Wortschatz dafür nicht ausreichend war, zeigt die relativ große Zahl von griechischen Termini, die in allen genannten Texten als Fremdwörter begegnen (vgl. Langslow 1991–92, 108ff.; 1994, 228ff.; Grmek 1991, 196f.). Allerdings sind die griechischen Begriffe in vielen Fällen mit ihren lateinischen Äquivalenten gekoppelt. Diese Verfahrensweise hat unterschiedliche Gründe: zum einen soll damit lediglich auf den griechischen Ursprung des betreffenden lateinischen Terminus aufmerksam gemacht werden, und zum anderen wird damit angedeutet, daß beide Ausdrücke als gleichberechtigt betrachtet und bisweilen auch tatsächlich als Synonyme gebraucht werden. Zu den griechischen Termini, die fester Bestandteil der lateinischen medizinischen Sprache geworden sind und über das Lateinische auch in die moderne medizinische Fachsprache gelangten, gehören vor allem Krankheitsnamen wie z.B. peripneumonia (Lungenentzündung), pleuritis (Rippenfellentzündung) oder apoplexia (Schlaganfall). Als griechische Fremdwörter wurden aber auch Namen von Pflanzen, die als Arzneistoffe verwendet wurden, und die für das Griechische typische Benennung von Heilmitteln nach einem bestimmten Ingredienz (vgl. 1.2.), für die es im Lateini|schen keine Entsprechung gab, beibehalten. Grundsätzlich kann man jedoch davon ausgehen, daß sich die Verfasser der genannten Werke im Interesse der Verständlichkeit ihrer Texte darum bemüht haben, den Gebrauch griechischer Wörter auf das Notwendigste zu beschränken und sich nach Möglichkeit in ihrer Muttersprache auszudrücken. Die Benennungen der wichtigsten Kör-
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perteile und -organe wie caput (Kopf), cerebrum (Gehirn), cor (Herz), pulmo (Lunge) oder iecur (Leber) sind rein lateinische Wörter und gehörten als solche zum allgemein üblichen Wortschatz. Griechische Termini, vor allem Komposita, für die im Lateinischen kein Äquivalent vorhanden war, wurden mit mehrgliedrigen Ausdrücken oder Umschreibungen wiedergegeben, z.B. οὐρήθρα, Harnröhre, mit fistula urinae; δύσπνοια, Atembeschwerden, mit difficultas respirationis; κεφαλαλγία, Kopfschmerz, mit dolor capitis; σιαγονῖται μύες, Kinnbackenmuskeln, mit musculi, qui buccas colligant (vgl. Langslow 1991–92, 115ff.; 1994, 232f.). Zu den sprachlichen Mitteln, die von den lateinischen Autoren nach dem Vorbild ihrer griechischen Quellen zur Bildung medizinischer Benennungen genutzt wurden, gehören nach Langslow (1991–92, 112ff.; 1994, 227f.) ferner u.a. die Verwendung von Eigennamen zur Bezeichnung von Medikamenten (vgl. 1.2.), der metaphorische Gebrauch von Wörtern aus der Alltagssprache (z.B. musculus, kleine Maus, zur Bezeichnung des Muskels oder carbunculus, Kohle, zur Bezeichnung eines bösartigen Geschwürs) und die Verwendung bestimmter Substantivendungen wie -ies, -ities, -igo, -or zur Kennzeichnung jeweils unterschiedlicher klinischer Befunde (z.B. caries, Fäulnis; durities, Verhärtung; prurigo, juckender Schorf; tumor, entzündliche Schwellung; rigor, Kälteschauer). Mit Recht hat Langslow (1991–92, 107f.; 1994, 226f.) darauf hingewiesen, daß von sieben sprachlichen Hilfsmitteln, die für die Bildung moderner Fachtermini genutzt werden, fünf bei der Prägung lateinischer medizinischer Termini eine Rolle gespielt haben. Nach unserem Dafürhalten gilt aber auch für die Sprache der lateinischen medizinischen Autoren, was wir schon für die griechische medizinische Sprache festgestellt haben, nämlich daß sie nur mit Vorbehalt als Fachsprache bezeichnet werden kann; denn wie das Griechische erfüllt sie weder das Kriterium, daß sie nur für die Fachvertreter verständlich war, noch verfügt sie über eine verbindliche Terminologie. Es soll jedoch nicht bestritten werden, daß die Schaffung der lateinischen medizinischen Sprache zu dem Wertvollsten gehört, was die Römer auf dem Gebiet der Medizin geleistet haben, und daß sie mit dieser Sprache den Grundstein für die Entwicklung der modernen medizinischen Fachsprache gelegt haben. 3. Literatur (in Auswahl) Caelius Aurelianus = Caelii Aureliani Celerum passionum libri III; Tardarum passionum libri V. Hrsg. v. Gerhard Bendz. Übers. v. Ingeborg Pape. Teil I. Berlin 1990. Teil II. Berlin 1993 (Corpus Medicorum Latinorum V I 1). Cassius Felix = Cassii Felicis De medicina. Hrsg. v. Valentin Rose. Leipzig 1879. Celsus = A. Cornelii Celsi quae supersunt. Hrsg. v. Friedrich Marx. Leipzig u. Berlin 1915 (Corpus Medicorum Latinorum I). Dioskurides = Pedanii Dioscuridis Anazarbei De materia medica. Hrsg. v. Max Wellmann. 3 Bde. 2. Aufl. Berlin 1958. Erasistratos = Erasistrati Fragmenta. Hrsg. v. Ivan Garofalo. Pisa 1988 (Biblioteca di Studi Antichi 62). Galen = Claudii Galeni Opera omnia. Hrsg. v. Karl Gottlob Kühn. 20 Bde. Leipzig 1821–1833.
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Grmek 1991 = Mirko D. Grmek: La dénomination latine des maladies considérées comme nouvelles par les auteurs antiques. In: Le latin médical. La constitution d'un langage scientifique. Réalités et langage de la médecine dans le monde romain. Hrsg. v. Guy Sabbah. Saint-Etienne 1991 (Centre Jean-Palerne. Mémoires X), 195–214. Hellweg 1985 = Rainer Hellweg: Stilistische Untersuchungen zu den Krankengeschichten der Epidemienbücher I und III des Corpus Hippocraticum. Bonn 1985. Herophilos = Heinrich von Staden: Herophilus. The Art of Medicine in Early Alexandria. Edition, Translation and Essays. Cambridge. New York u. a. 1989. Hippokrates = Œuvres complètes d'Hippocrate. Hrsg. und übers. v. Emile Littré. 10 Bde. Paris 1839–1861. Langholf 1977 = Volker Langholf: Syntaktische Untersuchungen zu HippokratesTexten. Brachylogische Syntagmen in den individuellen Krankheits-Fallbeschreibungen der hippokratischen Schriftensammlung. Wiesbaden 1977. Langslow 1991–92 = David Langslow: The Development of Latin Medical Terminology: Some Working Hypotheses. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 37. 1991–92, 106–130. Langslow 1994 = David Langslow: Some Historical Developments in the Terminology and Style of | Latin Medical Writings. In: Tradición e innovación de la medicina Latina de la Antigüedad y de la Alta Edad Media. Actas del IV Coloquio Internacional sobre los „textos médicos latinos antiguos“. Hrsg. v. Manuel Enrique Vázquez Buján. Santiago de Compostela 1994 (Cursos e Congresos da Universidade de Santiago de Compostela 83), 225–240. Lonie 1983 = Iain M. Lonie: Literacy and the Development of Hippocratic Medicine. In: Formes de pensée dans la Collection hippocratique. Actes du IVe Colloque International Hippocratique (Lausanne, 21–26 septembre 1981). Hrsg. v. François Lasserre und Philippe Mudry. Genf 1983, 145–161. Michler 1968 = Markwart Michler: Die alexandrinischen Chirurgen. Eine Sammlung und Auswertung ihrer Fragmente. Wiesbaden 1968. Scribonius Largus = Scribonii Largi Compositiones. Hrsg. v. Sergio Sconocchia. Leipzig 1983. Theodorus Priscianus = Theodori Prisciani Euporiston libri III. Hrsg. v. Valentin Rose. Leipzig 1894. Wiese 1984 = Ingrid Wiese: Fachsprache der Medizin. Eine linguistische Analyse. Leipzig 1984 (Linguistische Studien).
5. ZUR GESCHICHT E DES MEDIZINISCHEN LEHRBUCHS IN DER AN T IKE*
In seiner Arbeit über das systematische Lehrbuch bestreitet Manfred Fuhrmann, daß es in hellenistischer Zeit, bis in das erste vorchristliche Jahrhundert hinein, eisagogische, die ganze Medizin, auch ihre theoretischen Fächer, darstellende Kompendien gegeben habe.1 Seiner Meinung nach schrieben die hellenistischen Ärzte trotz ihrer systematischen Bemühungen, die Fuhrmann keineswegs leugnet, hauptsächlich Spezialuntersuchungen zu Teilgebieten der Medizin. Fuhrmann muß allerdings auch die Existenz eisagogischer Schriften aus dieser Zeit zugeben, er bezeichnet sie jedoch als „dürftige Abrisse“ und spricht ihnen jeden wissenschaftlichen Wert ab. So gelangt Fuhrmann zu dem Schluß, daß der Enzyklopädist A. Cornelius Celsus zu Beginn des ersten Jahrhunderts n.Chr. zwar den Stoff für sein medizinisches Kompendium aus der monographischen Literatur der Griechen geschöpft hat, daß aber die Anlage des systematischen, alle Gebiete der Medizin umfassenden Lehrbuches das Verdienst des Römers Celsus sei. Da nahezu das gesamte medizinische Schrifttum aus dem Zeitalter des Hellenismus verlorengegangen ist, wird man dieses Problem nie mit Sicherheit lösen können. Wenn man jedoch bedenkt, daß auch in anderen Fachwissenschaften in dieser Epoche Lehrbücher geschrieben wurden, und wenn man bedenkt, daß die griechische medizinische Wissenschaft gerade in hellenistischer Zeit ihren höchsten Stand erreicht hatte, so dürfte anzunehmen sein, daß auch in dieser Zeit das Bedürfnis nach medizinischen Lehrbüchern besonders groß war und die Schaffung eines umfassenden systematischen Lehrbuchs der Medizin, etwa in der Gestalt, in der es uns bei Celsus vorliegt, veranlaßt hat. Betrachtungen über den Aufbau der pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί können uns vielleicht einen Schritt weiterführen. Ich glaube diese Schrift hier mit Recht heranziehen zu können, denn das Hauptargument für die bisherige Datierung der Ὅροι in das dritte | Jahrhundert n.Chr. ist hinfällig geworden. Das Aretäus-Zitat, das Max Wellmann zwang, die Definitiones medicae so spät anzusetzen2, ist in den ὅροι-Handschriften nicht überliefert, sondern taucht erst in der von Chartier besorgten Galen-Ausgabe von 1679 auf. Somit führt * Erschienen in: Aktuelle Probleme aus der Geschichte der Medizin. Verh. d. XIX. Internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin, Basel, 7.–11. September 1964, hrsg. v. R. Blaser u. H. Buess, Basel u. New York 1966, S. 203–208. 1
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Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike, Göttingen 1960, S. 179f. Die pneumatische Schule bis auf Archigenes, Berlin 1895, S. 65f. Aretäus lebte zudem, wie neuerdings F. Kudlien nachgewiesen hat (Untersuchungen zu Aretaios von Kappadokien, Wiesbaden 1964), nicht im ausgehenden zweiten, sondern schon im ersten Jahrhundert.
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der äußerste Terminus ante quem non, den die Schrift selbst bietet, nämlich die Erwähnung des Arztes Agathinus von Sparta3, in Neronische Zeit, so daß man ohne Schwierigkeit bis in das ausgehende erste Jahrhundert mit der Datierung der „Definitionen“ hinaufgehen kann. Diesen Zeitansatz würde auch das Fehlen Galens in dieser Schrift sehr gut rechtfertigen. Nicht so sehr freilich, daß Galens Name unter den Quellen nicht genannt ist. Denn wenn die Ὅροι nachgalenisch wären und der Verfasser Galen sein wollte, konnte er ihn ja nicht nennen. Um so erstaunlicher aber wäre es, daß Galens Schriften nirgends benutzt sind, obwohl doch gerade Galen zu jedem Gebiet der Medizin etwas zu sagen wußte, und zwar – wie Oribasius schreibt – unter Anwendung der genauesten Methoden und Definitionen, die sich sicher gut für eine ὅροι-Sammlung geeignet hätten. Über den Text der Ὅροι ἰατρικοί, zuletzt ediert von Kühn im 19. Band seiner Galen-Ausgabe, schreibt Valentin Rose in den Anecdota Graeca et Graecolatina, daß er in seiner Ordnung verwirrt sei4. Und in der Tat kann wohl jeder, der den Kühnschen Text einmal benutzt hat, diesen Satz unterschreiben. Nun ist freilich bei einer Schrift, die einen so ausgeprägten Lehrbuchcharakter trägt wie die Definitiones medicae, zu bedenken, daß sie viel gelesen, d.h. also auch häufig abgeschrieben wurde, und daß außerdem eine ὅροι-Sammlung ihrem Wesen nach dazu reizen mußte, nach Belieben Parallelmaterial hinzuzufügen. Um so erfreulicher ist es, wenn sich bei der Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung zu den Ὅροι zeigt, daß die größte Unordnung des Textes von dem schon erwähnten Chartier angerichtet wurde, dessen Gesamtausgabe der Werke Galens im vorigen Jahrhundert Kühn als Druckvorlage seiner Galen-Ausgabe diente. Es läßt sich natürlich nicht leugnen, daß auch die handschriftliche Überlieferung in reicher Fülle Spuren von Überarbeitungen aufweist. Aber trotz der Vielschichtigkeit in der Überlieferung läßt sich ein Textbestand herauskristallisieren, der, wenn wohl auch nicht die ursprüngliche, so doch wenigstens eine sehr frühe Fassung der Ὅροι repräsentiert. Dieser Text ist nicht mehr nur ein Konglomerat von Definitionen, die irgendwie etwas mit der Medizin zu tun haben. Seine endgültige Gestaltung wird zwar auch noch manches Rätsel zu lösen aufgeben, doch wird uns dabei zustatten kommen, daß dieser Text die Disposition erkennen läßt, nach der die Schrift angelegt ist. Wie der Verfasser der Ὅροι im Proömium | selbst sagt, war die Schrift hauptsächlich als Lehrbuch für Medizinstudenten gedacht und sollte demzufolge Definitionen zu allen – wir werden seine Behauptung etwas einschränken und sagen zu den wichtigsten – Gebieten der Medizin enthalten. Der Charakter einer ὅροι-Sammlung gestattete freilich nicht, daß der Autor die einzelnen Abschnitte der Schrift – wie Fuhrmann es für ein Lehrbuch fordert – durch Überleitungssätze miteinander verband. Die einzige Möglichkeit, die Gliederung anzudeuten, waren Kapitelüberschriften, von denen sich Reste in der handschriftlichen Überlieferung erhalten haben. Mit Hilfe dieser Überschriften und unter Heranziehung von Parallelmaterial läßt sich folgende, allerdings recht schematische Gliederung rekonstruieren: Die ganze Schrift bestand vermutlich aus sechs Hauptabschnitten, die zum Teil auch noch in sich gegliedert sind. Der erste Teil behandelt wissenschaftstheoretische Begriffe. Dahin gehören Definitionen philosophischer und logischer Begriffe, 3 4
XIX 353,7 Kühn. Bd. II, Berlin 1870, S. 170.
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dahin gehören auch medizinhistorische Erörterungen. Im zweiten Teil wird eine kurze deskriptive Anatomie der inneren Organe nach dem Schema a capite ad calcem gegeben. Der dritte Teil befaßt sich mit physiologischen Fragen, mit anderen Worten, mit den Funktionen und dem Aufbau des gesunden Körpers. Teil 4 ist der Lehre von den Krankheiten, der Pathophysiologie gewidmet. Dieser Abschnitt wird mit Definitionen aus dem theoretischen Teil der Pathophysiologie eingeleitet. Dann folgen Fieberlehre und Pulslehre. Danach werden die Krankheiten abgehandelt: akute Krankheiten, chronische Krankheiten (beide wieder nach dem Schema a capite ad calcem), Frauenkrankheiten. Daran schließen sich die Erkrankungen der einzelnen Körperteile, bei denen wiederum die Reihenfolge a capite ad calcem beachtet wurde. Der fünfte Teil ist der Embryologie und der Gynäkologie gewidmet. Ob dieser Abschnitt zu dem ursprünglichsten Bestand der Schrift gehört, erscheint jedoch fraglich, da seine Form völlig von der des übrigen Werkes abweicht. Der sechste und letzte Teil befaßt sich mit der Osteologie oder, wie man es vielleicht zutreffender bezeichnen könnte, mit der Orthopädie. Der Autor der Ὅροι gibt im Proömium offen zu, daß die Definitionen, die er bringt, aus den Schriften anderer Ärzte stammen, und wenn wir ihm trauen dürfen, ist es sein Verdienst, sie aus älteren Werken herausgesucht und in der genannten systematischen Form zusammengestellt zu haben. Letzteres scheint jedoch aus mehreren Gründen recht unwahrscheinlich. Die Art, in der der Verfasser der Ὅροι die Definitionen, die von medizinischen Autoren verschiedenster Richtungen stammen, neben|einandergestellt hat, verrät, daß er seinen Quellen absolut unkritisch gegenüberstand, daß er sich selber für keine der damals bestehenden medizinischen Schulen entschieden, ja nicht einmal ein Urteil über bestimmte Lehren hatte. Einem solchen anspruchslosen und unkritischen Geist wird man wohl schwerlich den vorhin skizzierten systematischen Aufbau der Schrift zutrauen. Ferner ist überliefert, daß bereits Asklepiades von Bithynien im ersten Jahrhundert v.Chr. eine Schrift mit dem Titel Ὅροι in mehreren Büchern verfaßt habe, so daß also nicht nur die Behauptung des Verfassers der pseudogalenischen Ὅροι, seine Schrift sei die erste systematische ὅροι-Sammlung in der Medizin, falsch ist, vielmehr sogar mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß im ausgehenden ersten Jahrhundert n.Chr. die Definitiones des Asklepiades nicht die einzige Schrift dieser Art waren. Ob diese ὅροι-Sammlungen in ihrem Umfang unseren Definitiones medicae entsprachen oder ob sie jeweils auf ein spezielles Gebiet aus der Medizin beschränkt waren, läßt sich natürlich nicht mit Sicherheit entscheiden. Die Ὅροι des Asklepiades, die mehrere Bücher umfaßten, sprächen immerhin dafür, daß nicht nur eine spezielle Thematik abgehandelt wurde. Auch die Tatsache, daß in anderen eisagogischen Schriften etwa aus der gleichen Zeit wie unsere Ὅροι, z.B. in der pseudogalenischen Introductio sive medicus, ebenfalls die wichtigsten Gebiete der Medizin einschließlich theoretischer und medizinhistorischer Fragen behandelt wurden und daß auch gewisse Ähnlichkeiten in dem Aufbau der Schriften unverkennbar sind, legt die Vermutung nahe, daß dem Verfasser der pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί auch für die Disposition seines Werkes eine Quelle zur Verfügung gestanden hat. Daraus würde sich freilich ergeben, daß es zumindest in der medizinischen Literatur etwa aus der Zeit um die Mitte des ersten Jahrhunderts n.Chr. derartige systematische, alle Gebiete der
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Medizin umfassende Kompendien gegeben haben muß, die in der Folgezeit als Vorbilder dienten. Das ließe aber auch den Schluß zu, daß – entgegen der Ansicht Fuhrmanns – bereits Celsus bei der Abfassung des medizinischen Teils seiner Enzyklopädie eine Quelle vorgelegen haben kann, der er außer dem Stoff auch die Gliederung seiner Schrift entnehmen konnte. Denn es ist bei dem reichhaltigen griechischen medizinischen Schrifttum aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert doch wohl kaum anzunehmen, daß der Aufbau des lateinischen medizinischen Lehrbuches des Celsus für die Anlage griechischer Kompendien Vorbild gewesen ist. Selbstverständlich muß man zugeben, daß das Lehrbuch des Celsus auf weit höherem Niveau steht als die pseudogalenischen Ὅροι. Aber das | liegt vermutlich weniger an der Vorlage als vielmehr an der Persönlichkeit, die mit der Vorlage arbeitete, und an dem Aspekt, unter dem die jeweilige Schrift verfaßt wurde. So steht bei Celsus, den die Medizin im Grunde nur so weit interessierte, als sie für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit nützlich und unentbehrlich ist, die Therapie im Vordergrund. In den Ὅροι fehlt sie – verständlich genug – dagegen völlig. Denn wie wir bereits sagten, sollten sie lediglich dazu dienen, die Studenten in möglichst knapper Form über den Gegenstand der Medizin zu informieren und sie in die theoretischen Fächer der Heilkunde einzuführen. Aber meines Erachtens muß man trotz aller Unterschiede, die zwischen den Ὅροι und der „Medizin“ des Celsus bestehen, anerkennen, daß die Gliederung beider Schriften zumindest in einzelnen Abschnitten auffallend ähnlich ist. Bei beiden Abhandlungen bilden theoretische Erörterungen den Anfang, beide Schriften hören mit der Behandlung der Osteologie bzw. Orthopädie auf (ebenso auch die pseudogalenische Introductio). Die anatomische Beschreibung erfolgt in beiden Schriften nach dem Schema a capite ad calcem (ähnlich auch in der Introductio). Sowohl Celsus als auch der Verfasser der Ὅροι kennen zwei Unterscheidungsprinzipien der Krankheiten, einmal die Teilung in akute und chronische Krankheiten, zum anderen die Einteilung der Krankheiten nach einzelnen Körperteilen. Aber gerade hier ist es interessant, die Geisteshaltung der beiden Autoren zu beobachten. Celsus verzichtet auf die Einteilung in akute und chronische Krankheiten, weil, wie er schreibt, die Zuweisung der einzelnen Krankheiten zu der einen oder anderen Gruppe nicht eindeutig ist. Er beschränkt sich daher auf eine Einteilung der Krankheiten in nicht lokalisierbare, wobei er freilich dann doch jeweils angibt, ob es sich um akute oder chronische Leiden handelt, und lokalisierbare, d.h. Krankheiten der einzelnen Körperteile (hier wie in den Ὅροι in der Reihenfolge a capite ad calcem). Der Verfasser der Ὅροι dagegen behält beide Einteilungen, offenbar getreu seiner Vorlage, bei und beachtet nicht nur bei den Erkrankungen der einzelnen Körperteile das Schema a capite ad calcem, sondern auch jeweils bei der Aufzählung der akuten und chronischen Krankheiten, ähnlich wie wir es außer in der schon mehrfach genannten Introductio auch in anderen medizinischen Werken des ersten nachchristlichen Jahrhunderts finden, z.B. bei Aretäus und bei Soran, dessen Schrift über akute und chronische Krankheiten allerdings nur in der lateinischen Übersetzung des Caelius Aurelianus vorliegt. Und es ist sicher kein Zufall, wenn auch Celsus, obwohl er das Einteilungsschema in akute und chronische Krankheiten nicht beibehält, das Kapitel über die nicht lokalisierbaren Krankheiten mit der | Beschreibung der Phrenitis beginnt, mit
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eben der Krankheit, die auch in allen anderen Darstellungen der akuten Krankheiten an erster Stelle steht. Es ließen sich noch weitere Übereinstimmungen zwischen dem Aufbau der „Medizin“ des Celsus und dem der pseudogalenischen Definitiones medicae aufzeigen. Aber das vorgelegte Material dürfte bereits hinreichend gezeigt haben, daß weder Celsus noch der Verfasser der Ὅροι unabhängig voneinander für den systematischen Aufbau ihrer Schriften verantwortlich sein können, daß man vielmehr für beide Autoren ähnliche Quellen annehmen muß, denen sie mit dem Stoff auch die Disposition ihrer Schriften entlehnten. Wenn wir aber nun bereits für Celsus eine solche Quelle annehmen müssen, so wird man kaum noch bezweifeln können, daß der Typus dieses alle Gebiete der Medizin umfassenden systematischen Lehrbuchs auch schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert ausgebildet war, wenngleich ich nicht in Abrede stellen möchte, daß in der Folgezeit der Umfang und die Gesamtkonzeption der einzelnen Kompendien natürlich auch von dem jeweiligen Autor abhingen.
1. DIE ST ELLUNG DER KNIDISCHEN HEILKUNDE IN DER W ISSENSCHAF T LICHEN MEDIZIN DER GRIECHEN*
Wenn wir uns mit der Stellung der knidischen Heilkunde in der wissenschaftlichen Medizin der Griechen beschäftigen wollen, müssen wir uns zunächst fragen, was wir von dem Wesen und den Besonderheiten dieser Medizin wissen, und damit berühren wir eins der schwierigsten Probleme der Hippokratesforschung überhaupt. Denn auch die nunmehr von H. Grensemann erstmalig publizierte Sammlung der Testimonien und Fragmente der knidischen Schule1 hat leider nur bestätigt, was schon vorher bekannt war, nämlich, daß die antiken Nachrichten zur knidischen Medizin so spärlich sind, daß sie für die Rekonstruktion der medizinischen Lehren der Knidier keine gesicherte Grundlage bieten. Auf diese Weise sehen wir uns mit einem kaum lösbaren Dilemma konfrontiert: unsere Kenntnis von der knidischen Medizin können wir nur mit Hilfe desjenigen knidischen Lehrguts erweitern, das nach der einhelligen Meinung der Hippokratesforschung im CH enthalten sein muß; um dieses Lehrgut aber als solches erkennen und herausschälen zu können, müßten wir erst einmal wissen, was das Wesen dieser Medizin ausmachte, und dafür sind wir wiederum auf das CH angewiesen2. Mit anderen Worten, sobald wir uns mit dem Thema | knidische Medizin befassen, drehen wir uns im Kreise, weil für die Beantwortung der einen Frage die gesicherte Antwort auf die andere die Voraussetzung darstellt. Die Unsicherheit beginnt bereits bei der Zuordnung bestimmter Schriften oder Schriftengruppen aus der hippokratischen Sammlung an die knidische Schule. Das beweist zur Genüge die Tatsache, daß es in dieser Frage ebenso viele verschiedene Meinungen gibt, wie Stimmen dazu laut geworden sind, seit mit den Hippokratesherausgebern Littré und Ermerins im vergangenen Jahrhundert die moderne Forschung zu diesem Gegenstand begonnen hat3. Gesicherte Anhaltspunkte für die Kennzeichnung hippokratischer Schriften als knidisch bildeten vor allem der Begriff der Polyschidie, d.h. die Unterscheidung mehrerer Arten einer Krankheit, die von dem Verfasser von * Erschienen in: Corpus Hippocraticum. Actes du Colloque hippocratique de Mons (22–26 septembre 1975), hrsg. v. R. Joly, Mons 1977 (Editions Universitaires de Mons, Série Sciences Humaines 4), S. 106–122. 1
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Siehe H. Grensemann, Knidische Medizin. Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum, in: Ars Medica II 4,1, Berlin u. New York 1975, S. 1–45. Vgl. I. M. Lonie, The Cnidian treatises of the Corpus Hippocraticum, The Classical Quarterly, N.S. 15, 1965, S. 1. Einen Überblick über die wichtigste Literatur zu diesem Gegenstand gibt H. Grensemann, a.a.O., S. 72–79.
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Acut.4 wie auch von Galen5 als Besonderheit der knidischen Schule bezeugt wird, sowie die ebenfalls vom Verfasser von Acut.6 als typisch knidisch bezeichnete häufige Anwendung von Abführmitteln und Milch und Molke je nach der Jahreszeit in der Therapie. Sowohl die für die knidische Schule charakteristische Art der Krankheitsdarstellung als auch die genannten Therapieverordnungen lassen sich in den nosologischen und gynäkologischen Schriften des CH nachweisen, so daß der knidische Ursprung für alle diese Texte in den Bereich des Möglichen rückte. Daß nun die Zahl der Schriften aus diesen beiden Komplexen, die von den einzelnen Gelehrten als knidisch bezeichnet worden sind, von Fall zu Fall schwankt, hat seinen Grund darin, daß sie neben den beiden genannten, sie miteinander verbindenden Kennzeichen der knidischen Medizin auch deutliche Unterschiede aufweisen, so z.B. hinsichtlich der Einbeziehung der Ätiologie in die Krankheitsbeschreibung, in den auf der Säftelehre beruhenden ätiologischen Theorien oder in der Berücksichtigung der Umweltfaktoren, so daß sie keine definitive Entscheidung im Hinblick auf die Schulzugehörigkeit des jeweiligen Verfassers zulassen. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß diese Schriften, solange ihre knidische Herkunft nicht bewiesen werden kann, | auch nicht als gesichertes Quellenmaterial für die Rekonstruktion der medizinischen Lehren der Knidier benutzt werden können. Ein weiteres Kriterium für die knidische Herkunft der genannten Texte glaubte man in ihrer Abhängigkeit von den Knidischen Sentenzen, der ältesten uns dem Titel nach bekannten Krankheitsschrift der Knidier, gefunden zu haben, wobei die Inanspruchnahme des Euryphon von Knidos als Verfasser der Sentenzen eine wesentliche Rolle spielte. Äußerungen dieser Art begegnen meines Wissens zum erstenmal bei Littré7. Sie wurden später von J. Ilberg und J. Jurk aufgegriffen und dahingehend präzisiert, daß die Knidischen Sentenzen den Nachfolgeschriften auch als Strukturmodell gedient hätten, so daß es möglich sei, deren knidische Herkunft an Hand eines bestimmten Aufbauschemas zu bestimmen8. Diese Beobachtungen wurden in jüngster Zeit von I. M. Lonie, J. Jouanna und H. Grensemann zum entscheidenden Ausgangspunkt eingehender Untersuchungen zur knidischen Ärzteschule gemacht, in denen die von J. Jurk angeregte Scheidung verschiedener in den nosologischen und gynäkologischen Texten des CH angeblich noch greifbarer Schichten bzw. Überarbeitungsstufen der Knidischen Sentenzen von ausschlaggebender Bedeutung ist9. Es würde jedoch den Rahmen unseres Vortrages sprengen, wollten wir uns mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen im einzelnen auseinandersetzen. Was uns im Folgenden beschäftigen 4 5
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Hipp., Acut. 3 (1): I, 110,7f. Kw. = II, 226,11–228,1 Littré (= Test. 10,20–22 Grensemann). Gal., In Hipp. De vict. acut comm. I 7: CMG V 9,1 (hrsg. von G. Helmreich, Leipzig u. Berlin 1914), S. 121,21–122,3 (= Test. 12b Grensemann). Hipp., Acut. 2 (1): I, 109,15–17 Kw. = II, 226,3–5 Littré (= Test. 10,13f. Grensemann). Siehe E. Littré, Œuvres complètes d’Hippocrate, Bd. I, Paris 1839, S. 363 und Bd. VII, Paris 1851, S. 304–306. Siehe J. Ilberg, Die medizinische Schrift „Über die Siebenzahl“ und die Schule von Knidos, in: Griechische Studien. Hermann Lipsius zum 60. Geburtstag dargebracht, Leipzig 1894, S. 35–38; dens., Die Ärzteschule von Knidos, Berichte über die Verhandl. d. Sächs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 76, 1924, H. 3, Leipzig 1925, S. 3–9; J. Jurk, Ramenta Hippocratea, Phil. Diss. Berlin 1900, S. 12–42. Siehe I. M. Lonie, a.a.O., S. 2–6; J. Jouanna, Hippocrate. Pour une archéologie de l’école de Cnide, Paris 1974, S. 16–24; H. Grensemann, a.a.O., S. 53–66.
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soll, ist vielmehr die meines Erachtens berechtigte Frage, wie es geschehen konnte, daß angesichts der Tatsache, daß uns lediglich zwei kurze Bruchstücke aus den Knidischen Sentenzen erhalten geblieben sind10, Littrés Hinweis auf diese Schrift von den nachfolgenden Forschergenerationen ohne jeden Vorbehalt übernommen und in der von mir angedeuteten Weise weiter ausgebaut wurde. | Zeigt sich doch dem unvoreingenommenen Betrachter sehr bald, daß es für die Rekonstruktion der Knidischen Sentenzen, die unerläßlich ist, wenn sie den Maßstab dafür abgeben sollen, was ursprünglich knidisch ist, keine sicheren Anhaltspunkte gibt11. Beginnen wir mit der Person des Euryphon. Für ihn wird in der Hippokratesforschung seit Littré unter Hinweis auf eine Bemerkung in Galens Epidemienkommentar12 allgemein in Anspruch genommen, daß er der Verfasser der Knidischen Sentenzen sei, und daraus stillschweigend das Recht zu der Annahme abgeleitet, allen direkten und indirekten Bezugnahmen auf Ausführungen des Euryphon nicht nur bei Galen, sondern z.B. auch bei Soran lägen diese ihm zugesprochenen Knidischen Sentenzen zugrunde. Diese Gleichsetzung der mit dem Namen des Euryphon verbundenen Ausführungen mit den Knidischen Sentenzen erweist sich jedoch als ungerechtfertigt, wenn man die genannte Stelle aus Galens Epidemienkommentar einer genaueren Prüfung unterzieht, wie dies bereits W. D. Smith13 gezeigt hat. Denn Galen distanziert sich mit der Formulierung ἀναφέρουσι14 nicht nur eindeutig von denen, welche die Knidischen Sentenzen auf Euryphon zurückführen, sondern er gibt auch mit der Wendung ἐοίκασι γοῦν οὗτοι … καλεῖν15, mit der er das Zitat aus den Knidischen Sentenzen wieder aufnimmt, unmißverständlich zu verstehen, daß er mehrere anonyme Verfasser für dieses Werk annimmt, wie es uns von dem Autor von Acut.16 überliefert ist. Damit dürfte aber eindeutig bewiesen sein, daß wir den Inhalt von Galens Aussagen falsch deuten, wenn wir, wie es bisher geschehen ist, sein Euryphonzitat eigenmächtig zu einem Zitat aus den Knidischen Sentenzen machen. In gleicher Weise unzulässig ist auch die Identifizierung der Äußerungen des Euryphon mit den Knidischen Sen|tenzen in bezug auf Soran, die H. Grensemann vorgenommen hat17, und zwar um so mehr, als Soran überhaupt nur Euryphon erwähnt, nicht aber die Sentenzen, so daß eine solche Gleichsetzung in dem Soranischen Werk selbst nicht den geringsten Anhaltspunkt findet, sondern nur unter Berufung auf den angebli-
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Siehe Gal., In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2 (hrsg. von E. Wenkebach und F. Pfaff, 2. Aufl., Berlin 1956), S. 54,1–4 (= Test. 13,4–7 Grensemann), und Rufus, De corp. hum. part. appellat. 190, hrsg. von Ch. Daremberg und E. Ruelle, Paris 1879, S. 159,13–160,2 (= Test. 14,5–8 Grensemann). Zum Folgenden vgl. auch meine Ausführungen in der Rezension zu H. Grensemann, Knidische Medizin. Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum, in: Ars Medica II 4,1, Berlin u. New York 1975, in: DLZ 97, 1976, Sp. 408–412 (= unten, S. 305–309). Gal., In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 54,2f. (= Test. 13,4f. Grensemann). Siehe W. D. Smith, Galen on Coans versus Cnidians, Bulletin of the History of Medicine 47, 1973, S. 574 und 577. Gal., In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 54,3 (= Test. 13,5 Grensemann). Gal., ebd., Z. 5 (= Test. 13,7 Grensemann). Hipp., Acut. 1: I, 109,2 Kw. = II, 224,1 Littré ( = Test. 10,3 Grensemann). Siehe H. Grensemann, a.a.O., S. 56–63.
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chen Tatbestand bei Galen erschlossen werden konnte, der jedoch, wie wir hörten, auch seinerseits jeder realen Grundlage entbehrt. Aus der Tatsache, daß die postulierte Identität der Ausführungen des Euryphon mit den Knidischen Sentenzen eine nicht zu beweisende Behauptung darstellt, ergibt sich zwangsläufig, daß auch die weitergehenden Schlußfolgerungen, die für die Wiedergewinnung der Knidischen Sentenzen daraus gezogen wurden, rein hypothetisch sind. Das gilt gleichermaßen für die ebenfalls auf Littré zurückgehende und allgemein übernommene Hypothese, daß wir im 68. Kapitel der Schrift Morb. II – und nach H. Grensemann auch in Mul. II 144 (= Nat. Mul. 5) – jeweils ein Textstück aus den Knidischen Sentenzen vor uns haben18, wie für die von J. Ilberg inaugurierten Versuche, ein ursprüngliches Schema einer einzelnen knidischen Sentenz zu rekonstruieren. Wenden wir uns zunächst den beiden von Galen19 und Soran20 überlieferten Paralleltexten zu, die der Verifizierung von Morb. II 68 und Mul. II 144 (= Nat. Mul. 5) als Bestandteilen aus den Knidischen Sentenzen zugrunde gelegt wurden. Erstens werden sie von den beiden antiken Autoren nicht als Zitate aus den Knidischen Sentenzen gekennzeichnet, sondern sind jeweils mit dem Namen des Euryphon verbunden, und zweitens liegt bei keinem von ihnen eine Übereinstimmung mit dem entsprechenden Hippokratestext im Sinne einer sprachlichen Identität vor, die allein ein stichhaltiges Argument für den Nachweis der Identität zweier Texte darstellte. Im Falle des Sorantextes sind die Dinge insofern einfach, als der Ephesier die Ausführungen des Euryphon ohnehin nicht wörtlich | zitiert, sondern nur indirekt auf sie Bezug nimmt, so daß man hier lediglich von einer sachlichen Übereinstimmung mit Mul. II 144 (= Nat. Mul. 5) sprechen kann, die jedoch nicht ausreicht, um zwei Texte als identisch zu erweisen. Galen dagegen führt den Text des Euryphon im Wortlaut an, so daß ein direkter Vergleich mit dem Hippokratestext möglich ist. Man wird zugeben müssen, daß diese beiden Textstücke weitgehend übereinstimmen. Es läßt sich aber andererseits nicht leugnen, daß sie auch, wie man sich leicht überzeugen kann, eine Reihe von sprachlichen Abweichungen aufweisen. Im Interesse eines Nachweises der Identität der beiden Texte glaubte man diese Abweichungen als überlieferungsbedingt abtun zu dürfen21. Dem steht jedoch entgegen, daß Galen22 eben diese beiden Textstücke, die jeweils eine Beschreibung der beim bläulichen Fieber auftretenden Symptome enthalten, nebeneinander als zwei in ihrer sachlichen Aussage zwar übereinstimmende, aber in ihrer Herkunft voneinander unabhängige Textzeugnisse als Belege für die Richtigkeit seiner eigenen Ansichten zitiert23. Das beweist eindeutig die Formulierung „Aber auch in der dem Hippokrates zugeschriebenen Schrift Über die Krankheiten … wird eine bläuliche Krankheit genannt“, mit der er das Hippokrateszitat an den Euryphon18
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Außer den oben Anm. 8 und 9 zitierten Belegen s. auch L. Bourgey, Observation et expérience chez les médecins de la Collection hippocratique, Paris 1953, S. 50f. und 150 Anm. 4. Siehe Gal., In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 55,10–16 (= Test. 15,4–10 Grensemann). Siehe Sor., Gyn. IV 36,7: CMG IV (hrsg. von J. Ilberg, Leipzig u. Berlin 1927), S. 149,9–15 (= Test. 31,7–13 Grensemann). So J. Jouanna, Hippocrate, S. 21f., und H. Grensemann, a.a.O., S. 55. Siehe Gal., In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 55,10–56,8 (= Test. 15 Grensemann). Gegen eine Identifizierung dieser beiden Texte hat sich schon R. Fuchs, Hippokrates, Sämmtliche Werke, Bd. 2, München 1897, S. 456 Anm. 91, ausgesprochen. Vgl. auch W. D. Smith, a.a.O., S. 577f.
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text anschließt. Hätte Galen diese Texte für identisch gehalten, hätte er sich mit einem kurzen Hinweis darauf begnügen können, daß der Text des Euryphon auch bei Hippokrates nachzulesen ist. Da er sie aber ausdrücklich als zwei verschiedene, von zwei verschiedenen, namentlich genannten Verfassern stammende Texte kennzeichnet, kann mit Galens Hilfe schwerlich ihre Identität bewiesen und schon gar nicht glaubhaft gemacht werden, daß wir in beiden Texten ein und dasselbe originale Textstück aus den Knidischen Sentenzen vor uns haben. Für die oben (S. 110 = S. 51) bereits erwähnte formale und inhaltliche Rekonstruktion einer einzelnen knidischen Sentenz, die das Modell für die Erschließung knidischer Texte abgeben sollte, bildeten die Gleichsetzung der Ausführungen des Euryphon mit den Knidischen Sentenzen einerseits und die Identifizierung des schon genannten Euryphonzitats zur Symptom|beschreibung des bläulichen Fiebers aus Galens Epidemienkommentar, verstanden als Textstück aus den Knidischen Sentenzen, mit der entsprechenden Passage in Morb. II 68 andererseits den Ausgangspunkt24. Es war dann nur noch ein kleiner Schritt, für das gesamte Kap. 68 einschließlich der Therapieanweisung und der kurzen Notiz über den Ausgang der Krankheit die Herkunft aus den Knidischen Sentenzen anzunehmen und unter Berufung auf die Kritik, die der Autor von Acut. an den Verfassern der Knidischen Sentenzen übt, zu behaupten, das Kapitel als Ganzes stelle eine Sentenz dar und jeder Sentenz habe ein festes Aufbauschema, nämlich Symptombeschreibung, Therapie und Prognose, wie es in Morb. II 68 gegeben ist, zugrunde gelegen. Mit diesem Modell glaubte man nun endlich den Weg gefunden zu haben, der mit Sicherheit aus dem mit der knidischen Schule verbundenen Dilemma herausführte. Denn so schien sich die Möglichkeit zu bieten, den Nachweis für die knidische Herkunft hippokratischer Schriften allein auf Grund formaler Kriterien zu führen, woraus dann die Berechtigung abzuleiten wäre, auch die in diesen Texten vertretenen Lehren als knidisch anzusehen. Es wird jedoch zu zeigen sein, daß die Forschung auch hier einer Selbsttäuschung erlegen ist. Erstens sei im Ergebnis unserer voraufgegangenen Darlegungen noch einmal festgestellt, daß weder das Euryphonzitat bei Galen noch die Anspielung auf Ausführungen des Euryphon bei Soran, der H. Grensemann zusätzliches Material für die Rekonstruktion einer knidischen Sentenz entnehmen zu können glaubte25, als Textstücke aus den Knidischen Sentenzen deklariert werden und mithin auch nicht dazu dienen können, die Zahl der aus dieser Schrift erhaltenen Bruchstücke zu vergrößern26, um auf diese Weise weitere „objektive“ Anhaltspunkte für die Rekonstruktion einer knidischen Sentenz zu schaffen. Zweitens muß darauf hingewiesen werden, daß | die beiden ausdrücklich als Zitate aus den Knidischen Sentenzen überlieferten Fragmente 24
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Siehe J. Ilberg, Die medizinische Schrift, S. 35; dens., Die Ärzteschule von Knidos, S. 4; J. Jurk, a.a.O., S. 12; I. M. Lonie, a.a.O., S. 2; J. Jouanna, Hippocrate, S. 17–22 und 135; H. Grensemann, a.a.O., S. 53–56, der sich (S. 56–63) außerdem noch auf die vermeintliche Identität der oben S. 110f. (= S. 51) genannten indirekten Bezugnahme des Soran auf Euryphon mit Mul. II 144 (= Nat. Mul. 5) stützt. Siehe H. Grensemann, a.a.O., S. 56–63. Daß die Tendenz vorhanden ist, die Zahl dieser Fragmente von zwei (s. oben Anm. 10) zumindest auf drei zu erweitern, beweist die Tatsache, daß J. Jouanna, S. 129, bereits ohne jede Einschränkung konstatiert, daß wir drei Fragmente aus den Knidischen Sentenzen besitzen. Vgl. auch H. Grensemann, a.a.O., S. 54, wo das Euryphonzitat als das „größte Fragment“ bezeichnet wird, das von den Knidischen Sentenzen erhalten ist.
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jeweils nur eine Symptombeschreibung enthalten und somit keine Schlüsse darauf zulassen, daß jede einzelne Sentenz einem, wie auch immer gearteten, festen Schema mit mehreren Komplexen gefolgt sein muß. Drittens konnte gezeigt werden, daß die postulierte Übereinstimmung zwischen dem Euryphonzitat aus dem Epidemienkommentar und dem Paralleltext aus Morb. II im Sinne einer sprachlichen Identität der antiken Überlieferung widerspricht, so daß sich die unter Ausschaltung des Euryphon erfolgte Verifizierung der Beschreibung der Symptome des bläulichen Fiebers in Morb. II 68 als eines Textstückes aus den Knidischen Sentenzen als illusorisch erweist und damit erst recht die Annahme, daß das Kapitel 68 als Ganzes in seiner jetzigen Form in den Knidischen Sentenzen gestanden habe und eine einzelne Sentenz repräsentiere. Und viertens schließlich können auch der Erwähnung der Knidischen Sentenzen am Anfang von Acut. bei nüchterner Betrachtung keine konkreten Hinweise auf ein bestimmtes Schema einer Sentenz entnommen werden. Die kritischen Bemerkungen des Verfassers dieser Abhandlung zu Symptombeschreibung, Krankheitsverlauf und Therapie in den Knidischen Sentenzen27 betreffen die Schrift als Ganzes, aus ihnen kann nicht im geringsten herausgelesen werden, daß der hippokratische Autor diese drei Komplexe jeweils in einer Sentenz vorgefunden hätte, und man kann es meines Erachtens auch gar nicht erwarten, wenn man, wie es angezeigt erscheint, einmal davon ausgeht, daß eine Schrift, die den Titel Γνῶμαι trägt und doch wohl auf Grund ihrer besonderen literarischen Form so benannt worden ist, aus mehr oder weniger umfangreichen einzelnen Sätzen bzw. Aussprüchen bestanden haben dürfte28, wie wir dies von den Aphorismen, dem 1. Buch der Vorhersagen oder den Koischen Prognosen her kennen. Für diese Form der Dar|stellung spricht schon die Tatsache, daß die Knidischen Sentenzen am Anfang der medizinischen Schriftstellerei stehen, wo es zunächst einfach darum ging, einzelne Beobachtungen und Erfahrungen festzuhalten und mitzuteilen, die man im Umgang mit Krankheiten und ihrer Behandlung gemacht hatte. Das schließt freilich nicht aus, daß dabei auch formale Gesichtspunkte berücksichtigt wurden, daß sich die Verfasser z.B. darum bemühten, die Krankheitsbeschreibungen in der Reihenfolge a capite ad calcem anzuordnen oder Krankheiten, die denselben Namen trugen, fortlaufend hintereiander aufzuführen. In ähnlicher Weise könnten sie auch bei der, wie ich glauben möchte, gesonderten Darstellung der Therapieanweisungen ein bestimmtes Anordnungsprinzip, nämlich die Abfolge medikamentöse Verordnungen – diätetische Maßnahmen, befolgt haben29.
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Siehe Hipp., Acut. 1–3 (1): I, 109,2–110,3 Kw. = II, 224,1–226,8 Littré (= Test. 10,3–17 Grensemann). Vgl. F. Kudlien, Der Beginn des medizinischen Denkens bei den Griechen von Homer bis Hippokrates, Zürich u. Stuttgart 1967, S. 148; W. H. S. Jones, Hippocrates, hrsg. u. übers., Bd. II, London u. Cambridge, Mass. 1952, S. XXVf. (Loeb Classical Library). H. Grensemanns Hinweis (a.a.O., S. 56 Anm. 11), daß der Titel Γνῶμαι aus einem einleitenden Satz wie περὶ νούσων τάδε γινώσκομεν abgeleitet worden sei, erscheint mir indiskutabel, da Grensemann als Begründung hierfür lediglich seine subjektive Meinung beibringen kann, daß die Knidischen Sentenzen formal etwa dem Textstück Morb. II 12–75 entsprochen hätten. Vgl. J. Jouanna, Hippocrate, S. 455–457, der jedoch S. 460 unter Berufung auf die Ausführungen in Acut. 2 (1) die Ansicht vertritt, daß die Therapieanweisungen in den Knidischen Sentenzen von den Symptombeschreibungen nicht getrennt gewesen sein können. Ich kann diesen Sachverhalt aus den Bemerkungen des Verfassers von Acut. nicht herauslesen.
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Eine solche lose aneinanderreihende Darstellungsform in den Knidischen Sentenzen schlösse auch nicht aus, daß diese Schrift den Grundstock für alle späteren nosologischen Texte gebildet hat. Im Gegenteil, gerade unter dieser Voraussetzung ließe sich noch am leichtesten erklären, warum alle diese Schriften des CH zwar einerseits in der Symptombeschreibung und in den Angaben über den Krankheitsverlauf eine auffallende Übereinstimmung zeigen, die bis zu partiellen wörtlichen Entsprechungen gehen kann, warum aber andererseits jede einzelne von ihnen in der Anlage, im Aufbau und in der Sprache die eigene Handschrift des jeweiligen Verfassers deutlich erkennen läßt. Was die einzelnen Autoren ihrer gemeinsamen Quelle, d.h. den Knidischen Sentenzen, mit Sicherheit verdanken, ist das Material: Symptombeschreibungen mit gelegentlichen Hinweisen auf den Verlauf einer Krankheit und Therapieanweisungen. Davon, daß die einzelnen Sentenzen in dieser Schrift nach einem bestimmten Schema aufgebaut waren, mit dem die Anzahl der einzelnen Komplexe und ihre Reihenfolge vorgegeben waren, und die Schrift infolgedessen auch als Strukturmodell gedient hätte, kann meines Erachtens jedoch keine Rede sein, zumindest läßt sich diese These nicht beweisen. Das zeigen bereits die unterschiedlichen Angaben zu dem Aufbauschema in der modernen Literatur: nach Jouanna30 bestand es | aus Titel – Symptombeschreibung – Therapie – Prognose, nach Ilberg31, Jurk32 und Grensemann33 aus Symptombeschreibung – Prognose – Therapie, während Lonie34 Symptombeschreibung, Ätiologie und Therapie als Bestandteile der Knidischen Sentenzen nennt. Durch die Knidischen Sentenzen kann aber allein die Abfolge Symptomatik/Therapie inauguriert gewesen sein, da nur diese beiden Komplexe in allen in Frage kommenden Schriften mit Ausnahme von dem Fragment Morb. II 1–11, in dem in seiner jetzigen Gestalt die Therapie ganz fehlt, regelmäßig und in derselben Reihenfolge wiederkehren. Bei nur zwei Gliedern wird man aber kaum von einem „Schema“ sprechen können, und schon gar nicht von einem Schema, an dem die Besonderheit einer bestimmten Schule zu fassen wäre. Die Reihenfolge Symptomatik/Therapie findet sich ebenso auch in den chirurgischen Schriften des CH, was weiter nicht verwunderlich ist, da sie durch die Sache selbst gegeben war. Die Komplexe Prognose und Ätiologie dagegen haben erstens sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht in unterschiedlichem Maße Eingang in die nosologischen Texte gefunden, und zweitens variiert ihre Stellung innerhalb einer Krankheitsdarstellung nicht nur von Schrift zu Schrift, sondern auch innerhalb ein und desselben Textes, so daß man zwar annehmen kann, daß bereits in den Knidischen Sentenzen Angaben zu Prognose und Ätiologie 30 31
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Siehe J. Jouanna, Hippocrate, S. 87. Siehe J. Ilberg, Die Ärzteschule von Knidos, S. 4. In seiner früheren Arbeit (Die medizinische Schrift, S. 35) heißt es dagegen noch wesentlich vorsichtiger, daß die Aufzählung der Symptome und die Therapie die festen Bestandteile des Schemas bilden, ,,an den Schluß gesetzt oder eingeschoben ist oft die Prognose“. Siehe J. Jurk, a.a.O., S. 43, der jedoch für die Prognose angibt, daß sie sowohl vor als auch nach der Therapie ihren Platz haben kann. Siehe H. Grensemann, a.a.O., S. 54. Eine gewisse Unsicherheit bei Grensemann selbst kommt darin zum Ausdruck, daß er S. 56 im Hinblick auf Morb. II 68 die Reihenfolge Symptombeschreibung – Therapie – Prognose erwähnt und S. 135 sogar „die Einteilung in einen symptomatischen und therapeutischen Teil“ als den „einheitlichen Plan“ bezeichnet, nach dem die Knidischen Sentenzen aufgebaut waren. Siehe I. M. Lonie, a.a.O., S. 9.
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der Krankheiten gemacht worden sind, aber für eine eindeutige Aussage, an welcher Stelle und in welchem Ausmaß dies geschah, keinerlei Anhaltspunkte gegeben sind. Es bleibt noch der von J. Jouanna als Strukturelement einer Sentenz in Anspruch genommene Titel, der, wie Jouanna schreibt, entweder aus dem Namen der Krankheit oder der Wiederaufnahme des Namens durch ἑτέρη | νοῦσος bzw. ἄλλη νοῦσος besteht und mit einem durch ἤν eingeleiteten Konditionalsatz abwechseln kann, mit dem der für die jeweilige Krankheit charakteristische Sachverhalt kurz umschrieben wird35. Es dürfte jedoch einleuchten, daß ein Konditionalsatz schon allein aus grammatikalischen Erwägungen heraus keine selbständige Struktureinheit bilden kann, sondern eng mit der Symptombeschreibung im folgenden Hauptsatz verbunden ist, so daß die gewaltsame Isolierung der ἤν-Sätze und ihre strukturelle Gleichsetzung mit den Krankheitsnamen von vornherein fragwürdig erscheint, selbst wenn es zutrifft, daß diesen beiden Größen im Hinblick auf die folgende Symptombeschreibung dieselbe Funktion zukommt, nämlich die Bedingungen zu nennen, die zu den jeweils beschriebenen Symptomen führen. Als gravierendster Einwand gegen die Annahme, man könne aus den erhaltenen nosologischen Texten erschließen, daß der ἤν-Satz alternierend mit dem Krankheitsnamen eine selbständige Größe in der Struktur der Knidischen Sentenzen gebildet habe, erweist sich jedoch die Tatsache, daß in Morb. IIA an zwei Stellen, soweit sich das an den von J. Jouanna erstmals mit zuverlässigen textkritischen Angaben edierten Textstücken aus dieser Schrift feststellen läßt, vor dem durch ἤν bzw. ὅταν eingeleiteten Satz zusätzlich der Name der Krankheit (Kap. 44; περὶ πλευρίτιδος θ: πλευρῖτις M) bzw. seine Wiederaufnahme durch ἑτέρη νοῦσος (Kap. 17) überliefert ist36. Denn daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der mit ἤν bzw. ὅταν eingeleitete Satz nicht mit dem Krankheitsnamen gleichgesetzt werden kann, sondern zu der folgenden Symptombeschreibung gehört. Das heißt, als selbständiges Strukturelement bleibt allein der Krankheitsname übrig, der aber nur dort verwendet wurde, wo man zufällig über einen solchen verfügte, in allen anderen Fällen fehlte dieser Teil der Darstellung, so daß der Titel ebensowenig wie Prognose und Ätiologie als feste Größe für ein Schema der Knidischen Sentenzen in Anspruch genommen werden kann. Um diesen der angestrebten Konstruktion der Knidischen Sentenzen abträglichen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen, hat J. Jouanna die beiden zusätzlichen Titelangaben in seiner Edition der genannten Kapitel aus Morb. IIA37 gegen die Überlieferung, repräsentiert durch die beiden | unabhängigen Textzeugen θ und M, im Text gänzlich fortgelassen und sie im kritischen Apparat als Zufügung der handschriftlichen Tradition gekennzeichnet. Abgesehen davon, daß ein solches Vorgehen einen Verstoß gegen Grundregeln der Textkritik bedeutet38, wird auf diese Weise eine Uniformität der Texte erzielt, 35 36 37 38
Siehe J. Jouanna, Hippocrate, S. 83 und 85. Zur Vermischung der beiden Kapitelanfänge vgl. auch H. Grensemann, a.a.O., S. 181f. Siehe J. Jouanna, Hippocrate, S. 46 und 416. Die Tendenz, durch eigenmächtige Eingriffe in den überlieferten Text Unstimmigkeiten zu beseitigen, die nicht recht zu dem postulierten sprachlich und strukturell fixierten Schema der Knidischen Sentenzen passen wollen, läßt sich auch sonst in der Textgestaltung der von Jouanna vorgelegten Textpartien beobachten: So wird S. 46 zu Beginn von Morb. IIA 17 der sachlich und sprachlich korrekte Text ἢν ὑπεραιμήσαντα τὰ φλέβια τὰ ἔναιμα τὰ περὶ τὸν ἐγκέφαλον θερμήνῃ τὸν ἐγκέφαλον unter Hinweis darauf zu ἢν ὑπεραιμήσῃ τὰ φλέβια τὰ ἔναιμα τὰ περὶ τὸν ἐγκέφαλον verändert, daß einmal die überlieferte längere Form des ἤν-Satzes sonst keine Parallele
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die zwar Jouannas Vorstellungen von den Knidischen Sentenzen als einer Schrift, deren literarische Form in struktureller wie in sprachlich-stilistischer Hinsicht fixiert war („cette prose à forme fixe“39), entgegenkommt, den tatsächlichen Gegebenheiten aber nicht gerecht wird. Denn selbst in den Schriften Morb. IIA und Morb. IIB, in denen der stereotype Kapitelbeginn mit dem Krankheitsnamen oder mit einem ἤνSatz, wie ihn J. Jouanna für die Knidischen Sentenzen erschließen zu können glaubte, in seiner stärksten Ausprägung erscheint, sind die Abweichungen von dieser Norm zahlreicher, als dies aus den Ausführungen von J. Jouanna hervorgeht. So beginnen die parallelen Kapitel Morb. IIA 24 und Morb. IIB 7 übereinstimmend mit ὅταν anstelle von ἤν40. Der Kapitelanfang πλευρῖτις ὅταν λάβῃ von Morb. IIA 44 hat seine Parallele nicht nur in der Formulierung τεταρταῖος πυρετὸς ὅταν ἔχῃ des vorangehenden Kapitels der gleichen Schrift, sondern ebenso auch in Aff., z.B. im 10. und 11. Kapitel, wo es heißt φρενῖτις ὅταν λάβῃ bzw. καῦσος δὲ ὅταν ἔχῃ. Eine weitere Variante bieten die Kapitel 9–11 aus der Schrift Morb. IIB, die jeweils mit einem Hauptsatz beginnen, in dem der Krankheitsname das | Subjekt bildet (z.B. κυνάγχη δὲ γίνεται im 9. Kapitel). Die gleiche Konstruktion findet sich auch in einer großen Anzahl von Kapiteln in Morb. I, Morb. III und Aff. Int. Geht man nun davon aus, daß die Verwendung gleicher sprachlicher Wendungen in zwei oder mehreren Texten darauf hindeutet, daß diese Formulierungen in der gemeinsamen Vorlage gestanden haben, so wird man einerseits schwerlich in Abrede stellen können, daß auch alle von mir genannten abweichenden Kapitelanfänge bereits in den Knidischen Sentenzen vorgegeben gewesen sein müssen, andererseits wird man aber zugeben müssen, daß infolge der unterschiedlichen Häufigkeit ihrer Verwendung in den verschiedenen nosologischen Texten keine definitiven Angaben über den Grad ihres Vorkommens in den Knidischen Sentenzen gemacht und infolgedessen auch keine Prioritäten gesetzt werden können. Ähnliches trifft auch für die sprachlichen Wendungen zu, die den therapeutischen Teil der Krankheitsdarstellungen einleiten. Trotz des stereotypen Gebrauchs eines bestimmten Ausdrucks in einzelnen Schriften gibt es auch hier wiederum von der Regel abweichende Formulierungen, die sogar noch stärker variieren als bei den Kapitelanfängen, und zwar sowohl innerhalb ein und desselben Textes als auch von Schrift zu Schrift41. Denn selbst wenn z.B. in Morb. IIA und Aff. Int. der Unterschied nur darin besteht, daß die am häufigsten gebrauchte Floskel in Morb. IIA ὅταν οὕτως ἔχῃ heißt, während der Verfasser von Aff. Int. mit der gleichen Regelmäßigkeit οὗτος ὅταν οὕτως (ὧδε) ἔχῃ schreibt, so drückt sich doch gerade in der Häufigkeit, mit der
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in Morb. IIA findet und zum anderen die Bemerkung von der Erwärmung des Gehirns in dem entsprechenden Kapitel von Morb. IIB fehlt (s. den Kommentar, S. 541f.). Ähnlich liegen die Dinge S. 192, wo in Morb. IIA 55, Z. 4f. die Bemerkung ἔστι δὲ οὐχ αἱματῶδες mit der Begründung aus dem Text ausgeklammert wird, daß sie erstens keine Entsprechung in dem Paralleltext Aff. Int. 6 hat und zweitens nicht, wie in den Symptombeschreibungen üblich, mit einem καί an die voraufgehende Feststellung anknüpft (s. den Kommentar, S. 585). J. Jouanna, Le schéma d’exposition des maladies et ses déformations dans les traités dérivés des Sentences Cnidiennes, in: La Collection hippocratique et son rôle dans l’histoire de la médecine (Université des Sciences Humaines de Strasbourg, Travaux du Centre de Recherche sur le ProcheOrient et la Grèce Antiques 2), Leiden 1975, S. 140. Vgl. J. Jouanna, Hippocrate, S. 83f. Anm. 1 und 85 Anm. 2. Vgl. dazu J. Jouanna, Hippocrate, S. 223f.
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diese sprachlichen Wendungen in jeweils einer Schrift gebraucht werden, der unterschiedliche Sprachgebrauch der beiden Autoren aus42. Da aber andererseits die Formulierung οὗτος ὅταν οὕτως ἔχῃ vereinzelt auch in Morb. IIA vorkommt, müssen neben anderen auch diese beiden Varianten in den Knidischen Sentenzen vertreten gewesen sein, was in letzter Konsequenz bedeuten würde, daß die Sprache dieses Werkes erstaunlich variabel | war, während die floskelhaft erstarrte Ausdrucksweise, soweit man von einer solchen überhaupt sprechen kann, erst durch die Verfasser der Nachfolgeschriften entstanden ist, indem sich der eine für diese und der andere für jene Formulierung entschied und sie dann je nach Geschmack und stilistischem Empfinden mehr oder weniger stereotyp verwendete. Wir sind weit davon entfernt, bestreiten zu wollen, daß eine eingehende formale und sprachlich-stilistische Analyse der nosologischen und gynäkologischen Texte des CH, wie sie von H. Grensemann und J. Jouanna vorgenommen wurde, wichtig und notwendig ist, weil sie, aber auch nur sie, dazu beitragen kann, innerhalb einer Schrift verschiedene Entwicklungsstufen repräsentierende Schichten voneinander abzugrenzen43 und damit nicht nur innere Widersprüche in diesen Texten zu lösen, sondern auch ihr Verhältnis zueinander näher zu bestimmen. Dennoch glauben wir deutlich gemacht zu haben, daß die antike Überlieferung entgegen der allgemeinen Auffassung keine gesicherten äußeren Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Knidischen Sentenzen bietet und daß infolgedessen auch keine Möglichkeit besteht, mit ihrer Hilfe festzustellen, daß bestimmte Schriften den Knidischen Sentenzen formal und inhaltlich besonders nahestehen, und daraus ihren knidischen Ursprung abzuleiten. Solange dies aber nicht möglich ist, bleibt es uns auch verwehrt, die in diesen Schriften vertretenen medizinischen Lehren insgesamt für die knidische Schule in Anspruch zu nehmen und sie als Ausdruck bestimmter Entwicklungstendenzen allein innerhalb dieser Schule zu werten. Mit anderen Worten, die knidische Medizin wird für uns weiterhin das bleiben müssen, was sie bislang auch war, nämlich ein untrennbarer und schwer abzugrenzender Bestandteil der griechischen wissenschaftlichen Heilkunde des 5. und 4. Jh. v.u.Z., wie sie sich uns als Ganzes in der hippokratischen Schriftensammlung darstellt. | 42
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Vgl. dagegen J. Jurk, a.a.O., S. 15, der in diesem Punkt der Darstellung eine Übereinstimmung zwischen beiden Schriften sehen will; ebenso auch J. Jouanna, Hippocrate, S. 223, der diese Annahme allerdings insofern wieder einschränkt, als er S. 223f. Anm. 4 zugesteht, daß ,,même pour des formules stéréotypées, qui remontent incontestablement au modèle, il peut exister, d’un traité à l’autre, de légères variantes“. Mit noch größerer Regelmäßigkeit als in Morb. IIA wird die Wendung ὅταν ὧδε (οὕτως) ἔχῃ lediglich in Nat. Mul. gebraucht; in Mul. II begegnet sie ebenfalls, aber nicht so häufig (vgl. dazu H. Grensemann, a.a.O., S. 188). Siehe J. Jouanna, Hippocrate, S. 92–108, der, um nur ein Beispiel zu nennen, an Hand des unterschiedlichen Gebrauchs von φλέγμα in Morb. IIA, wo das Wort sowohl Entzündung wie Schleim bedeutet, und Morb. IIB, wo es ausschließlich in der Bedeutung „Schleim“ vorkommt, nicht nur die Unabhängigkeit dieser beiden Textstücke, sondern auch das höhere Alter von Morb. IIA überzeugend beweisen kann. Ergänzend zu seiner Bemerkung in dem Artikel La structure du traité hippocratique „Maladies II“ et l’évolution de l’école de Cnide, Revue des Etudes Grecques 82, 1969, S. 14, sei jedoch vermerkt, daß φλέγμα und φλεγματώδης in der ursprünglichen Bedeutung „Entzündung“ bzw. „entzündlich“ auch in der alten Schrift Aër. (CMG I 1,2, hrsg. von H. Diller, Berlin 1970, S. 30,19 und 36,14) vorkommen. Das heißt, die von Jouanna gemachte sprachliche Beobachtung kann zwar etwas über das Verhältnis von Morb. IIA zu Morb. IIB und über das Alter von Morb. IIA aussagen, nicht aber über die knidische Herkunft der Schrift.
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Ich möchte diese Feststellung keineswegs als Resignation aufgefaßt wissen, sondern glaube vielmehr, daß wir der historischen Realität weit eher gerecht werden, wenn wir uns darum bemühen, in der griechischen Medizin der Zeit zwischen 450 und 350 das Ergebnis einer ständigen wechselseitigen Beeinflussung zwischen den Ärzteschulen von Kos und Knidos zu sehen und unterschiedliche Auffassungen in bestimmten Fragen als Vielfalt in der Einheit zu erklären44, anstatt nur immer wieder von zwei rivalisierenden Schulen zu sprechen und um jeden Preis nach fundamentalen Unterschieden in den Lehrmeinungen der Ärzte von Kos und Knidos zu suchen45. Denn erstens gibt es meines Erachtens keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, daß die beiden Schulen sich, wenn überhaupt jemals, in dem genannten Zeitraum, dem auch die Mehrzahl der hippokratischen Schriften einschließlich der nosologischen und gynäkologischen Texte angehört46, streng voneinander abgegrenzt und eifersüchtig über der Reinhaltung der eigenen Lehren gewacht hätten. Es besteht jedenfalls kein Grund, dies aus der Kritik des Verfassers von Acut. an den Knidischen Sentenzen herauszulesen. Im Gegenteil, die Polemik erhält doch erst dann ihre eigentliche Bedeutung, wenn man annimmt, daß die kritisierten Texte nicht nur akademisches Interesse für sich beanspruchen konnten, sondern auch als Lehrbücher und Nachschlagewerke bei der täglichen Arbeit von den Ärzten aus der näheren Umgebung des Verfassers von Acut. benutzt wurden und sein eigenes Werk gewissermaßen als eine Art Ergänzung dazu gedacht war. Ist es mithin nicht grundsätzlich auszuschließen, daß auch die koischen Ärzte die ältesten knidischen Krankheitsschriften benutzt haben, so können auch alle die Texte des CH, in die das auf die Knidischen Sentenzen | zurückgehende Material zur Symptombeschreibung und Therapie Eingang gefunden hat, ebensogut von koischen wie von knidischen Ärzten verfaßt sein. Das würde einerseits zwanglos den immerhin auffallenden Umstand erklären, daß es in der hippokratischen Schriftensammlung keine eindeutig koischen Texte dieser Art gibt, andererseits aber bedeuten, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, alle diese Schriften als knidisch zu bezeichnen und die an ihnen ablesbare Entwicklung medizinischer Vorstellungen auf die knidische Schule zu beschränken, wie J. Jouanna es getan hat. Zweitens hat sich gerade durch die eingehenden Untersuchungen von J. Jouanna und H. Grensemann zwar unbeabsichtigt, aber doch mit aller Deutlichkeit herausgestellt, daß eine von der koischen bzw. hippokratischen Medizin in ihrer Denkweise grundsätzlich verschiedene knidische Heilkunde47 an Hand der im CH erhaltenen nosologischen und gynäkologischen Texte nicht nachgewiesen werden kann. Denn 44
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Daß unterschiedliche Auffassungen nicht unbedingt mit schulgebundenen Theorien gleichzusetzen sind, beweist am besten das Beispiel der Säftelehre, die uns für die koische Schule in den verschiedensten Ausprägungen bezeugt ist: als Dreisäftelehre z.B. in Aër. und Morb. Sacr., als klassische Viersäftelehre in Nat. Hom. und als Zweisäftelehre für Dexippos von Kos (s. E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, in: Sudhoffs Archiv f. Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss., Beih. 4, Wiesbaden 1964, S. 18f., 47f., 50f. und 65f.). Brauchbare Hinweise zu dem Problem des Verhältnisses zwischen den Ärzteschulen von Kos und Knidos findet man in dem oben Anm. 13 zitierten Aufsatz von W. D. Smith (a.a.O., S. 569–585), auch wenn man nicht so weit gehen wird wie der Verfasser, zu behaupten, daß diese beiden Schulen ,,have been a self-inflating and self-generating myth“ (S. 584f.). Zur Datierung der nosologischen Schriften s. J. Jouanna, Hippocrate, S. 512f.; vgl. auch L. Bourgey, a.a.O., S. 37. So H. Grensemann, a.a.O., S. 53 und 201.
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einmal hat der Vergleich der zur Debatte stehenden Schriften gezeigt, daß der in ihnen beobachtete formale und inhaltliche „Schematismus“ keineswegs so weit geht, daß Jouannas These, die wesentlichen Merkmale der knidischen Schule bestünden in der Anonymität ihrer einzelnen Mitglieder und in einem für die Ärzte von Knidos verbindlichen Traditionsbewußtsein48, in irgendeiner Weise | zwingend wäre. Und zum anderen – und das ist das Entscheidende – finden sich bereits in den als älteste „knidische“ Schicht verifizierten Texten in Ansätzen Elemente wie z.B. die Säftelehre, der Physisbegriff als Konstitutionsbegriff, ätiologische Fragestellungen oder die Berücksichtigung klimatischer Gegebenheiten und des Allgemeinbefindens der Patienten, die zu den Größen gehören, die das Wesen der hippokratischen Medizin ausmachen49. Damit dürfte aber zweifelsfrei erwiesen sein, daß die in diesen Schriften vertretenen medizinischen Lehren eine Medizin repräsentieren, die den entscheidenden Schritt über die reine Empirie hinaus zur wissenschaftlichen Medizin bereits vollzogen hatte und daher zu Recht ihren Platz im Gesamtgebäude der hippokratischen Medizin gefunden hat.
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Siehe J. Jouanna, Hippocrate, S. 14–16, und Le schéma, S. 138–141; vgl. auch L. Bourgey, a.a.O., S. 146. Gegen Jouannas Hauptargument für die Anonymität der knidischen Ärzte und die Kollektivität in ihrem Schrifttum als besondere Kennzeichen der knidischen Schule, das ihm das Fehlen der 1. Pers. Sing. in den nosologischen Texten liefert, wäre auch noch einzuwenden, daß die 1. Pers. Sing. z.B. auch in den Aphorismen nicht gebraucht wird, die daraufhin aber wohl kaum jemand als knidisch bezeichnen würde. Ebensowenig hat sich auch Jouanna selbst durch die Tatsache, daß der Verfasser von Nat. Hom. nur in den ersten 9 Kapiteln von sich in der 1. Pers. spricht, und zwar relativ häufig, während er in den übrigen 13 Kapiteln (die Kapitel 23 und 24 gehören nicht zum ursprünglichen Bestand von Nat. Hom., s. J. Jouanna, Hippocrate, La Nature de l’homme, hrsg., übers. u. erl., CMG I 1,3, Berlin 1975, S. 23 und 309f.) gänzlich hinter seinem Werk zurücktritt, davon abhalten lassen, diese Schrift als Ganzes dem Koer Polybos zuzuweisen (s. ebd., S. 22–38 und 55–58). Und mit Recht, wie ich meine, denn die Gründe für diesen auffälligen Stilbruch im Werk des Polybos wird man weniger in einem plötzlichen Gesinnungswandel des Autors als vielmehr in sachlichen Erfordernissen zu suchen haben. Das heißt aber, daß weder der Gebrauch der 1. Pers. Sing. in der Darstellung noch der Verzicht darauf allein als Ausdruck der Mentalität eines einzelnen Verfassers oder gar einer ganzen Schule gewertet werden können; äußere Gründe sowohl literarischer wie sachlicher Art dürften dabei immer eine Rolle gespielt haben. Gegen die angeblich bewußt gewahrte Anonymität der knidischen Ärzte spricht zudem auch der Umstand, daß uns im Anonymus Londinensis (IV 31–V 34, hrsg. von H. Diels, in: Suppl. Aristotel. III 1, Berlin 1893) bereits aus der frühen Phase der Schule von Knidos zwei Lehren zur Krankheitsentstehung überliefert sind, die ausdrücklich mit den Namen des Euryphon und des Herodikos von Knidos verbunden sind, mit anderen Worten, als geistiges Eigentum nicht der knidischen Schule, sondern speziell dieser beiden Ärzte tradiert wurden. Vgl. dazu H. Grensemann, a.a.O., S. 184–187, 191f., und J. Jouanna, Hippocrate, S. 92–114, 136–148.
2. KNIDOS ALS ZEN T RUM DER FRÜHEN W ISSENSCHAF T LICHEN MEDIZIN IM AN T IKEN GRIECHENLAND*
Jedermann weiß es oder kann es in den einschlägigen Medizingeschichten und Untersuchungen zur hippokratischen Medizin nachlesen, daß in der Frühzeit der wissenschaftlichen Medizin in Griechenland im ägäischen Raum auf der Insel Kos und in der in unmittelbarer Nähe auf dem Festland von Kleinasien gelegenen Stadt Knidos zwei Ärzteschulen mit deutlich voneinander abzugrenzenden medizinischen Lehren existierten und daß die uns erhaltene Sammlung hippokratischer Schriften neben den Werken koischer Ärzte auch Texte knidischen Ursprungs enthält, die als solche identifiziert und demzufolge als Quellenmaterial für die Rekonstruktion der knidischen Medizin benutzt werden können. Was man indessen nicht weiß oder zumindest nur bereit ist zur Kenntnis zu nehmen, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ist der bedauerliche Tatbestand, daß die antiken Zeugnisse zur knidischen Medizin nicht nur der Zahl nach gering, sondern auch von der sachlichen Aussage her nicht allzu ergiebig sind, so daß sie bei unvoreingenommener Betrachtung weder für die Bestimmung dessen, worin die grundlegenden Unterschiede zwischen der knidischen und der koischen Medizin bestanden haben, noch für die Zuordnung bestimmter Schriften oder Schriftengruppen aus dem Corpus Hippocraticum an die knidische Schule eine gesicherte Grundlage bieten. | Ein sehr instruktives Beispiel hierfür sind die beiden jüngsten monographischen Untersuchungen zur knidischen Medizin von Hermann Grensemann und Jacques Jouanna.1 Grensemann räumt zwar expressis verbis ein, daß die Auskünfte, die uns die von ihm zu Beginn seines Buches zusammengestellten Testimonien und Fragmente über die knidische Ärzteschule geben, sehr dürftig sind.2 Beide Autoren halten aber daran fest, daß es in Verbindung mit eben diesen antiken Nachrichten auf dem Umweg über das Corpus Hippocraticum möglich sei, „die Medizin der frühen Knidier“, wie Grensemann es formuliert3, „… auf recht breiter Textbasis lesbar zu machen und damit einen Einblick zu tun in eine sehr frühe Form griechischer Medizin“. Wenn man einerseits berücksichtigt, daß diese „sehr frühe Form griechischer Medizin“ nach Auffassung von Grensemann der altägyptischen Heilkunde näher gestanden habe als * Gastvorlesung, gehalten am 3. Mai 1988 an der Universität Zürich. Erschienen in: Gesnerus 46, 1989, S. 11–28. 1
2 3
H. Grensemann, Knidische Medizin. Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum, Berlin u. New York 1975 (Ars Medica II 4,1); J. Jouanna, Hippocrate. Pour une archéologie de l’école de Cnide, Paris 1974. H. Grensemann, a.a.O., S. 50. Ebd., S. 51; vgl. J. Jouanna, a.a.O., S. 3–6.
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der koischen, der er im Unterschied zu der von ihm als archaisch bezeichneten Medizin der knidischen Ärzte eine „völlig neue Denkart“ bescheinigt4, und wenn man sich andererseits klarmacht, daß sich die Merkmale, die das Wesen der hippokratischen Heilkunde bestimmen, auch in den als knidisch verdächtigen Texten des Corpus Hippocraticum finden, so dürfte das allein schon genügen, um das Verfahren, knidisches Lehrgut mit Hilfe der Schriften der hippokratischen Sammlung zu erschließen, als fragwürdig erscheinen zu lassen. Bevor wir auf den angeblichen Gegensatz zwischen der koischen und knidischen Medizin zu sprechen kommen, den Wesley D. Smith nicht ganz zu Unrecht vor nicht allzu langer Zeit als „figment of the scholarly imagination“5 bezeichnet hat, erscheint es aus den genannten Gründen angebracht, ein unvoreingenommen-kritisches Bild der knidischen Medizin zu zeichnen, wie es sich uns aus den antiken Zeugnissen unterschiedlicher Provenienz darstellt, und auf solche Weise den sicheren Ausgangspunkt für die weitere Interpretation zu gewinnen. Was die ägäische Insel Kos und die an der Westspitze der Chersones von Karien gelegene Stadt Knidos miteinander verband, war nicht nur die geographische Lage. Beide gehörten zum Siedlungsgebiet der Dorer, die im 11. Jh. v.u.Z. als letzter griechischer Stamm nach Griechenland einwanderten, bis zur Südspitze der Peloponnes vordrangen und von dort aus mehrere Inseln im Süden der Ägäis, unter ihnen auch Kos, und den südlichen Teil der Westküste Kleinasiens besiedelten. Nach Herodot (I 174 u. VII 99) stammten die Bewohner von Knidos aus Sparta und die der Insel Kos aus Epidauros. Über die ethnische Herkunft hinaus waren gewisse Berührungspunkte zwischen Kos und Knidos, zumindest in archaischer Zeit, durch die | Mitgliedschaft beider in der dorischen Hexapolis gegeben, einem Bund, der, so ebenfalls Herodot (I 144), von den sechs dorischen Siedlungen Kos, Knidos, Halikarnaß, Kameiros, Ialysos und Lindos zum Zwecke der gemeinsamen Verehrung des Apollon Triopios, dessen Tempel sich in der Nähe von Knidos befand, geschlossen worden war. Für die medizinische Tradition von Kos und Knidos ist es jedoch bedeutsam, daß es sowohl in Knidos als auch auf Kos Familien aus dem Geschlecht der Asklepiaden gegeben hat, einem angesehenen Adelsgeschlecht, in dem die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit offenbar zur Tradition geworden war, so daß seine Angehörigen dies zum Anlaß nehmen konnten, ihren Stammbaum auf den Heilgott Asklepios zurückzuführen, und zwar über dessen Sohn Podaleirios, wie die spätere Überlieferung zu berichten weiß. Podaleirios soll sich bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg in Karien niedergelassen und dort, nachdem er die karische Königstochter geheiratet hatte, eine Stadt namens Syrnos gegründet haben, von wo seine Nachkommen, die Asklepiaden, nach Knidos und auf die Insel Kos gelangt seien.6 Der Zusammenhalt der koischen und der knidischen Asklepiadenfamilien scheint zumindest bis in das 4. Jh. v.u.Z. recht eng gewesen zu sein. Das bezeugt eine in Delphi gefundene Inschrift aus der ersten Hälfte des 4. Jh. v.u.Z.7 mit einem von der Gemeinschaft, dem κοινόν, 4 5 6
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Siehe H. Grensemann, a.a.O., S.50; 53; 201. W. D. Smith, Galen on Coans versus Cnidians, Bull. of the Hist. of Medicine 47 (1973), S. 569. Siehe E. J. Edelstein u. L. Edelstein, Asclepius. A collection and interpretation of the testimonies, Baltimore 1945, Bd. II, S. 19f. (Nachdruck New York 1975). Publiziert bei J. Bousquet, Inscriptions de Delphes, Bull. de Correspondance Hellénique 80 (1956), S. 579 und Tafel X; zur Datierung s. ebd., S. 580f.
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der Asklepiaden aus Kos und Knidos gefaßten Beschluß, mit dem den Nachkommen des Asklepios in männlicher Linie bestimmte Privilegien in Delphi, nämlich der Zugang zum Orakel und das Darbringen von Opfern, garantiert werden sollten. Da zum einen davon auszugehen ist, daß nicht alle Asklepiaden in männlicher Linie auch Ärzte waren, und zum anderen in diesem Dokument der Kreis der Asklepiaden, die in den Genuß der genannten Privilegien kommen sollten, nicht von der Ausübung des ärztlichen Berufes, sondern von der männlichen Deszendenz abhängig gemacht wurde, wird man wohl mit einiger Sicherheit annehmen dürfen, daß es sich bei der inschriftlich erwähnten Gemeinschaft der Asklepiaden von Kos und Knidos um eine Vereinigung der ihrer Abstammung nach echten Asklepiaden im Unterschied zu den Familienangehörigen handelte, die mütterlicherseits aus dem Asklepiadengeschlecht stammten. Wenn man dieser Inschrift unseres Erachtens mithin auch nicht entnehmen kann, daß sich die Asklepiaden von Kos und Knidos in einem gemeinsamen Berufsverband zusammengeschlossen hatten8, so ist sie doch ein untrüglicher Beweis dafür, daß zu Beginn des 4. Jh. v.u.Z., d.h. noch zu Lebzeiten des Hippokrates, bestimmte Bindungen zwischen den koischen | und knidischen Asklepiadenfamilien bestanden haben, die es als gesichert erscheinen lassen, daß auch auf medizinischem Gebiet, dem bevorzugten Wirkungsfeld der Asklepiaden, eine Kommunikation zwischen Kos und Knidos stattgefunden hat. Dieser Umstand ist für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen koischer und knidischer Medizin von größter Wichtigkeit, ist doch damit zum erstenmal auch ein äußeres Kriterium dafür gegeben, daß eine strikte Trennung zwischen den Lehrinhalten der koischen Medizin und denen der knidischen Heilkunde weder gerechtfertigt noch möglich ist.9 In welche Zeit die historischen Anfänge der von den Asklepiadenfamilien getragenen medizinischen Traditionen in Knidos und auf Kos fallen, wissen wir nicht. Ebensowenig läßt sich mit Sicherheit entscheiden, ob Kos oder Knidos die Priorität als Pflegestätte der Medizin gebührt. Möglicherweise entspricht es jedoch den historischen Gegebenheiten, wenn sich Knidos auf Grund der namentlich überlieferten Arztpersönlichkeiten und der, allerdings nur dem Titel nach bekannten, literarischen Produktion für uns als die ältere von den beiden Ärzteschulen darstellt. Als ältestes Zeugnis der knidischen Ärzteschule gelten die „Knidischen Sentenzen“. Sie werden von dem Verfasser der hippokratischen Schrift De diaeta acutorum und in Galens Kommentar zu diesem Text als ein von mehreren Autoren verfaßtes Werk bezeichnet, von dem in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.u.Z., der Entstehungszeit von De diaeta acutorum, eine als später überarbeitet bezeichnete Fassung existierte10, so daß man annehmen kann, daß die Originalfassung des Textes spätestens aus der ersten Hälfte des 5. Jh. stammt. In seinem Kommentar zum 6. Buch der hippokratischen „Epidemien“ (In Hipp. Epid. V I comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 54,1–6) erwähnt Galen jedoch, daß die „Knidischen Sentenzen“ dem knidischen Arzt Eury8 9
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So J. Bousquet, S. 582f. Vgl. F. Kudlien, Bemerkungen zu W. D. Smith’s These über die knidische Ärzteschule, in: Corpus Hippocraticum. Actes du Colloque hippocratique de Mons (22–26 septembre 1975), hrsg. v. R. Joly, Mons 1977 (Editions Universitaires de Mons, Série Sciences Humaines IV ), S. 102f. Hippokrates, De diaeta acut. 1. 3 (1): I, S. 109,2f.; 110,3 Kühlewein = II, S. 224,2f.; 226,8 Littré; Galen, In Hipp. De victu acut. comm. I 1: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) V 9,l, S.117,11f.
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phon, der als älterer Zeitgenosse des Hippokrates zu Beginn des 5. Jh. geboren sein dürfte, als Verfasser zugewiesen wurden; da Galen selbst sich aber von dieser Zuschreibung eindeutig distanziert, steht die in der modernen Forschung auf Grund dieser Galenstelle allgemein akzeptierte These, daß die „Knidischen Sentenzen“, sei es in ihrer ursprünglichen, sei es in ihrer überarbeiteten Fassung, als Werk des Euryphon zu gelten haben, auf recht unsicherem Boden.11 Die kollektive Verfasserschaft der „Knidischen Sentenzen“ legt die Annahme nahe, daß ihnen schriftliche Aufzeichnungen verschiedener Ärzte zugrunde lagen, die dem elementaren Bedürfnis entsprachen, die im Umgang mit Krankheiten und deren Therapie gemachten Erfahrungen und | Beobachtungen zu sammeln und als Arbeitsmaterial nutzbar zu machen. Sie enthielten Symptombeschreibungen, gelegentlich aber auch Angaben zum Verlauf bzw. Ausgang der Krankheiten und Therapiehinweise12 und sind, wie man sich vorstellen könnte, der Übersichtlichkeit halber, insofern sie auf Grund der Angabe der Krankheitsbezeichnung einer bestimmten Krankheit zugeordnet werden konnten, jeweils zu einem Komplex zusammengefaßt worden. Galen berichtet in seinem Kommentar zu De diaeta acutorum (In Hipp. De victu acut. comm. I 7: CMG V 9,1, S. 121,21–122,3), daß die knidischen Ärzte sieben Krankheiten der Galle, zwölf Blasenkrankheiten, vier Nierenkrankheiten, vier Arten von Harnverhaltung, drei Arten von Tetanus, vier Arten von Gelbsucht und drei Arten von Schwindsucht gezählt hätten. An diesem Verfahren übt der Autor von De diaeta acutorum Kritik13, wobei er sich einerseits gegen das Unterfangen wendet, die in Abhängigkeit vom individuellen Krankheitsgeschehen unterschiedlichen Erscheinungsformen einer speziellen Krankheit mit genauen Zahlen angeben zu wollen, und andererseits die Unübersichtlichkeit einer derartigen Zählung hervorhebt, die er darin begründet sieht, daß die individuell verschiedenen Spielarten ein und derselben Krankheit dann, wenn sie einmal mit unterschiedlichen Bezeichnungen, d.h. jeweils mit einer anderen Nummer, versehen sind, als voneinander verschiedene Erkrankungen angesehen wurden. Da er im Zusammenhang mit seinem Vorwurf nur von „einigen“ Ärzten spricht, muß die Frage offenbleiben, ob die Krankheitsbeschreibungen innerhalb eines Komplexes, soweit sie sich in der Angabe der Symptome und in der Darstellung des Krankheitsverlaufs voneinander unterschieden, bereits in den „Knidischen Sentenzen“ als verschiedene Arten ein und derselben Krankheit gekennzeichnet und durchgezählt waren oder ob dieses Verfahren erst in späteren Texten entwickelt wurde. Die neuerlichen Bemühungen von Grensemann und Jouanna, nachzuweisen, daß die einzelne Sentenz, d.h. die Beschreibung einer einzelnen Krankheit, ähnlich wie bei den aus den altägyptischen medizinischen Texten bekannten Diagnosen unter Verwendung stereotyper sprachlicher Wendungen jeweils nach einem festen Schema auf11
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Vgl. J. Kollesch, Die Stellung der knidischen Heilkunde in der wissenschaftlichen Medizin der Griechen, in: Corpus Hippocraticum (s. Anm. 9), S. 109 (= oben, S. 51) und W. D. Smith, a.a.O., S. 577. Siehe Hippokrates, De diaeta acut. 1. 2–3 (1): I, S. 109,2–5. 11–110,7 Kühlewein = II, S. 224,2–4. 9–226,11 Littré. Siehe ebd. 3 (1): I, S. 110,7–13 Kühlewein = II, S. 226,11–228,6 Littré; vgl. dazu G. H. Knutzen, Technologie in den hippokratischen Schriften περὶ διαίτης ὀξέων, περὶ ἀγμῶν, περὶ ἄρθρων ἐμβολῆς, Akad. d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. 1963, Nr. 14, Wiesbaden 1964, S. 34f.
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gebaut war, als dessen obligatorische Bestandteile von ihnen Titel, Symptombeschreibung, Prognose und Therapie, allerdings in unterschiedlicher Kombination und Reihenfolge, genannt werden14, sind nach unserem Dafürhalten bereits vom Ansatz her verfehlt. Denn von den „Knidischen Sentenzen“ sind lediglich zwei kurze Bruchstücke von eineinhalb und zweieinhalb Zeilen wörtlich überliefert, die keinerlei Aussagen über Gesamtumfang und Aufbau auch | nur einer einzelnen Sentenz zulassen, so daß letzten Endes zwei Kapitel aus den im Corpus Hippocraticum enthaltenen Schriften De morbis II (Kap. 68) und De muliebribus II (Kap. 144 = De nat. mul. 5) als Modell zur Rekonstruktion der „Knidischen Sentenzen“ dienen müssen, d.h. Texte, deren Herkunft aus den „Sentenzen“ jedoch eigentlich erst zu beweisen war. Das bedeutet aber, daß wir auch die auf dieser Voraussetzung basierende Rekonstruktion der „Knidischen Sentenzen“ nicht als gesicherte Grundlage für eine Darstellung der durch diese Texte des Corpus Hippocraticum repräsentierten ältesten Stufe der knidischen Medizin akzeptieren können.15 Was wir auf Grund der wenigen authentischen Zeugnisse16 von dieser Medizin sagen können, ist lediglich, daß ihre Vertreter Krankheitsbezeichnungen wie νεφρῖτις, πλευρῖτις, περιπλευμονίη, φρενῖτις und καῦσος verwendeten und daß zumindest einige von ihnen die Krankheiten an Hand der Krankheitsnamen zu klassifizieren versuchten, daß sie ihr Hauptaugenmerk auf die Krankheitszeichen richteten, wobei sie neben Schmerzempfindungen in den jeweils betroffenen Körperteilen auch krankhafte Veränderungen an den Körperausscheidungen registrierten, daß sie darüber hinaus auch dem Krankheitsverlauf eine gewisse Bedeutung beimaßen und daß sie sich schließlich in ihren therapeutischen Verordnungen auf relativ wenige Mittel wie Abführmittel und je nach Jahreszeit Molke oder Milch beschränkten und bei der Vergabe der Mittel mehr oder weniger schematisch vorgingen – ein Verfahren, das offenbar nicht nur durch die geringe Anzahl der zur Verfügung stehenden Heilmittel, sondern auch durch den Mangel an therapeutischer Erfahrung bedingt war, der es noch nicht erlaubte, die therapeutischen Maßnahmen entsprechend den verschiedenen Krankheiten und deren Verlauf zu differenzieren. Wie bereits erwähnt, hatte es nach Aussage Galens eine antike Tradition gegeben, welche die „Knidischen Sentenzen“ dem knidischen Arzt Euryphon als Verfasser zugewiesen hat. Diese, wie wir glauben, nachträglich erfolgte Zuweisung dürfte sich aus dem Bestreben heraus erklären, die älteste knidische medizinische Schrift mit dem Namen des ältesten und zugleich berühmtesten Arztes von Knidos zu verbinden. So ist Euryphon in ähnlicher Weise ebenfalls schon in der Antike neben anderen alten Ärzten auch als möglicher Verfasser von hippokratischen Schriften, z.B. von De diaeta 14 15
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Siehe H. Grensemann, a.a.O., S. 53–64, und J. Jouanna, a.a.O., S. 129–160 u. 508 Anm. 1. Siehe dazu ausführlich J. Kollesch, a.a.O., S. 108–119 (= oben, S. 50–58), und G. Harig, Bemerkungen zum Verhältnis der griechischen zur altorientalischen Medizin, in: Corpus Hippocraticum (s. Anm. 9), S. 87–94. Es sind dies die Beschreibung von Symptomen bei einer Nierenerkrankung und die Schilderung einer krankhaften Form der Harnausscheidung, die Rufus von Ephesos (De corp. hum. part. appellat. 190: S. 159,13–160,2 Daremberg – Ruelle) und Galen (In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 54,1–4) als wörtliche Zitate aus den „Knidischen Sentenzen“ überliefert haben sowie die bereits genannte kritische Auseinandersetzung mit dieser Schrift zu Beginn von De diaeta acutorum (Kap. 1–3. 5 [1. 2]: I, S. 109,2–110,13; 111,4–6 Kühlewein = II, S. 224,2–228,6; 232,5–7 Littré).
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und De septimanis, namhaft gemacht worden.17 Anspruch auf Glaubwürdigkeit können diese Zuweisungen indessen nicht erheben, so daß uns für die Darstellung seiner Lehren nur die spärlichen mit seinem Namen verbundenen Nachrichten bei späteren Autoren zur Verfügung stehen. | Das älteste Zeugnis ist die in der Medizingeschichte des Aristotelesschülers Menon überlieferte Krankheitsätiologie des Euryphon.18 Danach soll der Knidier die Rückstände von unverdauter Nahrung (περισσώματα), die vom Bauch zum Kopf aufsteigen, als Krankheitsursache genannt haben, wohingegen ihm der dünne und reine Leib als Zeichen einer normal funktionierenden Verdauung galt. Da wir jedoch von Galen wissen, daß Aristoteles der erste antike Autor gewesen ist, der die Nahrungsrückstände im Körper mit dem Ausdruck περιττώματα bezeichnet hat19, darf als sicher angenommen werden, daß Menon den Begriff der περισσώματα aus seiner eigenen Vorstellungswelt auf die Krankheitsätiologie des Euryphon übertragen hat. Wie der Knidier selbst das, was seiner Meinung nach infolge von Verdauungsstörung zum Kopf aufsteigt, bezeichnet hat, läßt sich nicht mehr ausmachen; und ebensowenig läßt sich entscheiden, ob und inwiefern er auch Wärme und Kälte sowie Anstrengung und Überfüllung als Krankheitsursachen berücksichtigt hat, denn bei diesem Hinweis Galens handelt es sich um ein Sammelreferat, in dem neben dem Knidier noch weitere vier Ärzte genannt sind20. Daß Euryphon es sich ebenso wie die Verfasser der „Knidischen Sentenzen“ zur Aufgabe gemacht hatte, die Krankheitszeichen sorgfältig zu beobachten, beweist seine Beschreibung der beim bläulichen Fieber (πελιδνὸς πυρετός) auftretenden Symptome, die Galen als wörtliches Zitat überliefert hat.21 Der Wortlaut dieses Zitats stimmt weitgehend mit der Beschreibung dieses Fiebers in der hippokratischen Schrift De morbis II22 überein. Allerdings erscheint es uns entgegen der communis opinio nicht gerechtfertigt, von der Identität dieser beiden Texte zu sprechen; denn zum einen finden sich in den Texten mehrere Abweichungen, die nach unserem Dafürhalten so gravierend sind, daß sie kaum noch als überlieferungsbedingte Varianten ein und desselben Textes erklärt werden können, und zum anderen sind eben diese beiden Textstücke von Galen nebeneinander als zwei in ihrer sachlichen Aussage übereinstimmende, aber in ihrer Herkunft voneinander unabhängige Textzeugnisse zitiert worden, was zumindest ausschließt, daß Galen diese Texte für identisch gehalten hat.23 Dennoch ist die Ähnlichkeit der beiden Krankheitsbeschreibungen insofern aufschlußreich, als sie zu erkennen gibt, daß die Beobachtungen, Erfahrungen und 17
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Zur möglichen Zuweisung von De diaeta und De septimanis an Euryphon s. Galen, De alim. fac. I 1,35: CMG V 4,2, S. 212,18–20; In Hipp. De victu acut. comm. I 17: CMG V 9,1, S. 135,2–5; De diaeta in morb. acut. sec. Hipp. 9,3: CMG Suppl. Or. II, S. 109,17–21 (an der zuletzt genannten Stelle ist De septimanis, wie bisweilen auch sonst bei Galen, mit dem Titel „Die kleinere Abhandlung über die Krankheiten“ zitiert). Anonymi Londinensis ex Aristotelis iatricis Menoniis et aliis medicis eclogae, hrsg. v. H. Diels, Berlin 1893 (Supplementum Aristotelicum III 1), IV 31–40 (im folgenden zitiert als Anon. Lond.). Siehe Galen, De instrum. odorat. 2,3: CMG Suppl. V, S. 36,10f. Galen, De caus. procatarct. 192: CMG Suppl. II, S. 52,3–9. Galen, In Hipp. Epid. VI comm. I 29: CMG V 10,2,2, S. 55,10–16. Hippokrates, De morb. II 68: S. 207,1–7 Jouanna = VII, S. 104,1–7 Littré. Vgl. J. Kollesch, a.a.O., S. 111 (= oben, S. 52f.).
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Erkenntnisse, welche die knidischen Ärzte und speziell Euryphon in ihren nosologischen Schriften zusammengetragen hatten, von den nachfolgenden Ärztegenerationen als brauchbares Arbeitsmaterial akzeptiert und in Abhängigkeit von dem Wissen und den Ambitionen der einzelnen | Ärzte in mehr oder weniger stark modifizierter Form weitertradiert worden sind. Aus der Nosologie des Euryphon erfahren wir weiterhin, daß er unter Pleuritis eine Erkrankung der Lunge verstanden hat und daß er zwei Arten von Blutfluß annahm.24 Allerdings wird man die Behauptung des spätantiken Autors Caelius Aurelianus, der knidische Arzt habe Blutungen aus den Venen (venae) und Arterien (arteriae) gekannt, als eine Fehlinterpretation des zugrunde liegenden Euryphontextes anzusehen haben.25 Denn es kann als sicher gelten, daß Euryphon das Wort ἀρτηρίη, das auf Grund seiner Mehrdeutigkeit zu dem Mißverständnis geführt haben dürfte, entsprechend dem frühen griechischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Luftröhre verwendet hat und das Wort φλέβες als neutralen Ausdruck für die Adern gebrauchte, so daß also, wenn bei ihm außer von Blutflüssen aus den Adern auch von solchen aus der ἀρτηρίη die Rede war, damit Blutflüsse aus der Luftröhre gemeint waren. So erweist sich auch die in der Forschung gelegentlich vertretene Auffassung, Euryphon habe bereits zwischen Venen und Arterien unterschieden26, als hinfällig. Von der Therapie des Euryphon ist überliefert, daß er bei Hydrops ebenso wie sein Landsmann Herodikos Abführmittel verabreichte, nach dem Essen Erbrechen provozierte, Bedampfungen vornahm und das Schlagen der geschwollenen Körperteile mit aufgeblähten Rindsblasen empfahl, daß er Muttermilch, direkt an der Brust der Frau getrunken, für das beste Heilmittel gegen Schwindsucht hielt, daß er den Aderlaß als Therapeuticum anwandte, und endlich, daß er sich über den Gebrauch der Pharmaka geäußert und als einer der ersten mit der Darstellung von Ersatzmitteln beschäftigt haben soll.27 Zu den medizinischen Gebieten, auf denen Euryphon tätig gewesen ist, gehören auch die Gynäkologie und Geburtshilfe. Max Wellmanns Annahme, der Knidier habe eine speziell diesem Gegenstand gewidmete Schrift mit dem Titel Γυναικεῖα („Frauenkrankheiten“) verfaßt28, muß Vermutung bleiben, da in den in Frage kommenden Testimonien jeder Hinweis auf einen Schriftentitel fehlt. Aus der geburtshilflichgynäkologischen Praxis des Euryphon berichtet Soran von Ephesos (Gyn. I 35,3; IV 14,2: CMG IV, S. 24,24f.; 144,23–27), daß dieser zum Nachweis von Empfängnisfähigkeit an den auf einem Gebärstuhl sitzenden Frauen Gebärmutterräucherungen mit stark riechenden Substanzen vorgenommen habe und daß er bei der Verhaltung der Nachgeburt harntreibende Getränke, bluttreibende Einlagen und das Schütteln der Frau mit Hilfe einer Leiter empfahl, an die sie | zuvor angebunden wurde. Euryphons 24 25 26
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Siehe Caelius Aurelianus, De morb. acut. II 96f.; De morb. chron. II 121. Vgl. H. Grensemann, a.a.O., S. 36. Siehe E. Littré, Œuvres complètes d’Hippocrate, Bd. I, S. 206f. u. 214; M. Wellmann, Art. „Euryphon“, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. VI, hrsg. v. G. Wissowa, Stuttgart 1909, Sp. 1343. Siehe Caelius Aurelianus, De morb. chron. III 139; Galen, De bonis malisque suc. 4,28: CMG V 4,2, S. 404,17–22; De marasmo 9: VII, S. 701,8–13 Kühn; Meth. med. VII 6: X, S. 474,14–475,2 Kühn; De venae sect. adv. Erasistr. l: XI, S. 149,12–150,6 Kühn; De simpl. med. temp. et fac. V I prooem.: XI, S. 795,8–15 Kühn; [Galen], De succed.: XIX, S. 721,3–5 Kühn. Siehe M. Wellmann, a.a.O.
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Behandlung des prolabierten Uterus, bei der die Patientin nach der Darstellung des Soran (Gyn. IV 36,7: CMG IV, S. 149,9–13) zunächst einen Tag und eine Nacht lang mit den Füßen an einer Leiter aufgehängt wurde und danach auf dem Rücken liegen und kalten Gerstenschleim als Nahrung zu sich nehmen mußte, ist von dem Ephesier (ebd., Z. 13–15) mit dem Hinweis darauf, daß das Hängen an der Leiter unerträglich sei, daß die verordnete Nahrung eine blähende Wirkung habe und daß die Berechnung der für die Einleitung der therapeutischen Maßnahmen günstigen Tage nicht den Regeln der Kunst entspreche, gerügt worden. Als außergewöhnlich wurde in der späteren doxographischen Tradition auch die der landläufigen Meinung widersprechende Ansicht des Euryphon vermerkt, daß die Siebenmonatskinder nicht lebensfähig seien.29 Daß Euryphon bereits die Ovarien und die Eileiter gekannt habe und diese in den Blasenhals einmünden ließ, wie Wellmann schreibt30, läßt sich nicht stichhaltig beweisen, da an der von ihm angeführten Stelle aus Galens Schrift De uteri dissectione (9,5: CMG V 2,1, S. 48,22–50,7) ganz offensichtlich eine unzulässige Verallgemeinerung vorliegt, wenn der Pergamener die von Herophilos stammende Beschreibung der weiblichen Keimdrüsen und der weiblichen „Samengänge“ auch für Aristoteles und unseren knidischen Arzt in Anspruch nimmt.31 Angesichts dieser Situation verbietet es sich auch, daraus irgendwelche Schlußfolgerungen hinsichtlich der anatomischen Tätigkeit des Euryphon zu ziehen. Zu den alten knidischen Ärzten, die uns namentlich bekannt sind, zählt auch Herodikos. Er wird zwar nur in der Medizingeschichte des Menon (Anon. Lond. IV 40f.) als Knidier bezeichnet, ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit identisch mit dem Herodikos, den Galen neben Euryphon als Vertreter der Auffassung nennt, daß Muttermilch das beste Heilmittel bei Schwindsucht sei32, und dessen Therapie des Hydrops bei Caelius Aurelianus und Aetios von Amida überliefert ist.33 Nicht gerechtfertigt erscheint dagegen der Versuch Grensemanns, Herodikos von Selymbria mit dem Knidier zu identifizieren.34 Erstens gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Herodikos von Selymbria, eine uns aus anderen Zeugnissen als Paidotribe und Arzt bekannte Persönlichkeit des 5. Jh. v.u.Z., sich auch in Knidos aufgehalten hat, und zweitens widerspricht dem auch der Umstand, daß in der Medizingeschichte des Menon nach der Erwähnung des Herodikos von Knidos wenig später (Anon. Lond. IX 20) noch ein weiterer Herodikos genannt wird. Wenn es nun auch auf Grund der starken Beschädigung des Papyrus gerade an dieser Stelle unsicher bleiben muß, ob hier von Herodikos | von Selymbria die Rede ist, wie der Herausgeber Hermann Diels vermutet hat, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß im 4. Jh. v.u.Z., als Menon seine Medizingeschichte schrieb, zwei Ärzte dieses Namens bekannt waren, denen, wie 29 30 31 32
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Siehe Censorinus, De die nat. 7,5. M. Wellmann, a.a.O. Siehe die Erläuterungen zu dieser Stelle von D. Nickel, CMG V 2,1, S. 89f. zu S. 50,4–7. Galen, De bonis malisque suc. 4,28: CMG V 4,2, S. 404,17–22; De marasmo 9: VII, S. 701,8–13 Kühn; Meth. med. VII 6: X 474,14–475,2 Kühn. Caelius Aurelianus, De morb. chron. III 139; Aetius Amidenus, Lib. med. X 29: M. Wellmann, Die pneumatische Schule bis auf Archigenes in ihrer Entwickelung dargestellt, Berlin 1895 (Philologische Untersuchungen, hrsg. v. A. Kießling u. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, H. 14), S. 59 Anm. 2 von S. 55. Zu den Einzelheiten der Therapie s. S. 18. H. Grensemann, a.a.O., S. 14f.; vgl. auch S. 198–201.
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die Menonische Darstellung beweist, unterschiedliche Krankheitsätiologien zugeschrieben wurden. Sowohl die Tatsache, daß Menon die Krankheitsätiologie des Herodikos nach der des Euryphon anführt, wie auch der Umstand, daß die Ätiologie des Herodikos differenzierter ist als die des Euryphon, sprechen dafür, daß Herodikos der jüngere von den beiden gewesen ist.35 Wenn wir andererseits voraussetzen dürfen, daß er älter war als Hippokrates, kann der Altersunterschied jedoch nicht sehr groß gewesen sein, so daß wir mit seiner Hauptschaffensperiode etwa in die Mitte des 5. Jh. v.u.Z. kommen. Nach dem aus der Medizingeschichte des Menon stammenden Bericht über die Krankheitsätiologie des Herodikos (Anon. Lond. IV 40–V 34) hat dieser ebenso wie Euryphon die unverdauten Nahrungsrückstände im Körper für das Entstehen von Krankheiten verantwortlich gemacht. Diese Etikettierung trifft insofern zu, als Herodikos die den Krankheitsprozeß einleitende Ursache in der durch Mangel an körperlicher Bewegung bedingten ungenügenden Verarbeitung der aufgenommenen Nahrung gegeben sah, aus deren unverdauten Rückständen zwei Arten von Flüssigkeiten entstehen, eine scharfe und eine bittere, die ihrerseits die Krankheiten hervorrufen. Bemerkenswert ist, daß Herodikos in seiner Krankheitsätiologie darüber hinaus auch das Zustandekommen der unterschiedlichen Arten von Krankheiten zu erklären versuchte. Die Kriterien, die er in diesem Zusammenhang nennt, sind erstens das Überwiegen einer der beiden Flüssigkeiten, zweitens die bei den Flüssigkeiten auftretende unterschiedliche Intensität der Schärfe bzw. Bitterkeit, drittens, ob ein bestimmter Körperteil, z.B. der Kopf, entweder von der bitteren oder von der scharfen Flüssigkeit befallen wird, und viertens, welcher Körperteil es ist, zu dem die Flüssigkeiten gelangen. Diese differenzierende Krankheitsätiologie des Herodikos enthält bereits deutliche Ansätze sowohl einer Organlehre als auch einer Säftetheorie, die das Bemühen der frühen knidischen Ärzte erkennen lassen, das Krankheitsgeschehen in seiner Vielfalt zu erfassen und theoretisch zu begründen. Aus Knidos stammte auch der Arzt Ktesias36, der, wenn wir Galen (In Hipp. De artic. comm. IV 40: XV III A, S. 731,7f. Kühn) Glauben schenken dürfen, seiner Herkunft nach ein Asklepiade war. Als Kriegsgefangener nach Persien gekommen, war er längere Zeit Leibarzt der persischen Königin | Parysatis und später auch ihres Sohnes Artaxerxes II. Mnemon (404–358), den er ärztlich versorgte, als dieser von seinem Bruder Kyros in der Schlacht von Kunaxa im Jahre 401 v.u.Z. verwundet worden war. Als Ktesias 398/397 als Gesandter nach Sparta geschickt wurde, nutzte er diese Gelegenheit zur Rückkehr in seine Heimat. Mit seiner „Geschichte Persiens“ in 23 Büchern und seiner drei Bücher umfassenden Beschreibung Indiens, die beide nur in Fragmenten erhalten sind, hat er sich vor allem als Historiker einen Namen gemacht. Aus den medizinischen Schriften des Ktesias, über deren Zahl und Inhalt nichts Näheres bekannt ist, hat Oreibasios (Coll. med. rel. V III 8: CMG VI 1,1, S. 261,19–25) ein wörtliches Zitat über die Anwendung des Helleboros (Nieswurz) überliefert. Ktesias schreibt dort, daß dieses Mittel zur Zeit seines Vaters und seines Großvaters von keinem Arzt verordnet wurde, da man seine Mischung nicht kannte und auch nicht wußte, in welcher Dosierung es zu verabreichen sei. Zumindest hätte derjenige, der 35 36
Vgl. ebd., S. 198. Zu den näheren Lebensumständen des Ktesias s. T. S. Brown, Suggestions for a vita of Ctesias of Cnidus, Historia 27 (1978), S. 1–19.
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einen Patienten der mit dem Einnehmen der Nieswurz verbundenen Gefahr aussetzte, diesen zuvor sein Testament machen lassen, denn die Einnahme hätte in vielen Fällen zum Erstickungstod geführt, und nur wenige seien mit dem Leben davongekommen. Jetzt, d.h. zur Zeit des Ktesias, scheine in dieser Frage jedoch größere Sicherheit zu herrschen. Dieses Zitat aus den Schriften des Ktesias ist nicht nur insofern interessant für uns, als es deutlich werden läßt, daß im Verlauf des 5. Jh. v.u.Z. auch auf dem Gebiet der Pharmakologie bzw. der Pharmakotherapie ein gewisser Fortschritt erzielt worden ist, sondern vor allem deswegen, weil es bestimmte Schlüsse auf die medizinischen Vorstellungen des Ktesias zuläßt. Den Anhaltspunkt hierfür bilden die Begriffe der Mischung, der Krasis, wie es griechisch heißt, und der richtigen Dosierung, die für unseren Arzt die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung des Helleboros darstellen. Was die Forderung nach der richtigen Dosierung des Mittels betrifft, so geht sie auf die durch sorgfältige Beobachtung gewonnene Erkenntnis zurück, daß einige Heilmittel, wenn sie in zu großer Menge verabreicht werden, auch schädlich wirken können, eine Erkenntnis, der wir auch in der zeitgenössischen hippokratischen Medizin begegnen.37 Und wenn zum anderen von der „Mischung der Nieswurz“ die Rede ist, so ist unseres Erachtens damit nicht, wie Grensemann zu glauben scheint38, die Zusammensetzung der Nieswurz mit anderen Substanzen wie Wein oder Honig gemeint; die sprachliche Formulierung spricht vielmehr dafür, daß Ktesias unter der Krasis der Nieswurz eine in dieser Pflanze festzustellende Mischung von Qualitäten verstanden hat. Ob es sich nun aber bei diesen | Qualitäten um Primärqualitäten (warm, feucht, kalt, trocken) oder Sekundärqualitäten (süß, salzig, bitter, sauer usw.) handelte, läßt sich an Hand der kurzen Bemerkung nicht entscheiden. Fest steht jedoch, daß Ktesias’ Vorstellung von der Krasis der pflanzlichen Heilmittel auf der Säftelehre fußt, wie dies in ähnlicher Weise auch an den ersten Ansätzen zu einer theoretischen Erfassung der Arzneimittelwirkungen in den Schriften des Corpus Hippocraticum aus der Zeit um die Wende vom 5. zum 4. Jh. ablesbar ist.39 Ein weiterer Hinweis auf die medizinische Schriftstellerei des Ktesias findet sich bei Galen, der berichtet, daß der Knidier der erste gewesen sei, der Hippokrates wegen der Einrenkung des luxierten Hüftgelenks Vorwürfe gemacht habe, da dieses Gelenk doch sofort wieder ausrenke.40 Wenn es auch fraglich bleiben muß, ob Ktesias seinen koischen Kollegen tatsächlich namentlich genannt hat oder ob seine polemische Äußerung erst später auf Hippokrates bezogen wurde und ob sich die Kritik des Ktesias speziell gegen die der Hüftgelenksluxation gewidmeten Ausführungen in der im Corpus Hippocraticum überlieferten Schrift De articulis41 richtete, so wird man doch 37
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W. Artelt, Studien zur Geschichte der Begriffe „Heilmittel“ und „Gift“. Urzeit – Homer – Corpus Hippocraticum, Leipzig 1937 (Studien zur Geschichte d. Medizin, hrsg. v. K. Sudhoff, H. 23), S. 78f. (Nachdruck Darmstadt 1968). H. Grensemann, a.a.O., S. 196. Vgl. G. Harig, Anfänge der theoretischen Pharmakologie im Corpus Hippocraticum, in: Hippocratica. Actes du Colloque hippocratique de Paris (4–9 septembre 1978), hrsg. v. M. D. Grmek, Paris 1980 (Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique, No. 583), S. 227–239. Siehe Galen, In Hipp. De artic. comm. IV 40: XVIII A, S. 731,6–8 Kühn. Hippokrates, De artic. 51–60 u. 70–78: II, S. 188,21–210,13 u. 224,18–239,6 Kühlewein = IV, S. 224,6–260,8 u. 288,11–316,8 Littré.
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auf jeden Fall sagen können, daß Ktesias zu den Ärzten gehörte, die eine erfolgreiche Behandlung des luxierten Hüftgelenks für unmöglich hielten. Von dem speziellen Interesse des Arztes zeugen auch die medizinischen Details, die Ktesias seinen Lesern in seinen historischen Schriften mitteilt. So berichtet er z.B. in der „Geschichte Persiens“42, daß Kyros, als er in der Schlacht von Kunaxa von einem Speer an der Schläfe getroffen wurde, infolge des starken Blutverlustes einen Schwindelanfall erlitt und bewußtlos wurde und danach nur mühsam wieder zu sich kam. Als Kyros bald darauf bei einem erneuten Anschlag wiederum von einem Speer getroffen wurde, sei die Ader in der Kniekehle aufgeplatzt, Kyros sei, als er niederstürzte, mit der verletzten Schläfe auf einen Stein aufgeprallt und habe so den Tod gefunden. Auf das medizinische Interesse des Ktesias dürfte es auch zurückzuführen sein, wenn er es in seiner Beschreibung Indiens für erwähnenswert hielt, daß die Inder weder an Kopfschmerzen noch an Augenkrankheiten, Zahnschmerzen, Mundgeschwüren und Mundfäule litten.43 Gewisse Aufschlüsse über die Verhaltensweisen des Arztes gegenüber seinen Patienten zur Zeit des Ktesias können wir aus dem Bericht des Knidiers über den unrühmlichen Tod des koischen Arztes Apollonides gewinnen44, der unter Artaxerxes I. (464–424) Leibarzt am persischen Königshof war. Ktesias erzählt, Apollonides sei in Amytis, die Witwe des Satrapen Megabyzos und Schwester des Artaxerxes, verliebt gewesen und | habe ihr, als sie nach seiner Diagnose an einem Gebärmutterleiden erkrankt war, aus therapeutischen Gründen Geschlechtsverkehr empfohlen. Er habe daraufhin Beziehungen zu ihr unterhalten, sich jedoch wieder von ihr getrennt, als sie immer schwächer wurde. Daraufhin habe Amytis ihre Mutter beauftragt, dafür zu sorgen, daß Apollonides bestraft würde, und nachdem diese dem König den Vorfall berichtet hatte, und zwar unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß Apollonides aus Hochmut Amytis verlassen habe, erhielt sie die Erlaubnis, die Bestrafung selbst vorzunehmen. Sie ließ Apollonides zunächst ins Gefängnis werfen und nach dem Tode ihrer Tochter lebendig begraben. Die Art und Weise, in der Ktesias diese Ereignisse dargestellt hat, läßt keinen Zweifel daran, daß Apollonides deswegen mit dem Tode bestraft wurde, weil Amytis sich an ihrem Liebhaber dafür rächen wollte, daß er sie verlassen hatte. Die Tatsache, daß Apollonides, selbst wenn wir ihm konzedieren, daß die von ihm empfohlene Therapie den medizinischen Vorstellungen seiner Zeit entsprach, seine Stellung als Arzt dazu ausgenutzt hat, mit der von ihm begehrten Frau Geschlechtsverkehr zu haben, scheint in diesem Zusammenhang weder für die Beteiligten noch für den Berichterstatter eine Rolle gespielt zu haben. Zumindest hat Ktesias auf jedes moralische Urteil über das Verhalten seines Kollegen verzichtet, so daß wir mit einer gewissen Berechtigung annehmen dürfen, daß der geschlechtliche Umgang mit den Patienten, der nach den deontologischen Bestimmungen des sogenannten hippokratischen Eides unter die unehrenhaften Handlungen fällt, deren der Arzt
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Die Fragmente der Griechischen Historiker (FGrHist) 688 F 20, hrsg. v. F. Jacoby, III C, Leiden 1958, S. 475,29–476,13. FGrHist 688 F 45: III C, S. 497,25f. FGrHist 688 F 14: III C, S. 467,28–468,6. Zum Folgenden vgl. G. Harig und J. Kollesch, Der hippokratische Eid. Zur Entstehung der antiken medizinischen Deontologie, Philologus 122 (1978), S. 174f.
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sich zu enthalten hat45, weder von dem koischen Arzt Apollonides noch von dem Knidier als Verstoß gegen die ethischen Prinzipien ärztlichen Verhaltens betrachtet wurde. Diese Feststellung ist im Hinblick auf die Arzt-Patient-Beziehung in der Antike insofern interessant, als sie deutlich macht, daß es selbst für die zur ärztlichen Elite zählenden Ärzte aus Kos und Knidos keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, daß sie sich in ihrem Auftreten gegenüber den Kranken an irgendwelche ethischen Normen gebunden fühlten oder gar die in dem eben genannten Eid ausgesprochene Forderung nach dem Schutz der persönlichen Integrität des Patienten zum obersten Grundsatz ihres ärztlichen Handelns erhoben hätten. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß die uns bekannte Tradition der knidischen Ärzteschule bis in die Zeit um 300 v.u.Z. hinabreicht und daß als bekanntester Vertreter der späteren knidischen Medizin Chrysipp gilt, dessen Lehren sich bekanntlich Erasistratos zu eigen gemacht hat. Diese späte Tradition der knidischen Schule ist indessen für uns, die wir | uns mit Knidos als dem Zentrum der frühen griechischen wissenschaftlichen Medizin beschäftigen wollten, belanglos. Von Belang ist jedoch noch die Beantwortung der Frage, inwieweit die alte knidische Medizin eine eigene Wertigkeit aufwies und ob grundsätzliche Unterschiede zu der Heilkunde der koischen Schule bestanden. Wenn die von uns eingangs erwähnte inschriftliche Bezeugung der Gemeinschaft der koischen und knidischen Asklepiadenfamilien eine scharfe Trennung zwischen den theoretischen Auffassungen der Ärzte von Kos und Knidos in der ältesten Entwicklungsperiode nahezu mit Sicherheit ausschließt, so ist das Problem, das durch die Forschungsergebnisse von Grensemann und Jouanna aufgeworfen wurde, schwieriger zu lösen.46 Ich will keineswegs bestreiten, daß eine eingehende formale und sprachlichstilistische Analyse der nosologischen und gynäkologischen Texte des Corpus Hippocraticum, wie sie von ihnen vorgenommen wurde, wichtig ist, weil sie dazu beitragen kann, innere Widersprüche in diesen Texten zu lösen und ihr Verhältnis zueinander näher zu bestimmen. Unsere Bemerkungen und Einwände gegen den Versuch, die „Knidischen Sentenzen“ zu rekonstruieren, zeigen indessen, daß wir keine Möglichkeit haben, mit ihrer Hilfe festzustellen, daß bestimmte Schriften des Corpus den „Sentenzen“ formal und inhaltlich besonders nahestehen, und daraus ihren knidischen Ursprung abzuleiten. Solange dies aber nicht möglich ist, erscheint es auch nicht statthaft, die in ihnen vertretenen medizinischen Lehren insgesamt für die knidische Schule in Anspruch zu nehmen und sie als Ausdruck bestimmter Entwicklungstendenzen allein innerhalb dieser Schule zu werten. Nimmt man hinzu, daß, wie Robert Joly gezeigt hat47, in allen Schriften des Corpus die Grundannahmen der hippokratischen Humoralpathologie nachgewiesen werden können und daß somit sowohl in den koischen wie in den als knidisch verdächtigen Schriften im wesentlichen gleiche theoretische Auffassungen vertreten werden, so wird man nicht umhinkönnen, einzugestehen, daß die knidische Medizin für uns weiterhin das bleiben muß, 45 46 47
Siehe Hippokrates, Iusiur. 6: CMG I 1, S. 5,1–4. Zum Folgenden vgl. J. Kollesch, a.a.O., S. 119–122 (= oben, S. 58–60). R. Joly, Le système cnidien des humeurs, in: La Collection hippocratique et son rôle dans l’histoire de la médecine. Colloque de Strasbourg (23–27 octobre 1972), hrsg. v. L. Bourgey und J. Jouanna, Leiden 1975 (Université des Sciences Humaines de Strasbourg, Travaux du Centre de Recherche sur le Proche-Orient et la Grèce Antiques 2), S. 107–127.
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was sie auch bislang schon war, nämlich ein untrennbarer und schwer abzugrenzender Bestandteil der griechischen wissenschaftlichen Heilkunde des 5. und 4. Jh., wie sie sich uns als Ganzes in der hippokratischen Schriftensammlung darstellt und wie sie sich im Gegensatz zu der vorgriechischen Heilkunde vor allem im Abstreifen von religiös-magischen Vorstellungen über den Ursprung der Krankheit sowie im Begreifen der Krankheit als eines sich in einem bestimmten Zeitraum abspielenden Prozesses äußert. Wir werden, so glaube ich, der historischen Realität weit eher gerecht, | wenn wir uns darum bemühen, die griechische Medizin aus der Zeit zwischen 450 und 350 als das Ergebnis einer ständigen wechselseitigen Beeinflussung zwischen Kos und Knidos zu begreifen und die unterschiedlichen Auffassungen in bestimmten Fragen als Vielfalt in der Einheit zu erklären, anstatt immer wieder nur von zwei rivalisierenden Schulen zu sprechen und um jeden Preis nach fundamentalen Unterschieden in den Lehrmeinungen der Ärzte von Kos und Knidos zu suchen.
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3. DIE MEDIZIN UND IHRE SOZIALEN AUFGABEN ZUR ZEI T DER POLISKRISE*
I. Die Entstehung der wissenschaftlichen Medizin in Griechenland Da die griechische Medizin aus der Zeit der Poliskrise als das Ergebnis einer um die Mitte des 5. Jahrhunderts v.u.Z. einsetzenden Entwicklung auf diesem Gebiet gesehen werden muß, kann man bei dem Versuch einer Darstellung dieser Medizin nicht umhin, auch die Heilkunde der unmittelbar voraufgehenden Epoche in die Betrachtung mit einzubeziehen. Denn nur so werden die Tendenzen, die für die Medizin im ausgehenden 5. Jahrhundert bestimmend wurden, in ihrer ganzen Tragweite verständlich. Im 5. Jahrhundert entwickelte sich aus der Heilkunde des frühen Griechenlands, deren tragende Bestandteile ähnlich wie in anderen Frühkulturen eine auf empirisch gewonnenen Kenntnissen beruhende Volksmedizin und eine von den Priestern ausgeübte und kontrollierte, ebenfalls empirisch bestimmte Tempelmedizin waren, eine völlig neue Medizin, der erstmals in der Geschichte der Menschheit wissenschaftliche Fragestellungen und Konzeptionen zugrunde lagen. Ganz allgemein kann man als Besonderheit dieser Medizin das Bemühen der Ärzte hervorheben, die Vorgänge im gesunden und kranken Körper rational zu erklären. Eben dadurch wurde diese Medizin in den Stand gesetzt, sich selbst wissenschaftliche Grundlagen zu erarbeiten und damit wiederum zur Quelle und zum Ausgangspunkt für die gesamte nachfolgende Entwicklung der Medizin bis auf unsere Zeit zu werden. Im Gegensatz zu den anderen Mittelmeervölkern, die lange vor den Griechen bedeutende empirische medizinische Kenntnisse gesammelt und in ihren medizinischen Systemen ausgewertet hatten, blieben die griechischen Ärzte nicht auf dieser Stufe stehen, sondern versuchten, nachdem auch das von den Nachbarvölkern übernommene Wissensgut assimiliert worden war, die Gesetzmäßigkeiten medizinischer Phänomene zu erforschen. Beispielsweise war es nicht nur den Griechen bekannt, daß eine geschiente Fraktur besser heilt als eine, die nicht geschient ist. Aber die griechischen Ärzte waren die ersten, die danach fragten, warum dies so ist. Und gerade dieses Suchen nach den Ursachen, das zu einer Zeit einsetzte, zu der der hohe Entwicklungsstand des abstrakten Denkens eine naturwissenschaftliche Begriffsbildung erlaubte, sollte die Grundlage für die rationale Betrachtungsweise in der griechischen Medizin bilden. Denn unter diesen Voraus|setzungen konnte auf dem Gebiet der Medizin nicht nur eine ungeheure Menge an Wissen erworben, sondern auch – und das ist fast noch entscheidender – eine wissenschaftliche Methodik entwickelt werden, die es ermöglichte, mit diesem Wissen zu arbeiten, es einzuordnen und zu systematisieren, die, kurz gesagt, die Medizin zu einer Wissenschaft im modernen Sinne machte. * Erschienen in: Hellenische Poleis. Krise – Wandlung – Wirkung, hrsg. v. E. Ch. Welskopf, Berlin 1974, S. 1850–1871.
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Die Medizin und ihre sozialen Aufgaben
Die entscheidenden Impulse für diese Entwicklung im Bereich der Naturwissenschaften und speziell der Medizin waren von Ionien ausgegangen. Im Verlauf der endgültigen Herausbildung der Polisform des gesellschaftlichen Lebens auf der ökonomischen Basis eines noch gebundenen Privateigentums am Boden und des freien Eigentums am versklavten Menschen, die sich zuerst in den Küstenstädten Kleinasiens vollzog, machte der Kampf der Kaufleute und Handwerker um eine demokratische Regierungsform im Gegensatz zu den konservativen Kräften und den alten Institutionen auch die Bahn frei für eine neue Denkweise, die entgegen der Tradition der eigenen Vergangenheit wie der der Nachbarvölker nicht mehr mythischtheologisch bestimmt war, sondern konkrete naiv-materialistische und rationale Erklärungen für die in Natur und Gesellschaft beobachteten Erscheinungen zu geben strebte. Dieses Bemühen fand seinen Ausdruck in den verschiedenen Lehren der ionischen Naturphilosophen, unter deren Einfluß die Ärzte lernten, den Menschen als einen Bestandteil des Weltganzen zu sehen, nach Ursprung und Aufbau des menschlichen Körpers zu fragen und in Abhängigkeit davon die körperlichen Vorgänge erstmalig als ein auf natürlichen Ursachen beruhendes Geschehen zu erklären. Der Einfluß, den die ionische Naturphilosophie auf die Entwicklung der Heilkunde ausübte, war freilich nicht der einzige Faktor, dem die Medizin ihre wissenschaftliche Grundlegung verdankte. In gleicher Weise fruchtbar wirkte sich auch die Entstehung der Lehren aus, die wir heute unter dem Begriff Diätetik zusammenzufassen gewohnt sind und die ebenso wie die Naturphilosophie Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung sind, in deren Verlauf der Mensch als natürliches und gesellschaftliches Wesen eine neue, höhere Wertung erfahren hatte. Wissenschaftlich gesehen, lag der Diätetik die bahnbrechende Erkenntnis des Herodikos von Selymbria zugrunde, daß das Verhalten des menschlichen Körpers weitgehend von Faktoren wie Nahrungsaufnahme, Schlaf, körperlicher und seelischer Belastung, Körperpflege, Klima und ähnlichem abhängig ist. Das bedeutete einmal, soweit es die Anwendung der Diätetik bei der Therapie der Krankheiten betraf, eine, gemessen an der relativ geringen Zahl der damals bekannten wirksamen Medikamente, enorme Bereicherung der Behandlungsmöglichkeiten von inneren Krankheiten, und zum anderen wurden mit der Einführung der Diätetik als eines medizinischen Fachgebietes erstmalig in der Geschichte der Medizin die Grundlagen für einen prophylaktischen Gesundheitsschutz geschaffen. Die prophylaktischen Anwendungsmöglichkeiten der Diätetik weisen sie aber gleichzeitig auch als ein gesellschaftliches Phänomen aus, das durch die sozialen Verhältnisse der Polisdemokratie geprägt war. Denn erst diese Gesellschaftsordnung, die sich auf die formelle Gleichberechtigung aller freien Bürger einer Stadt gründete und damit die Gesundheit jedes einzelnen zu einem auch im Interesse des | Staates bewahrenswerten Gut machte, ermöglichte den Gedanken an eine Durchführung gesundheitsprophylaktischer Maßnahmen in größerem Umfang. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, sind unseres Erachtens die Anfänge der wissenschaftlichen Medizin der Griechen noch als ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung zur Zeit des Aufstiegs und der Blüte der Polisdemokratie anzusehen und dürfen infolgedessen ungeachtet der zeitlichen Koinzidenz und trotz ihres im wahrsten Sinne des Wortes umwälzenden Charakters nicht als Auswirkung der zu Beginn der Poliskrise neu einsetzenden Tendenzen verstanden werden. Die Entwicklung der Medizin stellt also in dieser Hinsicht, verglichen mit vielen anderen Erscheinungen des
Die Medizin und ihre sozialen Aufgaben
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kulturellen Lebens in der Zeit der Poliskrise, eine Besonderheit dar, sie steht in gewissem Sinne noch auf einer gesellschaftlich früheren Stufe; die Veränderungen der Verhältnisse in der Gesellschaft des ausgehenden 5. Jahrhunderts werden in der Medizin erst zu einem späteren Zeitpunkt spürbar. Die Entwicklungstendenzen auf den verschiedenen Gebieten haben sich hier um eine gewisse Zeitspanne gegeneinander verschoben. a) Die hippokratische Frage Der Prozeß der Verschmelzung der verschiedenen Richtungen der frühgriechischen Medizin und der Durchdringung der medizinischen Empirie mit den von den Naturphilosophen übernommenen Lehren und Fragestellungen ebenso wie der Kampf der im Verlaufe dieses Prozesses entstandenen neuartigen Medizin um ihr Selbstverständnis als einer eigenständigen Wissenschaft werden für uns erstmals in medizinischen Texten aus dem ausgehenden 5. Jahrhundert faßbar, die den ältesten Bestand der Schriftensammlung darstellen, die unter dem Namen des koischen Arztes Hippokrates (um 460–370) überliefert ist. Das „Corpus Hippocraticum“ ist eine Sammlung von 58 Schriften in 73 Büchern, die vor allem aus dem 5.–4. Jahrhundert stammen und formal wie inhaltlich gleichermaßen divergieren. In formaler Hinsicht lassen sich hypomnematische Aufzeichnungen von Spruchsammlungen, Lehrvorträgen und monographischen Werken unterscheiden, während die Vielfalt des Inhalts, einmal ganz abgesehen von den schulmäßig gebundenen unterschiedlichen Auffassungen zu bestimmten sachlichen Problemen, in dem Nebeneinander von Schriften zur Pathologie, Chirurgie, Gynäkologie, Ätiologie, Prognose, Diätetik, zu Fragen der Physiologie, der ärztlichen Ethik oder der Bestimmung der theoretischen Grundlagen der Medizin ihren Ausdruck findet. Von allen diesen Abhandlungen, so verschieden sie nach Inhalt und Form auch sind, kann jedoch keine mit Sicherheit dem Hippokrates selbst als Verfasser zugewiesen werden, da über Leben und Werk dieses Arztes, der bereits in der Antike als der Begründer der neuen, wissenschaftlichen Medizin galt und dessen Lehren unzweifelhaft die Heilkunde seiner Zeit geprägt haben, nur einige wenige authentische Nachrichten erhalten sind. Die Frage, ob sich unter den im „Corpus Hippocraticum“ zusammengefaßten Schriften echte Hippocratica finden und welche dies sind, wurde seit der Antike1 immer wieder zum Gegenstand gelehrter Untersuchungen gemacht, freilich ohne daß es bis heute möglich gewesen wäre, eine eindeutige Antwort darauf zu fin|den2. Als greifbares Ergebnis dieser ständigen Diskussionen können wir jedoch festhalten, daß
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Der Arzt Galen von Pergamon hat diesem Gegenstand sogar eine selbständige Abhandlung mit dem Titel Περὶ τῶν γνησίων τε καὶ vόθων Ἱπποκράτους συγγραμμάτων gewidmet (s. Gal., In Hipp. De nat. hom. comm. I Prooem.: CMG V 9,1, S. 7,19f.). Einen knappen Überblick über den Stand der Forschung zur sog. hippokratischen Frage gibt H. Diller, Stand und Aufgaben der Hippokratesforschung, Jahrbuch d. Akad. d. Wiss. u. d. Lit., 1959, 275–282; s. ferner H. Grensemann, Der Arzt Polybos als Verfasser hippokratischer Schriften, Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Mainz, Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl., 1968, Nr. 2, Wiesbaden 1968, und J. Jouanna, Le médecin Polybe est-il l'auteur de plusieurs ouvrages de la Collection hippocratique?, Revue des études grecques 82, 1969, 552–562.
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sich innerhalb der Sammlung anhand deutlich unterschiedlicher Tendenzen vor allem in der Nosologie zwei größere Schriftengruppen herausschälen lassen3. Die eine Gruppe von Abhandlungen, unter ihnen besonders die Epidemien, das Prognostikon, die Aphorismen und die chirurgischen Werke Über das Einrenken der Gelenke und Über Knochenbrüche, kann der koischen Ärzteschule zugewiesen werden, da sowohl die in ihnen vorgetragene individualisierende Krankheitsauffassung wie auch die betonte Einbeziehung der klimatischen Verhältnisse in die ärztliche Betrachtungsweise nach antiken Zeugnissen für das Lehrgut dieser Schule typisch waren, als deren geistiger Ahnherr Hippokrates galt. Aus diesem Grunde darf man vielleicht sogar vermuten, daß die frühesten Schriften dieser Gruppe, die Epidemienbücher 1 und 3, das Prognostikon und die beiden genannten chirurgischen Schriften, von Hippokrates selbst stammen oder doch wenigstens unter seinem unmittelbaren Einfluß geschrieben wurden. Sicher koischen Ursprungs ist auch die Abhandlung Über die Natur des Menschen, die den Arzt Polybos, Schüler und Schwiegersohn des Hippokrates, zum Verfasser hat. Von dem koischen Schriftenkomplex läßt sich eine zweite in sich geschlossene Gruppe von Abhandlungen abgrenzen, die durch eine im Unterschied zu den koischen Lehren in symptomatologischer Hinsicht stark schematisierende Nosologie gekennzeichnet sind und sich damit als Lehrschriften der knidischen Ärzteschule zu erkennen geben, die sich der Überlieferung zufolge vor allem mit gewissen systematisierenden Bestrebungen hervorgetan hat. Zu diesen Texten gehören unter anderem die gynäkologischen Traktate, ein kleinerer Schriftenkomplex zur Embryologie und die aus den „Knidischen Gnomen“, dem Standardlehrbuch der knidischen Ärzteschule, hervorgegangenen Schriften pathologischen Inhalts. Das Entstehen der Hippokratischen Sammlung ist am überzeugendsten damit erklärt worden, daß sie aus den Beständen der Bibliothek der Ärzteschule von Kos hervorgegangen ist, die zwar unter den Namen des Hippokrates gestellt worden war, die aber im Hinblick auf den Bedarf ihrer Benutzer neben koischen Schriften auch Werke der benachbarten Ärzteschule von Knidos und anderer medizinischer Autoren umfaßte, die in keiner unmittelbaren Beziehung zu diesen beiden Schulen standen4. Dieser Tatbestand ist auch deswegen äußerst bedeutsam, weil er einen regen geistigen Austausch zwischen den verschiedenen medizinischen Schulen im antiken Griechenland erkennen läßt und deutlich macht, daß die wissenschaftliche Medizin auf dem Boden einer sicherlich recht lebhaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung entstanden ist. b) Die Hippokratische Medizin Mögen die inhaltlichen wie formalen Unterschiede zwischen den einzelnen Schriften des „Corpus Hippocraticum“, wie wir festgestellt haben, auch noch so groß sein, ihnen allen ist gemeinsam, daß sie von dem durch die Lehren des Hippokrates inau3
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Für die folgenden Ausführungen s. K. Deichgräber, Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum. Voruntersuchungen zu einer Geschichte der koischen Ärzteschule, Berlin 1933, bes. 9–146; J. Ilberg, Die Ärzteschule von Knidos, Ber. über die Verhandl. d. Sächs. Akad. d. Wiss. Leipzig, Phil.-hist. Kl. 76, 1924, 3. H., Leipzig 1925, und H. Diller, Stand und Aufgaben der Hippokratesforschung, 279–282. Siehe J. Ilberg, ebenda, 25f.; H. Diller, ebenda, 281f.
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gurierten wissenschaftlichen Geist der Medizin geprägt sind. Sie alle | legen Zeugnis ab für den grundlegenden Wandel, der sich innerhalb der griechischen Medizin des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts vollzogen hatte und mit der Hippokratischen Heilkunde, wie wir zu Recht sagen dürfen, den Anfang der wissenschaftlichen Medizin überhaupt setzte, und so erscheint es gerechtfertigt, im folgenden diese Medizin als geschlossenes Ganzes zu behandeln und in ihren Grundzügen darzustellen.
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1. Die theoretischen Grundlagen Im Gegensatz zur modernen Medizin spielte die Anatomie in der Hippokratischen Heilkunde, wie auch in allen anderen medizinischen Systemen der Frühzeit, als Grundlage medizinischer Konzeptionen keine wesentliche Rolle. Das hat seinen Grund außer in religiösen Vorstellungen, die eine Sektion menschlicher Körper nicht zuließen, vor allem darin, daß die spekulativ-philosophische Konzeption der damaligen Medizin, die, wie bereits angedeutet, von der Identität alles Seins ausging, das anatomische Wissen weitgehend überflüssig machte. So wird es verständlich, daß sich die anatomischen Kenntnisse der Hippokratiker im wesentlichen auf den Knochenbau des menschlichen Körpers beschränkten. Sie beruhten auf zum Teil offenbar recht sorgfältigen Studien am menschlichen Skelett, während anatomische Sektionen zur Zeit des Hippokrates nur ganz vereinzelt und auch dann nur an Tieren durchgeführt wurden, so daß die Ärzte dieser Epoche im allgemeinen gar keine oder doch nur recht unklare Vorstellungen vom Bau und von den Funktionen der inneren Organe hatten. Im Unterschied zur Anatomie gelangte man auf dem Gebiet der Physiologie bereits in dieser Frühzeit der wissenschaftlichen Medizin zu beachtlichen Ergebnissen, die trotz ihres spekulativen Charakters für die gesamte antike Medizin, soweit sie humoralpathologisch orientiert war, eine brauchbare Arbeitsgrundlage darstellten. Im Zentrum der physiologischen Konzeption der Hippokratiker stand der von der Naturphilosophie übernommene Begriff der Physis, unter dem im medizinischen Bereich zunächst im umfassendsten Sinne die allgemein menschliche Natur verstanden wurde und dessen Weiterentwicklung schließlich zur Gleichsetzung der Physis mit der individuellen Körperkonstitution führte. Diese Entwicklung ist aufs engste mit der Lehre von den Körpersäften verbunden, welche die Grundlage der Hippokratischen Physiologie bildete. Sie ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der von den Naturphilosophen entwickelten Elementenlehre und ihrer Übertragung auf den menschlichen Körper. Wie es nach jenen Vorstellungen im Weltall Elemente gibt, sei es eins, seien es mehrere, aus denen sich dies zusammensetzt, so sind es im menschlichen Körper die Säfte, die für dessen Konstitution verantwortlich sind. Befinden sich diese, wie es in Anlehnung an die Isonomievorstellungen des Alkmaion von Kroton heißt, in der richtigen Mischung (Eukrasie), so bedeutet das Gesundheit; ist die Mischung jedoch durch das Überwiegen des einen oder das Fehlen eines anderen Saftes gestört, liegt also eine Dyskrasie vor, so ist der Körper krank. Die Hippokratische | Säftelehre wurde von dem schon erwähnten Schüler des Hippokrates, von Polybos, in kritischer Auseinandersetzung mit den monistischen Auffassungen der ionischen und eleatischen Naturphilosophen am konsequentesten durchgebildet und in dem ersten Teil der Schrift Über die Natur des Menschen niedergelegt5. Seinen Ausführungen zufolge, 5
Siehe Hipp., De nat. hom. 1–10: VI 32–56 Littré.
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mit denen er sich vermutlich an die Vierelementenlehre des Empedokles anlehnte, gibt es vier Körpersäfte: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, denen in dem von ihm entwickelten Schema in Übereinstimmung mit der Vierqualitätenlehre des Zenon von Elea die Eigenschaften Warm/Feucht, Kalt/Feucht, Warm/Trocken und Kalt/Trocken beigelegt wurden. Ihnen treten noch die Jahreszeiten Frühling, Winter, Sommer und Herbst ergänzend zur Seite6. Die Humorallehre bot jedoch nicht nur die Möglichkeit, Gesundheit und Krankheit auf Grund wissenschaftlicher Kriterien als Eukrasie beziehungsweise Dyskrasie der im Körper vorhandenen Säfte zu erklären. Sie erlaubte den Ärzten, noch einen weiteren Schritt zu tun und die bislang nur empirisch beobachteten konstitutionellen Unterschiede bei den einzelnen Menschen ebenfalls theoretisch zu begründen. Denn die Lehre von den Säften ließ im Bereich des gesunden ebenso wie des kranken Menschen eine so große Anzahl möglicher Mischungsverhältnisse zu, daß man mit ihr alle individuellen Varietäten erfassen konnte7. 2. Nosologie
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Die physiologische Konzeption der Hippokratiker hat ihre Krankheitslehre vor allem in zwei Punkten wesentlich bestimmt. Ausgehend von der Definition der Krankheit als einer Dyskrasie im Säftehaushalt des Körpers, vertraten die Hippokratischen Ärzte die Auffassung, daß es keine Erkrankungen von Einzelteilen des Organismus geben könne und daß die therapeutische Aufgabe des Arztes daher immer in erster Linie darin zu bestehen habe, die richtige Mischung der Säfte wiederherzustellen. Das heißt, daß der Hippokratiker bei jeder Art von Erkrankung, auch bei lokal begrenzten Krankheiten, den gesamten Organismus in die Behandlung mit einbeziehen mußte, eine Auffassung, die in der Forderung gipfelte, daß es für den Arzt im Grunde nur darauf ankomme, die heilende Kraft der dem menschlichen Körper eigentümlichen Natur zu unterstützen, die von selbst eine Wiederherstellung normaler Verhältnisse im Säftehaushalt anstrebt und nur unter extrem gestörten Bedingungen der regulierend eingreifenden Hand des Arztes bedarf. Die zweite Besonderheit der Hippokratischen Krankheitslehre bestand darin, daß sich die Hippokratiker, das heißt speziell die koischen Ärzte, von den traditionellen Vorstellungen von festen Krankheitszuständen frei gemacht hatten und an ihre Stelle die Lehre von der Vielfalt individueller Krankheitsformen treten ließen. Die Grundlage hierfür bildete die Erkenntnis, daß sich die den einzelnen Menschen eigenen unterschiedlichen Körperkonstitutionen auch auf das jeweilige Krankheitsgeschehen auswirken müssen, so daß niemals eine Krankheit schlecht|hin, sondern immer nur 6
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Siehe Hipp., De nat. hom. 4. 5. 7: VI 38,19–40,2; 40,15–17; 46,9–48,20 Littré; vgl. auch E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beiheft 4, Wiesbaden 1964, 17–21. Einer stark individualisierenden Medizin wird vor allem in der Schrift Περὶ ἀρχαίης ἰητρικῆς, die in der ersten Hälfte des 4. Jh. entstanden sein dürfte, das Wort geredet (1–24: CMG I 1, S. 36–55). Entsprechende Hinweise finden sich aber auch bereits in den älteren Werken des „Corpus Hippocraticum“: z.B. De artic. 8: II 120,15f. Kühlewein = IV 94,2 Littré, wo es heißt, daß der Arzt wissen muß, daß sich die einzelnen Konstitutionen sehr voneinander unterscheiden, oder Epid. I 23: I 199,10f. Kühlewein = II 668,14–670,1 Littré, wo neben der allen Menschen gemeinsamen Natur auch die individuelle Physis jedes einzelnen als Lehrmeister der Ärzte genannt wird.
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die sich aus der individuellen Physis des Patienten ergebende spezielle Form des Krankseins zu behandeln war. Daraus resultierte auch insofern eine völlig neue Auffassung vom Wesen der Krankheit, als die Hippokratischen Ärzte in ihr nicht mehr etwas Statisches sahen, sondern sie als einen sich entwickelnden Prozeß verstehen gelernt hatten, in den man eingreifen und den man durch therapeutische Maßnahmen verändern konnte. Diese Erkenntnis ist medizinhistorisch von größter Bedeutung, weil sie der erste Schritt auf dem Wege war, das Wesen einer Krankheit adäquat zu erfassen, und so ist es auch kein Zufall, daß es die Hippokratiker waren, die zum erstenmal in der Geschichte der Medizin die einzelnen Stadien des jeweiligen Krankheitsgeschehens in Form von Krankengeschichten, wie sie auch heute noch üblich sind, festgehalten haben. Bereits die Definition der Krankheit als einer Störung im Säftehaushalt des Körpers läßt erkennen, daß die Hippokratischen Ärzte diese als ein natürliches Geschehen zu sehen gelernt hatten; und es bedeutete nur eine konsequente Umsetzung dieser Erkenntnis, wenn die Hippokratiker die im Volksglauben verwurzelten Vorstellungen, daß die Krankheiten durch das unmittelbare Eingreifen der Götter entstünden, als unwissenschaftlich ablehnten und ihnen in folgerichtiger Anwendung naturphilosophischer Anschauungen die Forderung nach der Erforschung der natürlichen Krankheitsursachen entgegenstellten. Am sinnfälligsten wird diese Haltung in der Schrift Über die heilige Krankheit, deren Autor es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Epilepsie, die sogenannte heilige Krankheit, ihres göttlichen Charakters zu entkleiden und nachzuweisen, daß sie ebenso wie jede andere Krankheit natürliche und rational faßbare Ursachen hat und – das ist die praktische Konsequenz daraus – auch mit natürlichen Mitteln zu behandeln ist8. Die sich aus dieser Haltung ergebende wissenschaftliche Krankheitsätiologie ist seit ihrer Begründung durch die Hippokratiker zu einem untrennbaren Bestandteil der wissenschaftlichen Medizin geworden. Als die wichtigsten Faktoren, die zur Entstehung von Krankheiten führen konnten, galten sowohl die Lebensweise des einzelnen Menschen, z.B. falsche Ernährung, übermäßige und unzureichende körperliche Belastung, Schlafstörungen und dergleichen mehr, wie auch Umwelteinflüsse, unter denen wir nach dem Zeugnis der Schrift Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse und anderer Hippokratischer Abhandlungen Klima, geographische Lage und Wasserverhältnisse zu verstehen haben. Die Ätiologie, die es erforderlich machte, daß der Arzt sich eine möglichst genaue Kenntnis von der Lebensweise des Patienten und den Bedingungen, unter denen er lebte, verschaffte, verlangte den Hippokratikern sorgfältige Beobachtung und gründliche Untersuchung der Kranken ab, als deren Ergebnis sich bereits in hippokratischer Zeit eine hochentwickelte Semiotik herausgebildet hatte. Als Krankheitszeichen waren unter anderem Veränderungen der Körperausscheidungen, der Beschaffenheit der Hautoberfläche, der Körpertemperaturen und eventuelle Geräusche in der Brusthöhle zu berücksichtigen. Ein geradezu klassisches Beispiel für die außerordentlich feine Beobachtungsgabe der Hippokratiker ist die Beschreibung des Aussehens eines Sterbenden, noch heute bekannt als | Facies Hippocratica, aus dem Anfang des Prognostikon: „die Nase ist spitz, die Augen sind hohl, die Schläfen eingefallen, die 8
Siehe Hipp., De morbo sacro, hrsg. u. übers. von H. Grensemann, Ars Medica II 1, S. 60–91 = V I 352–397 Littré.
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Ohren kalt und zusammengeschrumpft, die Ohrläppchen zurückgebogen, die Gesichtshaut ist hart, gespannt und schrumpelig und die Farbe des ganzen Gesichts blaß oder schwärzlich“9. Aber trotz der feinen Beobachtungsgabe und der hochentwickelten symptomatologischen Kenntnisse der Hippokratischen Medizin war eine Zusammenfassung verschiedener Symptome zu bestimmten Krankheitsbildern noch nicht möglich, und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens hätte ein solches Bemühen der Hippokratischen Auffassung vom Wesen einer jeden Erkrankung als einer individuellen singulären Form des Krankseins widersprochen, und zweitens waren die exakten Naturwissenschaften, die eine solche Auffassung hätten korrigieren können, als Wissenschaften noch nicht einmal geboren. So faßten die Griechen z.B. die verschiedenen Malariaformen als Erkrankungen sui generis auf, und es hat noch einer Zeit von mehr als 2000 Jahren bedurft, bis man mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der modernen Mikrobiologie die Ätiologie dieser Krankheit aufklären konnte. Die Hippokratischen Ärzte benutzten die von ihnen beobachteten Zeichen dagegen vielmehr, um mit ihrer Hilfe verbindliche Aussagen über den Verlauf und den Ausgang der jeweiligen Krankheit zu machen. Diese Art der Prognose war für die Medizin der damaligen Zeit in doppelter Hinsicht bedeutsam. Einmal bot sie dem Arzt sichere Anhaltspunkte für die von ihm einzuleitenden therapeutischen Maßnahmen, und zum anderen half sie ihm, bei richtiger Prognose das Vertrauen des Patienten zu gewinnen und damit eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Behandlung zu schaffen10. Denn bei einer Heilkunde wie der Hippokratischen, die weitgehend ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse auskommen mußte, spielte die positive Einstellung des Kranken zum Arzt und zu dessen Verordnungen im Hinblick auf eine erfolgreiche Therapie eine ungleich größere Rolle als in der modernen Medizin, die zwar auch nicht ganz auf das psychologische Moment in der Behandlung verzichten kann (der Wille des Patienten, gesund zu werden, kann sich auch heute durchaus positiv auf den Fortgang eines Genesungsprozesses auswirken), deren Behandlungsmethoden und -mittel in den meisten Fällen jedoch so zuverlässig sind, daß die Krankheiten in der überwiegenden Mehrzahl, ob mit oder ohne Zutun der von ihnen Betroffenen, geheilt werden können. 3. Therapie Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Hippokratischen Ärzte es als das Hauptanliegen der Therapie bezeichnet hatten, die Natur des menschlichen Körpers 9
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Hipp., Progn. 2: I 79,14–18 Kühlewein = II 114,2–6 Littré (Übersetzung zitiert nach H. Diller, Hippokrates, Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Griechische Literatur Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 64). Es ist das Verdienst von L. Edelstein, die Bedeutung des psychologischen Moments in der Hippokratischen Prognose herausgestellt zu haben (s. L. Edelstein, Περὶ ἀέρων und die Sammlung der hippokratischen Schriften, Problemata H. 4, Berlin 1931, 65f.). Man wird ihm allerdings nicht darin zustimmen können, daß allein die psychologische Komponente der Prognose wichtig war, sondern immer auch hervorheben müssen, daß die Vorhersage gleichzeitig auch in wissenschaftlicher Hinsicht ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel war, da durch sie die Festlegung der therapeutischen Verordnungen präzisiert wurde und auf diese Weise größere Behandlungserfolge gesichert waren, vgl. G. Harig, Medizin der griechisch-römischen Antike, in: Geschichte der Medizin. Einführung in ihre Grundzüge, hrsg. von A. Mette u. I. Winter, Berlin 1968, 59f.).
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bei der Wiederherstellung der Gesundheit zu unterstützen. Diesem Anliegen entsprach es, wenn sie bei der Behandlung von inneren Krankheiten nach Möglichkeit auf starke Mittel verzichteten und nur mit leichten Verordnungen in den Krankheitsverlauf eingriffen, was auch in dem in den Epidemien formulierten therapeutischen Grundsatz „nützen oder (doch) nicht schaden“11 seinen Ausdruck findet. Aus dieser Auffassung heraus wird es auch verständlich, daß die von | Herodikos von Selymbria inaugurierte und von den Hippokratikern weiterentwickelte Diätetik im Mittelpunkt der Hippokratischen Therapie steht. Denn im Unterschied zu medikamentösen Mitteln, die, innerlich oder äußerlich angewandt, als Fremdkörper auf den Menschen wirkten und unter Umständen große Veränderungen im Körper hervorrufen konnten, stellten die diätetischen Maßnahmen, seien es Krankendiät, körperliche Übungen, Massagen oder Umschläge der verschiedensten Art, nur eine gewisse Variation der üblichen Lebensweise dar, die eine ernsthafte Schädigung der physiologischen Vorgänge im Körper ausschloß und außerdem dem individuellen Zustand des Patienten beliebig angepaßt werden konnte. Diese Vorzüge und Qualitäten der Diätetik boten gleichzeitig die Möglichkeit, die Medizin über die eigentliche Krankenbehandlung hinaus erstmals auch in den Dienst des gesunden Menschen zu stellen. Die Vorteile, die dem antiken Menschen aus einer von den Ärzten vorgeschriebenen gesunden Lebensweise erwuchsen, waren kaum zu überschätzen, da im Altertum nicht nur die Zahl schwerer Krankheiten, die zu Siechtum oder Tod führten, unvergleichlich größer war als zu unserer Zeit, sondern überhaupt jede Art von Erkrankung eine Qual für den Betroffenen bedeuten konnte, so daß sich das Freisein von Krankheiten allgemein damals einer derart hohen Wertschätzung erfreute, wie wir sie heute kaum noch nachzuempfinden vermögen. Die diätetischen Vorschriften, wie sie in der Hippokratischen Schrift Über die Diät niedergelegt sind12, betreffen hauptsächlich die Ernährung und die körperlichen Übungen, die jeweils in Abhängigkeit von Körperkonstitution und Jahreszeiten zu variieren sind. Die große Chirurgie konnte in der Therapie der Hippokratiker kaum eine Rolle spielen, da die dafür erforderlichen Voraussetzungen wie Kenntnisse in der Anatomie, eine ausreichende Anästhesie und Asepsis fehlten. Dagegen brachten sie es in der Knochenchirurgie zu recht beachtlichen Leistungen, obwohl ihnen auch auf diesem Gebiet nur wenige und verhältnismäßig einfache Instrumente und Apparaturen zur Verfügung standen13. Die von den Hippokratischen Ärzten entwickelten Methoden zur Behandlung von Knochenbrüchen und Luxationen sind in der gesamten Antike unübertroffen geblieben – in hellenistischer Zeit wurden sie hier und da technisch verbessert – und finden zum Teil auch heute noch als konservative Behandlungsmethoden Anwendung.
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Hipp., Epid. I 11: I 190,3 Kühlewein = II 634,8–636,1 Littré: ὠφελεῖν ἢ μὴ βλάπτειν. Siehe Hipp., De diaeta I–IV: VI 466–663 Littré. Die beiden großen knochenchirurgischen Schriften Περὶ ἀγμῶν und Περὶ ἄρθρων ἐμβολῆς (II 46–244 Kühlewein = III 412–563 u. IV 78–327 Littré), die ursprünglich eine Einheit dargestellt haben, gehören, medizinisch gesehen, mit zu den wertvollsten Abhandlungen des gesamten hippokratischen Corpus.
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c) Medizin und Gesellschaft
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Ebenso wie der Prozeß der Entstehung der wissenschaftlichen Medizin wurde auch die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen der griechischen Polisdemokratie bestimmt. Anders als in den Griechenland benachbarten despotisch regierten orientalischen Staaten konnte sich hier der Arztberuf unabhängig von einer Priesterkaste, die das Wissen, speziell das medizinische Wissen, monopolisierte, entwickeln. Die Heilkunde galt als ein Handwerk und wurde wie jedes andere Handwerk als τέχνη bezeichnet, und derjenige, der sie ausübte, gehörte wie der Zimmermann oder der Architekt zu den δημιουργοί, zu denen, die Dienstleistungen verrichteten und für ihre Arbeit bezahlt wurden. | Neben frei praktizierenden Ärzten, die entweder in einer größeren Stadt ansässig waren oder als Wanderärzte im ganzen Lande umherzogen, gab es, wie uns bezeugt ist, schon in früher Zeit auch von den Städten angestellte und besoldete Gemeindeärzte, eine Erscheinung, die deutlich die antike, wohl vorwiegend aus den Verhältnissen der Polisdemokratie heraus verständliche Einsicht in die Notwendigkeit einer medizinischen Betreuung aller freien Bürger erkennen läßt. Es ist offensichtlich, daß diese Einsicht und die sich daraus ergebende Aufgabenstellung des Arztes das Ansehen der Medizin heben mußten, und sie sind deshalb geeignet, die positive Einstellung bereits der frühen griechischen Gesellschaft zur Medizin zu veranschaulichen. Die Ausbildung in der Medizin erfolgte bei einem selbständig praktizierenden Arzt oder in einer Ärzteschule, die wie die Schule der Asklepiaden auf Kos, nachdem die infolge des ständig wachsenden Ärztebedarfs steigende Zahl ihrer Mitglieder den Familienverband gesprengt hatte, einen der mittelalterlichen Handwerkszunft vergleichbaren Charakter angenommen hatten. Diese Entwicklung spiegelt sich in dem ersten Teil des sogenannten Hippokratischen Eides wider, in dem festgehalten ist, daß der Schüler seinen Lehrer wie seine leiblichen Eltern achten solle, daß er, wenn es erforderlich ist, für dessen eigenen Unterhalt und den seiner Kinder aufzukommen habe und daß er die als eine Art Zunftgeheimnis vermittelten medizinischen Kenntnisse nicht an Außenstehende weitergeben dürfe14. Der unter gesellschaftlich-sozialem Blickwinkel handwerkliche Charakter der Medizin, der sie anderen Handwerksberufen gleichstellte und der erhalten blieb, auch nachdem die Heilkunde von den Hippokratikern auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt worden war und die Ärzte in der Auseinandersetzung mit der Philosophie einerseits und mit der reinen Empirie andererseits zu einem Selbstverständnis ihres Faches als einer eigenständigen Wissenschaft gefunden hatten, erlaubte es – ungeachtet der Erscheinung des Gemeindearztes – nicht, daß sie in den Rang einer staatlichen Institution aufstieg, deren Aufgabe es gewesen wäre, sowohl die medizinische Ausbildung wie die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit zu kontrollieren und zu überwachen. Vielmehr stand es jedem frei, sich auf eigenes Risiko als Mediziner zu betätigen, und es konnte unter diesen Umständen nicht ausbleiben, daß die Vertreter des Arztberufes in ihrem Können recht große Niveauunterschiede aufwiesen und daß die wissenschaftlich gebildeten und tüchtigen Ärzte alles daran setzten, sich von den Scharlatanen, die den ärztlichen Stand in Verruf brachten, abzugrenzen. 14
Siehe Hipp., Iusiur. 1: CMG I 1, S. 4,5–12. Zu den mit dem Eid verbundenen Problemen s. unten, S. 1861f. (= unten, S. 86f.).
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In dem Kampf der Ärzte um berufliche und gesellschaftliche Anerkennung spielte die von den Hippokratikern zu höchster Perfektion entwickelte Prognose eine große Rolle, weil sie nicht nur, wie in anderem Zusammenhang bereits ausgeführt wurde, eine Handhabe bot, zwischen dem Arzt und dem Patienten ein Vertrauensverhältnis herzustellen, sondern gleichzeitig dazu diente, das Ansehen des Arztes zu erhöhen und zu schützen15. Denn wenn der Verlauf einer Krankheit die vom behandelnden Arzt gestellte Prognose bestätigte, so trug ihm das die Bewunderung sowohl des Kranken selbst wie der Menschen aus dessen Um|gebung ein und stellte die beste Empfehlung für ihn dar, weil er sich damit als Sachverständiger auf seinem Gebiet ausgewiesen hatte. Besonders wichtig war die richtige Voraussage des Krankheitsverlaufs für den Arzt daher auch im Falle eines tödlichen Ausgangs einer Krankheit oder beim Auftreten späterer Schäden, weil sie ihn davor bewahrte, daß der therapeutische Mißerfolg seinem persönlichen Versagen zur Last gelegt wurde. Darüber hinaus waren es gerade die prognostischen Fähigkeiten, die den antiken Arzt weitgehend unabhängig von den Aussagen seiner Patienten machten, was um so wichtiger war, als in der antiken Medizin für die klinische Untersuchung der Kranken keinerlei technische Hilfsmittel zur Verfügung standen, mit denen exakte Untersuchungsergebnisse ermittelt werden konnten. Die Grundlage, von der aus der Arzt die Richtigkeit der von dem Kranken oder von den Familienangehörigen gemachten Angaben über das Entstehen der Krankheit und das Einhalten der ärztlichen Verordnungen beurteilen konnte, waren allein sein eigenes Wissen und seine persönliche Erfahrung, die ihn auch in den Stand setzten, Täuschungsversuche von seiten der Patienten aufzudecken und bei einem durch falsches Verhalten des Kranken verursachten schlimmen Ausgang einer Krankheit die Verantwortung mit Recht abzulehnen. Die Anwendung der Prognose nicht nur als einer wissenschaftlichen Methode, sondern auch aus, wie wir sahen, rein utilitaristischen Interessen heraus setzte ein hohes Verantwortungsbewußtsein voraus, wenn sie nicht am Patienten vorbeigehen und nur zu Reklamezwecken mißbraucht werden sollte. Daß der Gesichtspunkt der Reklame in der Praxis häufig genug in den Vordergrund gestellt wurde, geht aus solchen Äußerungen hervor, wie sie sich in der Schrift Über das Einrenken der Gelenke finden, wo es heißt, daß es Ärzte gibt, die ohne Rücksicht auf die Kranken, nur um Aufsehen zu erregen, spektakuläre Behandlungsmethoden anwenden16. Da der Hippokratische Arzt mit dieser und ähnlichen Bemerkungen jedoch nicht nur eine Feststellung trifft, sondern gleichzeitig auch seine Kritik an einem solchen für die Heilkunst unwürdigen Verhalten seiner Berufskollegen zum Ausdruck bringt17, beweist dies andererseits deutlich, daß bereits in hippokratischer Zeit bei den Ärzten ein ausgeprägtes Standesbewußtsein und gewisse ethische Normen anzutreffen waren, die dazu beitragen konnten, die Beziehungen zwischen dem Arzt und seinem Patienten in einer für beide Seiten dieser Partnerschaft befriedigenden Weise zu regeln.
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Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch G. Harig u. J. Kollesch, Arzt, Kranker und Krankenpflege in der griechisch-römischen Antike und im byzantinischen Mittelalter, Helikon 13–14, 1973–1974, 216f. Hipp., De artic. 42: II 167,9–16 Kühlewein = IV 182,14–20 Littré. Siehe ebenda 42 u. 44: II 167,16f.; 168,3–5; 171,7–10 Kühlewein = IV 182,20f.; 184,2–4; 188,14–16 Littré.
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Die Herausbildung einer ärztlichen Standesethik, eine der eindrucksvollsten und nachhaltigsten Leistungen der Hippokratischen Medizin überhaupt, geschah ebenfalls in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung, die das Griechenland des 6. und 5. Jahrhunderts genommen hatte. Wie schon gesagt wurde, gehörte der Arztberuf in der Antike zu den Handwerksberufen, und die Ärzte waren in ihrem sozialen Status allen übrigen Gewerbetreibenden gleichgestellt. Demzufolge gab es in den griechischen Stadtstaaten auch keine behördliche Instanz, von der die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit überwacht wurde. Der Arzt übte seinen Beruf vielmehr wie jeder Handwerker und Geschäftsmann auf eigene Verantwortung aus. Es gab niemanden, der seine Rechte, auch in finan|zieller Hinsicht, schützte, aber auch keinen, der die Kranken davor bewahrte, von den Ärzten betrogen und ausgenutzt zu werden. Wurde ein Arzt zu einem Patienten gerufen, so wurde diese Bindung zwischen beiden nach Art anderer Geschäftsbeziehungen vertraglich geregelt: Der Arzt übernahm die Verpflichtung, die Behandlung im Rahmen seiner Möglichkeiten durchzuführen, während sich der Kranke zu einem Honorar in einer bestimmten Höhe verpflichtete. Das Besondere an dieser „Geschäftsbeziehung“ war jedoch, daß es hierbei immer um das Leben und die Gesundheit eines Menschen ging, der auch als Kranker Anspruch darauf hatte, daß seine Würde als Mensch gewahrt blieb. Dies war aber, wenn wir die Medizin der Griechenland benachbarten Völker einmal zum Vergleich heranziehen, keineswegs selbstverständlich; vielmehr haben wir darin etwas spezifisch Neues zu sehen, das die demokratischen Verhältnisse im griechischen Polisstaat widerspiegelt, in dem alle freien Bürger formell gleichberechtigt waren, und darüber noch hinausgehend der von dem Sophisten Antiphon geäußerten Forderung gerecht wird, die Menschen ihrer gleichen natürlichen Körperlichkeit entsprechend zu achten, Reiche wie Arme, Sklaven wie Freie. Das Bewußtsein, daß der Arzt in jedem seiner Patienten nicht nur ein Objekt vor sich hat, an dem er seine Kunst beweisen kann, sondern einen Menschen, der als solcher, als Persönlichkeit, geachtet zu werden verdient, treffen wir im Bereich der Medizin zum erstenmal bei den Hippokratischen Ärzten an. Ihre Auffassung entspricht der seit dem Ende des 5. Jahrhunderts im weltanschaulichen und ethischen Bereich immer stärker vordringenden Betonung des Menschen als Mittelpunkt, die ihre Entsprechung auch in dem Homo-mensura-Satz des Protagoras hat und für die Medizin insofern fruchtbar gemacht wurde, als die Hippokratischen Ärzte daraus ihre Verhaltensnormen ableiteten. Die ethischen Grundsätze, wie sie uns allenthalben in den Hippokratischen Schriften begegnen, sind also von dem Gedanken bestimmt, daß sich der Arzt in seinem Handeln und Auftreten stets von dem Wohl des Patienten leiten zu lassen habe. Diesem übergreifenden Gesichtspunkt ordnet sich auch der Pflichtenkodex unter, der den zweiten Teil des bereits erwähnten Eides ausmacht18. Im einzelnen wird die generelle Forderung, daß der Arzt immer zum Nutzen der Kranken handeln solle, hier vor allem durch folgende Bestimmungen präzisiert: Der Arzt darf keine tödlich wirkenden oder abtreibenden Mittel verabreichen; er soll bei der Behandlung der Kranken keine Unterschiede machen, weder zwischen Freien und Sklaven noch zwischen Männern und Frauen; er soll seine Vertrauensstellung, die er als Arzt bei seinen Patienten genießt und die ihm jederzeit Zugang zu jedermann verschaffte, nicht zu unehrenhaf18
Vgl. H. Diller, Hippokrates, Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, S. 7.
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ten Handlungen ausnutzen, und er soll absolutes Schweigen wahren über alles, was er in seiner Eigenschaft als Arzt hört oder sieht19. Die Datierung und geistesgeschichtliche Einordnung dieses Eides, dessen Pflichtenkodex bis heute im wesentlichen die ethische Grundlage ärztlichen Handelns geblieben ist, sind noch immer umstritten20. Im Jahre 1943 hatte L. Edelstein21 mit seiner grundlegenden Arbeit zum Hippokratischen Eid eine lebhafte Diskussion in Gang gesetzt. Die Hauptergebnisse seiner Untersuchung, nämlich, daß der | Eid ein Pythagoreisches Dokument sei und in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts v.u.Z. datiert werden müsse22, werden heute allgemein mit Recht in Zweifel gezogen. Durchgesetzt hat sich dagegen Edelsteins These, daß der Eid ein Schriftstück ist, das vom Inhaltlichen her weder in den anderen hippokratischen Schriften noch in dem sonst üblichen Verhalten der griechischen Ärzte eine Entsprechung findet, vielmehr esoterischen Charakter hat und die ethischen Anschauungen lediglich einer kleinen und isolierten Gruppe von Ärzten zum Ausdruck bringt23. Diese These ist in jüngster Zeit von F. Kudlien aufgegriffen und in der Weise zugespitzt formuliert worden, daß, wenn man den Eid als Dokument einer bestimmten Ärztegilde gelten lassen will – was prinzipiell möglich wäre –, diese ein seltenes Phänomen gewesen sein müsse, daß der Eid aber ebensogut auch isoliert von einem einzelnen Arzt verfaßt worden sein könne und in diesem Fall die ethischen Auffassungen nur eines einzelnen wiedergeben würde24, ohne jemals gesellschaftlich wirksam geworden zu sein. Die Annahme einer so weitgehenden Exklusivität des Eides erscheint jedoch nicht gerechtfertigt. Denn entgegen der Behauptung von L. Edelstein, daß das an die Ärzte gerichtete Verbot, schwangeren Frauen Abortiva zu geben, in der Realität der ärztlichen Praxis keine Entsprechung hatte25 – eines der beiden Hauptargumente, auf die Edelstein seine Auffassung von dem esoterischen Charakter des Eides gründete –, konnte D. Nickel überzeugend nachweisen, daß wir bei den Hippokratischen Ärzten allgemein eine ablehnende Haltung gegenüber der Schwangerschaftsunterbrechung voraussetzen können, da es sich bei dem einzigen Fall im gesamten „Corpus Hippocraticum“, wo nachweislich von der Verordnung eines Abtreibungsmittels seitens eines Arztes die Rede ist, ganz offensichtlich um eine durch soziale Verhältnisse bedingte Ausnahmesituation handelt26. Wenn wir weiterhin bedenken, daß sich die 19 20
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Siehe Hipp., Iusiur. 2–7: CMG I 1, S. 4,13–5,7. Den Stand der neueren Forschung zu diesen Problemen referiert H. Diller in seinem Nachwort zu L. Edelstein, Der Hippokratische Eid, mit einem forschungsgeschichtlichen Nachwort von H. Diller hrsg. von K. Bartels, Zürich u. Stuttgart 1969, S. 96–101. Die betreffende Publikation Edelsteins ist die deutsche Fassung der in Anm. 21 genannten Arbeit. L. Edelstein, The Hippocratic Oath, Suppl. to the Bulletin of the History of Medicine, Nr. 1, Baltimore 1943. Siehe L. Edelstein, Der Hippokratische Eid, S. 49 u. 50. Ebenda, S. 36. Siehe F. Kudlien, Medical Ethics and Popular Ethics in Greece and Rome, Clio Medica 5, 1970, 111. Siehe L. Edelstein, Der Hippokratische Eid, 14–20; vgl. auch F. Kudlien, ebenda, S. 110. D. Nickel, Ärztliche Ethik und Schwangerschaftsunterbrechung bei den Hippokratikern, NTM 9, 1972, H. 1, 73–80. Sein Nachweis gründet sich auf eine erneute Durchsicht aller in Frage kommenden Stellen im „Corpus Hippocraticum“, die ergeben hat, daß die von R. Hähnel, Der künstliche Abortus im Altertum (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissen-
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ärztliche Anwendung von Giften, die, soweit sie den Kranken helfen sollte, sich durch Selbstmord von unerträglichen Schmerzen oder einer unheilbaren Krankheit zu befreien, ebenfalls unter die im Eid aufgeführten und von L. Edelstein mit dem Etikett „pythagoreisch“ versehenen Verbote fällt, in der hippokratischen Sammlung ebensowenig belegen läßt, so ist es zumindest nicht auszuschließen, daß es bereits in hippokratischer Zeit ärztliche Standesregeln gegeben hat, die den detaillierten Vorschriften aus dem uns erhaltenen Eid vergleichbar waren, und daß sie in dieser oder ähnlicher Form auch den Hippokratikern bekannt gewesen sind27. Die von hohen ethischen Normen bestimmte Berufsauffassung der Hippokratiker konnte jedoch nichts daran ändern, daß auch diese Ärzte, wie zahlreiche Äußerungen in den hippokratischen Schriften beweisen, an der grundsätzlichen Ablehnung der Behandlung unheilbarer Krankheiten festhielten28. Diese Haltung, die auch schon in der älteren ägyptischen Medizin zu beobachten ist, hatte im wesentlichen zwei Gründe. Einmal war es der vergleichsweise niedrige Stand medizinischen Wissens zu der damaligen Zeit, der es angezeigt erscheinen ließ, auf jede erfolglose Behandlung zu verzichten, und zwar auch aus ethischen Gründen, da sie nur zusätzliche Schmerzen und noch qualvolleres Leiden bedeutet hätte, und zum anderen die rechtlich ungesicherte Stellung des Arztes, die es ihm | verbot, eine Behandlung zu übernehmen, die mit einem Mißerfolg enden konnte, da er in einem solchen Fall fürchten mußte, um seinen guten Ruf und damit auch um weitere Verdienstmöglichkeiten gebracht zu werden. II. Die griechische Medizin zur Zeit der Poliskrise a) Die Medizin der Dogmatiker Im Prozeß der Entstehung der wissenschaftlichen Medizin im Griechenland des 5. Jahrhunderts, die wir unter dem Begriff der hippokratischen Medizin zusammengefaßt haben, hatten sich die Durchdringung der medizinischen Empirie mit philosophischen, das heißt mit wissenschaftlichen Fragestellungen einerseits und die bewußte Abgrenzung der Medizin als einer weitgehend empirisch bestimmten Wissenschaft gegenüber der Philosophie andererseits stets die Waage gehalten. Im Verlauf der Fortführung und Vertiefung der angebahnten Entwicklung verschob sich dieses Verhältnis im 4. Jahrhundert zugunsten der Theorie. Diese Entwicklung war unausbleiblich, da die Möglichkeit zur Weiterentwicklung der Praxis fehlte und die Medizin nur mit Hilfe neuer und weitreichenderer theoretischer Kenntnisse über den einmal erreichten Wissensstand hinausgelangen konnte. Ebenso unausbleiblich war es aber auch, daß diese stärker theoretisch ausgerichtete medizinische Wissenschaft in zunehmendem Maße spekulative Züge aufwies. Denn die theoretische Durchdringung eines
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schaften 29, 1936, 224–255) vorgetragene Interpretation der diesbezüglichen Textstellen aus den Hippokratischen Schriften, auf denen Edelstein seine Argumentation aufgebaut hatte, falsch ist. Vgl. G. Harig, Rezension zu: L. Edelstein, Der Hippokratische Eid, Zürich u. Stuttgart 1969, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 65, 1971, 233f. Siehe z.B. Hipp., De arte 3: CMG I 1, S. 10,21f. und De fract. 36: II 101,8–12 Kühlewein = III 540,9–12 Littré; vgl. L. Edelstein, Περὶ ἀέρων und die Sammlung der hippokratischen Schriften, 96; 98; 100f.; D. Gourevitch, Déontologie médicale: quelques problèmes, Mélanges d'Archéologie et d'Histoire 81, 1969, 520f.
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Wissensstoffes wie des medizinischen mußte in der Antike ohne die experimentellen Naturwissenschaften erfolgen, die erst in der Renaissance begründet wurden; sie konnte sich allein auf der Grundlage theoretischer Spekulationen vollziehen, die sich jedoch im Bereich der Medizin nicht in mystischen Vorstellungen bewegten, sondern stets auf dem Boden des Rationalen blieben, so daß auch die Medizin des 4. Jahrhunderts, trotz ihrer spekulativen Züge, ihren wissenschaftlich-rationalen Charakter bewahrt hat. Die Vertreter dieser medizinischen Richtung, die sich selbst als Fortsetzer der Hippokratischen Medizin empfanden, wurden von den nachfolgenden Generationen als Dogmatiker bezeichnet, und zwar geschah das, nachdem im 3. Jahrhundert als Reaktion auf die Überbetonung der theoretisch-spekulativen Betrachtungsweise in der Medizin Ärzte auf den Plan getreten waren, die sich vom Dogmatismus ihrer Vorgänger distanzierten und nun allein der praktischen Erfahrung, der Empirie, unabhängig von der spekulativen Theorie das Wort redeten. Die Weiterentwicklung der Hippokratischen Lehren durch die dogmatischen Ärzte erfolgte unter wechselseitiger Beeinflussung zwischen der Medizin und den beiden im 4. Jahrhundert in Athen herrschenden philosophischen Systemen des Platon und des Aristoteles. Platons Interesse an der Medizin ging weit über das hinaus, was man an medizinischen Kenntnissen bei einem vielseitig gebildeten Menschen seiner Zeit voraussetzen konnte29. Das beweisen nicht nur seine Auf|fassung, daß die von Hippokrates gefundene wissenschaftliche Methode auch für die Philosophie vorbildlich ist, seine Äußerungen über Wesen und Aufgaben der Medizin oder seine Beurteilung des Arztberufes, auf die wir weiter unten noch näher eingehen werden. Platon hat sich auch selbst an der Diskussion medizinischer Probleme beteiligt, seine eigenen Vorstellungen und Lehren, vor allem zur Physiologie, finden sich in seinem naturphilosophischen Werk, dem Timaios. Die hier vorgetragenen Ansichten etwa von der Zusammensetzung des menschlichen Körpers aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde oder vom Pneuma als der alles durchdringenden, luftartigen Lebenskraft zeigen, daß Platon unter dem Einfluß des Arztes Philistion von Lokroi, eines Vertreters der von den Theorien des Empedokles geprägten westgriechischen Heilkunde, stand, mit dem er persönlich bekannt war30. Wichtig für die Medizin wurden besonders die erkenntnistheoretischen und sinnesphysiologischen Auffassungen Platons, die von der Empedokleischen Vorstellung ausgingen, daß Gleiches nur durch Gleiches, das Licht z.B. durch das lichtartige Sinnesorgan, das Auge, erkannt werden könne, sowie seine Seelenlehre, der eine Dreiteilung der Seele in einen Teil, der für den Bereich der Vernunft, einen zweiten, der für den des Gefühls, und einen dritten, der für den des Trieblebens zuständig war, zugrunde lag. Platon lokalisierte die einzelnen Seelenteile, die in späteren medizinischen Systemen mit den Prinzipien der geistigen, seelischen und animalischen Lebensfunktionen gleichgesetzt wurden, in der genannten Reihenfolge im Gehirn, in der Brust und im oberen Teil der Bauchhöhle.
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Zum Thema Platon und die Medizin vgl. auch R. Joly, Platon et la médecine, Bulletin de l'Association Giul. Budé, Suppl. Lettres d'Humanité 20, 1961, 435–451, und die dort zitierte Literatur. Siehe W. Jaeger, Diokles von Karystos. Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles, Berlin 1938 (Nachdruck Berlin 1963), 7–9 u. 211–213.
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Auch in methodischer Hinsicht wirkte sich die Platonische Philosophie direkt auf die Medizin aus. Bereits der dogmatische Arzt Mnesitheos von Athen, dessen Lebenszeit spätestens in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts anzusetzen sein dürfte31, hat das von Platon entwickelte diäretische Verfahren, eine Einteilungsmethode, die auf der Grundlage der Dichotomie (Zweiteilung) und unter Verwendung des Prinzips der Position und Kontradiktion vom Allgemeinen ausgeht und zum Einzelnen hinführt, das nicht mehr teilbar ist, in die Medizin übernommen und zum erstenmal, soweit es sich nachweisen läßt, den Versuch gemacht, mit Hilfe dieses Verfahrens eine Klassifizierung der Krankheiten vorzunehmen32. Die Brauchbarkeit der Diärese als eines methodischen Prinzips bei der Auffindung und Darstellung medizinischer Sachverhalte machte sie, vor allem nach ihrer Erweiterung durch Aristoteles, der die Dichotomie als einziges Einteilungsprinzip aufgab und zu mehrteiligen Unterscheidungen überging, bis weit über die Antike hinaus in der medizinischen Forschung unentbehrlich. Die Bestrebungen der dogmatischen Ärzte, das medizinische Wissen methodisch zu erfassen und zu systematisieren, haben ihre Entsprechung jedoch vor allem in dem Schulprogramm des Aristoteles, der es sich und seinen Schülern zur Aufgabe gemacht hatte, das gesamte bisherige Wissen aus den verschiedenen Bereichen des geistigen Lebens zusammenzufassen und zu ordnen. In diesem umfassenden System, mit dem der Peripatos die Grundlage für die Herausbildung von Einzelwissenschaften geschaffen hatte, fand auch die Medizin als Spezialfach neben anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen ihren Platz. Sowohl die Ein|beziehung der Medizin in das von Aristoteles errichtete Gebäude der Wissenschaften wie auch die Loslösung der einzelnen Naturwissenschaften aus dem Verband der Philosophie und ihre Etablierung als Einzelwissenschaften dürften entscheidend dafür gewesen sein, daß nunmehr auch innerhalb der Medizin die einzelnen Fachgebiete bewußt stärker voneinander abgegrenzt und auch die theoretischen Fächer in die Betrachtung mit einbezogen wurden. So hat z.B. Diokles von Karystos nach einer Angabe bei Galen33 als erster ein größeres anatomisches Werk verfaßt. Die Lebenszeit dieses Arztes, der in der Antike den Ruf eines zweiten Hippokrates genoß34, ist nach wie vor umstritten. Die Datierungen in der neueren Forschung schwanken zwischen dem ersten Drittel des 4. Jahrhunderts35 und der Zeit von 340–26036. Aber selbst wenn wir mit einer gewissen Berechtigung, wie mir 31
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Siehe H. Hohenstein, Der Arzt Mnesitheos aus Athen (Mit einer Sammlung der Fragmente), Diss. Jena 1935, 4–7. Die späte Datierung des Mnesitheos ins 3. Jh. durch W. Jaeger, Vergessene Fragmente des Peripatetikers Diokles von Karystos. Nebst zwei Anhängen zur Chronologie der dogmatischen Ärzteschule, Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1938, Phil.-hist. Kl. Nr. 3, Berlin 1938, 44f., wird hinfällig, wenn man, wie es gerechtfertigt erscheint, Jaegers Datierung des Diokles von Karystos um 300 in Frage stellt (s. S. 1865 [= unten, S. 90f.]). Siehe H. Hohenstein, Der Arzt Mnesitheos aus Athen, 25–27. Siehe Gal., De anat. administr. II 1: II 282,2f. Kühn. Siehe M. Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Ärzte Akron, Philistion und des Diokles von Karystos (Fragmentsammlung der griechischen Ärzte, Bd. 1), Berlin 1901, S. 209,9f. (vgl. auch S. 65). So C. Fredrich, Hippokratische Untersuchungen, Philologische Untersuchungen, hrsg. von A. Kießling u. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, 15. H., Berlin 1899, 171, und M. Wellmann, Art. „Diokles“ (Nr. 53), in: RE, Bd. V, hrsg. v. G. Wissowa, 1903, 802. So W. Jaeger, Diokles von Karystos, 16–185, und Vergessene Fragmente des Peripatetikers Diokles von Karystos, 36.
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scheint, den jüngsten Untersuchungen zu Diokles folgend, Leben und Wirken dieses Arztes in die Zeit um die Mitte des 4. Jahrhunderts setzen37 und somit gezwungen sind, das von Jaeger konstatierte Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Aristoteles und dem Karystier aufzugeben, bleibt doch weiterhin als Faktum bestehen, daß das medizinische System des Diokles, soweit es die erhaltenen Fragmente seines umfangreichen Werkes erkennen lassen, deutliche Anklänge an die Aristotelische Vorstellungs- und Begriffswelt aufweist. Diokles darf also auch weiterhin als Prototyp des dogmatischen Arztes gelten, der durch wohlüberlegtes Ausnutzen und Kombinieren medizinischer Lehren unterschiedlicher Herkunft auf der einen Seite und der für die Medizin relevanten jüngsten philosophischen Theorien auf der anderen Seite die Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin vorangetrieben und ihr neue Wege gewiesen hat, die zu beschreiten den hellenistischen Ärzten vorbehalten blieb. In noch weit stärkerem Maße, als dies für die Lehren des Platon zutrifft, fanden aber auch ganz konkrete philosophische beziehungsweise naturwissenschaftliche Anschauungen des Aristoteles Eingang in die zeitgenössische und vor allem in die spätere Medizin, die in ihrer weiteren Entwicklung so sehr von diesem Gedankengut mit bestimmt wurde, daß man wohl mit Recht sagen kann, daß die Medizin der nacharistotelischen Zeit in beträchtlichem Umfang Aristoteles verpflichtet war. In zwei Punkten, die im folgenden kurz behandelt werden sollen, scheint mir sein Einfluß auf die Heilkunde besonders greifbar zu sein. Möglicherweise angeregt durch die humoralpathologischen Theorien der Medizin, wie sie uns vor allem in der schon mehrfach erwähnten hippokratischen Schrift Über die Natur des Menschen begegnen, hatte Aristoteles die Vorstellung entwickelt, daß den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde die vier Primärqualitäten Warm, Kalt, Trocken und Feucht zuzuordnen sind. Diese Primärqualitäten faßte er als sinnlich wahrnehmbare Dinglichkeiten auf und postulierte auf diese Weise auch innerhalb der Elementenlehre die sinnliche Wahrnehmung als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis, eine Forderung, die seitdem unbestritten blieb und gleichzeitig der in der Medizin zunächst sicherlich kaum reflektierten Bejahung der sinnlichen Wahrnehmung eine theoretische Grundlage gab. Damit aber waren die Voraussetzungen geschaffen, im Bereich der Medizin die hippokratische Viersäfte- und Vierquali|tätenlehre einerseits und die Vierelementen- und Vierqualitätenlehre des Aristoteles andererseits miteinander zu verknüpfen und so der Humoralpathologie ein wissenschaftliches Fundament zu geben, das bis weit in die Neuzeit hinein gültig blieb38. Mit der Aristotelischen Lehre von der Entelechie erhielten die überkommenen teleologischen Vorstellungen, die sowohl in der griechischen Philosophie als auch in verschiedenen naturwissenschaftlichen Systemen immer wieder vertreten wurden39, insofern eine grundlegende Umgestaltung, als sie von Aristoteles als ein tragender 37
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Siehe F. Heinimann, Diokles von Karystos und der prophylaktische Brief an König Antigonos, Museum Helveticum 12, 1955, 159, und F. Kudlien, Probleme um Diokles von Karystos, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 47, 1963, 460f. Siehe G. Harig, Bestimmung der Intensität im medizinischen System Galens. Ein Beitrag zur theoretischen Pharmakologie, Nosologie und Therapie in der Galenischen Medizin, Berlin 1974 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 11), 35–51. Siehe W. Theiler, Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles, Zürich 1925, 1–82.
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Bestandteil in sein Lehrgebäude integriert und zur wichtigsten Grundlage auch für die Erklärung biologischer Prozesse gemacht wurden. Die Übernahme dieser Lehre in die Medizin, speziell auf den Gebieten der Physiologie und Pathologie, hatte zur Folge, daß dadurch, daß nunmehr der Zweck, das τέλος als Endursache bestimmter Phänomene gesehen wurde, die kausale Betrachtungsweise der Hippokratiker weitgehend überflüssig wurde und deshalb in Gefahr geriet, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Der große Erfolg, den die Teleologie trotz ihrer Einseitigkeit im medizinischen Denken der Antike für sich verbuchen konnte, ist darin begründet, daß sie auf offene Fragen auch dann noch Erklärungen anbot, wenn das wissenschaftliche Rüstzeug der antiken Medizin längst versagt hatte, und auf diese Weise im Prinzip unlösbare Probleme nicht mehr als solche erkennen ließ, und weiterhin darin, daß sie, wie das Werk Galens, des letzten großen Arztes des Altertums, besonders deutlich zeigt, eine Betrachtungsweise darstellte, mit der man das ganze medizinische System erfassen und als ein in sich geschlossenes Ganzes darstellen konnte. b) Die Stellung der Medizin in der Gesellschaft
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Auf Probleme der Durchsetzung der Berufsethik des Arztes im Kampfe mit unlauteren Methoden der persönlichen Geltungssucht und der Scharlatanerie ist im Zusammenhang mit der ersten Blüte Hippokratischer Medizin bereits eingegangen worden. Im Laufe des vierten Jahrhunderts verschärften sich weitere Widersprüche. Die WareGeldwirtschaft drang weiter vor, damit die Rechenhaftigkeit und Gewinnsucht. Nicht zu Unrecht dürften Platon (Resp. I: 341. 342. 346. 349; II: 357) und Aristoteles (Pol. I 9: 1258 a 10–14) die Frage aufgeworfen haben, wofür der Arzt – und andere Berufe – in Wahrheit arbeiteten, für Geld oder für das inhaltliche Ziel ihrer Tätigkeit, im Falle des Arztes also für die Gesundheit des Patienten. Da der Arzt einem freien Beruf nachging, war er auf die Zahlungskraft seiner Patienten angewiesen. Die Armen, deren Lebensumstände besonders gesundheitsgefährlich waren, die Handwerker, deren Gesundheit durch ihre Arbeitsbedingungen geschädigt wurde, waren nicht die zahlungskräftigen Patienten wie die Reichen, die bei einem schwelgerischen und verweichlichten Leben fett und krank wurden und aus diesem Grunde mehr Ärzte brauchten (Plat., Resp. II: 373 a–d). Platon berichtet uns zudem in den „Gesetzen“40, daß es zwei Gruppen von Ärzten gegeben habe, Sklavenärzte und freie Ärzte, von denen die Sklavenärzte ihre Kranken, die ebenfalls Sklaven waren, nach altbewährter Tradition mit Mitteln behandelten, die ihnen aus der Erfahrung geläufig waren, | und ohne sich bei den einzelnen Patienten, deren Zahl recht groß gewesen sein dürfte, lange aufzuhalten. Die freien Ärzte dagegen, die in der Regel nur freie Bürger als Patienten hatten, gaben sich sehr ausführlich mit den Kranken ab und nahmen keine Behandlung vor, ohne zuvor die Kranken über das Wesen der jeweiligen Krankheit unterrichtet und von der Richtigkeit der von ihnen gewählten Therapie überzeugt zu haben41. Ein sol40 41
Plat., Leges IV 10: 720 c–e. Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1959, 21f.; P. Lain-Entralgo, Die ärztliche Hilfe im Werk Platons, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 46, 1962, 194f. Die Existenz von Sklavenärzten bestreitet F. Kudlien, Die Sklaven in der griechischen Medizin der klassischen und hellenistischen Zeit, Forschungen zur antiken Sklaverei, hrsg. von J. Vogt und H. U. Instinsky, Bd. 2, Wiesbaden 1968, 28–38; s. jedoch dagegen R. Joly, Esclaves et médecins dans la Grèce antique, Sudhoffs Archiv,
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ches Vorgehen der freien Ärzte, das, wie Platon an anderer Stelle schreibt42, bei den Ärzten der ersten Gruppe nur ein Lächeln hervorrufen würde, weil es ja nicht die Aufgabe des Arztes ist, den Kranken medizinische Kenntnisse zu vermitteln, sondern es primär darauf ankommt, sie gesund zu machen, war freilich nur möglich, weil bei den Laien eine gewisse medizinische Allgemeinbildung vorausgesetzt werden konnte, die es ihnen erlaubte, den theoretischen Ausführungen des Arztes zu folgen. Die seit dem Ende des 5. Jahrhunderts einsetzende Verschärfung der Klassengegensätze zwischen der reichen Oberschicht und der wachsenden Masse der freien, aber armen Bevölkerung, hatte auch zur Folge, daß die aristokratisch-traditionellen, archaisierenden Tendenzen, überhaupt jede für Geld ausgeübte berufliche Tätigkeit als eines freien Bürgers für unwürdig zu halten, sich bei den begüterten Schichten wieder verstärkten und daß die Menschen, die aus Gründen des Gelderwerbs einem Beruf nachgingen, insgesamt und unabhängig von ihrer persönlichen ethischen Haltung in den Augen der grundbesitzenden Klasse und ihrer Ideologen nicht als vollwertige Bürger angesehen wurden. Aus dieser Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse resultierte eine zwiespältige Haltung gegenüber der Medizin und den Ärzten. Auf der einen Seite wurde der Hippokratischen Medizin ein hoher Grad an Wissenschaftlichkeit zugestanden, der sie nicht nur zu einem integrierenden Bestandteil der allgemeinen Bildung werden, sondern darüber hinaus auch geeignet erscheinen ließ, mit der von ihr entwickelten Forschungsmethode, die den Arzt als Wissenschaftler auswies und ihn in dieser Beziehung dem Philosophen als gleichberechtigten Gesprächspartner an die Seite stellte, als Muster und Vorbild für die ethische Betrachtungsweise eines Platon und Aristoteles zu dienen43. Auf der anderen Seite aber blieb die Medizin, soweit es ihre Anwendung in der Praxis betraf, weiterhin ein Handwerk, dessen Ausübung den Arzt für die herrschenden Kreise als einen Angehörigen jener Schichten der freien Bürger abstempelte, die gewillt oder gezwungen waren, für Geld zu arbeiten, und die daher auch der privaten Bereicherungssucht verdächtigt wurden, eine Art der Diskriminierung, die nicht nur die Ärzte, sondern auch die sophistischen Philosophen und Erzieher betroffen hat. Platon, der sich – wie bereits ausgeführt – mit Fragen der Medizin und des Arztberufs gründlich beschäftigte, umreißt auch die Aufgabenstellung der Medizin in dem von ihm entworfenen Staatswesen44. Die Medizin sollte nach Platons Vorstellungen dazu dienen, die Kranken schnell zu heilen und völlig wiederherzustellen, aber nicht um ihres persönlichen Wohlergehens willen, sondern um sie für die Lösung der ihnen im Platonischen Staat zugewiesenen Aufgaben zu befähigen. Chronisch Kranke dagegen, die bei Befolgung zum Teil umständlicher und zeitraubender ärztlicher Verordnungen zwar am Leben erhalten werden | konnten, auf diese Weise aber daran gehin-
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Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 53, 1969, 1–3, und G. Harig, Rezension zu: F. Kudlien, Die Sklaven in der griechischen Medizin der klassischen und hellenistischen Zeit, Forschungen zur antiken Sklaverei, hrsg. von J. Vogt u. H. U. Instinsky, Bd. 2, Wiesbaden 1968, in: NTM 8, 1971, H. 1, 118–120. Plat., Leges IX 4: 857 c/d. Vgl. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 32–38. Siehe Plat., Resp. III 14–17: 406 a–410 a. Vgl. P. Lain-Entralgo, Die ärztliche Hilfe im Werk Platons, 206f.; 208; R. Joly, Platon et la médecine, 443f.
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dert wären, den ihnen obliegenden Verpflichtungen nachzukommen, waren nach Platons Staatsplan grundsätzlich aus dem Aufgabenbereich der Medizin auszuschließen. Platon spricht es unumwunden aus, daß er es für richtig hält, sie sterben zu lassen, da sie unter diesen Umständen doch nur nutzlose und überflüssige Glieder der Gesellschaft seien. Diese Einstellung hat nichts mehr mit dem praktischen Verzicht auch des hippokratischen Arztes auf die Behandlung unheilbarer Kranker zu tun, sondern entspricht ihrer Tendenz nach der spartanischen Einstellung zur Vernichtung des dem Staate unwert erscheinenden Lebens schon im Säuglingsalter und auf anderer, ökonomischer Ebene der Einstellung römischer Sklavenhalter, die kranke Sklaven aussetzten und alternde zu verkaufen suchten. Auch auf dem Gebiet der Medizin kommt der Umschlag Platonischen Denkens von humaner Analyse und Kritik zu menschenfeindlicher utopischer Konstruktion zum Ausdruck. Das positive Ergebnis der Krise der Medizin im vierten Jahrhundert war die weitere Ausbildung der Theorie, das negative Resultat war ein Zurückbleiben der Praxis, die sowohl durch die mangelnde Entwicklung der Naturwissenschaften als auch in sich selbst durch die Scheu vor der Sektion des menschlichen Körpers gehemmt blieb. Theorie und Praxis verloren ihren engen fruchtbaren Zusammenhang. Erst im Hellenismus wurde diese Verbindung wiederhergestellt, und es wurde damit eine neue Etappe der Entwicklung in der Medizin eingeleitet. Für die Ärzteschaft ergaben sich durch das Anwachsen der armen Bevölkerung in der Polis, durch den Luxus der Reichen und durch die Kettung des Arztes an privaten Gelderwerb verschärfte soziale und ethische Probleme. Das Ansehen des Arztes schwankte zwischen der Würdigung des Wissenschaftlers und der Verachtung des für Geld tätigen Handwerkers in der Ideologie der grundbesitzenden Klasse.
4. VORST ELLUNGEN VOM MENSCHEN IN DER HIPPOKRAT ISCHEN MEDIZIN*
Unter den wissenschaftlichen Bestrebungen, die im Griechenland des 5. Jahrhunderts ihren Teil dazu beitrugen, die Grundlagen für ein neues, humanistisches Menschenbild zu schaffen, indem sie das Wissen um das Wesen des Menschen bereicherten und seiner Selbstverwirklichung breiteren Raum gaben, nimmt die medizinische Forschung einen hervorragenden Platz ein. Er gebührt ihr zunächst einmal ganz generell schon deswegen, weil die Medizin ihrem Anliegen nach eine humane Wissenschaft ist, dazu geschaffen, die Behinderung der vollen Entfaltung der körperlichen Kräfte des Menschen, die durch Krankheiten und Schmerzen bedingt ist, zu beseitigen oder doch wenigstens auf ein Mindestmaß zu beschränken und den kranken Menschen auf diese Weise seiner eigentlichen Daseinsbestimmung wieder zuzuführen. Der Beitrag, den speziell die griechische Medizin des 5. Jahrhunderts zur Formung des Menschenbildes leistete, bestand darin, daß von ihr erstmalig auf wissenschaftlicher Grundlage bestimmte physiologische Theorien entwickelt wurden, die den Zugang zum Verständnis der Natur des Menschen erleichterten und darüber hinaus durch ihre Verallgemeinerungsfähigkeit auch auf andere Bereiche des menschlichen Lebens wirken konnten. Dazu gehören vor allem der Physisbegriff mit den aus ihm abgeleiteten anthropologischen Theorien und den Ansätzen zur Lehre von den vier Konstitutionstypen, die das individuelle Körpergeschehen berücksichtigende Krankheitslehre und schließlich auch die diätetischen Lehren. Voraussetzung für die Entwicklung der soeben skizzierten Vorstellungs- und Begriffswelt war die Entstehung einer wissenschaftlichen Medizin, der ersten wissenschaftlichen Medizin in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Sie ist aufs engste mit dem Namen des Hippokrates von Kos (um 460–370) verknüpft, der zu den bedeutendsten Ärzten der Antike zählt. Unter seinem Namen sind 58 Schriften erhalten, die nach Form und Inhalt zum Teil erheblich voneinander abweichen, von denen aber nicht eine mit absoluter Sicherheit dem Hippokrates als Verfasser zugewiesen werden kann. Die meisten Werke der hippokratischen Schriftensammlung stammen jedoch aus dem 5. und 4. Jahrhundert, gehören also mehr oder weniger exakt der Zeit des Hippokrates an, und ihnen allen ist gemeinsam, daß sie von dem wissenschaftlichrationalen Geist geprägt sind, | der die hippokratische Heilkunde zum Ausgangspunkt der modernen Medizin werden ließ, so daß wir sie, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Lehrmeinungen und Standpunkte, als Ganzes zur Grundlage unserer * Erschienen in: Der Mensch als Maß der Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, hrsg. v. R. Müller, Berlin 1976 (Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Alte Geschichte u. Archäologie d. Akademie d. Wiss. d. DDR 8), S. 269–282.
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Darstellung der Vorstellungen vom Menschen in der Medizin des 5. Jahrhunderts machen können. Die hippokratische Medizin war aus der Heilkunde des frühen Griechenlands hervorgegangen, deren bestimmendes Element – der Situation in anderen Frühkulturen vergleichbar – eine auf empirisch gewonnenen Kenntnissen beruhende Volksmedizin war. Dieser Entwicklungsprozeß wurde dadurch wesentlich erleichtert, daß hier anders als bei den Völkern des Vorderen Orients niemals eine Monopolisierung der Medizin durch die Priester stattgefunden hatte. Entscheidend für die Entstehung der wissenschaftlichen Medizin war jedoch die Tatsache, daß sich die griechischen Ärzte des 5. Jahrhunderts unter dem Einfluß der ionischen Naturphilosophie von der reinen Empirie lossagten und zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit den Versuch machten, den Menschen als einen Bestandteil des Kosmos zu verstehen, und unter diesem Aspekt darangingen, nach Ursprung und Aufbau des menschlichen Körpers zu fragen und die Vorgänge im gesunden wie im kranken Körper als ein auf natürlichen Ursachen beruhendes Geschehen zu erklären. Als Ausdruck einer solchen Betrachtungsweise ist auch die von Herodikos von Selymbria (5. Jh.) inaugurierte Diätetik zu werten, die in der gesamten antiken Medizin eine große Rolle spielte und in unserem Zusammenhang besonderes Interesse verdient, weil sie mehr als jede andere medizinische Disziplin die Bemühungen der Hippokratiker erkennen läßt, zur Selbstverwirklichung des Menschen mit medizinischen Mitteln beizutragen. Sie möge daher am Schluß unseres Beitrages ihre gesonderte Darstellung finden. 1.
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Es steht außer Zweifel, daß dem Physisbegriff in der hippokratischen Medizin bei der Ausformung bestimmter Vorstellungen vom Menschen die größte Bedeutung zukommt. Zum besseren Verständnis dieses Begriffs erscheint es jedoch notwendig, zunächst die physiologischen Lehren der Hippokratiker kurz zu umreißen. Die Übernahme der naturphilosophischen Fragestellung nach dem Ursprung der Zusammensetzung aller Dinge veranlaßte die hippokratischen Ärzte, sowohl für den Aufbau des menschlichen Körpers, der in Analogie zum Makrokosmos als Mikrokosmos gesehen wurde, als auch für die Prinzipien, nach denen die Lebensvorgänge in ihm ablaufen, eine Erklärung zu suchen. Den Ausgangspunkt hierfür bildete die von den Naturphilosophen entwickelte Elementenlehre. Ihre Umsetzung in die Medizin erfolgte auf die Weise, daß an die Stelle der Elemente als Bausteine des Weltalls die Körpersäfte als Grundbestandteile des menschlichen Organismus gesetzt wurden, die ebenso wie die Elemente | durch das Wirken der Primärqualitäten Warm, Kalt, Trocken und Feucht bestimmt werden konnten. Auf der Grundlage dieser Humorallehre, die in ihrer klassischen Form, wie sie uns in der hippokratischen Schrift Über die Natur des Menschen vorliegt, die vier Säfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle mit den Eigenschaften Warm/Feucht, Kalt/Feucht, Warm/Trocken und Kalt/Trocken kennt1, wurde die Gesundheit in Anlehnung an die Isonomievorstellungen des Alkmaion 1
Siehe Hippokrates, Über die Natur des Menschen 4,1; 5,1; 7,1–5: Corpus Medicorum Graecorum (CMG) I 1,3, hrsg. v. J. Jouanna, Berlin 1975, S. 172,13–15; 174,11–176,1; 182,4–184,6; vgl. auch E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beiheft 4, Wiesbaden 1964, 17–21.
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von Kroton als Eukrasie, d.h. als richtige Mischung der Säfte verstanden, während ein Mischungsverhältnis, das durch das Überwiegen des einen oder das Fehlen eines anderen Saftes gestört war (Dyskrasie), Krankheit bedeutete. In unserem Zusammenhang ist jedoch nicht so sehr der Umstand von Interesse, daß die Säftelehre der Hippokratiker die Möglichkeit bot, Gesundheit und Krankheit auf Grund wissenschaftlicher Kriterien als Eukrasie bzw. Dyskrasie der Körpersäfte zu erklären, als vielmehr die Tatsache, daß die Gesundheit auf Grund der Vielzahl der möglichen Mischungsverhältnisse im menschlichen Körper von ihnen nicht als ein statischer und für alle Menschen gleichermaßen zutreffender Zustand aufgefaßt wurde, sondern immer als eine nur für einen bestimmten Menschen typische Mischung, die individuelle Konstitution oder Physis des einzelnen. Denn dieses Eingehen auf das Individuum, das der hippokratischen Medizin ihr besonderes Gepräge gab und bei dem niedrigen Stand sowohl der allgemeinen Entwicklung der Naturwissenschaften in der damaligen Zeit als auch speziell des medizinischen Wissens zugleich ihre Wissenschaftlichkeit ausmachte, weil sie auf diese Weise unter Vermeidung eines den Fortschritt hemmenden Schematismus ungeheuer elastisch war und jede Nuance am kranken wie am gesunden Körper registrieren und in ihre Betrachtung mit einbeziehen konnte, ist ein wesentlicher Bestandteil der Auffassung vom Menschen, die sich in der Medizin des 5. Jahrhunderts ausgeformt hat. Sichtbaren Ausdruck findet die individualisierende Medizin der Hippokratiker in ihrer Konzeption des Physisbegriffs, der im Mittelpunkt ihres medizinischen Lehrgebäudes steht. Es ist das unbestreitbare Verdienst der hippokratischen Ärzte, den Physisbegriff in einer so umfassenden Weise schöpferisch weiterentwickelt zu haben, daß er über das begrenzte Fachgebiet der Medizin hinaus auch für andere Bereiche des menschlichen Lebens, etwa für die Ethik, fruchtbar gemacht werden konnte2. | Die Auffassung von einer zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos bestehenden Analogie erlaubte es diesen Ärzten, den von der Naturphilosophie übernommenen Begriff der Physis, verstanden als Natur des Alls, auf den speziellen Gegenstand ihrer Wissenschaft, auf den Menschen, zu übertragen und mit ihm zunächst ganz allgemein die menschliche Natur, d.h. „die organisch bedingte Wesenheit des Menschen mit 2
Der Naturbegriff in der hippokratischen Medizin ist in der neueren Forschung mehrfach behandelt worden; s. z.B. J. W. Beardslee jr., The Use of φύσις in Fifth-Century Greek Literature, Diss. Chicago 1918, 31–42; H. Diller, Der griechische Naturbegriff, Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 2, 1939, 248–252; H.-L. Dittmer, Konstitutionstypen im Corpus Hippocraticum, Diss. Jena 1940, bes. 24–26; W. A. Heidel, Περὶ φύσεως. A Study of the Conception of Nature among the Pre-Socratics, Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 45, 1910, 79–133; F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Diss. Basel 1945 (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 1), bes. 95–108; W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 2, 3. Aufl., Berlin 1959, 15f. und 35–42; H. Leisegang, Art. „Physis“, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, XX, hrsg. v. Wissowa, Kroll, Mittelhaus, 1941, 1139–1143; M. Michler, Die praktische Bedeutung des normativen Physisbegriffes in der hippokratischen Schrift De fracturis – De articulis, Hermes 90, 1962, 385–401; R. Schottlaender, Früheste Grundsätze der Wissenschaft bei den Griechen, Berlin 1964 (Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft 43), 114f.; O. Thimme, Φύσις τρόπος ἦθος. Semasiologische Untersuchung über die Auffassung des menschlichen Wesens (Charakters) in der älteren griechischen Literatur, Diss. Göttingen 1935, 49–59.
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ihren Anlagen und Reaktionen“3, zu bezeichnen, durch die sie sich von anderen belebten Wesen unterscheidet. Als solche aber galt den Hippokratikern eine ganz bestimmte Mischung von Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle im menschlichen Körper (s. Hippokrates, Über die Natur des Menschen 4,1: CMG I 1,3, S. 172,13–15). Da sie sich nun aber, wie schon gesagt wurde, auf Grund von Beobachtungen zu dem Schluß veranlaßt sahen, daß es am konkreten Menschen, wie er ihnen in der ärztlichen Praxis begegnete, nicht eine richtige Mischung schlechthin, sondern immer nur eine für ein bestimmtes Individuum typische Mischung gibt, wurde von ihnen zum erstenmal in der Geschichte der Medizin der Begriff der individuellen, sich von allen anderen unterscheidenden Körperkonstitution in das medizinische Denken eingeführt, der ebenfalls als Physis bezeichnet wurde4. Dieser Schritt hatte in mehrfacher Hinsicht bedeutsame Folgen; denn die so oder so geartete Körperkonstitution des einzelnen mußte sich, wie die Hippokratiker richtig erkannt hatten, auch auf das jeweilige Krankheitsgeschehen auswirken. Das heißt, für den hippokratischen Arzt gab es keine festen Krankheitsbilder mehr, sondern allein von einer speziellen Physis abhängige individuelle Krankheitsformen, und damit stand der kranke Mensch dem Arzt jetzt als Einzelwesen gegenüber. Diese theoretisch begründete Entwicklung, die mit der sich auch in der Sophistik abzeichnenden, immer stärker vordringen|den Betonung des Individuums parallel läuft und zugleich die demokratischen Verhältnisse im griechischen Polisstaat widerspiegelt, in dem alle freien Bürger formell gleichberechtigt waren, wertete jedoch nicht nur den kranken Menschen als Individuum auf. Sie setzte ebenso auch neue Werte im Arzt-PatientVerhältnis. Denn der Umstand, daß der Arzt sich nunmehr, wenn er seinen beruflichen Pflichten voll genügen wollte, außer für die Krankheit auch für den Menschen als solchen zu interessieren hatte, an dessen Krankenbett er gerufen wurde, legte ihm eine weit höhere Verantwortung gegenüber diesem Patienten auf, als das vorher jemals der Fall war, und mußte ihn dazu anspornen, alles zu tun, um demjenigen, der sich in seine Behandlung begeben hatte, zu helfen. Das gesteigerte Verantwortungsgefühl der Ärzte gegenüber den Kranken, das zweifellos auch der eigenen Reputation diente, wurde von seiten des Patienten mit einem hohen Grad an Vertrauen beantwortet, ein psychologisches Moment, das gerade in der antiken Therapie mit ihren vergleichsweise geringen Erfolgschancen eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Diese auf Vertrauen einerseits und Verantwortungsbewußtsein andererseits beruhende neuartige Partnerbeziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten gehört mit zu den Faktoren, die entscheidend zu der Herausbildung der hohen ethischen Normen in der hippokratischen Medizin beigetragen haben. Der Konstitutionsbegriff der Hippokratiker, der sich, wie erwähnt, aus ihrer Säftelehre herleitete, impliziert weiterhin die Vorstellung von der Disposition, die aufs engste mit dem von ihnen dynamisch verstandenen Begriff der Gesundheit zusam3 4
H. Diller, Naturbegriff, 248. Siehe z.B. Hippokrates, Über die Natur des Menschen 9,4: CMG I 1,3, S. 190,8f. oder Über das Einrenken der Gelenke 8: II 120,15f. Kühlewein = IV 94,2f. Littré. Im gleichen Sinne ist auch der Physisbegriff in der hippokratischen Schrift „Über die alte Heilkunst“ zu verstehen (20: CMG I 1, hrsg. v. J. L. Heiberg, Leipzig u. Berlin 1927, S. 51,18–52,14); vgl. dazu J.-H. Kühn, System- und Methodenprobleme im Corpus Hippocraticum, Hermes Einzelschriften H. 11, Wiesbaden 1956, 22f.
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menhängt. Wenn wir sagten, daß nach hippokratischer Auffassung jeder gesunde Körper eine nur für ihn typische Mischung der Säfte aufweist, so liegt dem die Ansicht zugrunde, daß in den individuellen Mischungsverhältnissen der Körpersäfte die einzelnen Säfte in unterschiedlich starkem Maße vorherrschen können. Solange sich das Übergewicht eines oder auch mehrerer Säfte in gewissen Grenzen hält, ist der Mensch deswegen noch nicht krank, er ist aber durch den in seinem Körper dominierenden Saft in einer ganz bestimmten Weise geprägt und für bestimmte Krankheiten disponiert5. Mit dieser Lehre von den Dispositionen, die auf den konstitutionsbedingten Unterschieden zwischen den menschlichen Individuen, einschließlich der Geschlechtsunterschiede, aufbaute und gleichzeitig phänotypische und physiognomische Merkmale in ihre Betrachtung mit einbezog, haben die hippokratischen Ärzte den Grund gelegt für eine anthropologische Typologie, die trotz aller Widersprüchlichkeiten im Detail dazu beigetragen hat, tiefer in das Wesen des Menschen einzudringen und ihn als Individuum sehen zu lernen, das physisch und psychisch so oder so angelegt ist und auf Grund dieser seiner spezifischen Anlage auf innere und äußere Einflüsse in bestimmter Weise reagiert. Aus ihr hat sich die Lehre von den vier Temperamenten entwickelt, die, nach den vier Körpersäften benannt, seit dem | Mittelalter als Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker in die Typologie eingegangen sind und in der Pavlovschen Physiologie neue Bedeutung erlangt haben. Die hippokratischen Ärzte haben die konstitutionellen Unterschiede bei den einzelnen Menschen jedoch nicht nur mit den Varietäten im Säftehaushalt erklärt. Da sie davon ausgingen, daß der Mensch ein Teil des Weltganzen ist, vollzogen sie den entscheidenden Schritt, auch die den Menschen von außen beeinflussenden Faktoren, seine Umwelt, in die medizinische Betrachtung mit einzubeziehen. Zu ihnen gehören die gleichermaßen durch persönliche wie gesellschaftliche Verhältnisse bestimmte Lebensweise des einzelnen und das jeweilige geographische Milieu. Die Kenntnis der Umweltfaktoren und ihrer pathogenen Wirkungen erleichtert nach Auffassung des Autors der hippokratischen Schrift Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse (= Über die Umwelt) dem Arzt, zumal wenn er in eine ihm fremde Stadt kommt, die Behandlung der Kranken und sichert ihm die größtmöglichen Therapieerfolge (s. Hippokrates, Über die Umwelt 2,5: CMG I 1,2, Berlin 1970, S. 20,16–18 Diller). Die Erforschung dieser Einflüsse auf die Vorgänge im menschlichen Körper hatte sich aus der ätiologischen Fragestellung der Hippokratiker ergeben. Ihr verdanken wir nun eine Reihe ethnographisch-anthropologischer Erkenntnisse, die es dem Verfasser der eben erwähnten Abhandlung von der Umwelt erlaubten, dem Bild vom Menschen weitere entscheidende Züge hinzuzufügen. So begegnen wir der Vorstellung, daß die menschliche Physis außer von dem individuellen Mischungsverhältnis der Körpersäfte auch von natürlichen Umwelteinflüssen, bewußten Eingriffen des Menschen und Erbeigenschaften bestimmt wird. Zum Beispiel wird in Kapitel 15 (CMG I 1,2, S. 60,1–22) von den Anwohnern des Phasis gesagt, daß sie infolge des dort herrschenden feuchtwarmen Klimas und der sumpfigen und wasserreichen Landschaft im Verhältnis zu anderen Menschen so dickleibig sind, daß die Gelenke und Blutgefäße geradezu in den Fettpolstern verschwinden, daß sie 5
Die Typologie der Hippokratiker ist ausführlich dargestellt bei H.-L. Dittmer 32–80; vgl. auch E. Schöner 17–54, und speziell zum Typ des Melancholikers H. Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966, 21–49.
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von gelblicher Hautfarbe sind und eine besonders tiefe Stimme haben. Ähnliche Vorstellungen von den Auswirkungen der Umweltfaktoren auf Konstitution und Habitus des Menschen klingen auch in anderen Schriften des Corpus Hippocraticum an, in dieser Konsequenz werden sie aber nur in der Abhandlung Über die Umwelt ausgeführt, so daß wir hier mit Recht von einer Erweiterung des Physisbegriffs in seiner Bedeutung Körperkonstitution sprechen können6. Hervorstechende körperliche Merkmale können nach Meinung unseres Autors aber auch durch menschliche Eingriffe entstehen, wie das Beispiel der Frauen aus dem Stamme der Sauromaten zeigt (Hippokrates, Über die Umwelt 17: CMG I 1,2, S. 64,9–21). Bei ihnen sollen die rechte Schulter und der rechte Arm besonders kräftig entwickelt sein, und zwar auf Kosten der rechten Brust, die ihnen im frühen Kindesalter von den Müttern ausgebrannt wird. Das | geschehe, um sie zu wehrtüchtigen Mädchen zu erziehen, da bei den Sauromaten der Brauch herrscht, die Frauen anstelle der Männer in den Krieg ziehen zu lassen. Während nun in diesem Fall der Eingriff, der nach dem Verständnis des Verfassers die Entwicklung des Körpers beeinflussen soll, ständig wiederholt werden muß, ist bei den Makrokephalen, wie wir im 14. Kapitel der Schrift Über die Umwelt (CMG I 1,2, S. 58,8–26) lesen, die ursprüngliche Sitte, bei Neugeborenen durch manuelles Formen und Bandagieren des Schädels sein Wachstum in eine längliche Form zu zwingen, sogar überflüssig geworden, weil die Makrokephalie im Verlaufe der Zeit etwa im Sinne der Vererbung erworbener Eigenschaften zu einem naturgegebenen Zustand und als solcher vererbbar geworden sei. Aber auch auf die charakterlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen gesteht der Hippokratiker der Umwelt einen Einfluß zu (s. z.B. Kap. 24,8–10: CMG I 1,2, S. 80,15–82,13). Ebenso wie das Äußere des Menschen entspreche auch sein Charakter der Beschaffenheit des jeweiligen Landes, in dem er lebt. In einer fruchtbaren Landschaft mit einem ausgeglichenen Klima, wie sie vor allem in Asien anzutreffen ist, seien die Menschen feige, schlaff und träge, „und ihr Sinn für die Künste (τέχναι) ist stumpf, nicht fein und scharf“. Karge und unwirtliche Landstriche dagegen, in denen heiße und trockene Sommer mit kalten Wintern abwechseln – ein geographisches Milieu, das für Europa charakteristisch sei –, bewirkten, daß die Menschen arbeitsam und lebhaft sind, „daß ihr Charakter und ihr Temperament selbstbewußt und eigenwillig ist, daß sie an Wildheit mehr als an Sanftmut teilhaben und daß sie für die Künste scharfsinniger und verständiger und für den Krieg besser geeignet sind“. Mit der Tatsache, daß der hippokratische Arzt die Charakteranlage des Menschen in seine Betrachtung der menschlichen Physis mit einbezieht, ist für ihn die Voraussetzung gegeben, auch die Unterschiede in der geistigen Haltung des Menschen aus natürlichen Ursachen zu erklären. Wenn er dies vorzugsweise an den Europäern und Asiaten exemplifiziert, so greift er damit in die Diskussion um das Problem des Gegensatzes zwischen Griechen und Nichtgriechen ein, das seit den Perserkriegen besonders aktuell war, weil diese die Überlegenheit der Griechen für die Zeitgenossen deutlich gemacht hatten7. Allerdings erkennt der Hippokratiker in diesem Zusammenhang an, daß die ethnischen Besonderheiten nicht nur aus den jeweiligen natürlichen Gegebenheiten resultieren, sondern daß auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, 6 7
Vgl. hierzu H.-L. Dittmer 83f. und F. Heinimann 17–19. Vgl. F. Heinimann 33–40 und M. Pohlenz, Nomos und Physis, Hermes 81, 1953, 428f.
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den verschiedenen Regierungsformen darstellen, zur Formung des menschlichen Charakters beitragen (Über die Umwelt 16,4–7; 23,6–8: CMG I 1,2, S. 62,12–64,5; 78,2–8), womit zeitgenössische Diskussionen über unterschiedliche politische Verfassungen auch im medizinischen Schrifttum ihren Niederschlag gefunden haben. So mache die Königsherrschaft aus ihren Untertanen feige und unkriegerische Menschen, weil sie in allem von ihren Herren abhängig sind | und auch die Kriege nur den Interessen der Herrschenden dienen, während sie selbst, auf deren Kosten die Kriege ausgetragen werden, Tod und Gefahren ausgesetzt sind, ohne auch nur den geringsten Lohn dafür zu erhalten. Im Gegensatz zu den demoralisierenden Auswirkungen der despotischen Herrschaftsform, die in den asiatischen Staaten die Regel ist, erziehe die Demokratie, wie man ihr in Europa begegnet, die Menschen zu Tapferkeit und Einsatzbereitschaft. Denn in einem demokratisch regierten Land kommen alle Unternehmungen der gesamten Bevölkerung zugute, so daß hier keiner zögert – nicht einmal unter extremen Bedingungen, wie sie z.B. im Kriegsfall gegeben sind –, sich mit seiner ganzen Person für den Erfolg einer Sache einzusetzen; weiß er doch, daß es hierbei auch immer um seine eigenen Interessen geht. Wenn es dem hippokratischen Autor als Mediziner auch primär darum ging, die Physis des Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Umwelt zu begreifen und, dem ätiologischen Charakter seines Werkes entsprechend, das gesamte körperliche Geschehen auf natürliche Ursachen zurückzuführen, so haben diese Ausführungen ebenso wie seine oben (S. 274f. = S. 99) erwähnte Darstellung der Ausbildung körperlicher Merkmale durch menschliche Eingriffe doch gleichzeitig deutlich gemacht, daß er sich dessen bewußt war, daß der Mensch der Natur nicht blindlings ausgeliefert ist, sondern sich, wenn auch in gewissen Grenzen, trotz der natürlichen Gesetzmäßigkeiten Bedingungen schaffen kann, die seiner Selbstentfaltung größeren Raum gewähren und ihm ein Leben ermöglichen, das der menschlichen Natur in höherem Grade gemäß ist8. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang noch auf die Bedeutung des Physisbegriffs eingegangen, mit dem die Hippokratiker die Norm bzw. den Normalzustand bezeichneten. Er steht dem Konstitutionsbegriff an Wichtigkeit in nichts nach, denn er bildete für die Medizin eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, wissenschaftlich gültige Aussagen machen zu können. Ziel und Aufgabe der Heilkunst sahen die hippokratischen Ärzte darin, den kranken Körper zu heilen, genauer gesagt, die Natur des menschlichen Körpers bei der Wiederherstellung der Gesundheit zu unterstützen. Dies konnte sowohl durch chirurgische Eingriffe als auch mit diätetischen und medikamentösen Verordnungen geschehen. Die Schwierigkeit bestand jedoch darin, den richtigen Behandlungsweg einzuschlagen und das gewählte Mittel in der geforderten Menge zu verabreichen. Denn weder der dynamische Gesundheitsbegriff noch die Krankheitsvorstellungen der Hippokratiker, wie wir sie oben charakterisierten (s. oben S. 271 und 272 = S. 97 und 97f.), konnten als feste Größe dienen, an der sich die Therapie zu orientieren hatte, ganz zu schweigen von dem weitgehenden Fehlen diagnostischer Hilfsmittel, die in der modernen Medizin eine eindeutige Aussage über den Befund des Patienten ermöglichen. Was blieb, war auf der einen Seite der kranke Mensch mit seiner nur ihm eigenen Gesundheit und seinem individuellen Krankheitsgeschehen und auf der an8
Vgl. H.-L. Dittmer 57f.
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deren Seite der Arzt, dem allein seine Sinneswahrnehmungen objektive Kriterien liefern konnten. Den | Bezugspunkt, der die Bestimmung sowohl der Qualität wie der Quantität einer krankhaften Veränderung erlaubte, mußte also der normale Zustand des Körpers oder eines seiner Teile bilden, mit anderen Worten, es ist wiederum die individuelle Physis, die den Orientierungspunkt für die Therapie darstellte und somit für den Arzt auch einen normativen Charakter erhielt9. Besonders augenfällig wird die normative Bedeutung des Physisbegriffs in den knochenchirurgischen Schriften des Corpus Hippocraticum. Die symmetrische Anordnung im Knochenbau des Menschen bot die Möglichkeit, das durch eine Luxation oder Fraktur verunstaltete Glied mit dem entsprechenden gesunden auf der gegenüberliegenden Seite zu vergleichen und an Hand dieses Vergleichs die Diagnose zu stellen und die Therapie zu verordnen (s. Hippokrates, Über das Einrenken der Gelenke 10: II 126,2–7 Kühlewein = IV 102,9–13 Littré). Der Umstand, daß der Vergleich an dem Körper des Erkrankten selbst vorgenommen werden konnte, war um so wichtiger, als es auf diese Weise möglich war, die individuellen Unterschiede im Knochenbau zu berücksichtigen und somit die Therapie weitestgehend an der Natur zu orientieren, so daß hier der normierende Charakter der Physis den höchsten Grad an Geltung erlangte. Ihren pointierten Ausdruck findet die Vorstellung von der normsetzenden Physis in der Bezeichnung δικαίη bzw. δικαιοτάτη φύσις (gerechte bzw. gerechteste, d.h. normale, Natur; s. z.B. Hippokrates, Über Knochenbrüche 1: II 46,4. 8 Kühlewein = III 412,2f.; 414,1 Littré). Wesentlich schwieriger als in der Knochenchirurgie gestaltete sich die praktische Anwendung des normativen Physisbegriffs in der inneren Medizin. Hier sah sich der Arzt hippokratischer Prägung jeweils einem in seinem Gesamtverhalten gestörten Organismus gegenübergestellt, der kaum noch Vergleichsmöglichkeiten mit seinem individuellen Normalzustand zuließ, so daß jeder feste Orientierungspunkt für das ärztliche Eingreifen fehlte. Dieses Problem, das die praktische Medizin, zumindest soweit sie humoralpathologisch ausgerichtet war, die ganze Antike hindurch mehr oder weniger zu einem Vabanquespiel machte, hat der Verfasser der hippokratischen Abhandlung Über die alte Heilkunst auf seine Weise zu lösen versucht. Als praktizierender Arzt beständig mit einer differenzierten Vielfalt physiologischer wie pathologischer Erscheinungen konfrontiert, war er zu der Überzeugung gelangt, daß die ärztliche Tätigkeit nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie davon ausgeht, in jedem einzelnen Fall den Menschen im Verhältnis zu seiner Nahrung und seinen sonstigen Lebensgewohnheiten zu sehen (Hippokrates, Über die alte Heilkunst 20: CMG I 1, S. 51,17–22). Allein auf dieser Grundlage sei es möglich zu entscheiden, welche Behandlungsart und welche Mittel (es ist hier vorzugsweise an die Verordnung einer Krankendiät gedacht) dem jeweiligen Patienten zuträglich sind. | In gleicher Weise muß aber auch die Dosierung des Mittels auf den Kranken abgestimmt sein. Denn ein Zuviel oder Zuwenig in der Arzneigabe hat nicht minder gefährliche Folgen als die Anwendung eines kontraindizierten Heilmittels (s. Hippokrates, Über die alte Heilkunst 9: CMG I 1, S. 41,12–19). Der individualisierende Charakter seiner Medizin verbietet es unserem Autor jedoch, mit mathematisch exakten 9
Zum normativen Physisbegriff s. M. Michler, Die praktische Bedeutung des normativen Physisbegriffes, und W. Müri, Der Maßgedanke bei griechischen Ärzten, Gymnasium 57, 1950, 183–201; vgl. auch H. Diller, Naturbegriff, 250f., und F. Heinimann 96–98.
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Größen wie Zahl oder Gewicht zu operieren; als Maß (μέτρον), auf das der Arzt die Genauigkeit seiner therapeutischen Verordnungen gründen kann, bleibt nur die αἴσθησις τοῦ σώματος, die Reaktion des Körpers10 (Z. 20–22). Mit ihrer Hilfe das richtige Maß zu treffen ist freilich, wie der Hippokratiker selbst zugesteht, nur selten möglich, und er ist gern bereit, jedem Arzt hohes Lob zu zollen, der es mit nur geringen Abweichungen in der einen oder anderen Richtung erreicht (Z. 22–24). Aber trotz der Unsicherheitsfaktoren, die die Reaktion des Körpers als Maßstab für das ärztliche Vorgehen zwangsläufig in sich birgt, bleibt es sein Verdienst, in der αἴσθησις ein objektives Kriterium gefunden zu haben, das es erlaubte, das für den einzelnen Patienten richtige Maß zu bestimmen und eben dieses richtige Maß als Norm für jede medizinische Behandlung zu setzen. Der Begriff des richtigen Maßes dürfte besonders deswegen für die Normfunktion in der hippokratischen Medizin geeignet gewesen sein, weil er beide Aspekte, sowohl den des Allgemeinen als auch den des Besonderen in sich vereinigte: In seiner umfassenden Bedeutung als absolutes μέτρον besaß er für jede ärztliche Tätigkeit allgemeine Gültigkeit, während er, bezogen auf das Individuum, als das für den einzelnen richtige Maß, die individuelle Therapie bestimmte. Die Lehre von dem auf das Individuum bezogenen richtigen Maß, die, wie gezeigt wurde, in dem hippokratischen Konstitutionsbegriff ihren Ursprung hatte, begegnet uns wieder in der Ethik des Aristoteles. In seiner Lehre von der Mitte (μεσότης, μέσον), die das Kernstück der Aristotelischen Ethik ausmacht, wird zum erstenmal dem absoluten μέσον ein μέσον πρὸς ἡμᾶς, eine auf uns, d.h. auf den einzelnen Menschen bezogene Mitte, gegenübergestellt. Daß Aristoteles darin, daß er diese Vorstellungen vom Menschen als Bezugspunkt in die Ethik aufnahm, wie auch in vielen anderen Einzelheiten gerade seines ethischen Lehrgebäudes von der Medizin abhängig ist, darf heute als bewiesen gelten11. Wir können daher abschließend feststellen, daß der Beitrag, den die hippokratischen Ärzte zur Ausformung des Menschenbildes in ihrer Zeit geleistet haben, vorzugsweise darin bestand, mit Hilfe des von ihnen weiterentwickelten Physis|begriffs das Bild vom Menschen als Individuum, das den Griechen im Homo-mensura-Satz12 des Protagoras zum erstenmal in seiner vollen Bedeutung zum Bewußtsein gebracht worden war, vom physiologisch-medizinischen Standpunkt aus in seinen wesentlichen Zügen zu erfassen, daß die medizinischen Theorien der Hippokratiker in ihrer Verallgemeinerung aber auch in andere Bereiche menschlichen Lebens und Verhaltens hineinwirkten und z.B. für die Ethik und Anthropologie völlig neue Aspekte eröffneten.
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Zum Verständnis des Begriffs αἴσθησις τοῦ σώματος als Reaktion des Körpers in der hippokratischen Schrift Über die alte Heilkunst s. H. Diller, Hippokratische Medizin und attische Philosophie, Hermes 80, 1952, 398–401, und die dort angeführte Literatur. Siehe H. Kalchreuter, Die μεσότης bei und vor Aristoteles, Diss. Tübingen 1911, 48–51; W. Jaeger, Diokles von Karystos. Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles, Berlin 1938 (Nachdr. Berlin 1963), 46f.; F. Wehrli, Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, Museum Helveticum 8, 1951, 40–44; H. Diller, Hippokratische Medizin, 401–403. Zur Erklärung dieses Satzes s. R. Müller, Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, in: Der Mensch als Maß der Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, hrsg. v. R. Müller, Berlin 1976 (Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Alte Geschichte u. Archäologie d. Akademie d. Wiss. d. DDR 8), S. 248f.
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Neben dem Physisbegriff mit allen seinen Bedeutungsinhalten verdient im Rahmen einer Betrachtung der hippokratischen Vorstellungen vom Menschen auch der Gedanke der Selbstverwirklichung des Menschen Beachtung. Daß die antike wissenschaftliche Medizin ihrem Charakter nach eine humane Wissenschaft war, weil sie die Krankheiten und Leiden des Menschen nicht als göttliche Strafe ansah, sondern als natürliches Geschehen und es deshalb als ihre vornehmste Aufgabe betrachtete, einen leidenden Menschen mit welchen Mitteln und welchem Erfolg auch immer von Schmerzen und Qualen zu befreien, die ihrer Vorstellung nach seinem Wesen widersprachen, ist, historisch gesehen, eine ebenso bedeutsame und die nachfolgende Entwicklung prägende Erscheinung wie die hippokratische Forderung, daß jede medizinische Behandlung nützen müsse oder doch zumindest nicht schaden dürfe (s. Hippokrates, Epidemien I 11 [5]: I 190,3 Kühlewein = II 634,8–636,1 Littré). Denn hierin äußert sich wohl neben der Einsicht in die Grenzen, die der Medizin gesetzt sind, auch die Sorge um das persönliche Wohl des einzelnen Menschen, der als Individuum einen Anspruch darauf hat, vom Arzt als Mensch geachtet zu werden, und dessen Würde es widerspräche, als bloßes Objekt behandelt zu werden. Wir sollten deswegen aufhorchen, wenn wir in der schon mehrfach zitierten Schrift „Über die alte Heilkunst“ lesen, daß es dem Menschen im Verlauf seiner Geschichte gelungen sei, sich in bezug auf seine Ernährung über die Daseinsweise der Tiere zu erheben und eine der menschlichen Natur zuträgliche Lebensweise zu finden, ja mehr noch, daß die Heilkunst „erfunden worden ist zum Besten der Gesundheit des Menschen, seines Wohlergehens und seiner Ernährung, als Ausgleich für jene Lebensweise, aus der Schmerzen, Krankheiten und Tod erwuchsen“ (Hippokrates, Über die alte Heilkunst 3: CMG I 1, S. 37,20–38,26). Dieser hippokratische Arzt sieht also die ursprüngliche und eigentliche Aufgabe der Medizin darin, die Menschen gesund zu erhalten, damit sie in voller Entfaltung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte ein der menschlichen Natur und Würde entsprechendes Leben führen können. | Das Interesse, das die hippokratischen Ärzte – der Autor der Abhandlung Über die alte Heilkunst steht damit nicht allein da – mit ihren Bemühungen um eine die Krankheiten verhütende Lebensweise erstmalig auch dem gesunden Menschen entgegenbrachten, hatte seinen Grund in einer unverhältnismäßig hohen Wertschätzung, die die Gesundheit bei den Griechen genoß und für die im wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich zu machen sind: erstens das von der Aristokratie geschaffene Leitbild der Kalokagathie, das ohne einen gesunden Körper nicht denkbar ist, und zweitens – und das dürfte den Ausschlag gegeben haben – der vergleichsweise niedrige Stand der antiken Medizin, der die Ursache dafür war, daß der Prozentsatz der unheilbaren Krankheiten ungleich viel höher war, als er es bei dem heutigen Stand der Medizin ist, und daß überhaupt jede mit Schmerzen verbundene Erkrankung eine Qual für den Betroffenen bedeuten mußte, da man ja kaum wirklich wirksame Analgetica kannte. Die Möglichkeit, den gesunden Menschen in die medizinische Betrachtung einzubeziehen, ergab sich dadurch, daß mit der hippokratischen Medizin zum erstenmal auch theoretische Voraussetzungen gegeben waren, im Rahmen der Diätetik13 den 13
Die Gründe, die zur Entstehung der Diätetik führten und sie zu einem überaus wichtigen Bestandteil der antiken Medizin werden ließen, sind zuletzt untersucht worden von L. Edelstein,
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Gedanken eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes zu verwirklichen. Denn erst die grundlegende Erkenntnis, daß die Gesundheit des menschlichen Körpers von natürlichen Faktoren wie Ernährung, körperlicher Beanspruchung, Klima und Schlaf abhängig ist, konnte überhaupt die Vorstellung aufkommen lassen, daß es dem Menschen möglich ist, in irgendeiner Weise regulierend in das Körpergeschehen einzugreifen. Die prophylaktischen Maßnahmen der antiken Ärzte waren deshalb auf die Regelung der Lebensweise (δίαιτα) konzentriert. Das bedeutete zwar, daß der Wirksamkeit der antiken Gesundheitsprophylaxe, wenn wir sie einmal vom Standpunkt der modernen Medizin mit ihren vielfältigen Möglichkeiten zur Verhütung von Krankheiten aus betrachten, relativ enge Grenzen gesetzt waren. Andererseits war aber mit der Regelung der Lebensweise für den Humoralpathologen, der seine diätetischen Verordnungen ebensowenig verallgemeinern konnte wie seine therapeutischen Anweisungen, der Ansatzpunkt gegeben, von dem aus er seine prophylaktischen Maßnahmen entsprechend dem individualisierenden Charakter der hippokratischen Medizin auf den einzelnen Menschen abzustimmen und ihnen so den höchsten Grad an Wirksamkeit zu verleihen vermochte. Neben der individuellen Körperkonstitution mußte der Diätetiker ebenso wie der Therapeut die persönlichen und klimatischen Bedingungen, unter denen der jeweilige Mensch lebte, sein Lebensalter und die Jahreszeiten in seine Betrachtungen einbeziehen. Denn nur wenn alle Faktoren, die die Vorgänge im menschlichen | Organismus bestimmen, Berücksichtigung fanden, konnte die volle Effektivität der diätetischen Vorschriften garantiert werden, und das eigentlich auch nur dann, wenn sie den gesamten Tagesablauf eines Menschen ausfüllten und bis ins einzelne regelten. Mit anderen Worten, der antike Mensch hatte nach den Vorstellungen der hippokratischen Medizin nur dann begründete Aussichten, gesund zu bleiben, wenn er es sich leisten konnte, sein ganzes Leben lang ausschließlich der Gesundheit zu leben. Ein Beispiel für derartige diätetische Vorstellungen der Hippokratiker liefert uns die im Corpus Hippocraticum tradierte Schrift Über die Lebensweise, die zugleich beweist, daß die Diätetik in der hippokratischen Medizin bereits ihren festen Platz hatte. In dieser Abhandlung wird ein umfangreiches Programm mit diätetischen Maßnahmen zur Regelung hauptsächlich der Ernährung und der körperlichen Übungen entwickelt, das nach den programmatischen Ankündigungen des Autors im 3. Buch seines Werkes unter Berücksichtigung der verschiedenen Körperkonstitutionen, Lebensalter, Jahreszeiten und klimatischen Bedingungen zusammengestellt ist (Hippokrates, Über die Lebensweise III: V I 592–636 Littré), um ihm auf diese Weise eine möglichst allgemeine Gültigkeit zu verschaffen und eine hohe Effektivität zu sichern. Die Ausführungen des Hippokratikers (s. Hippokrates, Über die Lebensweise III 68/69: V I 594,3–606,2 Littré) beweisen aber auch, daß sich die Ärzte der Schwierigkeiten bewußt waren, die sich bei den für die antike Medizin gegebenen Möglichkeiten der Verwirklichung des vorbeugenden Gesundheitsschutzes im Interesse der gesamten freien Bevölkerung in den Weg stellten. Man braucht sich doch nur einmal klarzumachen, daß das allein auf die körperlichen Belange ausgerichtete Leben völlige Antike Diätetik, Die Antike 7, 1931, 255–270 (nachgedr. in: Medizinhistorisches Journal 1, 1966, 162–174, und in: Ancient Medicine. Selected Papers of Ludwig Edelstein, hrsg. von Owsei und C. Lilian Temkin, Baltimore 1967, 303–316), und G. Harig und J. Kollesch, Gesellschaftliche Aspekte der antiken Diätetik, NTM 8, 1971, H. 2, 14–23.
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wirtschaftliche Unabhängigkeit voraussetzte. Denn es schließt zumindest jede Art von geregelter Tätigkeit aus und mußte damit von vornherein der Bestimmung des Menschen als eines für die Gesellschaft tätigen Wesens zuwiderlaufen. Es war daher nur konsequent zu Ende gedacht, wenn Platon im „Staat“ die Daseinsberechtigung einer in dieser Form praktizierten Diätetik in Frage stellte (Staat III 14: 406 a–c). Im Hinblick auf die Gesundheitsprophylaxe hat aber die in den demokratischen Traditionen der griechischen Polis verwurzelte Auffassung vom Wert des Individuums mit seinem Anspruch, sich im Rahmen der jeweilig durch die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung bedingten Möglichkeiten vor Krankheiten zu schützen, den Sieg über das rein utilitaristische Denken des Staatstheoretikers davongetragen. Als Mittel zur Lösung des aufgezeigten Problems bot sich den Hippokratikern die Differenzierung zwischen den verschiedenen sozialen Bevölkerungsschichten an, und so läßt denn auch der hippokratische Autor keinen Zweifel daran, daß seine detaillierten Vorschriften zur Regelung der Lebensweise nur von einigen wenigen Menschen befolgt werden konnten. Für die breite Masse der freien Bevölkerung, die mit diesem Programm nicht erfaßt werden konnte, weil sie aus Gründen des Unterhaltserwerbs nicht dazu in der Lage war, ausschließlich der Gesundheit zu leben, stellte er daher ein gesondertes Programm von weniger | ins einzelne gehenden, nur an den Jahreszeiten orientierten Diätvorschriften zusammen. Wenn es sich nach Auffassung unseres Autors auch nicht vermeiden ließ, daß dieses Programm in seiner Wirkung hinter jenem anderen zurückbleiben mußte, so bot es doch gerade durch seine stärkere Verallgemeinerung für Menschen mit einer sich aus der beruflichen Tätigkeit ergebenden unregelmäßigen Lebensweise, die dazu nötigte, bisweilen unzuträgliche Nahrung zu sich zu nehmen oder übermäßig große Strapazen zu ertragen, die Möglichkeit, unter den diätetischen Empfehlungen die den jeweiligen Umständen angemessene auszuwählen und sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Die ernsthaften Bemühungen der hippokratischen Ärzte, den vorbeugenden Gesundheitsschutz auf die Gesamtheit der freien Bürger auszudehnen und auf diese Weise jedem von ihnen von medizinischer Seite her die Entfaltung seiner geistigen und körperlichen Kräfte zu ermöglichen, müssen als Ausdruck demokratischer Bestrebungen verstanden werden. Sie haben ihre Wurzeln in den gesellschaftlichen Verhältnissen der griechischen Polisdemokratie, in der jedem freien Bürger durch die kostenlose Benutzung von öffentlichen Einrichtungen zum Training und zur Pflege des Körpers, z.B. von Sportplätzen und Bädern, die Möglichkeit zu einer gesunden Lebensweise gegeben war, eine Möglichkeit, die er freilich – so müssen wir hinzufügen – nur nutzen konnte, wenn ihm die dafür notwendige Freizeit zur Verfügung stand14. Diesem Widerspruch zwischen den demokratischen Idealen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich in der sozialen Ungleichheit der Bürger äußerte, entspricht die ambivalente Haltung der hippokratischen Ärzte, denen, wie gezeigt werden konnte, das ausschließlich auf die Erhaltung der Gesundheit ausgerichtete Leben vom medizinischen Standpunkt her als erstrebenswerte Form menschlicher Existenz galt und jede Art von praktischer Tätigkeit demgegenüber nur als notwendiges Übel erschien, die aber zugleich wußten, daß dieses Leben nur von einer kleinen Schar Privilegierter zu 14
Zu den gesellschaftlichen Wurzeln speziell der hippokratischen Diätetik s. G. Harig und J. Kollesch 17f.
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verwirklichen war, und deshalb bestrebt waren, diätetische Regeln auch für die breite Masse der Bevölkerung aufzustellen.
5. DIE DIÄT E T ISCHEN APHORISMEN DES SECHST EN EPIDEMIENBUCHES UND HERODIKOS VON SELYMBRIA*
Bei seiner Analyse der Epidemienbücher II, IV und V I glaubte K. Deichgräber konstatieren zu können, daß sich die wenigen in diesen Schriften angeführten therapeutischen Maßnahmen in der Gabe von Abführmitteln, im Aderlaß und in einigen Spezialmitteln – als Beispiele werden von ihm in Öl gekochte Hirse und Ptisane genannt – erschöpfen.1 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß diese Feststellung bestenfalls auf das IV. Buch der Epidemien zutrifft, obwohl selbst hier trotz der insgesamt kleinen Zahl der therapeutischen Maßnahmen noch weitere Behandlungsarten auftauchen.2 Ein wesentlich anderes, allerdings keineswegs einheitliches Bild bieten dagegen die Bücher II und V I. Was die therapeutischen Verordnungen im II. Buch betrifft, so ist nicht nur ihre Zahl, sondern auch ihre Vielfalt wesentlich größer, als die Bestandsaufnahme bei Deichgräber vermuten läßt. Neben Aderlaß, Schröpfen, Skarifizieren, medikamentösen Mitteln und physiotherapeutischen Maßnahmen in Form von Wasseranwendungen oder Bädern3 sind es vor allem feste und flüssige Nahrungsstoffe wie Mehl, Brot, Gerstenschleim oder Milch und Wein, die als Mittel zur Behandlung von Krankheiten angeführt werden.4 Im V I. Buch ist die Zahl der angegebenen Mittel zwar weitaus geringer als im II. Buch, ebenso wie dort gehören aber auch hier diätetische Verordnungen zu den empfohlenen therapeutischen Maßnahmen, allerdings mit einem in unserem Zusammenhang bedeutsamen Unterschied. Denn im V I. Buch der Epidemien, und nur hier, sind in die diätetische Therapie über die Diätvorschriften im engeren * Erschienen in: Die hippokratischen Epidemien. Theorie – Praxis – Tradition. Verh. d. Ve Colloque international hippocratique, veranst. von der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Medizin in Verbindung mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Freien Universität Berlin, 10.–15.9.1984, hrsg. v. G. Baader und R. Winau, Stuttgart 1989 (Sudhoffs Archiv, Beih. 27), S. 191–197. 1
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K. Deichgräber, Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum. Voruntersuchungen zu einer Geschichte der koischen Ärzteschule (Abh. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1933/3). Durch Nachwort u. Nachträge vermehrter photomechanischer Nachdruck, Berlin u. New York 1971, 50. Zu den in diesem Buch genannten therapeutischen Verfahren und Mitteln gehören neben Purgieren (Epid. IV 34. 41. 49: V 178,3; 182,9; 190,9 Li.) Kauterisation (IV 4: V 146,5 Li.), Trepanation (IV 11: V 150,9 Li.), Schneiden (IV 44: V 184,15 Li.), Schröpfen (IV 20: V 160,2 Li.), Zäpfchen (IV 20. 30: V 158,3; 174,7 Li.), kaltes Wasser als Brechmittel (IV 59: V 196,14 Li.). Z.B. Epid. II 3,11; 4,5; 5,3. 4. 7. 17. 21. 22. 24. 25; 6,3. 6. 12. 16. 22. 24. 26. 27. 29: V 112,14. 16; 126,12; 128,14. 16. 17; 130,6. 21; 132,4. 5–8. 9. 10f.; 134,1. 9. 23; 136,7f. 16f. 19; 138,3. 4. 8f. Li. Z.B. Epid. II 1,12; 2,1; 3,11; 5,4. 6. 14. 18; 6,3. 6. 7. 13. 23. 26. 28. 30. 31: V 82,17f.; 84,2f.; 112,19; 128,15f.; 130,4f. 17. 21–132,1; 134,1f. 10f. 11–13; 136,1f. 18f.; 138,1. 5f. 10f. 16f. Li.
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Sinne dieses Wortes hinaus auch Maßnahmen zur Belastung des Körpers mit einbezogen, so, wenn der Autor schreibt, daß bei Nieren|schmerzen nicht Ruhe, sondern körperliche Übungen angebracht sind5, oder wenn er bei Fiebererkrankungen Ringkämpfe, Spaziergänge, Läufe und Massagen als kontraindiziert bezeichnet, weil diese Maßnahmen für den ohnehin geschwächten Körper eine zusätzliche Belastung darstellten6 und damit dem von unserem Verfasser vertretenen therapeutischen Grundsatz contraria contrariis7 widersprechen. Auf die Unterschiede hinzuweisen, die zwischen den Epidemienbüchern II, IV und V I im Hinblick auf die therapeutische Praxis bestehen, erscheint deshalb wichtig, weil dieselben Unterschiede auch in bezug auf die diätetischen Aphorismen zu registrieren sind. Der Tatbestand als solcher ist verständlich; hat doch bereits Deichgräber mit Recht, wie ich meine, festgestellt8, daß in den sogenannten Aphorismen in den Epidemienbüchern das Bemühen ihres Autors bzw. ihrer Autoren seinen Ausdruck gefunden hat, aus den am Krankenbett gemachten Beobachtungen und Erfahrungen, wie sie in den Texten notiert sind, „Regeln“ oder, anders formuliert, „wissenschaftliche Erkenntnisse von einer gewissen Allgemeingültigkeit abzuleiten“. Deichgräber sah allerdings die diätetischen Aphorismen, wahrscheinlich deswegen, weil er der Ansicht war, daß die Epidemienbücher II, IV und V I von demselben Autor verfaßt wurden, als ein Charakteristikum aller drei Schriften an.9 Daß aber entgegen seinen Feststellungen die Aphorismen therapeutischen und speziell diätetischen Inhalts im IV. Buch der Epidemien gänzlich fehlen, was angesichts der äußerst spärlichen Angaben zur Therapie in diesem Buch an sich nicht weiter verwunderlich ist, wurde bereits von A. Nikitas vermerkt.10 Wenn Nikitas jedoch gleichzeitig schreibt, daß die diätetischen Anleitungen, in denen Essen und Trinken, Erholung und Gymnastik, Schlaf und andere entsprechende Faktoren berücksichtigt werden, eine „inhaltliche Gemeinsamkeit“ von Epid. II und V I bilden11, so stellt er damit eine Behauptung auf, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Durchmustert man nämlich die von ihm angeführten Belegstellen, so zeigt sich, daß sich die diätetischen Anleitungen im II. Buch in Übereinstimmung mit den therapeutischen Maßnahmen auf Essen und Trinken beschränken, während die anderen Begriffe wie Körperübungen, Schlaf, Erholung oder gar das tragende | Begriffspaar 5 6 7
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Epid. VI 1,5: S. 6,4 Manetti – Roselli = V 268,7 Li. Ebd. V I 3,18: S. 70,1f. Manetti – Roselli = V 302,2f. Li. Siehe ebd. VI 5,4: S. 108,3 Manetti – Roselli = V 316,3 Li. ῎Ιησις· ἀντίνουν, μὴ ὁμονεῖν τῷ πάθει; vgl. z.B. auch VI 2,12 u. 4,13: S. 36,8f. u. 92,5 Manetti – Roselli = V 284,1f. u. 310,8 Li. Vgl. auch C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens (Klass.-Philolog. Studien, hrsg. von H. Herter u. W. Schmid, H. 31), Wiesbaden 1965, 143f. Deichgräber, a.a.O., 51 u. 36; vgl. auch H. Diller, Ausdrucksformen des methodischen Bewußtseins in den hippokratischen Epidemien, Archiv f. Begriffsgeschichte 9 (1964), 137–139 = Kleine Schriften zur antiken Medizin, hrsg. von G. Baader u. H. Grensemann (Ars Medica II 3), Berlin u. New York 1973, 110–112. Vgl. Deichgräber, a.a.O., 64. Siehe A. Nikitas, Untersuchungen zu den Epidemienbüchern II IV VI des Corpus Hippocraticum, Phil. Diss. Hamburg 1968, 48, mit dem Hinweis, daß der einzige Beleg, der sich bei Deichgräber aus Epid. IV findet, entfällt; denn statt der Angabe IV 4,12 (Deichgräber, a.a.O., 54) muß es VI 4,12 heißen. Ebd., 47.
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Nahrung – körperliche Belastung in diesem Text überhaupt nicht vorkommen und sich nur in den diätetischen Aphorismen des V I. Buches finden.12 In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht ganz uninteressant, auf eine Parallelüberlieferung in den Büchern II und VI hinzuweisen. Es handelt sich um einen Aphorismus aus Epid. II 3,1, dessen erster Teil „Das Liegen (κεῖσθαι) in der Kälte, indem man den Körper bedeckt hat“13 auch im V I. Buch14 überliefert ist, dessen Wortlaut dort aber in einem, wie ich meine, entscheidenden Punkt abweicht: anstelle von „Liegen“ lesen wir dort „Schlaf“. Wenn man sich, Nikitas folgend, dazu entschließt, und nichts spricht gegen diese Annahme, die Parallelen in den Epidemienbüchern II und V I mit der Benutzung des gleichen Materials zu erklären15, so erscheint die Vermutung durchaus gerechtfertigt, daß der Verfasser der uns vorliegenden Fassung von Epid. V I, in dessen diätetischem System der Schlaf eine wichtige Rolle spielt16, das indifferente κεῖσθαι bewußt in ὕπνος geändert hat, um auf diese Weise eine im Sinne seiner Diätetik verbindliche Aussage zu erhalten. Wir können damit folgendes feststellen: Die umfassende Berücksichtigung diätetischer Lehren, die nicht nur in die spätestens seit der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.u.Z. in der Medizin gültigen physiologischen Theorien eingebunden sind17, sondern gleichzeitig auch auf der für die Diätetik im weiteren Sinne kennzeichnenden Vorstellung von dem Wechselverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und körperlicher Belastung fußen, stellt eine Besonderheit sowohl der Therapie wie der diätetischen Aphorismen von Epid. V I dar. Eine derart breite Berücksichtigung der Diätetik ist in den beiden anderen Epidemienbüchern nicht nachweisbar; und so ist es denn auch kein Zufall, daß Deichgräber bei seiner Analyse der seiner Meinung nach für die Epidemienbücher II, IV und V I charakteristischen diätetischen Aphorismen nur Belegstellen aus dem V I. Epidemienbuch anführt.18 |
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Epid. V I 3,1. 15; 4,12. 18. 23; 5,5; 6,2; 8,9. 23: S. 52,2–54,3; 68,3; 92,3f.; 96,1–3; 100,5; 110,1f.; 124,2f.; 174,2; 184,13f. Manetti – Roselli = V 292,5–13; 300,5; 310,6f.; 312,2–4; 314,3; 316,7f.; 324,1; 346,16; 352,8f. Li. V 102,13f. Li. Epid. VI 4,14: S. 94,1 Manetti – Roselli = V 310,9 Li. Siehe Nikitas, a.a.O., 82f. Vgl. Epid. V I 4,12. 15. 18; 6,2; 8,9. 23: S. 92,3f.; 94,2; 96,l–3; 124,2f.; 174,2f.; 184,14 Manetti – Roselli = V 310,6f. 10; 312,3f.; 324,1; 346,16f.; 352,9 Li. Zu den physiologischen Theorien, die der Verfasser von Epid. VI in seiner Diätetik berücksichtigt, gehören die Lehre von den Primärqualitäten (z.B. VI 4,16: S. 94,3 Manetti – Roselli = V 310,11 Li., wo es heißt, daß die schwache Diät kalt, die starke dagegen warm ist, oder VI 5,15: S. 120,1 Manetti – Roselli = V 320,9–322,1 Li., wo Linsen, Hirse und Kürbis als Beispiele für besonders kalte Nahrungsmittel aufgeführt werden) und die Lehre von den verschiedenen Konstitutionstypen, so wenn VI 4,13: S. 92,5 Manetti – Roselli = V 310,8 Li. von der warmen Konstitution die Rede ist, für die Abkühlung, Wasser als Getränk und Ruhe empfohlen wird. Zu dem engen Zusammenhang zwischen Diätetik und den medizinisch-physiologischen Lehren des ausgehenden 5. Jh. v.u.Z. s. I. M. Lonie, A structural pattern in Greek dietetics and the early history of Greek medicine, Medical History 21 (1977), 235–241. Die beiden Belegstellen aus Epid. II 3,1, die Deichgräber bei seiner Behandlung der diätetischen Aphorismen zum Vergleich heranzieht (a.a.O., 53 u. 56), können außer Betracht bleiben. Die erste Stelle (V 102,16–18 Li.) enthält lediglich eine Aufzählung von Krankheitssymptomen, und bei der zweiten Stelle (V 102,13f. Li.) handelt es sich um die oben S. 195 (= S. 111) besprochene Paral-
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Auf Deichgräber geht auch der Versuch zurück, die Herkunft der, wie wir nunmehr einschränkend sagen müssen, in den diätetischen Aphorismen von Epid. V I vertretenen Auffassungen aus den Lehren des Herodikos von Selymbria herzuleiten19, der in der neueren Forschung nicht unwidersprochen geblieben ist. Als Gegenargumente wurden mit gutem Grund erstens die unverhüllte Kritik angeführt, die der Verfasser von Epid. VI an dem therapeutischen Vorgehen des Herodikos übt20, ein Argument, das um so gewichtiger ist, als diese Form der Polemik nicht nur in Epid. V I, sondern in den Epidemienbüchern überhaupt singulär ist21; zweitens die Tatsache, daß sich der bewußte Einsatz von der Sophistik entlehnten Stilmitteln in Epid. V I, den Deichgräber als Kriterium für die Herodikeische Herkunft der diätetischen Lehren dieser Schrift geltend gemacht hat, nicht auf die diätetischen Aphorismen beschränkt, sondern auch in den ihnen vergleichbaren Lehrsätzen medizinisch-physiologischen Inhalts nachweisen läßt22; und drittens der Umstand, daß die Berührungspunkte zwischen Epid. VI und De diaeta, die über den Bereich der Diätetik hinaus auch so unterschiedliche Probleme wie die Keimesentwicklung, die Funktion der Seele oder den Begriff der Physis als der von selbst weisen Natur betreffen23, an Zahl weitaus geringer sind, als es nach den Ausführungen von Deichgräber den Anschein hat, und daß sie sich zudem, was ihre inhaltliche Aussage betrifft, als auffällig heterogen erweisen, so daß ihre Beweiskraft für die von Deichgräber aufgestellte These, daß die übereinstimmenden Anschauungen in diesen beiden Schriften auf das diätetische System des Herodikos als die gemeinsame Quelle zurückzuführen sind, außerordentlich gering ist.24 Die Berechtigung der Kritik an Deichgräbers These von dem Herodikeischen Ursprung der diätetischen Aphorismen des V I. Epidemienbuches läßt sich noch durch einen weiteren Umstand erhärten, der in der bisher geführten Diskussion | nicht beachtet wurde, obwohl er, wie ich meine, von entscheidender Bedeutung ist. Sieht man sich nämlich die Überlieferung zur Person des Herodikos25 an, dann muß man – fast
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lelüberlieferung zu Epid. VI 4,14, in der das entscheidende Wort ὕπνος fehlt. Zu der vermeintlichen Belegstelle aus Epid. IV s. oben Anm. 10. Siehe Deichgräber, a.a.O., 58–64. Siehe J.-H. Kühn, System- und Methodenprobleme im Corpus Hippocraticum (Hermes Einzelschr. H. 11), Wiesbaden 1956, 83 Anm. 1; V. Di Benedetto, Principi metodici di Ep. II. IV. V I, in: Corpus Hippocraticum. Actes du Colloque hippocratique de Mons (22–26 sept. 1975), hrsg. von R. Joly (Editions Universitaires de Mons, Série sciences humaines IV ), Mons 1977, 258f.; R. Joly, in: Hippocrate, Du régime, hrsg., übers. u. erl., C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) I 2,4, Berlin 1984, 39. Vgl. J. Ducatillon, Polémiques dans la Collection hippocratique, Lille u. Paris 1977, 268f. Siehe Joly, a.a.O., der mit Recht darauf hinweist, daß Deichgräber, a.a.O., 74, sich dieser Tatsache bewußt ist, sie jedoch herunterspielt. Vgl. auch C. W. Müller, Der Aphorismus 2,1 des sechsten hippokratischen Epidemienbuches, Rheinisches Museum, N. F. 109 (1966), 120–134, u. Kühn, a.a.O. Siehe De diaeta I 26,2: CMG I 2,4., S. 142,24–26 Joly ≈ Epid. VI 8,6: S. 166,1–3 Manetti – Roselli = V 344,10–12 Li.; De diaeta II 61,2 u. IV 86,2: CMG I 2,4, S. 184,12 u. 218,9–11 Joly ≈ Epid. V I 5,5: S. 110,2 Manetti – Roselli = V 316,8f. Li.; De diaeta I 15,2: CMG I 2,4, S. 136,28–138,1 Joly ≈ Epid. VI 5,1: S. 102,1f. Manetti – Roselli = V 314,7f. Li. Siehe Joly, a.a.O., 39f. Die Belege sind zusammengestellt bei H. Grensemann, Knidische Medizin. Teil I: Die Testimonien
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überrascht – feststellen, daß sie außerordentlich unsicher ist und daß infolgedessen hinsichtlich seines Beitrages zur Entwicklung der Diätetik26 kaum mehr als Vermutungen möglich sind. Angesichts dieser Situation erscheint die Frage angebracht, wie es dazu kommen konnte, in Herodikos den geistigen Ahnherrn der antiken Diätetik zu sehen. Von Platon wissen wir, daß Herodikos, der ursprünglich als Paidotribe, d.h. als Turnlehrer, tätig war, die Gymnastik mit der Medizin verbunden hat.27 Er tat dies, indem er bei einer Erkrankung zunächst sich selbst, später auch andere Patienten mit Maßnahmen, wie sie ihm von der Ausübung seines Berufes her geläufig waren, behandelte und auf diese Weise, d.h. dadurch, daß er die der Körperertüchtigung dienenden Verfahren wie Laufen, Ringen, Schwitzbäder28 und die zum gymnastischen Trainingsprogramm gehörende Regelung der Nahrungsaufnahme29 therapeutisch nutzte, eine neue Art der Behandlung von Krankheiten eingeführt hat. Offenbar hatte Herodikos sich von der Vorstellung leiten lassen, daß körperliche Anstrengung und Nahrungsaufnahme nicht nur für die Erhaltung der Gesundheit, sondern ebenso auch für ihre Wiederherstellung von ausschlaggebender Bedeutung sind, ohne dabei jedoch, wie es scheint, in ausreichender Weise zu berücksichtigen, daß die Belastbarkeit zumindest schwerkranker Menschen wesentlich geringer ist als die der gesunden. Das trug ihm den unter dieser Voraussetzung sicherlich berechtigten Vorwurf des Verfassers von Epid. VI ein, er habe „die Fieberkranken durch Laufen, häufiges Ringen und Schwitzbäder umgebracht“.30 Herodikos selbst, der nach Platon31 dadurch ein hohes Alter erreicht hat, daß sein Leben weitgehend damit ausgefüllt war, die Therapie, die er sich selbst verordnet hatte, genau zu befolgen, lieferte freilich den besten Beweis dafür, daß seine Behandlungsmethode bei nicht akuten Krankheitszuständen durchaus erfolgreich sein konnte. Man muß jedoch ausdrücklich festhalten, daß er in der Medizin ein Außenseiter war, über dessen Anteil an der sich im ärztlichen Bereich entwickelnden Diätetik, die zu einem integrierenden Bestandteil der antiken Therapeutik wurde, sich zugleich aber | auch als Lehre von der gesunden Lebensweise etablierte, allenfalls Vermutungen möglich sind. Der Grund, warum Herodikos bei seiner Mit- und Nachwelt eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, dürfte somit nach allem, was wir von ihm wissen, in erster Linie in seiner praktisch-medizinischen Tätigkeit zu suchen sein. Zumindest gibt es keine überzeugenden Argumente, welche die Bemühungen, aus ihm einen Theoretiker auf dem Felde der Medizin zu machen, rechtfertigen würden. Es trifft zwar zu, daß
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zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum (Ars Medica II 4,1), Berlin u. New York 1975, 15–21. In der antiken Tradition erscheint Herodikos bald als Hippokrates’ Vorgänger auf dem Gebiet der Diätetik (siehe Grensemann, ebd., 19 [Test. 8a, Nr. 14]; vgl. 16 [Test. 8a, Nr. 3, wo Herodikos zwar als Schüler des Hippokrates, gleichzeitig aber als Begründer der Iatraliptik genannt ist]), bald als dessen Nachfolger (siehe ebd., 19 [Test. 8a, Nr. 15]). Plato, Resp. III: 406 a/b. Zu den von Herodikos angewandten therapeutischen Verfahren siehe Hipp., Epid. VI 3,18: S. 68,12–70,1 Manetti – Roselli = V 302,1f. Li.; vgl. auch Plato, Phaedr. 227 d. Vgl. Lonie, a.a.O., 238. Epid. VI 3,18: S. 68,12–70,1 Manetti – Roselli = V 302,1f. Li. (vgl. auch oben S. 191f. [= S. 109f.]). Vgl. Plato, Resp. III: 406 b, der die Behandlungsmethoden des Herodikos als Quälerei bezeichnet. Ebd.
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Protagoras in dem gleichnamigen Dialog Platons32 den Herodikos ebenso wie seinen älteren Berufskollegen Ikkos von Tarent, ferner Homer, Hesiod, Simonides, den Kreis um Orpheus und Musaios, Agathokles und Pythokleides von Keos als Sophisten bezeichnet, die ihr eigentliches Metier hinter der jeweils von ihnen vertretenen Techne, der Gymnastik, der Dichtkunst, dem Mysterien- und Orakelwesen bzw. der Musik, verborgen hätten. Wenn man nun darin, J. Jüthner folgend, nicht überhaupt nur einen „sophistischen Kniff“ des Protagoras sehen will33, so würde sich als Erklärung für die Subsumierung der genannten Personen unter die Sophisten allenfalls noch ein rein äußerliches Moment anbieten, nämlich daß sie, wie die Sophisten, eine Techne ausgeübt haben und daß ihnen die Ausübung ihrer jeweiligen Kunst – das trifft zumindest teilweise zu – zum Erwerb ihres Lebensunterhalts diente. Man wird Protagoras bzw. Platon jedoch kaum unterstellen wollen, daß er Homer, Hesiod oder den Athleten und späteren Turnlehrer Ikkos von Tarent als Vertreter der durch Männer wie Protagoras, Gorgias oder Hippias repräsentierten geistigen Strömung betrachtet wissen wollte. Mit anderen Worten, die angeführte Platonstelle sagt nichts über die Zugehörigkeit der erwähnten Persönlichkeiten zu einer bestimmten Denkrichtung aus, und deshalb kann sie auch nicht als Beweis dafür dienen, daß Herodikos in seinem Denken den Sophisten verpflichtet war – eine mehrfach aufgestellte Behauptung34, die Deichgräber dahingehend präzisieren zu können glaubte, daß Herodikos „eine sophistisch-heraklitisierende Naturphilosophie“ vertreten habe35, und die neuerdings für J. Ducatillon Anlaß genug war, dem Selymbrianer die hippokratische Schrift De arte, deren Verfasser sich unverkennbar der Mittel sophistischer Rhetorik bedient hat, zuzuschreiben und ihn auf dieser Grundlage als Sophisten vom Range eines Protagoras zu erweisen.36 | Es läßt sich nicht einmal sicher belegen, daß es schriftliche Aufzeichnungen von Herodikos gab, geschweige denn, daß er in ihnen bestimmte nosologische und physiologische Theorien entwickelt hat. Denn bei dem Versuch, die Lehren des Herodikos zu rekonstruieren, vermag auch die im Anonymus Londinensis unter seinem Namen geführte Krankheitsätiologie37 kaum weiterzuhelfen, ist doch ihre Überlieferung in mehr als einer Hinsicht unsicher. Auf Grund der starken Beschädigung des Papyrus gerade an dieser Stelle muß es zum einen fraglich bleiben, ob hier, wie der Herausgeber H. Diels vermutet hat, tatsächlich von dem aus Selymbria stammenden Herodikos 32 33 34
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Plato, Prot. 316 d/e. J. Jüthner, Philostratos, Über Gymnastik, Leipzig u. Berlin 1909, 13. Siehe F. Spaet, Die geschichtliche Entwickelung der sogenannten Hippokratischen Medicin im Lichte der neuesten Forschung. Eine geschichtlich-medicinische Studie, Berlin 1897, 23; C. Fredrich, Hippokratische Untersuchungen, Berlin 1899 (Philologische Untersuchungen, hrsg. von A. Kießling u. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, H. 15), 218; vgl. auch R. Fuchs, in: Handbuch der Geschichte der Medizin, begr. von Th. Puschmann, hrsg. von M. Neuburger u. J. Pagel, Bd. 1, Jena 1902, 187f. Deichgräber, a.a.O., 58–63. Das ,,heraklitisierende Moment“ in den diätetischen Lehren des Herodikos hält Deichgräber neuerdings (ebd., 186, Nachtrag zu 52ff.) nicht mehr für so entscheidend; vgl. dazu auch F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts (Schweizerische Beiträge zur Altertumswiss. 1), Basel 1945, 105 Anm. 46 (Nachdruck Darmstadt 1978); Di Benedetto, a.a.O.; Joly, a.a.O., 39. Ducatillon, a.a.O., 59–83. Anon. Lond. IX 20–36, hrsg. von H. Diels (Supplementum Aristotelicum III 1), Berlin 1893.
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die Rede ist, da sich im Text nur der Name ohne Herkunftsbezeichnung erhalten hat. Zum anderen sind die, wie man glaubt, für die Lehren unseres Herodikos typischen Begriffe δίαιτα, πόνος, πονεῖν und πέψις sämtlich von Diels ergänzt worden, womit ein weiterer, keineswegs geringer Unsicherheitsfaktor hinzukommt. Und zum dritten finden sich hier, obwohl in dem überlieferten Textbestand solche Begriffe wie ἀγωγὴ εἰς τὸ κατὰ φύσιν, ἰατρική und νόσος, παρὰ φύσιν auftauchen, keine nach der gesicherten Überlieferung die Herodikeische Therapie kennzeichnenden, der Gymnastik entlehnten Maßnahmen, die wir oben angeführt haben. Als Indiz dafür, wie unsicher der von Diels rekonstruierte Text ist, läßt sich ferner vorbringen, daß der Terminus περίσσωμα bzw. περίττωμα nicht vorkommt, obgleich die Lehren des im Papyrus genannten Herodikos der Gruppe von Krankheitsätiologien zugeordnet sind, die auf diesem Ursachenkomplex aufbauen. Wenn es auch als sicher gelten kann, daß Herodikos den Begriff περίττωμα, der nach Galen erst von Aristoteles zur Bezeichnung der Nahrungsrückstände im Körper verwendet wurde38, nicht gebraucht hat, so besteht doch andererseits kein Zweifel, daß Menon, der Verfasser der im Anonymus Londinensis überlieferten Doxographie, diesen Begriff entsprechend seiner sonstigen Gepflogenheit auch auf die Krankheitsätiologie des hier genannten Herodikos übertragen hat, in der, wie bereits von C. W. Müller festgestellt wurde39, unverdaute Nahrung als Krankheitsursache eine Rolle gespielt haben muß. Faßt man die von uns vorgebrachten Überlegungen zusammen, so wird man kaum noch umhin können, die Möglichkeiten der Beeinflussung des Verfassers von Epid. V I durch Herodikos von Selymbria in den Bereich der medizinhistorischen Legende zu verweisen40 und zuzugestehen, daß der Theoretiker Herodikos sich uns bestenfalls als eine Schattengestalt darstellt, da wir seine Meinungen nur andeutungsweise kennen und aufgrund der Überlieferungssituation auch nicht mit Sicherheit zu sagen imstande sind, ob er überhaupt Schriften verfaßt hat. Gesichert ist lediglich, daß er gelebt hat, daß er eine aus der Gymnastik abgeleitete Therapie praktizierte, die aus ärztlicher Sicht kritisiert worden ist, und daß die von ihm empfohlene Therapie etwas Neues darstellte. Alles andere gehört in das Reich der Spekulation.
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Gal., De instrum. odor. 2,3: CMG Suppl. V, hrsg., übers. u. erl. v. J. Kollesch, Berlin 1964, S. 36,10f. Müller, Gleiches zu Gleichem, 144 Anm. 124. Vgl. auch Di Benedetto, a.a.O., und Joly, a.a.O., 39.
6. PHAN TASIE STAT T ANATOMIE*
„Es ist also auf Grund aller Einzelheiten offensichtlich, daß dieser Mensch nicht, wie einige von denen, die sezieren, manche Dinge übersahen, auch seinerseits einiges übersehen hat, sondern daß er überhaupt nichts gesehen hat; denn von demjenigen, der die wichtigsten Gegebenheiten nicht sieht, dürfte wohl mit Recht gesagt werden, daß er überhaupt nicht sieht, nicht, daß er etwas übersieht.“1 Dieses harte Urteil hat der Arzt Galen von Pergamon (129– um 215) in seinem Kommentar zu der dem Polybos, dem Schüler und Schwiegersohn des Hippokrates, zugeschriebenen Schrift De natura hominis über den Verfasser der Adernbeschreibung gefällt, die in dieser Abhandlung geboten wird2, nachdem er zuvor dessen Ausführungen eingehend geprüft hatte3. Wenn man in dieser Adernbeschreibung liest, daß die vier mächtigsten Adernpaare ihren Ursprung im Kopf haben und von dort in drei Fällen durch den Körper zu den Beinen und Füßen bzw. Armen und Händen | führen, kann man Galen in der Tat nur zustimmen, daß diese Darstellung des Adernverlaufs nicht das Ergebnis anatomischer Untersuchungen ist. Vielmehr handelt es sich um eine rein schematische Konstruktion4, die jeden Versuch, die anatomischen „Befunde“ zu verifizieren, scheitern läßt, mit deren Hilfe lediglich, wie J. Jouanna mit Recht hervorgehoben hat5, die Stellen an den oberen und unteren Extremitäten markiert werden sollten, an denen, je nach Art der Erkrankung der zu therapeutischen Zwecken angewandte Aderlaß vorzunehmen war. Insofern war es durchaus begründet, daß Jouanna in seinem Kommentar zu diesem Text darauf verzichtet hat, die fraglichen Gefäße als tatsächliche anatomische Gegebenheiten zu identifizieren.
* Erschienen in: La science médicale antique. Nouveaux regards, Etudes réunies en l'honneur de Jacques Jouanna, hrsg. v. V. Boudon-Millot, A. Guardasole u. C. Magdelaine, Paris 2007, S. 289–293. 1
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Gal., In Hipp. De nat. hom. comm. II 6: CMG V 9,1, hrsg. v. J. Mewaldt, Leipzig u. Berlin 1914, S. 73,14–17: δῆλος οὖν ἐστιv ἐξ ἁπάντων οὐχ, ὥσπερ ἔνιοι τῶν ἀνατεμνόντων παρεῖδόν τινα, καὶ αὐτὸς οὗτος παρεωρακώς, ἀλλ᾽ ὅλως οὐδὲν ἑωρακώς· ὁ γὰρ τὰ μέγιστα μὴ βλέπων οὐ παραβλέπειν, ἀλλ᾽ ὅλως οὐ βλέπειν ἀληθῶς ἂν λέγοιτο. Siehe Hipp., De nat. hom. 11: CMG I 1,3, hrsg. v. J. Jouanna, 2., verb. Aufl., Berlin 2002, S. 192,15–196,15. Siehe Gal., In Hipp. De nat. hom. comm. II 6: CMG V 9,1, S. 69,18–73,14. Galen bezeichnet den Verfasser dieser Beschreibung als „neuen Prometheus“ (νέος Προμηθεύς), weil er die anatomischen Gegebenheiten des menschlichen Körpers neu erfunden habe (In Hipp. De nat. hom. comm. II 6. 7: CMG V 9,1, S. 75,1f. 18–20). Siehe J. Jouanna, in: CMG I 1,3, S. 28f.
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Den gleichen Schematismus, wie er in De natura hominis festgestellt wurde, weist eine weitere Adernbeschreibung auf, die anonym in der hippokratischen Schrift De ossium natura6, in kürzerer Fassung in Verbindung mit dem Namen des Syennesis von Zypern – es handelt sich ebenfalls um einen Schüler des Hippokrates7 – in der Historia animalium des Aristoteles8 überliefert ist. Bei dieser Beschreibung, die Aristoteles neben der aus De natura hominis als Beispiel für die irrige Vorstellung vom Ursprung der Adern im Kopf anführt, verbietet es sich nach unserer Auffassung ebenfalls, die von dem Kyprioten beschriebenen Sachverhalte auf die Beobachtung anatomischer Tatbestände zurückzuführen. Für den Schematismus in dieser Beschreibung, in der es auch nur um die „dicken“ Adern geht, ist zweierlei kennzeichnend: zum einen die Annahme vom paarigen Verlauf der Adern und zum anderen die Vorstellung vom Sichkreuzen der Adern in den drei im Kopf, in der Brust und im Bauch bestehenden Hohlräumen des Körpers. Die Adern des ersten Paares werden als vom Auge an der Augenbraue9 vorbei durch den | Rücken an der Lunge entlang unter die Brüste führend beschrieben; von dort verläuft die von der linken Seite kommende Ader weiter auf der rechten Seite zur Leber, zur Niere und zum Hoden und die von der rechten auf der linken Seite zur Milz, zur Niere und zum Hoden, und von den Hoden aus ziehen beide in das Genitale10. Daß diese Beschreibung des Adernverlaufs die Vorstellung vom Herzen als dem Kreuzungspunkt der Gefäße impliziert, wie C.R.S. Harris meint11, erscheint uns nicht zwingend, da in diesem Falle das Herz doch ausdrücklich hätte genannt werden müssen. Hinzu kommt noch, daß die Überschneidung der „innominate artery“ (= Truncus brachiocephalicus) und der „left innominate vein“ (= Vena brachiocephalica sinistra), deren Beobachtung nach Harris dem von Syennesis angenommenen Kreuzungspunkt zugrunde liegen könnte, deutlich oberhalb des Herzens angesiedelt ist. Zu überzeugen vermag auch die Argumentation von M.-P. Duminil nicht, mit der Angabe, daß sich die beiden Gefäße im Brustraum kreuzen, könnte ein unaufmerksamer Beobachter 6 7
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Siehe Hipp., De oss. nat. 8: IX 174,4–12 Littré. Siehe H. Schöne, Bruchstücke einer neuen Hippokratesvita, Rheinisches Museum 58, 1903, S. 57; vgl. auch J. Jouanna, Hippocrate, Paris 1992, S. 75. Arist., Hist. anim. III 2: 511 b 23–30. Vgl. M.-P. Duminil, Le sang, les vaisseaux, le cœur dans la Collection hippocratique. Anatomie et physiologie, Paris 1983, S. 70f., die allerdings davon ausgeht, daß auch der in De oss. nat. überlieferte Text unvollständig ist, und H. Diller, Emendation zu Syennesis von Kypros, Hermes 73, 1938, S. 477. Es sind schon wiederholt überzeugende Argumente vorgebracht worden, daß ein Teil der Aristoteleshandschriften mit ὀφθαλμοῦ und ὀφρὺν gegenüber den von Bekker in den Text genommenen Lesarten ὀμφαλοῦ und ὀσφὺν das Richtige bewahrt hat (s. vor allem H. Diller, Die Lehre vom Blutkreislauf, eine verschollene Entdeckung der Hippokratiker?, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 31, 1938, S. 210 Anm. 3 = H. Diller, Kleine Schriften zur antiken Medizin, hrsg. v. G. Baader u. H. Grensemann, Ars Medica II 3, Berlin u. New York 1973, S. 39 Anm. 23; vgl. auch Duminil [Anm. 8], S. 70f.). Siehe Hipp., De oss. nat. 8: IX 174,4–9 Littré: Αἱ φλέβες δὲ αἱ παχεῖαι ὧδε πεφύκασιν· ἐκ τοῦ ὀφθαλμοῦ παρὰ τὸν ὀφρύν, διὰ τοῦ νώτου παρὰ τὸν πλεύμονα ὑπὸ τοῦ στήθεος· ἡ μὲν ἐκ τοῦ δεξιοῦ ἐς τὸ ἀριστερόν, ἡ δὲ ἐκ τοῦ ἀριστεροῦ ἐς τὸ δεξιόν. Ἡ μὲν οὖν ἐκ τοῦ ἀριστεροῦ διὰ τοῦ ἥπατος ἐς τὸν νεφρὸν καὶ τὸν ὄρχιν, ἡ δὲ ἐκ τοῦ δεξιοῦ ἐς τὸν σπλῆνα καὶ νεφρὸν καὶ ὄρχιν· ταύτῃσι δὲ τὸ στόμα αἰδοῖον. C.R.S. Harris, The Heart and the Vascular System in Ancient Greek Medicine from Alcmaeon to Galen, Oxford 1973, S. 20f.
Phantasie statt Anatomie
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den sich kreuzweise überlagernden Verlauf der Aorta und der Lungenarterie interpretiert haben,12 bleibt dabei doch unberücksichtigt, daß zumal von der Lungenarterie schwerlich gesagt werden konnte, daß sie vom Kopf zum Brustraum verläuft13. Die nur in De ossium natura überlieferte Beschreibung des Verlaufs von zwei weiteren, ebenfalls paarig gedachten Adern, die nach den Ausführungen des Syennesis von der rechten Brust zur linken Hüfte und in das linke Bein bzw. von der linken Brust zur rechten Hüfte und in das | rechte Bein führen,14 verrät ebenfalls völlige Unkenntnis der tatsächlichen anatomischen Gegebenheiten, so daß es auch in diesem Falle auf ein reines Gedankenspiel hinausläuft, wenn Duminil in Erwägung zieht, daß dem von Syennesis angenommenen Kreuzungspunkt dieser beiden Gefäße im Bauchraum eine, wenn auch zugestandenermaßen „plumpe“, Beobachtung der Verzweigungen der Aorta und der Vena cava in Höhe der Lenden und deren Überlagerung zugrunde liegen könnte15. Die Postulierung eines Kreuzungspunktes der Adern im Kopf ergibt sich aus der Aussage des letzten Satzes der in De ossium natura erhaltenen längeren Fassung, in dem es heißt, daß die Augen ebenso wie die Hoden die Adern jeweils von der gegenüberliegenden Seite aufnehmen16. Mit anderen Worten, es ist hier von Adern die Rede, die sich oberhalb der Augen kreuzen. Eine Entscheidung darüber, ob es sich dabei um dieselben Adern handelt, die zu Beginn des Textes als von den Augen bis zum Genitale verlaufend geschildert wurden, oder um ein von den beiden zuvor beschriebenen verschiedenes drittes Adernpaar, läßt die für das ganze Textstück charakteristische knappe Ausdrucksweise nicht zu. Fest steht jedoch, daß die hier getroffene Aussage, welche die Annahme eines den beiden Kreuzungspunkten der Adern im Brust- und im Bauchraum entsprechenden weiteren Kreuzungspunktes im Kopf voraussetzt, eine über das zuvor Gesagte hinausgehende Information bietet. Deren Bedeutung für den Schematismus in der Adernbeschreibung des Syennesis wird von Duminil heruntergespielt, wenn sie den zur Debatte stehenden letzten Satz als „un retour en arrière au premier trajet décrit“ interpretiert und ihn als Glosse abtun möchte17. 12 13
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Duminil (Anm. 8), S. 72. Vgl. auch den Hinweis im Kommentar von Jouanna zu Hipp., De nat. hom. (CMG I 1,3, S. 282 zu S. 194,12–14), daß die bei den frühen griechischen Ärzten verbreitete Vorstellung von dem Sichkreuzen der Blutgefäße im Brustraum keinem anatomischen Sachverhalt entspricht, sondern möglicherweise durch die Beobachtung von den bei Halbseitenlähmungen (z.B. nach einem Schlaganfall) auftretenden Beschwerden suggeriert worden ist. Siehe Hipp., De oss. nat. 8: IX 174,9–11 Littré: Ἀπὸ δὲ τοῦ δεξιοῦ τιτθοῦ ἐς τὸ ἀριστερὸν ἰσχίον καὶ ἐς τὸ σκέλος· καὶ ἀπὸ τοῦ ἀριστεροῦ ἐς τὰ δεξιά. Duminil (Anm. 8), S. 72. Zur Richtigstellung des von Duminil angegebenen anatomischen Sachverhalts sei vermerkt, daß man von einer „Verzweigung“ (division) nur in bezug auf die Aorta sprechen kann, nicht aber in bezug auf die Vena cava, die sich nicht aufspaltet, sondern im Bereich der Lendenwirbel aus der Vereinigung der beiden Venae iliacae communes entsteht. Siehe Hipp., De oss. nat. 8: IX 174,11f. Littré: Ὁ δὲ ὀφθαλμὸς ὁ δεξιὸς ἐκ τοῦ ἀριστεροῦ καὶ ὁ ὄρχις, κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον ἐκ τοῦ δεξιοῦ ὁ ἀριστερός. Duminil (Anm. 8), S. 72. Diesem Vorgehen von Duminil entspricht es auch, daß sie in der graphischen Darstellung des Adernverlaufs nach Syennesis, S. 69, den Verlauf der Adern von der rechten Seite zum linken Auge und von der linken Seite zum rechten Auge trotz der angeblichen sachlichen Übereinstimmung zwischen dem letzten Satz und der an erster Stelle gebotenen Adernbeschreibung nicht berücksichtigt hat.
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Phantasie statt Anatomie
Vergleicht man die Adernbeschreibung des Syennesis mit der in De natura hominis, so fällt auf, daß in der des Kyprioten die Blutgefäße, die | zu den oberen und unteren Gliedmaßen führen und zumindest teilweise an der Körperoberfläche sichtbar sind, so gut wie keine Rolle spielen und daß andererseits keinerlei Hinweise auf die für die Anwendung des Aderlasses geeigneten Stellen an Armen und Beinen gegeben werden. Das Interesse des Syennesis konzentrierte sich ganz darauf, darzustellen, wie seiner Meinung nach die Gefäße im Inneren des Körpers verlaufen, ohne daß er sich dabei auf konkrete Beobachtungen stützte. Dies geschah offenbar in dem Bemühen, das Körperinnere durch einen symmetrischen Gefäßverlauf in gewisser Weise zu strukturieren, indem er die paarig angeordneten Körperorgane, die Augen, Lungen, Brüste, Leber und Milz sowie die Nieren, die Hüften und die Hoden, durch sich an bestimmten Stellen kreuzende Adern miteinander in Beziehung zu setzen versuchte.
7. ZUR SÄF T ELEHRE IN DER MEDIZIN DES 4. JAHRHUNDERTS V.U.Z.*
Zu den zahlreichen griechischen Ärzten, deren medizinisches Schrifttum bedauerlicherweise nur in wenigen Bruchstücken auf uns gekommen ist, gehört auch Praxagoras1, der in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v.u.Z. auf der Insel Kos, der Heimstätte der hippokratischen Medizin, wirkte. Wie bei anderen Autoren so bietet die äußerst fragmentarische Überlieferung auch im Falle des Praxagoras Anlaß zu unterschiedlichen Interpretationen, und zwar speziell im Hinblick auf seine Säftelehre, deren Kenntnis wir im wesentlichen zwei Fragmenten verdanken, einer kurzen Notiz bei Galen2 und einem acht Zeilen umfassenden Textstück aus einer Schrift des Rufus von Ephesos3. Diese mehr als schmale Textgrundlage hat dazu geführt, daß die neueste Forschung einen Widerspruch zwischen den Aussagen Galens und denen des Rufus glaubte konstatieren zu müssen und die Glaubwürdigkeit Galens in diesem Punkte entschieden in Frage stellte. Doch wenden wir uns zunächst den beiden genannten Praxagorasfragmenten zu. Von Galen, der eine heute verlorene Spezialschrift über die Praxagoreische Säftelehre verfaßt hat, erfahren wir, daß Praxagoras ohne das Blut maximal zehn Säfte unterschieden habe, daß er damit jedoch nicht von der hippokratischen Viersäftelehre abgewichen sei, diese vielmehr nur durch eine Unterteilung nach „Arten“ und „Unterschieden“ weiterentwickelt habe. Soweit Galen. In dem von Rufus überlieferten Fragment dagegen werden wir etwas genauer darüber informiert, auf welche Weise Praxagoras die Säfte unterteilt hat. Unser Gewährsmann berichtet, daß Praxagoras innerhalb der Art „Schleim“ zwischen einem süßen, einem gleichmäßig gemischten und einem glasartigen Saft unterschieden habe und daß er, ausgehend von den Kriterien Geschmack, Farbe, Konsistenz und Wirkungsweise, Bezeichnungen wie scharf, salzig, lauchgrün, dotterartig oder zersetzend zur Kennzeichnung der verschiedenen Säfte verwendete. In dieser offenbar mehr zufälligen Aufzählung scheint F. Steckerl, dem sich auch E. Schöner anschließt, das authentische Schema der von Galen bezeugten zehn Säfte des Praxagoras sehen | zu wollen.4 Dem können wir aber schon deshalb nicht zustimmen, weil die Zahl der hier * Erschienen in: Acta Congressus Internationalis XXIV Historiae Artis Medicinae, 25–31 Augusti 1974 Budapestini, hrsg. v. J. Antall, G. Buzinkay, F. Némethy, Bd. II, Budapest 1976, S. 1339–1342. 1
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Die Fragmente des Praxagoras sind zusammengestellt bei F. Steckerl, The fragments of Praxagoras of Cos and his school, Philosophia Antiqua 8, Leiden 1958. Frgm. 21 Steckerl. Frgm. 22 Steckerl. Siehe F. Steckerl, a.a.O., S. 9, und E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Sudhoffs Archiv, Beih. 4, Wiesbaden 1964, S. 75.
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genannten möglichen Säfte nicht zehn, sondern elf oder sogar zwölf beträgt, wenn man den Schleim noch mit hinzurechnet. Außerdem bleibt in der Aufzählung des Rufus nicht nur das Blut, wie Steckerl meint,5 sondern auch die Galle unerwähnt, die nach der Aussage Galens doch auf jeden Fall ihren Platz in diesem Schema haben müßte. Gehen wir jedoch davon aus, daß Rufus gar nicht das vollständige Einteilungsschema des Praxagoras vorstellen wollte, ihm vielmehr nur daran lag, an Beispielen zu zeigen, auf welche Weise die Spezifizierung der Säfte durch Praxagoras erfolgte, dann werden wir im Gegensatz zu Steckerl und Schöner feststellen, daß dieses Fragment wertvolle Hinweise enthält, die zur Veranschaulichung der Bemerkung Galens über die Praxagoreische Unterteilung der Säfte nach Arten und Unterschieden dienen können. Gleich zu Beginn des Textstückes spricht Rufus nämlich, wie schon gesagt, davon, daß Praxagoras unter den Artbegriff „Schleim“ drei durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnete Säfte subsumiert hat. Diese Feststellung läßt darauf schließen, daß der Koer in seinem Einteilungsschema der Säfte neben dem Schleim zumindest noch die hippokratischen Säfte gelbe und schwarze Galle, die uns auch in seiner Krankheitsätiologie begegnen, als ,,Arten“ verwendete, ein Einteilungsverfahren, das nicht nur in Galens Wunschdenken existierte,6 sondern, wie wir nunmehr wissen, von diesem und Rufus übereinstimmend als Bestandteil seines Einteilungsschemas bezeugt ist. Weiterhin dürfen wir mit einiger Gewißheit annehmen, daß Praxagoras auch die Arten „gelbe Galle“ und „schwarze Galle“ analog dem von Rufus angeführten Beispiel des Schleims nach den bei Galen genannten Unterschieden weiter unterteilt hat. Auf welche Weise dies im einzelnen geschah, das heißt, wieviele und welche von den unter die Rubrik „Unterschiede“ fallenden Säfte er jeweils einer von diesen beiden Arten zurechnete, können wir heute in Ermangelung eines ausreichenden Quellenmaterials nicht mehr sagen. Sicher ist nur so viel, daß die Endsumme der von ihm unterschiedenen Säfte zehn ergab, wie wir von Galen hörten. Bildeten also die aus der hippokratischen Medizin bekannten Säftekategorien Schleim, gelbe und schwarze Galle das äußere Gerüst des Praxagoreischen Einteilungsschemas, so ist es unseres Erachtens nur folgerichtig, wenn Galen das Blut, das auch nach Auffassung des Praxagoras zu den konstitutiven Körpersäften gehörte,7 in die Säftelehre des Koers als elften Saft mit einbezieht – auch wenn dieser es bei der weiteren Unterteilung der Säfte unberücksichtigt gelassen hat, und zwar vermutlich deswegen, weil er dem Blut auf Grund seiner physiologischen Funktion, die es als Nährstoff des Körpers zu erfüllen hatte, eine Sonderstellung gegenüber den anderen Säften mit ihren pathogenen Eigenschaften einräumte. Bereits an diesem Punkt unserer Überlegungen zeigt sich die Unhaltbarkeit einer weiteren These Steckerls, nämlich daß Galens Behauptung, Praxagoras fuße auf der hippokratischen Viersäftelehre, lediglich das Pro|dukt seiner subjektiven Interpretation sei8. Und sie wird vollends zur Gewißheit werden, wenn wir uns um das Ver-
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F. Steckerl, ebd. So F. Steckerl, ebd. Siehe Frgm. 18 Steckerl. Siehe F. Steckerl, a.a.O., S. 10. E. Schöner, a.a.O., S. 75 Anm. 7 übernimmt auch diese These Steckerls, er schränkt sie allerdings in ihrer Ausschließlichkeit insofern etwas ein, als er zugesteht,
Zur Säftelehre in der Medizin des 4. Jahrhunderts
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ständnis der Hintergründe bemühen, die Praxagoras zur Unterteilung der Säfte nach Unterschieden innerhalb der Arten veranlaßten. Den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Vorstellungen, von denen Praxagoras sich dabei hat leiten lassen, finden wir bei Galen, dessen pharmakologisches System uns tiefere Einsichten in die hier angesprochenen Zusammenhänge zu vermitteln vermag. Wie G. Harig kürzlich in seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen den Primär- und Sekundärqualitäten in der Pharmakologie Galens gezeigt hat, vertrat Galen in Anlehnung an Aristoteles die Auffassung, daß die der sinnlichen Wahrnehmung zugänglichen Geschmacksqualitäten, Farben und Konsistenz der Pharmaka die Äußerungsformen ihrer medizinischen Wirkungen darstellten und daß diesen mit den Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften eine große Bedeutung zukäme. Denn sie ließen Rückschlüsse auf die in den Heilmitteln vorherrschenden Primärqualitäten Warm, Kalt, Trocken und Feucht zu und ermöglichten damit zugleich die Anwendung der auf den Primärqualitäten beruhenden Gradlehre Galens in der medizinischen Praxis.9 Diese Überlegungen berühren ein Kardinalproblem der antiken Medizin, das sich jedoch als solches nicht erst Galen stellte, sondern auch schon bei der Entwicklung der Säftelehre im 4. Jh. v.u.Z. eine große Rolle gespielt hat. Ich meine das Problem der Realisierbarkeit medizinischer Theorien in der ärztlichen Praxis, in der infolge des niedrigen Entwicklungsstandes der exakten Naturwissenschaften die sinnliche Wahrnehmung weithin das wichtigste Hilfsmittel des Arztes darstellte. Konkret auf die Humorallehre bezogen, bedeutete dies, daß mit der hippokratischen Lehre von den Körpersäften Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle zwar eine theoretische Grundlage geschaffen worden war, die es möglich machte, in befriedigender Weise die Vielfalt des Krankheitsgeschehens zu erklären. Sie erwies sich jedoch als unzureichend, wenn es darum ging, für eine nach Auffassung der Hippokratiker durch ein Zuviel oder Zuwenig eines bestimmten Saftes verursachte Erkrankung das passende Heilmittel zu finden. Die Begriffe „zuviel“ oder „zuwenig“ Blut, Schleim oder Galle blieben im höchsten Grade abstrakt und konnten demzufolge keinen konkreten Anhaltspunkt für die Wahl des zu indizierenden Mittels bieten. Selbst die den Säften zugeordneten Primärqualitäten Warm, Trocken, Kalt und Feucht mußten den Ärzten zu wenig faßbar erscheinen, um geeignete Kriterien bei der Entscheidung für die eine oder andere therapeutische Verordnung abzugeben. Die heftige Polemik des Verfassers der hippokratischen Schrift Über die alte Heilkunst gegen die Verfechter der Lehre von den Primärqualitäten ist der beste Beweis dafür. Womit der Arzt täglich konfrontiert wurde, das waren die mit den Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften sowohl der Krankheitsstoffe wie der Heil|mittel. Das heißt aber nichts anderes, als daß es ihre jeweilige Geschmacksqualität, Farbe oder Konsistenz waren, die den Arzt interessierten und von denen wir bereits im Zusammenhang mit Galens pharmakologischen Theorien hörten. Und eben diese Eigenschaften, nämlich der Geschmack (ὡς γευσαμένῳ φαίνονται), die Farbe (τῇ χρόᾳ), Konsistenz (τῇ παχύτητι, διὰ τὸ λεπτοὺς εἶναι) oder die Wirkungsweise sind es auch,
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daß Praxagoras auf Grund seiner Zugehörigkeit zur koischen Ärzteschule die hippokratische Viersäftelehre aller Wahrscheinlichkeit nach gekannt haben dürfte. Siehe G. Harig, Verhältnis zwischen den Primär- und Sekundärqualitäten in der theoretischen Pharmakologie Galens, NTM 10, 1973, 1, S. 68f.
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die Praxagoras, wie wir aus der Darstellung des Rufus wissen, als Einteilungskriterien für die Differenzierung der Säfte nach Unterschieden benutzt hat. Die sich aus dieser Unterteilung ergebende Vielzahl von Säften ist aber andererseits ohne das Substrat der konstitutiven Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle nicht denkbar. Das beweisen die oben zitierten Ausführungen Galens, die die antike Auffassung wiedergeben, daß die sich im Geschmack, in der Farbe oder der Konsistenz äußernden Qualitäten der Stoffe die konkrete Erscheinungsform der Primärqualitäten sind, die wie den Heilmitteln so auch den Säften im menschlichen Körper immanent sind. Mit anderen Worten, um die Säfte nach unterschiedlichen Eigenschaften einzuteilen, die nicht als solche, sondern nur in Verbindung mit den Säften im menschlichen Körper existierten, mußte Praxagoras bei seiner Einteilung von eben diesen Körpersäften ausgehen, wie das Beispiel des Schleims beweist, von dem wir bei Rufus hörten. Wir können daher, so glaube ich, abschließend feststellen, daß sich die beiden von uns behandelten Fragmente zur Säftelehre des Praxagoras keineswegs gegenseitig ausschließen, daß das eine vielmehr eine willkommene Ergänzung des anderen darstellt und daß Galen von seinem Standpunkt, d.h. von dem eines in der Tradition der hippokratischen Säftelehre stehenden Arztes aus betrachtet, Praxagoras entgegen der Behauptung Steckerls mit vollem Recht zu den Ärzten zählt, die ihre Lehren auf die hippokratische Humorallehre gründeten und diese durch eigene theoretische Überlegungen im Interesse der ärztlichen Praxis fruchtbar weiterentwickelt haben. Und wir sollten dabei auch nicht vergessen, daß Galen für seine Interpretation der Praxagoreischen Säftelehre vermutlich noch die vollständigen Werke des Praxagoras benutzen konnte, so daß seine Aussagen allein schon aus diesem Grund mehr Glaubwürdigkeit verdienen als die Vorstellungen, die wir uns auf Grund von zwei dürftigen Fragmenten über die Säftelehre des Praxagoras zu machen versuchen.
8. ZU ARISTOT ELES’ BEW ERT UNG VON ERFAHRUNG UND T HEORIE IN DER MEDIZIN UND IHREN AUSW IRKUNGEN AUF DIE EN T W ICKLUNG DER HEILKUNDE IM HELLENISMUS*
Die wissenschaftliche Medizin der Griechen verdankt ihre Entstehung der Durchdringung empirisch gewonnener medizinischer Kenntnisse mit wissenschaftlichen Fragestellungen und Denkansätzen, welche die Ärzte von den Naturphilosophen übernahmen und in kritischer Auseinandersetzung im Hinblick auf die speziellen Belange der Medizin schöpferisch weiterentwickelten. Die Einführung der rationalen Betrachtungsweise in die Medizin bedeutete, daß die Ärzte lernten, den menschlichen Körper als einen Bestandteil des Kosmos zu sehen, nach seinem Ursprung und Aufbau zu fragen und die gesunden und krankhaften Vorgänge, die sich in ihm abspielen, als ein auf natürlichen Ursachen beruhendes Geschehen zu erklären. Das wesentlichste Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses bestand in der Schaffung einer wissenschaftlichen Methodik auf dem Gebiet der Medizin, die es gestattete, mit dem vorhandenen Wissen zu arbeiten, es einzuordnen und zu systematisieren. Daneben hatte er jedoch auch einen beträchtlichen Wissenszuwachs zur Folge, der seinerseits die ärztliche Praxis bereicherte und den Ärzten auf diese Weise die Möglichkeit bot, die medizinischen Theorien an den in der Praxis gewonnenen Erfahrungen zu überprüfen und sie den praktisch ärztlichen Bedürfnissen jeweils anzupassen. Daß die Gelegenheit, einmal geschaffene Theorien zu modifizieren und weiterzuentwickeln, wenn sich ihre Realisierbarkeit in der Praxis als unzureichend erwies, tatsächlich genutzt wurde, läßt sich bereits an den Schriften der hippokratischen Sammlung aus der Zeit um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert ablesen. Hierher gehört z.B. die Polemik des Verfassers der Abhandlung Über die alte Heilkunst gegen die Verfechter der Lehre von den Primärqualitäten1, die aufs engste mit der klassischen Form der Viersäftelehre verbunden ist, wie sie von Polybos, dem Schüler und Schwiegersohn des Hippokrates, in der Schrift Über die Natur des Menschen entwickelt worden ist2. Sie rührt daher3, daß sich die aus der hippokratischen Säftelehre im Hinblick auf das Krankheitsgeschehen abgeleiteten Begriffe wie ,,zu viel“ oder „zu wenig“ Blut, Schleim oder Galle bzw. Angaben wie warm, kalt, trocken oder feucht als zu abstrakt * Erschienen in: Aristoteles als Wissenschaftstheoretiker. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. v. J. Irmscher und R. Müller, Berlin 1983 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 22), S. 179–182. 1
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Hippokrates, De prisca med. 1; 13–16, in: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) I 1, hg. v. J. L. Heiberg, Leipzig u. Berlin 1927, S. 36,2–21; 44,8–48,20. Hippokrates, De nat. hom. 1–8: CMG I 1,3, hg. v. J. Jouanna, Berlin 1975, S. 164,3–188,2. Zum Folgenden s. J. Kollesch, Zur Säftelehre in der Medizin des 4. Jahrhunderts v.u.Z., in: Acta Congressus Internationalis XXIV Historiae Artis Medicinae 25–31 Augusti 1974 Budapestini, hg. v. J. Antall, G. Buzinkay u. F. Némethy, Budapest 1976, Bd. II, 1341f. (= oben, S. 123f.).
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Zu Aristoteles' Bewertung von Erfahrung und Theorie
erwiesen, wenn es in der ärztlichen Praxis, in der die sinnliche Wahrnehmung weithin das wichtigste Hilfsmittel des Arztes darstellte, darauf ankam, sich für eine den jeweiligen Erkrankungen angemessene therapeutische Verordnung zu entscheiden. Womit die Ärzte täglich konfrontiert wurden, das waren die mit den | Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften der Krankheitsstoffe und der Heilmittel, d.h. die sog. Sekundärqualitäten, zu denen neben Farbe, Geruch und Konsistenz auch die Geschmackseigenschaften wie süß, salzig, bitter, scharf usw. gehörten. Wenn nun der Autor der Schrift Über die alte Heilkunst die Berücksichtigung der Primärqualitäten weitgehend ablehnt und statt dessen den Sekundärqualitäten die entscheidende Bedeutung im Krankheitsgeschehen zuschreibt, so bedeutet das jedoch nicht, daß damit die Theorie von den Primärqualitäten oder gar die Säftelehre in Frage gestellt wurden. Was sich hier widerspiegelt, ist vielmehr der Versuch der hippokratischen Ärzte, eine bestimmte medizinische Theorie auf Grund praktischer Erfahrungen zu korrigieren und weiter auszubauen4, der gleichzeitig von dem Bemühen getragen ist, die theoretischen Grundlagen der Medizin und ihre praktischen Bedürfnisse so weit wie möglich in Übereinstimmung zu bringen. Diese und ähnliche Bemühungen der Hippokratiker, auf die wir hier aus Zeitgründen nicht weiter eingehen können, machen deutlich, daß sich die Ärzte des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts der Bedeutung des Wechselspiels von Theorie und Praxis für die Entwicklung der Medizin sehr wohl bewußt waren. Soweit die erhaltenen Texte aus voraristotelischer Zeit erkennen lassen, war Aristoteles jedoch der erste, der sich zu dem Verhältnis von Erfahrung und Theorie in der Medizin unter rein wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten geäußert hat, und zwar im Zusammenhang mit der Darlegung seiner Wissenschaftskonzeption zu Beginn des 1. Buches der Metaphysik5, der folgender hierarchischer Aufbau der verschiedenen Wissensbereiche zugrunde liegt: auf der untersten Stufe steht das Erfahrungswissen; den zweiten Platz haben die praktischen Wissenschaften, zu denen auch die Medizin gehört, inne, während die theoretischen Wissenschaften, denen der höchste Grad an Wissenschaftlichkeit zukommt, die Spitze bilden. Im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit ist jedoch der Abstand von der Empirie zu den praktischen Wissenschaften größer als der von den praktischen zu den theoretischen Wissenschaften. Denn sowohl den praktischen als auch den theoretischen Wissenschaften geht es um das Erfassen der allgemeinen Dinge, der Ursachen und der Prinzipien, die Empirie dagegen hat es nur mit den Einzelerscheinungen zu tun und kann deshalb auch nur in einem geringeren Maße Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, daß sie die Voraussetzung für die Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes darstellt, macht doch erst eine Vielzahl von Einzelerfahrungen eine Verallgemeinerung, die das Kennzeichen der Wissenschaft ist, möglich. In Übereinstimmung mit dieser Konzeption räumt Aristoteles als Nichtmediziner auch in der Medizin der Theorie eindeutig den Vorrang vor der Empirie ein. Nicht so 4
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Um die Klärung des Verhältnisses zwischen den für die medizinische Praxis relevanteren Sekundärqualitäten und den in höherem Grade abstrakten Primärqualitäten hat sich auch der Verfasser der hippokratischen Schrift De diaeta bemüht (s. dazu G. Harig, Anfänge der theoretischen Pharmakologie im Corpus Hippocraticum, in: Hippocratica. Actes du Colloque hippocratique de Paris [4–9 sept. 1978], hg. v. M. D. Grmek, Paris 1980, 234–239). Siehe Arist., Met. I 1: 980 a 22–982 a 3.
Zu Aristoteles' Bewertung von Erfahrung und Theorie
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sehr das aus der Erfahrung resultierende Wissen, daß etwas auf eine bestimmte Weise geschieht, sondern vielmehr die Kenntnis, warum es so geschieht, mache das Wesen der Medizin als einer Wissenschaft aus, und das setzt voraus, daß die Vertreter dieser Medizin es verstehen, vom Einzelfall zu abstrahieren, bestimmte Erscheinungen zu verallgemeinern und das Krankheitsgeschehen in einen größeren Zusammenhang zu | stellen6. Da es sich bei der Medizin jedoch um eine praktische Wissenschaft handelt, bei deren Ausübung der Arzt es jeweils mit einem einzelnen Menschen und dessen individueller Krankheit zu tun hat, spricht Aristoteles im Falle der Medizin auf der anderen Seite aber auch der Empirie eine gewisse Bedeutung keineswegs ab; ja er gibt, vermutlich aus seiner persönlichen Kenntnis der alltäglichen ärztlichen Praxis heraus, sogar unumwunden zu, daß ein Arzt, der nur über empirische Kenntnisse verfügt, in der Regel größere Heilerfolge für sich verbuchen kann als derjenige, der allein in der Theorie bewandert ist7. Auf Grund der Tatsache, daß nahezu das gesamte medizinische Schrifttum aus der Zeit des Hellenismus durch die Ungunst der Überlieferung verlorengegangen ist, läßt es sich nicht mehr mit Sicherheit ausmachen, ob die hellenistischen Ärzte die aus seiner Wissenschaftskonzeption erwachsenen Ansichten des Philosophen Aristoteles über die Bedeutung von Theorie und Erfahrung in der Medizin aufgegriffen und sich bei der Entscheidung für die eine oder andere dieser beiden Alternativen in irgendeiner Weise auf ihn berufen haben. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß Aristoteles mit der Festschreibung der überragenden Rolle der Theorie auf der einen Seite und dem Zugeständnis an die zumindest teilweise Überlegenheit der Erfahrung über die Theorie auf der anderen Seite Entwicklungstendenzen angedeutet hat, die in der hellenistischen Medizin voll zum Tragen kommen sollten. Denn es waren die hellenistischen Ärzte, die in einem bislang unbekannten Ausmaß den theoretischen Fächern der Medizin ihr Interesse zuwandten, daneben aber ebenso auch einer stärkeren Betonung der Empirie das Wort redeten. Diese beiden Richtungen der hellenistischen Medizin standen unter dem Einfluß der skeptischen Philosophie, die dadurch, daß sie zum erstenmal die Allgemeingültigkeit des Analogieschlusses in Frage stellte und Zweifel an der Aussagefähigkeit der bisher geübten Tieranatomie im Hinblick auf den Menschen weckte, neben anderen Faktoren mit dazu beitrug, den Weg für die Entstehung der hellenistischen Anatomie zu ebnen, die ebenso aber auch die gedankliche Grundlage der empirischen Ärzteschule bildete, deren Vertreter das Sammeln und Auswerten empirischer Beobachtungen, sei es der eigenen, sei es der früherer Ärzte, in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen rückten. Bei beiden Richtungen läßt sich aber, ganz im Sinne der Aristotelischen Forderung, das Bemühen um eine theoretische Durchdringung der Medizin feststellen8. Die von Herophilos und Erasistratos begonnenen systematischen anatomischen Studien, 6
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Siehe ebd., 981 a 24–30, b 10–12. Vgl. dazu D. Gracia, The structure of medical knowledge in Aristotle’s philosophy, Sudhoffs Archiv 62, 1978, 17f. Arist., ebd., 981 a 12–24. Zum Folgenden s. J. Kollesch, Medizin als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, in: Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, hg. v. F. Jürß, Berlin 1982 (Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Alte Geschichte u. Archäologie d. Akademie d. Wiss. d. DDR 13), 446–448; vgl. ferner F. Kudlien, Herophilos und der Beginn der medizinischen Skepsis, Gesnerus 21, 1964, 1–13 (= Antike Medizin, hg. v. H. Flashar, Darmstadt 1971, 281–295).
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die zum allmählichen Ausbau der allgemeinen Chirurgie und zu grundlegend neuen Erkenntnissen auf den Gebieten der Gynäkologie und Embryologie führten, korrespondieren sowohl mit der auf der Erforschung der φαινόμενα, der sichtbaren Gegebenheiten, aufbauenden, auf Herophilos zurückgehenden Pulslehre als auch mit der physiologischen Konzeption des Erasistratos, welche die von der zeitgenössischen Naturwissenschaft formulierten physikalischen Gedankengänge in die Medizin einbrachte und auf diese Weise das deduktiv-spekulative theoretische Lehrgebäude | der bisherigen Medizin um einen skeptisch relativierten Aspekt bereicherte. Ähnliches gilt auch für die empirischen Ärzte. Die konsequente Befolgung der von der skeptischen Philosophie vorgegebenen Gedankengänge führte bei ihnen zwar zu einer nihilistischen Haltung und zur Ablehnung jeder positiven Verallgemeinerung, es blieb aber nicht bei einem bloßen Sammeln von empirischen Daten, da sich bei ihnen das vom Peripatos übernommene induktive Vorgehen mit dem Versuch verband, die gewonnenen Erfahrungen in theoretisch-skeptischem Sinne zu relativieren und auf dieser Grundlage auszuwerten. Mit anderen Worten, neben der skeptischen Philosophie macht sich auch bei den Empirikern noch ein weiterer theoretischer Einfluß bemerkbar, und man kann mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß dieser Einfluß ebenfalls auf die von Aristoteles formulierte Notwendigkeit einer theoretischen Grundlegung der Medizin zurückzuführen ist.
9. DIE ANATOMISCHEN UN T ERSUCHUNGEN DES ARISTOT ELES UND IHR ST ELLENW ERT ALS FORSCHUNGSME T HODE IN DER ARISTOT ELISCHEN BIOLOGIE*
In seinen zoologischen Schriften hat Aristoteles sich die Aufgabe gestellt, die Lebensweise, die physiologischen Vorgänge im Körper, die Charaktereigenschaften sowie Morphologie und Funktion der Körperteile in ihren verschiedenen Ausprägungen bei den einzelnen Lebewesen zu untersuchen und in einem weiteren und für ihn wohl besonders wichtigen Schritt den Ursachen für die Vielfalt der Erscheinungen in der animalischen Welt nachzugehen. Es war dies ein Forschungsunternehmen von geradezu gigantischen Ausmaßen, und man wird die Leistung des Aristoteles auf diesem Gebiet kaum hoch genug veranschlagen können, selbst wenn wir davon ausgehen, daß er dabei, wenn auch nicht von einigen tausend Männern, wie eine von Plinius überlieferte Anekdote berichtet,1 so doch von einem Kreis von Mitarbeitern und Schülern unterstützt wurde. Die Leistung des Aristoteles erscheint um so größer, als es in voraristotelischer Zeit auf dem Gebiet der Zoologie noch keine Literatur gegeben hat, in der die von Aristoteles aufgeworfenen Probleme in einer auch nur annähernd vergleichbaren Komplexität behandelt worden wären und auf die er hätte zurückgreifen können. Das bedeutet freilich nicht, daß Aristoteles mit seinen zoologischen Untersuchungen bei Null anfangen mußte. So ist z.B. längst erwiesen, daß er für seine Lehren, die in das Gebiet der Physiologie fallen, ältere Vorstellungen aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Das trifft auf seine Lehre von den Elementen und Primärqualitäten ebenso zu wie beispielsweise auf seine Unterscheidung zwischen homoiomeren und anhomoiomeren Körperteilen oder seine hämatogene Samenlehre. Aber auch im Hinblick auf spezielle zoologische Fragestellungen waren bereits Vorarbeiten geleistet worden, an die Aristoteles anknüpfen konnte. Aus dem theoretisch-methodischen Bereich wäre die von Platon und seinen Schülern entwickelte diairetische Methode zu nennen, deren Anwendung auf die Tierwelt durch Speusipp deutlich gemacht hatte, daß die Bestimmung von Tieren nach biologischen Merkmalen ein brauchbares Arbeitsinstrument darstellte, das es ermöglichte, bestimmte Tiere in Gruppen zusammenzufassen und damit zumindest eine gewisse Ordnung in der schier unüberschaubaren Vielfalt der Tierwelt herzustellen.2 * Erschienen in: Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse. Akten des Symposions über Aristoteles’ Biologie vom 24.–28. Juli 1995 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, hrsg. v. W. Kullmann u. S. Föllinger, Stuttgart 1997 (Philosophie der Antike, Veröffentl. d. Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung 6), S. 367–373. 1 2
Plinius, Nat. hist. V III 44. Vgl. Georg Harig und Jutta Kollesch, Diokles von Karystos und die zoologische Systematik, NTM
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Von Aristoteles selbst erfahren wir, daß er sich auch das aus dem praktischen Umgang mit Tieren gewonnene Wissen der Fachleute zunutze gemacht hat, indem er bei Fischern, Hirten, Imkern, Jägern und Viehhaltern mündliche Informationen einholte. Diese Informationen, denen er mit der gebotenen Skepsis begegnete, bestanden in Angaben zu den Lebensgewohnheiten, aber auch zur Funktion und | Morphologie einzelner Körperteile.3 Für Fachkenntnisse dieser Art standen zur Zeit des Aristoteles aber auch schon schriftliche Quellen zur Verfügung. Die frühesten Beispiele für diese vorwiegend auf praktische Belange ausgerichtete Fachschriftstellerei sind die erhaltenen Bruchstücke aus der Schrift Über Aussehen und Auswahl der Pferde des Simon von Athen (5. Jh. v.Chr.) und die Abhandlung Über die Reitkunst des Xenophon, in denen sich neben vielem anderen auch Angaben zum Knochenbau des Pferdes finden.4 Ob Aristoteles diese Literatur benutzt hat, läßt sich nicht entscheiden; immerhin erwähnt er in De generatione animalium (IV 1: 765 a 21–25) einen Mann namens Leophanes, der in Übereinstimmung mit der als Rechts-Links-Theorie bezeichneten Generationslehre die Empfehlung gegeben hatte, zum Zwecke der Züchtung von entweder männlichen oder weiblichen Nachkommen bei den Tieren den linken bzw. den rechten Hoden abzubinden. Die namentliche Erwähnung des Leophanes dürfte die Annahme rechtfertigen, daß Aristoteles dieses Detail einer schriftlichen Quelle entnommen hat. Als besonders schwierig erweist es sich, die Leistungen des Aristoteles auf dem Gebiet der Anatomie an seinen Vorgängern zu messen. Unberührt davon sind seine Verdienste, die er sich als Begründer der vergleichenden Anatomie erworben hat, sowie die Tatsache, daß er dadurch, daß er unzählige Arten von Lebewesen, angefangen vom Menschen bis hin zu den kleinsten Tieren, in seine anatomischen Betrachtungen einbezog, eine Fülle zuvor unbekannten Materials aus der Welt der Tiere bereitstellte. Es gibt noch eine weitere Besonderheit der anatomischen Untersuchungen des Aristoteles. Sie besteht darin, daß er deswegen anatomische Befunde an Tieren erhob, weil ihm als Zoologen daran gelegen war, Aussagen über den Körperbau der Tiere selbst zu machen, während seine Vorgänger, seien es Ärzte oder Naturforscher, anatomische Sachverhalte zwar auch an Tieren untersuchten, dies aber zu dem Zweck taten, um Aufschlüsse über sie interessierende anatomische Gegebenheiten beim Menschen zu erhalten. Worum es mir geht, ist zum einen das Problem, ob den gegenüber früheren Darstellungen neu gewonnenen Erkenntnissen, die sich in den Beschreibungen nachweisen lassen, die Aristoteles von den Teilen des menschlichen Körpers gibt, grundsätzlich eigene Forschungsergebnisse zugrunde liegen, und zum anderen die Frage, ob man, wie es in einer Arbeit von J.-M. Annoni und V. Barras aus dem Jahr 1993 geschehen ist,5 mit Recht davon sprechen kann, daß der Stagirite, während in voraristotelischer Zeit nur punktuelle Sektionen vorgenommen wurden, der erste war, der die Notwendigkeit einer systematischen Sektion der Körperorgane in ihrer Gesamtheit erkannt
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11, 1974,1, 29f.; Wolfgang Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur Aristotelischen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin u. New York 1974, 257f. Siehe z.B. GA III 10: 759 a 8–760 a 12; IV 1: 765 a 25–31. Simon, De forma et delectu equor. 3–9; Xenoph., De equitandi ratione 1,2–16. Jean-Marie Annoni und Vincent Barras, La découpe du corps humain et ses justifications dans l’antiquité, Canadian Bulletin of Medical History 10, 1993, 202.
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und damit die entscheidende Wende in der Anatomie herbeigeführt hat. Zum besseren Verständnis der mit dieser Frage zusammenhängenden Probleme sei es mir gestattet, etwas weiter auszuholen. Es ist hinlänglich bekannt, daß die Anatomie, verglichen mit anderen medizinischen Disziplinen, erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, d.h. erst im 3. Jh. v.Chr., zu einem integrativen Bestandteil der Medizin wurde. Der entscheidende Grund | dafür war, daß nach den Vorstellungen der frühen griechischen Medizin, wie sie sich uns in den aus dem ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jh. stammenden Schriften der hippokratischen Sammlung darstellt, die Körpersäfte die konstitutiven Bestandteile des menschlichen Körpers bildeten und für das gesunde und krankhafte Geschehen im Körper verantwortlich waren. Entsprechend dieser Auffassung von der Krankheit als einer Dyskrasie wurde es auch als vornehmliche Aufgabe der Therapie betrachtet, die Störungen im Säftehaushalt zu beseitigen. Mit anderen Worten, für die hippokratischen Ärzte waren weder zur Erklärung physiologischer und pathologischer Vorgänge im Körper noch für die Verordnung therapeutischer Maßnahmen Kenntnisse der in den inneren Organen bestehenden festen Körperteile erforderlich, und das erklärt denn auch zur Genüge ihr mangelndes Interesse an anatomischen Untersuchungen, deren Betätigungsfeld ebendiese festen Körperstrukturen bilden. Wenn man einmal von den erstaunlich genauen Kenntnissen vom Knochenbau in den beiden knochenchirurgischen Abhandlungen des Corpus Hippocraticum (De fracturis und De articulis) absieht, die für eine erfolgreiche Behandlung von Luxationen, Knochenbrüchen und Rückgratverkrümmungen eine conditio sine qua non waren, sind es vor allem Darstellungen des Adernverlaufs, die uns gleich in mehreren hippokratischen Schriften6 begegnen. Diese Adernbeschreibungen sind jedoch nicht so sehr Ausdruck eines theoretischen anatomischen Interesses, sondern dienten, wie die Ausführungen in De natura hominis zeigen, z.B. dazu, die Stellen an den oberen und unteren Extremitäten zu markieren, an denen, je nach Art der Erkrankung, der zu therapeutischen Zwecken angewandte Aderlaß vorzunehmen war. In den Werken der hippokratischen Sammlung, die noch in das 5. Jh. gehören, finden sich aber auch schon erste Versuche, die Körperstrukturen zu erfassen. So z.B. in De morbis IV, wo Körperhöhlen und innere Organe als Sitz der Körpersäfte genannt sind und das Herz als Quelle des Blutes bezeichnet wird,7 oder in der kleinen Abhandlung De carnibus, in der Entstehung und Aufbau der Körperteile beschrieben werden und in der unter anderem die Rede davon ist, daß vom Herzen zwei Hohladern ausgehen.8 Von der medizinischen Literatur des 4. Jh. sind nur spärliche Reste auf uns gekommen. Was uns davon bekannt ist, läßt jedoch erkennen, daß schon in der ersten Hälfte des 4. Jh. ein Umdenken in der Medizin einsetzte, das sich darin äußerte, daß in der Krankheitslehre neben den Störungen im Säftehaushalt in stärkerem Maße auch pathologische Veränderungen an oder in bestimmten Körperorganen in die Betrachtun6
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Siehe z.B. Hipp., De nat. hom. 11, hrsg., übers. u. erl. von Jacques Jouanna, Corpus Medicorum Graecorum I 1,3, Berlin 1975, 192,15–196,15; De morbo sacro 3,3–8, hrsg., übers. u. erl. von Hermann Grensemann, Ars Medica II 1, Berlin 1968, 68,26–39; Epid. II 4,1, hrsg. u. übers. von Emile Littré, Bd. V, Paris 1846, 120,13–124,8. Hipp., De morbis IV 33, hrsg. u. übers. von Emile Littré, Bd. VII, Paris 1851, 544,4–9. Hipp., De carnibus 5, hrsg., übers. u. erl. von Karl Deichgräber, Leipzig u. Berlin 1935, 6,27f. = Emile Littré, Bd. VIII, Paris 1853, 590,10f.
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gen einbezogen wurden. Entsprechendes ist z.B. für Diokles von Karystos bezeugt,9 der für uns insofern von besonderem Interesse ist, | als er zu der Zeit, als Aristoteles Mitglied der Platonischen Akademie war, in Athen lebte und darüber hinaus, wie wir an anderer Stelle wahrscheinlich machen konnten,10 dem geistigen Umfeld der Akademie zuzurechnen ist. Von ihm, der in der Antike den Ruf eines zweiten Hippokrates genoß, berichtet Galen, daß er als erster ein anatomisches Werk verfaßt hat11. Da die Schrift verlorengegangen ist, können wir über ihren Inhalt und Aufbau nur spekulieren. Mit einiger Sicherheit können wir behaupten, daß die anatomischen Beschreibungen des Diokles, wie zu dieser Zeit üblich, auf Tiersektionen beruhten; das bestätigen die beiden Fragmente bzw. Testimonien, die Angaben zu Befunden bieten, die am tierischen Uterus erhoben worden sind.12 Was den Aufbau der Schrift betrifft, so käme nach dem Vorbild der Krankheitsbeschreibungen am ehesten eine Anordnung des Stoffes nach dem Schema a capite ad calcem in Frage; daß Diokles sein Material nach anatomischen Strukturen gegliedert hätte, erscheint angesichts des frühen Stadiums der anatomischen Forschung äußerst unwahrscheinlich. Die geschilderten Lebensumstände des Diokles legen es nahe, daß Aristoteles, für den sich auch sonst die Benutzung medizinischer Literatur nachweisen läßt, dessen anatomische Schrift gekannt hat. Die vor nicht allzu langer Zeit von J. Longrigg13 geäußerte Vermutung, Aristoteles bezöge sich auf ebendieses Werk, wenn er auf eine mit Illustrationen versehene Schrift mit dem Titel Ἀνατομαί verweist,14 und nicht auf ein von ihm selbst verfaßtes Werk, wird man wohl kaum ernsthaft in Erwägung ziehen müssen: denn erstens ist sein Argument, Aristoteles benutze bei diesen Verweisen kein Possessivpronomen, nicht stichhaltig, weil er das auch bei Verweisen auf andere eigene Schriften nicht tut; und zweitens finden sich die Verweise auf die Ἀνατομαί bis auf ganz wenige Ausnahmen bei Darstellungen anatomischer Sachverhalte bei Vögeln,
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Diokles, Frgm. 38; 64; 68, in: Max Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Ärzte Akron, Philistion und des Diokles von Karystos, Berlin 1901, Fragmentsammlung der griechischen Ärzte I, 134; 145; 147. Harig und Kollesch (wie Anm. 2) 30f.; vgl. auch Heinrich v. Staden, Herophilus. The art of medicine in early Alexandria, Cambridge, New York u.a. 1989, 44–46. Gal., De anat. administr. II 1, hrsg. von Carl Gottlob Kühn, Bd. II, Leipzig 1821, 282,2f. Siehe Frgm. 27 und 29, in: Wellmann (wie Anm. 9) 129 und 130; zu Frgm. 27 s. Diethard Nickel, Galen, De uteri dissectione, hrsg., übers. u. erl., Corpus Medicorum Graecorum V 2,l, Berlin 1971, S. 69–71, Komm. zu S. 38,2. James Longrigg, Greek rational medicine. Philosophy and medicine from Alcmaeon to the Alexandrians, London u. New York 1993, 161f. Die betreffenden Stellen sind zusammengestellt von Hermann Bonitz, Index Aristotelicus, Berlin 1870, 104 s.v. Ἀριστοτέλης. Da die Ἀνατομαί verlorengegangen sind, läßt sich nicht mehr entscheiden, ob es sich bei den Illustrationen, die von Aristoleles als διαγραφή (HA I 17: 497 a 32; IV 1: 525 a 9) bzw. σχήματα (HA III 1: 511 a 13) bezeichnet werden, um figürliche Darstellungen gehandelt hat (so zuletzt Alfred Stückelberger, Aristoteles illustratus. Anschauungshilfsmittel in der Schule des Peripatos, Museum Helveticum 50, 1993, 139–142; ders., Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik, Mainz 1994, Kulturgeschichte der antiken Welt 62, 76–78) oder um Diagramme von der Art, wie sie sich aus der Rekonstruktion der biokinetischen Modelle in De motu animalium (1; 9; 11: 698 a 22–24; 702 b 28–703 a 1; 703 b 29–36) und der graphischen Darstellung der Beugerichtung der Ellenbogenund Kniegelenke in De incessu animalium (13: 712 a 3–8) ergeben.
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Fischen, Schlangen, Schaltieren und | anderen Meerestieren,15 die mit Sicherheit nicht den Untersuchungsgegenstand eines Arztes gebildet haben, der auf Grund seines speziellen Interesses am Menschen anatomische Befunde an Säugetieren erhoben und beschrieben haben dürfte. Ich hielte es aber durchaus für möglich, daß die Schrift des Diokles bei der Beschreibung der äußeren und inneren Körperteile des Menschen, die Aristoteles in der Historia animalium I 7–17 (491 a 27–497 b 2) an den Anfang der vergleichenden Darstellung der Körperteile stellt, Pate gestanden hat. Möglicherweise sogar nicht nur sie allein, sondern auch noch andere anatomische Schriften; denn im Verlauf des 4. Jh. haben sich auch noch andere Ärzte mit Anatomie beschäftigt, so z.B. Praxagoras von Kos, der zwischen Venen und Arterien unterschieden hat und die Auffassung vertrat, daß die Arterien in Nerven endigen,16 eine Auffassung, die Aristoteles in bezug auf das von ihm als Aorta bezeichnete Blutgefäß (HA III 5: 515 a 29–32) geteilt hat. Eine, wie ich annehmen möchte, intimere Kenntnis anatomischer Texte aus dem 4. Jh. bei Aristoteles vorauszusetzen wäre durchaus gerechtfertigt, wenn die Historia animalium tatsächlich zu seinen Spätwerken gehört.17 Mit der Kenntnis solcher Texte könnten vielleicht auch Ungereimtheiten erklärt werden, die einem bei der Lektüre der schon genannten Textpassage aus der Historia animalium auffallen. Zu Beginn der Beschreibung der inneren Körperteile des Menschen (494 b 22–24) weist Aristoteles ausdrücklich darauf hin, daß diese Teile am wenigsten bekannt sind und daß sie deswegen durch Vergleich mit denjenigen Teilen der anderen Lebewesen betrachtet werden müssen, denen sie in ihrer Beschaffenheit ähnlich sind. Zunächst einmal sagt Aristoteles nicht, welche Tiere seiner Auffassung nach für einen solchen Vergleich in Frage kämen, was man eigentlich erwarten würde, wenn er selbst die anatomischen Untersuchungen durchgeführt hat, deren Ergebnisse er vorlegt. Hinzu kommt noch, daß das Verfahren, das er empfiehlt, um die inneren Körperteile des Menschen kennenzulernen, recht merkwürdig anmutet; denn Aristoteles sagt nicht, wie man es erwarten würde, daß die bei den dem Menschen ähnlichen Tieren erhobenen Befunde auf den Menschen übertragen werden müssen, sondern fordert dazu auf, die Teile des Menschen mit denen der Tiere zu vergleichen. Vergleiche dieser Art werden denn auch tatsächlich im folgenden Text in fünf Fällen angestellt: so bei der Beschreibung des Magens (495 b 24), der mit dem des Hundes verglichen wird, bei der Beschreibung der Milz (496 b 20f.), von der gesagt wird, daß sie schmal und lang und der des Schweines ähnlich ist, bei der Beschreibung der Leber (496 b 23f.), die rund sei und der des Rindes ähnelt, bei der Beschreibung der Nieren (496 b 35), die in ihrer Beschaffenheit denen der Rinder ähnlich sind, und schließlich noch bei der Beschreibung der κάτω κοιλία (im wörtlichen Sinn der Unterbauch, im vorliegenden Fall aber der dem Mastdarm vorangehende Abschnitt des Dickdarms; 495 b 27f.), die weit 15
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Zum Beispiel HA III 1; IV 1; VI 11: 511 a 13; 525 a 8f.; 566 a 13–15; PA IV 5; 8: 680 a 1f.; 684 b 4f.; GA I 11: 719 a 10. Siehe Frgm. 11, in: Fritz Steckerl, The fragments of Praxagoras and his school, Leiden 1958, Philosophia antiqua V III, 49–53. Siehe Christian Hünemörder, Aristoteles’ Historia animalium. Ziel, Datierung und Struktur, in: Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse. Akten des Symposions über Aristoteles' Biologie vom 24.–28. Juli 1995 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg, hrsg. v. W. Kullmann u. S. Föllinger, Stuttgart 1997 (Philosophie der Antike, Veröffentl. d. Karl-undGertrud-Abel-Stiftung 6), 397f. u. 402f.
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ist und Ähnlichkeit mit der des Schweines aufweist. Derartige Vergleiche sind meines | Erachtens nur dann sinnvoll, wenn Form und Beschaffenheit der menschlichen Organe bekannt sind. Nach meinem Dafürhalten gibt es dafür nur eine Erklärung: Aristoteles muß anatomische Texte benutzt haben, aus denen hervorging, daß die Befunde speziell für diese Organe an Hunden, Schweinen oder Rindern erhoben wurden. Andererseits wird bei der Lektüre der Textpassagen in den zoologischen Schriften, die der Anatomie der inneren Körperteile gewidmet sind, deutlich, daß Aristoteles an zwei anatomischen Strukturen, an dem Gefäßsystem mit Herz und Lunge und an den Fortpflanzungsorganen, besonders interessiert war. Keine andere anatomische Struktur und kein anderes Organ werden mit solcher Ausführlichkeit behandelt und dargestellt wie die beiden genannten, und es ist daher sicher auch kein Zufall, daß es bei den meisten Verweisen auf die schon erwähnten Ἀνατομαί um die Darstellung des Gefäßsystems und der Fortpflanzungsorgane geht.18 Daß Aristoteles in diesen beiden Fällen selbst anatomische Untersuchungen an den verschiedensten Tieren durchgeführt hat, steht außer Frage. Speziell im Fall des Adernverlaufs, den zu beobachten ein schwieriges Unterfangen sei und deshalb zu Irrtümern bei seinen Vorgängern geführt habe, wie Aristoteles HA III 2: 511 b 10–23 schreibt, hat er methodische Hinweise auf das von ihm angewandte Verfahren gegeben, dem er seine, wie er glaubte, richtigen Erkenntnisse verdankt (HA III 3: 513 a 12–15). Es ist auch darauf hinzuweisen, daß er speziell in diesem Zusammenhang Textpassagen aus den Schriften früherer Autoren, die Adernbeschreibungen des Syennesis von Zypern, des Diogenes von Apollonia und des Polybos, im Wortlaut anführt (HA III 2f.: 511 b 23–513 a 7), um vor diesem Hintergrund seine eigene Entdeckung, daß das Herz der Ausgangspunkt des Gefäßsystems ist, um so wirkungsvoller darstellen zu können. Daß sein Vorwurf, daß alle früheren Ärzte und Naturforscher den Kopf bzw. das Gehirn als Ausgangspunkt der Adern bezeichnet hätten (HA III 3: 513 a 8–12), nicht korrekt ist, da sich bereits in den hippokratischen Schriften, wie ich schon sagte (oben 369 = S. 131), Angaben darüber finden, daß das Herz die Quelle des Blutes ist bzw. daß vom Herzen zwei Hohladern ausgehen, wird man ihm nachsehen können, auch wenn nicht auszuschließen ist, daß er die Schrift De morbis IV gekannt hat, da er mit ihr auch die Auffassung teilt, daß das Herz als einziges Organ nicht erkrankt19. Den Anspruch auf Originalität in bezug auf die Entdeckung vom Herzen als dem Ausgangspunkt der Blutgefäße bezeugt auch die Hartnäckigkeit, mit der er in De partibus animalium (III 4: 666 a 24–34) die offenbar von anderen vertretene Ansicht bekämpft, daß die Leber als das blutreichste Organ des Körpers der Ursprung der Adern sei. Auf eigenen Untersuchungen beruht mit Sicherheit auch die verhältnismäßig ausführliche, wenn auch keineswegs korrekte, Darstellung der samenbereitenden und samenableitenden Organe des männlichen Individuums in der Historia animalium (III 1: 510 a 12–35), der Aristoteles zur Veranschaulichung der von ihm beschriebenen Befunde ein Diagramm beigefügt hat. |
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Vgl. Stückelberger, Aristoteles illustratus (wie Anm. 14) 141; dens., Bild und Wort (wie Anm. 14) 76. Siehe Hipp., De morbis IV 40, hrsg. u. übers. von Emile Littré, Bd. VII, Paris 1851, 560,22–24; Arist., PA III 4: 667 a 32–b 3.
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Diese Darstellung ist zugleich ein anschauliches Beispiel für Aristoteles’ teleologisch begründete Vorstellung, daß die Morphologie eines Organs von seiner Funktion bestimmt wird, die häufig genug zur Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten beigetragen hat. Ausschlaggebend dafür war, daß er die Funktion der Samenbereitung allein den von der Aorta und den Nieren kommenden Adern zuschrieb. Diese Gefäße, die das für die Umwandlung in Samen präparierte Blut enthalten, führen, wie er es darstellt, auf dem Weg nach unten durch den Kopf des Hodens (darunter ist der Nebenhodenkopf zu verstehen) und verlaufen dann, in einem Gang vereint, weiter nach unten, bevor sie wiederum nach oben umbiegen, um den Samen zum Penis zu transportieren. Der entscheidende Faktor für die Samenbereitung waren nach Aristoteles die Windungen dieser Gefäße, die die Voraussetzung dafür boten, daß das Blut sich genügend lange in ihnen aufhalten konnte, um zu Samen verarbeitet zu werden. Die Überbewertung der Blutgefäße als Ort der Verarbeitungsstätte des Blutes war der Grund dafür, daß er die Hoden von dem Prozeß der Samenbereitung ausschloß und ihnen lediglich die Funktion zusprach, als Gewichte, genauer gesagt als Gegengewicht, zu dienen, damit verhindert wird, daß die gewundenen Gefäße vom Herzen als deren Ausgangspunkt nach oben in den Körper hineingezogen werden und auf diese Weise ihre Funktion nicht mehr erfüllen können. Zusammenfassend möchte ich im Hinblick auf den Beitrag, den Aristoteles zum Fortschritt auf dem Gebiet geleistet hat, das wir heute als Menschenanatomie bezeichnen, aus meiner Sicht folgendes sagen: Soweit wir es an Hand des Vergleichsmaterials beurteilen können, das uns zur Verfügung steht, hat es in der Zeit vor Aristoteles und erst recht in seiner eigenen Zeit Texte gegeben, in denen die Körperteile ähnlich wie zu Beginn der Historia animalium dargestellt waren. Das heißt, daß die sozusagen ganzheitliche Betrachtung des Körpers bereits vor Aristoteles eingesetzt hat und wir bereits hier von einer neuen Dimension der Anatomie sprechen können, von der auch Aristoteles profitiert hat. Was die eigenen Studien des Stagiriten speziell zur Anatomie des Menschen betrifft, so scheint es mir eher zuzutreffen, daß sich seine Aktivitäten auf diesem Gebiet, denen er neue Erkenntnisse verdankte, auf die gezielte Untersuchung einzelner Organe und anatomischer Strukturen beschränkt haben. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß für die Verdienste, die Aristoteles sich als Zoologe erworben hat, die Anwendung anatomischer Untersuchungen als Forschungsmethode von entscheidender Bedeutung war.
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1. GALEN UND DIE ZW EI T E SOPHIST IK*
Galen nimmt unter den antiken Ärzten in mehr als einer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Das gilt für seine immense literarische Produktion, das gilt für das von ihm geschaffene medizinische System, das in seiner Geschlossenheit so überzeugend war, daß es bis weit in die Neuzeit hinein die Grundlage der Medizin blieb, das gilt ebenso aber auch, und das ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, für Galens ausgesprochene Neigung, seine Leser über seine Person und sein Werk ausführlich zu unterrichten. Wir wissen, daß er eine Schrift mit dem Titel „Über die Verleumdung“ verfaßt hat, die nach seinen eigenen Worten auch autobiographische Mitteilungen, d.h. Nachrichten über Verleumdungen enthielt, denen er selbst ausgesetzt war.1 Diese Schrift ist zwar verlorengegangen, doch sind uns unter den erhaltenen Werken Galens die Abhandlungen De ordine librorum suorum, De libris propriis und De praecognitione überliefert,2 die ebenfalls autobiographischen Charakter tragen. Während die beiden zuerst genannten eine nahezu vollständige Übersicht über seine literarische Produktion bieten – zwei kürzere Bibliographien in der Ars medica und in De anatomicis administrationibus kommen noch hinzu3–, ist die Schrift „Über die Prognose“ seiner ärztlichen Karriere in Rom gewidmet. Zahlreiche weitere autobiographische Nachrichten können wir aber auch den anderen Schriften Galens entnehmen; gibt es doch kaum eine, in der er nicht die Gelegenheit ergriffen hätte, persönliche Erlebnisse und Erfahrungen einzuflechten, die den Zeitraum von seiner frühesten Jugend bis zu seinem hohen Alter umfassen, so daß wir in der glücklichen Lage sind, uns ein
* Erschienen in: Galen: problems and prospects. A collection of papers submitted at the 1979 Cambridge conference, hrsg. v. V. Nutton, London 1981, S. 1–11. 1
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Siehe Gal., De lib. prop. 12: Scr. min. II 122,2 (XIX 46,5 Kühn). Angesichts des speziellen Themas, dem diese Schrift gewidmet war, wird man besser nicht so weit gehen wie K. Deichgräber, Galen als Erforscher des menschlichen Pulses. Ein Beitrag zur Selbstdarstellung des Wissenschaftlers (De dignotione pulsuum I 1), SB d. Deutschen Akademie d. Wiss. zu Berlin, Kl. f. Sprachen, Lit. u. Kunst 1956,3, Berlin 1957, S. 31, und offenbar in Anlehnung an ihn V. Nutton, Galen and medical autobiography, Proceedings of the Cambridge Philological Society, n. s. 18, 1972, S. 54, von denen diese Abhandlung als „eigentliche Selbstbiographie“ bzw. Galens „recognised autobiography“ und als „approved version of his (sc. Galen’s) own life“ bezeichnet wird (vgl. dagegen I. v. Müller, Galen als Philologe, Verh. d. 41. Versamml. deutscher Philologen und Schulmänner, München 1891, S. 82). De ord. lib. suor.: Scr. min. II 80–90 (XIX 49–61 Kühn); De lib. prop.: Scr. min. II 91–124 (XIX 8–48 Kühn); De praecognit.: CMG V 8,1, hrsg., übers. u. erl. v. V. Nutton, Berlin 1979, S. 68–142. Ars med. 37: I 407,8–412,3 Kühn; De anatom. administr. I 1: II 216,2–217,13 Kühn.
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genaueres Bild von dem Leben und der Karriere dieses Arztes und von seiner Stellung in der Gesellschaft seiner Zeit zu machen.4 Galen wurde in eine Zeit kultureller Blüte hineingeboren. Entsprechend den Gepflogenheiten der gebildeten Oberschicht ließ ihm sein Vater, der Architekt Nikon, der zu den wohlhabenden und angesehenen Persönlichkeiten der Stadt Pergamon zählte,5 eine vielseitige Ausbildung zuteil werden. Seinen Unterricht in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, im Umgang mit der griechischen Sprache und anderen Grundlagendisziplinen verdankt Galen seinem | Vater, der seinen Sohn zunächst selbst unterwiesen hat.6 Als Vierzehnjähriger wandte er sich philosophischen Studien zu. Der Maxime seines Vaters entsprechend, daß es unzweckmäßig sei, sich voreilig auf eine bestimmte philosophische Richtung festzulegen, besuchte Galen Vorlesungen in der stoischen, platonischen, peripatetischen und epikureischen Philosophie und legte damit den Grund für den Eklektizismus, dem er sein ganzes Leben hindurch nicht nur in seinen philosophischen Anschauungen, sondern ebenso auch in seinen medizinischen Lehren verpflichtet blieb.7 In seinem siebzehnten Lebensjahr veranlaßte ihn sein Vater, nachdem diesem durch einen Traum deutlich geworden war, daß sein Sohn dazu bestimmt sei, Arzt zu werden, sich dem Studium der Medizin zu widmen, und zwar mit der ausdrücklichen Auflage, diesem Fach im Hinblick auf seinen künftigen Beruf gegenüber der Philosophie den unbedingten Vorrang einzuräumen.8 Seinen ersten Unterricht in der Medizin, bei dem er es im Interesse einer allseitigen Ausbildung ebenso wie in der Philosophie bewußt vermied, sich an eine bestimmte
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Zum Leben und Wirken Galens s. vor allem die Untersuchungen von J. Ilberg, Aus Galens Praxis, Neue Jahrb. f. d. klass. Altertum, Gesch. u. deutsche Lit. u. f. Pädagogik 15, 1905, S. 276–312, und Über die Schriftstellerei des Klaudios Galenos I–IV, Rhein. Mus. 44, 1889, S. 207–239; 47, 1892, S. 489–514; 51, 1896, S. 165–196; 52, 1897, S. 591–623; ferner die wertende Übersicht über neuere Galenbiographien bei K. Deichgräber (Anm. 1), S. 31–33, und V. Nutton, The chronology of Galen’s early career, Classical Quarterly, n. s. 23, 1973, S. 158–171. Hinsichtlich der Identifizierung von Galens Vater mit einem der beiden inschriftlich bezeugten Pergamenischen Architekten Aelius Nikon und Iulius Nicodemus mit dem Beinamen Nikon ist eine eindeutige Entscheidung nicht möglich; so schon H. Diller, Art. „Nikon“ (Nr. 18), in: RE XVII, hrsg. v. G. Wissowa u. W. Kroll, 1936, Sp. 507f., und jetzt auch V. Nutton, CMG V 8,1, S. 183, Komm. zu S. 92,18, der sich damit, allerdings ohne Angabe von Gründen, von seiner früheren Auffassung, daß Galens Vater mit Aelius Nikon identisch ist (s. Nutton [Anm. 4], S. 161), distanziert. Siehe Gal., De ord. lib. suor. 4: Scr. min. II 88,8–12 (XIX 59,3–7 Kühn); De diff. puls. II 5: VIII 587,3f. Kühn. Siehe Gal., De prop. animi cuiuslibet aff. dign. et cur. 8,3–6: CMG V 4,1,1, S. 28,9–29,2 (V 41,10–42,14 Kühn); De ord. lib. suor. 4: Scr. min. II 88,13–15 (XIX 59,7–9 Kühn). Die Namen der Philosophen, deren Vorlesungen Galen in Pergamon besuchte, hat er nicht mitgeteilt. Möglicherweise ist der als Schüler des Peripatetikers Aspasios gekennzeichnete peripatetische Philosoph identisch mit dem aus Pergamon stammenden Peripatetiker Eudemos, den Galen De praecognit. 3,2 und 4,17: CMG V 8,1, S. 82,11f. (XIV 613,10f. Kühn) und 92,26 (XIV 624,3 Kühn) als seinen Lehrer bezeichnet (vgl. V. Nutton, in: CMG V 8,1, S. 157, Komm. zu S. 74,16). Siehe Gal., De ord. lib. suor. 4: Scr. min. II 88,15–17 (XIX 59,9–11 Kühn); Meth. med. IX 4: X 609,8f. Kühn; De praecognit. 2,12: CMG V 8,1, S. 76,29–78,2 (XIV 608,15–18 Kühn). Dafür, daß Galens Vater den Auftrag, seinen Sohn Arzt werden zu lassen, von Asklepios erhalten hat, wie V. Nutton (Anm. 4), S. 162, schreibt, gibt es keine Belege.
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Schulrichtung zu binden,9 erhielt Galen in Pergamon bei dem Empiriker Aischrion, bei Stratonikos, einem Schüler des Hippokratesexegeten Sabinos, bei Satyros, der sich wie sein Lehrer Quintus auch auf dem Gebiet der Anatomie betätigte, und bei Aiphikianos, der ebenfalls ein Schüler des Quintus war.10 Nach dem Tode seines Vaters trat Galen – er war jetzt neunzehn Jahre alt11 – dessen Erbe an und wurde dadurch, wenn auch nicht übermäßig reich, wie er selbst immer wieder betont, so doch finanziell unabhängig.12 Auf jeden Fall konnte er es sich jetzt leisten, seine medizinischen Studien außerhalb von Pergamon bei den damaligen Koryphäen der Medizin fortzusetzen. Zunächst ging er des Arztes Pelops, eines Schülers des berühmten Quintusschülers Numesianos, und des Platonikers Albinos wegen nach Smyrna.13 Der Wunsch, Numesianos selbst zu hören, führte Galen von hier nach Korinth, wo er ihn jedoch nicht mehr antraf, aber offenbar in Erfahrung bringen konnte, daß dieser sich bereits in Alexandreia aufhielt, was Galen dazu bewog, ihm dorthin und wohl auch noch an einige andere Orte zu folgen.14 In Alexandreia, das auch zu Galens Zeiten noch unter den medizinischen Ausbildungsstätten führend war,15 hat der Pergamener sich längere Zeit aufgehalten und die ihm dort gebotenen Möglichkeiten, seine Kenntnisse zu erweitern, eifrig genutzt, bis er schließlich im Alter von 28 Jahren im Besitz einer gründlichen medizinischen Ausbildung in seine Heimat zurückkehrte und dort seine erste Anstellung als Arzt fand.16 Insgesamt sind es also zwölf Jahre, die Galen allein seiner ärztlichen Ausbildung gewidmet hat, eine ungewöhnlich lange Zeit, die außer Galen aller Wahrscheinlichkeit nach nur relativ wenige antike Ärzte auf ihre | Ausbildung haben verwenden können. Eine Berufsausbildung von so langer Dauer setzte nämlich das Vorhandensein von beträchtlichen Mitteln voraus, mit denen nicht nur die Kosten einer solchen Ausbildung gedeckt werden mußten, sondern auch der Lebensunterhalt der Betreffenden zu bestreiten war, die unter diesen Umständen naturgemäß erst verhältnismäßig spät in die Lage kamen, Geld zu verdienen. Daß Galen sich einen solchen Bildungsluxus hat leisten können, beweist, daß er nicht unbedingt darauf angewiesen war, von seiner Hände Arbeit zu leben, ein Umstand, durch den er sich deutlich von der Masse seiner ärztlichen Kollegen abhob. 9 10
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Siehe Gal., De loc. aff. III 3: VIII 143,17–144,5 Kühn. Siehe Gal., De simpl. med. temp. et fac. XI 1: XII 356,16–18 Kühn; De atra bile 4,12: CMG V 4,1,1, S. 78,22–24 (V 119,5–7 Kühn); In Hipp. Epid. VI comm. V 14. 25: CMG V 10,2,2, S. 287,13–19; 303,12f.; In Hipp. Epid. III comm. I 40: CMG V 10,2,1, S. 59,17–19 (XVII A 575,8–11 Kühn); De anatom. administr. I 1. 2: II 217,14f.; 224,15–225,4 Kühn; In Hipp. De nat. hom. comm. II 6: CMG V 9,1, S. 70,13f. (XV 136,14f. Kühn); In Hipp. Prorrh. I comm. I 5: CMG V 9,2, S. 20,11f. (XVI 524,2f. Kühn). Siehe Gal., De bonis malisque sucis 1,18: CMG V 4,2, S. 393,10–12 (VI 756,10–12 Kühn). Siehe Gal., De prop. animi cuiuslibet aff. dign. et cur. 8,11; 9,7. 13: CMG V 4,1,1, S. 30,16f.; 32,5–8; 33,21–23 (V 45,1f.; 47,10–15; 50,3–5 Kühn). Siehe Gal., De lib. prop. 2: Scr. min. II 97,9–11 (XIX 16,9f. Kühn); De anatom. administr. I 1: II 217,13–15; In Hipp. Prorrh. I comm. I 5: CMG V 9,2, S. 20,11f. (XVI 524,12f. Kühn). Siehe Gal., De anatom. administr. I 1: II 217,17–218,3 Kühn. Die führende Stellung hatte Alexandreia zumindest im Hinblick auf die anatomische Ausbildung behaupten können; s. dazu Gal., De anatom. administr. I 2: II 220,14–221,1 Kühn. Siehe Gal., De comp. med. per gen. III 2: XIII 599,5–12 Kühn; In Hipp. De nat. hom. comm. II 6: CMG V 9,1, S. 70,8f. (XV 136,8f. Kühn); vgl. auch De loc. aff. III 11: VIII 197,9–16 Kühn und De simpl. med. temp. et fac. IX 1: XII 177,6–178,2 Kühn.
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Die Form der Ausbildung, die Galen zuteil geworden war, und seine materielle Unabhängigkeit waren wohl die wichtigsten Gründe, die in der neueren Forschung seit Bowersock17 den Anlaß bildeten, Galens Stellung im Rahmen der Zweiten Sophistik und seine Abhängigkeit von der durch sie bestimmten geistigen Tradition stärker herauszuarbeiten und zu betonen. Die Anerkennung der These von der Verbindung Galens zur Zweiten Sophistik läßt sich sowohl bei J. Scarborough in seinen kritischen Bemerkungen zum Galenbuch von García Ballester18 als auch bei V. Nutton in dessen jüngsten Arbeiten zu Galen19 belegen. Diese These hat zweifellos viel für sich. Galen gehörte, wie die Vertreter der Zweiten Sophistik, zu den privilegierten Schichten der Bevölkerung und verkörperte wie sie die höchste Stufe der Bildung seiner Zeit. Mit ihnen verbinden Galen auch seine ausgedehnten Reisen,20 die in die Jahre seines Berufslebens fallen, unter ihnen neben den beiden Reisen nach Rom auch solche zu Studienzwecken, die ihn unter anderem nach Lemnos, Zypern, Palästina und Lykien führten.21 Zu den Aktivitäten Galens, mit denen er dem Zeitgeschmack entgegengekommen ist, sind ebenso auch seine in Rom in einem größeren Kreis geführten Debatten mit Philosophen verschiedenster Richtungen sowie die auf Wunsch des ehemaligen Konsuls Flavius Boethus öffentlich veranstalteten anatomischen Demonstrationen zu rechnen, denen führende Vertreter sowohl des geistigen wie des politischen Lebens der Hauptstadt, unter ihnen die Redner und Sophisten Hadrian von Tyros und Demetrios von Alexandreia, der Peripatetiker Alexander von Damaskos sowie die Konsuln Cn. Claudius Severus, L. Sergius Paulus und M. Vettulenus Civica Barbarus, ein Onkel des Kaisers Lucius Verus, beiwohnten.22 Dagegen wird man Galen wohl kaum gerecht, wenn man auch die von ihm propagierte enge Verbindung von Medizin und Philosophie primär aus dem Zeitgeist heraus zu erklären versucht.23 Sicher könnte man sich fragen, ob Galen, wenn er in seiner Jugend nicht in den Genuß einer philosophischen Ausbildung gekommen wäre, jemals die These aufgestellt | hätte, daß nur derjenige ein guter Arzt sein kann, der zugleich auch Philosoph ist, und man wird auch zugeben müssen, daß sich mehr als genug Beispiele tüchtiger Ärzte aus der Antike anführen ließen, die das Gegenteil von Galens Forderung beweisen. Für ihn selbst war sie jedoch, und das muß seiner Tragweite wegen ausdrücklich betont werden, keineswegs nur Ausdruck einer zur Schau getragenen Bildungsbeflissenheit. Er wußte sich hier als Fortsetzer einer alten medizinischen Tradition, die bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Heilkunde der Grie17
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Siehe G. W. Bowersock, Greek sophists in the Roman Empire, Oxford 1969, S. 59–75, der Galen in seinem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Siehe J. Scarborough, On Ballester’s Galen: An extended review, Episteme 1, 1975, S. 23 Anm. 9. Siehe die beiden schon genannten Arbeiten Medical autobiography (Anm. 1) und Chronology (Anm. 4) sowie seinen Kommentar zu De praecognit., CMG V 8,1. Siehe dazu G. W. Bowersock (Anm. 17), S. 62; vgl. auch ebd., S. 18f. Siehe Gal., De simpl. med. temp. et fac. IX 1. 2. 3: XII 171,1–11; 203,6–8; 226,11–227,4 Kühn; De antidot. I 2: XIV 7,12f. Kühn. Zur Datierung der Studienreisen Galens, die auf Grund seiner vagen Angaben in keinem Fall mit Sicherheit entschieden werden kann, s. zuletzt V. Nutton (Anm. 4), S. 166–170. Siehe Gal., De praecognit. 5,6–20: CMG V 8,1, S. 94,19–100,1 (XIV 625,17–630,9 Kühn); vgl. dazu G. W. Bowersock (Anm. 17), S. 62f. Siehe G. W. Bowersock (Anm. 17), S. 66–69.
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chen zurückreichte, und es war ihm dadurch, daß er sich der Lehren der Philosophen bediente und ihr methodisches Rüstzeug souverän zu handhaben verstand, gelungen, die Medizin in der Antike ein letztes Mal theoretisch voranzubringen. Die Verbindung zwischen Medizin und Philosophie, d.h. die Verbindung zwischen der naturphilosophischen Physiologie und dem methodischen philosophischen Vorgehen, war für ihn die Grundlage, von der er ausgehen konnte und ausgehen mußte, wenn er sich mit der ihm überkommenen Medizin schöpferisch auseinandersetzen wollte. Sie entsprach einem aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Medizin erwachsenen Bedürfnis und war somit weit mehr als nur ein Mittel, das angewandt wurde, um in öffentlichen Vorträgen zu brillieren, wenngleich man nicht in Abrede stellen kann, daß Galen damit zugleich auch einem Trend seiner Zeit entgegenkam. Als Repräsentant der Bildung seiner Epoche erweist Galen sich auch in seiner literarischen Tätigkeit, die von seinen weitgespannten Interessen nicht nur innerhalb der Medizin, sondern auch auf anderen Fachgebieten zeugt. Wenn wir ihm angesichts der großen Zahl der von ihm verfaßten Werke von teilweise beträchtlichem Umfang auch nicht ganz glauben werden, daß er seinem schon in seiner Jugend gefaßten Vorsatz, keine fremden, sondern nur eigene Forschungsergebnisse unter seinem Namen zu publizieren,24 immer treu geblieben ist – das trifft sicher auch auf Schriften zu, die nicht wie seine Epitome der Anatomie des Marinos oder sein Timaioskompendium bereits vom Titel her die Auswertung älteren Gedankenguts erkennen lassen –, so wissen wir doch aus seinen bibliographischen Abhandlungen, daß er sich auch nach Abschluß seiner Ausbildung außer mit der Medizin auch weiterhin noch mit Philosophie einschließlich Logik und Ethik und darüber hinaus auch mit philologischen Problemen beschäftigt und die Ergebnisse dieser Bemühungen schriftlich fixiert hat.25 Außer in der Vielfalt der behandelten Themen verrät sich Galens Bildung auch in der sprachlich-stilistischen Gestaltung seiner Werke. Worauf es ihm beim Schreiben vor allem ankam, war die σαφήνεια, die Klarheit des Ausdrucks, und um das zu erreichen, machte er es sich zum Grundsatz, dem bei den Griechen üblichen Sprachgebrauch zu folgen, | d.h. ein literarisches Griechisch zu schreiben, das ebenso von Solözismen wie von den sprachlichen Spitzfindigkeiten der Sophisten, von denen er sich hier ausdrücklich distanziert, frei war.26 Das allgemein übliche Griechisch, das Galen sich zum Maßstab gesetzt hatte, war die Sprache der Alten, das Attische, allerdings in seiner historischen Entwicklung verstanden, aus der Galen für sich das Recht ableitete, der zeitgenössischen Sprachentwicklung gleichfalls Rechnung zu tragen und einen übertriebenen Attizismus, wie er zum Teil bei den Sophisten anzutreffen war, zu kritisieren.27 24
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Siehe Gal., De anatom. administr. VIII 2: II 659,15–660,1 Kühn; daß Galen damit einen Grundsatz verfolgt hat, der für seine Zeit keineswegs selbstverständlich war, ist bereits von J. Ilberg, Schriftstellerei (Anm. 4), S. 492, hervorgehoben worden. Siehe Gal., De lib. prop. 11–17: Scr. min. II 115,21–124,17 (XIX 39,1–48,16 Kühn), und J. Ilberg, Schriftstellerei (Anm. 4), S. 593–613 und 617–620. Siehe Gal., De diff. puls. II 2: VIII 567,1–16 Kühn; vgl. dazu I. v. Müller (Anm. 1), S. 85 und 87; B. P. Reardon, Courants littéraires grecs des IIe et IIIe siècles après J.-C., Paris 1971, S. 62; V. Nutton, in: CMG V 8,1, S. 61. Siehe Gal., Meth. med. I 9: X 71,3–5 Kühn; De morb. temp. 4: V II 417,15–17 Kühn; De diff. puls. II 5: VIII 584,17–585,5 Kühn. Zum Problem des Attizismus bei Galen s. auch I. v. Müller (Anm. 1), S. 86f.; W. Herbst, Galeni Pergameni de atticissantium studiis testimonia collecta atque exami-
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Galen und die Zweite Sophistik
Daß Galen darüber hinaus auch in den verschiedensten literarischen Gattungen bewandert war, beweist vielleicht am besten seine Schrift Über die Prognose, die nicht, wie vom Titel her zu erwarten wäre, eine Abhandlung über die Theorie der Prognose ist, sondern ihren Zweck einzig und allein in einer der Verteidigung gegen, wie Galen glaubte, böswillige Verleumdungen von seiten seiner ärztlichen Kollegen dienenden Selbstdarstellung hatte. Die ganz persönlichen Gründe, die Galen zur Abfassung dieser Schrift veranlaßt haben, erklären auch den, verglichen mit den rein medizinischen Texten, besonderen literarischen Charakter dieses Werkes, das in sich Stilelemente der Diatribe, des Dialogs, der Autobiographie und des Krankenjournals vereint und die literarische und rhetorische Bildung ihres Verfassers in vollem Glanz erstrahlen läßt. Die Anlehnung an literarische Vorbilder ist, wenn auch nicht für die Gesamtkonzeption, so doch in Einzelheiten, wie V. Nutton gezeigt hat,28 nicht zu übersehen. Im Formalen betrifft sie z.B. die Vereinigung mehrerer Krankengeschichten zu einer Art Krankenjournal nach dem Vorbild der hippokratischen Epidemien. Die Anlehnung läßt sich aber auch im Inhaltlichen, z.B. in der Schilderung des Sittenverfalls unter den in Rom tätigen Ärzten oder in der Betonung der Vorteile, die das intimere Leben in den Provinzstädten gegenüber dem anonymen Dasein in der Hauptstadt des römischen Imperiums bietet, nachweisen und kommt schließlich auch in sprachlichen Anklängen an ältere Autoren, vor allem an Platon,29 zum Ausdruck. Ein Zeichen für Galens große Belesenheit sind nicht zuletzt auch die Dichterzitate, die er, gemessen an anderen medizinischen Autoren, in ungewöhnlich großer Zahl in seinen Texten anführt. Daß es sich dabei in der Regel um Zitate aus den Werken der alten Dichter handelt, ist sicher kein Zufall. Sie gehören, wie z.B. auch Platon und Thukydides, zu den alten Autoritäten, deren Wertschätzung der Pergamener mit vielen seiner Zeitgenossen teilt. Mit den Vertretern der Zweiten Sophistik eint Galen schließlich sein Bestreben, Karriere zu machen. Es ist sicherlich bezeichnend, daß er Pergamon, wo er, wie schon erwähnt wurde, seine erste Anstellung als Arzt gefunden hatte, bereits nach vier Jahren wieder verließ und nach Rom | ging. Wenn sich bei Galen der Hinweis findet, daß Rom mit seiner hohen Bevölkerungszahl ein besonders interessantes medizinisches Betätigungsfeld bot,30 so dürfen wir darin nur einen Grund für seinen Entschluß sehen, sich dorthin zu wenden. Zwar besteht keine Veranlassung, diese seine Bemerkung in Zweifel zu ziehen und zu meinen, medizinische Erwägungen hätten für ihn in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt. Man darf jedoch annehmen, daß es nicht zufällig war, daß seine Wahl gerade Rom traf. Denn hätte er sich allein von medizinischen Erwägungen bestimmen lassen, hätte der Ort seiner Wahl ebensogut auch Alexandreia sein können. Die Hauptstadt des Weltreichs bot aber ganz andere Möglichkeiten: hier konnte er Menschen kennenlernen, die entscheidenden politischen Einfluß hatten; hier konnte er sich gegenüber Konkurrenten durchsetzen und behaupten; und nur hier konnte er eine Stellung in der Gesellschaft erringen, wie sie ihm
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nata, Diss. Marburg 1910; B. P. Reardon (Anm. 26), S. 62 und 88, sowie V. Nutton, in: CMG V 8, 1, S. 61f. Siehe V. Nutton (Anm. 1), S. 53–60, und in: CMG V 8,1, S. 59 und 146. Siehe V. Nutton, in: CMG V 8,1, S. 146f., Komm. zu S. 68,3–74,12; S. 148, Komm. zu S. 68,7; S. 153, Komm. zu S. 72,15–21; S. 154, Komm. zu S. 72,22; S. 156f., Komm. zu S. 74,9–11. Siehe Gal., De purgant. med. fac. 2: XI 328,9–12 Kühn.
Galen und die Zweite Sophistik
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offensichtlich erstrebenswert erschien. Um es modern auszudrücken: das, wonach Galen strebte, waren nicht das Leben eines Universitätsprofessors in Alexandreia und ein reines Gelehrtendasein, auch wenn er immer wieder seine wissenschaftlichen Interessen und Neigungen betont. Zumindest ebenso wichtig war für ihn – und darin folgte er den Vertretern der Zweiten Sophistik – eine angesehene gesellschaftliche Stellung. Galen traf im Spätsommer des Jahres 162 in Rom ein.31 Die Einzelheiten seines Aufstiegs in Rom sind genügend bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Bemerkenswert ist jedoch vielleicht die Art und Weise, in der er sich in der neuen Umgebung erfolgreich durchsetzte. Zweifellos hat Galen recht, wenn er schreibt, daß die in Rom tätigen Ärzte, deren Zahl nicht gerade klein war, einen erbitterten Konkurrenzkampf führten, der selbst bis zum Mord an einem unbequemen Kollegen gehen konnte und der es einem Neuankömmling nicht eben leicht machte, in der Stadt Fuß zu fassen.32 Wenn es Galen trotzdem in verhältnismäßig kurzer Zeit gelang, sich in Rom einen Namen zu machen, so verdankte er dies wohl in erster Linie der Protektion, die ihm sein Landsmann und früherer Lehrer, der Peripatetiker Eudemos, zuteil werden ließ. Als dieser an einem gefährlichen Quartanfieber erkrankt war, bot er Galen die Chance, an ihm sein Können unter Beweis zu stellen, und er versäumte nicht, Galens prognostische und therapeutische Fähigkeiten unter seinen Bekannten, zu denen nach den Worten Galens nahezu alle führenden Vertreter des geistigen und politischen Lebens in Rom gehörten, mit allem Nachdruck zu rühmen und ihn als Arzt der Wahl zu empfehlen.33 Der Krankheitsfall des Eudemos hatte nicht nur wesentlich dazu beigetragen, Galens Ruf als eines tüchtigen Arztes in Rom zu begründen, sondern ihm zugleich auch den Zugang zu den oberen Schichten der römischen Gesellschaft eröffnet. In | besonderem Maße konnte Galen das Vertrauen des ehemaligen Konsuls Flavius Boethus gewinnen, der ihm Frau und Sohn als Patienten anvertraute und ihm aus Dankbarkeit für die erfolgreiche Behandlung seiner Frau ein Honorar in der Höhe von 40 000 Sesterzen zahlte.34 Aus den Kreisen der Senatoren drang der Ruhm Galens bald auch zu Marc Aurel,35 der ihn an seinen Hof zog. Scheinen auch Galens Beziehungen zum Kaiserhof nicht besonders eng gewesen zu sein,36 so sollten sie doch andererseits in ihrer Bedeutung für Galens Karriere nicht unterschätzt werden. Oblag doch Galen mehrere Jahre hindurch die ärztliche Betreuung des Thronfolgers Commodus,37 wissen wir doch weiterhin von Galen selbst, daß er zumindest in einem Fall auch den Kaiser selbst behandelt hat, als dieser unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Markomannenkrieg an einer fieberhaften Erkrankung der Verdauungsorgane litt,38 und war er doch von Marc Aurel nach dem Tode des kaiserlichen Leibarztes Demetrios aufgefordert worden, den Theriak, den der Kaiser 31 32
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Siehe V. Nutton (Anm. 4), S. 159. Siehe Gal., De praecognit. 1,1–10; 4,16: CMG V 8,1, S. 68,3–72,12; 92,23–26 (XIV 599,4–603,12; 623,17–624,2 Kühn). Siehe Gal., De praecognit. 2f.: CMG V 8,1, S. 74,12–88,13 (XIV 605,13–619,10 Kühn). Siehe Gal., De praecognit. 7,1–8,20: CMG V 8,1, S. 104,24–116,19 (XIV 635,11–647,14 Kühn). Siehe Gal., De praecognit. 8,21: CMG V 8,1, S. 116,20–22 (XIV 647,14–16 Kühn). Vgl. auch J. Ilberg, Galens Praxis (Anm. 4), S. 298. Siehe Gal., De praecognit. 9,5–7: CMG V 8,1, S. 118,16–33 (XIV 649,12–650,15 Kühn) und De lib. prop. 2: Scr. min. II 98, 12–99,18 (XIX 17,16–19,8 Kühn). Siehe Gal., De praecognit. 11,1–8: CMG V 8,1, S. 126,16–128,30 (XIV 657,16–660,14 Kühn).
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Galen und die Zweite Sophistik
täglich einzunehmen pflegte, zuzubereiten, ein Amt, das ihm später von Septimius Severus erneut übertragen worden ist39. Die Übertragung der Aufgabe der Theriakbereitung muß zweifellos als Beweis für das unbedingte Vertrauen, das die Kaiser ihm entgegenbrachten, angesehen werden, und wir können Galen somit mit Fug und Recht bescheinigen, daß es ihm in seinem Beruf gelungen war, die höchsten Stufen der Erfolgsleiter zu erklimmen. Die Nachrichten, die wir über Galens Karriere in Rom besitzen, lassen deutlich werden, daß er ohne Zweifel zu den angesehensten Ärzten seiner Zeit gehörte. Nichts berechtigt jedoch, von ihm daraufhin mit Bowersock als von einem „lion of society“40 zu sprechen, dem widerspricht schon allein seine umfangreiche und ernsthafte wissenschaftliche Produktion. Seine Stellung läßt sich vielmehr bestenfalls mit der des Horace Bianchon, des Arztes in der Comédie Humaine Balzacs, vergleichen, der zwar Zugang zu den höchsten Kreisen seiner Gesellschaft hatte, in dieser Gesellschaft jedoch eine Art Außenseiter blieb. Galens Beziehungen zu den einflußreichen Persönlichkeiten seiner Zeit waren wie bei diesem in erster Linie medizinisch bestimmt. Die überlieferten Nachrichten lassen jedenfalls die Annahme, daß diese Beziehungen, mit Ausnahme vielleicht der zu Eudemos, mehr persönlicher und intimer Natur waren, nicht zu, und es ist daher kaum korrekt, wenn man, ohne sich auf einen ausdrücklichen Hinweis bei Galen stützen zu können, Männer wie Boethus, den Oberpriester von der Provinz Asia oder den procurator metallorum von Zypern als „Freunde“ Galens bezeichnet41. Im Gegensatz zu den Sophisten hat Galen weiterhin nie ein öffentliches Amt bekleidet – die in diese Richtung deutende Annahme von V. Nutton, nämlich daß Galen ein θεραπευτής im Asklepieion zu Pergamon, d.h. ein Mitglied einer | einflußreichen Kultgruppe, und möglicherweise auch Mitglied der städtischen Kurie in Pergamon gewesen sei,42 erweist sich bei näherem Zusehen ebenfalls als Überinterpretation der betreffenden Galenstellen. Und was schließlich Galens Familie betrifft, so gehörte sie zwar sicherlich zu den gehobenen Kreisen Pergamons, ist aber kaum zu der reichen Pergamenischen Aristokratie zu zählen; denn das Vermögen, über das Galen verfügte, erlaubte es ihm zwar, seinen Neigungen zu leben und sich durch gelegentliche Zuwendungen an bedürftige Kollegen hervorzutun,43 es gestat-
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Siehe Gal., De antidot. I 1. 13: XIV 4,13–5,2; 65,3–12 Kühn. G. W. Bowersock (Anm. 17), S. 66. So z.B. V. Nutton, in: CMG V 8,1, S. 164, Komm. zu S. 80,17; S. 183, Komm. zu S. 92,18, und dens. (Anm. 4), S. 170. Im Zusammenhang mit der Erwähnung seines Aufenthaltes auf Zypern sagt Galen zwar, daß er dort einen einflußreichen Freund hat, dieser ist aber nicht mit dem procurator metallorum identisch (s. De antidot. I 2: XIV 7,13–15 Kühn). Siehe V. Nutton, in: CMG V 8,1, S. 183, Komm. zu S. 92,18. Die Galenstelle, auf die Nutton sich hier bezieht (De lib. prop. 2: Scr. min. II 99,9f. [XIX 19,1f. Kühn]), läßt aber in ihrem Kontext eindeutig erkennen, daß das Wort θεραπευτής hier in der üblichen Bedeutung „Verehrer“ gebraucht ist. Vgl. auch F. Kudlien, Galen’s religious belief, in: Galen: problems and prospects. A collection of papers submitted at the 1979 Cambridge conference, hrsg. v. V. Nutton, London 1981, S. 120. Noch weniger läßt sich aus der Stelle De prop. animi cuiuslibet aff. dign. et cur. 8,9: CMG V 4,1,1, S. 30,2f. (V 44,2f. Kühn) entnehmen, daß Galen die Mitgliedschaft in der Kurie auf sich bezieht. Siehe M. Meyerhof, Autobiographische Bruchstücke Galens aus arabischen Quellen, Archiv f. Gesch. d. Medizin 22, 1929, S. 84.
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tete ihm aber keine Extravaganzen, z.B. in Form von großzügigen Spenden an seine Heimatstadt, wie wir das von den Sophisten kennen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß Galens Verhältnis zur Philosophie Züge erkennen läßt, die nicht allein aus der Geisteshaltung der Zweiten Sophistik erklärt werden können und in erster Linie durch seinen Beruf bestimmt waren. Besonders deutlich unterscheidet sich Galen von der Zweiten Sophistik durch sein Verhältnis zur Tradition. So beruft er sich zwar, wie die Sophisten, gern auf alte Autoren, unter denen Hippokrates für ihn die höchste Autorität darstellte. Galens Verhältnis zu Hippokrates ist jedoch sehr viel differenzierter, als daß es allein aus den archaisierenden Tendenzen seiner Zeit befriedigend erklärt werden könnte. Der Grund hierfür ist, wie wir an anderer Stelle haben zeigen können,44 in der besonderen Situation der Medizin zu sehen, die sich, vergleichbar vielleicht noch der angewandten Biologie und der Astronomie, täglich in der Praxis zu bewähren hatte und sich deshalb eine Orientierung an der auf weite Strecken längst überholten Medizin der fernen Vergangenheit nicht leisten konnte. So hat denn auch Galen, und sein Verhalten belegt die Sonderstellung der Medizin in der Entwicklung der Wissenschaften dieser Periode, in dem Bestreben, den höchsten Grad an Wissenschaftlichkeit zu wahren, bei der Entwicklung seiner eigenen medizinischen Theorien, die die Grundlage seines ärztlichen Handelns bildeten, bewußt an die aktuelle medizinische Gegenwart, d.h. an die Ergebnisse der medizinischen Forschung der hellenistischen Ärzte und seiner unmittelbaren Vorgänger und Zeitgenossen angeknüpft. Die hippokratische Medizin spielte für ihn in diesem Zusammenhang, wenn man einmal von Übereinstimmungen allgemeinerer Art, wie sie sich z.B. aus der humoralpathologischen Konzeption ergaben, absieht, so gut wie gar keine Rolle; sie war für ihn allenfalls von historischem Interesse. Und wenn er sich trotz dieser für seine Zeit auffallend nüchternen Einstellung darum bemüht, das medizinische Wissen des Koers zu aktualisieren und, wo es sich anbietet, einen Consensus zwischen seinen eigenen Auffassungen und denen des Hippokrates herzustellen, so läßt sich das letztlich nur aus seinem Gefühl für historische Tradition erklären, die ihn gelehrt hatte, in Hippokrates den Mann zu sehen, der die wissenschaftliche Medizin | begründet und damit, wie er meinte, bereits die gesamte spätere Entwicklung in Ansätzen vorweggenommen hatte. Mit dieser Art der historischen Betrachtung, die es, vom heutigen Standpunkt aus beurteilt, an der notwendigen historischen Distanz gegenüber der Vergangenheit fehlen läßt, steht Galen freilich ganz auf dem Boden der Medizin seiner Zeit, die zwar weit über die hippokratische Heilkunde hinausgelangt war, im Grunde aber nur eine quantitative Veränderung und Ergänzung dieser Heilkunde darstellte, so daß der Rückgriff auf Hippokrates als die höchste Autorität selbst für einen selbständig denkenden Wissenschaftler wie Galen geradezu als selbstverständlich erscheinen mußte und keineswegs als Zugeständnis an den Zeitgeschmack zu werten ist. 44
Siehe G. Harig u. J. Kollesch, Galen und Hippokrates, in: La Collection hippocratique et son rôle dans l’histoire de la médecine. Colloque de Strasbourg (23–27 octobre 1972), hrsg. v. L. Bourgey u. J. Jouanna, Leiden 1975, S. 257–274; J. Kollesch, Eklektizismus und Synthese in der medizinischen Forschung, in: Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, hrsg. v. F. Jürß, Berlin 1982 (Veröffentl. d. Zentralinstituts f. Alte Geschichte und Archäologie d. Akademie d. Wiss. d. DDR 13), S. 577–579, sowie G. Harig, Biologie im Rahmen anderer Disziplinen, ebd., S. 568f.
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Galen und die Zweite Sophistik
Als Ergebnis unserer Ausführungen läßt sich zusammenfassend sagen, daß die in der Forschung der letzten Jahre erfolgte stärkere Betonung der Abhängigkeit Galens von der Zweiten Sophistik uns fraglos gelehrt hat, eine Reihe von Erscheinungen im Leben und Werk des Pergameners in einem richtigeren Licht zu sehen, daß sie aber relativiert werden muß, wenn man der Sonderstellung, die Galen ebenso wie die Medizin in der geistigen Situation dieser Zeit einnimmt, gerecht werden will. Den Einfluß des Klassizismus der Antoninenzeit auf Galen leugnen zu wollen wäre unsinnig, nicht weniger falsch erscheint es uns aber, die Besonderheiten zu übersehen, die für ihn und die von ihm vertretene wissenschaftliche Disziplin gültig waren.
2. GALEN UND SEINE ÄRZT LICHEN KOLLEGEN*
Galen von Pergamon ist der einzige Arzt der Antike, über dessen Leben und Wirken wir recht gut unterrichtet sind. Denn gegen alle antike Gepflogenheit enthalten seine unzähligen Schriften eine Fülle persönlicher Nachrichten, die nicht nur seine eigene Person betreffen, sondern auch die Menschen seiner Um|gebung, seien es Freunde, Kollegen oder Patienten. Es dürfte selbstverständlich sein, daß wir Galen für diese Mitteilungen außerordentlich dankbar sind, da sie es gestatten, wenigstens in einem Falle das Bild des Menschen, der hinter dem Arzt und Forscher steht, zu rekonstruieren. Doch drängt sich unwillkürlich die Frage auf, worin wohl das für die Antike stark ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis Galens begründet gewesen sein mag. Diese Frage ist um so berechtigter, als mit ihr die Frage nach der Objektivität der Aussagen, die Galen über sich und seine Kollegen macht, aufs engste zusammenhängt, zumal wir uns im folgenden allein auf diese Aussagen stützen können. Die Lektüre einiger Galenschriften genügt bereits, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß Galen die zahlreichen Episoden aus seinem Leben und seiner ärztlichen Praxis nicht erzählt, um den Wissensdurst der Nachwelt zu stillen. Er berichtet sie aus dem Bedürfnis heraus, mit seinem fachlichen Wissen und seinen Erfolgen in seiner ärztlichen Tätigkeit zu renommieren. Das ist gewiß keine sehr rühmenswerte Eigenschaft. Aber diese Erkenntnis dürfte dennoch gerade in unserem Zusammenhang sehr wichtig sein, da bei einem Menschen, der in so ausgeprägter Form wie Galen auf seinen eigenen Ruhm bedacht ist, eine objektive Beurteilung der Berufskollegen nicht unbedingt gewährleistet zu sein scheint. Galen wurde im Jahre 129 n.Chr. in der kleinasiatischen Stadt Pergamon geboren. Hier erwarb er sich unter Anleitung seines Vaters, eines wohlhabenden und in seiner Heimatstadt angesehenen Technikers, eine sorgfältige Allgemeinbildung. Seit seinem 17. Lebensjahr widmete sich Galen dem Studium der Medizin, das er viele Jahre hindurch mit großem Eifer betrieb. Da er von Hause aus über die nötigen Geldmittel verfügte, konnte er es sich leisten, die größten und berühmtesten medizinischen Ausbildungsstätten seiner Zeit zu besuchen. In Pergamon, Smyrna, Korinth und Alexandreia hörte er Vorlesungen bei den Vertretern der verschiedenen Ärzteschulen, und er blieb auch nach Abschluß seines Studiums dem Eklektizismus treu, weil ihm jede schulmäßig gebundene Medizin allzu einseitig erschien. Mit 28 Jahren kehrte Galen nach Pergamon zurück und wirkte dort als Gladiatorenarzt. * Vortrag, gehalten am 12.10.63 auf einer wissenschaftlichen Sitzung der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft Eichsfelder Ärzte in Heiligenstadt. Erschienen in: Das Altertum 11, 1965, S. 47–53.
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Den ehrgeizigen jungen Mann hielt es aber nicht lange in der Provinzstadt. Schon nach vier Jahren ging er nach Rom, um dort, ausgerüstet mit soliden theoretischen Kenntnissen und eigenen praktischen Erfahrungen, seine Praxis zu eröffnen. Vermutlich hoffte er, hier in der Hauptstadt des römischen Imperiums das Betätigungsfeld und die Aufstiegsmöglichkeiten zu finden, die seinen Fähigkeiten und wissenschaftlichen Ambitionen entsprachen. Doch scheint Galen der Anfang in Rom nicht eben leicht geworden zu sein. Es war auch gar nicht anders zu erwarten. Denn ebensowenig wie heute konnte vor 1800 Jahren ein junger Arzt, der seine erste Praxis aufmachte, erwarten, daß die Patienten in Scharen in seine Sprechstunde strömten und daß die am gleichen Ort praktizierenden Kollegen ihn mit offenen Armen aufnahmen. Damals wie heute gingen die Kranken lieber zu einem Arzt in Behandlung, dessen Fähigkeiten erprobt und bekannt waren, als daß sie sich einem jungen und unerfahrenen Arzt anvertrauten. Damals wie heute fürchteten die Ärzte die Konkurrenz eines neuen Kollegen. | War also ein erster Anfang in jedem Falle mit Schwierigkeiten verbunden, um wieviel schwerer mußte es dann sein, sich in Rom Anerkennung zu verschaffen, das seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert zum Sammelpunkt der berühmtesten Ärzte geworden war. Ich nenne nur Namen wie Asklepiades von Bithynien und Themison von Laodikeia, die Begründer der methodischen Ärzteschule, Andromachos, den Leibarzt Kaiser Neros, Athenaios, den Stifter der pneumatischen Schule, dessen Schüler Agathinos und Soran von Ephesos. Und wohl keiner, der die Situation, in der sich Galen zu Beginn seines römischen Aufenthaltes befand, richtig einzuschätzen vermag, wird ihm einen Vorwurf daraus machen oder an seinen ärztlichen Fähigkeiten zweifeln, nur weil ihm nicht gleich in den ersten Monaten in Rom der Erfolg beschieden war, den er sich erträumt hatte und der ihm später in so reichem Maße zuteil wurde. Galen selber hat diese Dinge allerdings sehr viel weniger nüchtern und sachlich beurteilt. Er gibt zwar zu, daß ihn keiner kannte, als er nach Rom kam, und daß man ihn dort zunächst für einen der Philosophen hielt, die sich in großer Zahl in der Hauptstadt einfanden. Er wußte auch, daß er seine Fähigkeiten als Arzt und Forscher erst unter Beweis stellen mußte, damit man auf ihn aufmerksam würde und er zu den höchsten Gesellschaftskreisen Roms Zugang fände. Und so hat er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel eingesetzt, sich einen Namen zu verschaffen. Er hat praktiziert und anatomische Demonstrationen veranstaltet, er hat Vorträge gehalten und im Kollegen- und Freundeskreis über medizinische Probleme Diskussionen geführt, deren Ergebnisse er in einer großen Anzahl kleinerer Schriften publizierte. Der Erfolg ließ auch nicht lange auf sich warten. Schon bald konnte Galen auch hochgestellte Persönlichkeiten der römischen Gesellschaft zu seinen Patienten zählen. Aber er hatte mehr erwartet; noch Jahre später beklagt er sich darüber, daß er kein Modearzt – wie ich es einmal nennen möchte – wurde und – was in seinen Augen noch viel schwerer wog – daß die verdiente Anerkennung und Bewunderung für seine hervorragenden Leistungen, vor allem auf dem Gebiet der Prognose aus dem Puls, seitens der Kollegen ausblieb, man ihn statt dessen als Wahrsager und Gaukler bezeichnete. Die wahren Ursachen hierfür kennen wir nicht. Wir werden aber wohl kaum fehlgehen, wenn wir sie bei Galen selbst suchen. Sein selbstgefälliges, ehrgeiziges und streitsüchtiges Wesen, das wir zur Genüge aus seinen Schriften kennen, dürfte schwerlich geeignet gewesen sein, ihn bei den Kollegen beliebt und bei weiten Bevölkerungs-
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kreisen populär zu machen. Aber es darf uns auch nicht wundern, wenn Galen selbst, eben auf Grund der genannten Charaktereigenschaften, für das gespannte Verhältnis, das zwischen ihm und seinen Kollegen bestand, nicht sich, sondern die anderen verantwortlich machte und auf diese Weise seine Darstellung dieses Verhältnisses ein nicht zu übersehendes subjektives Gepräge erhält. Da es für ihn eo ipso ausgeschlossen war, daß er selbst durch sein Verhalten an der Feindschaft mit der römischen Ärzteschaft mitschuldig gewesen sein könnte, bemühte er sich, die Auseinandersetzungen mit seinen Berufskollegen auf eine höhere Ebene zu verschieben, was ihm freilich nicht ganz gelungen ist. | So wie er die Dinge gesehen und dargestellt hat, handelte es sich bei diesen Auseinandersetzungen nicht so sehr um bloße Konkurrenzkämpfe; was hier ausgetragen wurde, war ein Kampf zwischen Scharlatanerie und wahrem Arzttum, zwischen Pfuscherei und exakter medizinischer Wissenschaft. Denn die Ärzteschaft, die Galen in Rom vorgefunden hatte, entsprach in keiner Weise mehr dem Ideal des hippokratischen Arztes. An die Stelle der ärztlichen Standesethik waren – wie Galen sagt – schnöde Gewinnsucht und Betrügerei getreten1. Die meisten Ärzte in Rom hatten eine kurze und einseitige Ausbildung erhalten und verfügten daher nur über geringe fachliche Kenntnisse. Aber trotzdem gelangten sie zu unermeßlichem Reichtum, da sie es verstanden, diesen Mangel auf andere Weise wieder auszugleichen, wobei ihnen die Verfallserscheinungen innerhalb der römischen Gesellschaft sehr zustatten kamen. Diese Ärzte redeten ihren Patienten zum Munde, sie schmeichelten ihnen, sprachen alle Tage bei ihnen vor, sie spielten bei ihren Gelagen den Narren und scheuten nicht einmal davor zurück, ihren Patienten unwirksame, ja sogar schädliche Mittel zu verordnen, wenn diese es wünschten. Auf diese Weise machten sie sich nach Galens Darstellung bei den reichen und mächtigen Bürgern der Stadt beliebt, schienen mehr, als sie in Wirklichkeit waren, und versammelten überdies eine große Anzahl Schüler um sich. Die Ärzte aber, die es ihnen nicht gleich taten, waren ihren Angriffen, Verleumdungen und sogar Mordanschlägen ausgesetzt. Da Galen aber trotzdem vier Jahre in Rom blieb und nach knapp zwei Jahren auch wieder dorthin zurückkehrte, um die restlichen dreißig Jahre seines Lebens dort zu verbringen, scheint die Bedrohung seiner persönlichen Sicherheit doch nicht allzu ernsthaft gewesen zu sein. Ohne Zweifel werden sich in Rom mehr unzuverlässige Elemente unter den Ärzten befunden haben als in den kleineren Provinzstädten. Denn die Großstadt bot weit mehr Möglichkeiten, große Reichtümer zu sammeln. Auch konnte man hier, wenn es nötig war, in der Menge untertauchen und es mit größerer Leichtigkeit vertuschen, wenn man nicht immer auf ganz reellem Wege vorging. Es mag auch durchaus zutreffen, daß diese Ärzte zumeist Anhänger der methodischen Ärzteschule waren; denn im 2. Jahrhundert waren in der Tat in Rom die Methodiker zahlenmäßig am stärksten vertreten und stellten infolgedessen auch Galens gefährlichste Konkurrenten dar. Aber sicher hat nur sein – wie es scheint – empfindlich verletzter Ehrgeiz Galen dazu veranlaßt, diese unerfreulichen Einzelerscheinungen zu verallgemeinern. Es war nichts anderes als sein Ärger und seine Enttäuschung darüber, daß andere Ärzte eine größere Praxis und mehr Schüler hatten als er, die ihn seinen Kollegen Unwissenschaftlichkeit und Unfähigkeit vorwerfen ließen. 1
Für die folgenden Ausführungen vgl. Galen XIV 599f. 621–624 Kühn; X 2–5 Kühn.
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Es war nicht so sehr das Bewußtsein, der wahren ärztlichen Wissenschaft dienen zu wollen, was ihn in Rom hielt und was sein ganzes Verhalten bestimmte, als vielmehr der brennende Ehrgeiz, der berühmteste Arzt seiner Zeit zu werden. Denn wie könnte wohl einer, der sein Leben für seine wissenschaftlichen Ideale aufs Spiel zu setzen bereit ist, von sich schreiben: „Meine Vorhersagen und Behandlungen verdienten großes Lob, und ich stand bei allen in hohem Ansehen, | und groß war der Name Galens!“2 Daß Galens Haltung auch sonst nicht ganz frei war von menschlichen Schwächen, die er an den Kollegen so sehr tadelte, mögen folgende zwei Krankenberichte3 zeigen, die Galen neben vielen anderen in seinen Schriften aufgezeichnet hat. Dem ersten Bericht sei kurz vorangeschickt, daß Galen in besonderem Maße der Pulslehre große Beachtung schenkte und es dabei zu einer erstaunlichen Fertigkeit gebracht hatte, seine Beobachtungen am Puls für Krankheitsdiagnosen und Prognosen des jeweiligen Krankheitsverlaufes auszuwerten. Dank dieser Fähigkeiten, auf die er sehr stolz war, konnte er schneller als alle anderen Ärzte die richtige Therapie verordnen, konnte er die Dauer einer Krankheit auf das kürzeste Maß beschränken, und es unterliefen ihm wohl nicht gerade keine, aber doch weniger Kunstfehler als seinen Kollegen. (Denn daß er sich nie irrte, sind wir wohl kaum verpflichtet anzunehmen, auch wenn er selbst nichts davon erzählt.) Eben diese seine Prognosen aus dem Puls waren es auch, die ihn in Rom bekannt machten und ihm die Bewunderung vor allem der Laien einbrachten. So hatte auch der mit Galen befreundete Philosoph Glaukon von seinen erstaunlichen Diagnosen und Prognosen gehört, und er war sehr erfreut, als sich ihm eines Tages die Gelegenheit bot, Galens diagnostische Fähigkeiten selbst auf die Probe stellen zu können. Er begegnete Galen auf dem Wege zu einem Krankenbesuch und bat ihn, zu dem Patienten, einem Arzt aus Sizilien, mitzukommen. Galen konnte sich dieser Aufforderung nicht entziehen, und so betraten sie gemeinsam das Haus, in dem der Kranke wohnte. Gleich am Eingang begegnete ihnen ein Sklave, der das Becken aus dem Krankenzimmer herausbrachte. Galen bemerkte sofort, daß der Stuhl wäßrigblutig war, das sicherste Zeichen für eine Leberentzündung, wie Galen schreibt, aber er tat so, als hätte er nichts gesehen. Er trat sogleich an das Krankenbett und fühlte den Puls des Patienten, angeblich, um daraus die Krankheit zu diagnostizieren, in Wirklichkeit wollte er aber nur noch feststellen, ob es sich tatsächlich um eine Entzündung oder nur um eine allgemeine Schwäche der Leber handelte. Währenddessen blickte sich Galen sehr genau im Zimmer um und bemerkte ein kleines Gefäß, in welchem ein Mittel gegen Rippenfellentzündung zubereitet war. Daraus schloß er, daß der Kranke, der ja selber Arzt war, seine Krankheit für eine Rippenfellentzündung hielt, daß ihm vermutlich rechtsseitig die falschen Rippen schmerzten (was aber auch für eine Leberentzündung typisch sei), daß er schnell und kurz atmete und von schwachen Hustenreizen geplagt wurde. Galen war sich dessen von vornherein bewußt, daß er es nur dem Zufall verdankte, wenn es ihm hier gelang, seinen Ruf zu wahren, jede Krankheit aus dem Puls diagnostizieren zu können. Aber trotzdem spielte er das Spiel weiter und ließ es sich mit dem größten Vergnügen gefallen, daß Glaukon und der kranke Arzt in einen wahren Begeisterungstaumel gerieten, weil seine immer kühner werdenden Behauptungen hinsichtlich des Sitzes und der 2 3
XIV 625 Kühn. VIII 361–366 Kühn; X 536–541 Kühn.
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Symptome der Krankheit aufs Haar genau zutrafen. In geradezu aufdringlicher Weise betont er immer und | immer wieder, wie sehr die beiden über sein angebliches Können erstaunten und welch hohe Meinung Glaukon daraufhin von der ärztlichen Kunst bekam. Gewiß war der Zweck, den Galen mit diesem Krankenbericht verfolgte, nämlich darauf hinzuweisen, daß auch die nebensächlichsten Begleitumstände beim Stellen der Diagnose von größter Wichtigkeit sein können und auf jeden Fall mit zu berücksichtigen sind, nicht schlecht. Doch ist diese Geschichte nicht eben dazu angetan, uns von Galens Anspruch, in Rom das wahre Arzttum verkörpert zu haben, zu überzeugen. Denn mit seinem Verhalten gegenüber Glaukon dürfte er mehr als deutlich bewiesen haben, daß auch er mehr scheinen als sein wollte. Von Galens unkollegialem Verhalten zeugt der zweite Krankenbericht. Ein junger Mensch bekam Fieber, weil er in einem Gewässer gebadet hatte, das für seine Haut ungesund war. Seine Behandlung übernahmen zwei – wie Galen ausdrücklich hervorhebt – angesehene Ärzte. Aber Galen, der auch zugegen war, hielt die von ihnen angeordnete Therapie (Bettruhe und Fasten) für falsch. Er wartete daher, bis die behandelnden Ärzte das Haus ihres Patienten verlassen hatten, und setzte eine neue Therapie (Massagen, Bäder und leichte Diät) an, der sich der Kranke auch willig unterzog. Als die beiden Ärzte am Abend desselben Tages kamen, um sich den Kranken anzusehen, wurden sie auf Anordnung Galens von den Sklaven abgewiesen mit dem Hinweis, daß der Kranke schlafe. Am nächsten Morgen wiederholten sie ihren Besuch und wurden diesmal auch vorgelassen. Sie verordneten noch einmal die gleiche Therapie wie am Vortage, und der Patient versprach, ihre Anweisungen genau zu befolgen, brach aber, als sie wieder gegangen waren, in ein schallendes Gelächter aus, weil es ihm gelungen war, sie an der Nase herumzuführen. Die von Galen angesetzte Therapie, die das Fieber erstaunlich rasch zum Sinken brachte, wurde weiter fortgesetzt. Jedoch mußte man, um den Betrug nicht zu verraten, bei der abendlichen Visite der beiden Ärzte zu einer neuen List greifen. Der Kranke heuchelte einen Fieberanfall, er hatte sich in einen Mantel gehüllt und zur Wand gedreht, damit die Ärzte nicht bemerkten, daß er Wein getrunken hatte. Einer von den anwesenden Freunden mußte statt seiner die Fragen der Ärzte beantworten. Die beiden Ärzte ließen sich auch tatsächlich täuschen und begnügten sich damit, den Kranken anzufassen, um sich von dem angeblichen Schweißausbruch zu überzeugen. Daß es hierbei keine Panne gab, lag daran, daß der Patient so reichlich bekleidet war, daß er notwendig schwitzen mußte. Hinzu kam noch, daß es ihn eine gewaltige Anstrengung kostete, sein Lachen zu unterdrücken. Nachdem es also auch ein drittes Mal noch gelungen war, die behandelnden Ärzte hinters Licht zu führen, zog es der junge Mann aber doch vor, am nächsten Morgen, als er wieder fieberfrei und völlig genesen war, vor der angekündigten Morgenvisite das Haus zu verlassen, damit er nicht zu guter Letzt noch von den beiden Ärzten erwischt würde und der ganze Schwindel herauskäme. Auch mit diesem Krankenbericht hat Galen einen ganz bestimmten Zweck verfolgt, er wollte an ihm die Überlegenheit seiner Behandlungsmethode über die der Kollegen demonstrieren. Ob Galens Therapie nun auch wirklich die beste und einzig richtige war, mag dahingestellt bleiben. Es ist für unsere Thema|stellung auch belanglos; denn es kam hier nur darauf an zu zeigen, wie Galen mit seinen Kollegen umging.
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Kann man den römischen Ärzten da wirklich noch einen Vorwurf daraus machen, daß sie einem Mann, der sich hinterrücks einmischte, Freundschaft und Anerkennung versagten, mochte er auch noch so tüchtig sein? Die Reihe solcher Krankengeschichten ließe sich noch beliebig fortsetzen, denn es findet sich bei Galen wohl kaum eine, aus der nicht wenigstens seine Schadenfreude spricht, wenn er über seine Kollegen triumphieren konnte. Ich glaube aber, es bei diesen beiden Erzählungen bewenden lassen zu können, weil Galens Einstellung zu seinem Beruf und zu seinen Kollegen an ihnen ganz besonders deutlich wurde. Und ich glaube auch, daß wir Galen nicht ungerecht beurteilen, wenn wir behaupten, daß auch er seinen Arztberuf nicht nur ausübte, um kranke Menschen gesund zu machen, sondern auch, um berühmt zu werden. Er war der Mißgunst und den Verleumdungen seiner Kollegen nicht deswegen ausgesetzt, weil er ein Arzttum verkörperte, das ihnen aus vielerlei Gründen unbequem war, sondern weil er ihnen sein unbestreitbar großes Können sowohl auf theoretischem als auch auf praktischem Gebiet auf eine so hochfahrende und verletzende Art zeigte, daß ein Miteinander von vornherein ausgeschlossen war. Sicher werden die persönlichen Anfeindungen, denen Galen in der ersten Zeit seines römischen Aufenthaltes ausgesetzt war und die er in der gleichen Schärfe erwidert haben wird, mit der Zeit nachgelassen haben. Aber zu einer Versöhnung ist es vermutlich auch später nicht gekommen. Denn mit den Kollegen, die ihm an Tüchtigkeit nicht nachstanden, konnte er sich nicht anfreunden, weil sein Ehrgeiz ihn nicht zugeben ließ, daß andere ebensoviel konnten wie er, und mit den weniger tüchtigen vermochte ihn schon deshalb keine Freundschaft zu verbinden, weil er sie wegen ihrer Unwissenheit und Unfähigkeit verachtete.
3. AUS GALENS PRAXIS AM RÖMISCHEN KAISERHOF*
Schon ein kurzer Blick in die Literatur über Galen, den bekanntesten Arzt und produktivsten medizinischen Autor des Altertums, genügt, um zu zeigen, daß eigentlich schon alles über Galens Praxis als kaiserlicher Leibarzt gesagt ist, was sich nur immer darüber sagen läßt, und es könnte unnötig erscheinen, hier an dieser Stelle noch einmal dieses Thema zu behandeln. Aber solange die Galenforschung für den größten Teil der galenischen Schriften immer noch auf die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von C. G. Kühn besorgte Textausgabe angewiesen ist, die zwar eine für ihre Zeit großartige Leistung darstellt und den gesamten galenischen Schriftenkomplex bequem zugänglich macht, in textkritischer Hinsicht aber wenig zuverlässig ist, wird man immer wieder Gelegenheit haben, auf Grund neuen handschriftlichen Materials bisherige Forschungsergebnisse zu korrigieren oder zu ergänzen. In seiner Schrift Περὶ τοῦ προγινώσκειν πρὸς Ἐπιγένην1 erzählt Galen die Krankengeschichten einiger seiner Patienten, um an ihnen die Unfehlbarkeit seiner Prognose und Therapie auf Grund seiner hochentwickelten Pulslehre zu demonstrieren. Unter anderem berichtet er hier auch von den beiden einzigen Krankheitsfällen in der kaiserlichen Familie, die er aus seiner Praxis als Hofarzt mitteilt, von einer fieberhaften Erkrankung der Verdauungsorgane des Kaisers Marc Aurel und von einer leichten Mandelentzündung des damals etwa neunjährigen Knaben Commodus. Ohne die gerade in unserem Zusammenhang von C. Cichorius2 geäußerten Vorbehalte gegenüber dem Text der Kühnschen Ausgabe zu beachten, wohl nur aus dem Wunsche heraus, einen weiteren Beleg für Galens praktisch-ärztliche Tätigkeit am Kaiserhof beibringen zu können, sind in der neueren Forschung Stimmen laut geworden, die auch noch einen dritten der in der genannten Schrift erzählten Krankenberichte auf einen direkten Angehörigen des Kaiserhauses beziehen wollen, den Krankenbericht über einen Patienten namens Sextus3. Dieser Sextus hatte hohes Fieber bekommen, dessen Krise nach Galens Prognose am sechsten oder siebenten Tag eintreten mußte. Trat sie am siebenten Tag ein, so war die Krankheit überwunden, würde sie jedoch schon am sechsten Tag eintreten, so hätte das einen Fieberrückfall zur Folge. Als nun die Krise tatsächlich am sechsten Tag eintrat, versuchte der | Patient, um Galens Prognose zu widerlegen, durch eine besonders vorsichtige Lebensweise und * Erschienen in: Neue Beiträge zur Geschichte der Alten Welt, hrsg. v. E. Ch. Welskopf u. a., Bd. II: Römisches Reich, Berlin 1965, S. 57–61. 1 2 3
XIV 599–673 Kühn. Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik XV (1905), 624. XIV 651–657 Kühn.
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Aus Galens Praxis am römischen Kaiserhof
eine ausgesucht leichte Diät einen erneuten Fieberanfall zu verhindern. Es gelang ihm aber nicht; denn schon nach acht Tagen begann er wieder heftig zu fiebern. Sextus untersagte es jedoch allen, die in seiner Nähe waren, Galen davon in Kenntnis zu setzen, um nicht die Richtigkeit seiner Prognose eingestehen zu müssen. Galen erfuhr es dann aber doch noch und wurde wieder zur Behandlung des Kranken hinzugezogen, den er nun endgültig von seinem Fieber heilen konnte. Die Veranlassung, diesen Sextus mit einem Mitglied der kaiserlichen Familie zu identifizieren, gab der bei C. G. Kühn4 abgedruckte Galentext, der an der Stelle, wo der Name Sextus zum ersten Mal fällt, Ἕξστος Ἀντωνίνου υἱὸς liest. Da Galen für Marc Aurel auch sonst bisweilen Antoninus schreibt, muß – so schloß man kurzerhand – auch hier von einem Sohn des Kaisers die Rede sein, mag der Kontext auch noch so sehr dagegen sprechen, mag die Identifizierung auch noch so große Schwierigkeiten bereiten. Für J. Walsh5 steht es außer Zweifel, daß Galen hier eine Erkrankung von Marc Aurels Sohn Annius Verus beschreibt, der bald nach dieser Krankheit im Sommer 169 im frühen Alter von sieben Jahren starb. Eine gewisse Scheu vor dem toten Knaben sei der Grund gewesen, warum Galen ihn nicht mit seinem richtigen Namen benannte, sondern ihn als den sechsten Sohn des Kaisers als „Sextus“ auftreten ließ. Es bestünde nach J. Walsh aber auch die Möglichkeit, daß Annius Verus den Namen Sextus wirklich getragen habe, da ja sein Vater bei seiner Geburt mit dem Philosophen Sextus von Chaironeia eng befreundet war und ihm auf Grund dieser Freundschaft den Namen des Philosophen als Beinamen gegeben haben könnte. Soweit Walsh. Beinahe noch konstruierter erscheint die Argumentation von A. Stein, der in seinem Artikel über Galen in der Prosopographia Imperii Romani6 nicht nur zu beweisen versucht, daß Galens Patient Sextus irgendein Sohn Marc Aurels ist, sondern sogar so weit geht zu behaupten, dieser Sextus, Sohn des Antoninus, sei kein anderer als Commodus selbst. Zur Begründung dieser These wird angeführt, daß gerade der Erzieher des Commodus besonders um den Kranken bemüht ist, daß am Ende dieses Krankenberichts auch einmal der παῖς αὐτὸς Κόμμοδος genannt wird (nachdem im Verlauf der Erzählung zehnmal der Name Ἕξστος vorgekommen ist) und schließlich auch noch eine zweite Krankengeschichte über Commodus folgt. Es wäre müßig, sich Gedanken darüber zu machen, welche von diesen beiden Theorien größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann. Wichtig ist nur, daß wir uns vor Augen halten, daß Galens Schilderung von dem kranken Sextus in beiden Fällen, gleichgültig | ob wir Commodus oder Annius Verus hinter dem Pseudonym vermuten, auf ein Kind zutreffen muß. Commodus stand zu der Zeit, in die die Erkrankung des Sextus nach Galens eigenen Angaben fällt, nämlich im Frühjahr oder Sommer 169, im neunten Lebensjahr, Annius Verus kann sogar höchstens sieben Jahre alt gewesen sein. Aber muß man denn wirklich so komplizierte Überlegungen anstellen, wie J. Walsh und A. Stein es tun, um zu dem richtigen Verständnis des vorliegenden Galentextes zu kommen? Sehen wir uns den Text doch einmal selbst an. Unmittelbar vor der fraglichen Stelle berichtet Galen seinem Freund und Schüler Epigenes, dem 4 5
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XIV 651 Kühn. J. Walsh, Galen’s Second Sojourn in Italy and his Treatment of the Family of Marcus Aurelius, Medical Life XXXV II (1930), 473–506. Prosopographia Imperii Romani, 2. Aufl., Berlin 1952, Buchstabe G, Nr. 24.
Aus Galens Praxis am römischen Kaiserhof
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Adressaten der Schrift, daß er bei einem seiner Patienten, einem der beiden Söhne des Quintilian (so bei Kühn), auf Grund seiner Pulstheorie eine gute Prognose aus dem Puls habe stellen können, und dann folgt die detaillierte Beschreibung dieses Falles, die mit den Worten Ἕξστος oὖν beginnt und somit eindeutig auf das zuvor Gesagte Bezug nimmt. Aber überraschenderweise findet sich hier an dieser Stelle, am Anfang der Krankengeschichte von dem Sohn des Quintilianus, die Filiationsangabe Ἀντωνίνου υἱὸς. Angesichts dieser Tatsache erhebt sich die Frage: Hat Galen aus Versehen den Bericht über einen anderen Patienten, den Sohn eines Antoninus, folgen lassen, oder liegt eine Textverderbnis vor, wie C. Cichorius7 annimmt? Hierauf eine Antwort geben zu müssen, davor bewahrt uns die handschriftliche Überlieferung unserer Schrift; denn bei der Überprüfung einer der griechischen Handschriften, in denen sie überliefert ist und von der mir im Archiv des Corpus Medicorum Graecorum eine Fotokopie zur Verfügung stand, konnte ich feststellen, daß in diesem Codex die Angabe der Filiation gänzlich fehlt. Leider war es mir nicht möglich, auch die übrigen Handschriften einzusehen. Da aber der von mir herangezogene Codex, der Laurentianus 74,5, nicht nur eine sehr sorgfältige Handschrift, sondern auch der älteste griechische Textzeuge für unsere Schrift ist, glaube ich auch so mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten zu können, daß die umstrittenen Worte Ἀντωνίνου υἱὸς spätere Zutat sind. Auf welche Weise sie in den Text eingedrungen sind, vermag ich ohne Kenntnis der gesamten handschriftlichen Überlieferung nicht zu entscheiden, es ist für unsere Problemstellung auch kaum von Bedeutung. Für uns ist nur wichtig, daß mit dem Fehlen der Filiationsangabe der zwingendste Grund, die Krankengeschichte des Sextus auf einen Sohn Marc Aurels zu beziehen, fortfällt. Aber auch die anderen Gründe A. Steins für die Identifizierung des Sextus mit Commodus lassen sich leicht widerlegen: 1. Wenn in unserer Schrift auch noch ein authentischer Krankenbericht über Commodus gegeben wird, so zwingt das keineswegs zu der An|nahme, auch die Sextus-Erzählung müsse auf Commodus bezogen werden, da Galen hier nicht nur Krankheitsfälle aus der Kaiserfamilie aufzählt, sondern überhaupt Fälle aus seiner römischen Praxis, die seine besonderen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Prognose beweisen sollen. Wir hören von der Erkrankung des Philosophen Eudemos, von Erkrankungen in der Familie des Konsulars Boethos und schließlich auch von der Erkrankung eines unbekannten jungen Menschen, dessen Name nicht einmal genannt wird. 2. Es stimmt, daß Galen am Ende der Sextus-Geschichte die für Laien und ungebildete Ärzte wunderbare, für ihn aber nur selbstverständliche Behandlung des παῖς αὐτὸς Κόμμοδος erwähnt. Damit will er sich aber nicht auf den vorangegangenen Krankenbericht über Sextus beziehen, er kann es auch gar nicht tun, da er sich im Falle des Sextus ja nur auf eine wunderbare Prognose, nicht aber auf eine Behandlung berufen kann. Mit ihr verweist Galen auf die später berichtete Behandlung des an einer Mandelentzündung erkrankten Commodus, die ich bereits erwähnte. 3. Auch die Tatsache, daß der Prinzenerzieher Peitholaos und nicht nur er, sondern auch der Konsul Claudius Severus und gar der Kaiser selbst lebhaft an der Krankheit des Sextus Anteil nehmen, ist m.E. kein Beweis dafür, daß es sich bei dem Patienten nur um Commodus handeln kann. Ebensogut könnte man auch an einen anderen 7
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Aus Galens Praxis am römischen Kaiserhof
Sohn des Kaisers denken. Und warum nicht auch mit J. Ilberg8 an den Sohn eines hohen römischen Beamten aus dem Kreis der Freunde Marc Aurels? Denn die SextusGeschichte auf die neun- und siebenjährigen Knaben Commodus und Annius Verus zu beziehen, verbietet nicht zuletzt auch die Art und Weise, wie der kranke Sextus sich gegenüber seinem Arzt verhält. Wer wollte wohl im Ernst glauben, daß ein Kind, das mit unserem Maßstab gemessen gerade schulpflichtig ist, auf Grund seines streitsüchtigen Charakters – so Galens Urteil über Sextus’ Verhalten – es bewußt darauf abgesehen habe, die Prognose des Arztes als falsch zu erweisen? Daß es einem Kind, das unter der direkten Aufsicht eines Erziehers steht, gelänge, diesen zu einer Lebensweise nach eigenem Gutdünken zu überreden und ihn davon abzuhalten, bei dem erneut in heftiger Form auftretenden Fieberanfall den befreundeten Arzt zur Behandlung herbeizurufen? Galen würde wohl auch nur schwerlich vom „Haus des Sextus“ sprechen, wenn es sich wirklich um ein Kind aus dem Herrscherhause handelte. Überhaupt, welche Veranlassung sollte für Galen bestanden haben, in diesem Bericht für Commodus ein Pseudonym zu wählen, während er ihn in der zweiten Geschichte ohne Scheu mit seinem Namen einführt? Auffallend wäre auch, daß in dem Bericht über des Commodus Mandelent|zündung auf nur 2 1/2 Seiten viermal die Bezeichnung παῖς (einmal sogar βασιλικὸς παῖς) auftaucht, daß sie aber in der Sextus-Geschichte auf sechs Seiten nicht ein einziges Mal gebraucht wird. Die Reihe der Gegenargumente ließe sich noch fortsetzen. Ich glaube aber, sie genügt, um zu zeigen, daß der vielumstrittene Sextus zur Zeit seiner von Galen geschilderten Krankheit ein erwachsener Mensch gewesen sein muß. Da außerdem, gestützt auf die handschriftliche Überlieferung, wahrscheinlich gemacht werden konnte, daß die Anstoß erregenden Worte Ἀντωνίνου υἱὸς von Galen nicht geschrieben worden sind, können wir auch ohne Bedenken die oben bereits erwähnte Filiation Κυιντιλιανοῦ υἱός für ihn in Anspruch nehmen. Nur scheint die Form Κυιντιλιανοῦ – so bei Kühn9 – verderbt zu sein. In dem schon genannten Laurentianus 74,5 lesen wir stattdessen Κοιντιαλίων, was in dem Zusammenhang, in dem es hier steht, leicht aus Κοιντιλίου verschrieben sein könnte, so daß wir dann auf die Filiation „Sextus, Sohn des Quintilius“ kämen. Und warum sollten wir nicht glauben, daß – wie schon C. Cichorius10 meinte – dieser Sextus, dessen Krankengeschichte uns bei Galen berichtet wird, Sextus Quintilius Condianus ist, Konsul vom Jahre 180 und Sohn eines der beiden Quintilier, die im Jahre 151 Konsuln waren und zum engsten Freundeskreis des Kaisers gehörten? Damit verzichten wir für Galen zwar auf einen Patienten unter den direkten Angehörigen des Kaiserhauses, ich würde aber meinen, daß Galens Bedeutung als Hofarzt nicht wesentlich herabgesetzt wird, wenn wir seine ärztliche Tätigkeit am Hofe nur nach zwei statt nach drei Krankenberichten beurteilen.
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Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik XV, 296. XIV 651 Kühn. C. Cichorius, a.a.O.
4. ARZT WAHL UND ÄRZT LICHE E T HIK IN DER RÖMISCHEN KAISERZEI T*
Ein Wesenszug der ärztlichen Ethik in der Antike, der den modernen Betrachter seltsam anmutet, bestand darin, daß das Verhalten des Arztes gegenüber seinen Patienten und seine Einstellung zu seinem Beruf nicht unwesentlich von den Kranken selbst bestimmt wurden. Das hatte seine Ursachen unter anderem darin, daß die griechische wissenschaftliche Medizin, zu deren größten Leistungen es gehört, eine weithin gültige ärztliche Ethik geschaffen zu haben, in einer Gesellschaft entstand, die der Mensch im wesentlichen nur als Polisbürger interessierte, nämlich insofern er als freier Bürger seinen Verpflichtungen gegenüber dem Staat nachkam, nicht aber als Individuum, dem auf Grund seines ganz persönlichen Schicksals, z.B. im Krankheitsfall, geholfen werden mußte. Infolge dieser Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Menschen ebenso wie aus der Vorstellung heraus, daß der Arzt in seiner gesellschaftlichen Stellung auf gleicher Stufe steht wie die Handwerker und Gewerbetreibenden, kam eine staatlich gelenkte Gesundheitspolitik in der Antike nicht über relativ kleine Anfänge hinaus. Es gab in dieser Zeit weder Vorschriften für eine geregelte ärztliche Ausbildung noch gesetzliche Bestimmungen, die den Arzt gezwungen hätten, vor Eröffnung einer Praxis seine ärztlichen Fähigkeiten in irgendeiner Form nachzuweisen. Unter diesen Voraussetzungen konnte es nicht ausbleiben, daß sich auch Scharlatane und Pfuscher als Ärzte ausgaben, die es lediglich darauf abgesehen hatten, aus der Not der Patienten für sich hohe Gewinne zu erzielen. Das Auftreten dieser Ärzte hatte in doppelter Hinsicht negative Auswirkungen. Einmal schadeten sie den Kranken, indem sie ihnen infolge ihrer mangelhaften Kenntnisse im günstigsten Fall nur unnötige Schmerzen bereiteten, im extremen Fall aber durch eine falsche Therapie sogar einen nicht notwendigen töd|lichen Ausgang einer Krankheit herbeiführen konnten. Und zum anderen schadeten sie ihren ärztlichen Kollegen, indem sie durch die Mißerfolge in ihrer Praxis unter Umständen den ganzen ärztlichen Stand in Verruf brachten. Das aber hatte zur Folge, daß die Kranken den Ärzten häufig mit Mißtrauen begegneten und die Ärzte – auch die wissenschaftlich gebildeten und in der Praxis tüchtigen Ärzte – gezwungen waren, erst einmal vor der Öffentlichkeit ihr Können unter Beweis zu stellen, bevor sie Anerkennung finden und so das Vertrauen der Patienten gewinnen konnten. Das heißt aber nichts anderes, als daß es Laien waren, die darüber befanden, ob der Arzt seine Sache verstand oder nicht.
* Vortrag, gehalten am 1.9.1970 auf dem 22. Internationalen Kongreß für Geschichte der Medizin in Bukarest. Erschienen in: Das Altertum 18, 1972, S. 27–30.
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Es lag daher im Interesse der Ärzte, nicht nur Reklame für sich zu treiben, sondern darüber hinaus bei den geistig interessierten Schichten der Bevölkerung das Verständnis an der Medizin zu wecken, indem sie ihnen eine medizinische Bildung vermittelten, die sich zwar von dem medizinischen Wissen des Fachmanns unterschied, die den Laien jedoch in den Stand setzte, zu beurteilen, inwieweit das Vorgehen des Arztes wissenschaftlich begründet und dem Gegenstand angemessen war1. Die stärkere Integrierung der Medizin in die Allgemeinbildung, die somit unter ausdrücklicher Mitwirkung der Ärzte vonstatten ging, war im 5. und 4. Jahrhundert v.u.Z. erfolgt, als die griechische Heilkunde über das rein Empirisch-Handwerkliche hinauswuchs und zu einer Wissenschaft wurde. Im Verlauf dieses Prozesses war eine medizinische Literatur entstanden, die zunächst einmal dem Selbstverständnis des eigenen Faches dienen sollte, die es auf der anderen Seite den Ärzten aber auch erlaubte, sich mit ihr über den eigenen Kreis hinaus an ein größeres Publikum zu wenden, das an medizinischen Fragen interessiert war. Die Laienbelehrung erfolgte daneben auch durch Vorträge und Gespräche mit den Patienten am Krankenbett. Von der auf diese Weise erreichten weiten Verbreitung medizinischer Kenntnisse unter den Laien in der Antike, die nach dem Urteil moderner Forscher in dieser Form in der Geschichte der Menschheit einzigartig dasteht2, wurde, wie schon gesagt, das Verhalten der Ärzte gegenüber den Kranken in weitem Umfange bestimmt. Denn sie bildete die notwendige Voraussetzung dafür, daß die Patienten sich nicht dem ersten besten Arzt auslieferten, sondern auf Grund ihrer Kenntnisse bei der Wahl des Arztes sehr sorgfältig prüften, ob er sowohl in fachlicher wie in ethischer Hinsicht den Anforderungen entsprach, die zu dieser Zeit an einen Arzt gestellt werden konnten. Da die Situation für die Ausübung des Arztberufes trotz der beachtlichen Fortschritte, die die wissenschaftliche Medizin im Hellenismus erzielen konnte, bis zum Ausgang des Altertums im wesentlichen unverändert blieb, mußte auch das Urteil der Laien als Korrektiv für das Verhalten der Ärzte die ganze Antike hindurch seine volle Gültigkeit behalten. Diese Annahme wird nicht nur durch entsprechende Äußerungen medizinischer Autoren aus den ersten beiden Jahr|hunderten der römischen Kaiserzeit bestätigt, Galen von Pergamon (129– um 200 u. Z.) hat sogar eine selbständige Schrift unter dem Titel „Die Prüfung des vortrefflichen Arztes“ veröffentlicht, deren griechisches Original nicht erhalten blieb, von der aber kürzlich eine arabische Übersetzung gefunden worden ist, die allerdings bisher nur auszugsweise zugänglich gemacht wurde3.
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Zu dem Thema Medizin als Bestandteil der Allgemeinbildung im antiken Griechenland s. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1959, 11–58. Siehe W. Jaeger, a. O. 11; O. Temkin, Celsus’ “On Medicine” and the ancient medical sects, Bulletin of the History of Medicine 3, 1935, 252; L. Edelstein, The relation of ancient philosophy to medicine, Bulletin of the History of Medicine 26, 1952, 311f. Siehe A. Z. Iskander, Galen and Rhazes on examining physicians, Bulletin of the History of Medicine 36, 1962, 362–365, und A. Dietrich, Medicinalia Arabica, Abhandl. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 66, Göttingen 1966, 192f.; s. auch M. Meyerhof, Autobiographische Bruchstücke Galens aus arabischen Quellen, Archiv für Geschichte der Medizin 22, 1929, 75–82, wo Bruchstücke aus dieser Schrift in deutscher Übersetzung abgedruckt sind, die Ibn abī Uṣaibi῾a für seine Abhandlung „Quellen der Belehrung über die Klassen der Ärzte“ exzerpiert hat.
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Ein Hinweis darauf, daß die Ärzte selbst die kritische Einstellung der Patienten bei der Wahl des Arztes im Hinblick auf die ärztliche Berufsauffassung für außerordentlich wichtig hielten, findet sich z.B. in dem Vorwort zu dem Rezeptbuch des Römers Scribonius Largus, der um die Mitte des 1. Jahrhunderts u.Z. lebte4. Es heißt dort: „Aber diese Frechheit von Ärzten, die es nur dem Namen nach sind, hat wegen der Nachlässigkeit gewisser Leute allzu weit um sich gegriffen. Denn selten bildet sich jemand, bevor er sich und die Seinen einem Arzt überläßt, ein gründliches Urteil über ihn, obgleich niemand auch nur sein Bild einem Künstler zum Malen anvertraut, es sei denn einem, der durch gewisse Erfahrungen vorher anerkannt und auserwählt ist … Deshalb besteht für keinen (Arzt, J. K.) mehr die Notwendigkeit, sich um das entsprechende Wissen zu bemühen …“5. In ähnlicher Weise begründet auch Galen in seiner Schrift mit dem Titel „Das Heilverfahren“ den Verfall ethischer Grundsätze bei der Ausübung des ärztlichen Berufes damit, daß die Menschen in Rom ihre Arztwahl nicht auf Grund sachverständiger Urteile treffen, sondern diejenigen Ärzte zur Behandlung heranziehen, die ihnen durch täglichen Umgang am vertrautesten sind, ihnen am besten zu schmeicheln verstehen und sich in ihren Therapieanweisungen gegen besseres Wissen nach den Wünschen der Kranken zu richten bereit sind6. Beide Autoren, sowohl Scribonius Largus wie Galen, heben also den Einfluß einer sorgfältigen Arztwahl seitens der Laien auf die Berufsauffassung der Ärzte hervor. Beide Autoren, die durch ein Jahrhundert voneinander getrennt lebten, beklagen aber gleichzeitig auch die zunehmende Sorglosigkeit der Kranken im kaiserzeitlichen Rom bei der Arztwahl. Da diese Übereinstimmung in der Kritik an dem sorglosen Verhalten der Menschen gegenüber den Ärzten sicher nicht zufällig ist, wird man sich fragen müssen, was die im Vergleich zu den Gegebenheiten im klassischen Griechenland veränderte Haltung der Laien gegenüber den Ärzten verursacht hat. Als einen der wesentlichen Gründe hierfür gibt Galen das Streben nach Geld und persönlicher Macht und das damit verbundene luxuriöse Leben der Römer an, die weder den Ärzten noch den | Laien Zeit für eine ernsthafte Beschäftigung mit der Wissenschaft lassen7. Ein weiterer Umstand, der es gerade der römischen Bevölkerung erschwerte, die Arztwahl mit der gebotenen Sorgfalt zu treffen, scheint nach Galens Ausführungen in seiner einem gewissen Epigenes gewidmeten Schrift Über die Prognose in den besonderen Bedingungen gesehen werden zu müssen, unter denen die Menschen in der Großstadt Rom lebten. Während man in einer kleinen Stadt, wie z.B. in Galens Heimatstadt Pergamon, in der jeder jeden kannte, selbstverständlich auch über die Ärzte genau informiert war, brachte es die aus der großen Einwohnerzahl Roms resultierende menschli4
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Siehe auch K. Deichgräber, Professio medici. Zum Vorwort des Scribonius Largus, Akad. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz, Abhandl. d. geistes- und sozialwiss. Kl. 1950, Nr. 9, Wiesbaden 1950,11. Scribonius Largus, Comp. Prooem. 9, in: Marcellus, Über Heilmittel, hrsg. von M. Niedermann, 2. Aufl. bes. von Ed. Liechtenhan, übers. von J. Kollesch u. D. Nickel, Corpus Medicorum Latinorum, Bd. V, Berlin 1968, S. 40,15–23. Galen, Meth. med. I 1, hrsg. von C. G. Kühn, Bd. X, Leipzig 1825, S. 4,3–9. In gleicher Weise äußert sich Galen auch in seiner Schrift „Die Prüfung des vortrefflichen Arztes“, s. A. Dietrich, Medicinalia Arabica 192f. Siehe Galen, Meth. med., S. 2,1–4,2. Ähnlich scheint auch Scribonius Largus zu urteilen, wenn er der Nachlässigkeit der Menschen in bezug auf ihren Körper ihre Sorgfalt in Dingen des Luxus gegenüberstellt (vgl. auch K. Deichgräber, Professio medici, 12).
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che Isolierung des einzelnen mit sich, daß einerseits gewissenlose Ärzte und Pfuscher ungestört ihr Handwerk treiben konnten und daß andererseits für die Kranken kaum die Möglichkeit bestand, über einen bestimmten Arzt Erkundigungen einzuziehen, geschweige denn alle Ärzte zu kennen8. Ohne die Richtigkeit dieser Einschätzung der Situation in Rom durch Galen in Frage stellen zu wollen, scheint es doch noch einen weiteren Grund für das sorglose Verhalten der Römer gegenüber den Ärzten gegeben zu haben. Uns allen ist bekannt, daß sich die Römer aus einer allgemeinen Wissenschaftsfeindlichkeit heraus anfänglich der wissenschaftlichen Medizin der Griechen gegenüber ausgesprochen ablehnend verhalten haben und daß die griechische Medizin erst mit der in wissenschaftlicher Hinsicht wenig anspruchsvollen Medizin der methodischen Ärzte in Rom heimisch wurde, allerdings auch dann nur gegen den Widerstand der konservativen aristokratischen Schichten. Diese Tatsache bedeutet gleichzeitig, daß die Römer zwar den praktischen Nutzen der Medizin anerkannten, daß sie es, abgesehen von wenigen Ausnahmen, aber nicht für notwendig hielten, sich mit der Medizin als Wissenschaft auseinanderzusetzen. Wir erinnern uns jedoch, daß es gerade die wissenschaftliche Durchdringung der Heilkunde gewesen ist, die im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v.u.Z. das Interesse breiter Kreise an der Medizin weckte und sie zum Gegenstand der Allgemeinbildung werden ließ. Bei den Römern dagegen beschränkte sich die medizinische Allgemeinbildung, wie die medizinischen Teile der Enzyklopädien des Celsus und Plinius’ des Älteren erkennen lassen, hauptsächlich auf die Kenntnis von der praktischen Anwendung der Medizin. Diese Kenntnisse reichten aus, um im Bedarfsfall ohne Konsultation eines Arztes eine Krankheit erfolgreich zu behandeln. Sie genügten aber nicht mehr, um ein begründetes Urteil über die wissenschaftliche Methode und das fachliche Können eines Arztes abzugeben. Wir können daher abschließend feststellen, daß der Rückgang der wissenschaftlich fundierten medizinischen Allgemeinbildung in römischer Zeit neben anderen Faktoren nicht unwesentlich dazu beigetragen haben wird, daß eine kritische Haltung der Kranken gegenüber den Ärzten immer seltener wurde und daß die Arztwahl ihre ursprüngliche Bedeutung als Korrektiv für die Berufsauffassung der Ärzte auch aus diesem Grunde weitgehend verloren hatte.
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Siehe Galen, De praen. ad Epig. 4, hrsg. von C. G. Kühn, Bd. XIV, Leipzig 1827, S. 621,14–622,8 u. 624,6–10.
5. GALENS AUSEINANDERSE T ZUNG MI T DER ARISTOT ELISCHEN SAMENLEHRE*
Galens Verhältnis zu Aristoteles ist kürzlich von P. Moraux mit folgenden Worten treffend beschrieben worden1: „Il (sc. Galien) connaît fort bien Aristote, qu’il cite souvent et qu’il estime beaucoup, tant comme biologiste que comme logicien, mais si vive que soit son admiration pour l’œuvre du Stagirite, il y découvre des lacunes et des erreurs, qu’il dénonce en toute objectivité.“ Diese Beschreibung ist deswegen so treffend, weil sie einerseits berücksichtigt, daß Aristoteles für Galen zu den Alten, seien es Philosophen, seien es Ärzte, gehörte, die Bleibendes geleistet haben, und weil sie andererseits Galens dezidiert eklektischem Standpunkt Rechnung trägt, der es ihm ermöglichte, die Forschungsergebnisse seiner Vorgänger, frei von jeder Bindung an eine bestimmte Denkrichtung, an dem aktuellen Kenntnisstand seiner Zeit zu überprüfen und für seine eigene wissenschaftliche Arbeit fruchtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund haben wir auch Galens Umgang mit der Zeugungslehre des Aristoteles zu sehen, der er zweifellos entscheidende Anregungen für seine eigenen Theorien auf diesem Gebiet verdankt, der er jedoch keineswegs unkritisch gegenübersteht. Die Berechtigung für seine Kritik an der Aristotelischen Zeugungstheorie war für Galen mit dem Wissenszuwachs gegeben, der in den rund 500 Jahren, die ihn von dem Stagiriten trennten, in der Anatomie vor allem der weiblichen Genitalorgane zu verzeichnen war. Der alexandrinische Arzt Herophilos von Chalkedon (erste Hälfte des 3. Jh. v.u.Z.) hatte bei seinen anatomischen Studien des weiblichen Genitaltrakts die Ovarien entdeckt, die er in Analogie zu den männlichen Hoden als weibliche Hoden bezeichnete, und weiterhin analog dem | anatomischen Befund am männlichen Körper auch weibliche Samengänge postuliert, von denen er annahm, daß sie ebenso wie beim männlichen Individuum von den Hoden zum Blasenhals führen und dort einmünden2. Für die Samentheorie waren diese Feststellungen insofern nicht ohne Bedeutung, als die von Herophilos postulierten Entsprechungen hinsichtlich der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane zugleich auch eine Entsprechung ihrer in der Bereitung und Ableitung des Samens bestehenden Funktionen bedingte. Mit anderen Worten, mit dem von ihm dargestellten anatomischen Befund glaubte * Erschienen in: Aristoteles – Werk und Wirkung, Paul Moraux gewidmet, hrsg. v. J. Wiesner, Zweiter Band: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben, Berlin u. New York 1987, S. 17–26. 1
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P. Moraux, Galien et Aristote, in: Images of man in ancient and medieval thought. Studia Gerardo Verbeke ab amicis et collegis dicata, hrsg. von C. Laga, Leuven 1976, 128. Siehe Gal., De semine II 1: IV 596,6–597,15 Kühn. Vgl. auch Gal., De uteri dissect. 9,6, hrsg., übers. u. erl. von D. Nickel, C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) V 2,1, Berlin 1971, S. 50,4–7 u. S. 89sq., den Komm. zur Stelle.
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Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre
Herophilos den Beweis erbracht zu haben, daß im weiblichen Körper ebenso wie im männlichen Samen produziert wird. Wenn diese Erkenntnis nicht unmittelbar dazu genutzt wurde, die seit den für uns überschaubaren Anfängen griechischer Wissenschaft mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutierte Frage nach dem Zeugungsbeitrag des weiblichen Geschlechtspartners endgültig zu klären, so deswegen, weil nach der Herophileischen Beschreibung des Verlaufs der weiblichen Samengänge der weibliche Samen in die Harnblase gelangt, von dort ausgeschieden wird3 und folglich für den Zeugungsvorgang keine Bedeutung haben konnte. Ob Herophilos’ Vorstellungen von den weiblichen Samengängen, die mit Sicherheit nicht auf anatomischen Beobachtungen, sondern auf einem Analogieschluß beruhen4, einen ersten Schritt auf dem Weg zur Entdeckung der Tubae uterinae bedeuteten, wie P. Diepgen und, ihm folgend, E. Lesky glauben möchten5, darüber zu spekulieren erscheint müßig. Fest steht, daß die Beschreibung der keimleitenden Organe bei Galen6, die mit Ausnahme der Angabe, diese Organe seien mit den Keimdrüsen verwachsen, exakt auf die Tuben des Uterus bicornis z.B. der Wiederkäuer zutrifft7, auf ana|tomischen Studien basiert. Auf wen diese Beschreibung zurückgeht, wissen wir nicht. Daß sie nicht das Ergebnis eigener anatomischer Untersuchungen Galens ist, dafür gibt es zwei triftige Gründe: erstens enthält der Galentext nichts, was zu der von E. Lesky geäußerten Ansicht8 berechtigte, Galen habe sich speziell der Beobachtung, daß die Tuben in die Uterushörner einmünden, als seiner eigenen anatomischen Entdeckung in eitler Selbstgefälligkeit gerühmt; und zweitens handelt es sich bei der Schrift Über die Anatomie der Gebärmutter, in der die Beschreibung der Eileiter steht, um eine Jugendschrift des Pergameners, bei der wir davon auszugehen haben, daß sie, wie D. Nickel konstatiert, „insgesamt wissenschaftliches Material bietet, das von Vorgängern Galens erarbeitet wurde“9. Die Tatsache, daß die Entdeckung des Tubenverlaufs aus vorgalenischer Zeit, möglicherweise aus den Kreisen der Marinosbzw. Quintusschule, stammt, ändert freilich nichts daran, daß Galen diesen anatomischen Befund für so bedeutsam hielt, daß er ihn später, nachdem er ihn auch durch seine eigenen anatomischen Studien bestätigt gefunden hatte10, als einen entscheidenden Ausgangspunkt für seine Theorie vom weiblichen Samen benutzte, wie er sie im zweiten Buch seiner Schrift Über den Samen dargestellt hat11. Im Mittelpunkt der antiken Diskussion der mit der Zeugungsphysiologie verbundenen Probleme standen seit ihren frühesten Anfängen drei Fragen: die Frage nach der Zeugungsleistung der beiden Geschlechtspartner, die Frage nach der Samenher3 4
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Siehe Gal., De semine II 1: IV 596,4–6 Kühn. Vgl. Nickel, CMG V 2,l, S. 90, den Komm. zu S. 50,4–7, und E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Akad. d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. 1950, Nr. 19, Wiesbaden 1951, 162. P. Diepgen, Die Frauenheilkunde der Alten Welt, München 1937, 136 (Handb. d. Gynäkologie, 3. Aufl., hrsg. von W. Stoeckel, Bd. 12,1), und Lesky, ebd. Gal., De uteri dissect. 9,4: CMG V 2,1, S. 48,17–22. Siehe Nickel, CMG V 2,1, S. 76sq., den Komm. zu S. 42,2sq. Lesky, a.a.O., 178. Nickel, CMG V 2,1, S. 64. Siehe M. Simon, Sieben Bücher Anatomie des Galen, arab. hrsg., übers. u. erl., Leipzig 1906, Bd. II, 106. Siehe Gal., De semine II 1: IV 593,6–595,13 Kühn.
Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre
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kunft und die Frage nach der Geschlechtsentstehung, die sehr bald schon mit dem Problem der Vererbung verbunden wurde, auch wenn dies als solches nie formuliert wurde. Da diese drei Themenkomplexe auch die Samenlehre Galens bestimmt haben, wollen wir zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen zunächst kurz auf die wichtigsten Ergebnisse dieser Diskussion eingehen12. Unter dem Aspekt der Zeugungsleistung betrachtet, gab es in der Antike zwei verschiedene Samentheorien. Die ältere von den beiden war die sogenannte Zweisamenlehre, die besagte, daß beide Geschlechtspartner paritätische | Samenanteile zur Zeugung beisteuern und daß beide Partner, wie es in Weiterentwicklung dieses Gedankens in der hippokratischen Schrift De genitura/De natura pueri heißt, sowohl männlich als auch weiblich determinierten Samen hervorbringen. Von einem Geschlechtsdualismus ging die zweite Theorie aus, deren Hauptrepräsentant Aristoteles war. Ausgehend von der von ihm philosophisch begründeten Form-Stoff-Antithese, vertrat er die Auffassung, daß der Zeugungsbeitrag des weiblichen Partners im Menstrualblut besteht, das den Stoff für die Keimbildung liefert, und der des männlichen im Samen, der durch die ihm innewohnende Kraft Form und Bewegung auf den weiblichen Stoff überträgt und so die Entwicklung des Keimes einleitet, ohne selbst als stoffliches Substrat an diesem Entwicklungsprozeß beteiligt zu sein. Unterschiedliche Erklärungen hatte auch das Problem der Samenherkunft gefunden. Die älteste ist die sogenannte enkephalo-myelogene Samenlehre, welche die Herkunft des Samens mit Gehirn und Rückenmark verband. Sie wurde abgelöst von der von Demokrit entwickelten und von den hippokratischen Ärzten weiter ausgebauten „Pangenesislehre“, nach der sich der Samen aus Absonderungen aller Körperteile zusammensetzt. Die zweifellos größte Wirkung war der auf Vorstellungen des Parmenides und des Diogenes von Apollonia fußenden hämatogenen Samenlehre des Aristoteles beschieden, der zufolge das Blut die Körpersubstanz darstellt, aus welcher der Samen gebildet wird. Die größte Meinungsvielfalt ist in der Frage der Geschlechtsentstehung zu verzeichnen. Im Zusammenhang mit der Zweisamenlehre wurde die Vorstellung entwickelt, daß die Entstehung des männlichen bzw. weiblichen Geschlechts von dem quantitativen Überwiegen des Samens des einen Geschlechtspartners über den des anderen abhängt oder einer komplizierteren Theorie nach vom Überwiegen des männlich determinierten Samens über den weiblich determinierten, wobei die Existenz beider Samenarten in beiden Geschlechtern angenommen wird. Von der Annahme eines geschlechtsindifferenten Samens gingen die auf Parmenides zurückgehende RechtsLinks-Theorie und die Wärmetheorie des Empedokles aus. Nach den Vorstellungen des Parmenides führte die Placierung des Samens im rechten Uterusabschnitt zu der Entstehung des männlichen Geschlechts, die im linken zu der Entstehung des weiblichen Geschlechts. Demgegenüber vertrat Empedokles die Auffassung, | daß sich aus dem Samen, wenn er in einen wärmeren Uterus gelangt, ein männliches, wenn er in einen kälteren Uterus gelangt, ein weibliches Individuum entwickele, wobei die unterschiedliche Temperierung der Gebärmutter von der jeweiligen Beschaffenheit und dem Zeitpunkt der Menstruation abhängig gedacht wurde. Aristoteles schließlich hat in seiner Geschlechtsentstehungs- und Vererbungslehre den Gedanken der Vorherrschaft wieder aufgegriffen, die er entsprechend der Form-Stoff-Antithese jedoch nicht 12
Im einzelnen s. dazu Lesky, a.a.O., 9–159.
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Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre
in dem oben genannten quantitativen Sinne, sondern mechanisch zu deuten versuchte. Das heißt, der Erfahrungstatsache, daß der, wie er glaubte, allein vom männlichen Geschlechtspartner hervorgebrachte Samen keineswegs immer zu der Entstehung eines Nachkommens führt, der das gleiche Geschlecht hat wie sein Erzeuger, trug er Rechnung, indem er konzedierte, daß der im Menstrualblut bestehende Stoff den vom Samen auf ihn übertragenen Bewegungen entgegenwirkt und daß die Gegenwirkung in Abhängigkeit von den mitursächlichen Faktoren wie Wärme und Kälte, Lebensalter, Konstitution, Klima und Ernährungsweise so stark sein kann, daß die zum männlichen Geschlecht führenden Bewegungen vom Stoff überwältigt werden und sich demzufolge die im Menstrualblut angelegte Entwicklung des weiblichen Geschlechts durchsetzen kann. Mit diesem Vererbungsmechanismus hatte Aristoteles auch für die gleichgeschlechtliche und gekreuztgeschlechtliche Vererbung individueller Körpermerkmale von den Eltern auf die Kinder eine seiner Samentheorie entsprechende Erklärung gefunden. In Widerspruch zu seiner eigenen dualistischen Geschlechtsauffassung geriet er jedoch – darauf hat bereits E. Lesky hingewiesen13 – bei der Deutung der Vererbung individueller Merkmale von den Vorfahren, weil er hier für die Erbübertragung aus der mütterlichen Aszendenz gezwungen war, dem Menstrualblut eine dem männlichen Samen vergleichbare aktive Bewegung zuzugestehen. In seiner Schrift Über den Samen hat Galen sich besonders ausführlich mit der Zeugungslehre des Aristoteles beschäftigt, dessen fünf Bücher umfassendes Werk De generatione animalium mit Sicherheit die umfangreichste Abhandlung war, die in der Antike zu diesem Gegenstand verfaßt wurde und bis in Galenische Zeit die zeugungsphysiologischen Vorstellungen der Ärzte maßgeblich | beeinflußt hat. Diesem Einfluß wollte und konnte sich auch Galen nicht entziehen; allerdings bedeutete das in seinem Fall nicht eine bloße Übernahme, sondern die kritische Aneignung des Aristotelischen Gedankenguts, eine in Galens wissenschaftlichen Ambitionen begründete Verfahrensweise, die das Aufzeigen von Irrtümern in Detailfragen ebenso einschloß wie die Weiterentwicklung und Modifizierung allgemeiner Grundsätze von tragender Bedeutung. Wenn wir uns entschließen, Galens Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Samenlehre unter diesem Aspekt zu betrachten, besteht, so meinen wir, die Chance, auch den Vorwurf der Inkonsequenz abzuschwächen, der gegen die Galenische Zeugungslehre erhoben worden ist. Aufgrund der bereits erwähnten unbegründeten Annahme, die Einmündung der Tuben in die Uterushörner sei von Galen selbst entdeckt worden und er habe den Wert dieser seiner angeblichen Pionierleistung in einer Weise herausgestellt, die auf die „Selbstglorifizierung eines eitlen Gelehrten“ hinausliefe, ist E. Lesky zu dem Schluß gelangt, daß es die Tatsache der eigenen Entdeckung gewesen sei, die den Pergamener veranlaßt habe, aus dem anatomischen Befund die notwendigen Konsequenzen hinsichtlich der Postulierung eines zeugungsfähigen weiblichen Samens zu ziehen, und daß er sich damit in „schärfsten Gegensatz“ zu der geschlechtsdualistischen Auffassung des Aristoteles gesetzt habe14. Bei näherem Zusehen zeigt es sich jedoch, daß der Gegensatz zwischen der Galenischen und der Aristotelischen Samenlehre weit weniger scharf ist, als Lesky es darstellt. Denn Galen hat zwar gegen Aristoteles geltend gemacht, daß mit dem am weiblichen Genitale erhobenen anatomischen Befund der 13 14
Ebd., 152sq. Ebd., 178sq.
Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre
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Beweis erbracht worden sei, daß der weibliche Körper ebenso wie der männliche Samen hervorbringt, daß dieser Samen das dem männlichen Sperma entsprechende Ausscheidungsprodukt der weiblichen Keimdrüsen ist, daß sich der männliche und weibliche Samen bei der Konzeption im Uterus miteinander vermischen und daß die Existenz dieses Samengemischs die wesentliche Voraussetzung für den Anfang der Keimbildung ist15, damit aber die These des Stagiriten von den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Zeugungsleistung nicht prinzipiell in Frage gestellt. Mit Ari|stoteles stimmt Galen darin überein, daß die weiblichen Individuen ihrer Konstitution nach kälter und damit weniger vollkommen sind als die männlichen und daß der weibliche Körper aus diesem Grunde nicht imstande ist, dieselbe Zeugungsleistung zu erbringen wie der männliche16. Mit anderen Worten, auch wenn Galen aus der von ihm postulierten Entsprechung zwischen dem männlichen und weiblichen Genitalapparat die Konsequenz zog, daß auch das weibliche Individuum Samen hervorzubringen in der Lage ist und daß der Samen als der dem Uterus gemäße Stoff zusammen mit dem männlichen Samen das Ausgangsmaterial für die Keimesentwicklung bildet, so stand es für ihn doch gleichzeitig außer Frage, daß die – auch darin folgt er Aristoteles – auf einem Kochungsprozeß beruhende Umwandlung des Blutes in Samen im weiblichen Körper durch den konstitutionell bedingten Mangel an Wärme weniger vollkommen ist als der entsprechende Vorgang im männlichen Körper, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen ist der Umwandlungsprozeß weniger intensiv, so daß der weibliche Samen kälter und feuchter ist als das männliche Sperma, und zum anderen wird nur ein geringerer Teil des zur Verfügung stehenden Blutes bis zum Endprodukt Samen verarbeitet, das heißt, daß einerseits die anfallende Samenmenge geringer ist als beim männlichen Individuum, andererseits aber mit dem weniger verarbeiteten Teil des Blutes ein weiteres Geschlechtsprodukt in Form von Menstrualblut bereitgestellt wird. Daß Galen das Menstrualblut ebenso wie den Samen als Zeugungsstoff verstanden wissen wollte17, kann nicht bezweifelt werden, da es nach seinen eigenen Angaben nicht nur als Nahrung für den Embryo dient, sondern auch die stoffliche Grundlage für die Ausformung der hämatogenen Körperteile (Fleisch, Herz, Leber usw.) | bildet18, während er dem weiblichen Samen lediglich die Bildung des als Allantois bezeichneten fetalen Anhangsorgans19 und die Ernährung des männlichen Samens im
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De semine I 7; II 1: IV 535,17–536,12; 593,6–610,10 Kühn. Hierzu und zum Folgenden s. J. Kollesch, Aristotelisches in der Systematik Galens, in: Proceedings of the World Congress on Aristotle, Thessaloniki August 7–14, 1978, Bd. I, Athen 1981, 239–241 (= unten, S. 172f.). Vgl. auch Gal., De semine II 4. 5: IV 623,12–625,17; 641,6–12 Kühn, und M. Boylan, The Galenic and Hippocratic challenges to Aristotle’s conception theory, in: Journal of the History of Biology 17 (1984), 101. Die Intentionen Galens mißversteht gründlich A. Preus, Galen’s criticism of Aristotle’s conception theory, in: Journal of the History of Biology 10 (1977), 84, wenn er ihm unterstellt, daß er das Menstrualblut als weiblichen Samen identifiziert habe, und ihm daraufhin vorhalten zu können glaubt, er habe zwar bemerkt, daß die weiblichen Hoden (= Ovarien) klein sind, er habe aber nicht festgestellt, daß sie zu klein sind, um die Quelle für das beträchtliche Quantum Menstrualblut zu sein. Siehe z.B. De semine I 5. 6. 8; II 5: IV 528,11; 534,5–535,13; 539,12–14; 641,9–12 Kühn. Zur Identifizierung dieses Hautgebildes s. Nickel, CMG V 2,1, S.92sq.
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Galens Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Samenlehre
ersten Stadium der Keimesentwicklung zugesteht20. Der Annahme, daß Galen das Menstrualblut zu den Zeugungsstoffen gezählt hat, widerspricht auch nicht, daß er allein den Samen als den der Gebärmutter gemäßen Stoff bezeichnet. Denn im Anschluß an seine gegen Aristoteles gerichtete Argumentation, daß der Uterus als das Aufnahmeorgan für den Samen diesen anzieht, das Menstrualblut dagegen als Fremdstoff ausscheidet, schreibt Galen, daß auch der im Uterus sich bildende Keimling mit anziehenden und abstoßenden Kräften ausgestattet ist, aufgrund deren er ebenso wie die Gebärmutter imstande ist, die ihm gemäßen Stoffe – das Blut und das in ihm enthaltene Pneuma – anzuziehen und die überflüssigen und fremden Stoffe auszuscheiden21. Das Wirksamwerden dieser Kräfte geht mit dem steigenden Nahrungsbedarf der an Größe zunehmenden Leibesfrucht einher, der nicht mehr von dem weiblichen Samen gedeckt werden kann, und das ist denn auch der entscheidende Grund dafür, daß nunmehr das in ausreichender Menge vorhandene Blut an dessen Stelle die ernährende und keimbildende Funktion übernehmen muß22. Diese Lösung war für Galen aber nur deshalb möglich, weil er die im Samen bestehende weibliche Zeugungsleistung trotz der Bedeutung, die er ihr für den Zeugungsakt als solchen zugestand, aufgrund der von ihm konstatierten geringen Menge und minderen | Qualität des weiblichen Samens gegenüber der des männlichen Individuums außerordentlich gering veranschlagt hat: eine Entscheidung, die, so meinen wir, aus dem offenkundigen Bemühen Galens resultiert, die auf der dualistischen Geschlechtsauffassung basierende Samentheorie des Aristoteles mit der Zweisamenlehre zu verbinden und auf diese Weise zu aktualisieren. Voraussetzung dafür war aber, daß er an beiden Lehren Abstriche machte. Die Gültigkeit der Zweisamenlehre hippokratischer Prägung schränkte er insofern ein, als er zwar daran festhielt, daß dem Zeugungsvorgang die Vermischung des männlichen und weiblichen Samens im Uterus vorangeht, aber die grundlegende Vorstellung von der Parität der Samenanteile der beiden Geschlechtspartner aufgab und statt dessen, wie bereits erwähnt, die Auffassung vertrat, daß der weibliche Samen sowohl an Quantität wie an Qualität weit hinter dem männlichen zurückbleibt und demzufolge auch weniger funktionstüchtig ist als dieser. Den streng dualistischen Standpunkt des Aristoteles durchbrach er, indem er dessen These, daß der Samen nur wirkende Ursache und das Menstrualblut nur Stoffursache sei, dahingehend zu modifizieren suchte, daß sowohl der Samen als auch das Menstrualblut Träger beider Ursachen sind, allerdings mit der Einschränkung, daß der Samen in stärkerem Maße bewegende und weniger stoffliche Ursache, das Menstrualblut dagegen umgekehrt vornehmlich stoffliche und in geringerem 20
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De semine I 7; II 1. 4: IV 536,13–18; 600,14–17; 622,12–623,6 Kühn. Auch im Vererbungsgeschehen hat Galen eine Rollenverteilung auf die beiden weiblichen Geschlechtskomponenten vorgenommen: die Vererbung der Art erfolgt nach seinen Vorstellungen über das Menstrualblut, die der individuellen Körpermerkmale der Mutter über den weiblichen Samen, der jedoch nur deshalb als Vermittler individueller Merkmale fungieren kann, weil er vom Menstrualblut dabei unterstützt wird (De semine II 1–2: 605,10–615,14 Kühn; vgl. auch Kap. 5: IV 641,15–642,6 Kühn). Die Feststellung von Boylan, a.a.O., 101, Galen habe den größten Teil der Aufgaben, die Aristoteles dem Menstrualblut übertragen hatte, dem weiblichen Samen zugewiesen und den Katamenien lediglich die Ernährung des Embryos überlassen, erscheint uns angesichts des geschilderten Tatbestandes nicht gerechtfertigt. Siehe De semine I 6: IV 534,5–10 Kühn. Siehe ebd. I 6. 9: IV 534,10–13; 542,5–15 Kühn.
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Maße bewegende Ursache ist23. Dies und nicht „die alte Streitfrage um den weiblichen Samen“, wie E. Lesky meint24, ist denn auch das zentrale Anliegen in Galens Schrift Über den Samen. Das zeigt die zu Beginn des ersten Buches gestellte Frage nach den Potenzen und der Funktion des Samens, d.h. die Frage, ob der Samen allein wirkendes oder nicht auch stoffliches Prinzip ist25, mit der er die Diskussion des Problems der Zeugungsleistung insofern auf eine andere, gleichsam höhere Ebene transponiert hat, als er dem Phänomen Samen als solchem beizu|kommen versucht, unabhängig davon, ob es nur männlichen oder auch weiblichen Samen gibt. Wenn es aber, wie wir abschließend sagen zu können glauben, feststeht, daß Galen sich aufgrund seiner physiologisch begründeten Theorie von der unterschiedlichen Zeugungsleistung der beiden Geschlechter nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, sich für das Menstrualblut oder den Samen als alleinigen weiblichen Zeugungsbeitrag zu entscheiden, wird man es ihm auch nicht mit E. Lesky26 als Inkonsequenz anlasten dürfen, daß er die Funktion des weiblichen Samens zugunsten des Menstrualblutes weitgehend eingeschränkt hat. Und noch viel weniger kann von einem Bruch in der Zeugungs- und Vererbungslehre Galens die Rede sein, der nach Lesky darin offenbar wird, daß der Pergamener im zweiten Buch von De semine im Zusammenhang mit seiner Darstellung der Artvererbung den weiblichen Samen gänzlich aus seinem Blickfeld verloren und sich zu dem Menstrualblut als „weibliche(m) Zeugungsanteil schlechtweg“ bekannt habe27. Denn bei der Gegenüberstellung Katamenien – Samen, auf die Lesky sich mit ihrer These stützt, handelt es sich nicht um eine Gegenüberstellung der weiblichen und männlichen Zeugungsleistung, sondern um die Gegenüberstellung der an der Zeugung bzw. Vererbung beteiligten stofflichen und bewegenden Komponenten28. Daß Galen hier, wenn er vom Samen spricht, den weiblichen Samen mit einschließt, zeigen die vorangehenden Ausführungen, in denen davon die Rede ist, daß die individuellen Körpermerkmale von beiden Elternteilen über den Samen auf die Nachkommen vererbt werden, und dort wird der Begriff Samen ebenfalls undifferenziert gebraucht29.
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Siehe bes. De semine II 2: IV 611,17–615,14 Kühn. Es entspricht nicht der Galenischen Auffassung, wenn P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, 2. Bd.: Der Aristotelismus im I. und II. Jh. n.Chr., Berlin u. New York 1984, 749, den weiblichen Samen in erster Linie als Träger des materiellen Prinzips kennzeichnet. Lesky, a.a.O., 179sq. De semine I 1: IV 512,3–8 Kühn. Vgl. auch Moraux, Der Aristotelismus, 745. Lesky, a.a.O., 180sq. Ebd., 188. Gal., De semine II 5: IV 642,7sq. Kühn. Ebd., Z. 1–3.
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6. ARISTOT ELISCHES IN DER SYST EMAT IK GALENS*
Der Arzt Galen von Pergamon (129– um 200 u.Z.), der letzte bedeutende Repräsentant der wissenschaftlichen Medizin in der Antike, hat sich nicht nur darum bemüht, das vorhandene medizinische Wissen zusammenzufassen, es ging ihm vor allem auch darum, dieses Wissen mit Hilfe von bestimmten Einteilungsprinzipien zu ordnen und überschaubar zu machen. Dabei hat er vielfach auf Aristotelisches Gedankengut zurückgegriffen, so z.B. wenn er seinem Einteilungsschema der Arzneimittelwirkungen die Aristotelischen Begriffe des Potentiellen, Akzidentellen und Aktuellen zugrunde legte1 oder wenn er das in der Medizin gültige humoralpathologische Viererschema, das auf der Zuordnung von Körpersäften und Primärqualitäten beruhte, dadurch weiter ausbaute, dass er es mit dem Aristotelischen Viererschema mit seiner Zuordnung von Elementen und Primärqualitäten verband, und dieses neue Viererschema zur Grundlage seiner Systematisierungsbestrebungen auf dem Gebiet sowohl der Pharmakologie als auch der Nosologie und der Therapie machte.2 Das zuletzt angeführte Beispiel hat bereits deutlich werden lassen, dass Galen die Vorstellungen und Lehren des Aristoteles nicht nur unverändert übernahm, sondern sie auch unter speziell medizinischen Gesichtspunkten umzuformen und weiterzuentwickeln verstand. Das trifft auch für die biologische Konzeption zu, die dem von ihm in seiner Schrift De usu partium entwickelten anatomisch-physiologischen System zugrunde liegt. Diese | Konzeption beruht auf der Vorstellung, dass die Natur die Lebewesen von den Schaltieren bis hin zum Menschen mit unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden geschaffen hat und dass der Mensch als das vollkommenste Lebewesen, das ausser mit allen Sinnesorganen als einziges auch mit Verstand begabt ist, in diesem Stufenleitersystem seinen Platz auf der höchsten Stufe hat. Hierin folgt Galen nach seinen eigenen Worten den Lehren des Aristoteles,3 die, wie der Pergamener mehrfach betont, seine uneingeschränkte Zustimmung finden.4 Ebenso teilt er auch die Auffassung des Aristoteles, dass es auf den einzelnen Stufen dieses biologischen * Erschienen in: Proceedings of the World Congress on Aristotle (Thessaloniki, August 7–14, 1978), Publication of the Ministry of Culture and Sciences, Bd. 1, Athen 1981, S. 238–241. 1
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Siehe dazu G. Harig, Bestimmung der Intensität im medizinischen System Galens. Ein Beitrag zur theoretischen Pharmakologie, Nosologie und Therapie in der Galenischen Medizin (Akademie d. Wiss. d. DDR, Zentralinstitut f. Alte Gesch. u. Archäol., Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 11), Berlin 1974, S. 99–105. Siehe ebd., S. 42–51. Siehe Arist., Hist. anim. VIII 1: 588 b 10–23; vgl. auch De part. anim. IV 5: 681 a 9–15. Siehe Gal., De usu part. IV 17; XIV 6: I 241,6–11; II 298,7–299,2 Helmreich = III 328,7–11; IV 160,13–161,12 Kühn. Vgl. auch ebd. XI 2: II 117,9–22 Helmreich = III 848,5–16 Kühn.
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Systems wiederum gewisse Abstufungen gibt, die sich z.B. darin äussern, dass bei der Gattung Mensch der Mann einen höheren Grad an Vollkommenheit erreicht als die Frau.5 Obwohl Galen nun auch darin prinzipiell mit Aristoteles übereinstimmt, dass der geringere Vollkommenheitsgrad der Frauen darauf zurückzuführen sei, dass die weiblichen Individuen ihrer Körperkonstitution nach kälter sind als die männlichen,6 ist er dennoch der Meinung, dass die Schlussfolgerungen, die der Stagirite daraus gezogen hat, der Ergänzung und der Präzisierung bedürfen.7 Denn nach den Vorstellungen des Aristoteles8 kommt die grössere Vollkommenheit der männlichen Individuen gegenüber den weiblichen allein darin zum Ausdruck, dass sie auf Grund der in ihren Körpern vorhandenen grösseren Wärme imstande sind, aus der Nahrung als Endprodukt zeugungsfähigen Samen zu produzieren. Die weiblichen Individuen dagegen haben diese Fähigkeit nicht, und zwar deswegen, weil sie kälter sind. Sie können daher auch keinen aktiven Beitrag zur Zeugung leisten, sondern bringen lediglich Menstrualblut hervor, das die stoffliche Grundlage für den sich in der Gebärmutter entwickelnden Keim bildet und dessen Ernährung gewährleistet. In Abhängigkeit von diesen unterschiedlichen Funktionen, Samenpro|duktion bei den einen, Aufnahme des Samens, das Hervorbringen von Menstrualblut und Ernährung des Keimes bei den anderen, muss nach Aristoteles auch die Tatsache gesehen werden, dass die männlichen und weiblichen Individuen mit unterschiedlichen Geschlechtsorganen versehen sind, die männlichen mit dem äusseren Genitale und die weiblichen mit der Gebärmutter. Die Begründung, die Aristoteles für den geringeren Vollkommenheitsgrad der Frau gibt, hält Galen deshalb für unzureichend, weil dieser ihn allein mit der aus der geringeren Wärme des weiblichen Körpers resultierenden Unfähigkeit zur Produktion von zeugungsfähigem Samen in Zusammenhang bringt. Dabei sei ein weiterer wesentlicher Aspekt übersehen worden, nämlich der Umstand, dass auch der anatomische Bau des weiblichen Geschlechtsapparats, wie Galen glaubt, ein Beweis für die geringere Vollkommenheit der Frau ist.9 Zu dieser Feststellung sieht er sich auf Grund seiner exakteren anatomischen Kenntnisse berechtigt, die er, speziell im Hinblick auf die weiblichen Genitalorgane, vor allem dem alexandrinischen Arzt Herophilos von Chalkedon (erste Hälfte des 3. Jh. v.u.Z.) verdankt. Wie Herophilos geht Galen davon aus, dass die weiblichen Geschlechtsorgane den männlichen genau entsprechen: die Gebärmutter dem Hodensack, die weiblichen Hoden (gemeint sind die Ovarien) den männlichen Hoden, der Uterushals dem Penis und die Vagina der Vorhaut. Sie unterscheiden sich von ihnen lediglich dadurch, dass sie nicht wie jene ihren Platz aussen am Körper haben, sondern in seinem Inneren. Und eben darin zeige sich die geringere Vollkommenheit der Frau. Denn nach Auffassung Galens beweisen die von ihm angenommenen Entsprechungen zwischen den männlichen und weiblichen Genitalorga5
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Siehe z.B. Arist., De gen. anim. I 19: 727 a 24f.; I 20: 728 a 17–20; II 3: 737 a 27f.; IV 1: 765 b 9–15; Gal., De usu part. XIV 5: II 295,27–296,1 Helmreich = IV 157,12f. Kühn. Siehe Arist., De gen. anim. IV 1. 6: 765 b 15–18; 775 a 14–16; Gal., De usu part. XIV 6: II 296,8–11; 299,3–10 Helmreich = IV 158,3–6; 161,12–162,1 Kühn. Siehe Gal., ebd. II 5: II 295,27–296,7 Helmreich =IV 157,12–158,2 Kühn. Zum Folgenden s. Arist., De gen. anim. I 19: 726 b 30–727 a 4; IV 1: 765 b 8–766 a 34. b 7–26. Zu den folgenden Ausführungen s. Gal., De usu part. XIV 6: II 296,11–297,20; 299,13–18 Helmreich = IV 158,6–160,1; 162,4–8 Kühn.
Aristotelisches in der Systematik Galens
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nen, dass diese Organe im weiblichen Fetus in gleicher Weise angelegt sind wie im männlichen, aber infolge der geringeren Wärme im weiblichen Körper im Verlauf der Embryonalentwicklung nicht nach aussen gelangen können, wie es bei den männlichen Individuen der Fall ist, die damit den Massstab für den vollkommenen Bau des menschlichen Körpers setzen. Als Zeichen grösserer Vollkommenheit galt aber auch Galen die Produktion von zeugungsfähigem Samen. Dazu seien aber nur, und hierin stimmt er wieder mit Aristoteles überein, die wärmeren männlichen Individuen | imstande. Im Gegensatz zu Aristoteles vertritt Galen in Anlehnung an Herophilos allerdings die Auffassung, dass die weiblichen Individuen, die, wie er schreibt, durch den Mangel an Wärme kleinere und unvollkommenere, d.h. weniger funktionstüchtige, Hoden haben als die männlichen, zwar auch Samen hervorbringen und diesen auch zur Zeugung beisteuern.10 Der weibliche Samen als solcher sei aber zeugungsunfähig, und zwar deswegen, weil er, was ebenfalls durch den Mangel an Wärme bedingt ist, geringer an Menge, kälter und feuchter ist als der männliche. Andererseits sei es aber gerade dem Umstand, dass die Frauen kälter sind als die Männer, zu danken, dass ihr Körper die aufgenommene Nahrung im Endstadium nicht völlig für die Produktion des Samens aufbraucht, wie das bei den Männern der Fall ist, sondern dass von dieser ein weniger verarbeiteter Rest zurückbleibt, der in Form von Menstrualblut zur Ernährung der Leibesfrucht dient. Vom Standpunkt der modernen Medizin müssen wir nun freilich sagen, dass Galen zu Unrecht glaubte, auf Grund seiner, wie er meinte, durch die anatomischen Gegebenheiten eindeutig erwiesenen Theorie von der Entsprechung zwischen den weiblichen und männlichen Genitalorganen die Aristotelische Vorstellung von den unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden bei Mann und Frau theoretisch untermauern zu können. Aus seinen Darlegungen in De usu partium, die hier zur Debatte standen, wird aber zugleich deutlich, dass Galen noch in einem weiteren entscheidenden Punkt über Aristoteles hinausgelangte, nämlich darin, dass er den biologischen Unterschied zwischen Mann und Frau nicht nur als Ausdruck der biologischen Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau wertete, sondern ausdrücklich darauf hinwies, dass allein durch diesen Unterschied Fortpflanzung möglich und dadurch der Fortbestand der Menschen als biologischer Art garantiert sei.11
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Hierzu und zum Folgenden s. ebd.: II 299,24–300,15; 301,3–25 Helmreich = IV 162,13–163,12; 164,1–165,4 Kühn. Siehe ebd.: II 300,15–301,2 Helmreich = IV 163,12–164,1 Kühn.
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7. ANSCHAUUNGEN VON DEN ΑΡΧΑΙ IN DER ARS MEDICA UND DIE SEELENLEHRE GALENS*
Die uns unter dem Namen Galens mit dem Titel Ars medica überlieferte Schrift zeichnet sich durch eine strenge Gliederung und auffällig straffe Darstellung des Stoffes aus. Dieser Umstand trug zweifellos dazu bei, daß sie zu den am meisten gelesenen Werken des Corpus Galenicum gehörte und viele Jahrhunderte lang eine gleichsam kanonische Geltung hatte. Die sich daraus ergebende Vorrangstellung der Schrift ist weder in der ganzen Zeit, in der die Galenische Heilkunde die Grundlage der Medizin bildete, noch in der Galenforschung jemals in Frage gestellt worden; wie zuvor sieht man auch in der neueren Forschung die Ars medica als eine Art Zusammenfassung der wichtigsten Galenischen physiologischen und pathologischen Anschauungen an1, ohne daß man sich mit ihr allerdings jemals explizit beschäftigt und die in ihr | enthaltenen Aussagen mit denen der anderen Galenschriften verglichen und auf ihre Besonderheiten hin untersucht hätte. Der Gliederung der Ars medica liegt die Herophileische Definition der Medizin als der Wissenschaft vom Gesunden, Kranken und Neutralen mitsamt der Unterteilung der einzelnen Glieder dieser Definition nach den Kategorien Körper, Ursache, Zeichen und der dreifachen Bestimmung des Neutralen als desjenigen, was an keinem der beiden Gegensätze, was in gleichem bzw. unterschiedlichem Maße an beiden Gegensätzen und was bald an dem einen und bald an dem anderen Gegensatz teilhat, zugrunde, die der Verfasser zu Beginn der Schrift ohne Namensnennung übernimmt2. Der Text weist zahlreiche Selbstzitate auf und schließt mit einem umfangreichen Katalog von Galenschriften, was zu der Schlußfolgerung führte, sie sei in den letzten
* Erschienen in: Le opere psicologiche di Galeno. Atti del terzo colloquio galenico internazionale, Pavia, 10–12 settembre 1986, hrsg. v. P. Manuli und M. Vegetti, Neapel 1988 (Elenchos 13), S. 215–229. 1
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Siehe J. Ilberg, Über die Schriftstellerei des Klaudios Galenos III, Rhein. Mus. 51 (1896), S. 178 = Nachdruck Darmstadt 1974, S. 73, der von der Ars medica als dem „berühmte(n) Grundbuch“ spricht, und J. Mewaldt, s.v. Galenos, in: RE, Bd. VII, hrsg. v. G. Wissowa u. W. Kroll, Stuttgart 1912, Sp. 586, der sie als „klassisches Kompendium der Pathologie“ bezeichnet. Vgl. auch R. E. Siegel, Galen on psychology, psychopathology, and function and diseases of the nervous system. An analysis of his doctrines, observations and experiments, Basel u.a. 1973, S. 181f. Gal., Ars med. 1: I 307,5–309,15 K. Zur Herophileischen Herkunft dieser Einteilung der Medizin vgl. H. Schöne, De Aristoxeni Περὶ τῆς Ἡροφίλου αἱρέσεως libro tertio decimo a Galeno adhibito, Diss. Bonn 1893, S. 24–26, und K. Deichgräber, Die griechische Empirikerschule. Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, um Zusätze vermehrter anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1930, Berlin u. Zürich 1965, S. 290.
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Anschauungen von den ἀρχαί in der Ars medica
Lebensjahren Galens verfaßt worden3. Zusätzlich findet sich im Proömium der Vermerk, daß hier lediglich eine Zusammenfassung dessen gebracht werden soll, was in zahlreichen anderen Schriften bereits ausführlich dargelegt wurde4, und so erschien die Frage nach dem Autor der Schrift bisher irrelevant und eine Diskussion über ihre Echtheit überflüssig, zumal da Galen selbst an drei Stellen nicht nur eine von ihm verfaßte Abhandlung mit dem Titel Τέχνη (ἡ) ἰατρική bzw. Ἰατρικὴ τέχνη | anführt5, die er dem Komplex seiner nosologischen Schriften zuordnet6, sondern darüber hinaus auch deren speziellen Gegenstand nennt, nämlich die Anzeichen für die vom Normalen abweichenden Mischungen des Körpers und seiner einzelnen Teile7, und dieser Gegenstand auch tatsächlich in dem überlieferten Text behandelt wird. Bei aufmerksamer Lektüre der Ars medica fällt jedoch zunächst auf, daß sie weniger weitschweifig ist, als wir es von Galen sonst gewohnt sind – eine Tatsache, die man indessen auf die mit der Schrift verfolgte Intention zurückführen könnte, eine kurzgefaßte Darstellung liefern zu wollen. Auffällig sind weiterhin das Fehlen jeglicher theoretischer Auseinandersetzung und die stillschweigende Übernahme der Herophileischen Dreiteilung der Medizin, deren Gültigkeit als Gliederungsprinzip in De sanitate tuenda in Frage gestellt wird8 – da jedoch die dreifache Kennzeichnung des Neu-| tralen in der theoretischen Pharmakologie Galens die Grundlage für die begriffliche Bestimmung der μέσα φάρμακα bildet9, wird man auch darin nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches erblicken müssen und ihre Verwendung in der Ars medica mit den spezifischen Zielstellungen der Schrift erklären können. Nicht zu erklären ist mit diesen Zielstellungen aber der Umstand, daß in der Ars medica eindeutige theoretische Positionen aufgegeben werden, zu denen sich der Pergamener sein Leben lang bekannt und die er immer wieder vertreten hat. 3
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Vgl. Ilberg, S. 178 u. 195 = S. 73 u. 90, und K. Bardong, Beiträge zur Hippokrates- und Galenforschung, Göttingen 1942, Nachrichten von der Akad. d. Wiss. in Göttingen, phil.-hist. Kl. 1942, 7, S. 627 u. 640. Zum Verweis auf den Schriftenkatalog s. ebd., S. 639 Anm. 3. Gal., Ars medica Prooem.: I 307, 2–4 K. Gal., De san. tuen. V 11,42, hrsg. von K. Koch, Leipzig u. Berlin 1923, C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) V 4,2, S. 164,13f.; De libr. propr. 3: Claudii Galeni Pergameni Scripta minora II, hrsg. von I. Müller, Leipzig 1891, S. 109,2f. = XIX 30,16 K.; Meth. med. VII 3: X 464,16 K. Siehe Gal., De libr. prop. 3: Scripta minora II, S. 108,20–109,3 = XIX 30,10–16 K. Siehe Gal., De san. tuen. V 11,40f.: CMG V 4,2, S. 164,10–13; Meth. med. V II 3: X 464,12–16 K. Gal., De san. tuen. IV 1,2–4: CMG V 4,2, S. 103,9–20. An der Zweiteilung der Medizin in einen die Behandlung von Krankheiten (τὸ θεραπευτικόν) und einen die Gesunderhaltung betreffenden Teil (τὸ ὑγιεινόν) hält Galen auch Thrasyb. 30 (Scripta minora III, hrsg. von G. Helmreich, Leipzig 1893, S. 74,13–18 = V 864,2–7 K.) fest, wo er von dem kräftigenden (τὸ ἀναληπτικόν) und dem prophylaktischen Teil (τὸ προφυλακτικόν), die als Teilgebiete unter den Oberbegriff des ὑγιεινόν subsumiert werden, sagt, daß sie, davon ausgehend, daß das θεραπευτικόν die Wiederherstellung der Gesundheit im großen betreibt und das ὑγιεινόν im kleinen, in der Mitte zwischen diesen beiden stehen, weil ihr Beitrag zur Wiederherstellung der Gesundheit nicht so klein ist wie der des ὑγιεινόν, aber auch nicht so groß wie der des θεραπευτικόν, und daß er es, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, auch nicht für falsch hält, wenn sie als οὐδέτερα bezeichnet werden. Gal., De simpl. med. temp. et fac. I 23: XI 421,15–18 K. Vgl. dazu G. Harig, Bestimmung der Intensität im medizinischen System Galens. Ein Beitrag zur theoretischen Pharmakologie, Nosologie und Therapie in der Galenischen Medizin (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 11), Berlin 1974, S. 86f.
Anschauungen von den ἀρχαί in der Ars medica
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So wird z.B. die Aufgabe, die gesamte Medizin darzustellen, mit der für Galen ungewöhnlichen Absicht verbunden, sich dabei der ὁρικὴ bzw. ὁριστικὴ διδασκαλία, der Unterweisung in Form von Definitionen, zu bedienen, d.h., den Stoff in Hauptpunkten und gewissermaßen Schlußfolgerungen zusammenzufassen10, und es wird ausdrücklich vermerkt, daß der Vorteil einer derartigen Unterweisung darin bestehe, daß sie einerseits die Einzelheiten in leicht einprägsamer Form darbietet und zugleich andererseits eine Zusammenschau des Ganzen erlaubt11. Ungewöhnlich ist für Galen diese Absicht deshalb, weil er eine solche Unterweisungsform, die in der antiken Medizin eine lange Tradition hatte und sich literarisch sicherlich spätestens zusammen mit dem im Hellenismus entstandenen medizinischen Lehrbuch durchsetzte12, sonst nachdrücklich ablehnt. Denn im Gegensatz zu den Herophileern | und Erasistrateern, die, wie er notiert13, als erste mit Definitionen arbeiteten, und im Unterschied zu den Methodikern und Pneumatikern14 – man erinnere sich an die Ὅροι-Schrift des Asklepiades von Bithynien, die wahrscheinlich mehrere Bücher umfaßte15, und an die polemisch gefärbte Bemerkung Galens über die φιλοριστία der Pneumatiker16 – war er der Ansicht, daß ein auf Definitionen aufgebauter Unterricht seinen Zweck verfehle, sei es doch notwendig, den Hörern zuerst ausführlich das Wesen einer Sache zu erklären und erst danach das Gesagte in kurzen Worten zusammenzufassen17. Deswegen seien, wie er im einzelnen ausführt, die ἐννοηματικοὶ ὅροι, die Begriffsdefinitionen, für diejenigen, die den Gegenstand bereits kennen, überflüssig und für diejenigen, die ihn noch nicht kennen, unnötig, da erst eine ausführliche Darlegung ihn verständlich machen kann18. Dasselbe träfe auch für die οὐσιώδεις ὅροι, die Sachdefinitionen, zu, die für die Anfänger aus dem Grunde ungeeignet wären, weil diese sich auf Grund von kurzen Definitionen von Gegenständen, zu deren Verständnis längere Erklärungen unerläßlich sind, keine Vorstellung machen können19. Der Wert der Definitionen besteht darum seiner Überzeugung nach lediglich in ihrem mnemotechnischen Aspekt, der allerdings nur dann von Nutzen sei, wenn er sich mit gründlichem Wissen verbindet20. Der in der Ars medica eingeschlagene methodische Weg steht somit im Widerspruch zu dem anderswo sich findenden Vorgehen Galens, und dieser Widerspruch verschärft sich angesichts des Umstandes, daß die in der Schrift gewählte Metho|dik weder ausreichend begründet und gerechtfertigt noch in irgendeiner Weise relativiert wird. Einer weitaus grundsätzlicheren Aufgabe von theoretischen Positionen kommt aber eine Einteilung der Körperteile gleich, der man im 5. Kapitel der Schrift begegnet21. In 10 11 12
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Gal., Ars medica Prooem.: I 306,6; 307,1–3 K. Ebd. 306,8f. K. Vgl. J. Kollesch, Untersuchungen zu den pseudogalenischen Definitiones medicae (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 7), Berlin 1973, S. 37f. Siehe Gal., De puls. diff. IV 2: VIII 719,12–14 K. Siehe ebd. 719,14f. K. Siehe Cael. Aurel., De morb. acut. I 15. 20; II 89; III 188. Siehe Gal., De puls. diff. IV 1: VIII 698,4–6 K. Vgl. ebd. IV 2: VIII 719,2–6 K. Ebd. 717,13–16 K. Ebd. 718,15–719,2 K. Ebd. 718,12–15 K. Gal., Ars med. 5: I 318,15–319,12 K.
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diesem Klassifikationsschema werden folgende vier Arten von Körperteilen unterschieden: erstens Körperteile, die ἀρχαί, d.h. führende Zentren, sind, zweitens Körperteile, die aus diesen führenden Zentren herauswachsen, drittens Körperteile, die weder für die Versorgung anderer Körperteile zuständig noch anderen Teilen untergeordnet sind, da ihnen die sie versorgenden Kräfte innewohnen, und viertens Körperteile, denen die sie versorgenden Kräfte sowohl innewohnen als auch zufließen. Zu der ersten Gruppe werden Gehirn, Herz, Leber und Hoden gezählt, zu der zweiten die aus ihnen herauswachsenden und ihnen zugleich dienenden Teile, d.h. die Nerven und das Rückenmark, die dem Gehirn zu Diensten sind, die Arterien, die dem Herzen, die Venen, die der Leber, und die Samengefäße, die den Hoden dienen. In die dritte Gruppe werden Knorpel, Knochen, Bänder, Membranen, Drüsen, Fett und das einfache Fleisch, d.h. das Muskelgewebe, eingereiht, während zu der letzten Gruppe alle anderen Teile gehören, von denen gesagt wird, daß sie sich ebenso wie die zuvor genannten selbst versorgen, zusätzlich jedoch auch der Arterien, Venen und Nerven bedürfen. Das uns hier begegnende Einteilungsschema, für das es meines Wissens in den anderen Schriften Galens keine Parallele gibt, ist in mehrfacher Hinsicht suspekt22. Zunächst | ist festzustellen, daß ihm keine einheitlichen Unterscheidungsmerkmale zugrunde liegen. Die ersten beiden Gruppen werden in ihm dadurch gekennzeichnet, daß die einen führende und die anderen die aus ihnen herauswachsenden Teile sind. Für die beiden anderen Gruppen von Körperteilen bilden dagegen die für deren Funktion jeweils zuständigen Kräfte das Tertium comparationis: die einen kommen mit den ihnen innewohnenden Kräften aus, und die anderen müssen zusätzlich auch von Arterien, Venen und Nerven versorgt werden. Wie aus der oben angeführten Aufzählung der Körperteile unschwer zu ersehen ist, werden mit den beiden letzten Gruppen die bei Galen sonst als homoiomer und als anhomoiomer bzw. organisch bezeichneten Körperteile erfaßt23. Man kann indessen die beiden Einteilungsschemata nicht gleichsetzen, denn von Galen werden sonst grundsätzlich alle Körperteile, wenn auch mit fließenden Übergängen, unter die Kategorien homoiomer und anhomoiomer subsumiert; in der Ars medica dagegen sind so wichtige Organe wie Gehirn, Herz, Leber, Hoden und die aus ihnen herauswachsenden und ihnen dienenden Teile aus dieser Einteilung herausgenommen, obwohl auch für sie zutrifft, daß sie sich entweder selbst versorgen oder von Arterien, Venen und Nerven mitversorgt werden.
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So recht einsichtig scheint das von ihm benutzte Klassifikationsschema auch dem Verfasser der Ars medica selbst nicht gewesen zu sein. Denn bei einer späteren Bezugnahme darauf (Kap. 22: I 364,6–14 K.) ist eine Übereinstimmung lediglich bei den ersten beiden Gruppen von Körperteilen gegeben; die im 5. Kap. an vierter Stelle genannten Körperteile, von denen es im 22. Kap. heißt, daß sie zwar eine ihnen eigene Versorgung haben, aber von den Zentralorganen gewisse Auswüchse (ἀποφύσεις; damit dürften die Arterien, Venen und Nerven gemeint sein) aufnehmen, werden abweichend von der Einteilung im 5. Kap. als dritte Gruppe gezählt, und schließlich bleibt gänzlich unklar, welche Körperteile unser Autor der Gruppe, die hier als vierte bezeichnet ist, zugerechnet wissen wollte, da von ihnen nur gesagt wird, daß sie, für sich allein genommen, zwar für Prognosen unbrauchbar sind, aber zufälligerweise und dadurch, daß sie in Mitleidenschaft gezogen sind, eine Prognose ermöglichen. Siehe z.B. Gal., De part. homoeom. diff. 9,4–6, aus dem Arabischen hrsg., übers. u. erl. von G. Strohmaier, Berlin 1970, CMG Suppl. Or. III, S. 83,15–85,1.
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Suspekt ist das Einteilungsschema der Körperteile in der Ars medica jedoch vor allem durch die Hinzuzählung der Hoden zu den ἀρχαί. Die Ausführungen des Verfassers lassen | keinen Zweifel daran, daß er unter den ἀρχαί Zentralorgane des Körpers verstanden wissen will, welche die Ausgangspunkte für bestimmte andere Körperteile sind und die Funktionsfähigkeit des gesamten Körpers und seiner Teile gewährleisten. In dieser allgemeinen Form stimmen die Vorstellungen von den ἀρχαί in der Ars medica mit denen des Pergameners überein. Mit der auf Platonischen Vorstellungen fußenden Lehre Galens von den drei Hauptorganen als den für die Regelung des Körpergeschehens zuständigen Zentren und den ihnen zugeordneten drei Seelenteilen, die er in den ersten sechs Büchern seiner Schrift De placitis Hippocratis et Platonis ausführlich dargestellt hat24 und an der er auch noch in seinen Alterswerken De locis affectis und De propriis placitis unverändert festhielt25, hat aber die in der Ars medica erfolgte Erweiterung der Anzahl der ἀρχαί-Organe nichts zu tun, ja sie widerspricht ihr geradezu, da sie die Dreiteilung der Seele in Frage stellt. Auf diesen Widerspruch hat bereits Ph. De Lacy in seinem Kommentar zu De placitis Hippocratis et Platonis hingewiesen26 und als einen weiteren Beleg für die Vierteilung der ἀρχαί eine Stelle aus Galens Therapeutik an Glaukon27 angeführt. Dort werden indessen Leber, Herz, Gehirn und Hoden nicht wie in der Ars medica als die für die Verwaltung des Körpers zuständigen Zentren angesehen, die sich zur Ausübung ihrer Funktionen der aus ihnen herauswachsenden Teile bedienen, sondern lediglich als | ἀρχαὶ δυνάμεων κοινῶν28 ὅλῳ τῷ σώματι, d.h. als Ausgangspunkte für diejenigen Kräfte betrachtet, die sich auf den ganzen Körper auswirken. Da Galen, wie wir aus seiner Behandlung des Eunuchieproblems in der Schrift De semine wissen, vergleichbare Kräfte auch den Hoden als samenbereitenden Organen zugestanden hat29, konnte er sie in der Therapeutik an Glaukon aus diesem Grunde ebenso wie Herz, Leber und Gehirn als ἀρχαί definieren, ohne sie damit den drei anderen Organen in ihrer Eigenschaft als Hauptorganen gleichzustellen und zu seiner Lehre von den Hauptorganen in Widerspruch zu geraten. Mit anderen Worten, die genannte Stelle aus der Therapeutik an Glaukon läßt sich nicht als Beleg für die Klassifizierung der Hoden als ἀρχαί im Sinne eines für die Verwaltung, die διοίκησις des Körpers zuständigen Zentralorgans in der Ars medica heranziehen, so daß die Schlußfolgerung, es ließen sich bei Galen widersprüchliche Aussagen hinsichtlich der Zahl der von ihm als 24
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Vgl. dazu die Inhaltsübersicht von diesem Text bei Ph. De Lacy, in: Gal., De plac. Hipp. et Plat., hrsg., übers. u. erl., Berlin 1978–1984, CMG V 4,1,2, S. 48–50. Zum Beispiel De loc. aff. V 1: VIII 298,10–14 K., und De propr. plac. 3,3; 8,3–5 (zitiert nach dem Manuskript der Ausgabe dieses Textes, das mir freundlicherweise von V. Nutton zur Verfügung gestellt wurde, der die Edition der Schrift für das Corpus Medicorum Graecorum vorbereitet). Zur Entstehungszeit dieser beiden Texte s. Ilberg, I u. IV, Rhein. Mus. 44 (1889), S. 226; 52 (1897), S. 622f. = S. 20 u. 123f. In: CMG V 4,1,2, S. 659, Kommentar zu S. 360,4–13. Gal., Ad Glauc. de med. meth. II 4: XI 97,2f. K. Mit der vom Kühntext abweichenden Lesung κοινῶν folgen wir der handschriftlichen Überlieferung dieser Schrift. Siehe Gal., De sem. I 15f.: IV 569,7–585,14 K. Vgl. dazu E. Lesky, Galen als Vorläufer der Hormonforschung, Centaurus I (1950/1951), S. 156–162, und dies., Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken (Akad. d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. 1950, 19), Wiesbaden 1951, S. 181–183.
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ἀρχαί deklarierten Körperteile feststellen, nicht gezogen werden kann. Das bedeutet aber, daß die in der Ars medica gebotene Vierteilung der ἀρχαί und deren Definition als Verwaltungszentren des Körpers in dem uns überlieferten Corpus Galenicum singulär dasteht und den in den anderen Galenschriften dezidiert dargelegten Auffassungen widerspricht. Anstoß erregt weiterhin die in der Ars medica erfolgte Gleichsetzung der σπερματικὰ ἀγγεῖα, der Ductus deferentes, mit den Nerven, Arterien und Venen, die, wie das Gehirn mit seinen Nerven, das Herz mit seinen Arterien und die Leber mit ihren Venen, als eine morphologische Einheit mit den Hoden angesehen werden. Sie werden ausdrücklich wie | die Nerven, Arterien und Venen als die aus einem bestimmten Organ herauswachsenden und ihm dienenden Teile bezeichnet, von ihrer Funktion als samenableitender Gefäße30 wird indessen nicht gesprochen, und so wird der Eindruck vermittelt, daß die Hoden hier deshalb zu den ἀρχαί gezählt werden, weil aus ihnen, wie aus dem Herzen, dem Gehirn und der Leber auch, bestimmte Teile herauswachsen. Eine derartige Begründung ist bei Galen jedoch kaum vorstellbar, könnte man dann doch zu den ἀρχαί mit der gleichen Berechtigung auch die Nieren, die Harnblase und die Gallenblase hinzuzählen, aus denen die Ureteren, die Urethra und der Choledochus entspringen. Dabei wird außerdem nicht die Tatsache berücksichtigt, daß das in der Leber produzierte Blut, das im Herzen erzeugte πνεῦμα ζωτικόν und das im Gehirn bereitete πνεῦμα ψυχικόν Substanzen darstellen, deren Vorhandensein und Wirkung für die Aufrechterhaltung des Lebens unerläßlich sind, während der in den Hoden produzierte Samen zwar für die Fortpflanzung notwendig ist und zum vollentwickelten Organismus gehört, aber keine lebenserhaltende Funktion hat. Auf die Körperteile bezogen, formuliert Galen diesen Sachverhalt in De usu partium, wo er drei Arten von Organen unterscheidet, von denen die einen, und das sind Herz, Leber und Gehirn, ἕνεκα τοῦ ζῆν vorhanden sind, die anderen ἕνεκα τοῦ βέλτιον ζῆν, wie Augen, Ohren und Nase, und die dritten, nämlich die äußeren Genitalien, die Hoden und die Gebärmutter, wegen der Fortpflanzung geschaffen sind31. Noch eindeutiger heißt es in De semine, daß das Herz eine Quelle des Lebens als solchen sei, die Hoden aber eine Quelle für ein naturgemäßes Leben darstellten32. So wird in der Ars medica auch hierbei ein Einteilungskriterium ver|wandt, das sich mit den sonstigen Anschauungen Galens nicht in Übereinstimmung bringen läßt. Merkwürdig muten außerdem die im Anschluß an die Einteilung der Körperteile sich in der Ars medica findenden Ausführungen über die das Gehirn kennzeichnenden σημεῖα an. Es wird erklärt, daß die Schnelligkeit im Denken das Kennzeichen einer feinteiligen, die Langsamkeit im Denken dagegen das einer grobteiligen Gehirnsubstanz sei; weiterhin heißt es, die schnelle Auffassungsgabe sei das Zeichen für eine leicht prägbare Gehirnsubstanz, ein gutes Gedächtnis das für eine feste und im Unterschied dazu die langsame Auffassungsgabe das einer schwer prägbaren und die Vergeßlichkeit das einer fließenden Substanz, und schließlich zeichne die Bereitschaft zur Änderung der Ansichten die warme und das Beharren auf eigenen Meinungen die kalte
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Vgl. Gal., De usu part. XIV 10, hrsg. von G. Helmreich, Bd. II, Leipzig 1909, S. 318,3–319,3 = IV 186,2–187,8 K. Ebd. XIV 1: II, S. 284,21–285,1 Helmr. = IV 142,5–9 K. Gal., De sem. I 15: IV 574,9f. K.
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Substanz aus33. Diese Ausführungen sind nicht deswegen auffällig, weil sie, wie R. E. Siegel annehmen zu müssen glaubt34, Galens Darlegungen in De usu partium entgegenstünden, wo dieser feststellt, daß man im Gegensatz zu der Auffassung des Erasistratos, die Intelligenz hinge von der Anzahl der Windungen des Gehirns, d.h. von der Struktur der Gehirnsubstanz ab, davon auszugehen habe, daß das Denkvermögen an die Krasis der Substanz des denkenden Körpers gebunden ist, was immer dieser Körper auch sein mag35; die genannten Ausführungen in der Ars medica sind vielmehr deswegen außergewöhnlich, weil in ihnen die einzelnen Gehirnfunktionen und die unterschiedlichen Formen der Verstandestätigkeit ohne jeden Vorbehalt mit der unterschiedlichen Beschaffenheit der Gehirnsubstanz in Verbindung gebracht werden, obwohl Galen sich sonst hinsichtlich der Substanz der denkenden Seele nicht festlegt und dazu neigt, nicht das Gehirn selbst, sondern | das πνεῦμα ψυχικόν, genauer gesagt, dessen Qualität dafür verantwortlich zu machen36. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch, daß in der Ars medica die Feststellung getroffen wird, der hintere Teil des Gehirns, das Cerebellum, sei der Ursprungsort für sensible Nerven, wenn auch nur für einige wenige von ihnen37, während in De usu partium ausdrücklich erklärt wird, aus dem Kleinhirn wachse überhaupt kein weicher, d.h. sensibler, Nerv heraus38. Es läßt sich mithin festhalten, daß die Ausführungen in der Ars medica auch hierin von den Anschauungen Galens abweichen. Überdies widerspricht es auch seinem Sprachgebrauch, wenn im gleichen Zusammenhang die motorischen Nerven, die Galen sonst als νεῦρα σκληρά, κινητικά oder als προαιρετικά zu bezeichnen pflegt39, ausschließlich νεῦρα πρακτικά genannt werden40. In Anbetracht der von uns genannten Abweichungen wird man nicht umhinkönnen, Zweifel an der Echtheit der Ars medica zu äußern. Angesichts dessen, was wir eingangs festgestellt haben (s. oben S. 216f. [= S. 184f.]), steht es außer Frage, daß wir es bei ihr, wenn unsere Vermutung zutrifft, mit einer bewußten Galenfälschung zu tun hätten. Außer Frage steht auch, daß der Verfasser, dem im Proömium geäußerten Vorhaben entsprechend, Galenisches Material in seiner Schrift verarbeitet hat. Daß er es dabei nach heutigem Empfinden an der nötigen Konsequenz fehlen ließ, wollen wir nicht bestreiten. Wir möchten aber gleichzeitig zu bedenken geben, daß | mangelnde Konsequenz nicht die einzige Fehlleistung ist, die wir dem Autor nachweisen können. Bei genauerem Zusehen fällt nämlich auf, daß seine Ausführungen häufig genug ähnlich wie bei dem oben besprochenen Einteilungsschema der Körperteile sowohl in sprachlicher wie in sachlicher Hinsicht Verständnisschwierigkeiten bereiten, was ganz offensichtlich daraus resultiert, daß unser Autor mit der selbstgestellten, zugestande33 34 35 36
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Gal., Ars med. 6: I 322,13–17 K. Siegel, S. 182. Gal., De usu part. V III 13: I, Leipzig 1907, S. 488,14–26 Helmr. = III 673,9–674,3 K. Siehe Gal., ebd.: I, S. 488,26–489,2 Helmr. = III 674,3–5 K. Vgl. Gal., In Hipp. Epid. VI comm. V 5, hrsg. von E. Wenkebach, Berlin 1956, CMG V 10,2,2, S. 271,19–24, und De plac. Hipp. et Plat. VII 3,30: CMG V 4,1,2, S. 446,11–15. Gal., Ars med. 6: I 321,15f. K. Gal., De usu part. VIII 6: I, S. 462,17f. Helmr. = III 638,8f. K. Siehe z.B. Gal., De usu part. VIII 6: I, S. 462,3. 19 Helmr. = III 637,14; 638,10 K.; De plac. Hipp. et Plat. I 10,1; VII 5,16: CMG V 4,1,2, S. 96,13; 456,20. Gal., Ars med. 6: I 321,15. 17; 322,1 K.
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nermaßen schwierigen, Aufgabe, Galens Lehren in Kurzfassung zu reproduzieren, intellektuell überfordert war. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür ist die Beschreibung von Ursachen im Zusammenhang mit Stichwunden (νύγμα) an Nerven und Sehnen im 31. Kapitel der Ars medica (I 388,11–15 K.), die folgenden Wortlaut hat: Νεύρου δὲ καὶ τένοντος νύγμα διά τε τὸ περιττὸν τῆς αἰσθήσεως, καὶ διότι συνεχές ἐστι πρὸς τὴν ἀρχὴν τὸ μόριον, ἕτοιμον ἐπικαλέσασθαι σπασμούς, καὶ μάλισθ᾽ ὅταν μηδὲν διαπνέηται πρὸς τὰ ἐκτὸς τυφλωθείσης τῆς τοῦ δέρματος τρώσεως. („Eine Stichwunde an Nerv und Sehne ist wegen der reichen Ausstattung mit Wahrnehmungsfähigkeit und deswegen, weil der Teil mit dem Zentralorgan verbunden ist, leicht dazu angetan, Krämpfe herbeizuführen, und besonders, wenn nichts nach außen verdunstet, weil sich die Wunde an der Haut verschlossen hat.“) Abgesehen von Härten in der Darstellungsform, wie sie in der fehlenden Angabe des Körperteils, der reichlich mit Wahrnehmungsvermögen ausgestattet sein soll, in der fehlenden Charakterisierung des Zentralorgans als des Gehirns oder der Wiederaufnahme von νεύρου καὶ τένοντος mit τὸ μόριον bestehen, sind die Einbeziehung der Sehnen in das Krankheitsbild der Stichwunden und vor allem die Hauptaussage des Satzes, nämlich daß eine Stichwunde an Nerv und Sehne zu Krämpfen führt, falsch, zumindest entspricht das nicht der Darstellung des betreffenden Sachverhalts in der Methodus medendi (V I 3: X 403,5–13 K.), auf die unser Autor für die detaillierte Behandlung dieses Gegenstandes selbst verweist (I 388,17–389,1 K.). Der Grund dafür ist, daß der Verfasser | der Ars medica einzelne Textstücke aus dem 2. Kapitel des V I. Buches der Methodus medendi, in dem Galen sich über die Therapie von Stichwunden an den Nerven ausläßt, und aus dem 3. Kapitel desselben Buches, in dem von der Behandlung der in Schnittwunden bestehenden Verletzung der Nerven die Rede ist, im Zuge der Kürzung aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und sie, im sprachlichen Ausdruck mehr oder weniger leicht verändert, zu einem neuen Ganzen zusammengefügt hat, wie aus dem Vergleich mit dem Wortlaut der betreffenden Passagen aus der Methodus medendi unschwer zu ersehen ist: V I 2: X 391,5–10 K. ἐπειδὰν νυγῇ νεῦρον, ἀναγκαῖον αὐτῷ διὰ περιττὸν τῆς αἰσθήσεως ὀδυνᾶσθαί τε μειζόνως … εὔλογον οὖν ἐφαίνετό μοι τὴν μὲν τοῦ δέρματος τρῶσιν ἀκόλλητον φυλάττειν, ὅπως ἐκρέοιεν δι᾽ αὐτῆς οἱ ἐκ τῆς τοῦ νεύρου τρώσεως ἰχῶρες … („Wenn ein Nerv durch einen Stich verletzt wird, muß er wegen der reichen Ausstattung mit Wahrnehmungsfähigkeit in stärkerem Maße schmerzen … Es erschien mir nun vernünftig, die Wunde an der Haut unverklebt zu erhalten, damit die aus der Wunde des Nerven herrührende Flüssigkeit ab��ießen kann […]“); V I 3: X 403,5–13 K. καὶ γὰρ καὶ τούτου χρὴ μάλιστα φροντίζειν ἀεί, τοῦ μηδὲν τῶν ψαυόντων τῆς τρώσεως ψυχρὸν εἶναι, ἐπειδὴ τὸ πεπονθὸς μόριον (scil. τὸ τῇ τομῇ τρωθὲν νεῦρον) αἰσθητικώτατόν ἐστι καὶ τῇ κυριωτάτῃ τῶν ἀρχῶν συνεχὲς ἔτι τε τῇ κράσει ψυχρότερον· … εἰ δὲ καὶ τῶν εἰς μῦς καθηκόντων εἴη (scil. τὸ νεῦρον), καὶ σπασμοὺς ἐπικαλεῖται ῥᾳδίως· ἐδείχθησαν γὰρ οἱ μύες ὄργανα τῆς κατὰ προαίρεσιν κινήσεως. οὕτω δὲ καὶ ἐπὶ τῶν τενόντων προσδόκα γενήσεσθαι διὰ τὰς αὐτὰς αἰτίας. („Denn in der Tat muß man immer auch besonders darauf achten, daß keines von den Medikamenten, die mit der Wunde in Berührung kommen, kalt ist, weil der erkrankte Teil (scil. der durch einen Schnitt verletzte Nerv) in höchstem Grade wahrnehmungsfähig ist, mit dem wichtigsten Zentralorgan zusammenhängt und noch dazu seiner Mischung nach recht kalt ist; … Wenn es sich aber um einen von
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den | zu den Muskeln führenden Nerven handeln sollte, führt er auch leicht Krämpfe herbei; die Muskeln wurden nämlich als Organe der willentlichen Bewegung erwiesen. Erwarte aber, daß es sich so aus denselben Ursachen auch bei den Sehnen abspielen wird.“) Wie Galen selbst berichtet, wurden schon zu seinen Lebzeiten Schriften auf seinen Namen gefälscht41. Die Ankündigung von einem oder zwei Schriftenverzeichnissen am Schluß des Katalogs in der Ars medica42 spricht jedoch dafür, daß unserem Autor die beiden Abhandlungen des Pergameners über seine eigenen Werke, die dieser am Ende seiner bis ins hohe Alter reichenden schriftstellerischen Tätigkeit verfaßt hat, bekannt gewesen sein dürften, so daß man im Falle der Ars medica davon auszugehen hätte, daß sie erst nach Galens Tod entstand, allerdings nicht allzu lange danach, da die Schrift in der uns überlieferten Fassung bereits im 4. Jh. von Oreibasios benutzt wurde43. Als Ursprungsort der Ars medica wird man vielleicht das spätantike Alexandrien mit seinem Schulbetrieb vermuten dürfen, in dessen Rahmen die Schrift, eben weil sie Galenisches Gut in überschaubarer Form zusammenzufassen vorgab, benutzt und wenig später in das Corpus Galenicum eingereiht wurde.
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Siehe Gal., De libr. propr. 1: Scripta minora II, S. 91,3–92,9 = XIX 8,5–9,18 K. Ars med. 37: I 411,18–412,3 K. Siehe z.B. Orib., Coll. med. rel. lib. inc. 44,1f. 3. 8; 45–50, hrsg. von J. Raeder, Leipzig u. Berlin 1933, CMG VI 2,2, S. 151,5–13. 14–17; 152,6–9; 152,19–155,21.
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1. RENÉ CHART IER – HERAUSGEBER UND FÄLSCHER DER W ERKE GALENS*
I Die zuletzt in der Kühnschen Galenausgabe1 abgedruckten pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί enthalten eine Reihe von Definitionen2, die in der uns bekannten handschriftlichen Überlieferung zu dieser Schrift3 fehlen. Sie fehlen ebenso in den beiden ältesten Galendrucken4 und tauchen erst in der von René Chartier (1572–1654) besorgten griechisch-lateinischen Gesamtausgabe der Werke des Hippokrates und des Galen5 auf. Von dort gelangten sie in die heute noch maßgebliche Ausgabe von Kühn, der – auch im Falle unserer Schrift – nur einen Abdruck des Chartierschen Textes bringt. Man wird sich also nach der Quelle für die erweiterte Textfassung der Ὅροι bei Chartier umsehen müssen, und zwar | um so mehr, als die Vorliebe des französischen Herausgebers, Galentexte zu „vervollständigen“, genugsam bekannt ist6. * Erschienen in: Klio 48, 1967, S. 183–198. 1
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Claudii Galeni Opera omnia, hrsg. von C. G. Kühn, Bd. XIX, Leipzig 1830 (Nachdruck Hildesheim 1965), 346–462. XIX 353,2 δόγμα – 4; 359,10–12; 362,12 ταύτῃ – 13 ἐστι; 367,6f.; 370,16 ἢ – 17 πνεύματος; 380,12 φωνὴ1 – ἄλλως; 382,1 ἢ – 3; 383,4 εὔχροια – 5 κάλλος; 388,11 ἄλλως – 14 κτείνει; 389,2–6. 9–11; 391,6 ἄλλως – 8. 10f.; 395,4f. 13 ἢ – 15; 396,3–4 ἢ; 398,5–7 γενομένων; 399,1 ἢ – 3; 401,1f. 16 ἢ – 17 κίνησις; 403,13 ἄλλως – 17; 404,17f.; 405,7f. 15–406,4; 406,11 ἢ – 407,10; 407,13–15; 408,1 ἢ – 2. 5f.; 409,8–14; 410,1 ἔκρυθμος – 3; 413,17 ἢ – 414,2; 415,8 ἢ – 9; 417,1–6. 12 ἢ – 16; 418,6f.; 419,5 ἢ – 7; 420,6 ἢ – 7; 422,6 ἄλλως – 9; 425,10 ἢ – 13; 426, 3 ἢ – 6; 434, 2 ἢ – 3; 442, 2 ἢ – 5. 8f.; 445,14; 459,7 ἢ – 9. Siehe H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, I. Teil, Abhandlungen d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss., Berlin 1905, 111; dens., Bericht über den Stand des interakademischen Corpus medicorum antiquorum und Erster Nachtrag zu den in den Abhandlungen 1905 und 1906 veröffentlichten Katalogen: Die Handschriften der antiken Ärzte, I. und II. Teil, Abhandl. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1907, Berlin 1908, 36. Zu den dort nicht verzeichneten Handschriften gehören: London, Wellcome Historical Medical Library 289, s. XVI, f. 1–30; Parisin. gr. 2153, s. XV, f. 29–36v; Parisin. gr. suppl. 1328, s. XVI, f. 1–87. Galeni Opera omnia, Venedig 1525 (Aldina), Bd. IV, f. 11–17; Galeni Pergameni … Opera omnia …, Basel 1538, Bd. IV, 390–403. Der Text der Definitiones medicae in der von T. Platter und B. Lasius besorgten griechisch-lateinischen Einzelausgabe der Schriften Εἰσαγωγὴ ἢ ἰατρός und Ὅροι ἰατρικοί (erschienen unter dem Titel Medicorum schola, Basel 1537) geht ebenfalls nicht über den Textbestand der Handschriften hinaus. Hippocratis Coi et Claudii Galeni Pergameni archiatron opera, Paris 1679, Bd. II, 232–281. Siehe Claudii Galeni De placitis Hippocratis et Platonis libri novem, hrsg. von I. Müller, Leipzig 1874, 45–60; Doxographi Graeci, hrsg. von H. Diels, 2. Aufl., Berlin u. Leipzig 1929, 240f.; J. Mewaldt, Eine Fälschung Chartiers in Galens Schrift über das Koma, Sitzungsberichte d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1913, 259–270; E. Wenkebach, Pseudogalenische Kommentare zu den Epidemien des Hippokrates, Abhandlungen d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1917, Phil.-hist. Kl. Nr.
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
Die Ὅροι ἰατρικοί gehören zu den wenigen Schriften in der Ausgabe Chartiers, deren Text mehr als nur ein schlichter Abdruck des in der Basileensis vorliegenden Textes ist. Chartier gibt selbst an, für die Textgestaltung dieser Schrift in den früheren Drucken unberücksichtigt gebliebene griechische Handschriften aus der Königlichen Bibliothek in Paris herangezogen zu haben, denen er einen gegenüber der Basileensis vollständigeren und geordneteren Ὅροι-Text entnehmen konnte, wenn man seinen Worten Glauben schenken darf7. Die Handschriftenkollationen, die ich jetzt für eine textkritische Ausgabe der Definitiones medicae durchgeführt habe, zeigen jedoch, daß von den sieben heute in Paris aufbewahrten Codices, in denen unsere Schrift überliefert ist, nur einer, der Parisinus gr. 2153, einen von dem Text der Basileensis im Umfang wesentlich abweichenden Textbestand hat, daß Chartier mithin bestenfalls einen weiteren Textzeugen benutzt haben kann8. Daß Chartier wirklich diese und keine andere Handschrift herangezogen hat, läßt sich mit einiger Sicherheit feststellen, auch wenn man davon ausgehen muß, daß seine Arbeitsweise keineswegs konsequent war9. 1. Die Definitionen XIX 349,12–17; 351,4f.; 379,13f.10; 388,9–11; 396,8f.; 415,11–17; 430,13f.; 444,5f. 15f.; 448,8f. K., die sich zum erstenmal in dem Chartierschen Ὅροι-Text finden, sind Sondergut der durch den Parisin. 2153 vertretenen Überlieferung. | 2. Bei den Definitionen, die in der Basileensis fehlen, aber außer im Parisin. 2153 noch im Vindobon. med. gr. 16 und teilweise auch in den Exzerpthandschriften enthalten sind, läßt sich beobachten, daß der Chartiertext auffallend eng mit dem des Parisin. zusammengeht, z.B.:
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1, 3–62; dens., Beiträge zur Textgeschichte der Epidemienkommentare Galens, II. Teil, Abhandlungen d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1928, Phil.-hist. Kl. Nr. 9, 18f. In seinen Anmerkungen zu den Definitiones medicae schreibt Chartier: ,,Libri interpretes duo insignes habentur Ianus Philologus, et Bartholomaeus Sylvanus Salonensis, quorum Latina interpretatio quum Graecam seriem excederet, ad manuscriptos codices regios confugimus locupletiores a nobis compertos …“ (a. a. O., 404). Der Parisin. 2153 gelangte 1622 in die Bibliothek Ludwigs XIII., so daß es nicht zu verwundern ist, daß Chartier gerade diese Handschrift für die Textkonstituierung der Definitiones medicae mit ausgewertet hat; s. J. Ilberg, Die Überlieferung der Gynäkologie des Soranos von Ephesos, Abhandlungen d. Königl. Sächs. Ges. d. Wiss. XXVIII Nr. 2, Leipzig 1910, 11. Den Mosquens. Syn. 51 (464), dessen Ὅροι-Text, soweit ich es bisher beurteilen kann, zwar keine Abschrift aus dem Parisin. 2153 ist, aber vermutlich aus derselben Vorlage stammt wie der Parisinus, möchte ich auf Grund seines Aufbewahrungsortes von vornherein als mögliche Quelle Chartiers ausschalten. Außerdem fehlt XIX 415,16 K. – in einer Definition, die nur im Parisin. 2153 und im Mosquens. Syn. 51 überliefert ist – im Mosquens. ein τε, das im Parisinus da ist und auch bei Chartier im Text steht. Diese Definition findet sich auch im Marcian. App. cl. V 9. Doch scheidet dieser Codex als Vorlage Chartiers ebenfalls aus, da er den Ὅροι-Text nur bruchstückhaft überliefert hat und von dem Sondergut des Parisin. 2153, das Chartier in seinen Text aufgenommen hat, insgesamt nur drei Stellen bietet.
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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Parisin. 2153 fol. 30r
Chartier (= XIX 360,16–18 K.)
Vindob. med. gr. 16 fol. 289v
ἧπαρ ἐστὶν οὐσία ἐρυθρὰ· σαρκώδη μείωσιν ἔχουσα· τεταγμένη ἐν τοῖς δεξιοῖς μέρεσιν. ἐν ἧ γεννᾶται τὸ αἷμα· πρὸς ἀποτροφὴν τοῦ παντὸς σώματος.
ἧπάρ ἐστιν οὐσία ἐρυθρὰ, σαρκώδη μείωσιν ἔχουσα, τεταγμένη ἐν τοῖς δεξιοῖς μέρεσιν, ἐν ᾗ γεννᾶται τὸ αἷμα πρὸς ἀποτροφὴν τοῦ παντὸς σώματος.
ἧπαρ ἐστὶν οὐσία ἐρυθρὰ σαρκώδης μείωσιν ἔχουσα, τεταγμένη ἐν τοῖς δεξιοῖς μέρεσιν ἐν ἧ γεννᾶται τὸ αἷμα. ἐξ ἧς ἐκπεφύκασι φλέβες· δι᾽ ὧν καὶ χορηγεῖται τὸ αἷμα πρὸς ὑποτροφὴν τοῦ παντὸς σώματος.
Parisin. 2153 fol. 31v
Chartier (= XIX 377,8–378,3 K.)
Vindob. med. gr. 16 fol. 292v
κέντρον δὲ λέγω τὸ μὲν κατὰ τὴν σύμπτωσιν τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης ἐπὶ τὰ ἔξω ῥεῖν καὶ πάλιν ἀπὸ τῶν ἔξω ἐπὶ τὸ κέντρον πίπτειν δόξειν ἐπ᾽ εὐθείας κινεῖσθαι· εἰ δὲ θέλεις αὐτοῖς τοῖς πράγμασι τὴν τῆς ἀρτηρίας θεάσασθαι κίνησιν, ἔστω σοι εἰκὼν σαφὴς τοῦ λεγομένου. ἀναλαβὼν λίθον τις ἀκοντίσει ἐν ὕδατι· εἶτα τὴν ἐκ τοῦ λίθου πληγὴν νοήσεις τὴν ἀρτηρίαν· ὁ γενόμενος ἐκ ταύτης κύκλος, σαφῆ σοι τὴν διαστολὴν ἀπεργάζεται. εἰ δ᾽ αὖ πάλιν μὴ ἐπ᾽ ἄπειρον ἰόντα τούτου τὸν κύκλον νοήσεις· ἀλλὰ στάντα καὶ ἀρξάμενον κατ᾽ ὀλίγον ἐλαττοῦσθαι, ἕως ἂν εἰς ἐκεῖνον καταντήσει τὸν τόπον, ὅθεν τὴν ἀρχὴν τῆς γεννήσεως ἔλαβεν.
κέντρον δὲ λέγω τὸ μὲν μέσον σημεῖον κατὰ τὴν σύμπτωσιν τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης οὑτωσοῦν ἐπὶ τὰ ἔξω ῥεῖν, καὶ πάλιν ἀπὸ τῶν ἔξω ἐπὶ τὸ κέντρον πίπτειν, δόξειν ἐπ᾽ εὐθείας κινεῖσθαι. εἰ δὲ θέλεις αὐτοῖς τοῖς πράγμασι τὴν τῆς ἀρτηρίας θεάσασθαι κίνησιν, ἔστω σοι εἰκὼν σαφὴς τοῦ λεγομένου. ἀναλαβὼν λίθον τις ἀκοντίσει ἐν ὕδατι, εἶτα τὴν ἐκ τοῦ λίθου πληγὴν νοήσεις τὴν ἀρτηρίαν, ὁ γενόμενος ἐκ ταύτης κύκλος σαφῆ σοι τὴν διαστολὴν ἀπεργάζεται. εἰ δὲ αὖ πάλιν μὴ ἐπ᾽ ἄπειρον ἰόντα τούτου τὸν κύκλον νοήσεις, ἀλλὰ στάντα καὶ ἀρξάμενον μετ᾽ ὀλίγον ἐλαττοῦσθαι, ἕως ἂν εἰς ἐκεῖνον καταντήσει τὸν τόπον, ὅθεν τὴν ἀρχὴν τῆς γεννήσεως ἔλαβεν.
κέντρον δὲ λέγω τὸ μὲν κατὰ σύμπτωσιν ἀρτηρίας διαστελλομένης ἐπὶ τὰ ἔξω ῥεῖν καὶ πάλιν ἀπὸ τοῦ ἔξω ἐπὶ τὸ κέντρον πίπτειν, δόξει ἐπ᾽ εὐθείας κινεῖσθαι. εἰ δὲ θέλεις αὐτοῖς πράγμασι τὴν τῆς ἀρτηρίας θεάσασθαι κίνησιν, ἔστω σοι εἰκὼν σαφὴς τοῦ λεγομένου· ἂν λαβὼν λίθον ἀκοντίσης ἐν ὕδατι, εἶτα τὴν ἐκ τοῦ λίθου πληγὴν νοήσης κέντρον ἀρτηρίας, ὁ γενόμενος ἐκ ταύτης κύκλος σαφῆ σοι τὴν διαστολὴν ἀπεργάζεται. εἰ δ᾽ αὖ πάλιν μὴ ἐπ᾽ ἄπειρον ἰόντα τοῦτον τὸν κύκλον νοήσεις ἀλλὰ στάντα καὶ ἀρξάμενον κατ᾽ ὀλίγον ἐλαττοῦσθαι· ἕως οὗ, εἰς ἐκεῖνον καταντήση τὸν τόπον, ὅθεν τὴν ἀρχὴν τῆς γεννήσεως ἔλαβε.
3. Bei den Definitionen, in denen der Text des Parisin. 2153 von dem der Basileensis mehr oder weniger abweicht, hat Chartier häufig beide Fassungen kontaminiert, wie z.B.: Parisin. 2153 fol. 36v
Basil. IV 395
Chartier (= XIX 391,1f. K.)
νόσημα δέ ἐστιν ἔμμονος κατασκευὴ παρὰ τὰ μετέχοντα τοῦ ζῆν σώματα.
νόσημα ἐστὶν ἔμμονος κατασκευὴ περὶ τὰ μετέχοντα τοῦ ζῆν σώματα.
νόσημα ἔμμονόν ἐστιν ἔμμονος κατασκευὴ παρὰ φύσιν περὶ τὰ μετέχοντα τοῦ ζῆν σώματα. |
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
Parisin. 2153 fol. 32v
Basil. IV 395
Chartier (=XIX 394,13f. K.)
σημείωσις ἐστὶν εἶδος σημείου ἢ διὰ σημείων κατάληψις.
σημείωσις ἐστὶν ἡ διὰ σημείου ἢ διὰ σημείων κατάληψις.
σημείωσίς ἐστιν εἶδος σημείου ἢ διὰ σημείου ἢ διὰ σημείων κατάληψις.
Parisin. 2153 fol. 33r
Basil. IV 396
Chartier (= XIX 401,15f. 17f. K.)
περίοδός ἐστιν ἐξ ἐπιτάσεως ἀνέσεως ἐν νοσήμασι χρονίοις τῶν αὐτῶν ἀπόδοσις.
περίοδος ἐστὶν ἐξ ἐπιτάσεως καὶ ἀνέσεως ἐν νοσήμασι χρόνος.
περίοδός ἐστιν ἐξ ἐπιτάσεως καὶ ἀνέσεως ἐν νοσήμασι χρόνος. ἢ οὕτως· περίοδός ἐστιν ἐν νοσήμασι χρονίοις ἡ ἐξ ἐπιτάσεως καὶ ἀνέσεως ἀπόδοσις.
Parisin. 2153 fol. 32r
Basil. IV 401
Chartier (= XIX 445,8–10 K.)
ὑποσπαδίας ἐστὶ πάθος ἐφ᾽ οὗ ἡ βάλανος ἐπίκειται καὶ τὸ τῆς οὐρήθρας τρήμμα ὑπόκειται.
ὑπασπιδιὰς ἐστὶ πάθος ἐφ᾽ οὗ ἡ βάλανος ἐφείλκυσται.
ὑποσπαδίας ἐστὶ πάθος ἐφ᾽ οὗ ἡ βάλανος ἐφείλκυσται. ἢ ἔστι πάθος ἐφ᾽ οὗ ἡ βάλανος ἀπόκειται καὶ τὸ τῆς οὐρήτρας τρίμμα ὑπόκειται.
II
187
Abgesehen von den bloßen Änderungen, die Chartier am Wortlaut der einzelnen Definitionen vornahm, hat er seinen Ὅροι-Text auf Grund des Codex Parisin. 2153 gegenüber dem Text der Basileensis um 73 Definitionen erweitert, wobei es der Darstellung der Überlieferungsgeschichte zu den Definitiones medicae vorbehalten bleibt zu untersuchen, wieweit diese – wenn auch handschriftlich bezeugten – Definitionen als genuin zu betrachten und in den Text der künftigen Ausgabe aufzunehmen sind. Darüber hinaus gibt es noch 71 ὅροι11, die sich weder in dem von Chartier benutzten Parisin. 2153 noch in einer der anderen Ὅροι-Handschriften finden. M. Wellmann hat in seiner Monographie „Die pneumatische Schule bis auf Archigenes“12 darauf aufmerksam gemacht, daß die Definition des akuten und chronischen Kopfschmerzes (XIX 417,1–6 K.) ein wörtliches Zitat aus dem Lehrbuch über akute und chronische Krankheiten des Aretaios von Kappadokien13 ist. Für Wellmann ergab sich daraus der Schluß, daß der Verfasser der Ὅροι den Aretaios benutzt habe, und er sah sich infolgedessen berechtigt, diese Tatsache zum Ausgangspunkt für die Datierung und medizingeschichtliche Einordnung unserer Schrift zu machen. Wie ich inzwischen feststellen konnte, ist diese Definition jedoch handschriftlich nicht überliefert und fehlt auch in den Drucken, die vor der Ausgabe Chartiers erschienen sind. Also hat sie nicht der Verfasser der Ὅροι, sondern erst Chartier | aus Aretaios in die Definitiones medicae übernommen. Dabei hat er sein Vorgehen nicht einmal dadurch zu verwischen versucht, daß er den ionischen Dialekt des Kappadokiers der Sprache der Ὅροι anglich. Chartier stellte dem Aretaioszitat lediglich eine 11 12 13
Siehe oben S. 183 Anm. 2 (= S. 187 Anm. 2). Philologische Untersuchungen 14, Berlin 1895, 66. Hrsg. von C. Hude, Corpus Medicorum Graecorum II, 2. Aufl., Berlin 1958, S. 36,19–22.
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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– vermutlich von ihm selbst aus dem Aretaiostext abgeleitete – Definition beider Kopfschmerzarten in einem kurzen Satz voran. Chartier
Aretaios
τὸ μὲν τῆς κεφαλῆς ἄλγος μὴ χρόνιόν ἐστι κεφαλαλγία, χρόνιον δὲ κεφαλαία. ἢν ἀλγέῃ κεφαλὴ σχεδίως ἐπὶ προσκαίρῳ αἰτίῃ, κἢν ἐπὶ πλεῦνας, κεφαλαλγίη καλέεται. ἢν δὲ διεθίζει χρόνῳ μακρῷ τὸ ἄλγημα, καὶ περιόδοισι μακρῇσι καὶ πολλῇσι, καὶ προσεπιγίγνεται μέζω τε καὶ πλεῦνον δυσαλθῇ, κεφαλαίην κικλήσκομεν.14
ἢν ἀλγέῃ κεφαλὴ σχεδίως ἐπὶ προσκαίρῳ αἰτίῃ, κἢν ἐπὶ πλεῦνας, κεφαλαλγίη καλέεται. ἢν δὲ διεθίζῃ χρόνῳ μακρῷ τὸ ἄλγημα, καὶ περιόδοισι μακρῇσι καὶ πολλῇσι, καὶ προσεπιγίγνηται μέζω τε καὶ πλεῦν δυσαλθῆ, κεφαλαίην κικλήσκομεν.
Durch den Hinweis von Wellmann aufmerksam gemacht, gelang es mir, weitere 40 der handschriftlich nicht bezeugten Definitionen als Zitate aus den Werken anderer antiker Mediziner – zumeist Galens – zu verifizieren. Einige von ihnen sind wie die besprochene Aretaiosstelle wörtliche Zitate; bei anderen hat Chartier jedoch auch den ihm vorliegenden Wortlaut mehr oder weniger umgeformt, hauptsächlich deshalb, um ihn dem sonst üblichen Schema der Definitionen anzupassen, wobei er sich z.T. auf Formulierungen aus dem Hippokrateslexikon seines älteren Zeitgenossen Anutius Foesius15 stützte, dem er auch die Mehrzahl der Stellennachweise verdankt. Die folgende Gegenüberstellung der Chartierschen ὅροι mit dem ursprünglichen Wortlaut mag dies veranschaulichen: 1. Wörtliche Zitate XIX 395,14 K.
Gal. Method. med. (X 101,2 K.)
(συνδρομή ἐστι) τὸ τῶν συμπτωμάτων ἄθροισμα.
(οὕτω [sc. συνδρομὴν] ἀξιοῦσιν ὀνομάζειν …) τὸ τῶν συμπτωμάτων ἄθροισμα.
XIX 403,14f. K.
Gal. De trem., palp., conv. et rig. (VII 588,17–589,1 K.)
παλμὸς κίνησις ἀβούλητός τε καὶ ἀκούσιος ἐπαιρομένων τε καὶ καταφερομένων τῶν παλλομένων μερῶν.
παλμὸς … κίνησις … ἀβούλητός τε καὶ ἀκούσιος ἐπαιρομένων τε καὶ καταφερομένων τῶν παλλομένων μερῶν.
XIX 403,15–17 K.
Gal. De sympt. caus. (V II 159,18f. K.)
παλμός ἐστι μὲν διαστολὴ παρὰ φύσιν, ἐν ἅπασι δὲ γίνεται τοῖς μορίοις ὅσα γε διαστέλλεσθαι πέφυκεν.
… παλμός ἐστι διαστολὴ παρὰ φύσιν, ἐν ἅπασι δὲ γίγνεται τοῖς μορίοις, ὅσα γε διαστέλλεσθαι πέφυκεν.
14
15
Chartier hat diese Definitionen nach Foesius (Oeconomia Hippocratis alphabeti serie distincta, Frankfurt 1588, s.v. κεφαλαία; ich habe die 2. Aufl., Genf 1662, benutzt) zitiert, woraus die geringen Abweichungen in seinem Text gegenüber dem von Hude resultieren, die sich mit Ausnahme der falschen Form δυσαλθῇ auch bei Foesius finden. Siehe vorhergehende Anmerkung.
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188
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
XIX 407,14f. K.
Gal. De puls. (VIII 461,14 K.)
τεταγμένος (sc. σφυγμός) ὁ κατὰ περίοδον ἴσος.
τεταγμένος … (sc. σφυγμός) ὁ κατὰ περίοδον ἴσος. |
XIX 415,8f. K.
Gal. Ling. s. dict. exolet. Hipp. explicatio (XIX 147,15 K.)
τυφωμανία ἐστὶ μικτὸν ἐκ φρενίτιδος καὶ ληθάργου πάθημα.
τυφωμανίηÇ μικτὸν ληθάργου πάθημα.
ἐκ
φρενίτιδος
καὶ
XIX 417,12–16 K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVII B 677,4–7 K.)
σκοτόδινός ἐστιν ἐπειδὰν ἅμα περιδινεῖσθαι δοκεῖ τὰ βλεπόμενα, ἥ τε διὰ τῆς ὄψεως αἴσθησις ἐξαίφνης ἀπολεῖται, δοκούντων αὐτῶν σκότος περικεχύσθαι. γίγνεται δὲ τοῦτο, τοῦ στόματος τῆς κοιλίας ὑπὸ μοχθηρῶν χυμῶν δακνομένου.
σκοτόδινος … ἐστὶν, ἐπειδὰν ἅμα περιδινεῖσθαι δοκῇ τὰ βλεπόμενα, ἥ τε διὰ τῆς ὄψεως αἴσθησις ἐξαίφνης ἀπολεῖται, δοκούντων αὐτῶν σκότος περικεχύσθαι. γίγνεται δὲ τοῦτο τοῦ στόματος τῆς κοιλίας ὑπὸ μοχθηρῶν χυμῶν δακνομένου.
XIX 420,6f. K.
Gal. De diff. resp. (V II 753,1f. K.)
δύσπνοια βλάβη τις ἀναπνοῆς ἐστιν.
δύσπνοια βλάβη τις τῆς ἀναπνοῆς ἐστιν.
XIX 425,13 K.
[Gal.] Introd. s. med. (XIV 750,5f. K.)
στραγγουρία δὲ ἡ κατὰ στράγγα οὔρησις.
στραγγουρία δὲ ἡ κατὰ στράγγα οὔρησις.
XIX 434,2f. K.
[Gal.] Introd. s. med. (XIV 774,2f. K.)
νεφέλιόν ἐστιν ἕλκος ἐπιπόλαιον καὶ μικρῷ μεῖζον ἀργέμου καὶ λευκόν.
νεφέλιον … ἐστιν ἕλκος ἐπιπόλαιον καὶ μικρῷ μεῖζον ἀργέμου καὶ λευκόν.
XIX 442,4f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Epid. (XVII A 703,9f. K.)
ὁ (sc. ἄνθραξ) ἐκ θερμῆς μέντοι πυρότητος, παχείας δὲ κατὰ τὴν σύστασιν ὕλης ἔχει τὴν γένεσιν.
ὁ ἄνθραξ ἐκ θερμῆς μέντοι πυρρότητος, παχείας δὲ κατὰ τὴν σύστασιν ὕλης ἔχει τὴν γένεσιν.
2. Zitate mit stilistischen Umformungen XIX 359,10f. K.16
Gal. De loc. aff. (V III 249,5f. K.)
φάρυγξ ἐστὶν ἡ ἔνδον στόματος χώρη, εἰς ἣν ἀνήκει τό τε τοῦ στομάχου, καὶ τὸ τοῦ λάρυγγος πέρας.
φάρυγγα δ᾽ ὀνομάζω τὴν ἔνδον τοῦ στόματος χώραν, εἰς ἣν ἀνήκει τό τε τοῦ στομάχου καὶ τὸ τοῦ λάρυγγος πέρας.
XIX 367,6 K.
Gal. De plac. Hipp. et Plat. (V 204,5f. K.)
νεῦρον ἐκ μυὸς ἐκφυόμενον (= τένων) πέρας ἐστὶ μυός.
τένων πέρας ἐστὶ νευρῶδες μυός. τένων πέρας ἐστὶ νευρῶδες μυός.
16
Der Satz διότι συνεργὸς τῇ καταπόσει τε καὶ τῇ ἀναπνοῇ καὶ τῇ φωνῇ (Z. 11f.), der sich aus Galen nicht belegen läßt, dürfte von Chartier in Analogie zu der voraufgehenden Definition der γλῶσσα und der folgenden des λάρυγξ gebildet worden sein (vgl. unten S. 194f. [= S. 199]).
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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XIX 388,11f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVII B 505,5f. K.)
ὀξὺ νόσημα μέγα τί ἐστι καὶ πρὸς τὴν ἀκμὴν ἐπειγόμενον διὰ ταχέων.
τὰ ὀξέα νοσήματα μεγάλα τέ ἐστι καὶ πρὸς τὴν ἀκμὴν ἐπειγόμενα διὰ ταχέων.
XIX 389,2–4 K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVII B 373,11–13 K.)
κάτοξυ νόσημά ἐστι τὸ αὐτίκα ἀκμάζον. αὐτίκα δὲ ἀκουστέον περὶ τὴν πρώτην τετράδον, ἢ μικρὸν ταύτης ἐξώτερον.
καὶ δὴ καὶ κάτοξυ νόσημα τοῦτο ἂν εἴη τὸ αὐτίκα ἀκμάζον. αὐτίκα δ᾽ ἀκουστέον περὶ τὴν πρώτην τετράδα ἢ μικρὸν ταύτης ἐξώτερον. |
XIX 389,4–6 K.
Gal. Comm. in Hipp. Progn. (XV III B 254,4–6 K.)
μεταξὺ17 νόσημα τὸ τῆς ζʹ ἡμέρας οὐκ ἐξωτέρω προϊόν, ἀλλ᾽ ἤτοι κατ᾽ αὐτὴν ἢ καὶ πρωϊαίτερον κρινόμενον.
κάτοξυ (sc. νόσημα) μὲν τὸ τῆς ἑβδόμης ἡμέρας οὐκ ἐξωτέρω προϊόν, ἀλλ᾽ ἤτοι κατ᾽ αὐτὴν ἢ καὶ πρωϊαίτερον κρινόμενον.
XIX 389,9–11 K.
Gal. Comm. in Hipp. Prorrh. I (XVI 545,10–12 K.)
κακόηθες νόσημά ἐστιν ὅσον κίνδυνον ἀπειλεῖ τοῖς κάμνουσιν, οὐκ ἀποκόπτει τὴν τῆς σωτηρίας ἐλπίδα.
κακοήθη δὲ νοσήματα καλοῦμεν ὅσα κίνδυνον ἀπειλοῦντα τοῖς κάμνουσιν οὐκ ἀποκόπτει τὴν τῆς σωτηρίας ἐλπίδα.
XIX 391,6f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Epid. (XVII A 12,17f. K.)
σποραδικὰ νοσήματά ἐστιν ἃ καταλαμβάνει ἰδίᾳ ἕκαστον.
(… ἔνια μὲν τῶν νοσημάτων … πολλοὺς καταλαμβάνει, …) ἔνια δ᾽ ἕκαστον ἰδίᾳ, τὰ σποραδικὰ προσαγορευόμενα.
XIX 391,7f. K.
Gal. Ling. s. dict. exolet. Hipp. explicatio (XIX 140,4f. K.)
σποράδες αἱ νόσοι διάφοροι οὐχ ὁμογενεῖς, ἄλλαι ἄλλοις18 συμβαίνουσιν.
σποράδεςÇ διάφοροι οὐχ ὁμογενεῖς, ἄλλαι ἄλλαις συμβαίνουσαι.
XIX 391,10f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Epid. (XVII A 11,5–7 K.)
ὅσα πλεονάζει διὰ παντὸς ἔν τινι χώρᾳ, ἅ πέρ ἐστιν ἔνδημα.
ὅσα πλεονάζει διὰ παντὸς ἔν τινι χώρᾳ, ἅπερ δὴ καὶ ἔνδημα προσαγορεύεται.
XIX 395,14f. K.
Gal. De comp. med. sec. loc. (XII 527,12f. K.)
(συνδρομή ἐστι) τὸ τῶν συμπτωμάτων ἄθροισμα φαινομένων ἐναργῶς ἅπασιν.
(… συνδρομαῖς) αἵτινες ἀθροίσματα συμπτωμάτων εἰσὶν φαινομένων ἐναργῶς ἅπασιν.
17
18
Da Chartier diese Definition unter denen des κάτοξυ νόσημα anführt, ist anzunehmen, daß μεταξὺ keine bewußte Änderung von ihm ist, sondern lediglich Druckfehler statt des richtigen κάτοξυ. Die richtige Form ἄλλοις fand Chartier im Hippokrateslexikon des Foesius (s.v. σποράδες).
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
XIX 396,3f. K.
Gal. Comm. in Hipp. De victu acut. morb. (XV 421,15f. K.)
θεραπεία ἐστὶν ἡ τῶν νοσημάτων ἀναίρεσις ἤδη γεγενημένη, οὐ γινομένη ἔτι.
ἄκουε δὴ νῦν τὴν θεραπείαν τὴν τῶν νοσημάτων ἀναίρεσιν ἤδη γεγενημένων, οὐ γινομένων19 ἔτι.
XIX 399,1–3 K.
Gal. De cris. (IX 664,7–9 K.)
συνεχῆ πυρετὸν καλοῦσι τὸν εἰς ἀπυρεξίαν πρὶν τελέως20 μὴ παυόμενον, κἂν παρακμή τις αἰσθητὴ φαίνηται.
συνεχῆ μὲν δὴ πυρετὸν ὀνομάζω, τὸν εἰς ἀπυρεξίαν πρὶν τελέως λυθῆναι μὴ παυόμενον, κἂν παρακμή τις αἰσθητὴ φαίνηται. |
XIX 401,1f. K.
Erot. Voc. Hipp. coll. (84,16f. N.)21
τυφώδης ἐστὶ πυρετὸς ὁ μετὰ νωθείας γιγνόμενος, καὶ μετ᾽ ἐπιστάσεως22 ἐξιστάμενος.
τυφώδεες· τυφώδεις λέγονται πυρετοὶ οἱ μετὰ νωθρείας γιγνόμενοι καὶ μετ᾽ ἐπιτάσεως ἐξιστάμενοι.
XIX 401,16f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVII B 389,16f. K.)
περίοδός ἐστιν ἡ ἐπὶ τὸ αὐτὸ ὁμοία ἐπάνοδος ἢ κίνησις23.
ὅτι δὲ περίοδον καλεῖ τὴν ἐπὶ τὸ αὐτὸ ὁμοίαν ἐπάνοδον εὔδηλον δή που παντί.
XIX 406,11f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 502,12f. K.)
ταχὺς σφυγμός ἐστιν ὁ μὲν ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γινόμενος.
ταχὺν μὲν (sc. σφυγμὸν εἶναι) τὸν ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γενόμενον.
XIX 406,14f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 502,13 K.)
(βραδύς ἐστι σφυγμὸς) ὁ ἐν πολλῷ χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γινόμενος.
βραδύν δὲ (sc. σφυγμὸν εἶναι) τὸν ἐν πολλῷ (sc. χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γενόμενον).
XIX 406,17f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 502,14 K.)
μέσος (sc. σφυγμός) ἐστὶ σύμμετρος ὁ ἐν συμμέτρῳ χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γινόμενος.
σύμμετρον δὲ (sc. σφυγμὸν εἶναι) τὸν ἐν συμμέτρῳ (sc. χρόνῳ κινουμένης τῆς ἀρτηρίας γενόμενον).
19
20
21 22 23
Die falschen Formen γεγενημένων und γινομένων stehen auch schon bei Chartier im Text von Galens Kommentar zu De victu acut. morb. Die Definition, die er in seinem Ὅροι-Text zufügte, entnahm er im vorliegenden richtigen Wortlaut aus dem Lexikon des Foesius (s.v. θεραπεία). Das Fehlen des in der Fundstelle vorhandenen λυθῆναι, wodurch die Satzkonstruktion empfindlich gestört ist, dürfte kaum auf das Konto der von Chartier absichtlich vorgenommenen Umformungen gehen, sondern bloßes Versehen sein. Erotiani Vocum Hippocraticarum collectio, hrsg. von E. Nachmanson, Uppsala 1918. ἐπιστάσεως statt des richtigen ἐπιτάσεως ist Druckfehler in der Chartierschen Ausgabe. Den Hinweis auf diese Definition fand Chartier im Lexikon des Foesius (s.v. περίοδος), wo er außer dem Galenzitat auch noch folgende Definition las: „Est et περίοδος Proclo, ἡ ἀπὸ τοῦ αὐτοῦ εἰς τὸ αὐτὸ κίνησις“, die ihm den Zusatz ἢ κίνησις lieferte.
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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XIX 407,1f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 511,5f. K.)
πυκνὸς σφυγμός ἐστιν ὁ δι᾽ ὀλίγου χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης γινόμενος.
πυκνὸν δὲ (sc. σφυγμόν) τὸν δι᾽ ὀλίγου (sc. χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης γινόμενον).
XIX 407,4f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 511,7 K.)
ἀραιός (sc. σφυγμός) ἐστιν ὁ διὰ πολλοῦ χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης γινόμενος.
ἀραιὸν δὲ (sc. σφυγμόν) τὸν διὰ πολλοῦ (sc. χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης γινόμενον).
XIX 407,9f. K.
Gal. De puls. diff. (VIII 511,9–11 K. )
(μέσος σφυγμός ἐστιν) ὁ διὰ τοῦ συμμέτρου μεταξὺ χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης γινόμενος.
μέσον δὲ (sc. σφυγμόν) πυκνοῦ καὶ ἀραιοῦ τὸν διὰ συμμέτρου χρόνου τῆς ἀρτηρίας διαστελλομένης ἀποτελούμενον.
XIX 407,13f. K.
Gal. De puls. (VIII 458,16f. K.)
τεταγμένος σφυγμός ἐστιν ἐν ᾧ ἡ κατὰ τὰς περιόδους ἀναλογία φυλάττει τινὰ τάξιν.
ἥ γ᾽ οὖν κατὰ τὰς περιόδους ἀναλογία φυλάττει τινὰ τάξιν.
XIX 408,1f. K.
Gal. De puls. (VIII 458,17f. K.)
ἄτακτός ἐστιν (sc. σφυγμός) ὁ μηδεμίαν κατὰ τὰς περιόδους τάξιν24 σώζων.
ἂν δ᾽ ὅλως μηδεμία σώζηται περίοδος, ἄτακτος ὁ τοιοῦτος (sc. σφυγμός) καλεῖται.
XIX 408,5 K. ὁμαλὸς σφυγμός ὑπάρχων.
Gal. De puls. (VIII 461,13f. K.) ἐστιν
ὁ
ἐφεξῆς
ἴσος
ὁμαλὸς μὲν (sc. σφυγμός) ὁ ἐφεξῆς ἴσος. |
XIX 413,17–414,2 K.
Gal. De motu muscul. (IV 404,11–13 K.)
τέτανός ἐστιν, ὅταν εἰς τοὐναντία πρὸς τῶν ἀντιτεταγμένων μυῶν ἀκουσίως ἐπισπᾶται τὰ μόρια.
τί γὰρ ἄλλο ἐστὶ τέτανος, ἢ ὅταν εἰς τἀναντία πρὸς τῶν ἀντιτεταγμένων μυῶν ἀκουσίως ἀντισπᾶται τὰ μόρια;
XIX 418,6f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Progn. (XVIII B 180,5–7 K.)
κόρυζά ἐστι τὸ διὰ τῶν ῥινῶν ἐκκρινόμενον ὑγρὸν λεπτὸν καὶ ἄπεπτον, τὸ δι᾽ ὑπερώας κατάρρους.
τὸ διὰ τῶν ῥινῶν ἐκκρινόμενον ὑγρὸν λεπτὸν καὶ ἄπεπτον ὀνομάζειν εἰώθασι κόρυζαν πάντες οἱ παλαιοὶ ἰατροί, καθάπερ τὸ δι᾽ ὑπερώας τοιοῦτο κατάρρουν.
24
Zu τάξιν vgl. die zuvor angeführte Definition.
191
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
XIX 419,5–7 K.
Gal. Comm. in Hipp. Epid. (XVII B 108,7–10 K.)
φαγέδαιναί εἰσιν αἱ τῶν πολλῶν βρωμάτων ἐδωδαί, ἃς καὶ αὐτὰς ὑπὸ κακοχυμίας γίνεσθαι ἀμέτρας25 ὀρέξεις σιτίων ὁμολογεῖται.
τινές γε μὴν ἤκουσαν φαγεδαίνας τὰς τῶν πολλῶν βρωμάτων ἐδωδάς, ἃς καὶ αὐτὰς ὑπὸ κακοχυμίας γίνεσθαι ἀμέτρους ὀρέξεις σιτίων ὁμολογεῖται καὶ πρὸς ἡμῶν.
XIX 425,10f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVII B 855,8f. K.)
στραγγουρία τὸ πάθος καλεῖται, ὅταν τις ὀλίγον ἀποκρίνει οὖρον συνεχῶς.
ὅταν τις ὀλίγον ἀποκρίνῃ οὖρον συνεχῶς, στραγγουρία τὸ πάθος καλεῖται.
XIX 425,12 K.
[Gal.] Introd. s. med. (XIV 750,6f. K.)
δυσουρία ἐστὶ δυσχέρεια τοῦ οὐρεῖν μετὰ ὀδύνης.
δυσουρία … ποιοῦσα δυσχέρειαν τοῦ ἀπουρεῖν.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVIII A 153,7f. K.)
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVIII A 153,7f. K.)
δυσουρία … ἡ μετ᾽ ὀδύνης οὔρησις …
δυσουρία … ἡ μετ᾽ ὀδύνης οὔρησις …
XIX 442,2f. K.
Gal. Comm. in Hipp. Aph. (XVIII A 72,16f. K.)
ἄνθραξ ἐστὶν ἕλκος ἐσχαρῶδες ἅμα πολλῇ τῶν πέριξ σωμάτων φλογώσει.
καλεῖται δέ τι καὶ ἄνθραξ ἕλκος ἐσχαρῶδες, ἅμα πολλῇ τῇ τῶν πέριξ σωμάτων φλογώσει.
XIX 459,7–9 K.
Gal. De dieb. decret. (IX 773,8–11 K.)
κρίσις ἐστὶν ἡ ὀξεῖα ἐν νοσήματι ταραχὴ καὶ αὐτὴ τὰ πολλὰ μὲν εἰς σωτηρίαν, ὅτε δὲ καὶ εἰς ὄλεθρον τοῦ κάμνοντος τελευτᾷ.
ἡμεῖς μὲν δὴ τὴν ὀξεῖαν οὕτως ἐν νοσήματι ταραχὴν ὀνομάζομεν κρίσιν, καὶ τελευτᾶν γε αὐτὴν τὰ πολλὰ μὲν εἰς σωτηρίαν, ἔστι δ᾽ ὅτε καὶ εἰς ὄλεθρον τοῦ κάμνοντος φαμέν.
III Bei weiteren 23 Definitionen, die erst seit der Chartierschen Ausgabe zum Bestand des Ὅροι-Textes gehören, läßt sich z.T. mit Sicherheit zeigen, z.T. wenigstens sehr wahrscheinlich machen, daß sie unter Benutzung fremder Texte oder durch Analogiebildung zu bereits vorhandenen ὅροι von Chartier ad hoc erfunden worden sind. 1. Fremde Texte als Grundlage neuer ὅροι
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Die Definition ἐκ τοῦ Ἱπποκράτους, ὀξὺ νόσημά ἐστιν ὃ μέγα καὶ ὀλέθριον ὃ τοὺς πλείστους τῶν ἀνθρώπων κτείνει (XIX 388,12–14 K.) gibt sich mit den | Worten ἐκ τοῦ Ἱπποκράτους als hippokratisches Gut zu erkennen. Und gerade dadurch wird die Arbeitsweise Chartiers besonders deutlich, denn Hippokrateszitat sind lediglich die Worte ὃ τοὺς πλείστους τῶν ἀνθρώπων κτείνει. Sie stammen aus der Schrift De victu acut. morb. (II 232,4 Littré), wo es allerdings ἃ (sc. ὀξέα νοσήματα) τοὺς πλείστους τῶν ἀνθρώπων κτείνει heißt. Daß Chartier einen Plural in seiner Fundstelle in den Singular ändert, haben wir schon verschiedentlich 25
Die Form ἀμέτρας findet sich bereits in dem Zitat der Stelle bei Foesius (s.v. φαγέδαινα).
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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bemerkt26, doch haben wir damit noch nicht die Quelle für die Formulierung ὃ μέγα καὶ ὀλέθριον. Sie ist in dem Hippokrateslexikon des Foesius nachzuweisen. Unter dem Stichwort ὀξύ wird als Erklärung zu unserer Hippokratesstelle von den ὀξέα νοσήματα gesagt, sie seien ,,magni et periculosi morbi, quique plurimos necant“, und mit dem ersten Teil dieses teils erklärenden, teils referierenden Satzes haben wir auch bereits die gesuchte Quelle Chartiers. Denn auf griechisch lautet das – mit der notwendigen Veränderung des Numerus –: μέγα καὶ ὀλέθριον. Diese Aussage hat Chartier in Form eines elliptischen Relativsatzes dem hippokratischen Relativsatz vorangestellt und gelangte auf diese Weise zu dem oben zitierten Wortlaut unseres ὅρος. Auf die gleiche Art entstand die Definition des φίμος (XIX 445,14 K.). Bei Foesius lesen wir s.v. φίμωσις: „… et est meatuum naturalium praeclusio“, bei Chartier heißt es: φίμος ἐστὶν ἡ τῶν πόρων φυσικῶν κατάκλεισις. Einem ähnlichen Vorgehen Chartiers verdanken auch mehrere Pulsdefinitionen ihr Entstehen. Galen spricht in seiner Schrift De puls. (V III 457,5–12 K.) von den Schlägen und Pausen des Pulses und demonstriert das an dem Beispiel des πυκνὸς σφυγμός und des ihm entgegengesetzten ἀραιὸς σφυγμός. Nachdem zuvor die Pause als ἡ μεταξὺ δυοῖν πληγῶν ἡσυχία definiert worden ist, schreibt Galen: πυκνὸς μὲν γάρ ἐστι, ὅταν βραχὺς ὁ τῆς ἡσυχίας ᾖ χρόνος· ἀραιὸς δέ, ὅταν πολύς. Es steht wohl außer Zweifel, daß wir hier die Quelle für die beiden folgenden Definitionen vor uns haben: (πυκνὸς σφυγμός ἐστιν) ὅτε βραχύς ἐστιν ὁ χρόνος μεταξὺ τῆς διαστολῆς καὶ συστολῆς (XIX 407,2f. K.) und ἀραιός ἐστι σφυγμός, ὅταν ὁ τῆς ἡσυχίας χρόνος τῆς μεταξὺ διαστολῆς καὶ συστολῆς μέσης χρονίζει μακρός (XIX 407,5–7 K.). Chartier ist freilich bei der Gleichsetzung der ἡσυχία mit dem Zwischenraum zwischen διαστολή und συστολή eine Fehlinterpretation des Galentextes unterlaufen, der hier unter ἡσυχία den Zwischenraum zwischen zwei διαστολαί verstanden wissen will. Die Definition des zu diesen beiden Pulsarten gehörenden μέσος σφυγμός (μέσος ἐστὶν ὁ μεταξὺ τοῦ πυκνοῦ τε καὶ ἀραιοῦ σύμμετρος, XIX 407,8 K.) scheint Chartier in analoger Weise von der bei Galen, V III 511,9–11 K., angeführten Definition27 abgeleitet zu haben. Die Formulierung der Definition des gleichmäßigen Pulses ([ὁμαλὸς σφυγμός ἐστιν] ἐν ᾧ πᾶσαι τῶν σφυγμῶν διαφοραὶ ἴσαι μένουσιν, XIX 408,5f. K.) geht auf folgende Ausführungen Galens in De puls. diff. (V III 519,13–15 K.) zurück: αἱ καθ᾽ ἕνα σφυγμὸν ἅπασαι διαφοραὶ ταῖς ἐν τοῖς ἑξῆς ἴσαι καθ᾽ ἕκαστον γένος ἔστωσαν, ὁμαλὸς ἁπλῶς ὁ τοιοῦτος λεχθήσεται σφυγμός. | Für die Definitionen des εὔρυθμος, ἄρρυθμος, κακόρυθμος und ἔκρυθμος σφυγμός hat Chartier Gal. De puls. diff., V III 515, 7–516, 8 K. benutzt, wovon eine Gegenüberstellung beider Texte überzeugen mag28. 26 27 28
Siehe z.B. oben S. 188–190 (= S. 193f.) zu XIX 388,11f.; 395,14f. und 401,1f.K. Siehe oben S. 190 (= S. 195) zu XIX 407,9f. Daß Chartier diese Galenstelle herangezogen hat, wird noch durch einen weiteren Umstand gestützt. Die in den Handschriften überlieferten Definitionen des παράρυθμος und ἑτερόρυθμος σφυγμός (XIX 409,15–410,1 K. ) erscheinen dort in umgekehrter Reihenfolge, die erst von Chartier unter Hinzufügung des ἔκρυθμος σφυγμός als dritten geändert wurde, und zwar auf Grund unserer Galenstelle. Denn dort lesen wir τοῦ δὲ ἀρύθμου τρεῖς εἰσι διαφοραί, παράρυθμος, ἑτερόρυθμος, ἔκρυθμος (VIII 515,14f. K.), und in genau dieser Reihenfolge erscheinen die Definitionen dann auch bei Chartier im Text.
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
XIX 409,8–10 K.
Gal. De puls. diff. (VIII 515,8–516,8 K.)
εὔρυθμός ἐστι σφυγμὸς ὁ σώζων ῥυθμὸν τὸν ἴδιον τῇ ἡλικίᾳ καὶ φύσει καὶ κράσει καὶ τῇ ἑκάστῃ ὥρᾳ καὶ ταῖς ἄλλαις περιστάσεσι.
… οὕτω καὶ σφυγμὸς ἄρυθμος καλεῖται, κάκωσιν τοῦ κατὰ φύσιν ῥυθμοῦ δηλούσης τῆς προσηγορίας … καὶ ἔστιν ἐναντίος τῷ ἀρύθμῳ … ὁ εὔρυθμος καλούμενος … ἑκάστῃ τῶν ἡλικιῶν ἐστί τις κατὰ φύσιν σφυγμός. τούτων οὖν ὁ μὲν σώζων τὸν ῥυθμὸν εὔρυθμος καλεῖται, ὁ δὲ διαφθείρων ἄρυθμος … ὁ δὲ μηδεμιᾶς ὅλως ἡλικίας ἀποσώζων ῥυθμὸν ἔκρυθμος ὀνομάζεται. οὕτω δὲ καὶ περὶ φύσεων καὶ ὡρῶν καὶ χωρῶν καὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων χρὴ νοεῖν.
XIX 409,11f. K. ἄρρυθμός ἐστιν ὁ τὸν ῥυθμὸν οὐδένα τῷ ἑκάστῳ ἴδιον σώζων. XIX 409,13f. K. κακόρυθμος σφυγμός ἐστιν ὁ κακῶς τὸν ῥυθμὸν σώζων εὐρύθμῳ ἐναντίος. XIX 410,1–3 K. ἔκρυθμος σφυγμός ἐστιν ὁ μηδεμιᾶς ἡλικίας ἤ τινος ἄλλης περιστάσεως παντάπασι ῥυθμὸν ἐκβεβηκώς.
194
Zu den Definitionen, die Chartier mit Hilfe einer fremden Vorlage erfunden hat, gehören endlich auch folgende: θερμὸς σφυγμός ἐστιν, ὅταν ἡ ἀρτηρία τῶν πλησίων μερῶν θερμοτέρα ἅπτεται, ὥσπερ ἐν ἑκτικῷ πυρετῷ. (XIX 405,18f. K.) ψυχρὸς σφυγμός ἐστιν ἐν ᾧ ἡ ἀρτηρία ψυχροτέρα καταλαμβάνεται. (XIX 406,1f. K.) μέσος ἐστὶν ὃς τὴν τοῦ ψυχροῦ τε καὶ θερμοῦ συμμετρίαν ἔχει. (XIX 406,3f. K.) Die Fundstelle für diese ὅροι läßt sich allerdings nicht mehr ganz so überzeugend nachweisen, wie es bei den zuvor behandelten Stellen der Fall war. Das γένος des warmen und kalten Pulses mit dem dazugehörigen μέσος σφυγμός hat es, soweit mir bekannt ist, in der antiken Pulslehre nicht gegeben. Trotzdem möchte ich annehmen, daß Chartier auch diese Definitionen in Anlehnung an Galen gebildet hat. In der Schrift De praesag. ex puls. (IX 338ff. K.) spricht Galen von der Bedeutung, die die Diagnose aus dem Puls für das Erkennen des hektischen Fiebers hat, und führt dort u.a. aus, daß die anomale Dyskrasie des Herzkörpers eine besonders sichere Handhabe bietet. Denn diese Dyskrasie, die darin besteht, daß das Herz selbst wärmer und die ihm benachbarten Organe kälter werden, bewirkt eine ganz spezielle Pulsveränderung – der Puls nimmt zunächst nur an Schnelligkeit zu –, die ein untrügliches Kennzeichen für die genannte Fieberart ist. | Auf den ersten Blick haben diese Ausführungen Galens kaum etwas mit den zur Diskussion stehenden Pulsdefinitionen gemein. Lediglich die Erwähnung des hektischen Fiebers verbindet sie mit dem ὅρος des warmen Pulses. Doch gehen die Übereinstimmungen m.E. noch weiter. Hieß es bei Galen, beim hektischen Fieber sei das Herz wärmer und die es umgebenden Organe kälter, so wird in der Definition des θερμὸς σφυγμός gesagt, die Arterie fühle sich wärmer an als die ihr benachbarten Organe, und zwar trete dieses Phänomen beim hektischen Fieber auf. Da Galen aber zu Beginn des genannten Abschnitts (S. 338–340) davon spricht, daß das Herz durch die Pulsbewegung den Arterien die eingepflanzte Wärme mitteilt, d.h. auch eine auf
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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krankhaften Vorgängen beruhende gesteigerte Wärme bzw. eine beispielsweise durch Atonie des Herzens verursachte herabgesetzte Wärme, und daß infolgedessen auch die Arterien „warm“ und „kalt“ sind und einen wie auch immer gearteten entsprechenden Puls haben können, sah sich Chartier offenbar berechtigt, die Aussage in der Weise zu modifizieren, daß er „Arterie“ an Stelle von „Herz“ einsetzte und das Ganze – freilich ohne jede Stütze durch den Galenischen Text – in Analogie zum feuchten und trockenen Puls als Pulsart deklarierte. Die Grundlage für die Definition des zwischen dem warmen und kalten in der Mitte liegenden Pulses lieferte ihm der Text IX 339,16f. K.: τὸν ἀμφοῖν (sc. τοῦ τῆς ψυχρᾶς καὶ τοῦ τῆς θερμῆς ἀρτηρίας σφυγμοῦ) μέσον (sc. σφυγμόν), ὅσπερ δὴ καὶ σύμμετρος καὶ κατὰ φύσιν ἐστίν. Die Art der Textinterpretation, deren sich Chartier hier bedient hat, wirkt reichlich gezwungen und läuft z.T. sogar auf eine Entstellung des von Galen dargestellten Tatbestandes hinaus. Daß Chartier aber auch sonst der Vervollständigung des Ὅροι-Textes zuliebe nicht davor zurückgeschreckt ist, sachlich unrichtige Definitionen zu ergänzen, zeigt z. B. die von ihm aus dem Lexikon des Foesius übernommene Definition des φιμός (XIX 445,14 K.), wo die Phimose im Gegensatz nicht nur zur modernen, sondern auch zur antiken Medizin29 als Verschluß und nicht als Verengung der natürlichen Körperöffnungen (z.B. am männlichen und weiblichen Genitale) definiert wird. 2. Analogiebildungen zu bereits formulierten ὅροι Bei den Pulsdefinitionen, die handschriftlich überliefert sind, ist nur in zwei Fällen der zu einem Gegensatzpaar gehörende μέσος σφυγμός definiert worden. In dem Bemühen, den Ὅροι-Text auch in dieser Beziehung zu vervollständigen, hat Chartier weitere vier Definitionen des mittleren Pulses hinzugefügt. Er hat sie, ausgehend von der antiken Vorstellung, daß der mittlere Puls σύμμετρος zwischen zwei vom normalen Pulsschlag in entgegengesetzter Richtung abweichenden Pulsen und damit κατὰ φύσιν ist, in mehr oder weniger wörtlicher Anlehnung an überlieferte ὅροι gebildet. Besonders augenfällig wird das an der | Definition des mittleren Pulses zwischen dem ταχὺς und βραδὺς σφυγμός, die ebenso wie die erste Definition des βραδὺς σφυγμός, die ebenfalls von Chartier stammt, in Analogie zu dem überlieferten ὅρος des ταχὺς σφυγμός gebildet worden ist. XIX 406,13f. K. Βραδύς ἐστι σφυγμὸς ὁ βραδεῖαν ἔχων τὴν διαστολήν τε καὶ τὴν συστολήν.
XIX 406,10f. K.
XIX 406,16 K.
ταχύς ἐστι σφυγμὸς ὁ σύντομον ἔχων τὴν διαστολὴν καὶ συστολήν.
μέσος ἐστὶν ὁ σύμμετρον ἔχων τὴν διαστολὴν καὶ συστολήν.
29
Vgl. z.B. Galen, Comm. in Hipp. De officina medici (XVIII B 812,12–813,1 K.); Oribasius, Collectiones medicae L 5, hrsg. von J. Raeder, Corpus Medicorum Graecorum VI 2,2, Leipzig u. Berlin 1933, S. 58,1–8; A. C. Celsus, De medicina VII 25,2, hrsg. von F. Marx, Corpus Medicorum Latinorum I, Leipzig u. Berlin 1915, S. 345,11f.
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René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
Ebenfalls Analogiebildungen sind: XIX 404,17f. K. μέσος ἐστὶ σφυγμὸς ὁ σύμμετρος μεταξὺ πλήρους τε καὶ κενοῦ μέσος καὶ ὃς κατὰ φύσιν ἐστί. XIX 405,7f. K. μέσος σφυγμός ἐστιν ὁ μεταξὺ τοῦ σκληροῦ τε καὶ μαλακοῦ κατὰ φύσιν σύμμετρος.
XIX 404,6 K. μέσος ἐστὶν ὁ μεταξὺ τούτων ἀμφοτέρων (sc. τοῦ μεγάλου καὶ τοῦ μικροῦ σφυγμοῦ) …
XIX 405,15–17 K.
XIX 405,9f. K.
μέσος ἐστὶ σφυγμὸς ὁ μηδὲ μὲν ὑγρότερος μηδὲ αὐχμηρότερος τῇ ἁφῇ φαίνεται, ἀλλὰ σύμμετρός τε καὶ κατὰ φύσιν ὑπάρχει.
ὑγρὸς σφυγμός ἐστιν ὁ ἁπαλὸς … τῇ ἁφῇ ὑγρασίαν καί τινα προσβάλλων.
Auf die gleiche Weise ist Chartier bei weiteren fünf Definitionen verfahren, bei denen jedoch im Gegensatz zu den Pulsdefinitionen nicht ersichtlich ist, warum sich Chartier zu ihrer Bildung veranlaßt sah. Denn er definiert mit ihnen durchweg keine neuen Begriffe, er modifiziert nur bereits vorhandene Definitionen. Da Chartier sich dabei im sprachlichen Ausdruck nicht allzuweit von der Vorlage entfernen, sachlich aber nach Möglichkeit einen neuen Gesichtspunkt hineinbringen wollte, ist es verständlich, daß diese Definitionen fast ausnahmslos sowohl von der Sprache als auch von der Sache her ungeschickt sind.
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XIX 362,12f. K.
XIX 362,15f. K.
ταύτῃ καὶ ἡ ὑστέρα ὀνομάζεται (sc. ἡ μήτρα), ὅτι ὑστάτη τῶν ἁπάντων μερῶν ἐστι.
ὑστέρα δὲ λέγεται (sc. ἡ μήτρα) διὰ τὸ ὕστερον τῶν μορίων κεῖσθαι αὐτήν.
XIX 370,16f. K.
XIX 370,18f. K.30
(σπέρμα ἐστὶ) τὸ μεθ᾽ ὑγροῦ ψυχῆς ὑλικοῦ μέρους ἀπόσπασμα μετὰ τοῦ ὑγροῦ πνεύματος.
σπέρμα ἐστὶν ἀνθρώπου ὃ μεθίησιν ἄνθρωπος μεθ᾽ ὑγροῦ ψυχῆς μέρους ἅρπαγμα.31
XIX 383,4f. K.
XIX 383,2f. K.
εὔχροια καὶ μελῶν ἀναλογία τε καὶ εὐρυθμία εἰσὶ τὸ κάλλος.
εὔχροια καὶ μελῶν ἀναλογία τε καὶ εὐρυθμία (sc. παρέπονται τῷ κάλλει). |
XIX 395,4f. K.
XIX 395,9f. K.
παθογνωμονικόν (sc. σημεῖον) ἐστιν ἐξ οὗ γινώσκεται τὸ πάθος.
προγνωστικὸν σημεῖόν ἐστιν ἐξ οὗ γινώσκεσθαι τὸ μέλλον.
XIX 398,5–7 K.
XIX 398,7. 13 K.
πυρετός ἐστιν ἡ τοῦ ἐμφύτου θερμοῦ εἰς τὸ παρὰ φύσιν ἐκτροπὴ τῶν σφυγμῶν σφοδροτέρων τε καὶ πυκνωτέρων γενομένων.
πυρετός ἐστι θερμότης παρὰ φύσιν … μετὰ παραλλαγῆς σφυγμῶν ἐπὶ τὸ πυκνότερον καὶ σφοδρότερον.
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Vgl. XIX 370,12f. K. σπέρμα ἐστὶν ὑγρὸν ἐν παραστάταις περιεχόμενον ἐκ θερμοῦ πνεύματος. Hier liest der Parisin. 2153 ἀπόσπασμα, das Chartier in seine Definition übernommen hat.
René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens
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IV Die von uns gebotene Gegenüberstellung der ὅροι mit den Texten, nach deren Vorbild sie gebildet worden sind, dürfte keinen Zweifel daran lassen, daß Chartier diese Definitionen entgegen seinen Behauptungen nicht in der handschriftlichen Überlieferung las, sondern sie aus fremden Texten oder sogar als freie Erfindungen in seinem Ὅροι-Text ergänzt hat, wobei ihm, wie wir gesehen haben, das Hippokrateslexikon des Foesius wertvolle Hilfe leistete. Wir können daher wohl mit Recht annehmen, daß auch die restlichen sieben handschriftlich nicht bezeugten Definitionen32 auf das Konto Chartiers gehen. Wenn ich sie bisher auch noch nicht verifizieren konnte, da es für die medizinischen Texte, abgesehen von wenigen Ausnahmen, noch immer keine brauchbaren Indices gibt, möchte ich doch für sie in Anspruch nehmen, daß sie aus antiken Texten stammen. In der neuen textkritischen Ausgabe der Definitiones medicae werden demzufolge alle von Chartier ohne handschriftliche Grundlage zugefügten ὅροι nicht mehr zu finden sein. V Der neue Text wird aber auch noch aus einem anderen Grunde wesentliche Änderungen aufzuweisen haben. Denn Chartier hat auch die Reihenfolge der einzelnen Definitionen teilweise verändert, ohne sich dabei auf eine handschriftliche Vorlage stützen zu können. Wie gezeigt werden kann, ließ er sich bei den Umstellungen von dem Prinzip leiten, sachlich scheinbar eng zusammengehörige ὅροι zusammenzustellen. So hat Chartier beispielsweise die Definitionen der Teile der Medizin (XIX 351,8–352,4 K.), die in den Handschriften dem Abschnitt der Frauenkrankheiten (XIX 428,9ff. K.) vorangehen, in die Umgebung der Definitionen gerückt, die dem theoretischen Teil der Medizin gewidmet sind. Bei diesem Vorgehen konnte es allerdings auch geschehen, daß er eine vom Verfasser der Ὅροι beabsichtigte systematische Anordnung der Definitionen33 zerstörte. Das trifft vor allem auf einen Abschnitt der Krankheitsdefinitionen zu (XIX 412,16–428,8 K.). | Hier werden nach der in der handschriftlichen Überlieferung vorliegenden ursprünglichen Fassung nacheinander die akuten und chronischen Krankheiten, jeweils nach dem Schema a capite ad calcem angeordnet, besprochen34. Ob Chartier diese beabsichtigte Gliederung entgangen ist oder ob er sie für unzureichend hielt – obwohl eine solche Einteilung durchaus den antiken Gepflogenheiten entsprach und auch in der modernen Medizin noch geübt wird –, läßt sich nicht mehr entscheiden. Tatsache ist, daß Chartier diese sinnvolle Anordnung der ὅροι seinem obengenannten Ordnungsprinzip zuliebe durcheinandergebracht hat. Er stellte alle Krankheitsdefinitionen, die ein bestimmtes Organ oder auch einen Organtrakt betreffen, zusammen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich dabei um akute oder chronische Krankheitsbilder handelt. So setzte er z.B. die Definitionen der χολέρα (XIX 421,4–12 K.) 32 33
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XIX 353,2–4; 367,7; 380,12; 382,1–3; 422,7–9; 426,3–6; 442,8f. K. Siehe J. Kollesch, Zur Geschichte des medizinischen Lehrbuchs in der Antike, in: Aktuelle Probleme aus der Geschichte der Medizin (Verhandlungen des XIX. Internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin, Basel 1964), Basel u. New York 1966, 203–208 (= oben, S. 41–45). Im Parisin. gr. suppl. 446, dem ältesten Textzeugen für die Definitiones medicae, findet sich zu Beginn dieses Abschnitts die Überschrift περὶ ὀξέων νοσημάτων.
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und des εἰλεός (XIX 423,4–6 K.), die zu den akuten Krankheiten gehören, in das Kapitel der chronischen Leiden, um sie mit den anderen Erkrankungen des Verdauungsapparates zusammenzustellen. Umgekehrt gerieten u.a. die Definitionen der μανία, der μελαγχολία, der κεφαλαία und der ἑτεροκρανία (XIX 416,7–18; 417,7–9 K.) aus dem Abschnitt der chronischen Krankheiten in den der akuten, weil Chartier alle Erkrankungen des Gehirns vereinigen zu müssen glaubte. Es würde zu weit führen, hier alle Umstellungen, die Chartier vorgenommen hat, im einzelnen aufzuführen. Bereits diese wenigen Beispiele lassen den Grund für die eigenmächtigen Änderungen Chartiers am überlieferten Text der Definitiones medicae deutlich erkennen. Er änderte nicht, um den künftigen Lesern der Schrift in seinem neugeordneten Text eine philologische Sensation vorzulegen, er änderte aus sachlichen Gründen; denn er glaubte dadurch die Brauchbarkeit des Textes und damit zugleich den Wert der von ihm sehr geschätzten Schrift35 erhöhen zu können. Aus dem gleichen Motiv dürfte auch die eigenmächtige Erweiterung des Textbestandes erwachsen sein. Wenn Chartier, angeregt vermutlich durch die über den Text der Basileensis hinausgehenden ὅροι, die er im Parisin. 2153 fand, 71 weitere Definitionen in seinen Text einfügte, so ließ er sich auch hierbei nicht von Sensationslust leiten, sondern einzig von dem Bestreben, den Nutzen der Definitiones medicae, die auch zu seiner Zeit noch als medizinische Einführungsschrift von Medizinstudenten und Ärzten gelesen wurden, zu vermehren. Trotzdem können wir ihm den Vorwurf nicht ersparen, daß er es unterlassen hat, die Leser der Ὅροι ἰατρικοί auf seine durch die Überlieferung nicht gestützten Texterweiterungen und -umstellungen aufmerksam zu machen, wenn anders er nicht den Anschein erwecken wollte, den Text gefälscht zu haben. Ist Chartier doch im Falle der Definitiones medicae mit dem überlieferten Text noch weit unbedenklicher umgegangen als bei den anderen Galenschriften, für | die ihm ebenfalls Textfälschungen nachgewiesen werden konnten36. Denn während es sich bei diesen im wesentlichen um eine Rückübersetzung vollständigerer lateinischer Versionen ins Griechische und damit nur um eine versuchte Rekonstruktion des ursprünglichen Textbestandes handelte, hat er in unserer Schrift den genuinen Text durch Zufügungen und Umstellungen nach eigenem Gutdünken entstellt37.
35
36 37
„Adscriptum Galeno hunc librum definitionum medicarum multi augurantur, dignumque tanto authore quęcunque in eo medica definiuntur declarant“ (Hippocratis … et … Galeni … opera, hrsg. von Chartier, 404). Siehe oben, S. 184 Anm. 1 (= S. 187 Anm. 6). Vgl. auch J. Kollesch, René Chartier als Herausgeber der Werke Galens, in: Antiquitas GraecoRomana ac tempora nostra. Acta congressus internationalis habiti Brunae diebus 12–16 mensis Aprilis MCMLXVI, hrsg. v. J. Burian u. L. Vidman, Prag 1968, S. 525–530.
2. EINE HIPPOKRAT ISCHE KRANKHEI TSEIN T EILUNG IN DEN PSEUDOGALENISCHEN DEFINI T IONES MEDICAE*
In den pseudogalenischen Definitiones medicae wird es Hippokrates nicht nur als Verdienst angerechnet, daß er sich als erster um die Definition der Heilkunst bemüht hat1, er ist auch der am häufigsten zitierte Autor in dieser Schrift und der einzige, von dem Schriftentitel angeführt werden. Die Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung zu den Definitiones medicae hat ergeben, daß es insgesamt acht Stellen sind, an denen der koische Arzt als Gewährsmann genannt wird2. Allerdings handelt es sich nur in vier Fällen um mehr oder weniger wörtliche Zitate, die zudem – mit einer Ausnahme – auch durch die Angabe des Schriftentitels als | solche gekennzeichnet sind und sich alle in dem heutigen Schriftenbestand des Corpus Hippocraticum nachweisen lassen3. Auf weit unsichererem Boden stehen wir dagegen bei dem Versuch, die verbleibenden vier Bezugnahmen auf Hippokrates zu verifizieren. Das trifft sowohl auf die beiden Stellen zu, an denen Hippokrates als Kronzeuge in Sachen Terminologie bemüht wird, als auch auf die beiden, an denen er als Vertreter bestimmter Lehrmeinungen genannt wird. So gibt es z.B. für die in der Definition des Augenzitterns getroffene Feststellung, die Bezeichnung dieser Krankheit als ἵππος gehe auf Hippokrates zurück4, in den uns erhaltenen Schriften der hippokratischen Sammlung keinen Beleg. Falls man nicht mit J. Hirschberg annehmen will, daß die Zuweisung dieses ganz offensichtlich seltenen Krankheitsnamens an den Koer auf einem Versehen des Verfassers der Definitiones medicae oder seiner Vorlage beruht5, wäre man gezwungen, einen verlorengegangenen Hippokratestext als Quelle namhaft zu machen. Wir sind jedoch der Meinung, daß die auffallend seltene Bezeugung des Wortes ἵππος als * Erschienen in: La maladie et les maladies dans la Collection hippocratique. Actes du VIe Colloque international hippocratique (Québec, du 28 septembre au 3 octobre 1987), hrsg. v. P. Potter, G. Maloney u. J. Desautels, Québec 1990, S. 255–264. 1 2
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[Gal.], Def. med. prooem.: XIX 347,7–9 Kühn. Ebd. 9. 99. 137. 203 (ὁ παλαιός = Hippokrates). 349. 439. 440. 462 = XIX 350,11; 372,14. 17; 388,6; 402,9f.; 436,12; 449,16. 18; 450,12; 457,13 Kühn. Ebd. 9: XIX 350,11–16 Kühn = Hipp., De arte 3: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) I 1, S. 10,19–11,1; 203: XIX 402,10–12 Kühn = Hipp., Epid. I 2: I 182,2–4 Kühlewein = II 606,9–608,2 Littré; 439: XIX 449,18–450, 2 Kühn = Hipp., De aëre 14: CMG I 1,2, S. 58,20–22 und De morbo sacro 2,5: S. 68,15–17 Grensemann (Ars Medica II 1) = VI 364,19f. Littré; 440: XIX 450,12–16 Kühn = Hipp., De nat. pueri 12: VII 486, 1–3 Littré. [Gal.], Def. med. 349: XIX 436,11f. Kühn. Siehe J. Hirschberg, Geschichte der Augenheilkunde, 1. Buch: Geschichte der Augenheilkunde im Alterthum (Handbuch der gesamten Augenheilkunde, Bd. XII), Leipzig 1899, S. 118.
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eines ophthalmologischen Terminus gegen sein hohes Alter spricht, das wir ihm zugestehen müßten, wenn Hippokrates dessen Urheber wäre6. | Ebensowenig läßt sich die in der Definition der πέψις dem Hippokrates zugeschriebene Lehrmeinung, die Verdauung der Nahrung erfolge mit Hilfe der eingepflanzten Wärme7, in dieser Form im Corpus Hippocraticum nachweisen. Das Verständnis der Verdauung als eines Kochungsprozesses ist indessen gut hippokratisch; und was den in den Definitiones medicae gebrauchten Ausdruck ἔμφυτον θερμόν betrifft, so ist er in den hippokratischen Schriften zwar insgesamt nur zweimal belegt, nämlich Aphor. I 14 und 158, entscheidend ist aber, daß an beiden Stellen die Menge der aufzunehmenden Nahrung mit dem Quantum des im Körper vorhandenen ἔμφυτον θερμόν in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht wird. Zugegeben, mit der Feststellung, daß die im Wachstum befindlichen Individuen, wie es dort heißt, besonders viel eingepflanzte Wärme aufweisen und deswegen besonders viel Nahrung brauchen, ist noch nichts über den Verdauungsvorgang als solchen gesagt. Sie setzt aber zweifellos die Vorstellung voraus, daß die Verarbeitung der Nahrung im Körper maßgeblich von dem Vorhandensein des ἔμφυτον θερμόν abhängt, und so dürfte es auch für den antiken Leser der Aphorismen nicht schwer gewesen sein, sie in diesem Sinne zu interpretieren und daraus eine Lehrmeinung des Hippokrates zu formulieren. Wenn wir etwas ausführlicher auf die verschiedenen Formen der Bezugnahmen auf Hippokrates in den Definitiones medicae eingegangen sind, so deswegen, weil uns das, wie wir glauben, auch bei der Beurteilung der mit dem Namen des Koers verbundenen Krankheitseinteilung9 weiterhelfen kann, mit der wir uns im Folgenden eingehender beschäftigen wollen. Diese Krankheitseinteilung bildet zusammen mit drei anderen eine Gruppe von Klassifikationsschemata, in denen verschiedene Arten von νοσήματα | unterschieden werden10. Nach Aussage des Verfassers der Definitiones medicae kannte Hippokrates neun verschiedene Arten von Krankheiten. Sie werden in der von ihm gebotenen Aufzählung als ὀξύ, κάτοξυ, κακόηθες, χρόνιον, μέσον, ὀλέθριον, περιεστικόν, κινδυνῶδες und ἀκίνδυνον gekennzeichnet und anschließend in der angegebenen Reihenfolge definiert. Nach Belegen für eine so umfassende Zusammenstellung unterschiedlicher Krankheitsbezeichnungen suchen wir im Corpus Hippocraticum allerdings vergeblich, und ebensowenig lassen sich die dazugehörigen Definitionen im Corpus Hippocraticum nachweisen. In den Schriften der hippokratischen Sammlung zu belegen ist aber, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit, der Gebrauch der genannten Adjektive – mit Ausnahme von μέσον – zur näheren Bestimmung von Krankheiten bzw. Krankheitserscheinungen unter verschie6
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Außer in den Def. med. ist die Krankheitsbezeichnung ἵππος nur noch zweimal bei Galen (In Hipp. Prorrh. I comm. II 10: CMG V 9,2, S. 61,30, und In Hipp. Progn. comm. I 21: CMG V 9, 2, S. 233,24) bezeugt. Zu ihrer Herkunft sagt der Pergamener nichts, die Formulierung im Prognostikonkommentar (S. 233,23f.) „… dem Augenleiden … das m a n (von mir gesperrt – J. K.) ἵππος nennt (προσαγορεύουσιν)“ läßt allerdings vermuten, daß ihm die Tradition vom hippokratischen Ursprung der Krankheitsbezeichnung nicht bekannt war. [Gal.], Def. med. 99: XIX 372,16–18 Kühn. Hipp., Aphor. I 14. 15: IV 466,8f. 15f. Littré. [Gal.], Def. med. 137–146: XIX 388,6–9. 16–389, 1. 7–9. 12–390,11 Kühn. Siehe J. Kollesch, Untersuchungen zu den pseudogalenischen Definitiones medicae, Berlin 1973, S. 52f. (Akad. d. Wiss. d. DDR, Zentralinstitut f. Alte Gesch. u. Archäol., Schriften zur Geschichte u. Kultur d. Antike 7).
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denen Gesichtspunkten11. Die Belegstellen sind über eine Vielzahl von Schriften verstreut, so daß selbst der Versuch, einen begrenzten Schriftenkreis als mögliche Quelle auszumachen, zum Scheitern verurteilt ist. | Wenn man einmal von der Gegenüberstellung der gegensätzlichen Begriffe ὀλέθριον – περιεστικόν und κινδυνῶδες – ἀκίνδυνον absieht, ist, zumindest auf den ersten Blick, nicht zu erkennen, daß der von dem Verfasser der Definitiones medicae für Hippokrates in Anspruch genommenen Differenzierung der Krankheiten ein bestimmtes Ordnungsprinzip zugrunde liegt. Nach der Rubrizierung der im Corpus Hippocraticum zur Kennzeichnung bestimmter Krankheitsaspekte gebrauchten Adjektive, die G. Preiser vorgenommen hat12, wären die neun in den Definitiones medicae angeführten Adjektive, bei denen es sich ganz offensichtlich um eine unter subjektiven Gesichtspunkten getroffene Auswahl handelt, den drei Gruppen zuzuordnen, die sich auf den Ausgang, auf den Verlauf und auf die Dauer der Krankheit beziehen. Gemäß dieser Gruppierung würde es sich bei den Ausdrücken bösartig (κακόηθες)13, verderbenbringend (ὀλέθριον), heilbar (περιεστικόν), gefährlich (κινδυνῶδες) und ungefährlich (ἀκίνδυνον) um Krankheitsbezeichnungen handeln, die den Krankheitsausgang berücksichtigen, bei den Bezeichnungen akut (ὀξύ) und hochgradig akut (κάτοξυ) um solche, die den Krankheitsverlauf betreffen, während die Bezeichnung chronisch (χρόνιον) von der Krankheitsdauer her bestimmt wäre. Der Krankheitsbegriff μέσον νόσημα, der im Corpus Hippocraticum nicht bezeugt ist, läßt sich in dieses Schema nur schwer einordnen, da mit ihm nach Maßgabe der entsprechenden Definition eine Krankheit bezeichnet wird, die sowohl im Hinblick auf ihren Verlauf als auch hinsichtlich ihrer Dauer eine Mittelstellung zwischen einer akuten | und einer chronischen Krankheit einnimmt14, und demzufolge kaum zu entscheiden ist, ob bei der Bezeichnung μέσον νόσημα der Aspekt der Krankheitsdauer oder der des Krankheitsverlaufs stärker im Vordergrund steht. Eine gewisse Inkonsequenz ergibt sich bei Zugrundelegung dieses Einteilungsschemas auch daraus, daß die bösartige Krankheit zwischen der hochgradig akuten und der chronischen Krankheit 11
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ὀξύ: z.B. De aëre 3,7: CMG I 1,2, S. 28,15; Progn. 2. 3: S. 194,10; 198,4f. Alexanderson = II 112,12; 120,8 Littré; De diaeta acut. 5 (2): I 111,1f. Kühlewein = II 232,3f. Littré; Epid. I 24 (11): I 200,12 Kühlewein = II 674,5 Littré; Aphor. II 19: IV 474,12 Littré; κάτοξυ: Aphor. I 7: IV 462,12 Littré; De humor. 13: V 494,9 Littré; κακόηθες: Progn. 20: S. 221,1f. Alexanderson = II 168,9f. Littré; Coa praes. 33. 34: V 594,2. 4 Littré; χρόνιον: z.B. De artic. 41: II 167,3f. Kühlewein = IV 182,10 Littré; Aphor. II 39: IV 482,1 Littré; De mul. aff. I 25: VIII 66,6 Littré; De aff. int. 27: VII 240,6f. Littré; Prorrh. II 42: IX 74,2 Littré; ὀλέθριον: z.B. Coa praes. 62. 71: V 598,3; 600,2 Littré; περιεστικόν: Epid. I 25 (11): I 201,14. 15 Kühlewein = II 678,2. 3 Littré; Epid. III 16: I 232,15. 16 Kühlewein = III 102,6. 7 Littré; κινδυνῶδες: De diaeta IV 93,1: CMG I 2,4, S. 228,22; De mul. aff. I 43: V III 102,4 Littré; ἀκίνδυνον: De loc. in hom. 26: VI 318,1f. Littré. Das Belegmaterial des Index Hippocraticus zu den noch nicht im Druck vorliegenden Stichwörtern ὀξύς, μέσος, ὀλέθριος und περιεστικός wurde mir freundlicherweise von Dr. V. Schmidt, Hamburg, zur Verfügung gestellt, dem ich dafür danken möchte. G. Preiser, Allgemeine Krankheitsbezeichnungen im Corpus Hippocraticum. Gebrauch von Nousos und Nosema, Berlin u. New York 1976, S. 37–50 (Ars Medica II 5). κακοήθης erscheint nicht in der Zusammenstellung der Adjektive bei Preiser, da es im Corpus Hippocraticum nicht in Verbindung mit den von ihm untersuchten Bezeichnungen νοῦσος und νόσημα gebraucht wird. Als Gegenstück zu εὐήθης, das Preiser, ebd., S. 39 unter ee) anführt, ist κακοήθης ebenfalls hier einzuordnen. [Gal.], Def. med. 142: XIX 389,15–18 Kühn.
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ihren Platz hat, während die vier anderen Krankheitsbezeichnungen, die sich auf den Ausgang der Krankheit beziehen, als geschlossene Gruppe am Schluß der Aufzählung erscheinen. Zur Klärung dieser Probleme können jedoch, so meinen wir, die Definitionen der Krankheitsbegriffe beitragen, die mit ihrer jeweiligen Aussage deutlich machen, daß der Differenzierung der hippokratischen Krankheitsbezeichnungen in den Definitiones medicae ähnliche Überlegungen zugrunde liegen wie der Zusammenstellung der betreffenden Adjektive nach Sachgruppen bei Preiser, und damit zugleich auch das Ordnungsprinzip erkennen lassen, das bei der Aufzählung der Krankheitsbezeichnungen beachtet wurde. Diesen Eindruck gewinnt man allerdings schwerlich, wenn man den entsprechenden Text in der Ausgabe von Kühn liest, da der erste Teil dieser Passage durch eigenmächtige Textergänzungen und -umstellungen, deren sich der Herausgeber René Chartier schuldig gemacht hat, stark entstellt ist15. Nach Ausweis der handschriftlichen Überlieferung umfaßt das Textstück neun Definitionen, die, wie bereits gesagt, sowohl in der Anzahl wie in der Reihenfolge der vorangehenden Aufzählung der Krankheitsbegriffe entsprechen. Von der ersten Definition, der Definition des ὀξὺ πάθος – πάθος und νόσημα werden hier synonym gebraucht –, sind nur die Frage und | die Einleitungsfloskel ὀξὺ πάθος ἐστίν überliefert; der Text der Definition dieses Begriffes16 einschließlich der Frage nach dem folgenden Definiendum und der Einleitungsfloskel κάτοξυ πάθος ἐστίν ist, vermutlich bedingt durch Homoioteleuton, ausgefallen. In der Definition des κάτοξυ πάθος heißt es, das sei eine Krankheit, die in ihrer Wirkung und in ihrem Erscheinungsbild größer und schwerer ist als die akute Krankheit, ihre Krisis in der Regel innerhalb von sieben Tagen hat und von Hippokrates auch als ὀξύτατον17 bezeichnet worden sei. Im Unterschied dazu wird die bösartige Krankheit als diejenige definiert, die zwar in ihrer Wirkung groß und schwer, in ihrem Erscheinungsbild aber unbedeutend ist und keine festgesetzten Krisenzeiten hat. Als Kennzeichen der chronischen Krankheit wird angegeben, daß sie sich zum Schlechteren und Besseren verändern kann und ihre Krisis im Verlauf von Monaten und Jahren hat oder auch zusammen mit dem Menschen stirbt, während von der mittleren Krankheit gesagt wird, daß sie, wie schon erwähnt, zwischen einer chronischen und einer akuten steht, indem sie sich auch ihrerseits zum Besseren und Schlechteren verändern kann, ihre Krisis aber innerhalb von 60 oder 80 Tagen hat. Das ὀλέθριον νόσημα wird als eine Krankheit definiert, die in jedem Falle und unter allen Umständen den Tod herbeiführt, das περιεστικὸν νόσημα dagegen als diejenige, die, soweit es sie selbst betrifft, niemals zum Tode führt. Als typisches Merkmal der gefährlichen Krankheit wird der Umstand genannt, daß sie eine gleiche Tendenz sowohl zum tödlichen Ausgang als auch zur Genesung hat, während | demgegenüber die ungefährliche Krankheit als 15
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Siehe J. Kollesch, René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens, Klio 48, 1967, S. 188f. und 191f. (= oben, S. 193 und 196f.). Die bei Kühn an dieser Stelle (XIX 388,9–11) abgedruckte Definition des ὀξὺ πάθος ist nur in dem Kodex Paris. 2153 überliefert, dessen Sondergut nicht als ursprüngliche Überlieferung betrachtet werden kann. Der Text der Definition des ὀξὺ πάθος dürfte in Analogie zu dem Wortlaut der Definition des κάτοξυ πάθος formuliert worden sein. Für den Gebrauch von ὀξύτατος zur Kennzeichnung der Krankheiten im Corpus Hippocraticum gibt es eine Reihe von Belegen; s. z.B. Epid. II 1,4: V 72,19 Littré; Aphor. III 9: IV 488,16 Littré; De morbo sacro 17,10: S. 88,11f. Grensemann = VI 394,6f. Littré.
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diejenige definiert wird, die, soweit es sie selbst betrifft, immer zur Genesung tendiert und in ihrer Wirkung mit der heilbaren Krankheit verglichen werden kann. Dem aufmerksamen Betrachter wird nicht entgangen sein, daß die Bestimmung des Wesens der einzelnen Krankheitsbegriffe in den Definitionen der hochgradig akuten Krankheit, der bösartigen Krankheit, der chronischen Krankheit und der mittleren Krankheit nach anderen Kriterien erfolgt als in den Definitionen der verderbenbringenden Krankheit, der heilbaren Krankheit, der gefährlichen Krankheit und der ungefährlichen Krankheit. Was die Definitionen der vier zuletzt genannten Krankheitsbegriffe miteinander verbindet, ist unbestreitbar die Tatsache, daß in ihnen der Ausgang der Krankheit das entscheidende Kriterium für die Begriffsbestimmung darstellt. Im Unterschied dazu erfolgt die Begriffsbestimmung in den ersten fünf Definitionen – die Definition der akuten Krankheit wird man sicher in diese Gruppe einbeziehen dürfen – unter einem doppelten Aspekt. Zum einen ist es die Krankheitsdauer, auf die mit der Angabe der jeweiligen Krisenzeiten bzw. im Falle des κακόηθες νόσημα mit der negativen Feststellung, daß es bei ihm keine feststehenden Krisenzeiten gibt, Bezug genommen wird, und zum anderen ist es der Krankheitsverlauf, der in Begriffen wie „in der Wirkung und im Erscheinungsbild groß, schwer, unbedeutend“ und „Veränderungen zum Besseren oder Schlechteren“ seinen Ausdruck findet. Wir können also feststellen, daß für den Verfasser dieser Definitionen bei der Differenzierung der hippokratischen Krankheitsbezeichnungen die gleichen Bezugspunkte maßgebend waren wie für Preiser. Die Krankheitsbezeichnung κακόηθες hat er jedoch nicht denjenigen Krankheitsbegriffen zugerechnet, die sich auf den Krankheitsausgang beziehen, sondern denen, die auf den Verlauf und die Dauer der Krankheit Bezug nehmen, eine Entscheidung, die nach unserem Dafürhalten durchaus berechtigt ist. Außerdem konnte er dadurch, daß er die | Krankheitsbegriffe ὀξύ, κάτοξυ, κακόηθες, χρόνιον und μέσον sowohl unter dem Aspekt des Krankheitsverlaufs als auch unter dem der Krankheitsdauer betrachtete, die akute und die chronische Krankheit als Gegensatzpaar einander gegenüberstellen und ihnen das μέσον νόσημα ohne Schwierigkeiten als Zwischenglied beigesellen. Wenn wir dem Verfasser der hippokratischen Krankheitseinteilung, wie sie uns in den Definitiones medicae begegnet, auch nicht den Vorwurf ersparen können, daß er mit der Bezeichnung μέσον νόσημα einen Krankheitsbegriff in das Einteilungsschema übernommen hat, der im Vokabular der Hippokratiker nicht vorkommt und als solcher ebenso wie etwa der Begriff des μέσος σφυγμός vermutlich erst in der hellenistischen Medizin geprägt wurde, so spiegeln doch die Definitionen der in den Schriften des Corpus Hippocraticum gebrauchten Krankheitsbegriffe das deutliche Bemühen der nachhippokratischen Ärzte wider, die frühen Krankheitsvorstellungen zu systematisieren und als Lehrmaterial aufzubereiten. Es ist auch nicht zu übersehen, daß unser Verfasser bestrebt war, sich auch mit seinen Formulierungen in den Definitionen möglichst nahe an die Hippokratestexte anzulehnen. So entspricht z.B. die Definition der chronischen Krankheit als τὸ μεταβάλλον ἐπὶ τὸ χεῖρον καὶ ἐπὶ τὸ κρεῖττον18 nahezu wörtlich der Formulierung τὸ μεταβάλλον ἐπὶ τὸ βέλτιον καὶ χεῖρον, χρόνιον in den Koischen Prognosen19. Zu vergleichen wären auch πρὸς 18 19
[Gal.], Def. med. 141: XIX 389,12f. Kühn. Coa praes. 564: V 712,14f. Littré.
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ὄλεθρον καὶ πρὸς σωτηρίαν in der Definition der gefährlichen Krankheit20 mit ἐπὶ σωτηρίην ἢ ὄλεθρον im ersten Buch der Epidemien21, συναποθνῇσκον (sc. χρόνιον νόσημα) τῷ ἀνθρώπῳ22 mit Aphor. II 39 ὅσα δ᾽ ἂν αὐτέοισι χρόνια νοσήματα γένηται, τὰ πολλὰ | ξυναποθνῄσκει23 oder die der Charakterisierung des Krankheitsverlaufs dienenden Begriffe μέγας und χαλεπός24 z.B. mit Epid. I 24 ὀξύταται … καὶ μέγισται καὶ χαλεπώταται νοῦσοι25. Dem Verfasser daraufhin unterstellen zu wollen, daß er es darauf abgesehen hatte, seine eigenen Definitionen als bereits von Hippokrates formulierte Begriffsbestimmungen auszugeben, ginge aber sicher zu weit.
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[Gal.], Def. med. 145: XIX 390,7 Kühn. Epid. I 26 (12): I 202,7 Kühlewein = II 680,8 Littré. [Gal.], Def. med. 141: XIX 389,14 Kühn. Aphor. II 39: IV 482,1f. Littré. [Gal.], Def. med. 139. 140: XIX 388,17; 389,7f. Kühn. Epid. I 24 (11): I 200,6f. Kühlewein = II 672,3f. Littré.
3. ZUR ΣΗΜΕΙΩΣΙΣ-LEHRE DER EMPIRISCHEN ÄRZT ESCHULE*
Um die Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. begann sich in der griechischen Medizin eine Strömung herauszubilden, deren Anhänger sich nach dem hauptsächlichsten Charakteristikum ihrer Methode als ἐμπειρικοί (Empiriker) bezeichneten. Aus einem bewußten Gegensatz zu den sog. Dogmatikern oder Logikern unter den Ärzten heraus gründeten die Empiriker ihre medizinischen Lehren allein auf die Erfahrung. Wie schon ihre Einteilung der Heilkunde in die drei Disziplinen Semiotik, Therapeutik und Hygiene – die letztere ist mit der Diätetik nach antikem Verständnis gleichzusetzen – zeigt, verbannten sie die rein theoretischen Fächer, wie Physiologie, Anatomie und Ätiologie aus ihrem medizinischen System und richteten ihr Augenmerk ganz auf die praktische Seite der Medizin. Dabei stand die Therapie, die Behandlung der Kranken, naturgemäß im Vordergrund des Interesses. Doch fand auch die Semiotik, mit der wir uns im folgenden etwas eingehender beschäftigen wollen, im Lehrgebäude der Empiriker Beachtung und wurde ihren Zwecken entsprechend weiterentwickelt und ausgebaut. Von den empirischen Ärzten sind keine selbständigen Schriften erhalten geblieben. Abgesehen von gelegentlichen Referaten späterer medizinischer Autoren, hauptsächlich Galens, über Lehren und Anschauungen der Empiriker sind nur spärliche Bruchstücke ihrer Werke, als Zitate in griechischen und lateinischen Schriften, vor allem aus der römischen Kaiserzeit, überliefert, auf uns gekommen. Es ist das große Verdienst Karl Deichgräbers, die Fragmente und die Nachrichten über Leben und Wirken der empirischen Ärzte, soweit sie als empirisch bezeugt sind oder sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als empirisches Gut nachweisen ließen, in seiner Monographie über die griechische Empirikerschule1 zusammengetragen und für eine Darstellung der empirischen Lehren ausgewertet zu haben. Daß trotzdem zu dem einen oder anderen Fragenkomplex aus diesem Bereich Nachträge möglich und nötig sind, hat seine Ursache darin, daß bisher nur ein Teil des antiken medizinischen Schrifttums in wirklich zuverlässigen textkritischen Ausgaben vorliegt. Daher kann sich bei der Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung zu einem der noch nicht kritisch edierten Texte, die bisweilen eine grundlegend neue Textsituation schafft, immer wieder einmal ein neuer Gesichtspunkt oder ein Zusatz zu einem bestimmten Problem aus dem weitgespannten Themenkreis „Empirikerschule“ ergeben, wie es z.B. bei der pseudogalenischen * Erschienen in: Verh. d. XX. Internationalen Kongresses für Geschichte d. Medizin, Berlin, 22.–27. August 1966, hrsg. v. H. Goerke und H. Müller-Dietz, Hildesheim 1968, S. 273–277. 1
Die griechische Empirikerschule. Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, 2. Aufl., Berlin u. Zürich 1965.
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Schrift mit dem Titel „Definitiones medicae“ im | Zusammenhang mit der empirischen Semiotik der Fall ist, deren Edition von mir für den Druck vorbereitet wird. Doch bevor wir uns den Definitiones medicae zuwenden, muß ich zum besseren Verständnis einige grundsätzliche Bemerkungen über die empirische σημείωσιςLehre vorausschicken, wobei ich mich weitgehend auf die Ausführungen Deichgräbers stützen kann. Das σημειωτικὸν μέρος τῆς ἰατρικῆς bzw. die σημείωσις der Empiriker beinhaltet die Lehre von den Anzeichen (σημεῖα) der Krankheiten. Während diese Zeichen oder Symptome den dogmatischen Ärzten, wie Deichgräber schreibt2, dazu dienten, das Wesen der jeweiligen Krankheit zu erkennen, auf Grund dessen sie dann die Therapie bestimmten, lieferten sie den Empirikern direkt die Hinweise für die Behandlung. D.h., die empirischen Ärzte beachteten die Zeichen nicht, um Krankheiten zu diagnostizieren – die Krankheiten als solche interessierten sie nicht –, sie beachteten die Zeichen lediglich, um die von ihnen als notwendig erkannte symptomatische Therapie festsetzen zu können. Die Semiotik wird damit, wenn man so will, zur theoretischen Grundlage des medizinischen Systems der Empiriker. Doch bleibt sie im Gegensatz zur dogmatischen Medizin frei von jeder Spekulation. Denn die empirischen Ärzte kümmerten sich nur um die für jeden sichtbaren Zeichen, die φαινόμενα (Fieber, Ödeme, Erbrechen und ähnliches), die mit den Sinnen wahrnehmbar sind, nicht aber um die ἄδηλα, die verborgenen Dinge – zu ihnen gehören z.B. die Ursachen einer Krankheit –, die allein mit Hilfe von theoretischen Überlegungen erkannt bzw. erschlossen werden können. In den schon erwähnten empirischen Einteilungsschemata der Medizin wird die Semiotik ihrerseits noch unterteilt3. Sie wird einmal aufgeteilt in die διάγνωσις τῶν παρόντων bzw. das παθογνωμονικὸν μέρος (= Diagnose der im Krankheitsfall gegenwärtig vorliegenden Symptome) und die πρόγνωσις τῶν μελλόντων bzw. das προγνωστικὸν μέρος (= Prognose der im weiteren Krankheitsverlauf zu erwartenden Symptome). Eine zweite Unterteilung der Semiotik ist die τρίχρονος σημείωσις. Dieses Einteilungsprinzip folgt den drei Zeiten des Krankheitsverlaufs, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, auf die sich die σημεῖα beziehen können. Der Unterteilung der Semiotik nach den drei Zeiten entsprechen auch die beiden für die Empiriker bezeugten Dreierschemata der Zeichen, von denen das eine zwischen diagnostischen, therapeutischen und prognostischen Zeichen unterscheidet, während das andere von Zeichen des gegenwärtigen, des vergangenen und des zukünftigen Zustandes der Krankheit spricht4. Die beiden Einteilungsschemata decken sich nicht ganz. Die diagnostischen Zeichen der ersten Reihe sind nichts anderes als die σημεῖα τῶν παρόντων (die Zeichen des gegenwärtigen Zustandes der Krankheit) aus der zweiten Reihe, beide Zeichengruppen dienen zur Bestimmung des jeweils vorliegenden Symptomenkomplexes. Ebenso sind auch die prognostischen Zeichen mit den σημεῖα τῶν μελλόντων (den Zeichen, die den zukünftigen Krankheitsverlauf angeben) identisch. Dagegen gibt es zwischen den therapeutischen Zeichen auf der einen Seite und den Zeichen des voraufgegangenen Zustandes des Kranken auf der anderen Seite keine Entsprechungen. Die letzteren, die σημεῖα τῶν προγεγονότων, tragen dazu bei, bestimmte Symptome eindeutiger zu diagnostizieren, indem sie den Arzt beispiels2 3 4
a. a. O., S. 308. Siehe K. Deichgräber, a. a. O., S. 289 u. 291. Siehe K. Deichgräber, a. a. O., S. 309f.
Zur σημείωσις-Lehre der empirischen Ärzteschule
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weise über die Art und Weise einer in der Vergangenheit erfolg|ten Verletzung informieren und so Schlüsse auf den gegenwärtigen Krankheitszustand zulassen. Die therapeutischen Zeichen jedoch helfen dem Arzt, wie schon der Name besagt, bei einem bestimmten Krankheitsfall die richtige Behandlung zu finden, und zwar dadurch, daß er sich an die Therapie des gleichen Falles aus früherer Zeit erinnert. Deshalb werden diese Zeichen von den Empirikern auch ἀναμνηστικὰ bzw. ὑπομνηστικὰ σημεῖα (erinnernde Zeichen) genannt. Unter die Fragmente, denen wir die Kenntnis der empirischen Semiotik verdanken, hat Deichgräber auch die Definition des eben erwähnten ὑπομνηστικὸν σημεῖον aus den pseudogalenischen Definitiones medicae5 aufgenommen, da sie expressis verbis als empirisch bezeugt ist. In Wirklichkeit dürfte aber die Zahl der empirischen σημεῖα-Definitionen in dieser Schrift größer sein, wie die handschriftliche Überlieferung zu den Definitiones medicae zeigt, die ich für die textkritische Edition dieses Werkes aufgearbeitet habe. Unter anderem findet sich hier eine erst auf Grund der neuen Textsituation erkennbare Dreiteilung der Zeichen in 1. παθογνωμονικὰ, 2. προγνωστικὰ und 3. βοηθηματικὰ σημεῖα6. Sie weicht zwar mit den Begriffen παθογνωμονικὰ und βοηθηματικὰ σημεῖα in der Terminologie von der uns schon als empirisch bekannten Dreiteilung in diagnostische, prognostische und therapeutische Zeichen ab, doch sind wir auf Grund der inhaltlichen Übereinstimmung, die zweifellos zwischen den sich entsprechenden Gliedern der beiden Einteilungen besteht, berechtigt, sie für die Empiriker in Anspruch zu nehmen, um so mehr als auch in den empirischen Einteilungsschemata der Semiotik die διάγνωσις τῶν παρόντων und das παθογνωμονικὸν μέρος zur Bezeichnung des gleichen Tatbestandes gebraucht werden7. Weiterhin begegnet uns in den Definitiones medicae eine Gruppe von Zeichen, die nach gegenwärtigen, vergangenen und hinzugekommenen Zeichen gegliedert sind8. Da jede dieser drei Arten von Zeichen nochmals, und zwar nach den drei Zeiten, d.h. also nach der τρίχρονος σημείωσις, unterteilt wird, dürften wir nicht fehlgehen, wenn wir auch diese acht σημεῖα-Definitionen – warum es nicht neun, sondern nur acht sind, wird im folgenden näher ausgeführt – den Empirikern zuweisen. Wurde in den bisher als empirisch bekannten Einteilungsschemata nur von gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeichen gesprochen, so ist in diesem in den Definitiones medicae vorliegenden Schema die Rede 1. von gegenwärtigen Zeichen für die Gegenwart, für die Vergangenheit und für die Zukunft, 2. von vergangenen Zeichen für die Gegenwart, für die Vergangenheit und für die Zukunft und 3. von hinzugekommenen Zeichen der Gegenwart und der Vergangenheit. In der letzten Gruppe fehlt das dritte Glied, was sich, wie wir noch sehen werden, aus sachlichen Gründen nicht umgehen ließ. Was wir im einzelnen unter diesen Zeichen zu verstehen haben, möchte ich an den in den Definitiones medicae beigebrachten Beispielen näher ausführen, wobei ich, abweichend von der bis jetzt maßgeblichen Kühnschen Galenausgabe, einen Text zugrunde lege, wie er sich mir nach den Handschriftenkollationen als authentisch darstellt. 5 6 7 8
Galeni Opera omnia, ed. C. G. Kühn, Bd. XIX, Leipzig 1830, S. 396,12–14. XIX 395 Kühn. Siehe K. Deichgräber, a. a. O., S. 289. XIX 396,15–398,4 Kühn.
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Zur σημείωσις-Lehre der empirischen Ärzteschule
1. Die gegenwärtigen Zeichen für die Gegenwart umfassen jeweils alle Symptome einer Krankheit, sie sind also mit den uns schon bekannten διαγνωστικὰ bzw. | παθογνωμονικὰ σημεῖα identisch. Solange sie vorhanden sind, dauert auch die Krankheit an, verschwinden sie, hört auch die Krankheit auf. 2. Als Beispiel für ein gegenwärtiges Zeichen eines krankhaften Zustandes in der Vergangenheit wird angeführt, daß eine Narbe eine voraufgegangene Wunde erkennen läßt. 3. Das leichenartige Aussehen des Gesichts eines Patienten gilt als gegenwärtiges Zeichen für den bevorstehenden Tod, es ist also ein gegenwärtiges Zeichen, das über den weiteren Krankheitsverlauf Aufschluß gibt. Soweit die gegenwärtigen Zeichen. Etwas komplizierter wird es schon, den Gedankengängen unseres Autors bzw. seiner Vorlage bei der Erklärung der vergangenen Zeichen zu folgen. Denn hier zeigt sich bereits, daß die nochmalige Dreiteilung der Krankheitszeichen um ihrer selbst willen, aus rein formalen Prinzipien heraus geschah – die Vorliebe der Empiriker für die Dreizahl und für Symmetrie in ihren Gliederungen erhellen auch ihre Einteilungsschemata der Heilkunde9 –, und so konnte es nicht ausbleiben, daß die angeführten Beispiele für die einzelnen Zeichen bisweilen nicht recht überzeugen und nur mehr als Sophismen zu verstehen sind oder daß sogar, wie in der dritten Gruppe, das Dreierschema aufgegeben werden mußte. 1. Für die vergangenen Zeichen der Gegenwart werden zwei Beispiele gebracht. Es heißt dort, daß ein in der Vergangenheit erfolgter Schlangenbiß ein Zeichen dafür ist, daß sich der Patient im gegenwärtigen Augenblick in Lebensgefahr befindet, das gleiche gilt auch für eine stattgehabte Verwundung des Dünndarms. 2. Als Erklärung des vergangenen Zeichens für einen vergangenen Zustand wird gesagt: „Zum Beispiel (ist) das Sich-Erholen (sc. des Patienten) zur Zeit des Abklingens (der Krankheit ein Zeichen) dafür, daß (die Krankheit) abgeklungen ist.“ 3. Die beiden Beispiele für vergangene Zeichen eines zu erwartenden Zustandes besagen, daß, wenn eine Stelle von einem Knochen abgerieben wurde, dies anzeigt, daß sie während des Heilungsprozesses verhärten wird, oder daß es auf eine hohle Narbe hindeutet, wenn ein Stück Knochen aus dem Schädel herausgenommen worden ist. In der dritten und letzten Gruppe, der Gruppe der ἐπιγεγονότα σημεῖα, fehlt, wie ich schon sagte, das dritte Glied. Da der Text in allen Handschriften, in denen die Definitiones medicae überliefert sind, an dieser Stelle mehr oder weniger stark verderbt ist, bestünde die Möglichkeit zu der Annahme, die nach dem Vorbild der beiden voraufgehenden Zeichengruppen zu erwartende dritte Definition der ἐπιγεγονότα σημεῖα sei in der handschriftlichen Tradition verlorengegangen. Ich halte das jedoch für unwahrscheinlich, denn ein hinzugekommenes Zeichen für die Zukunft ist schon aus logischen Gründen undenkbar. Symptome, die bei einem bestimmten Krankheitsbild nachträglich hinzukommen können, kann man sich allenfalls als Zeichen für den gegenwärtigen oder bereits vergangenen Verlauf einer Krankheit vorstellen, z.B. daß der im Gefolge einer Verletzung auftretende Wundstarrkrampf, wie es heißt, ein Anzeichen dafür ist, daß der Patient im gegenwärtigen Augenblick unabhängig von dem Grad der Verletzung in Lebensgefahr schwebt, oder auf die Vergangenheit bezo9
Siehe K. Deichgräber, a.a.O., S. 291 und die dort gegebenen graphischen Darstellungen der empirischen Einteilung der ἰατρικὴ τέχνη.
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gen, daß die Lebensunfähigkeit | eines Verletzten auf den durch eine Verletzung in der Vergangenheit zusätzlich hervorgerufenen Starrkrampf hinweist. Die dritte Gruppe der hinzugekommenen Zeichen dagegen, die sich auf die Zukunft beziehen müßten, ist uns unser Autor offenbar aus sachlichen Erwägungen heraus schuldig geblieben. Denn wenn es auch möglich war, auf Grund bestimmter Symptome, die in der Gegenwart oder in der Vergangenheit auftreten, einen bestimmten Krankheitsverlauf im voraus anzugeben, wie die Beispiele für die gegenwärtigen bzw. vergangenen Zeichen der Zukunft gezeigt haben, so war es auf jeden Fall unmöglich, eventuell auftretende Komplikationen, und um solche handelt es sich ja bei den ἐπιγεγονότα σημεῖα, für die Zukunft vorauszusagen. Sachliche Gründe waren es also, die den Verfasser dieses Einteilungsschemas der σημεῖα dazu zwangen, auf das dritte Glied in der letzten Zeichengruppe und damit auf eine vollständig symmetrische Gliederung zu verzichten. Der enge Zusammenhang dieses Einteilungsprinzips mit der empirischen τρίχρονος σημείωσις springt aber trotz der angedeuteten Inkonsequenz in der Dreiteilung so deutlich in die Augen, daß es kaum mehr einem Zweifel unterliegen dürfte, daß wir auch in diesen acht Definitionen empirisches Gut vor uns haben. Sie bestätigen nicht nur die bisher bekannten Theorien der Empiriker auf dem Gebiet der Semiotik, sondern legen darüber hinaus ein beredtes Zeugnis ab von den Bemühungen der empirischen Ärzte um eine straffe Systematisierung ihres Lehrgebäudes.
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4. ZUM FORT LEBEN DER PSEUDOGALENISCHEN DEFINI T IONES MEDICAE IN DER MEDIZIN DES LAT EINISCHEN MI T T ELALT ERS*
Unter den Schriften des Corpus Galenicum ist ein pseudoepigraphischer Traktat vermutlich aus dem Ende des 1. Jahrhunderts u.Z.1 auf uns gekommen, der den Titel Ὅροι ἰατρικοί (Medizinische Definitionen)2 trägt. Nach den einleitenden Worten des Verfassers wurde diese Schrift als Lehrbuch für Medizinstudenten und Nachschlagewerk für junge Ärzte geschrieben. Sie ist in 28 griechischen Handschriften, teils vollständig, teils fragmentarisch, überliefert3, von denen allerdings nur eine aus dem 10. Jahrhundert stammt. Die übrigen Codices sind verhältnismäßig jungen Datums, sie gehören dem 14.–16. Jahrhundert an. Daß sich unser medizinisches Lehrbuch im griechischen Sprachbereich aber nicht nur in späterer Zeit großer Beliebtheit erfreut hat, beweist u.a. die Tatsache, daß die Handschriften z.T. einen vielfach abweichenden Text bieten. Denn diese bisweilen recht wesentlichen Textabweichungen lassen darauf schließen, daß die Schrift auch schon in früher Zeit viel benutzt wurde und dabei ändernden Eingriffen ausgesetzt war. Um so auffallender ist es, daß es nur zwei lateinische Übersetzungen von den Medizinischen Definitionen gibt, die handschriftlich überliefert sind.4 Eine der beiden wurde im Jahre 1524 von dem italienischen Arzt und Gelehrten Euphrosynus Boninus aus Florenz5 angefertigt, d.h. also etwa ein Jahr vor dem Erscheinen der ersten gedruckten griechischen Galenausgabe (erschienen 1525 bei Aldus in Venedig), während die zweite, eine anonyme Übersetzung, sogar nur in einer Handschrift aus dem 17. Jahrhundert erhalten ist.6 Das besagt zwar noch nichts über das Alter dieser lateinischen Version, da jedoch beide Übersetzungen, sowohl die anonyme als auch die des Euphrosynus Boninus, anhand einer heute bekannten und verhältnismäßig jungen griechischen Überlieferung gefertigt wurden, sind sie ebensowenig wie die vier * Erschienen in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 14, 1968/1969, S. 55–59. 1
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Siehe Verf., Zur Geschichte des medizinischen Lehrbuchs in der Antike, in: Aktuelle Probleme aus der Geschichte der Medizin, Verhandlungen des XIX. Internationalen Kongresses für Geschichte der Medizin, Basel 1964, Basel u. New York 1966, S. 203f. (= oben, S. 41f.). Zuletzt gedruckt in der Gesamtausgabe der Werke Galens von C. G. Kühn, Bd. 19, Leipzig 1830, S. 346–462. Siehe H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, I. Teil, Berlin 1905, S. 111. Siehe ibid. Name des Übersetzers und Jahresangabe finden sich in den beiden Handschriften, in denen die Übersetzung überliefert ist (vgl. H. Diels, ibid.); s. auch Chr. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrtenlexikon, Leipzig 1750, s.v. Bonini, Euphrosinus. London, Regius 12 F III, f. 1–27v; diese Handschrift ist bei Diels irrtümlich unter den griechischen Codices aufgeführt.
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im Druck erschienenen lateinischen Renaissanceübersetzungen der Ὅροι7 Zeugen für eine alte lateinische Tradition unserer Schrift. Wenn nun auch jedes direkte Zeugnis für ein Fortleben der Medizinischen Definitionen in der Spätantike und im frühen Mittelalter im lateinischen Sprachbereich fehlt, so scheint es doch einen indirekten Hinweis zu geben, daß eine spätlateinische Übersetzung der Schrift existiert hat. V. Rose hat 1870 in seinen Anecdota Graeca et Graecolatina einen lückenhaften Text unter der Überschrift „Pseudo-Soranus, Quaestiones medicinales“ nach einer Londoner Handschrift aus dem 13. Jahrhundert (Cottonianus Galba, E. IV, f. 238b–244b2) vorgelegt.8 Von ihm behauptet er, daß er unter gleichzeitiger Benutzung methodischer Quellen „im wesentlichen sich | als eine in ordnung und umfang von dem jetzigen griechischen texte zwar vielfach abweichende alte lateinische bearbeitung der Pseudo-Galenischen ὅροι darstellt“9, obwohl er zugeben muß, daß sich die Fragen zu einem großen Teil nur dem Gegenstand nach, nicht aber im Wortlaut mit den griechischen Definitionen decken.10 H. Stadler hat 36 Jahre später aus einer Handschrift des 10. Jahrhunderts, die in Chartres aufbewahrt wird (Cod. 62) und auf den Folia 1–15 den gleichen pseudosoranischen Traktat, diesmal ohne die durch Blattverlust entstandenen Lücken des Roseschen Textes, überliefert, den Text der ersten Lücke bei Rose publiziert.11 Der Roseschen Beurteilung der Schrift als einer alten lateinischen Bearbeitung der pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί, der er sich anschließt, fügt er hinzu, daß 1. sich eine Gruppe von anatomischen Definitionen daraus „jetzt überhaupt nicht mehr in den ὅροι, sondern in der gleichfalls pseudogalenischen Schrift: εἰσαγωγὴ ἢ ἰατρός“ findet12, daß 2. der Text der Handschrift aus Chartres „vielfach von dem Roses abweicht“ und daß 3. in seinem zweiten Teil „die Ordnung so gestört ist, daß man die einzelnen Stücke nach der griechischen Vorlage (gemeint sind wieder die Medizinischen Definitionen) erst zusammensuchen muß.“13 Wiederum knapp 30 Jahre später entdeckt B. Lawn in einer Oxforder Handschrift aus dem 12. Jahrhundert (Lincoln Cath. Lib. 220, ff. 22–44) eine dritte Fassung der pseudo-soranischen Schrift. Sie ist vollständiger als der bei Rose abgedruckte Text, sie ist aber auch umfangreicher als der Text, den die Handschrift aus Chartres bietet, und wird von Lawn als Kompilation aus methodischen Quellen, aus den pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί und aus anderem galenischen Schriftgut charakterisiert.14 Es ist hier nicht der Ort und auch nicht meine Aufgabe, die Frage des Verhältnisses der drei Textfassungen der pseudosoranischen Quaestiones medicinales zueinander endgültig zu lösen oder gar die Quellenfrage der Schrift zu untersuchen und das Werk des lateinischen Übersetzers nach sprachlichen und stilistischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Das muß dem künftigen Herausgeber dieses Textes überlassen bleiben. 7
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Siehe R. J. Durling, A Chronological Census of Renaissance Editions and Translations of Galen, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 24, 1961, S. 285. V. Rose, Anecdota Graeca et Graecolatina, H. 2, Berlin 1870, S. 243–274. ibid., S. 170. ibid., S. 173. H. Stadler, Neue Bruchstücke der Quaestiones medicinales des Pseudo-Soranus, in: Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik 14, 1906, S. 361–368. ibid., S. 361. ibid., S. 362. B. Lawn, The Salernitan Questions, Oxford 1963, S. 9f.
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Uns soll der Text hier nur insoweit interessieren, als er ein Stück Überlieferungsgeschichte der pseudogalenischen Medizinischen Definitionen darstellt. Ich hatte die Möglichkeit, die erst nach der Edition von Rose bekannt gewordenen Texte in den Codices aus Chartres und Oxford in Filmaufnahmen einzusehen. Das Ergebnis, das der Vergleich der drei Textfassungen erbrachte, war einigermaßen überraschend. Der Text des ältesten Überlieferungszeugen der pseudosoranischen Schrift, der Text der Handschrift aus Chartres, weicht nicht nur vielfach von dem bei Rose gedruckten ab, wie Stadler schreibt, in ihm fehlen darüber hinaus im Gegensatz zu den beiden anderen Textfassungen durchweg alle Definitionen, die sich eindeutig als Übersetzung unserer Ὅροι erkennen lassen. Hier von einem mechanischen Textausfall zu sprechen dürfte kaum noch angehen, und so wird man diesen Text, für den es infolgedessen nicht mehr zutrifft, ihn als alte lateinische Bearbeitung der pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί zu bezeichnen, von vornherein beiseite lassen dürfen, wenn es darum geht, das Weiterleben dieser Schrift zu verfolgen. | Anders ist es dagegen mit den beiden jüngeren und in ihrem Gesamtbestand umfangreicheren Textfassungen, die als Vertreter der gleichen Überlieferung angesehen werden können, wenn man einmal von den überlieferungsbedingten Textverderbnissen, die sich durchaus im Rahmen des Üblichen bewegen, dem Fehlen des Anfangs der Schrift in der Oxforder Handschrift sowie den durch Blattverlust entstandenen Textlücken in dem von Rose benutzten Codex absieht. Hier steht die Benutzung der Ὅροι außer jedem Zweifel, um so mehr, als sich der Übersetzer in den meisten Fällen um eine erstaunlich wortgetreue Übertragung seiner griechischen Vorlage bemüht hat.15 Ebenso außer Zweifel dürfte es allerdings auch stehen, daß die Fragen in den Quaestiones medicinales, die nachweislich aus den Ὅροι ἰατρικοί stammen, erst gelegentlich einer späteren Überarbeitung der ursprünglich kürzeren Fassung, die in der Handschrift aus Chartres erhalten ist und deren Fragen, wie ich schon sagte, mit den Definitionen in unseren Ὅροι nichts außer dem Gegenstand, diesen allerdings zu einem sehr großen Teil, gemein haben, in den Text gelangt sind. Dafür sprechen besonders die Stellen, an denen der Bearbeiter zu einer auch in der Chartres-Handschrift vorhandenen Definition eines bestimmten Gegenstandes eine zweite Definition folgen läßt oder auch voranschickt, die sich als Übersetzung einer Definition aus den Ὅροι erweist.16 Der Bearbeiter der pseudosoranischen Schrift scheint die Ὅροι aber auch für eine Neuordnung seines Textes als Vorlage benutzt zu haben. Denn genausowenig wie in den Fragen der ursprünglich kurzen Fassung der Quaestiones medicinales eine Übersetzung oder lateinische Bearbeitung der Ὅροι gesehen werden darf, genausowenig darf man, wie Stadler es noch glaubte, die Anordnung der Fragen in dem Text der Chartres-Handschrift nach dem Vorbild der Medizinischen Definitionen korrigieren wollen, auch wenn sich bisweilen eine ähnliche oder sogar gleiche Reihenfolge feststellen läßt.17 Eine wirkliche Übereinstimmung in der Abfolge der Fragen bzw. Definitio15
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Man vergl. z.B. 255,15f. Rose und 372,1f. Kühn, 265,24f. Rose und 411,4–6 Kühn oder 268,28–30 Rose und 414,9–13 Kühn. Z.B. bei der Definition der Cholera (Chart. 62, f. 8r und Lincoln Cath. Lib. 220, f. 33r) oder bei der Definition der coiliaca diathesis (Chart. 62, f. 9v und Lincoln Cath. Lib. 220, f. 34v). Daß es neben den pseudogalenischen Ὅροι ἰατρικοί noch andere medizinische Schriften gegeben haben muß, die ihnen in Anlage und Gliederung des Stoffes entsprachen, habe ich an anderer
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nen besteht nur zwischen der jüngeren Fassung der Quaestiones medicinales und den Ὅροι, und zwar ist diese Übereinstimmung wesentlich größer, als Rose annahm, der davon spricht, daß in beiden Texten die Ordnung erheblich gestört sei.18 Denn die lateinische Schrift folgt sehr eng der Reihenfolge der Definitionen in den Ὅροι, wie sie uns in der handschriftlichen Überlieferung vorliegt. Diese weicht aber z.T. beträchtlich von der Anordnung und Anzahl der Definitionen in der Kühnschen Galenausgabe ab, da Kühn einen Ὅροι-Text ediert hat, der von dem Galenherausgeber René Chartier (17. Jahrhundert) eigenmächtig weitgehend verändert worden ist.19 Soweit es möglich war, hat der spätere Redaktor der Quaestiones medicinales die Reihenfolge der Definitionen in den Ὅροι auch dort einzuhalten versucht, wo die Fragen nicht im Wortlaut, sondern nur dem Inhalt nach den Definitionen der griechischen Schrift entsprachen. Desgleichen hat er sich auch bei der äußeren Gliederung seines Textes nach dem Vorbild der pseudogalenischen „Definitionen“ gerichtet, wie ein Vergleich beider Schriften zeigt. Das gilt nicht nur für die Hauptabschnitte, in denen nacheinander wissenschaftstheoretische Begriffe, Anatomie der inneren Organe, Physiologie und Pathophysiologie abgehandelt werden, sondern | auch für die Aufgliederung des Kapitels über Pathophysiologie in Krankheitsbegriffe, Ätiologie, Fieberlehre, Pulslehre, Semiotik, akute Krankheiten, chronische Krankheiten, Frauenkrankheiten und Erkrankungen der einzelnen Körperteile einschließlich der Knochenchirurgie.20 Doch brauchen uns diese Probleme in unserem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren. Wichtig für uns ist allein die Tatsache, daß in zwei Handschriften aus dem 12. Jahrhundert und 13. Jahrhundert eine teilweise lateinische Übersetzung der Ὅροι ἰατρικοί vorliegt, die in die letzte Übersetzungsperiode der Spätantike, etwa in das 5. bis 6. Jahrhundert u.Z. zurückreicht. Es ist dabei für unsere Fragestellung ohne Belang, ob die Verschmelzung der ursprünglichen Fassung der pseudosoranischen Quaestiones medicinales, die uns in der Handschrift aus Chartres erhalten ist, mit den Auszügen aus den Ὅροι ἰατρικοί bereits in der Antike oder erst im Mittelalter, spätestens zur Zeit der Niederschrift des Oxforder Codex, erfolgte. Auf jeden Fall zeigt diese Übersetzung, daß unser medizinisches Lehrbuch auch im lateinischen Bereich des ausgehenden Altertums bekannt war und daß es als solches, wenn auch nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt, das ganze Mittelalter hindurch bis hinein in das 13. Jahrhundert fortgewirkt hat. Darüber hinaus repräsentiert diese spätantike Übersetzung eine handschriftliche Tradition der Ὅροι ἰατρικοί, die älter ist als die gesamte griechische Überlieferung, die uns heute zur Verfügung steht und deren ältester Textzeuge, wie wir schon hörten, aus dem 10. Jahrhundert stammt. Freilich hat eine solche Fassung, die durch mehrere Hände gegangen ist und den griechischen Text in lateinischer Übersetzung nur auszugsweise, noch dazu im Rahmen einer Kompilation bietet, für die Textkonstituierung
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Stelle wahrscheinlich zu machen versucht (Zur Geschichte des medizinischen Lehrbuchs in der Antike, a. a. O., S. 203–208 [= oben, S. 41–45]). V. Rose, a. a. O., S. 170. Siehe dazu Verf., René Chartier – Herausgeber und Fälscher der Werke Galens, Klio 48, 1967, S. 183–198 (= oben, S. 187–202). Siehe Verf., Zur Geschichte des medizinischen Lehrbuchs in der Antike, a. a. O., S. 205 (= oben, S. 43).
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der Ὅροι, deren erste textkritische Edition von mir für den Druck vorbereitet wird, nur mehr den Wert einer Sekundärquelle. Doch kann sie bei Alternativentscheidungen, vor die man durch die griechische Überlieferung gestellt wird, als Korrektiv wertvolle Dienste leisten und auf diese Weise dazu beitragen, den griechischen Text der Schrift mit größerer Sicherheit in seiner authentischen Fassung wiederherzustellen.
1. T HERAPEUT ISCHE GRUNDSÄT ZE IM W ERK DES V INDICIAN*
Die wissenschaftliche Medizin der Antike, deren Anfänge eng mit dem Namen Hippokrates verknüpft sind und die den anatomischen Forschungen der alexandrinischen Ärzte eine wesentliche Förderung verdankte, erlebte im ersten Jahrhundert u.Z. eine letzte Zeit außerordentlich fruchtbaren Schaffens, das im darauffolgenden Jahrhundert durch das immense Werk Galens von Pergamon gekrönt wurde, zugleich aber auch seinen Abschluß fand. Dieser Abschluß bedeutete für die Antike gleichzeitig das Ende der wissenschaftlichen Medizin, d.h. der selbständigen wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Heilkunde, nicht aber der medizinischen Schriftstellerei. Im griechischen Raum entstanden in den folgenden Jahrhunderten z.T. recht umfangreiche medizinische Handbücher, die aus älteren Werken, überwiegend aus den Schriften Galens, kompiliert wurden und – soweit sie erhalten sind – im allgemeinen eine sklavische Abhängigkeit der Verfasser von ihren Quellen erkennen lassen. Dagegen beschränkte sich das lateinische medizinische Schrifttum dieser Zeit auf Rezeptliteratur, wenn man von den wenigen Autoren absieht, die sich, wie z.B. im 5. Jahrhundert Caelius Aurelianus, um die Übersetzung der Werke griechischer Ärzte bemühten. Eine rühmliche Ausnahme in der Reihe derer, die solche Rezeptbücher, die in erster Linie für den Gebrauch von Laien bestimmt waren, zusammenstellten, bildete der um die Mitte des 4. Jahrhunderts lebende Arzt Vindicianus Afer. Gebürtiger Afrikaner, gehörte Vindician unter Kaiser Valentinian zu den kaiserlichen Leibärzten. Das Lob, das ihm von Augustinus1 und von seinem Schüler Theodorus Priscianus2 zuteil wird, läßt erkennen, daß seine Leistungen über das sonst übliche Niveau hinausgingen. So hat er auch – die ihm zugeschriebenen Schriften und Fragmente bezeugen es – neben einem Rezeptbuch, das eine Sammlung erprobter Heilmittel darstellte, Schriften medizinisch-theoretischen Charakters verfaßt. Daß er in seinen Theorien den großen Ärzten der Vergangenheit verpflichtet ist, braucht bei einem Autor dieser Zeit nicht zu verwundern. Zum Beispiel gehen seine spermatologischen und gynäkologischen Traktate auf entsprechende Abhandlungen des unter Kaiser Trajan wirkenden Arztes Soran von Ephe|sos zurück, während er in einem
* Erschienen in: NTM, Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 3, 1966, H. 7, S. 27–31. 1
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Confessiones V II 6, hrsg. von P. Knöll, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 33, Prag, Wien, Leipzig 1896, S. 148,16. Physica 3, in: Theodori Prisciani Euporiston libri III, hrsg. von V. Rose, Leipzig 1894, S. 251,15–20.
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Therapeutische Grundsätze im Werk des Vindician
Brief an seinen Enkel Pentadius3, in dem er über die Natur und den Aufbau des menschlichen Körpers spricht, die aus der hippokratischen Schrift De natura hominis entwickelte Viersäftelehre übernommen hat. Hippokratischer Lehre entsprechen auch die ebenfalls in diesem Brief dargelegten humoralpathologischen Ansichten und der therapeutische Grundsatz, die Krankheiten seien durch entgegengesetzte Mittel zu heilen. Man wird sich fragen müssen, ob die Anklänge an die hippokratische Medizin in dem kleinen Traktat des Vindician, den er für seinen Enkel verfaßt hatte, nur zufällig durch die Quelle bedingt waren oder ob die hippokratische Medizin auch in seinem ärztlichen Handeln eine Rolle gespielt hat. Eine Antwort auf diese Frage findet man vielleicht in einem Brief des Vindician an den Kaiser Valentinian. Dieser Brief ist in einer Briefsammlung erhalten, die Marcellus Empiricus seinem Rezeptbuch vorangestellt hat4. Vermutlich stellte er das Widmungsschreiben zu der bereits erwähnten verlorengegangenen Schrift des Vindician über erprobte Heilmittel dar. In dem für die Literatur des 4. Jahrhunderts charakteristischen, an asianische Rhetorik erinnernden Stil geschrieben, soll er dazu dienen, auf die Vorzüge der Vindicianischen Rezeptsammlung, die sie nach Meinung des Verfassers vor anderen genießt, aufmerksam zu machen. Vindician glaubte, die Erfolge seiner therapeutischen Mittel und Methoden am besten durch den Bericht von zwei Fällen aus seiner eigenen Praxis ins rechte Licht zu rücken, in denen es ihm gelungen war, die Patienten zu heilen, nachdem die Behandlungsmethoden der anderen Ärzte bereits versagt hatten. Da er sich in diesen Berichten nicht damit begnügt, nur die Krankheiten zu nennen und die von ihm indizierten Mittel anzugeben, sondern einerseits heftige Kritik an dem Vorgehen seiner ärztlichen Kollegen übt und andererseits, wenigstens in einem Fall, theoretische Erörterungen über die Ursachen der Erkrankung und die sich mit Notwendigkeit daraus ergebende Therapie anschließt, ist es möglich, seine therapeutischen Grundsätze näher zu bestimmen, wie es auch K. Deichgräber neuerdings in seinem RE-Artikel über Vindician versucht hat5. Deichgräber6 hebt hervor, daß es für Vindician charakteristisch sei, dem Patienten nur die Mittel zu verabreichen, nach denen dieser selbst verlangt und von denen er seinem eigenen Empfinden nach einen Nutzen hatte, und daß Vindician chirurgische Operationen und rohe Behandlungsmethoden entschieden ablehne, weil er sie für schädlich hält. Mit diesen Grundsätzen, so heißt es bei Deichgräber, vertritt Vindician eine „Art Volksmedizin“. Wenn Deichgräber hier von „Volksmedizin“ spricht und Vindician damit, wie wir mit Recht annehmen dürfen, in Gegensatz zur wissenschaftlichen Medizin | stellt, so scheint das ein wenig zu modern gedacht. Denn einmal ganz abgesehen davon, daß die medikamentöse Behandlung nicht weniger Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt als chirurgische Operationen, entsprechen die in diesem Brief aufgeführten Verordnungen des Vindician voll und ganz den aus der wissenschaftlichen und medi3 4
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Hrsg. von V. Rose in: Theodori Prisciani Euporiston libri III, Leipzig 1894, S. 485–492. Marcelli De medicamentis liber, hrsg. von M. Niedermann, Corpus Medicorum Latinorum V, Leipzig u. Berlin 1916, S. 22–25. Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 2. Reihe, Bd. IX, hrsg. v. Wissowa, Kroll, Mittelhaus, Ziegler, John (1961), Sp. 30. Ebd.
Therapeutische Grundsätze im Werk des Vindician
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zinischen Literatur bekannten Mitteln. Es handelt sich weder um die sog. Dreckapotheke noch um magische Mittel, die typischen Kennzeichen einer im abwertenden Sinne verstandenen Volksmedizin. Was verordnet wird, sind Tränke – Salzwasser und aus pflanzlichen und tierischen Stoffen bereitete Abkochungen –, Bäder und Salben. Gewiß, für unsere Begriffe sind das volksmedizinische Mittel, nicht jedoch für die Antike, die noch keine chemische Industrie kannte, so daß es schon allein aus diesem Grunde kaum angebracht erscheint, Vindician in die Nähe der Volksmedizin zu rücken. Doch ist dies nicht der einzige Einwand, den man gegen Deichgräbers Behauptung vorbringen kann. Ohne Zweifel ist richtig, daß Vindician die Anwendung unnötig roher therapeutischer Mittel verwirft. Wir müssen aber auch hier eine Einschränkung machen: Vindician sagt nichts davon, daß er die Chirurgie grundsätzlich ablehne. Es ist nur die Rede davon, daß er sie in solchen Fällen ablehnt, in denen man erstens mit einfachen und natürlichen Heilmitteln denselben Zweck erreicht wie mit chirurgischen Eingriffen und in denen zweitens diese Eingriffe nicht nur keine Heilung bringen, sondern dem Organismus neben der bereits bestehenden Erkrankung noch weitere Schäden zufügen7. Es steht trotzdem außer Zweifel, daß Vindician der Behandlung mit Arzneimitteln und physiotherapeutischen Maßnahmen vor der Chirurgie den Vorzug gibt, und es steht ebenso außer Zweifel, daß er diesen Standpunkt in unserem Brief an Valentinian nicht nur deshalb vertritt, weil dieser Brief als Widmungsschreiben zu einem Rezeptbuch verfaßt wurde. Wenn Vindician den eben genannten Behandlungsarten eine Vorrangstellung einräumt, wie man aus seinen Ausführungen ersehen kann, weil sie natürlicher und dem menschlichen Körper gemäßer sind, so darf man ihn m.E. aber auch daraufhin nicht der wissenschaftlichen Medizin entgegenstellen. Denn mit der Bevorzugung einer natürlichen und naturgemäßen Behandlungsmethode und der Ablehnung unnötig aufwendiger Mittel, die, wie Vindician schreibt, von der Unkenntnis der Ärzte zeugen, steht er ebenso, wie Deichgräber es für dessen bereits genannten Schüler Theodorus Priscianus in Anspruch nimmt8, in einer langen Tradition, und er ist gerade hierin der hippokratischen Lehre verbunden. Bereits Hippokrates polemisierte gegen Ärzte, die, nur um mit ihrem Können bei den Laien mehr Eindruck zu machen, aufwendige Behandlungsmethoden anwandten; kein Geringerer als Hippokrates selbst hielt das Vorgehen dieser Ärzte für unwissenschaftlich und brandmarkte die Ärzte selbst als Scharlatane; und ebenso war | es Hippokrates, der forderte, in jedem Falle die natürlichste Behandlung anzuwenden9. 7 8
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S. 24,24–25,18 Niedermann. Art. „Theodoros“ (Nr. 46) in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. V A, hrsg. v. G. Wissowa (1934), Sp. 1867. Z.B. De articulis 42 (Hippocratis Opera omnia, hrsg. von H. Kühlewein, Bd. II, Leipzig 1902, S. 167,7–168,5 = Œuvres complètes d’Hippocrate, hrsg. von E. Littré, Bd. IV, Paris 1844, S. 182,13–184,4); De fracturis 1 (II 46,2–4 Kühlewein = III 412,1–3 Littré). Eine ähnliche Einstellung gegenüber den Ärzten, die aus Ruhmsucht oder Geldgier ihre Patienten unnötig quälen, spricht auch aus den Worten des römischen Enzyklopädisten Celsus, wenn er schreibt: „… histrionis est paruam rem adtollere, quo plus praestitisse uideatur.“ (De medicina V 26,1, hrsg. von F. Marx, Corpus Medicorum Latinorum I, Leipzig u. Berlin 1915, S. 215,24f.), oder aus den Ausführungen des Verfassers der sog. Medicina Plinii, wo es als Betrug hingestellt wird, wenn die Ärzte in der Weise vorgehen, „… ut languores, qui paucissimis diebus uel etiam horis possint
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Therapeutische Grundsätze im Werk des Vindician
Und damit sind wir auch schon bei dem nächsten und letzten Problem, das uns in diesem Zusammenhang beschäftigen soll. Wie schon erwähnt wurde, zitiert Deichgräber einen Satz aus dem Brief des Vindician, den er als bezeichnend für das ärztliche Handeln dieses Arztes ansieht. Vindician hatte zunächst in seinen Ausführungen10, die infolge der unklaren Denk- und Ausdrucksweise unseres Autors dem Verständnis des antiken Lesers ähnliche Schwierigkeiten bereitet haben dürften wie uns heute, deutlich zu machen versucht, daß mit Hilfe der göttlichen Vorsehung ebenso wie die unbelebte Natur auch der gesunde menschliche Körper die richtige Mischung der Elemente und die daraus resultierende Temperierung zur Voraussetzung habe und daß sich auf Grund dieser Übereinstimmung auch die Therapiemittel für den jeweiligen Krankheitsfall aus der uns umgebenden Natur ableiten lassen. Danach fährt er fort: „Haec cum ita sint, nihil aliud reor mortalibus praebendum nisi id quod, cum infirmi essent, desiderauerunt et oblatum sibi profuisse senserunt. His ergo utamur, quibus sumus bene experti et quorum beneficio consecuti sumus optabilem sanitatem.“11 Es ist sicher kein Zufall, daß sich diese Sätze, ein eindeutiges Bekenntnis zu den Heilmitteln, die sich als nützlich erwiesen haben, in dem Widmungsschreiben zu einer Abhandlung über erprobte und bewährte Arzneimittel finden. Ebenso dürfen wir sicher annehmen, daß dieser der empirischen Medizin entlehnte Grundsatz nicht nur ein Zugeständnis des Vindician an sein Werk war, sondern auch seiner innersten Überzeugung entsprach. Doch auch hier liegen die Dinge nicht ganz so einfach, wie es zunächst den Anschein hat. Wenn es in dem zitierten Satz heißt, Vindician verordne den Patienten, wonach sie verlangen, so bedeutet das nicht, daß er sich, wie es Galen von einigen seiner Kollegen behauptet12, jeweils nach den individuellen Wünschen der Kranken gerichtet hätte. Vielmehr geht aus dem zuvor erzählten Krankenbericht deutlich hervor, daß nicht der Wunsch | und Wille des Patienten maßgebend waren für die von Vindician angesetzte Therapie: für den Arzt maßgebend ist allein die Körperkonstitution, die Physis des Kranken. An dem Aussehen seines Patienten erkennt er die Art der Krankheit, und danach verordnet er seine Therapie13. Dieselben Grundsätze werden auch in den Schriften des Corpus Hippocraticum vertreten14, und man wird nicht in der Annahme fehlgehen, daß unser Arzt auch hierin von der hippokratischen Medizin beeinflußt ist. Weiter lesen wir bei Vindician, daß er dem erhitzten und ausgetrockneten Körper des Kranken mit einem kalten und feuchten Mittel, d.h. also mit einem der Krankheit entgegengesetzten Mittel, zu Hilfe gekommen ist15; ein Beweis dafür, daß Vindician dem hippokratischen Grundsatz „contraria contrariis“, den wir schon aus seinem
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repelli, in longum tempus extraherent, ut et aegros suos in reditu haberent saeuioresque ipsis morbis existerent.“ (Plinii Secundi Iunioris qui feruntur De medicina libri III, hrsg. von A. Önnerfors, Corpus Medicorum Latinorum III, Berlin 1964, S. 4,5–8). S. 23,28–24,5 Niedermann. S. 24,5–8 Niedermann. Opera omnia, hrsg. von C. G. Kühn, Bd. 10, Leipzig 1825, S. 4,3–7. S. 22,28–30 Niedermann. Man denke etwa nur an den noch heute üblichen Begriff der Facies Hippocratica, das klassische Beispiel für die Kunst des Hippokrates, die Diagnose und Prognose nach dem Aussehen des Patienten zu stellen (Prognostikon 2: I 79,9–18 Kühlewein = II 112,12–114,6 Littré). S. 22,28–30 Niedermann.
Therapeutische Grundsätze im Werk des Vindician
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Brief an seinen Enkel Pentadius kennen, auch in seiner Praxis folgte, und ein weiterer Beweis dafür, in welchem Ausmaß die hippokratische Medizin für das ärztliche Handeln des Vindician bestimmend gewesen ist. Auf jeden Fall aber dürfte dieses Beispiel hinlänglich gezeigt haben, daß das „Verlangen“ des Patienten für Vindician identisch war mit dem Verlangen der erkrankten Physis nach Wiederherstellung der harmonischen Mischung und Temperierung der Elementarstoffe des Körpers und daß die Aufgabe des Arztes für Vindician wie für Hippokrates16 darin bestand, die Physis in diesem Bestreben zu unterstützen und so die Gesundheit wiederherzustellen. Daher scheint es berechtigt, auch den oben zitierten Satz in diesem Sinne zu verstehen. Auch hier muß das Verlangen der kranken Menschen mit dem Verlangen der erkrankten Physis gleichgesetzt werden, und man wird behaupten dürfen, daß Vindician sich auch mit der Aussage dieses Satzes als Jünger der hippokratischen Medizin – freilich als ein mit allen Merkmalen der Spätzeit behafteter Hippokratiker – offenbart und daß uns die überlieferten Bruchstücke aus den Schriften des Vindician kaum eine Handhabe bieten, ihn, auch nicht mit Einschränkung, als einen Vertreter der Volksmedizin den Vertretern der wissenschaftlichen Medizin entgegenzustellen, wie es Deichgräber in seiner Beurteilung Vindicians zumindest andeutet.
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Z.B. Epidemien V I 2,7: V 282,5–9 Littré.
2. ZUR ÜBERSE T ZUNGSTÄT IGKEI T DES CAELIUS AURELIANUS*
Caelius Aurelianus, von dem wir wenig mehr wissen, als daß er aus der nordafrikanischen Stadt Sicca stammte und wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts lebte,1 hat sich mit der Übersetzung von Schriften des griechischen Arztes Soran von Ephesos, eines berühmten Vertreters der methodischen Ärzteschule aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts, einen Namen gemacht. Von ihm sind uns Auszüge aus seiner Übersetzung der Soranischen Frauenkrankheiten,2 zwei als De salutaribus praeceptis und De significatione diaeticarum passionum betitelte Textstücke, die sich auf Grund der Darbietungsform in Frage und Antwort als Auszüge aus der Übersetzung der Soranschrift Fragen und Antworten zu erkennen geben,3 und das acht Bücher umfassende Werk Akute und chronische Krankheiten4 überliefert. Wir wollen uns im Folgenden mit der zuletzt genannten Schrift über akute und chronische Krankheiten beschäftigen, die durch ihren beträchtlichen Textumfang in ausreichendem Maße aussagefähiges Material bietet. In dieser Schrift begegnen uns gewisse Widersprüchlichkeiten, die es schwer machen, die Intentionen zu erkennen, die Caelius Aurelianus bei der Abfassung seiner Übersetzung der gleichnamigen Schrift Sorans verfolgte, und eine adäquate Beurteilung dessen, was er selbst als latinizare bezeichnet hat,5 nahezu ausschließen. Das ist um so gravierender, als es durch den Verlust des nosologischen Werkes des Soran nicht möglich ist, die lateinische Übersetzung mit der griechischen Vorlage zu vergleichen. Zu den Widersprüchen, um die es uns geht, gehört z.B., daß Caelius sich im Titel des * Erschienen in: Medizingeschichte und Gesellschaftskritik. Festschrift für Gerhard Baader, hrsg. v. M. Hubenstorf, H.-U. Lammel, R. Münch, S. Schleiermacher, H.-P. Schmiedebach u. S. Stöckel, Husum 1997 (Abh. zur Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften 81), S. 19–25. 1
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Zur Datierung siehe G. Bendz, Studien zu Caelius Aurelianus und Cassius Felix, Skrifter utg. av Vetenskaps-Societeten i Lund 55, Lund 1964, S. 77–87, der das 4. Jahrhundert als Lebenszeit des Caelius für möglich, die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts aber für wahrscheinlicher hält. Caelius Aurelianus, Gynaecia. Fragments of a Latin version of Soranus’ Gynaecia from a thirteenth century manuscript, hrsg. von M. F. Drabkin und I. E. Drabkin (Suppl. to the Bull. of the Hist. of Med. 13), Baltimore 1951. Caelius Aurelianus, De salutaribus praeceptis; De significatione diaeticarum passionum, hrsg. von V. Rose, Anecdota Graeca et Graecolatina. Mitteilungen aus Handschriften zur Geschichte der griechischen Wissenschaft, H. 2, Berlin 1870, S. 181–240. Caelius Aurelianus, Celerum passionum libri III; Tardarum passionum libri V, hrsg. von G. Bendz, übers. von I. Pape, C(orpus) M(edicorum) L(atinorum) VI 1, Teil I: Cel. pass. lib. I–III; Tard. pass. lib. I–II, Berlin 1990; Teil II: Tard. pass. lib. III–V; Indices, Berlin 1993. Siehe Cel. II 8. 65; Tard. V 77: CML VI 1, S. 134,23; 170,19; 898,24.
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Zur Übersetzungstätigkeit des Caelius Aurelianus
Werkes als Verfasser nennt, während er im Verlauf des Textes freimütig bekennt,6 daß Soran der Verfasser der Schrift ist, und sich selbst als Übersetzer bezeichnet. Hierhin gehört auch, daß Caelius Aurelianus an einer ganzen Reihe von Stellen, an denen Soran den von ihm angeführten Lehrmeinungen anderer Ärzte seine eigenen Ansichten gegenüberstellt, die von dem Ephesier gebrauchten | Formulierungen wie ἡμεῖς δέ oder καθ᾽ ἡμᾶς δέ, wie wir sie auch aus seinen Frauenkrankheiten kennen, mit nos uero iuxta Sorani sententiam (bzw. iudicium) und ähnlichen Umschreibungen wiedergegeben hat.7 Dahinter verbirgt sich zweifellos das Bestreben unseres Autors, das geistige Eigentum Sorans nicht für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Diese Absicht ist in einem Übersetzungswerk, das sich vom Titel her nicht als solches zu erkennen gibt, durchaus lobenswert. Man kann jedoch leicht feststellen, daß die Zahl der Fälle, in denen Caelius Aurelianus bei der Konfrontation der persönlichen Auffassung des Autors mit den Ansichten seiner Vorgänger das Personalpronomen nos ohne Hinweis auf die Urheberschaft des Soran verwendet,8 sehr viel größer ist als die Zahl derer, in denen er sich von der Person des Ephesiers distanziert.9 Angesichts dieser unterschiedlichen Verfahrensweise stellt sich die Frage, ob überall dort, wo Caelius Aurelianus es unterläßt, Soran als Urheber der vorgetragenen persönlichen Standpunkte zu erwähnen, die betreffenden Meinungsäußerungen Soran zugeschrieben werden dürfen oder als geistiges Eigentum des Caelius anzusehen sind. Da der Sachverhalt nicht an dem griechischen Original überprüft werden kann, ist eine definitive Entscheidung in dieser Frage kaum möglich. Unseres Erachtens spricht jedoch der jeweilige Kontext eindeutig dafür, daß es sich bei den zur Debatte stehenden Textpassagen nicht um eigenmächtige Zusätze des Übersetzers handelt, sondern daß sie zum Textbestand seiner griechischen Vorlage gehörten. Diese Annahme findet ihre Bestätigung in den erhaltenen Stücken aus Caelius’ Übersetzung der Frauenkrankheiten des Soran, in denen sich Belege dafür finden, daß Caelius Aurelianus das prononcierte ἡμεῖς δέ des griechischen Originals sowohl wörtlich mit nos autem10 als auch in distanzierender Form mit set nos Sorani iudicio11 übersetzt hat. Eine einleuchtende oder gar zwingende Erklärung dafür, daß Caelius den gleichen Wortlaut im Text seiner griechischen Vorlage bei gleichen Voraussetzungen einmal ohne jede Bedenken wörtlich übersetzt, wie wir es von einer Übersetzung erwarten, und ein anderes Mal umformt, um kenntlich zu machen, daß nicht er, sondern der Verfasser der griechischen Textfassung zu Worte kommt, gibt es nicht. Auf Grund unserer bisherigen Beobachtungen können wir lediglich konstatieren, daß wir davon ausgehen dürfen, daß Caelius den griechischen Text des Soran in der Regel möglichst wörtlich zu übersetzen bemüht war und daß die in seiner Übersetzung zu beobachtenden Abweichungen vom ursprünglichen Wortlaut, wie z.B. die namentli|che 6 7 8
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Cel. II 8. 65: CML VI 1, S. 134,23; 170,19f.; vgl. Cel. II 147: S. 232,6f. Siehe z.B. Cel. III 5; Tard. II 16. 125. 138: CML V I 1, S. 294,29; 554,2f.; 618,27; 628,7. Siehe z.B. Cel. I 17: CML VI 1, S. 30,18: his (sc. sectatoribus Asclepiadis) nos respondebimus; Cel. I 41. 52: S. 44,23; 52,6: nos uero dicimus; Cel. I 53: S. 52,16f.: nos autem … generalem curationem non mutamus; Cel. I 55: S. 52,29: nos igitur … totum corpus pati accipimus. Das Verhältnis beträgt etwa 4:1. Cael. Aurel., Gyn. II 51: S. 88,682 Drabkin = Sor., Gyn. III 43,4: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) IV, S. 122,23. Cael. Aurel., Gyn. II 42: S. 82,534 Drabkin = Sor., Gyn. III 38,1: CMG IV, S. 117,19f.
Zur Übersetzungstätigkeit des Caelius Aurelianus
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Erwähnung des Soran und die sich daraus zwangsläufig ergebenden sprachlichen Veränderungen, eher die Ausnahme bildeten. Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang die Frage dar, ob die Verweise von den Akuten Krankheiten auf die Chronischen Krankheiten und umgekehrt sowie die sonstigen zahlreichen Bezugnahmen auf andere Schriften des Verfassers, die sich in den Akuten und chronischen Krankheiten finden, zum ursprünglichen Bestand des griechischen Textes gehörten oder ob es sich dabei um Zusätze in der lateinischen Übersetzung handelt, was in zugespitzter Form auf die Frage hinausläuft, ob die Schriften, auf die der Verfasser als von ihm verfaßte Werke Bezug nimmt, Soran oder Caelius Aurelianus zuzuweisen sind. Die Lösung dieses Problems wird vor allem dadurch erschwert, daß die Übersetzung des Caelius auch in diesem Punkt Inkonsequenzen aufweist, die nicht nur die namentliche Erwähnung des Soran, sondern auch die unterschiedliche Wiedergabe der Schriftentitel betreffen. Die Selbstzitate umfassen ohne die Querverweise innerhalb des Textes selbst insgesamt zwölf Titel: libri Causarum (= Aetiologumeni sc. libri), De passionum causis, De adiutoriis, De coenotetis, De febribus, Salutaria praecepta, De muliebribus, Chirurgumena, Contra sectas, De specialibus adiutoriis, Interrogationes ac responsiones, Epistolae ad Praetextatum. Fünf von ihnen sind durch die Frauenkrankheiten des Soran auch griechisch belegt: Γυναικεῖα = De muliebribus als Titel des Werkes, Περὶ βοηθημάτων = De adiutoriis (Gyn. III 28,7: CMG IV, S. 112,2), Περὶ κοινοτήτων = De coenotetis (Gyn. I 29,3: S. 19,18f.), Χειρουργούμενα = Chirurgumena (Gyn. II 7,4: S. 56,13) und Ὑγιεινόν = Salutaria praecepta (Gyn. I 32,1; 40,4: S. 21,25; 28,19). Trotz dieses Sachverhaltes hat Drabkin alle oben genannten Titel in dem Namenindex seiner Ausgabe der Akuten und chronischen Krankheiten gleichermaßen unter das Stichwort „Caelius Aurelianus“ gestellt. Wie seiner Vorbemerkung zu diesem Stichwort zu entnehmen ist, glaubte er sich dazu durch die Annahme berechtigt, daß Caelius die Werke des Soran zum Zeitpunkt seiner Übersetzung der Akuten und chronischen Krankheiten bereits in größerer Zahl übersetzt hatte oder zumindest zu übersetzen plante12 und demzufolge die Selbstzitate, so dürfen wir folgerichtig ergänzen, als Verweise auf seine lateinischen Versionen der betreffenden Soranschriften aufgefaßt wissen wollte. Ausschlaggebend für diese Annahme Drabkins dürfte gewesen sein, daß die Bezugnahmen auf andere Werke des Autors in der Mehrzahl der Fälle mit einer Verbform in der ersten Person Plural erfolgen,13 denen einige wenige Fälle gegen-| überstehen, in denen Caelius den Schriftenverweis mit dem Namen des Soran verbindet14 und sich damit bewußt von der Verfasserschaft des betreffenden Textes distanziert. Dieser Befund könnte in der Tat den Schluß nahelegen, daß sich die Verweise nur an den wenigen Stellen, an denen das Selbstzitat mit dem Namen des Soran verbunden ist, ebenso wie in der griechischen Vorlage auf die Originalschriften des Ephesiers beziehen, daß aber überall dort, wo sich eine Verbform in der ersten Person 12
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I. E. Drabkin, Caelius Aurelianus, On acute diseases and On chronic diseases, hrsg. und übers., Chicago 1950, Index of names, s.v. Caelius Aurelianus; vgl. M. Wellmann, Art. „Caelius“ (Nr. 18), in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. III, hrsg. von G. Wissowa, Stuttgart 1897, Sp. 1257. Siehe z.B. Cel. I 9. 70; III 13. 185; Tard. I 43; II 27. 34: CML VI 1, S. 26,26f.; 62,8f.; 300,11f.; 400,17f.; 454,1f.; 560,12f.; 564,l0f. Siehe Cel. II 157. 177; Tard. I 55; IV 5: CML VI 1, S. 238,11f.; 250,32; 460,19f.; 776,27f.
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Zur Übersetzungstätigkeit des Caelius Aurelianus
Plural findet, Caelius hinter dem anonymen „wir“ steht und der Leser mit den Selbstzitaten auf die lateinischen Übersetzungen der entsprechenden Soranschriften verwiesen wird. In dieser Verallgemeinerung trifft das sicher nicht zu, selbst wenn wir einmal unterstellen, daß Caelius Aurelianus das Œuvre des Soran tatsächlich annähernd vollständig übersetzt hat. Den Beweis dafür liefern die Verweise auf die Abhandlungen De adiutoriis und De febribus, die beide mehrmals zitiert werden. Die Bezugnahme auf diese Schriften erfolgt je einmal in Verbindung mit dem Namen des Soran,15 an den anderen Stellen mit einer Verbform in der ersten Person Plural.16 Da es äußerst unwahrscheinlich ist, daß in der Übersetzung des Caelius Aurelianus im Falle ein und derselben Schrift einmal auf das griechische Original und ein anderes Mal auf die lateinische Übersetzung Bezug genommen wird, ist hiermit erwiesen, daß nicht nur an den Stellen, an denen der Name des Soran genannt wird, sondern auch dort, wo die Bezugnahme mit einer Verbform in der ersten Person Plural erfolgt, in Übereinstimmung mit der griechischen Vorlage auf die Originalwerke des Ephesiers verwiesen wird. Das würde aber bedeuten, daß wir zunächst einmal grundsätzlich davon ausgehen können, daß die in den Selbstzitaten erwähnten Schriftentitel auch in dem griechischen Original der Akuten und chronischen Krankheiten gestanden haben und infolgedessen mit Recht für Soran in Anspruch genommen werden können. In seiner Übersetzung der Frauenkrankheiten hat Caelius Aurelianus allerdings nachweislich auch von sich aus Verweise auf Soranschriften, mit deren Inhalt er durch seine Übersetzungstätigkeit bestens vertraut war, hinzugefügt, so z.B. Gyn. II 54 (S. 88,704f. Drabkin) den Verweis auf die Tardae passiones oder Gyn. II 12 und 14 (S. 70,207 und 71,233 Drabkin) die Bezugnahmen auf die Bücher der Fragen und Antworten, die, wie der Vergleich mit dem Original zeigt, an den betreffenden Stellen in der griechischen Textfassung fehlen. Da angenommen werden kann, daß unser Autor sich bei der Übersetzung der Akuten und chronischen Krankheiten die gleichen Freiheiten gegenüber seiner griechischen Vorlage gestattet hat, müssen wir damit rechnen, daß sich auch in diesem Text Zusätze dieser Art finden, die jedoch nicht im einzelnen als solche nachgewiesen werden können, da infolge des Verlustes | des griechischen Originals nicht die dazu erforderliche Möglichkeit des Textvergleichs gegeben ist. Die berühmte Ausnahme von der Regel bildet der Verweis auf den Graecus liber Epistolarum ad Praetextatum,17 bei dem nicht nur der begründete Verdacht besteht, daß es sich bei ihm um einen eigenmächtigen Zusatz des Caelius Aurelianus handelt, sondern auch Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß die Schrift, auf die hier verwiesen wird, von Caelius und nicht von Soran stammt. Gegen die Verfasserschaft Sorans spricht unseres Erachtens nicht so sehr der Umstand, daß der Adressat der Briefe einen lateinischen Namen trägt, sondern vielmehr die Tatsache, daß das Cognomen Praetextatus nicht vor dem 4. Jahrhundert bezeugt ist. Die Möglichkeit, die Briefe in die Zeit des Soran zu datieren, dürfte damit von vornherein ausscheiden, so daß also nur Caelius Aurelianus als Verfasser der Briefe in Frage kommt. Auch der ausdrück15 16
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Cel. II 157. 177: CML V I 1, S. 238,11f.; 250,32. Cel. I 122; II 25. 204. 217; III 39; Tard. I 91. 120: CML VI 1, S. 90,15f.; 144,19; 268,35f.; 276,23f.; 314,32; 482,22f.; 500,12. Siehe Tard. II 60: CML V I 1, S. 580,1.
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liche Hinweis, daß das Buch der Briefe in griechischer Sprache geschrieben war, ist nur dann verständlich, wenn wir es mit einem Autor zu tun haben, der üblicherweise die lateinische Sprache als Ausdrucksmittel benutzte, was auf Caelius zutrifft, nicht aber auf Soran. Die letzten beiden Herausgeber der Akuten und chronischen Krankheiten, Drabkin und Bendz, geben jeweils im kritischen Apparat zur Stelle an, daß man anstatt des Wortes Graecus eher eine Ordnungszahl erwartet. Wir halten eine Änderung des überlieferten Textes aber nicht unbedingt für erforderlich. Immerhin hat Caelius mit seinen Soranübersetzungen unter Beweis gestellt, daß er die griechische Sprache beherrschte, so daß er auch in der Lage gewesen sein dürfte, einen griechischen Text zu verfassen, wenn eine ganz bestimmte Kommunikationssituation gegeben war, wie im Falle der Briefe an Praetextatus, die sich nicht an ein anonymes Publikum, sondern an eine konkrete Person18 richteten. Abschließend wollen wir uns noch den Verweisen auf die Schrift Interrogationes ac responsiones19 zuwenden. Die Beantwortung der Frage, ob diese Schrift Soran oder Caelius Aurelianus als Verfasser zuzuordnen ist, erweist sich als besonders schwierig, weil sie eng mit der Beantwortung der Frage verbunden ist, ob das Vorwort zum ersten Buch der Celeres passiones in seiner jetzigen Fassung von Soran stammt oder eigens für die Übersetzung von Caelius Aurelianus verfaßt wurde, einer | naheliegenden Frage, die aber meines Wissens noch von keinem gestellt worden ist. In diesem Vorwort erinnert nämlich der Verfasser einen als mein bester Schüler apostrophierten Bellicus daran, daß er bereits vor längerer Zeit einen kurzen Abriß der gesamten Medizin in mehreren Büchern unter dem Titel „Fragen und Antworten“ geschrieben hat, den er ihrem gemeinsamen Freund Lucretius gewidmet hatte, der, wie es heißt, der griechischen Sprache (Graecarum scientia litterarum) in vollem Umfang kundig ist.20 Soweit die Ausführungen unseres Autors, die keinen Zweifel daran lassen, daß der Verfasser des Vorworts den in Frage- und Antwortform abgefaßten Abriß der Medizin als sein Werk für sich in Anspruch nimmt. Daß Caelius Aurelianus derjenige war, der das Vorwort geschrieben hat, ist bis heute communis opinio. Einmütigkeit besteht auch in der Auffassung, daß die dem Freund Lucretius gewidmeten Bücher der Fragen und Antworten, die hier und an zahlreichen anderen Stellen der Akuten und chronischen Krankheiten erwähnt werden, ein Werk des Caelius sind, sei es in Gestalt einer Übersetzung bzw. Bearbeitung einer Soranschrift gleichen Titels, sei es in Form einer
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Der Versuch von V. H. Friedel, De scriptis Caelii Aureliani Methodici Siccensis, phil. Diss. Bonn 1892, S. 9–12, den Adressaten der Caelianischen Briefe mit Vettius Agorius Praetextatus, einem Angehörigen der römischen Oberschicht, der in Rom hohe Ämter bekleidete, in seinem Todesjahr (384) praefectus praetorio Illyrici, Italiae et Africae wurde, der die griechische Sprache beherrschte und dem nachgesagt wurde, daß er sich mit Philosophie und der alten Literatur beschäftigt hat (siehe W. Enßlin, Art. „Praetextatus“ [Nr. 1], in: RE, Bd. XXII, hrsg. von G. Wissowa, W. Kroll, K. Mittelhaus, K. Ziegler, Stuttgart 1954, Sp. 1575–1579), zu identifizieren, überzeugt nicht, da mit zu vielen unbekannten Größen operiert wird. Der vollständige Titel wird nur einmal (Cel. I 2: CML VI 1, S. 22,10f.) zitiert; in der Regel werden verschiedene Kurztitel benutzt: Interrogationes (Cel. II 153: S. 236,4), Medicinales responsiones (Tard. II 84: S. 594,26) und Responsiones (z.B. Cel. I 93; Tard. II 27. 34. 108. 166: S.74,13; 560,13; 564,10; 608,26; 644,33). Cel. I 1f.: CML VI 1, S. 22,6–14.
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eigenständigen Schrift des Caelius, in der dieser, wie V. H. Friedel schreibt, Material aus den großen Werken Sorans zusammengetragen hat.21 Die bisher allgemein übliche Interpretation des Vorworts zum ersten Buch der Celeres passiones ruft jedoch Bedenken hervor, wenn man den Text etwas genauer betrachtet. Wir wollen mit den Namen Bellicus und Lucretius beginnen. Von den Personen, die sich hinter den beiden Namen verbergen, erfahren wir lediglich, daß sie Schüler bzw. Freund unseres Autors gewesen sind, so daß eine Identifizierung der beiden mit anderen bekannten historischen Persönlichkeiten ausgeschlossen ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings die Feststellung, daß es für die Namen Bellicus (oder Bellicius) und Lucretius im 5. Jahrhundert sonst keine Belege gibt, daß sie aber für die frühe Kaiserzeit für Angehörige der römischen Oberschicht in größerer Zahl bezeugt sind. Diese Feststellung schließt zwar nicht aus, daß es auch im 5. Jahrhundert, zu Lebzeiten des Caelius Aurelianus, noch Träger dieser Namen gegeben haben kann, die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden in unserem Vorwort genannten Personen in der Zeit um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert gelebt haben, ist aber unvergleichlich viel größer. Unseres Erachtens sollte das zu denken geben; wir halten es jedenfalls für durchaus gerechtfertigt, davon auszugehen, daß beide, sowohl Bellicus, an den sich unser Autor in seinem Vorwort wendet, als auch Lucretius, dem die Schrift der Fragen und Antworten gewidmet war, aus dem Schüler- bzw. Freundeskreis des Soran stammen, der bekanntlich in Rom tätig gewe|sen ist und zu dessen Klientel auf Grund des Ansehens, das er als Arzt genoß, mit Sicherheit auch Vertreter der römischen Nobilität gehörten. Wenn aber Bellicus und Lucretius Schüler und Freund des Soran und nicht des Caelius Aurelianus waren, so ist damit zugleich auch ein konkreter Anhaltspunkt dafür gegeben, daß das Vorwort zum ursprünglichen Bestand der griechischen Fassung der Akuten Krankheiten gehörte, daß Soran derjenige war, der die von ihm verfaßten Bücher der Fragen und Antworten dem Freund Lucretius gewidmet hat, und daß es folglich auch diese in griechischer Sprache geschriebene Soranschrift ist, auf die im Vorwort Bezug genommen wird, und nicht die lateinische Übersetzung des Caelius. Bestätigt wird diese Annahme durch den ausdrücklichen Hinweis auf die fundierten Griechischkenntnisse des Lucretius, der doch nur dann einen Sinn ergibt, wenn die ihm gewidmete Schrift griechisch abgefaßt war, dagegen völlig unverständlich bliebe, wenn von der lateinischen Übersetzung dieses Werkes die Rede wäre. Allerdings ist mit der Feststellung, daß die Bücher der Fragen und Antworten im Vorwort zum ersten Buch der Celeres passiones von Soran selbst erwähnt werden, noch nicht die Gewißheit gegeben, daß auch alle übrigen Verweise auf diese Schrift auf ihn zurückgehen. Umgekehrt wird man aber auch nicht behaupten können, daß alle Verweise auf das Konto von Caelius Aurelianus gehen, nur weil wir wissen, daß er dieses Werk übersetzt hat. Angesichts der verhältnismäßig großen Zahl von Verweisen speziell auf diejenigen Abschnitte der Fragen und Antworten, die der Beschreibung der Zubereitung von zusammengesetzten Heilmitteln und anderen therapeutischen Anwendungen gewidmet waren, müssen wir indessen zumindest mit der Möglichkeit 21
Siehe Rose (Anm. 3), S. 168–179; Friedel (Anm. 18), S. 42; Drabkin (Anm. 12), S. XI; Bendz (Anm. 4), S. 13; A. Roselli, Le Medicinales responsiones di Celio Aureliano, in: Le latin médical. La constitution d’un langage scientifique (Centre Jean-Palerne, Mémoires X), hrsg. von G. Sabbah, Saint-Etienne 1991, S. 76f.
Zur Übersetzungstätigkeit des Caelius Aurelianus
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rechnen, daß es sich dabei zu einem Teil um eigenmächtige Zufügungen des Caelius handelt, wie dies auch für die Caelianische Übersetzung der Frauenkrankheiten nachgewiesen werden konnte.22 Daß Caelius Aurelianus Verweise auf Heilmittelzubereitungen zugefügt hat, um den Text seiner Übersetzung von unnötigem Ballast zu befreien und auf diese Weise zu straffen, halten wir jedoch für äußerst unwahrscheinlich; der Grund dafür dürfte eher ein gewisses Streben nach Perfektion gewesen sein, so daß wir davon ausgehen können, daß der Wortlaut seiner Vorlage auch dort, wo die Verweise auf die Bücher der Fragen und Antworten nachträglich zugefügt wurden, im wesentlichen unversehrt erhalten geblieben ist. Das würde zumindest zu den auch schon zuvor in anderem Zusammenhang gemachten Beobachtungen passen, daß Caelius Aurelianus prinzipiell bemüht war, den Text des griechischen Originals der Akuten und chronischen Krankheiten möglichst wörtlich zu übersetzen.
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Siehe oben, S. 22 (= S. 232).
1. HERMANN DIELS IN SEINER BEDEUT UNG FÜR DIE GESCHICHT E DER AN T IKEN MEDIZIN*
Es steht außer Zweifel, daß die antike Philosophie das Hauptarbeitsgebiet von H. Diels war, dem er sich sein ganzes wissenschaftliches Leben hindurch mit aller Kraft widmete. Trotzdem wird man ohne Übertreibung sagen können, daß er sich um die Geschichte der antiken Medizin nicht minder verdient gemacht hat. Im Jahre 1869 wurde dem Studenten H. Diels von seinem Bonner Universitätslehrer H. Usener die Aufgabe übertragen, die Quellenfrage von drei in griechischer Sprache erhaltenen doxographischen Sammlungen zu untersuchen, zu denen auch die pseudogalenische Historia philosopha gehörte1. Dieser Untersuchung, aus der später die Edition der Doxographi Graeci hervorgegangen ist, verdankte H. Diels nicht nur seine erste Begegnung mit dem Corpus Galenicum, sondern zugleich auch die seither mehrfach bestätigte Erfahrung, daß die Texte in der von ihm benutzten, zu weiten Teilen auch heute noch maßgebenden Galenausgabe von C. G. Kühn (Leipzig 1821– 1833) wenig zuverlässig sind. Denn Diels hatte an Hand der handschriftlichen Überlieferung feststellen müssen, daß der bei Kühn abgedruckte Text der Historia philosopha Textzusätze enthielt, die von dem im 17. Jh. lebenden Galenherausgeber René Chartier aus anderen doxographischen Werken übernommen worden waren und aus diesem Grund die Gelehrten zu falschen Schlüssen über den Charakter der pseudogalenischen Schrift geführt hatten2. Das Studium anderer medizinischer Autoren wie Hippokrates und Soran, mit denen H. Diels ebenfalls während seiner Universitätszeit in Berührung kam, bestätigte ihm die wissenschaftliche Unzulänglichkeit der zur Verfügung stehenden Textausgaben und ließ bereits damals den Wunsch in ihm aufkommen, „ein wirklich brauchbares Corpus medicorum zu schaffen“3, wie er es selbst einmal formuliert hat. Denn Diels hatte richtig erkannt, daß die Ausgaben der antiken Ärzte, die bis ins 19. Jh. hinein von Medizinern besorgt worden waren, vor allem den praktischen Bedürfnissen der Medizin Rechnung trugen, aber völlig versagten, wenn man sie wie H. Diels als historische Quellen benutzen wollte4. Und als solche wurden sie im ausgehenden 19. Jh. interessant, zu einer Zeit, als nicht nur die Mediziner sich in zunehmendem Maße * Erschienen in: Philologus 117, 1973, S. 278–283. 1
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Siehe die autobiographischen Aufzeichnungen von H. Diels, gedruckt in: O. Kern, Hermann Diels und Carl Robert. Ein biographischer Versuch, Jahresbericht über die Fortschritte der klass. Altertumswissenschaft, Suppl.-Bd. 215, Leipzig 1927, 35. Siehe ebd., 36, und H. Diels, De Galeni Historia philosopha, Diss. Bonn 1870, 7–9. H. Diels, Über das neue Corpus medicorum, Neue Jahrbb., 1907, I. Abt., XIX. Bd., 724. Siehe ebd.
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H. Diels und die Geschichte der antiken Medizin
mit der Geschichte ihres Faches zu beschäftigen begannen, sondern auch die klassischen Philologen seit A. Böckh, Th. Mommsen und H. Usener zu einem neuen Verständnis ihrer Wissenschaft als | einer historischen Wissenschaft gelangt waren und seither gesteigertes Interesse zeigten, die Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen der Antike zu erforschen und darzustellen5. Zu Beginn unseres Jahrhunderts war es dann endlich so weit, daß der langgehegte Wunsch von H. Diels, ein allen Anforderungen der modernen Textkritik genügendes Corpus der antiken Ärzte ins Leben zu rufen, konkrete Gestalt annahm. Mit Begeisterung griff er, der er bereits 1893 im Rahmen der von ihm herausgegebenen Aristoteleskommentare selbst einen medizinischen Text, die Exzerpte aus der Medizingeschichte des Aristotelesschülers Menon, publiziert hatte6, einen diesbezüglichen Vorschlag des dänischen Gelehrten J. L. Heiberg auf, den dieser ihm im Jahre 1901 anläßlich der ersten Generalversammlung der Internationalen Association der Akademien in Paris unterbreitet hatte. Wie tief und echt H. Diels’ Freude über die Möglichkeit gewesen sein muß, das Corpus medicorum antiquorum, das er selbst als „eine der dringendsten und zeitgemäßesten Unternehmungen der Wissenschaft“ bezeichnet hat7, Wirklichkeit werden zu lassen, zeigt uns seine äußerst reizvolle Schilderung der „Geburtsstunde“ dieses Corpus aus dem Jahre 1922, die beweist, daß ihm dieser Augenblick seines Lebens bis kurz vor seinem Tode unvergessen geblieben ist. Es heißt dort zunächst: „Auf den Ruf der beteiligten französischen Akademien hatten sich 17 europäische Vertreter der Schwesterinstitute … in Paris zur ersten Generalversammlung der vereinigten Akademien der Welt eingefunden, und zur Erholung von den anstrengenden Voll- und Sektions-Sitzungen war jener 17. April, ein herrlicher Frühlingstag, dazu ausersehen, den Abgeordneten in dem nahegelegenen, dem französischen Institut gehörigen Schlosse von Chantilly einen Empfang zu bereiten.“ Und weiter am Schluß: „Bei den freundschaftlichen Gesprächen, die bei dieser Gelegenheit zwischen den Abgeordneten der verschiedenen Akademien sich entsponnen hatten, brachte der Abgeordnete der dänischen Akademie … den Plan eines umfassenden Corpus Medicorum antiquorum zur Sprache. Ich ergriff mit Freuden diese Gelegenheit, ein oft empfundenes Bedürfnis unserer Wissenschaft nunmehr mit vereinten Mitteln zur Ausführung zu bringen und dadurch die unerläßliche Grundlage zur exakten Forschung der Geschichte der Natur- und Arzneiwissenschaft zu schaffen.“8 Die folgende Entwicklung hat bewiesen, daß J. L. Heiberg in Diels den Mann gefunden hatte, der als einziger sowohl aus seinen wissenschaftlichen Neigungen heraus wie auf Grund seiner Erfahrung bei der Herausgabe der Aristoteleskommentatoren dazu befähigt war, ein so gewaltiges Unternehmen, wie die Edition der antiken medizinischen Texte es darstellt, zu organisieren und erfolgreich voranzubringen. Nach seiner Rückkehr aus Paris machte sich H. Diels unverzüglich an die Arbeit, da 5 6
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Siehe H. Diels, ebd., 722f. Anonymi Londinensis ex Aristotelis Iatricis Menoniis et aliis medicis eclogae, hrsg. von H. Diels, Suppl. Aristotel. III 1, Berlin 1893. H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte. Griechische Abteilung, Abh. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1905 und 1906, Berlin 1906, S. I. H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, SB d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1922, Berlin 1922, S. XXIIIf.
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ihm die für die Schaffung des Corpus medicorum antiquorum notwendigen Voraussetzungen, dazu die Bereitschaft der Dänischen | Akademie, sich personell wie finanziell an dem Projekt zu beteiligen, zu diesem Zeitpunkt besonders günstig zu sein schienen. In finanzieller Hinsicht bestanden für die Berliner Akademie insofern keine Schwierigkeiten, als keine zusätzlichen Geldmittel flüssig gemacht, vielmehr nur die an damals auslaufende Corporaunternehmungen gebundenen übernommen zu werden brauchten – er dachte dabei hauptsächlich an die Ausgabe der Aristoteleskommentatoren, die kurz vor ihrem Abschluß stand. Und was die Frage der Mitarbeiter betraf, so gab es gerade zu dieser Zeit eine Reihe von Altphilologen, darunter zwei Mitglieder der Berliner Akademie, die sich mit der antiken Medizin mehr als nur am Rande beschäftigten9. Bereits im Juli 1901, nur drei Monate nach dem Gespräch mit Heiberg, konnte Diels der philosophisch-historischen Klasse an der Berliner Akademie einen ersten Plan für das Corpus medicum vorlegen10, dessen Dringlichkeit er auch hier mit dem Hinweis darauf begründete, daß „von einer wirklichen Geschichte der Medizin solange nicht die Rede sein (kann), bis die von uns geplante Ausgabe der antiken Ärzte und ihrer Fragmente vorliegt“. Gerade diese erste Konzeption, in der es heißt, daß die „medicinische Literatur des Altertums in mustergiltigen kritischen Ausgaben nebst moderner Übersetzung und knappster Sacherklärung“ herausgegeben werden solle, läßt mit aller Deutlichkeit erkennen, daß Diels mit dem Ärztecorpus über den engen Rahmen der Altphilologie hinaus vor allem die Geschichtswissenschaft erreichen wollte. Dieser Plan, der insgesamt ungefähr 65, allerdings recht umfängliche, Bände vorsah, wurde allein aus finanziellen Erwägungen heraus, wie wir annehmen dürfen, auf der Klassensitzung vom 18. Juli 1901 als verfrüht abgelehnt. Nur die Herstellung eines Katalogs aller damals bekannten Handschriften mit antiken medizinischen Texten sowohl im Original wie in Übersetzungen, der als unerläßliche Vorarbeit für das ganze Unternehmen ebenfalls in dem Plan enthalten war, fand Zustimmung und wurde daraufhin sofort in Angriff genommen11. Nachdem die Bestandsaufnahme des Handschriftenmaterials unter Anleitung von H. Diels und mit Unterstützung der Dänischen Akademie bereits in den Jahren 1901 und 1902 zügig vorangegangen war12, stellte Diels im Februar 1903 an die philosophisch-historische Klasse erneut einen Antrag zur Aufnahme der Arbeiten am Corpus medicum. Der modifizierte Plan, der diesem Antrag beigegeben war, trug den Bedenken, die zur Ablehnung der ursprünglichen Konzeption geführt hatten, insofern Rechnung, als Diels nunmehr auf die zunächst vorgesehenen modernsprachigen Übersetzungen verzichtete, bedauerlicherweise, wie wir heute sagen müssen, da die von ihm selbst angestrebte Breitenwirkung des Corpus auf diese Weise erheblich eingeschränkt wurde. Andererseits erreichte er | so, daß sich der Umfang der Reihe von 65 auf 37 Bände reduzierte und damit auch die Kosten etwa um die Hälfte niedriger
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So H. Diels in dem ersten, unveröffentlichten „Plan eines Corpus medicum“ vom 27. Juni 1901, in: Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR II: VIIf. Bd. 4, H. 1, Bl. 1. Siehe ebd., Bl. 1–3. Siehe „Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der phil.-hist. Classe vom 18. Juli 1901“, ebd., Bl. 3. Siehe H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, a. a. O., S. XXIVf.
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lagen13. Festhalten mußte Diels freilich an der anfänglichen Forderung, das Ärztecorpus als Unternehmen der Internationalen Association zu starten, da einmal durch eine möglicherweise größere internationale Beteiligung an diesem Projekt Hoffnung bestand, seine Laufzeit in überschaubaren Grenzen zu halten, und zum anderen die Dänische Akademie überhaupt nur unter dieser Bedingung bereit war, an dem geplanten Corpus mitzuarbeiten14. H. Diels’ energischem Auftreten und seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, daß der Plan des Corpus medicorum in dieser reduzierten Form schließlich von der Berliner Akademie sowohl auf der Klassensitzung vom 26. Februar als auch auf der Plenartagung vom 5. März 1903 angenommen wurde, so daß nun nur noch die Hürde der Generalversammlung der Association zu nehmen übrigblieb. Voraussetzung dafür war jedoch die Vorlage des Handschriftenkatalogs, da nur er eine Übersicht über den für die Edition erforderlichen Aufwand an Mitteln und Arbeitszeit geben konnte. Trotz aller Anstrengungen gelang es Diels bei dem kleinen Personenkreis und den verhältnismäßig geringen Mitteln, die ihm für die mühevolle und aufwendige Arbeit an dem Katalog zur Verfügung standen, jedoch nicht, den zunächst geplanten Termin der Fertigstellung, das Jahr 1904, einzuhalten15. Der Druck des Katalogs der Handschriften zu den griechischen Autoren, auf die man sich zuletzt hatte beschränken können, da sich die an der Universität Leipzig gegründete Puschmann-Stiftung im November 1905 bereit erklärt hatte, die Herausgabe der lateinischen medizinischen Schriftsteller zu übernehmen, wurde 1906 abgeschlossen. So konnten 1907 der dritten Generalversammlung der Association, die in Wien zusammengetreten war, der gedruckte Handschriftenkatalog und der endgültige Plan des Corpus Medicorum Graecorum16, nunmehr getragen von den Akademien zu Berlin, Leipzig und Kopenhagen, vorgelegt werden. Dieser Plan, der insgesamt 32 Bände vorsah, von denen nach erster Schätzung jeweils zwei pro Jahr erscheinen sollten, wurde unter Hinweis auf das große allgemeine wissenschaftliche Interesse, das das Corpus für sich beanspruchen konnte, von der Generalversammlung gebilligt, und zugleich | wurde von ihr die Erlaubnis erteilt, „daß dieses (sc. das Corpus Medicorum Graecorum – J. K.) unter den Auspizien der Assoziation erscheine“. Zu Mitgliedern der autonomen Kommission des Unternehmens wurden die Herren Gomperz (Wien), Diels (Berlin), Leo (Göttingen), Heiberg (Kopenhagen), Ilberg (Leipzig), Bywater (London) und Krumbacher (München) ernannt17. 13
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Den Verzicht auf modernsprachige Übersetzungen hat Diels später mit dem Hinweis darauf begründet, daß der internationale Charakter des Unternehmens es verbot, den Texten in jedem Falle deutsche Übertragungen beizugeben, offenbar eine Forderung des Teubner-Verlags, der den Druck der Reihe übernommen hatte (s. H. Diels, Über das neue Corpus Medicorum, a. a. O., 726). Erwägungen dieser Art dürften jedoch sekundär gewesen sein, zunächst war allein die drastische Senkung der Kosten ausschlaggebend. Siehe AAW II: V IIf., Bd. 4, H. 1, Bl. 32f. Hierzu und zum Folgenden s. H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, a. a. O., S. IIf. und VII–IX, und dens., Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, a. a. O., S. XXV. Der Plan liegt in detaillierter Fassung gedruckt vor in: H. Diels, Bericht über den Stand des interakademischen Corpus medicorum antiquorum und Erster Nachtrag zu den in den Abhandlungen 1905 und 1906 veröffentlichten Katalogen: Die Handschriften der antiken Ärzte, I. und II. Teil, Abh. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1907, Berlin 1908, 7–22. Siehe den Bericht über die Verhandl. d. 3. Generalvers. d. Internationalen Association der Akade-
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H. Diels, für den das Gelingen seines Plans offenbar nie ernsthaft in Frage gestanden hatte, war in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen. Er hatte die Jahre zwischen 1901 und 1907 dazu genutzt, einen ansehnlichen Stab von freien Mitarbeitern im Inund Ausland zu gewinnen. Der ins einzelne gehende Editionsplan für das CMG sah vor, zunächst Galens Kommentare zu den hippokratischen Schriften und die spätantiken medizinischen Kompilationen zu publizieren18. Diesen Überlegungen von Diels liegt der richtige Gedanke zugrunde, daß die genannten Schriften, vor allem aber die Galenkommentare, ein gutes Stück antiker Texttradition enthalten, so daß sie als Sekundärquellen eine unerläßliche Voraussetzung für die Herausgabe der ihnen zeitlich vorangehenden medizinischen Texte darstellen19. Obwohl schon 1908, ein Jahr nach Beginn der Arbeiten am CMG, der erste Band dieser Reihe erscheinen konnte20, mußte Diels dennoch sehr bald die schmerzliche und für ihn sicher ungewohnte Erfahrung machen, daß sein Plan, jedes Jahr zwei Bände herauszubringen, sich nicht realisieren ließ. Denn im Unterschied zu anderen Texten, etwa den Aristoteleskommentaren, ist die Überlieferung der medizinischen Autoren außerordentlich vielschichtig. Hier haben wir es mit einem Schrifttum zu tun, das bis in den Beginn der Neuzeit hinein Fachwissen vermittelte, d.h. viel benutzt und infolgedessen nicht nur unzählige Male abgeschrieben und in andere Sprachen – ins Lateinische ebenso wie ins Arabische oder Syrische – übersetzt, sondern häufig genug auch im Textbestand verändert wurde und in dieser Form ebenfalls weiterlebte. Die Aufarbeitung dieser weitverzweigten und nicht selten an Überraschungen reichen Überlieferung, die für den Zweck und das Ziel des Dielsschen Editionsvorhabens, die Grundlage für eine solide Erforschung der antiken Medizin zu schaffen, unerläßlich war, erforderte, wie Diels schreibt, ,,mühselige Vorarbeiten“21. Um so höher ist die Leistung zu werten, wenn unter diesen Umständen 1914 und 1915 weitere drei Bände, diesmal mit Galenkommentaren von zum Teil beträchtlichem Umfang, folgten, von denen Diels selbst den zu der hippokratischen Schrift Prorrheticus I herausgegeben hatte22. | In den letzten Jahren des 1. Weltkrieges und den ersten Nachkriegsjahren konnte auch H. Diels es nicht verhindern, daß das Erscheinen der Reihe aus finanziellen wie aus personellen Gründen ganz eingestellt werden mußte. Vereinten Bemühungen gelang es jedoch, Geldzuschüsse vor allem von den Akademien in Kopenhagen und Berlin zu erwirken, mit deren Hilfe es möglich war, den Druck bereits begonnener CMG-Bände fortzusetzen, so daß Diels 1922 in seinem letzten CMG-Bericht die Hoffnung äußern konnte, ,,daß das Corpus Medicorum Graecorum doch noch, wenn auch
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mien, Wien 1907, 41f.; H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, a. a. O., S. XXVI; dens., Über das neue Corpus medicorum, a. a. O., 725f. Siehe H. Diels, Über das neue Corpus medicorum, a. a. O., 726. Siehe ebd., 724. Philumeni De venenatis animalibus, hrsg. von M. Wellmann, CMG XI 1,1, Leipzig u. Berlin 1908. H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, a. a. O., S. XXVI. Galeni In Hipp. De nat. hom. comm. III; In Hipp. De victu acut. comm. IV; De diaeta Hipp. in morb. acut., hrsg. von J. Mewaldt, G. Helmreich, J. Westenberger, CMG V 9,1, Leipzig u. Berlin 1914. [Galeni] In Hipp. De septim. comm., hrsg. von G. Bergsträßer, CMG XI 2,1, Leipzig u. Berlin 1914. Galeni In Hipp. Prorrh. I comm. III; De comate sec. Hipp.; In Hipp. Progn. comm. III, hrsg. von H. Diels, J. Mewaldt, J. Heeg, CMG V 9,2, Leipzig u. Berlin 1915.
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langsam und mühsam, der Vollendung entgegenreift“. Das Erscheinen dieser Bände zu erleben war ihm freilich nicht mehr vergönnt, da er am 4. Juni desselben Jahres verstarb. Heute, 50 Jahre nach dem Tode dieses großen Gelehrten, dem die antike Medizingeschichte wohl die nachhaltigste Förderung seitens der Altphilologie verdankt, können wir rückschauend sagen, daß sich seine Prognose hinsichtlich des langsamen und mühevollen Fortgangs der Arbeiten am CMG bedauerlicherweise bestätigt hat. Trotz einer gewissen Kontinuität im Erscheinen weiterer Bände des Corpus, die zumindest in den letzten 15 Jahren gesichert werden konnte, machen die Faszikel, die bisher gedruckt wurden, nur einen Bruchteil dessen aus, was zur Publikation vorgesehen ist. Da das von H. Diels gegründete Unternehmen aber noch immer nichts von seiner Aktualität und Bedeutung für die internationale medizinhistorische Forschung, die mehr denn je an zuverlässigen Textausgaben der antiken medizinischen Autoren interessiert ist, eingebüßt hat, führt die Akademie der Wissenschaften der DDR dieses Erbe, das von dem universalen Geist seines Gründers geprägt ist, fort. Und nicht nur das. Nach dem 2. Weltkrieg übernahm sie die Betreuung auch der lateinischen Reihe. Zusätzlich wurde das Supplementum Orientale eingerichtet, in dem die nur in arabischer oder syrischer Übersetzung erhaltenen medizinischen Texte der Antike ihren Platz finden, und darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, den ursprünglichen Plan von H. Diels zu verwirklichen, nämlich alle Texte mit modernsprachiger Übersetzung und, soweit möglich, mit sprachlich-sachlichem Kommentar herauszugeben und damit dem Corpus zum erstenmal in seiner Geschichte die Breitenwirkung zu verschaffen, die sich sein Begründer für das letzte seiner großen Editionsvorhaben einst erträumt hatte.
2. GUT DING W ILL W EILE HABEN. ZUR VORGESCHICHT E DES CORPUS DER AN T IKEN ÄRZT E*
Am 30. Juni 1907, fast auf den Tag genau vor einhundert Jahren, stimmte das Plenum der 3. Generalversammlung der Internationalen Assoziation der Akademien einstimmig dem Beschluss zu, den von der Berliner Akademie in Kooperation mit der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Kopenhagen erarbeiteten Plan des Corpus Medicorum Graecorum zu billigen und die Erlaubnis zu erteilen, die Ausgabe der griechischen Ärzte, der „große(s), allgemeine(s) wissenschaftliche(s) Interesse“ zugestanden wurde, unter den Auspizien der assoziierten Akademien erscheinen zu lassen.1 Zu diesem Zeitpunkt konnte das Corpus medicorum antiquorum, als das es zunächst konzipiert worden war, bereits auf eine Vorbereitungsphase von sechs Jahren zurückblicken. Denn Hermann Diels selbst, der Gründungsvater des Ärztecorpus, hat als dessen „Geburtsstunde“ sozusagen mit Datum und Uhrzeit den Nachmittag des 17. April des Jahres 1901 angegeben.2 An diesem Tag hatten, wie Diels berichtet,3 die französischen Akademien im Rahmen der von ihnen in Paris ausgerichteten 1. Generalversammlung der Internationalen Assoziation der Akademien die Teilnehmer dieser Veranstaltung zu einem Empfang in das Schloss Chantilly geladen. In der entspannten Atmosphäre dieses Beisammenseins, die Gelegenheit zu „freundschaftlichen Gesprächen“ mit den Vertretern anderer Akademien bot, unterbreitete ihm Johan Ludvig Heiberg, der Abgeordnete der Königlichen Gesellschaft der Wissen* Erschienen in: Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften. Internationale Fachtagung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Akademienvorhabens Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum, hrsg. v. Ch. Brockmann, W. Brunschön u. O. Overwien, Berlin u. New York 2009 (Beiträge zur Altertumskunde 255), S. 19–29. 1
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Siehe H. Diels, Bericht über den Stand des interakademischen Corpus medicorum antiquorum und Erster Nachtrag zu den in den Abhandlungen 1905 und 1906 veröffentlichten Katalogen: Die Handschriften der antiken Ärzte, I. und II. Teil, Abh. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wiss. 1907, Berlin 1908, S. 4f. Siehe H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, SB d. Preuß. Akademie d. Wiss. 1922, Berlin 1922, S. XXIII. Ebd., S. XXIIIf. Hierzu und zum Folgenden vgl. auch J. Kollesch, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Medizin, Philologus 117, 1973, S. 278–283 (= oben, S. 239–244); dies., Die Erschließung der antiken medizinischen Texte und ihre Probleme – das Corpus Medicorum Graecorum et Latinorum. Erreichtes und Geplantes, Gesnerus 46, 1989, S. 195–210 (= unten, S. 267–277); dies., Die Organisation und Herausgabe des Corpus Medicorum Graecorum: ergänzende Details aus der Korrespondenz zwischen Hermann Diels und Johannes Mewaldt, in: Hermann Diels (1848–1922) et la science de l’antiquité, Entretiens préparés et présidés par W. M. Calder III et J. Mansfeld, Vandœuvres – Genf 1999 (Entretiens sur l’Antiquité Classique XLV ), S. 207–223 (= unten, S. 255–264).
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schaften zu Kopenhagen, den Vorschlag, ein den Anforderungen der modernen Textkritik genügendes Corpus medicorum antiquorum als Gemeinschaftsunternehmen der Berliner und der Kopenhagener Akademien herauszugeben. | Dass Diels den Vorschlag von Heiberg nur allzu gern aufgriff, hatte zwei Gründe: Zum einen war es seit langem sein Wunsch, ein brauchbares Ärztecorpus ins Leben zu rufen,4 ein Wunsch, der aus der schon während seiner Studienzeit gemachten Erfahrung resultierte, dass sich die Ausgaben der antiken Ärzte, die bis in das 19. Jahrhundert hinein von Medizinern besorgt wurden, in der Textgestaltung häufig als unzuverlässig erwiesen, wenn man sie als historische Quelle benutzen wollte. Zum anderen war er aber auch Realist genug, um zu wissen, dass ein so umfangreiches Unternehmen, wie es die Publikation aller überlieferten antiken medizinischen Texte in historischkritischen Editionen darstellte, sowohl in personeller wie in finanzieller Hinsicht nur mit internationaler Kooperation zu realisieren war. Da Diels die Chance zur Erfüllung seines Wunschtraums, die sich ihm mit dem Vorschlag von Heiberg bot, unbedingt nutzen wollte, machte er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Berlin daran, einen Plan des Ärztecorpus zur Vorlage bei der Akademie zu erarbeiten. Dabei wurde er von Hermann Schöne – ebenso wie Diels ein Schüler von Hermann Usener – tatkräftig unterstützt,5 der sich für diese Aufgabe nicht nur deswegen empfahl, weil er zu dieser Zeit an der Berliner Universität als Privatdozent tätig war, sondern vor allem deswegen, weil er mit einer Quellenuntersuchung zu Galens Werk Über die Verschiedenheit der Pulse promoviert6 und darüber hinaus 1896, nur drei Jahre später, mit der Ausgabe des illustrierten Kommentars zu der hippokratischen Schrift Über das Einrenken der Gelenke von Apollonios von Kition bereits seine erste Edition eines medizinischen Textes publiziert hatte.7 Den ersten Plan für das Corpus medicum, der das Datum vom 27. Juni 1901 trägt, hat Diels auf der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse der Berliner Akademie vom 18. Juli 1901 zur Beratung vorgelegt.8 In diesem Dokument hat er ausdrücklich darauf verwiesen, dass das geplante Vorhaben für die gesamte Akademie, d.h. auch für die naturwissenschaftliche Klasse von grundlegender Bedeutung sei, weil zuverlässige Textausgaben der antiken | Ärzte eine unverzichtbare Voraussetzung für eine, wie Diels es formuliert hat, „wirkliche Geschichte der Medizin“ sind.9 Mit anderen Worten, für Diels stand es außer Frage, dass mit der Herausgabe der antiken medizinischen Texte in kritischen Editionen Grundlagenforschung für das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Engagement auf dem Gebiet der Medizingeschichte betrieben 4
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Siehe H. Diels, Über das neue Corpus Medicorum, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 19, 1907, S. 724. Siehe den Brief von Schöne an Diels vom 15. Juli 1901, in dem er schreibt, dass er „in wiederholten Besprechungen“ mit Diels „über den Plan eines Corpus medicum“ verhandelt habe (ABBAW CMG 213, Brief vom 15. Juli 1901, S. 1). Dieses Schreiben und die im Folgenden zitierten Briefe von Schöne an Diels sind nicht publiziert; sie gehören zum Bestand der Historischen Abteilung des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. De Aristoxeni Περὶ τῆς Ἡροφίλου αἱρέσεως libro tertio decimo a Galeno adhibito, Diss. Bonn 1893. Apollonius von Kitium, Illustrierter Kommentar zu der hippokrateischen Schrift Περὶ ἄρθρων, hrsg., Leipzig 1896. „Plan eines Corpus medicum“ (ABBAW II – VIII – 127, Bl. 1–3). Ebd., Bl. R1–2.
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wird. Zumindest dürften derartige Überlegungen der Grund für seine ursprüngliche Absicht gewesen sein, die geplanten Ausgaben mit modernsprachigen Übersetzungen und kurzen Sacherklärungen zu publizieren;10 denn nur so sah er die Gewähr gegeben, dass die Texte auch von jenen Medizinhistorikern für ihre Arbeit genutzt werden können, die über keine oder nur unzureichende Kenntnis der alten Sprachen verfügten. An der von Schöne für die Vorlage auf der Klassensitzung zusammengestellten Liste mit den Namen der für die Publikation vorgesehenen griechischen und lateinischen Autoren, denen die auf der Grundlage älterer Ausgaben errechneten Seitenzahlen für die neue Edition beigefügt sind,11 ist bemerkenswert, dass bereits in dieser frühen Phase der Planung für die griechische Reihe neben den antiken Autoren von Hippokrates bis Galen auch frühbyzantinische Autoren wie Oreibasios, Aetios von Amida, Paulos von Aigina oder Alexander von Tralleis genannt sind. Deren Aufnahme in das Editionsprogramm war der Überlegung geschuldet, dass die von ihnen verfassten Handbücher ebenso wie die aus frühbyzantinischer Zeit stammenden Hippokrates- und Galenkommentare zum einen wichtige Zeugen für die Überlieferung der antiken Texte darstellen und zum anderen Exzerpte aus sonst nicht erhaltenen medizinischen Schriften bewahrt haben, die für unsere Kenntnis von der Entwicklung der griechischen Medizin wertvoll sind. In der Annahme, dass die Texte des Ärztecorpus mit Übersetzung erscheinen werden, waren Diels und Schöne bei ihren Berechnungen des Gesamtumfangs des Corpus auf ungefähr 65 Bände zu je 1000 Seiten gekommen, wobei 50 Bände für die griechischen Autoren, 5 Bände für die lateinischen Autoren und 10 Bände für Fragmentsammlungen vorgesehen waren. Nach den Erfahrungen, die Diels als Redaktor der Commentaria in Aristotelem Graeca gemacht hatte, ging er davon aus, dass man pro Jahr mit dem Erscheinen eines Corpusbandes rechnen könne und dass demzufolge für die Laufzeit des Unternehmens ein Zeitraum von etwa 65 Jahren zu veranschlagen sei. Den Kostenaufwand, der mit diesem Editionsvorhaben bis zu seinem Abschluss auf die Berliner Akademie zukäme, bezifferte er, bei einer Summe von 7200 Mark jährlich, auf rund eine halbe Million Mark.12 Dass | es sich hierbei nur um vorläufige Schätzungen handeln konnte, stand außer Frage. Endgültige Klarheit über den tatsächlichen Umfang des Corpus und den in Abhängigkeit davon zu erwartenden Arbeits- und Kostenaufwand sollte die in der vorgestellten Konzeption ebenfalls ausgewiesene Katalogisierung aller damals bekannten Handschriften mit antiken medizinischen Texten sowohl im griechischen und lateinischen Original als auch in lateinischen, syrischen, arabischen und hebräischen Übersetzungen erbringen. Wie aus dem Protokoll der Klassensitzung vom 18. Juli 1901 zu ersehen ist, wurde der von Diels vorgelegte Plan auf der Sitzung zwar lebhaft diskutiert, in seinen konkreten Details aber abgelehnt.13 Der Grund dafür dürfte klar sein: es sollte auf jeden Fall verhindert werden, dass finanzielle Mittel der philosophisch-historischen Klasse in dem von Diels ausgewiesenen Umfang über mehrere Jahrzehnte hinweg an ein und dasselbe Unternehmen gebunden sind. Gebilligt wurden allerdings die in Koopera10 11
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Siehe ebd., Bl. 1. Diese Aufstellung findet sich im Archiv der Arbeitsstelle Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum. Zu diesen Kalkulationen s. „Plan eines Corpus medicum“ (ABBAW II – VIII – 127, Bl. 2 u. R3). Siehe ebd., Bl. 3.
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tion mit der Kopenhagener Akademie in Aussicht genommenen Arbeiten an dem Handschriftenkatalog; offenbar nahm man dabei in Kauf, dass das Ärztecorpus mit dessen Fertigstellung und Veröffentlichung möglicherweise sein Ende finden würde. Mit der Geschäftsführung dieser Unternehmung wurde die Aristoteles-Kommission betraut, der die Herren Diels, von Wilamowitz-Moellendorff und Stumpf angehörten. Dass Diels gewillt war, das Corpus der antiken Ärzte ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen mochten, Wirklichkeit werden zu lassen, beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass er bereits vor der Klassensitzung vom 18. Juli konkrete Absprachen mit Schöne über dessen Mitarbeit getroffen hatte. Das ergibt sich aus dem bereits zitierten Brief Schönes an Diels vom 15. Juli 1901,14 in dem er unter Bezugnahme auf vorangegangene Besprechungen mit Diels schreibt: „Ich bin bereit, die Vorarbeiten so lange zu fördern und zu leiten, bis eine verläßliche Übersicht über den Gesamtbestand an Handschriften griechischer Mediziner gewonnen sein wird, und die zu diesem Behuf notwendigen Reisen, soweit als notwendig, selbst zu unternehmen.“ Weiteren Briefen von Schöne an Diels ist zu entnehmen, dass seit dieser Zeit auch schon jüngere Hilfskräfte, die für ihre Arbeit pro Stunde mit 1 Mark entlohnt wurden, damit beschäftigt waren, nach den Anweisungen von Schöne die vielgerühmten Scheden vorzubereiten.15 Das heißt, sie mussten aus bereits gedruckten Handschriftenkatalogen die Beschreibungen der einzelnen Handschriften, soweit sie medizinische Texte enthielten, ausschneiden und diese dann auf eigens dafür angeschaffte Papierbogen aufkleben, damit sie im Bedarfsfall jederzeit ohne großen Aufwand ergänzt werden konnten. | Eile war bei diesen Arbeiten aus zweierlei Gründen geboten: erstens hatte Schöne seine Mitarbeit an dem Handschriftenkatalog nur für das Wintersemester 1901/1902 zugesagt, und zweitens sollte der Katalog nach den Vorstellungen von Diels bereits 1904 in gedruckter Form der 2. Generalversammlung der assoziierten Akademien vorgelegt werden, mit dem Ziel, neben der dänischen Akademie noch weitere Akademien für die Mitarbeit an dem Ärztecorpus zu gewinnen oder sie wenigstens dazu zu bewegen, sich finanziell an dem Unternehmen zu beteiligen. Immerhin hatten sich zur Mitarbeit an der vor Ort durchzuführenden Erfassung der noch nicht katalogisierten Handschriften mit medizinischen Texten außer der Kopenhagener Akademie auch die Wiener Akademie sowie Wissenschaftler und Bibliothekare aus England, Frankreich, Italien, Kanada und den Niederlanden bereit erklärt.16 Die Hauptlast dieser Arbeiten trug allerdings die Berliner Akademie, die Schöne damit beauftragte, die Handschriftenbestände der italienischen Bibliotheken zu katalogisieren, wofür ihm, wie er Diels mitteilt,17 gelegentliche Unterstützung durch zwei junge Wissenschaftler aus Dänemark zugesagt wurde, mit denen die Kopenhagener Akademie ihren Anteil an der Katalogarbeit zu leisten gedachte. Die Reise nach Italien, die Schöne am 15. Oktober 1901 antrat, führte ihn nach Mailand, Venedig, Bologna, Cesena, Lucca, Florenz, Rom und nach Neapel, wo er sich jedoch vor allem für die chirurgischen Instrumente aus Pompeji interessierte. Von die14 15 16
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ABBAW CMG 213, Brief vom 15. Juli 1901, S. 1f. Siehe ebd., die Briefe vom 16. Juli 1901, vom 19. Aug. 1901, S. 4, und vom 24. Aug. 1901, S. 1f. Siehe das „Verzeichnis der Mitarbeiter“ in: H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, Griechische Abteilung, Abh. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wiss. 1905 u. 1906, Berlin 1906, S. X. Siehe ABBAW CMG 213, Brief vom 19. Aug. 1901, S. 1f.
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ser Reise hat Schöne Diels regelmäßig, d.h. zum Teil in Abständen von nur wenigen Tagen, über den Fortgang seiner Handschriftenstudien Bericht erstattet. Entsprechenden Hinweisen in diesen Briefen, die den Zeitraum vom 21. Oktober 1901 bis zum 15. August 1902 umfassen, ist zu entnehmen, dass Schöne angesichts der reichen Ausbeute an noch nicht bekanntem Material, die die Durchsicht der Handschriftenbestände für die medizinischen Texte erbracht hat, das Unterfangen, die Handschriften der antiken Ärzte systematisch zu erfassen und zu katalogisieren, für berechtigt und der dafür aufgewendeten Mittel für wert hielt. So entdeckte er z.B. bei seinen Recherchen in Mailand in der Biblioteca Trivulziana ein griechisches Fragment aus der im griechischen Original in vollständiger Fassung nicht erhaltenen Galenschrift De experientia medica,18 das er noch vor Ende des Jahres 1901 publiziert hat;19 aus Florenz konnte er berichten, dass es ihm gelungen sei, im Laurentianus 74,7 „eine höchst merkwürdige Blattversetzung und Doppelüberlieferung“ eines Textstücks aus Galens Kommentar zu der hippokratischen Schrift De articulis aufzuklären;20 und später, als | er in Paris Station gemacht hatte, schreibt er, dass er einen von Omont21 übersehenen Pulstraktat von Markellinos aufgespürt habe,22 den er 1907 im Druck vorgelegt hat,23 und dass er die interessante Feststellung machen konnte, dass der damals noch nicht katalogisierte alte Parisinus Suppl. Gr. 446 „eine (im Vergleich mit dem bei Kühn abgedruckten Text – J. K.) bedeutend kürzere, anscheinend ursprünglichere Fassung“ der pseudogalenischen Definitiones medicae enthält.24 Die Fülle des von Schöne untersuchten Handschriftenmaterials25 hatte allerdings dazu geführt, dass er seinen Zeitplan nicht hatte einhalten können. Er sah sich deshalb genötigt, Diels davon in Kenntnis zu setzen,26 dass er sein für Rom, der letzten Station seiner Italienreise, vorgesehenes Arbeitspensum nicht termingerecht beenden könne; da er sich jedoch verpflichtet fühlte, die von ihm übernommene Aufgabe zu Ende zu führen, erklärte er sich bereit, auch noch das Sommersemester daranzugeben, und wollte unter diesen Umständen von Italien aus nach Paris gehen in der Hoffnung, „dort in der zur Verfügung stehenden Zeit das zu erledigen, was von mir erledigt werden muß“. Um seiner Bitte, Diels möge für die Fortsetzung seiner Arbeit Geldmittel in ausreichender Höhe beschaffen, Nachdruck zu verleihen, fügt er hinzu: „Sie wissen, daß ich ohnehin durch die Notwendigkeit, für unsere Berliner Sachen zu sorgen, bedeutende materielle Opfer bringe.“ 18 19
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Siehe ebd., Brief vom 21. Nov. 1901, S. 1f. H. Schöne, Eine Streitschrift Galen’s gegen die empirischen Ärzte, SB d. Königl. Preuß. Akademie d. Wiss., phil.-hist. Cl. 1901, 51, S. 1255–1263. Siehe ABBAW CMG 213, Brief vom 17. Jan. 1902, S. 3f. Es handelt sich um H. Omont, den Verfasser von Handschriftenkatalogen französischer Bibliotheken. Siehe ABBAW CMG 213, Brief vom 15. Aug. 1902, S. 3. Markellinos’ Pulslehre. Ein griechisches Anekdoton, hrsg., in: Festschrift zur 49. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Basel 1907, S. 448–472. Siehe ABBAW CMG 213, Brief vom 4. Juni 1902, S. 4. Nach einer von ihm zusammengestellten Liste (s. ABBAW CMG 213, Brief vom 1. Mai 1902, S. 1) hat er allein in Rom folgende Handschriften erfasst: 97 Vaticani graeci, 8 Urbinates graeci, 26 Palatini graeci, 8 Reginenses graeci, 1 Ottobonianus graecus, 78 Vaticani latini, 5 Urbinates latini, 249 Palatini latini, 14 Reginenses latini und 3 Ottoboniani latini. Siehe ABBAW CMG 213, Brief vom 27./29. März 1902, S. 3f.
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Dass Schöne für die, wie er es nennt, „Berliner Sachen“ Sorge trug – allerdings ohne als offizieller Vertreter der Berliner Akademie auftreten zu können –, beweisen seine Bemühungen, bei italienischen Kollegen Interesse für das Ärztecorpus zu wecken. So berichtet er Diels aus Florenz,27 dass er Girolamo Vitelli, den er auf der Biblioteca Laurenziana kennengelernt hatte, die prinzipielle Frage gestellt habe, „ob und in welcher Art er eine Beteiligung der Italiäner an einem solchen Unternehmen“ – Schöne hatte ihm zuvor den Plan des Ärztecorpus erläutert – „für möglich halte“. Die, wie Schöne herausgehört zu haben glaubt, ehrliche Antwort von Vitelli fiel jedoch nicht gerade ermutigend aus. Sie lässt sich etwa, wie folgt, zusammenfassen: Von den Körperschaften käme nur die Accademia dei Lincei in | Frage, deren finanzielle Mittel aber „in sehr weitem Umfang durch andere Dinge festgelegt seien“; und man müsste deshalb die italienische Regierung ersuchen, zusätzliche Gelder zu bewilligen, was vielleicht Aussicht auf Erfolg hätte, wenn dem zuständigen Minister „die Angelegenheit in geschickter Form nahe gelegt werde“. Die Hauptsache dabei wäre, den Italienern mit Rücksicht auf die „Eigentümlichkeiten“ der eigenen Kollegen und Landsleute auf diesem für sie neuen Gebiet „eine besondere, möglichst abgegrenzte Domäne“ zu überlassen. Auf jeden Fall hielt Vitelli es für erforderlich, Schöne darauf hinzuweisen, dass Diels, falls er dieses Thema berührende „vertrauliche Anfragen“ an die Accademia dei Lincei richten würde, „dies zwar nicht durch ihn (Vitelli – J. K.) selbst zu thun, aber ihm vorher die Fassung Ihrer Vorschläge mitzuteilen“. Ob Diels hiervon Gebrauch gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis; fest steht jedoch, dass sich diese italienische Akademie an unserem Unternehmen nicht beteiligt hat. Zu einem konkreten Ergebnis hat Schönes Kontaktaufnahme zu italienischen Kollegen insofern geführt, als Alexander Olivieri, mit dem Schöne offenbar in Neapel zusammengetroffen war, wo dieser eine Professur innehatte, schon 1902 mit der Arbeit an der Edition des Aetios von Amida begonnen hatte, die für die Aufnahme in das Ärztecorpus bestimmt war. Von Paris machte Schöne noch einen Abstecher nach Gent und Brüssel und kehrte Mitte September 1902 nach Berlin zurück. Für die Aufbereitung des Materials, das er in Italien und Paris gesammelt hatte, erbat er sich eine Hilfskraft, die diese Aufgabe, wie er schreibt, teils nach seinem Diktat, teils aber auch selbständig erledigen sollte.28 Die Arbeiten an dem Handschriftenkatalog waren damit aber noch längst nicht abgeschlossen. In dem Abschlussbericht von Bruno Rappaport über seine Tätigkeit an dem Katalog29 lesen wir, dass Karl Kalbfleisch, Walter Scott und Montague R. James erst im Herbst 1903 überhaupt damit begonnen haben, die Handschriftenbestände in England aufzunehmen, und Max Wellmann, der nach Spanien gegangen ist, sogar noch später, nämlich im Winter 1903/1904. Angesichts dieser Verzögerungen war es kaum noch möglich, den Handschriftenkatalog, wie vorgesehen, für die Vorlage auf der 2. Generalversammlung der assoziierten Akademien im Jahr 1904 im Druck fertigzustellen. Umso mehr überrascht es, dass Diels bereits 1903 bei der Berliner Akademie erneut einen Antrag zur Aufnahme der Arbeiten am Corpus medicum gestellt hat. Da kein Zweifel bestand, dass die Maximalforderungen der ersten Konzeption zu deren Ablehnung geführt hatten, stand es 27 28 29
Siehe ebd., Brief vom 7. Januar 1902, S. 1–5. Siehe ebd., Brief aus Gent vom 15. Aug. 1902, S. 6. Siehe B. Rappaport in: Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte (Anm. 16), S. V.
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für Diels fest, dass er bei der Abfassung des neuen Plans, den er zusammen mit dem Antrag eingereicht hat, diesen Umstand berücksichtigen musste. Er tat dies, indem er die ursprünglich vorgesehenen modernsprachigen Übersetzungen und | Sacherklärungen aus dem Programm herausnahm. Auf diese Weise erreichte Diels, dass sich die Anzahl der Bände bei gleichbleibender Seitenzahl von 65 auf 37 verringerte, was zwangsläufig zur Halbierung der Kosten und zu einer kürzeren Laufzeit des Unternehmens führte. Seine Rechnung ging auf: in dieser reduzierten Form wurde der Plan für das Corpus medicum von der Berliner Akademie angenommen.30 Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es Diels nicht leicht gefallen ist, auf die Übersetzungen und Sacherklärungen für sein Ärztecorpus zu verzichten. Bedeutete das doch eine Abkehr von seinem ursprünglichen Anliegen, ein Editionsvorhaben zu gründen, das es auch und vor allem den Medizinhistorikern ermöglichen sollte, sich in stärkerem Maße mit der Geschichte der antiken Medizin zu befassen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er selbst später den Verzicht auf die Übersetzungen damit begründet hat, dass der internationale Charakter des Unternehmens es nicht zuließ, den Texten in jedem Fall, wie vom Verlag B. G. Teubner gefordert, deutsche Übersetzungen beizugeben.31 Man kann Diels letzten Endes nur dankbar sein, dass er, vor die Alternative gestellt, das Corpus entweder ohne Übersetzungen erscheinen zu lassen oder das ganze Projekt aufzugeben, sich für die erste Variante entschieden hat. Der Verzicht auf die Übersetzungen konnte 1965 korrigiert werden, für die Gründung des Ärztecorpus einen zweiten Hermann Diels zu finden hätte sich mit Sicherheit als unmöglich erwiesen. Vielleicht hätte Diels den schwerwiegenden Eingriff in die Gestaltung der Corpusbände noch etwas hinausgezögert, wenn er zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass sich ihm zumindest in einem Falle eine Chance bieten würde, das geplante Unternehmen nicht nur in finanzieller Hinsicht zu entlasten. Denn Ende April 1904 erhielt Diels einen Brief vom Verlag B. G. Teubner,32 in dem ihm auf Wunsch des Rektors der Leipziger Universität Geheimrat Bücher mitgeteilt wurde, dass dieser es für möglich hielte, das Ärztecorpus der Berliner Akademie mit Mitteln aus der Puschmann-Stiftung zu unterstützen, deren Übergabe an die Universität gerade erfolgt war. Voraussetzung dafür wäre nach Maßgabe des Rektors allerdings, dass das Aufgabengebiet, das der Stiftung übertragen wird, eine gewisse Selbständigkeit aufweist und dass die betreffenden Publikationen unter dem Namen der Stiftung erscheinen. Bereits einen Tag später hat Diels sich in einem längeren Schreiben an Geheimrat Bücher gewandt,33 in dem er seine Freude über das großzügige Anerbieten ausdrückte und zugleich, wenn auch unter Vorbehalt, | den konkreten Vorschlag unterbreitete, die Medici latini als selbständigen Teil aus dem Akademieunternehmen auszugliedern und deren Edition der Puschmann-Stiftung zu übertragen. Dass in diesem Fall der Stiftung das in Vorbereitung des Handschriftenkatalogs bereits gesammelte Material für die lateinischen Autoren zur Verfügung gestellt wird, darin sah Diels ebenfalls keine Schwierig30 31 32
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Siehe ABBAW II – V III – 127, Bl. 32f. Siehe Diels (Anm. 4), S. 726. Das Datum des Briefes ist der 29. April 1904. Die in diesem Zusammenhang geführte Korrespondenz findet sich im Archiv der Arbeitsstelle Corpus Medicorum Graecorum / Latinorum. Für das Antwortschreiben liegt ein von Diels handschriftlich verfasster Entwurf vor, der auf den 30. April 1904 datiert ist.
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keit. Die definitive Zusage der Leipziger Universität, die Herausgabe der lateinischen Reihe des Ärztecorpus als selbständiges Unternehmen der Puschmann-Stiftung zu betreiben, erfolgte jedoch erst im November 1905,34 da im Kuratorium der Stiftung zuvor noch keine bindenden Beschlüsse über die Verwendung der für die Geschichte der Medizin vorgesehenen Mittel der Stiftung gefasst worden waren. Spätestens Anfang 1904 hatte Diels sich offenbar damit abgefunden, dass durch die bereits erwähnten Verzögerungen bei den Vorarbeiten für den Handschriftenkatalog der Termin für die Vorlage der Konzeption für das Ärztecorpus auf der 2. Generalversammlung der Internationalen Assoziation der Akademien, die 1904 in London stattfinden sollte, nicht einzuhalten war, weil zugleich auch der Katalog in gedruckter Form hätte vorgelegt werden müssen. Schöne, der 1903 eine Professur in Königsberg angetreten hatte und aus diesem Grund die Arbeiten an dem Katalog in Berlin nur noch aus der Ferne begleiten konnte, zeigte sich, wie aus seinem Brief vom 11. Februar 190435 hervorgeht, über die Nachricht von Diels, dass die Vorlage des Katalogs nicht erfolgen könne, äußerst überrascht; denn bis dahin war er auf Grund einer früheren Äußerung von Diels davon ausgegangen, dass der Termin für die Vorlage auf jeden Fall eingehalten werden sollte, auch wenn dafür nur eine unvollständige Fassung des Katalogs zur Verfügung stünde. Mit der Entscheidung von Diels, nur mit einem vollständigen Katalog an die Öffentlichkeit zu treten, war klar geworden, dass die Antragstellung auf die 3. Generalversammlung der assoziierten Akademien in Wien im Jahr 1907 verschoben werden musste. Diesem Ansinnen, das die Berliner und die Kopenhagener Akademie auf der Londoner Generalversammlung vortrugen, wurde von dem Gremium stattgegeben.36 Unter diesen Umständen blieben für die endgültige Fertigstellung der Druckvorlage und für die Betreuung der Drucklegung knapp drei Jahre. Diels’ Hoffnung, dass er Schöne für diese komplizierte und verantwortungsvolle Aufgabe gewinnen könnte, wurde enttäuscht. Das geht aus einem Antwortschreiben von Schöne vom 18. November 190337 hervor, in dem er | unmissverständlich darlegt, dass er in Königsberg zur Zeit wegen Lehrermangels keine geeigneten jungen Leute findet, die diese Arbeit für ihn machen könnten, er selbst die Redaktion des Katalogs aber nicht übernehmen und auch nicht erlauben könne, dass er als Redaktor genannt wird. Auch Diels’ Angebot, ihn zum Generalredaktor des künftigen Ärztecorpus zu berufen, hat Schöne ungeachtet des ihm damit entgegengebrachten Vertrauens abgelehnt. Auf Grund einer früher gegebenen Zusage hat er sich allerdings bereit gefunden, während der Drucklegung des Katalogs eine Korrektur mitzulesen, zumal da ihm das Gelegenheit gab, auf ihn selbst zurückgehende Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Nach der entschiedenen Weigerung von Schöne, sich weiterhin an den Katalogarbeiten zu beteiligen, hat Diels im Sommer 1904 seinen Schüler Johannes Mewaldt für diese Aufgabe herangezogen mit der Absicht, den Abschluss der Arbeiten zu forcieren. 34
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Siehe den Brief von H. Lipsius, dem Nachfolger von Bücher im Amt des Rektors der Leipziger Universität, an Diels vom 1. Nov. 1905. ABBAW CMG 213, Brief vom 11. Febr. 1904, S. 2f. Siehe den „Vorschlag der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Gemeinschaft mit der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Kopenhagen zur Herstellung eines Corpus medicorum antiquorum“, in: Diels (Anm. 1), S. 3. ABBAW CMG 213, Brief vom 18. Nov. 1903, S. 7–12.
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Ein Jahr später, als bereits abzusehen war, dass die Ausgabe der lateinischen medizinischen Autoren und damit auch das entsprechende Katalogmaterial in die Obhut der Puschmann-Stiftung gelangen würde, wurde Mewaldt38 von der Akademiekommission mit der Herstellung des Druckmanuskripts des griechischen Handschriftenkatalogs beauftragt, zunächst für den ersten Teil, der Hippokrates und Galen enthält, und anschließend für den zweiten Teil mit den übrigen griechischen Ärzten. Das weitaus umfänglichere Manuskript des ersten Teils ging noch 1905 in den Druck, das des zweiten Teils 1906. Die Überwachung der Drucklegung der beiden Bände, deren Hauptlast ebenfalls Mewaldt zu tragen hatte, wurde dadurch erschwert, dass noch während der Korrekturen ständig Nachträge eingearbeitet werden mussten, die sich zum Teil aus einer nochmaligen Überprüfung bereits durchgesehener Quellen, zum Teil aus der Einarbeitung neuester Literatur ergaben. Es ist das Verdienst von Mewaldt, dass trotz alledem beide Bände 1906 im Druck vorlagen. Damit war nun auch die letzte Hürde genommen, die dem Antrag auf Gründung des Ärztecorpus im Weg gestanden hatte. Zusammen mit den Katalogbänden wurde den assoziierten Akademien im November 1906 ein neu ausgearbeiteter Plan,39 nunmehr nur noch für das Corpus Medicorum Graecorum mit einem Umfang von insgesamt 32 Bänden, zur Einsichtnahme zugeschickt, in der trügerischen Hoffnung, dass auf diese Weise die eine oder andere Akademie veranlasst werden könnte, sich dem Unternehmen anzuschließen, die Edition einzelner Bände zu übernehmen oder auch nur finanzielle Unterstützung zu leisten. Die Reaktion auf diesen Aufruf war eher beschämend. Lediglich die Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften kündigte in einem Schreiben vom 8. Mai 190740 an, dass ihre philologisch-historische Klasse die Arbeit des Corpus | zunächst für drei Jahre mit 500 Mark pro Jahr unterstützen wolle. Den Anstoß dazu dürfte der in Leipzig am Königlichen Gymnasium tätige Johannes Ilberg gegeben haben, der auf Grund seiner wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der antiken Medizin schon bei den Vorarbeiten für die Kataloge mitgearbeitet hatte. Aber auch wenn die übrigen Akademien kein besonderes Interesse am Corpus Medicorum Graecorum bekundet hatten, so muss man ihnen doch zugute halten, dass sie dem Plan des Unternehmens, wie ich bereits am Beginn meiner Ausführungen darlegte, zugestimmt haben, so dass endlich auch das griechische Ärztecorpus als interakademisches Vorhaben, getragen von den Akademien zu Berlin, Kopenhagen und Leipzig, seine Arbeit aufnehmen konnte. Den krönenden Abschluss der, wie ich meine, in vielerlei Hinsicht interessanten Vorgeschichte des CMG stellte die Ende September und Anfang Oktober 1907 erfolgte Unterzeichnung des Vertrages mit dem Verlag B. G. Teubner dar,41 der den Druck sowohl der griechischen wie der lateinischen Reihe übernommen hatte.
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Siehe dessen Bericht, in: Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte (Anm. 16), S. VI–V III. In detaillierter Form gedruckt in: Diels (Anm. 1), S. 7–22. ABBAW II – VIII – 127, Bl. 114. Ein Exemplar des von den vier Vertragspartnern unterzeichneten Vertrags findet sich im Archiv der BBAW (ABBAW II – VIII – 127, S. 137f.).
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3. DIE ORGANISAT ION UND HERAUSGABE DES CORPUS MEDICORUM GRAECORUM: ERGÄNZENDE DE TAILS AUS DER KORRESPONDENZ ZW ISCHEN HERMANN DIELS UND JOHANNES MEWALDT*
Als Student im 5. Semester wurde Hermann Diels von seinem Lehrer Hermann Usener mit der Aufgabe betraut, zu untersuchen, in welchem Verhältnis die drei in den Auszügen aus den Placita des Plutarch, in den Eklogen des Stobaios und in der pseudogalenischen Historia philosopha bestehenden doxographischen Sammlungen zueinander stehen1. Ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung war für den jungen Diels zweifellos die Entdeckung, daß der Text der Historia philosopha in der Galenausgabe von Carl Gottlob Kühn2 Zusätze enthielt, die, wie der Vergleich mit der handschriftlichen Überlieferung und den griechischen Drucken aus dem 15. und 16. Jahrhundert zeigte, auf das Konto von René Chartier gingen, dessen Galenausgabe von 1679 Kühn als Druckvorlage benutzt hat. In seiner Dissertation3, die er im Dezember 1870 verteidigt hat, konnte er überzeugend nachweisen, daß es sich bei den Texterweiterungen, die Chartier vorgenommen hat, vornehmlich um | die Rückübersetzung von eigenmächtigen Textergänzungen in der lateinischen Übersetzung des Julius Martianus Rota (Basel 1542) und um die Übernahme von Textpassagen aus den beiden anderen genannten doxographischen Schriften handelt und daß erst der von diesen Interpolationen gereinigte Text eine adäquate Beurteilung der Historia philosopha als einer Quelle für die doxographische Überlieferung ermöglicht. Da Diels im Verlauf seiner weiteren Studien zu den Doxographi Graeci und später auch bei der Sammlung der Fragmente der Vorsokratiker gezwungen war, die Schriften medizinischer Autoren von Hippokrates (um 460 – um 370 v.Chr.) bis hin zu Caelius Aurelianus (5. Jh.) zu konsultieren, hatte er bereits in seinen jungen Jahren mehrfach die Gelegenheit, sich von der Unzuverlässigkeit dieser Texte zu überzeugen, von denen es um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch keine den Ansprüchen der Textkritik genügenden Editionen gab, wenn man einmal von der Hippokratesausgabe von É. Littré (10 Bde., Paris 1839–1861) und der Oreibasiosausgabe von Ch. Daremberg (6 Bde., Paris 1851–1876) absieht, die diesen Kriterien wenigstens teilweise entsprachen. So wird man Diels gern glauben, daß er schon seit dieser Zeit den Wunsch hegte, „ein * Erschienen in: Hermann Diels (1848–1922) et la science de l’antiquité. Entretiens préparés et présidés par W. M. Calder III et J. Mansfeld (Vandœuvres – Genève, 17–21 août 1998), Genf 1999 (Entretiens sur l'Antiquité Classique XLV ), S. 207–226. 1
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Siehe die autobiographischen Aufzeichnungen von H. Diels, gedruckt in: O. Kern, Hermann Diels und Carl Robert. Ein biographischer Versuch, Leipzig 1927 (Jahresbericht über die Fortschritte d. klass. Altertumswiss. 215), 35. Claudii Galeni Opera omnia, editionem curavit C. G. Kühn, XIX (Leipzig 1830), 222–345. De Galeni Historia philosopha (Diss. Bonn 1870).
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wirklich brauchbares Corpus medicum zu schaffen“4. Bis zur Realisierung dieses Wunsches sollten jedoch noch viele Jahre vergehen. Auf der ersten Generalversammlung der Internationalen Assoziation der Akademien, die 1901 in Paris stattfand, wurde Diels von Johan Ludvig Heiberg, dem Vertreter der Königlich Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften, der Vorschlag unterbreitet, die Herausgabe eines Corpus der antiken Ärzte als Gemeinschaftsunternehmen der Akademien in Angriff zu nehmen5. Da Diels sich über den Umfang eines solchen Vorhabens | und die damit verbundenen Kosten keine Illusionen machte, erschien ihm der Vorschlag von Heiberg als „erlösender Gedanke“6, den in die Tat umzusetzen er keinen Augenblick zögerte. Es war jedoch nicht allein die Bereitschaft der Dänischen Akademie, sich personell und finanziell an dem Projekt zu beteiligen, die es ihm geboten erscheinen ließ, die Gründung des Ärztecorpus unverzüglich zu betreiben. Auch für das Engagement der Berliner Akademie schienen ihm zu diesem Zeitpunkt besonders günstige Voraussetzungen gegeben zu sein. Das betraf zum einen die Finanzierung des Unternehmens, für die keine zusätzlichen Mittel bewilligt werden mußten, da die an die kurz vor dem Abschluß stehende Ausgabe der Aristoteleskommentatoren gebundenen nur übernommen zu werden brauchten, und zum anderen den nicht weniger gravierenden Umstand, daß es gerade zu dieser Zeit in Deutschland eine Reihe von klassischen Philologen gab, die sich als Herausgeber medizinischer Texte betätigt hatten7 und als solche auch als präsumtive Mitarbeiter an dem neuen Corpus zur Verfügung standen8. Nach dem von Diels vorgelegten und bis heute gültigen Editionsplan sind für die griechische Reihe des Corpus die antiken | Autoren Hippokrates, Aretaios, Dioskurides, Rufus, Soran, Galen, eine Auswahl von medici minores und die für die Überlieferung der antiken Texte wichtigen frühbyzantinischen Handbücher von Oreibasios, Alexander von Tralleis, Aetios von Amida und Paulos von Aigina sowie die frühbyzantinischen Hippokrates- und Galenkommentare vorgesehen, für die lateinische Reihe 4
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Siehe H. Diels, Über das neue Corpus medicorum, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 19 (1907), 724. Zur Gründung und Geschichte des antiken Ärztecorpus s. J. Kollesch, Die Erschließung der antiken medizinischen Texte und ihre Probleme – das Corpus Medicorum Graecorum et Latinorum, Gesnerus 46 (1989), 195–210 (= unten, S. 267–277), und die dort zitierte Literatur. Siehe Diels (Anm.4), 724. Zu den Ausgaben, die zwischen 1870 und 1901 vorgelegt wurden, gehören z.B. Claudii Galeni De placitis Hippocratis et Platonis libri novem, recensuit et explanavit I. Müller, I (Leipzig 1874); Galeni De elementis ex Hippocratis sententia libri duo, rec. G. Helmreich (Erlangen 1878); Galeni Historia philosopha, in: Doxographi Graeci (Berlin 1879), 595–648; Galeni qui fertur De partibus philosophiae libellus, primum edidit E. Wellmann (Berlin 1882); Claudii Galeni Pergameni Scripta minora, recensuerunt J. Marquardt, I. Müller, G. Helmreich, I–III (Leipzig 1884–1893); Marcelli De medicamentis liber, edidit G. Helmreich (Leipzig 1889); Anonymi Londinensis ex Aristotelis Iatricis Menoniis et aliis medicis eclogae, edidit H. Diels, Suppl. Aristotel. III 1 (Berlin 1893); Claudii Galeni Protreptici quae supersunt, edidit G. Kaibel (Berlin 1894); Theodori Prisciani Euporiston libri III editi a V. Rose (Leipzig 1894); Hippocratis Opera quae feruntur omnia, recensuit H. Kühlewein, I (Leipzig 1894); Galeni Institutio logica, edidit K. Kalbfleisch (Leipzig 1896); Apollonius von Kitium, Illustrierter Kommentar zu der hippokrateischen Schrift Περὶ ἄρθρων, hrsg. von H. Schöne (Leipzig 1896). Siehe den von H. Diels ausgearbeiteten ersten „Plan eines Corpus medicum“ vom 27. Juni 1901 (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften II – VIII – 127,1).
Die Organisation und Herausgabe des Corpus Medicorum Graecorum
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die Schriften von Celsus, Scribonius Largus, Quintus Serenus, Marcellus, Caelius Aurelianus, Theodorus Priscianus, Anthimus, Antonius Musa und einige anonym bzw. pseudonym überlieferte Texte. Den Gesamtumfang des Corpus hatte Diels, nachdem die zunächst beabsichtigte Beigabe von modernsprachigen Übersetzungen und knappen Sacherklärungen dem Rotstift zum Opfer gefallen war, auf 37 Bände zu je 1000 Seiten berechnet, von denen 32 Bände auf die griechische und 5 Bände auf die lateinische Reihe entfielen. Von der, wie sich bald herausstellen sollte, allzu optimistischen Annahme ausgehend, daß pro Jahr zwei Bände erscheinen würden, hatte er für das griechische Ärztecorpus eine Laufzeit von insgesamt 16 bis 20 Jahren geplant9. Die Gründung des Unternehmens erfolgte jedoch erst sechs Jahre später. Zunächst konnte nur damit begonnen werden, als unerläßliche Vorarbeit für das Editionsvorhaben die in den europäischen Bibliotheken vorhandenen Handschriften mit antiken medizinischen Texten sowohl im griechischen und lateinischen Original als auch in lateinischen, syrischen, arabischen und hebräischen Übersetzungen zu katalogisieren. Diese Bestandsaufnahme diente in erster Linie dem Zweck, die handschriftliche Überlieferung möglichst vollständig zu erfassen; zugleich sollte sie aber auch den für das Unternehmen zu erwartenden Aufwand an Arbeit und Kosten für die Akademien, die sich daran beteiligen wollten oder zumindest ihre Zustimmung dazu geben sollten, augenfällig machen. An der Sammlung des Handschriftenmaterials beteiligten sich neben der Berliner und der Kopenhagener Akademie auch | die Wiener Akademie und Wissenschaftler aus England, Frankreich und Italien. Nach dem Erscheinen des Handschriftenkatalogs in den Jahren 1905 und 1906 konnte 1907 mit Zustimmung der dritten Generalversammlung der Internationalen Assoziation der Akademien die Arbeit an dem Corpus der griechischen Ärzte aufgenommen werden, auf das man sich nunmehr beschränken konnte, da sich die an der Universität Leipzig gegründete Puschmann-Stiftung im November 1905 bereit erklärt hatte, die Herausgabe der lateinischen Reihe des Ärztecorpus zu übernehmen. Als Erfolg konnte Diels für sich verbuchen, daß das Corpus Medicorum Graecorum (CMG), dem von den Delegierten der dritten Generalversammlung „große(s), allgemeine(s) wissenschaftliche(s) Interesse“ bescheinigt worden war, unter den Auspizien der assoziierten Akademien erscheinen durfte10 und daß auf den an diese im November 1906 von der Berliner und der Kopenhagener Akademie ergangenen Aufruf zur Mitarbeit an dem neuen Unternehmen immerhin eine Akademie, die Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften, positiv reagiert hatte11, so daß schließlich drei Akademien für die Herausgabe des CMG verantwortlich zeichneten. Dem Wunsch von Diels entsprach es auch, daß die von den assoziierten Akademien für das CMG eingesetzte Kommission, der die Herren Gomperz (Wien), Diels als Vorsitzender (Berlin), Leo (Göttingen), Heiberg (Kopenhagen), Ilberg (Leipzig), Bywater (London) und Krumbacher (München) angehörten, Johannes Mewaldt zum 9 10
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Siehe Diels (Anm.4), 726. Siehe H. Diels, Bericht über den Stand des interakademischen Corpus medicorum antiquorum und Erster Nachtrag zu den in den Abhandlungen 1905 und 1906 veröffentlichten Katalogen: Die Handschriften der antiken Ärzte, I. und II. Teil, Abh. der Königl. Preuß. Akademie der Wiss. 1907 (Berlin 1908), 5. Siehe ebd., 4.
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Redaktor des Vorhabens bestimmte12. Daß Diels seinen Schüler Mewaldt für den Posten des Redaktors vorgeschlagen hat, war kein Zufall. Dieser hatte nicht nur seit 1904 an dem Handschriftenkatalog mitgearbeitet, sondern sich ein Jahr später auch bereit gefunden, das Druckmanu|skript für beide Abteilungen des Katalogs anzufertigen und die Hauptlast bei der Überwachung der Drucklegung dieses Werkes zu tragen, die dadurch erschwert wurde, daß während der Korrekturen ständig Nachträge einzuarbeiten waren. So war es wohl vor allem Mewaldts Arbeitseifer und Einsatzfreudigkeit zu verdanken, daß der Katalog rechtzeitig zur Vorlage auf der dritten Generalversammlung der assoziierten Akademien erscheinen konnte; und das dürfte auch ausschlaggebend gewesen sein für Diels, sich seiner weiteren Mitarbeit an dem Ärztecorpus zu versichern. Wußte er doch aus eigener Erfahrung als Redaktor der Aristoteleskommentatoren nur zu gut, daß ein so groß angelegtes Editionsvorhaben wie das CMG nur dann mit Aussicht auf Erfolg voranzubringen war, wenn ihm als Leiter bei der Bewältigung der mit der Leitung und Betreuung des Unternehmens verbundenen Aufgaben in der Person des Redaktors ein ebenso fähiger wie engagierter Partner zur Seite stand. Mewaldt war von 1907 bis 1930 als Redaktor des CMG tätig. In diese Zeit gehört der unpublizierte Schriftverkehr zwischen Diels und Mewaldt, der in dem Bestand der Historischen Abteilung des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter den Signaturen CMG 47 a-c und CMG 154 a-c aufbewahrt wird. Diese recht umfangreiche Korrespondenz habe ich für mein Referat unter dem Aspekt durchgesehen, zusätzliche Informationen zu Fragen der Organisation des CMG und des Ablaufs der Arbeiten bei der Herausgabe der Texte zu gewinnen. Bevor ich auf Einzelheiten eingehe, möchte ich noch vorausschicken, daß der Briefwechsel, der den Zeitraum von 1905 bis 1922 umfaßt, keineswegs vollständig ist. Die Schreiben von Diels an Mewaldt gehen mit zwei Ausnahmen nicht über das Jahr 1913 hinaus, während Briefe von Mewaldt an Diels in größerer Zahl nur aus den Jahren 1909 bis 1910 und 1914 bis 1922 erhalten sind. Für unsere Zwecke sind vor allem die brieflichen Mitteilungen von Diels interessant, weil sie das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten erkennen lassen, die mit der Herausgabe medi|zinischer Texte verbunden sind. Einerseits war Diels in dem ersten, unveröffentlichten „Plan eines Corpus medicum“ mit dem Anspruch angetreten, „mustergiltige kritische Ausgaben“13 vorzulegen, für die es, wie er 1911 an Mewaldt schreibt, ideal wäre, „wenn man diese schwierigen Texte 6x durch 6 findige Philologen durcharbeiten lassen könnte“14, und andererseits stand er unter dem Erwartungsdruck der Akademien und der Wissenschaft, die – so Diels – „den Wunsch (haben) möglichst bald voran zu kommen“15. Der für die Textherstellung ideale Weg wurde bei dem ersten Druckbogen der von Diels selbst besorgten Ausgabe von Galens Kommentar zum Prorrhetikos I beschritten, bei dem er sich deswegen auf die Einarbeitung aller ihm von den Kollegen nachträglich vorgeschlagenen Korrekturen in die Druckfahnen eingelassen hatte, weil dieser als Muster für die folgenden Editionen dienen sollte. Dieses Procedere hatte jedoch den Druckvorgang in einem Maße verzögert, daß 12 13 14 15
Siehe ebd., 5. ABBAW II – VIII – 127,1. ABBAW CMG 47 b, Brief vom 5. Dez. 1911, 1f. Ebd., 4.
Die Organisation und Herausgabe des Corpus Medicorum Graecorum
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die ganze Zeitplanung in Frage gestellt wurde, und so stand für ihn fest, daß dies die Ausnahme bleiben müsse. Seinen Entschluß, zumindest bei den Galenkommentaren im Hinblick auf die Textkonstituierung ein bescheideneres Ziel zu verfolgen, begründete er damit, daß die Ausgaben dieser Texte, die, wie er meinte, ohnehin „niemand um ihrer selbst willen lesen wird“, lediglich die Aufgabe haben, „das Material so treu wie möglich vorzulegen“16. Dafür, daß sich dieses Problem für Diels überhaupt in so krasser Form stellte, gab es handfeste Gründe. Einer von ihnen war der durchaus verständliche Wunsch von Diels, wenigstens in der Anfangsphase des CMG an der Verantwortung für die inhaltliche und formale Gestaltung der Editionen möglichst alle Fachspezialisten zu beteiligen, die wie Johannes Ilberg, Georg Helmreich, Karl Kalbfleisch, Hermann Schöne, Johannes Mewaldt und Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff entweder | als Herausgeber oder als Kommissionsmitglieder in das Unternehmen involviert waren. Der zweite und wesentlich gravierendere Grund bestand darin, daß die zu edierenden Texte erst dann Außenstehenden vorgelegt werden konnten, wenn sie sich bereits im Druck befanden, so daß die vielfach sicher berechtigten Verbesserungsvorschläge nicht in die Manuskripte, sondern, sofern sie rechtzeitig eingingen, bestenfalls in die ersten Fahnenkorrekturen eingearbeitet werden konnten, ein Verfahren, das sich zwangsläufig negativ auf das Tempo der Drucklegung auswirken mußte. Aber damit mußte man sich wohl abfinden; denn angesichts der Tatsache, daß zu der damaligen Zeit handschriftliche Manuskripte geliefert wurden und noch keine Möglichkeiten bestanden, von diesen Kopien anzufertigen, waren die Druckfahnen in der Tat das erste Material, das man aus der Hand geben konnte. Aus den Erfahrungen, die Diels bei seiner eigenen Ausgabe gemacht hatte, zog er die notwendigen Konsequenzen: bei der nächsten zum Druck anstehenden Edition bestimmte er nur noch zwei Außenstehende, die die Korrekturen mitlesen sollten17, und außerdem legte er es Mewaldt ans Herz, bereits bei der ersten Durchsicht die nötige Sorgfalt walten zu lassen und auch die erforderliche formale Gestaltung schon am Manuskript vorzunehmen, um künftig die Zahl der Korrekturen im Druck möglichst gering zu halten18. Über die Art und den Umfang der über die reinen Formalia wie etwa die Apparatgestaltung19 hinausgehenden Änderungswünsche, die Diels und Mewaldt bei der Manuskriptdurchsicht zusammengetragen haben, erfahren wir nichts aus der Korrespondenz, da beide Herren ihre diesbezüglichen Bemerkungen auf Zetteln notiert haben, die nicht in den Briefwechsel gelangt sind. Auf jeden Fall dürfte jedoch eine adäquate Beurteilung der jeweiligen Textherstellung nicht immer ganz einfach gewesen sein, da die Praefationes, die Aufschluß über die Überliefe|rungsgeschichte geben, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, erst zum Druck eingereicht wurden, wenn der Text bereits vollständig ausgedruckt war. In diesem Sinne dürfte es denn auch zu verstehen sein, wenn Diels in seinem Brief vom 5. Februar 1912 Mewaldt, dessen Manuskript der Ausgabe von Galens Kommentar zu De natura hominis er im Januar erhalten hatte, für Noten dankt, die ihm, wie er an ihn schreibt, „manche Auf-
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Ebd., 2. Siehe ABBAW CMG 47 b, Brief vom 29. Jan. 1912, 2. Siehe ebd., 1, und den Brief vom 12. Febr. 1912, 1. Vgl. ABBAW CMG 154 b, Brief vom 8. Juli 1914, 1f.
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klärung über die Intentionen Ihrer Recensio (geben)“20, oder wenn er an anderer Stelle zu der Edition von Galens Prognostikonkommentar von Joseph Heeg bemerkt, daß ihm die Anlage von dessen Ausgabe „sehr unklar geblieben (ist)“21. Es steht jedoch außer Frage, daß sowohl Diels als auch Mewaldt die Editionen, soweit es erforderlich war, mit ihrem Sachverstand nach Kräften gefördert haben, wie ein Blick in die kritischen Apparate der unter ihrer Ägide erschienenen Ausgaben lehrt. Um so mehr hat es mich überrascht, daß Diels trotz des vernichtenden Urteils, das er in seinem Brief vom 27. August 1913 über die Praefatio von Johannes Westenberger gefällt hat, mit der Bemerkung: „wir dürfen unsere Mitarbeiter nicht schulmeistern“ auf weitere Änderungen zu verzichten bereit war22. Ob dies ein Zeichen von Resignation war oder aus vornehmer Zurückhaltung geschah, mag dahingestellt bleiben. Da es für Diels selbstverständlich war, daß zu einer guten Textausgabe brauchbare Indizes gehören, verwundert es nicht, daß dieses Thema auch in seiner Korrespondenz mit Mewaldt zur Sprache kommt. Die offenbar auf Mewaldt zurückgehende Vorstellung, daß nach Abschluß der Galeneditionen im CMG ein den gesamten Galenischen Wortschatz umfassendes Lexikon erarbeitet werden sollte, hat Diels in realistischer Einschätzung der Lage als „cura posterior, die wir unseren Enkeln übermachen“, zurückgewiesen und statt dessen dafür plädiert, jede Schrift bzw. jeden Band mit kurzen Indizes zu versehen23. Ob | und wann die in diesem Zusammenhang angekündigte Beratung über diesen Gegenstand stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, daß jemals ins Detail gehende verbindliche Richtlinien für die formale und inhaltliche Gestaltung der Indizes ausgearbeitet worden sind. Das wäre zugegebenermaßen auch ein schwieriges Unterfangen gewesen, und so wird Diels vermutlich darauf verzichtet haben, mit dem Hintergedanken, den Index zu seiner eigenen Edition als Anschauungsmaterial für die Herstellung der nachfolgenden Indizes vorzulegen. Denn es ist mehr als unwahrscheinlich, daß er keine dezidierten Vorstellungen von der Anlage der Indizes gehabt hätte und nicht um eine möglichst einheitliche Gestaltung bemüht gewesen wäre. Immerhin hat er Mewaldt in seinem Brief vom 21. Oktober 1913 auf drei Seiten gravierende Differenzen zwischen seinem eigenen Index und dem von dessen Ausgabe dargelegt24, die nachweislich wenigstens zum Teil noch beseitigt worden sind, obwohl der Mewaldtsche Index sich bereits im Druck befand. Für die damalige Arbeitsweise ist auch folgende Einzelheit interessant. Da Indexarbeiten erfahrungsgemäß eine zeitaufwendige Beschäftigung sind, hatte Diels einen Studenten damit beauftragt, die Indizes zu seiner Ausgabe auszuarbeiten und alphabetisch zu ordnen. Er selbst wollte die Zettel dann nur noch „controllieren, redigieren und aufkleben“25. Als er das erledigen wollte, mußte er jedoch feststellen, daß besagter Student – so teilt er Mewaldt mit – „ganz ungenügend gearbeitet hat, so daß ich rascher ohne dessen Vorarbeit fertig geworden wäre. Ich muß fast jede Stelle nachschlagen, weil er die unglaublichsten Formen aus Ignoranz der Elemente auf das Papier schreibt“. Nach der Aufzählung der 20 21 22 23 24 25
ABBAW CMG 47 b, Brief vom 5. Febr. 1912, 1. ABBAW CMG 47 c, Brief vom 21. Juli 1913, 1. ABBAW CMG 47 c, Brief vom 27. Aug. 1913, 2. ABBAW CMG 47 b, Karte vom 23. Nov. 1911. ABBAW CMG 47 c, Brief vom 21. Okt. 1913, 3–5. Ebd., Brief vom 29. Juli 1913, 4.
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schlimmsten Ungereimtheiten, auf die er in dem ihm gelieferten Zettelmaterial gestoßen war, schließt er das Thema mit den Worten ab: „Einmal und nicht wieder lasse ich mir einen Index machen. | Kranze (gemeint ist Walther Kranz, der für die 2. Auflage der Fragmente der Vorsokratiker die Indizes gemacht hatte – J. K.) findet man nur durch glücklichen Zufall …! “26 Die von mir angeführten Details dürften gezeigt haben, daß Diels alles in seiner Macht Stehende getan hat, um das Erscheinen der CMG-Bände zu beschleunigen. Was er nicht verhindern konnte, war, daß die Herausgeber für die Bearbeitung der einzelnen Editionen mehr Zeit brauchten, als er angenommen hatte. Das hing vor allem damit zusammen, daß die Überlieferung der medizinischen Autoren außerordentlich vielschichtig ist. Denn das griechische medizinische Schrifttum hatte in ungebrochener Folge von der Antike bis in den Beginn der Neuzeit hinein dazu gedient, Fachwissen zu vermitteln. Das heißt, die Texte wurden als Arbeitsmaterial benutzt und infolgedessen nicht nur in der Originalfassung tradiert, sondern auch kommentiert, unter bestimmten Gesichtspunkten exzerpiert, in andere Sprachen, ins Lateinische, Syrische, Arabische oder Hebräische, übersetzt und bisweilen sogar im Textbestand verändert, wie Diels bei der Benutzung der pseudogalenischen Historia philosopha selbst festgestellt hatte. Da es für das Ziel des Dielsschen Editionsvorhabens, eine zuverlässige Textgrundlage für die Forschungen auf dem Gebiet der antiken Medizin zu schaffen, unabdingbar war, die Überlieferung in ihrer ganzen Breite, einschließlich der in Form von Übersetzungen und Exzerpten erhaltenen Sekundärquellen, bei der Textherstellung zu berücksichtigen, waren zeit- und arbeitsaufwendige Vorarbeiten unumgänglich, die die erhoffte rasche Fertigstellung der Druckmanuskripte und damit auch das zügige Erscheinen der Bände verhinderten. So waren bis zum Tode von Diels im Jahre 1922, d.h. innerhalb von 15 Jahren, nur fünf Bände, allerdings mit insgesamt neun Texteditionen von zumeist beträchtlichem Umfang, erschienen. Unliebsame Überraschungen, die dazu angetan waren, sorgfältig ausgearbeitete Planungen zunichte zu machen, erlebte | Diels auch, als von den mit der Herausgabe der Galenkommentare zu den hippokratischen Schriften De humoribus und De alimento betrauten Philologen Karl Kalbfleisch und Axel Nelson nachgewiesen werden konnte, daß es sich bei diesen beiden Texten, die sich nur in den Ausgaben von Chartier und Kühn finden, um Renaissancefälschungen handelt. Mit Galen haben sie nur insofern zu tun, als sie zu großen Teilen mehr oder weniger geschickt aus Textpassagen, die aus anderen erhaltenen Galentexten stammen, zusammengestückt sind, und deshalb wurden sie zu Recht aus dem Editionsprogramm des CMG herausgenommen27. Im Falle von Galens Kommentar zum zweiten Buch der Epidemien, der sich ebenfalls als Renaissancefälschung erwies, konnte die dadurch entstandene Lücke28 durch die Publikation der nach der arabischen Version des echten Galentextes 26 27
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Ebd., Brief vom 21. Sept. 1913, 1f. Siehe H. Diels, Corpus Medicorum Graecorum, SB der Königl. Preuß. Akademie der Wiss. 1913 (Berlin 1913), 115, und dens., Corpus Medicorum Graecorum, SB der Königl. Preuß. Akademie der Wiss. 1914 (Berlin 1914), 128. Siehe H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, SB der Königl. Preuß. Akademie der Wiss. 1917 (Berlin 1917), 74; vgl. auch E. Wenkebach, Pseudogalenische Kommentare zu den Epidemien des Hippokrates, Abh. der Königl. Preuß. Akademie der Wiss., Phil.-hist. Klasse 1 (Berlin 1917), 23–52.
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gefertigten deutschen Übersetzung geschlossen werden. Diese Erfahrungen bestärkten Diels nur noch mehr in seiner Überzeugung, daß die Herausgabe der medizinischen Schriften allen Schwierigkeiten, die sich ihrer Realisierung in den Weg stellten, zum Trotz eine dringliche Aufgabe sei. Zu den in der Natur der Sache liegenden Problemen kamen auch noch äußere Faktoren hinzu, die zu Rückschlägen bei der Arbeit am CMG geführt haben. Das waren vor allem der Erste Weltkrieg und seine Folgen. Es war für Diels sicher schmerzlich, daß Mewaldt gleich zu Beginn des Krieges eingezogen wurde und auch nach seiner Verwundung weiterhin Kriegsdienste leisten mußte. Er blieb zwar die ganze Zeit hindurch mit Diels brieflich in Kontakt und hat sich, zumindest in den ersten Kriegsjahren, auch noch am Korrekturlesen beteiligt, als vollwertige Arbeitskraft fiel er jedoch vier Jahre lang aus. | Als Mewaldt nach Wiederaufnahme seiner Redaktortätigkeit im Jahre 1919 Bestandsaufnahme machte, gehörte der Tod von zwei jungen freien Mitarbeitern des CMG zu den negativen Bilanzen, die er Diels mitzuteilen hatte29. Angesichts der kleinen Schar deutscher Philologen, die dafür zu begeistern waren, sich mit der Herausgabe medizinischer Texte zu beschäftigen, war dies ein herber Verlust, der nur schwer zu ersetzen war. Leiter und Redaktor des CMG mußten sich jedoch nicht nur um fehlende Mitarbeiter sorgen. Weit schwerer wog es, daß der Teubner Verlag, der laut Vertrag die gesamten Herstellungskosten zu tragen hatte, im Sommer 1919 aus finanziellen Gründen den Druck der CMG-Bände unvermittelt einstellte und damit den Fortbestand des ganzen Unternehmens gefährdete. Als diese Hiobsbotschaft Mewaldt erreichte, kommentierte er sie mit den Worten: „Es wäre ein Jammer, wenn dieses Unternehmen ein Torso bleiben sollte. Aber wenn es sein muß, so wird der Beschluß gefaßt werden müssen“30, Worte, die angesichts der akuten Gefahr, in der sich das CMG befand, aus dem Munde des langjährigen Redaktors für mein Empfinden auffällig unbeteiligt anmuten. Diels jedenfalls hat nicht sofort aufgegeben, sondern mit dem gewohnten Engagement dafür gekämpft, die drohende Schließung des CMG zu verhindern. Wieviel Energie es ihn und Heiberg gekostet haben mag, die Dänische und die Berliner Akademie dazu zu bewegen, Druckkostenzuschüsse für das CMG zu bewilligen31, läßt sich nur erahnen. Immerhin fand das Bangen um die Existenz des CMG erst nach einem halben Jahr ein Ende. Am 22. Dezember 1919 konnte Mewaldt sich bei Diels für die erfreuliche Nachricht bedanken, daß der Druck der bereits im Verlag befindlichen CMG-Bände fortgeführt wird, und nun wohl doch erleichtert feststellen, daß „das Corpus Medicorum Graecorum über den toten Punkt hinweg (ist)“32. | Damit war die Gefahr für das Unternehmen jedoch noch keineswegs völlig gebannt. Es standen nämlich noch weitere Bände zum Druck an, deren Finanzierung angesichts der desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland alles andere als gesichert war. Soweit es den zweiten Band der von Heiberg besorgten Ausgabe des 29 30 31
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ABBAW CMG 154 c, Brief vom 29. Apr. 1919, 3. Ebd., Karte vom 9. Juli 1919. Vgl. H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, SB der Preuß. Akademie der Wiss. 1922 (Berlin 1922), S. XXVI. ABBAW CMG 154 c, Karte vom 22. Dez. 1919.
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Paulos von Aigina betraf, für deren Herausgabe die Dänische Akademie die Verantwortung trug, bestand immerhin die Hoffnung, daß die Dänen die erforderlichen Mittel bereitstellen würden. Unvermutete finanzielle Unterstützung erhielt das CMG von ganz anderer Seite. Wie Diels in seinem letzten Bericht über das CMG aus dem Jahre 1922 schreibt, hatte sich durch die Vermittlung des schwedischen Gelehrten Ernst Nachmanson, der seine – eigentlich für das CMG bestimmte – Ausgabe des Hippokrateslexikons von Erotian wegen der Kriegswirren 1918 in Uppsala hatte erscheinen lassen, „ein Berliner Mäcen, der nicht genannt sein will,“ bereit erklärt, „durch eine namhafte Summe den Druck des Hippokrates sicherzustellen“33. Die großzügige Spende des Unbekannten war für die in arge Bedrängnis geratenen Herausgeber des Ärztecorpus, wie ich annehmen möchte, durchaus beruhigend. Allerdings verstieß es gegen die Editionsprinzipien der Schriftenreihe, bereits jetzt den Druck der Hippokratestexte in Angriff zu nehmen. Diese Editionsrichtlinien sahen nämlich vor, daß zunächst die Kommentare zu den hippokratischen Schriften und die frühbyzantinischen medizinischen Handbücher des Oreibasios, des Aetios von Amida und des Paulos von Aigina ediert werden sollten, da diese ein gutes Stück antiker Texttradition enthalten und deswegen als Sekundärquellen eine unerläßliche Voraussetzung für die Herausgabe der Hippokratestexte darstellen. Unter diesem Gesichtspunkt waren bis zu dieser Zeit mit wenigen Ausnahmen nur Editionen aus dem soeben genannten Schriftenkreis vergeben worden. Für so wichtige Texte wie Galens Kommentare zu den Aphorismen und zu den knochen-| chirurgischen Schriften des Corpus Hippocraticum gab es jedoch noch keine Bearbeiter, und die ebenfalls wichtige Ausgabe des Epidemienkommentars von Galen war auch noch nicht abgeschlossen. Diese Schwierigkeiten spricht auch Mewaldt in seinem Brief vom 25. Oktober 1920 an. Er war von Diels damit beauftragt worden, offenbar so rasch wie möglich einen „Verteilungsplan“ für die Hippokratestexte zu erstellen. Dabei konnte er sich auf einen von ihm selbst angefertigten Entwurf der Neuordnung der Hippokratesschriften stützen, den er Diels schon im Jahre 1908 vorgelegt hatte34. Dieser Entwurf, der in dem von mir benutzten Briefwechsel aufbewahrt ist, ermöglicht es, die Vergabe der Hippokrateseditionen, die Mewaldt Diels in seinem Brief vorschlägt, zu konkretisieren. Mewaldt35 hielt es für erstrebenswert, den anvisierten Editoren Diels, Mewaldt, Schöne, Nachmanson und Heiberg die Bearbeitung jeweils größerer Schriftenkomplexe zu übertragen, weil eine „Zerstückelung“, wie er schreibt, „… nur Verzögerungen für die Vorarbeiten wie für den Druck u. Weitläufigkeit für die Praefatio (bringt)“. Allerdings war er sich dessen bewußt, daß zu dem damaligen Zeitpunkt mit der Arbeit an den Ausgaben der Aphorismen, der Epidemien und der knochenchirurgischen Schriften noch nicht begonnen werden konnte, da er offensichtlich nicht an den zuvor erwähnten Editionsrichtlinien rütteln wollte. Ob Diels die Vorlage von Mewaldt akzeptiert hat, erfahren wir nicht mehr, da die Korrespondenz hier ihr Ende findet. Diels' Bemerkung in dem schon zitierten Bericht über das CMG von 1922, daß die Hippokratesedition „von verschiedenen deutschen
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Diels (Anm.31), S. XXVII. ABBAW CMG 47 a. Siehe ABBAW CMG 154 c, Brief vom 25. Okt. 1920, 1f.
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und ausländischen Bearbeitern in Angriff genommen wird“36, spricht dafür, daß die Vergabe der Texte wunschgemäß angelaufen ist. Die Realisierung dieses Editionsprogramms muß man allerdings als gescheitert betrachten; das hing sicher nicht nur damit zusammen, daß durch den Tod | von Diels einer der Herausgeber ausgefallen war, sondern vor allem wohl damit, daß der mit der Herausgabe einer größeren Zahl heterogener Schriften verbundene Arbeitsaufwand in der vorgegebenen kurzen Zeit von einem einzelnen nicht zu leisten war. So ist es kein Zufall, daß von den zunächst geplanten fünf Sammelbänden lediglich der erste Faszikel in der Bearbeitung von Heiberg, der mit seinen insgesamt 101 Textseiten einen vergleichsweise geringen Umfang hat, fertiggestellt worden ist und 1927 im Druck erschien. Daß außer dieser Hippokratesedition bereits in den 20er Jahren noch weitere sieben CMG-Bände publiziert wurden, zeigt jedoch, daß das Unternehmen als solches die Krise nach dem Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat. Daß die Bemühungen von Diels, unter den klassischen Philologen Interesse für die Beschäftigung mit der antiken Medizin zu wecken und sie davon zu überzeugen, daß die Herausgabe medizinischer Texte eine ebenso dringliche wie lohnende Aufgabe ist, über seinen Tod hinaus nachgewirkt haben, beweist nicht zuletzt die Tatsache, daß die Editionstätigkeit des CMG auch nach der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten erneuten mehrjährigen Unterbrechung unvermindert fortgesetzt werden konnte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen 58 Bände vor, von denen 8 Bände auf die Hippokratesedition entfallen, 29 Bände auf die Galenausgabe und jeweils 2 Bände auf die Editionen der Schriften des Rufus von Ephesos und des Aetios von Amida. Vollständig ediert sind die Texte des Aretaios, des Soran, des Philumenos, des Leo, des Apollonios von Kition und des Johannes Alexandrinus in jeweils einem Band, die Schriften des Oreibasios in 5 Bänden, das Handbuch des Paulos von Aigina in 2 Bänden und die Hippokrateskommentare des Stephanos von Athen in 4 Bänden. Ganz im Sinne des Gründungsvaters des Ärztecorpus ist es auch, daß sowohl den CMG-Ausgaben als auch den Editionen des Corpus Medicorum Latinorum, deren Herausgabe nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls von der Berliner Akademie übernommen wurde, seit 1965 modernsprachige Übersetzungen und, soweit möglich, Kommentare beigegeben werden, damit | die Texte auf diese Weise, wie Diels es sich gewünscht hatte, einem möglichst breiten Leserkreis zugänglich gemacht werden. Die an Hand der Korrespondenz zwischen Diels und Mewaldt aufgezeigten grundsätzlichen Schwierigkeiten, nämlich die langen Bearbeitungszeiten und die selbst im Weltmaßstab geringe Zahl klassischer Philologen, die bereit und in der Lage sind, medizinische Texte zu edieren, sind indessen die gleichen geblieben. Das nach wie vor bestehende Interesse der internationalen Forschung an der antiken Medizin berechtigt aber zu der Hoffnung, daß auch in Zukunft Philologen für die Herausgabe medizinischer Texte im Berliner Ärztecorpus gewonnen werden können. |
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DISCUSSION W. M. Calder III: Of great interest today is how the CMG has changed our conception of antiquity and the history of ancient thought. One thinks of the chapter on Hippocrates in Werner Jaeger (Diels' student!), Paideia II (Berlin 1944), or the books 36
Siehe Diels (Anm. 31), S. XXVII.
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on the relationship between Thucydides and Hippocratic medicine. We owe knowledge of the history of ancient medicine to Diels' initiative. J. Kollesch: Die wissenschaftshistorische Bedeutung der antiken Medizin und ihre vielfältigen Bezüge zu anderen Erscheinungen des geistig-kulturellen und gesellschaftlichen Lebens der Antike waren zumindest in der deutschen Altphilologie bereits in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Gegenstand der Forschung. Die Gründung des Berliner Ärztecorpus, die zu Beginn dieses Jahrhunderts erfolgte, war also nicht die Voraussetzung für diese Aktivitäten, sondern eine Folge davon, mit dem von Diels erklärten Ziel, für die bereits im Gange befindliche Forschung mit den kritischen Texteditionen zuverlässige Arbeitsmaterialien bereitzustellen. S. Rebenich: Übernimmt Diels für das Corpus Medicorum Graecorum nicht das organisatorische Modell, das er in den anderen altertumswissenschaftlichen Unternehmungen der Akademie vorfindet? Ich erinnere hier nur an die Vorbereitung und Gestaltung der Ausgaben sowie der Indices, den Aufbau einer internationalen Kooperation und die Auswahl eines für die Redaktion und Koordination verantwortlichen Mitarbeiters. Läßt sich daraus folgern, daß Diels' Stärke gerade darin lag, die organisatorischen Strukturen, die er vorfand, auf neue Vorhaben anzuwenden und gegebenenfalls zu verbessern, er | aber – im Gegensatz etwa zu Adolf Harnack – neue Konzepte zur Optimierung der Arbeiten an den Projekten der Berliner Akademie nicht entwickelte? J. Kollesch: Sie haben zweifellos recht, daß Diels für das CMG die bei anderen Vorhaben der Akademie üblichen organisatorischen Strukturen übernommen hat. Das hing sicher mit den positiven Erfahrungen zusammen, die er als Redaktor der Ausgabe der Aristoteleskommentatoren gemacht hatte. Hinzu kommt noch, daß Diels das Ärztecorpus unter allen Umständen so rasch wie möglich an der Berliner Akademie etablieren wollte, was schwerlich zu erreichen gewesen wäre, wenn er zunächst ein prinzipiell neues Konzept zur Optimierung der Arbeiten hätte durchsetzen müssen. Zumindest was die formale Gestaltung der Ausgaben des Ärztecorpus betrifft, ist immerhin insofern ein Novum zu verzeichnen, als Diels entgegen jeglicher akademischer Tradition den Texteditionen ursprünglich modernsprachige Übersetzungen beigeben wollte, die allerdings, wie schon gesagt, dem Rotstift zum Opfer gefallen sind. W. Burkert: Bei Fach-Texten wie den medici stellt sich die Frage, ob es überhaupt auf den ‘Urtext' eines ‘Autors' ankommt oder vielmehr auf die verschiedenen Stufen der Wirkung, ggf. in sukzessiven Editionen. Inwieweit hat man sich in der Arbeit am CMG dieser Frage gestellt? J. Kollesch: Als ich davon sprach, daß medizinische Schriften im Verlauf der Überlieferung in ihrem Textbestand verändert wurden, habe ich nicht an Schriften wie z.B. die hippokratische Abhandlung Über Frauenkrankheiten gedacht, die in ihrer überlieferten Fassung, wie die von Hermann Grensemann vorgenommene Schichtentrennung deutlich gemacht hat, bald nach ihrer Abfassung mindestens zweimal überarbeitet worden ist. In derartigen Fällen ist nach meiner Auffassung eine Wiederherstellung des ‘Urtextes' gar nicht möglich, und daher | halte ich es auch für selbstverständlich, daß die Texte in der uns überlieferten Form ediert werden. Etwas ganz anderes ist es dagegen, wenn z.B. Chartier im griechischen Original lückenhaft überlieferte Galentexte durch Rückübersetzung von Passagen aus vollständig erhaltenen lateinischen Übersetzungen etwa von Nicolaus von Rhegium nachweislich eigenmächtig ergänzt hat oder wenn er sich im Falle der pseudogalenischen
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Definitiones medicae auf Grund der Feststellung, daß eine von ihm benutzte Pariser Handschrift eine gegenüber dem ursprünglichen Bestand an Definitionen erweiterte Textfassung bot, dazu verleiten ließ, dem in seiner Ausgabe abgedruckten Text weitere Definitionen hinzuzufügen, bei denen es sich in der Mehrzahl um Zitate aus anderen medizinischen Schriften, hauptsächlich aus den Werken Galens, handelt. Selbst wenn man Chartier keine unlauteren Absichten unterstellt, sondern davon ausgeht, daß er den Nutzen der von ihm gedruckten Texte vermehren wollte, so haben wir es hier doch eindeutig mit Textfälschungen zu tun, die in unseren Editionen als solche nachzuweisen und aus den Texten zu eliminieren sind.
4. DIE ERSCHLIESSUNG DER AN T IKEN MEDIZINISCHEN T EX T E UND IHRE PROBLEME – DAS CORPUS MEDICORUM GRAECORUM E T LAT INORUM. ERREICHT ES UND GEPLAN T ES*
Das Corpus der antiken Ärzte, das von der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegeben wird und mit dessen Leitung ich seit 1961 betraut bin, ist hier in der Schweiz schon einmal vorgestellt worden. Es war kein Geringerer als Hermann Diels, der Begründer des antiken Ärztecorpus, der am 25. September 1907 auf der Basler Philologenversammlung über das damals „neue“ Corpus medicorum antiquorum berichtete und am Schluß seines Vortrages die Hoffnung äußerte, daß das große Werk, wie er es nannte, in einem Zeitraum von 16 bis 20 Jahren vollendet sein werde1. Diese Hoffnung sollte sich jedoch als trügerisch erweisen, und selbst heute, nach 80 Jahren, muß ich bekennen, daß die Arbeit an dem Corpus wohl noch mehrere Generationen von Philologen beschäftigen wird. Die Gründe, die das erhoffte rasche Erscheinen der Textausgaben behindert haben, sind, wenn | man einmal von den durch die beiden Weltkriege bedingten mehrjährigen Unterbrechungen der Editionstätigkeit absieht, vor allem in dem Unternehmen selbst zu suchen. Um diese Gründe verständlich zu machen, erscheint es unumgänglich, zunächst etwas ausführlicher der Frage nachzugehen, was Diels dazu veranlaßt hat, eine Schriftenreihe ins Leben zu rufen, die speziell der Edition medizinischer Texte vorbehalten war. Bekanntlich war die Beschäftigung mit der antiken Medizin bis in das 19. Jahrhundert hinein die ausschließliche Domäne der Mediziner2. Ihr Interesse an der antiken Heilkunde war jedoch vorwiegend von praktischen Erwägungen bestimmt; denn die medizinischen Lehren und wissenschaftlichen Methoden der griechischen Ärzte, die Ausgangspunkt und Quelle für die Entwicklung der modernen Medizin in der Renaissance waren, hatten auch nach deren Emanzipation von den Autoritäten der Vergangenheit ihre Aktualität keineswegs verloren, und daher wurden die antiken medizinischen Texte von den Ärzten, für die die Kenntnis der alten Sprachen selbstverständlich war, auch weiterhin als Lehrbücher und wissenschaftliche Literatur benutzt. So ist es auch zu erklären, daß die Textausgaben der antiken Ärzte bis in das * Vortrag, gehalten am 5. Mai 1988 vor der Medizinhistorischen Studiengruppe Zürich. Erschienen in: Gesnerus 46, 1989, S. 195–210. 1
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H. Diels, Über das neue Corpus Medicorum, Neue Jahrbb. f. das klass. Altertum, Geschichte u. deutsche Literatur u. f. Pädagogik 1907, Bd. 19, S. 726. Hierzu und zum Folgenden vgl. J. Kollesch, Hermann Diels in seiner Bedeutung für die Geschichte der antiken Medizin, Philologus 117 (1973), S. 278–283 (= oben, S. 239–244), und The Corpus Medicorum Graecorum et Latinorum: problems related to the philological rendering of medical texts from classic European antiquity, in: Approaches to traditional Chinese medical literature. Proceedings of an International Symposium on Translation Methodologies and Terminologies, ed. by U. P. Unschuld, Dordrecht/Boston/London 1989, S. 159–164.
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vergangene Jahrhundert hinein von Medizinern besorgt wurden und daß diese Ausgaben, die nicht unter dem Aspekt ihrer Brauchbarkeit als historische Dokumente publiziert wurden, sondern für den Gebrauch der Ärzte bestimmt waren, vor allem den praktischen Bedürfnissen der Medizin Rechnung trugen. Verständlicherweise hatte der praktische Umgang mit der antiken Medizin seitens der Ärzte aber auch zur Folge, daß der Gedanke an eine distanziert-kritische Benutzung der antiken Quellen gar nicht erst aufkam und die Mediziner sich demzufolge auch nicht genötigt sahen, die medizinischen Texte nach den in der klassischen Philologie bereits üblichen Regeln der Textkritik zu edieren. Einen grundsätzlichen Wandel erfuhr die Beschäftigung mit der antiken Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war dies die Zeit, in der nicht nur die Mediziner sich in zunehmendem Maße für die Geschichte ihres Faches zu interessieren begannen, sondern auch die klassischen Philologen seit August Böckh, Theodor Mommsen und Hermann Usener zu einem neuen Verständnis ihrer Wissenschaft als einer historischen Disziplin gelangt waren und seither auch die Erforschung der Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Fachgebiete der Antike in das Aufgabengebiet der Altertumswissenschaft einbezogen. Daß die von den Altphilologen betriebene Forschung auf dem Felde der antiken Medizin bereits in wenigen Jahrzehnten beträchtliche Ausmaße annahm und beachtliche Ergebnisse | vorweisen konnte, wie die zahlreichen kritischen Ausgaben medizinischer Texte beweisen, die zwischen 1870 und 1910 erschienen sind, ist vor allem dem Engagement von Usener zu verdanken. Mit sicherem Gespür hatte er die wissenschaftshistorisch wie kulturgeschichtlich gleichermaßen bedeutsame Rolle der antiken Heilkunde erkannt und bei seinen Studenten nachhaltiges Interesse für dieses neue Arbeitsgebiet der klassischen Philologie zu wecken verstanden. Unter seinen Schülern, die sich um die Erforschung der Geschichte der antiken Medizin besonders verdient gemacht haben, ist neben Johannes Ilberg und Hermann Schöne vor allem Diels zu nennen. Ihm wurde als Student an der Universität in Bonn im Jahre 1869 von Usener die Aufgabe übertragen, die Quellenfrage von drei in griechischer Sprache erhaltenen doxographischen Sammlungen zu untersuchen, zu denen auch die pseudogalenische Historia philosopha gehörte. Dieser Untersuchung verdankte Diels seine erste Begegnung mit dem Corpus Galenicum. Dabei machte er die Erfahrung, daß die Texte in der von ihm benutzten, zu weiten Teilen auch heute noch maßgebenden Galenausgabe von Carl Gottlob Kühn, erschienen in Leipzig 1821–1833, wenig zuverlässig sind. Bei der Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung hatte er nämlich festgestellt, daß der bei Kühn abgedruckte Text Zusätze enthielt, die von dem im 17. Jahrhundert lebenden Galen-Herausgeber René Chartier aus anderen doxographischen Texten übernommen worden waren und aus diesem Grund die Gelehrten zu Fehlschlüssen über den Charakter der pseudogalenischen Schrift geführt hatten. Ähnliche Erfahrungen machte Diels auch beim Studium anderer medizinischer Autoren wie Hippokrates und Soran, und die daraus gewonnene Erkenntnis, daß die bislang von den Medizinern besorgten Ausgaben der antiken Ärzte versagten, wenn man sie, den neuen Erfordernissen der Altertumswissenschaft entsprechend, als historische Quellen benutzen wollte, ließen schon damals bei ihm den Wunsch aufkommen, „ein wirklich brauchbares Corpus medicorum zu schaffen“3. 3
H. Diels, Über das neue Corpus Medicorum, S. 724.
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Die Gelegenheit, diesen Wunsch zu realisieren, bot sich Diels zu Beginn unseres Jahrhunderts, als der dänische Gelehrte Johan Ludvig Heiberg ihm im Jahre 1901 anläßlich der ersten Generalversammlung der Internationalen Association der Akademien in Paris den Vorschlag unterbreitete, ein den Anforderungen der modernen Textkritik genügendes Corpus der antiken Ärzte als Gemeinschaftsunternehmen der Berliner und der Kopenhagener Akademien herauszugeben4. Heiberg hatte seine diesbezüglichen Erfahrungen auf dem Gebiet der antiken Mathematik gesammelt, und er stimmte | mit Diels darin überein, daß die Forschung zur antiken Medizin nur auf der Grundlage zuverlässiger Textausgaben zu gesicherten Ergebnissen gelangen könne und daß die Bereitstellung kritischer Editionen eine um so dringlichere Aufgabe war, als bereits zu diesem Zeitpunkt unter den Wissenschaftlern ein breites Interesse bestand, sich auf diesem Forschungsgebiet zu betätigen. Schon drei Monate nach dem Gespräch mit Heiberg legte Diels der philosophischhistorischen Klasse an der Berliner Akademie einen ersten Plan für das Corpus medicum vor. In diesem nicht veröffentlichten Plan wies er auf die zu dieser Zeit außerordentlich günstigen personellen und finanziellen Voraussetzungen für die Aufnahme der Arbeiten an diesem Corpus hin und machte zugleich geltend, daß dieses Unternehmen nicht nur für die philosophisch-historische Klasse von Belang sei, sondern gleichermaßen im Interesse der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse liege, da, so Diels wörtlich, „von einer wirklichen Geschichte der Medizin solange nicht die Rede sein (kann), bis die von uns geplante Ausgabe der antiken Ärzte und ihrer Fragmente vorliegt“5. Daß es Diels' ureigenstes Anliegen war, mit dem antiken Ärztecorpus für die medizinhistorische Forschung ein brauchbares Arbeitsinstrument zu schaffen, beweist nicht zuletzt die Tatsache, daß die kritischen Textausgaben nach der von ihm erarbeiteten Konzeption6 auch modernsprachige Übersetzungen und knappe Sacherklärungen enthalten sollten, um die Texte auf diese Weise auch allen jenen Medizinhistorikern zugänglich zu machen, die des Griechischen und Lateinischen gar nicht oder nur unzureichend mächtig waren. Unter diesen Voraussetzungen hatte Diels den Umfang des Corpus mit rund 65 Bänden zu je 1000 Seiten veranschlagt, von denen 50 Bände für die griechische Reihe, 5 Bände für die lateinische Reihe und 10 Bände für die Fragmentsammlungen vorgesehen waren7. Der von Diels ausgearbeitete und bis heute gültige Plan für die Editionen der griechischen Reihe umfaßte außer den antiken Autoren Hippokrates, Galen, Rufus von Ephesos, Soran, Aretaios, Dioskurides und einer im einzelnen nicht festgelegten Auswahl von medici minores auch die frühbyzantinischen Handbücher von Oreibasios, Alexander von Tralleis, Aetios von Amida und Paulos von Aigina sowie die frühbyzantinischen Hippokrates- und Galenkommentare, da diese eine wichtige Ergänzung der antiken Textüberlieferung darstellen und darüber hinaus zum Teil umfangreiche Exzerpte aus sonst verlorenen medizinischen Schriften bewahrt haben. Der Plan der lateinischen Reihe enthält die Schriften von Aulus Cornelius Celsus, 4
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Siehe H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte. Griechische Abteilung, Abh. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1905 u. 1906, Berlin 1906, S. If. Siehe H. Diels, „Plan eines Corpus medicum“ vom 27. Juni 1901, in: Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR (AAW) II–V IIf., Bd. 4, H. 1, Bl. 1–2. Siehe ebd., Bl. 1. Siehe ebd., Bl. 3.
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Scribonius Largus, Quintus Serenus, | Marcellus, Caelius Aurelianus, Theodorus Priscianus, Anthimus, Antonius Musa und einige anonym bzw. pseudonym überlieferte Texte wie z.B. die sogenannte Medicina Plinii und den Herbar des Pseudoapuleius. Für die Fragmentsammlungen gibt es noch keine Planung; sie kann erst erfolgen, wenn die als Quelle dienenden vollständig erhaltenen medizinischen Texte in kritischen Editionen vorliegen und durch Indizes erschlossen sind. Als unerläßliche Vorarbeit für das geplante Editionsunternehmen war in dem Plan von Diels weiterhin die Katalogisierung aller damals bekannten Handschriften mit antiken medizinischen Texten sowohl im griechischen und lateinischen Original als auch in lateinischen, syrischen, arabischen und hebräischen Übersetzungen ausgewiesen8. Die von Diels auf der Klassensitzung vorgelegte Konzeption wurde, soweit sie die Details der geplanten Editionstätigkeit betraf, als verfrüht abgelehnt9. Die Gründe für diese Ablehnung liegen auf der Hand: die große Zahl der Bände und die damit verbundene lange Laufzeit des Unternehmens sowie die Höhe der Druckkosten. Die Arbeit an dem Handschriftenkatalog, an der sich neben der Berliner und der Kopenhagener Akademie auch die Wiener Akademie und Wissenschaftler aus England, Frankreich und Italien beteiligten, konnte dagegen sogleich in Angriff genommen werden. Die Bestandsaufnahme des Handschriftenmaterials erfolgte unter einem doppelten Aspekt10: im Catalogus scriptorum wurden die Titel aller erhaltenen medizinischen Schriften mit den dazu gehörenden Handschriften, nach Autoren geordnet, erfaßt und im Catalogus codicum die Beschreibung der Handschriften, die nach den Bibliotheken angeordnet wurden, in denen sie aufbewahrt werden. Von dem Katalogmaterial, das in den Jahren 1901 bis 1906 zum Teil aus älteren Handschriftenkatalogen, zumeist aber durch Inspektion der Handschriftenbestände in den einschlägigen Bibliotheken Europas zusammengetragen wurde, ist nur der Catalogus scriptorum zu den griechischen medizinischen Autoren publiziert worden11. Auch wenn dieser Katalog, wie bei einer derartigen Pionierleistung kaum anders zu erwarten, weder Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann noch frei von Irrtümern und Fehlern ist, so stellt er doch nach wie vor eine notwendige Voraussetzung für die Arbeit an den Ausgaben des Corpus Medicorum Graecorum dar. Seine Aktualität ist dadurch gewährleistet, daß seit dem Erscheinen des Katalogs in den Jahren 1905 und 1906 in dem im Besitz des Unternehmens befindlichen Handexemplar an Hand neugewonnener Erkenntnisse kontinuierlich Berichtigungen und Ergänzungen handschriftlich vermerkt wurden und auch weiterhin vermerkt werden. Die umfangreichen Vorarbeiten für den | Catalogus codicum sind, soweit sie die Überlieferung der griechischen Autoren betreffen, nahezu vollständig erhalten geblieben. Das Katalogmaterial zu den lateinischen Medizinern, das der an der Universität Leipzig gegründeten PuschmannStiftung zur Verfügung gestellt worden war, als diese sich im November 1905 bereit erklärt hatte, die Herausgabe der lateinischen Reihe des Ärztecorpus zu überneh-
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Siehe H. Diels, ebd., Bl. 2; Die Handschriften der antiken Ärzte, S. II; Über das neue Corpus Medicorum, S. 724f. Siehe „Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der phil.-hist. Classe vom 18. Juli 1901“, AAW II–V IIf., Bd. 4, H. 1, Bl. 3. Siehe H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, S. IVf. Siehe oben, Anm. 4 (= oben, S. 269 Anm. 4).
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men12, ist dagegen gänzlich verlorengegangen, so daß hier die zeit- und kostenaufwendige systematische Suche nach den Handschriften für die glücklicherweise nur wenigen bisher nicht edierten Texte von Fall zu Fall erneut unternommen werden muß. Bereits 1903, als die Arbeit am Handschriftenkatalog noch in vollem Gange war, stellte Diels erneut einen Antrag an die philosophisch-historische Klasse zur Aufnahme der Arbeiten am Corpus medicum. Der modifizierte Plan, der diesem Antrag beigegeben war13, trug den Bedenken, die zur Ablehnung der ursprünglichen Konzeption geführt hatten, insofern Rechnung, als Diels nunmehr auf die zunächst vorgesehenen modernsprachigen Übersetzungen verzichtete, so daß sich die Zahl der Bände von 65 auf 37 verringerte und damit auch die Möglichkeit gegeben war, die Kosten niedriger zu veranschlagen und die Laufzeit des Unternehmens in überschaubaren Grenzen zu halten. In dieser reduzierten Form wurde der Plan des Corpus medicorum14 von der Berliner Akademie angenommen. Die Zustimmung der Internationalen Association der Akademien, die von dem Erscheinen des Handschriftenkatalogs abhängig gemacht worden war, erfolgte jedoch erst vier Jahre später, nachdem bereits die Puschmann-Stiftung, wie schon erwähnt, die Herausgabe der lateinischen Reihe übernommen hatte, und so konnte das interakademische Unternehmen, getragen von den Akademien zu Berlin, Leipzig und Kopenhagen, schließlich im Sommer des Jahres 1907 unter dem Titel Corpus Medicorum Graecorum seine Arbeit aufnehmen15. Der Umfang der Gesamtausgabe der überlieferten griechischen Texte und Fragmentsammlungen wurde von Diels auf 32 Bände veranschlagt, von denen nach ersten Schätzungen jeweils zwei in einem Jahr erscheinen sollten. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nicht realisieren. Denn im Unterschied zu anderen Texten, bei deren Herausgabe Diels zuvor seine Erfahrungen gemacht hatte, ist die Überlieferung der medizinischen Autoren außerordentlich vielschichtig. Das hängt damit zusammen, daß das medizinische Schrifttum bis in den Beginn der Neuzeit hinein Fachwissen vermittelte, das heißt, als Arbeitsmaterial benutzt und infolgedessen unzählige Male abgeschrieben, in andere Sprachen, ins Lateinische, Arabische, Syrische oder | Hebräische, übersetzt und häufig genug auch im Textbestand verändert wurde. Die Aufarbeitung dieser weitverzweigten und nicht selten an Überraschungen reichen Überlieferung, die für das Ziel des Dielsschen Editionsvorhabens, eine solide Grundlage für die Erforschung der antiken Medizin zu schaffen, unabdingbar war, erforderte nach den Worten von Diels „mühselige Vorarbeiten“16, die ein zügiges Erscheinen der Bände verhinderten. So konnten bis zum Tode von Diels im Jahre 1922, d.h. innerhalb von 15 Jahren, nur fünf Bände, allerdings mit insgesamt neun Texteditionen von zumeist beträchtlichem Umfang, erscheinen. 12
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Siehe H. Diels, Die Handschriften der antiken Ärzte, S. IX; Über das neue Corpus Medicorum, S. 725. Siehe AAW II–VIIf., Bd. 4, H. 1, Bl. 32f. Gedruckt in: H. Diels, Bericht über den Stand des interakademischen Corpus medicorum antiquorum und Erster Nachtrag zu den in den Abhandlungen 1905 und 1906 veröffentlichten Katalogen: Die Handschriften der antiken Ärzte, I. und II. Teil, Abh. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1907, Berlin 1908, S. 7–22. Siehe den Bericht über die Verhandl. d. 3. Generalvers. d. Internationalen Association der Akademien, Wien 1907, S. 41f.; H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, SB d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1922, Berlin 1922, S. XXV I; dens., Über das neue Corpus Medicorum, S. 725f. H. Diels, Bericht über das Corpus Medicorum Graecorum, S. XXV I.
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Aber dafür wurde dem Begründer des Corpus eine Genugtuung ganz anderer Art zuteil. Denn bereits in den ersten Jahren der von Diels inaugurierten Beschäftigung mit den Quellen der griechischen medizinischen Texte zeigte es sich, daß die von ihm geäußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit der alten Ausgaben und sein engagiertes Eintreten für die Gründung eines neuen Ärztecorpus nur allzu berechtigt waren. Besonders sensationelle Ergebnisse zeitigte die Aufarbeitung der Überlieferung zu den Hippokrateskommentaren Galens. So konnte nachgewiesen werden, daß es sich bei den nur in den Ausgaben von Chartier und Kühn abgedruckten Kommentaren zu den hippokratischen Schriften De alimento und De humoribus sowie zu dem zweiten Buch der Epidemien um Renaissancefälschungen handelt17, die in einer Ausgabe antiker medizinischer Texte begreiflicherweise nichts zu suchen haben. Im Falle des Kommentars zum zweiten Buch der Epidemien konnte die dadurch entstandene Lücke jedoch infolge des glücklichen Umstandes geschlossen werden, daß die von Ḥunain ibn Isḥāq angefertigte arabische Übersetzung des authentischen Galentextes erhalten geblieben ist und in deutscher Übersetzung zusammen mit den griechisch überlieferten Kommentaren zu den Büchern I, III und V I als Ersatz für den verlorenen griechischen Text publiziert werden konnte18. Wir wollen freilich nicht verhehlen, daß es bei den Editoren des CMG auch Fehlentscheidungen gegeben hat. Johannes Westenberger, der Herausgeber der unter Galens Namen griechisch überlieferten Schrift Über die Diät des Hippokrates bei akuten Krankheiten, die 1914 in einem Sammelband (CMG V 9,1, S. 367–392) zusammen mit Galens Kommentaren zu den hippokratischen Abhandlungen De natura hominis und De victu acutorum erschienen ist, hat gegen die im 16. Jahrhundert von Gadaldinus und einhundert Jahre später von Chartier aus sachlichen und sprachlichen Erwägungen heraus geäußerten Bedenken die Echtheit dieses Textes verteidigt19, zu Unrecht, wie wir heute wissen; denn der Zufall wollte es, daß | die von Ḥunain ibn Isḥāq stammende arabische Übersetzung einer Galenschrift gleichen Titels erhalten geblieben ist, deren Wortlaut, wie aus der inzwischen vorliegenden Edition (CMG Suppl. Or. II, Berlin 1969, S. 74–111) unschwer zu ersehen ist, mit dem griechisch überlieferten Text nichts gemein hat, die sich aber sowohl vom Stil wie vom Inhalt her mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als echte Galenschrift zu erkennen gibt20, so daß nunmehr die Unechtheit des von Westenberger edierten Traktats endgültig als erwiesen gelten darf. Die Tatsache, daß das Corpus Medicorum Graecorum zu einem Unternehmen mit Geschichte geworden ist, brachte es mit sich, daß die Editionsprinzipien der Schriften17
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Zu den Kommentaren zu De alimento und De humoribus s. H. Diels, Corpus Medicorum Graecorum, SB d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1913, Berlin 1913, S. 115, und dens., Corpus Medicorum Graecorum, SB d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1916, Berlin 1916, S. 138; zum Kommentar zum zweiten Buch der Epidemien s. E. Wenkebach, Pseudogalenische Kommentare zu den Epidemien des Hippokrates, Abh. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1917, phil.-hist. Kl. l, Berlin 1917, S. 23–52. Galeni In Hipp. Epid. lib. I et II comm., hrsg. v. E. Wenkebach und F. Pfaff, CMG V 10,1, Leipzig u. Berlin 1934, S. 153–409. Siehe CMG V 9,1, S. XXXIX–XLI u. XLIV–XLV I. Zur Echtheit der arabisch überlieferten Textfassung vgl. auch die überzeugende Argumentation von M. Lyons, dem Herausgeber dieser Schrift, in: CMG Suppl. Or. II, S. 12–15.
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reihe im Verlauf der Jahre ergänzt und verändert werden mußten21. Das betrifft ebenso das Vorhaben, nur umfänglichere Sammelbände herauszubringen, wie den Grundsatz, vorrangig die Kommentarwerke zu den hippokratischen Schriften und die frühbyzantinischen medizinischen Handbücher zu edieren, der insofern wohlbegründet war, als diese ein gutes Stück antiker Texttradition enthalten und demzufolge als Sekundärquellen eine unerläßliche Voraussetzung für die Herausgabe der ihnen zeitlich vorangegangenen Texte darstellen. Obwohl die Publikation dieser Texte, von denen bislang die Galenkommentare zu De natura hominis, De victu acutorum, zum Prognostikon, zum Prorrhetikos I und zu den Epidemien, der De articulis-Kommentar des Apollonios von Kition, der Prognostikon-Kommentar und der erste Teil des Aphorismenkommentars von Stephanus von Athen, die Schriften des Oreibasios, das Handbuch des Paulos von Aigina und die ersten acht Bücher von dem Sammelwerk des Aetios von Amida erschienen sind, zunächst absolute Priorität hatte, so weist sie noch immer beachtliche Lücken auf. Der Grund hierfür ist, daß es außerordentlich schwierig ist, für diese sehr umfangreichen Texte, wie z.B. den Aphorismenkommentar Galens, Bearbeiter zu gewinnen. Wollte man also an dem ursprünglichen Grundsatz festhalten, so würde das zur Folge haben, daß in absehbarer Zeit weder die Kommentare noch überhaupt irgendwelche Texte ediert werden könnten. Um eine Ergänzung der ursprünglichen Prinzipien handelte es sich, als man im Zuge der Erarbeitung von allgemeinen Richtlinien für die einheitliche Gestaltung der Indizes der CMG- und CML-Ausgaben den Entschluß faßte, das gesamte Wortmaterial zu erfassen. Dafür waren zweierlei Gesichtspunkte ausschlaggebend: erstens sollen die Indizes die Texte vom Sachlichen her aufschlüsseln, und zweitens sollen sie durch die Gliederung der einzelnen Lemmata nach sprachlich-grammatischen Kriterien mit | entsprechenden Textaushebungen die Sprache des betreffenden Autors erschließen. Das erschien wegen der im allgemeinen unzureichenden lexikalischen Erfassung der medizinischen Autoren um so wichtiger, als auf diese Weise den Editoren zum erstenmal Parallelmaterial für bestimmte sprachliche Erscheinungen sowohl bei ein und demselben Autor als auch innerhalb der medizinischen Fachsprache überhaupt bequem zugänglich gemacht werden kann. Den gestiegenen Anforderungen der modernen Textkritik wurde endlich auf die Weise Rechnung getragen, daß die Aufarbeitung des gesamten Überlieferungsmaterials zur Voraussetzung für die CMG- und CML-Editionen gemacht wurde. Dieser Grundsatz betrifft nicht allein die Primärüberlieferung, sondern auch die durch Übersetzungen und Exzerpte repräsentierte Sekundärüberlieferung, deren Einbeziehung in die Textkonstituierung deswegen erforderlich ist, weil sie einmal in der handschriftlichen Tradition verlorengegangene Reste der ursprünglichen Textfassung bewahrt haben kann und zum anderen Aufschlüsse über die Wirkungsgeschichte der antiken Texte gibt. Die Beachtung dieser editorischen Prinzipien bedeutet eine endgültige Abkehr von der Editionspraxis des 19. Jahrhunderts, die sich damit begnügte, jeweils nur die Haupthandschriften für die Textherstellung heranzuziehen, eine Praxis, die auch noch Diels bei der Gründung des Unternehmens für ausreichend hielt. Zu erwähnen wäre noch, daß die Berliner Akademie nach dem zweiten Weltkrieg auch die Herausgabe der lateinischen Reihe übernahm und als Ergänzung der griechi21
Zum Folgenden vgl. J. Kollesch, Das Corpus Medicorum Graecorum – Konzeption und Durchführung, Medizinhist. Journal 3 (1968), S. 68–72.
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schen Reihe ein Supplementum Orientale einrichtete, in dem die nur in arabischer, syrischer oder hebräischer Übersetzung erhaltenen griechischen Texte ihren Platz finden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Diels seine Ausgabe ursprünglich mit Übersetzungen und Erläuterungen versehen wollte. Seine Entscheidung verdient um so mehr Beachtung, als er sich damit über die in den Kreisen der klassischen Philologen weithin herrschende Meinung hinwegsetzte, daß der Wert einer den strengen Maßstäben moderner Textkritik entsprechenden Edition durch die Beigabe einer Übersetzung beeinträchtigt würde. Man kann nicht umhin, ihre grundsätzliche Bedeutung nachdrücklich herauszustellen. Denn wenn wir auch imstande sind, uns mit der antiken Medizin vertraut zu machen, so ist doch das Eindringen in ihre Gedankenwelt nur dadurch möglich, daß wir sie uns vor dem Hintergrund der Kenntnisse des 20. Jahrhunderts verständlich machen, so daß eine Übersetzung auch für die Textherstellung notwendig ist. | Daß Diels seine Absicht, die antiken medizinischen Texte mit moderner Übersetzung zu publizieren, nicht verwirklichen konnte, dafür waren vor allem, wie schon gesagt, handfeste ökonomische Gründe entscheidend. Nach Aussage von ihm selbst scheiterte das aber auch an dem internationalen Charakter des Unternehmens, d.h. an der Tatsache, daß Altphilologen unterschiedlicher Nationalität an der Herausgabe der medizinischen Schriften beteiligt waren und es daher nicht möglich war, den antiken Texten in jedem Fall eine deutsche Übersetzung beizugeben, wie es offenbar der Teubner Verlag in Leipzig verlangte, der den Druck des Corpus medicorum übernommen hatte22. Vor die Alternative gestellt, das Corpus entweder ohne Übersetzungen erscheinen zu lassen oder das ganze Projekt aufzugeben, entschied Diels sich verständlicherweise für die erste Variante, allerdings nicht ohne Bedauern, wie eine Äußerung von ihm vor der Philologenversammlung in Basel zu erkennen gibt23. So entspricht es denn auch nicht der historischen Realität, wenn Karl Deichgräber, der viele Jahre hindurch Redaktor des Unternehmens war, in seinem Bericht über das CMG aus dem Jahre 1950 zwar konzediert, daß man mit dem Entschluß, den Textausgaben des Ärztecorpus keine modernen Übersetzungen beizugeben, auf einen größeren Leserkreis und „in einem gewissen Grad auch darauf (verzichtete), daß dem Medizinhistoriker die Ausgaben leichter zugänglich wurden“, aber glauben machen möchte, daß man den Verzicht auf die Übersetzungen deswegen akzeptiert hatte, weil auf diese Weise „der“, wie er schreibt, „ausgesprochen wissenschaftliche und damit der einer Akademie entsprechende Charakter des Unternehmens gewahrt wurde“24. Die im Laufe der Jahre erfolgte Veränderung der Editionsprinzipien stellte auch die Frage der Übersetzungen erneut auf die Tagesordnung. So wies bereits Ende 1956 Konrad Schubring, der damalige Leiter des Corpus Medicorum Graecorum an der Berliner Akademie, in seinem Bericht über dieses Unternehmen, den er auf einer gemeinsamen Sitzung der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst und der Klasse für Medizin vortrug, darauf hin, daß durch die grundlegend veränderte Bildungssituation nach den beiden Weltkriegen aus dem schon zu Beginn unseres Jahrhunderts „gefühl22 23 24
Siehe H. Diels, Über das neue Corpus Medicorum, S. 726. Siehe ebd. K. Deichgräber, Corpus Medicorum Graecorum. Entwicklung und Stand des Unternehmens Juli 1950, Forschungen und Fortschritte 26 (1950), S. 302.
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ten Wunsche nach einer Übersetzung“ – so seine Formulierung – „eine unbedingte Notwendigkeit geworden (ist), wenn man dem Mediziner – und vielleicht auch manchem Philologen – den Zugang zum Text ermöglichen will“25. Daß Schubring Übersetzungen antiker medizinischer Texte im Interesse der medizinhistorischen Forschung für unerläßlich hielt, wird man angesichts dieser Feststellung nicht bestreiten wollen; der Gedanke, sie in die | Akademieausgabe aufzunehmen, fand jedoch nur bedingt seine Zustimmung. Er räumte zwar ein, daß es allein durch die Beigabe moderner Übersetzungen möglich sei, dem Corpus der antiken Ärzte einen größeren Leserkreis zu verschaffen, und äußerte darüber hinaus auch die durchaus zutreffende Ansicht, daß die Anfertigung einer Übersetzung zweifellos auch der Textherstellung zugute käme, andererseits glaubte er aber davor warnen zu müssen, daß der Entschluß, den griechischen und lateinischen Texten Übersetzungen beizugeben, nicht ganz ungefährlich sei, weil das bei einem so autoritativen Unternehmen wie der Akademieausgabe leicht dazu führen könne, daß die Übersetzung nicht nur als Verständnishilfe dient, sondern als gleichwertiger Ersatz anstelle des Originaltextes benutzt wird, und damit dem Übersetzer ein Maß an Verantwortung übertragen würde, das kaum noch zumutbar ist26. Auf diese Argumente Schubrings, die uns nicht in jedem Falle zwingend erscheinen, kommen wir später noch einmal zurück. Die von dem Widerstreit zwischen der Rücksichtnahme auf die Erfordernisse der Zeit und dem Festhalten an althergebrachten Traditionen bestimmte Diskussion endete mit einem Kompromiß. Man verständigte sich darauf, nunmehr auch Textausgaben mit Übersetzung und Kommentar in das Corpus Medicorum Graecorum aufzunehmen, diese aber nicht an dem für sie vorgesehenen Platz in der Hauptreihe, sondern als Bände des 1934 eingerichteten Supplementum erscheinen zu lassen, das eigentlich Texten mit besonderer Überlieferungssituation und Fragmentsammlungen vorbehalten war. Dieser Notlösung sind glücklicherweise nur zwei Textausgaben, die Quaestiones medicinales von Rufus von Ephesos (CMG Suppl. IV, Berlin 1962) und Galens Schrift De instrumento odoratus (CMG Suppl. V, Berlin 1964), zum Opfer gefallen. Denn die Verkaufsstatistiken dieser beiden Editionen, die mit deutscher Übersetzung und Kommentar erschienen waren, hatten eindeutig bewiesen, daß die zweisprachigen Ausgaben antiker medizinischer Texte ein weitaus größeres Echo fanden als die vorangegangenen reinen Texteditionen, und so konnten sich auch die hartnäckigsten Verteidiger des wissenschaftlichen Anspruchs des Ärztecorpus nicht länger der Einsicht verschließen, daß sie dem Unternehmen einen schlechten Dienst erwiesen, wenn sie weiterhin aus einem falsch verstandenen wissenschaftlichen Interesse heraus an der, wie wir gezeigt haben, unter dem Zwang äußerer Umstände getroffenen Entscheidung der Gründungsväter des Ärztecorpus festhielten. Der endgültige Entschluß, die Texte sowohl der griechischen wie der lateinischen Reihe entgegen der ursprünglichen Konzeption künftig nur | noch mit modernsprachigen Übersetzungen zu publizieren, wurde 1965 auf einer Sitzung der Ständigen Kommission des CMG bestätigt; gleichzeitig wurde festgelegt, daß alle Editionen, auch die kommentierten, entsprechend dem von Diels ausgearbeiteten Editionsplan in der Hauptreihe erscheinen sollen, und damit entfiel auch die Notwendigkeit, die 25 26
K. Schubring, Das Corpus Medicorum Graecorum, Wissenschaftl. Annalen 5 (1957), S. 307. Siehe ebd.
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kommentierten zweisprachigen Ausgaben der griechischen Reihe als Ausnahmen zu behandeln und sie unverdientermaßen in das Supplementum zu verbannen. Eine besondere Schwierigkeit, mit der sich die Herausgeber des antiken Ärztecorpus bis heute konfrontiert sehen, besteht darin, daß es im Weltmaßstab nur wenige klassische Philologen gibt, die über die für eine Edition medizinischer Texte notwendigen medizinhistorischen Spezialkenntnisse verfügen, und so war das Unternehmen von Anfang an auf internationale Kooperation angewiesen. Diese Situation hat sich jedoch insofern grundlegend geändert, als die vergleichsweise geringe Zahl der ausländischen Mitarbeiter, die für die ersten Jahre nach der Gründung des Corpus zu konstatieren ist, in den letzten Jahrzehnten beträchtlich zugenommen hat. Wenn ich diesen Tatbestand hier erwähne, so deswegen, weil sich daraus Konsequenzen auch für die in das Corpus aufzunehmenden Übersetzungen ergaben. Zunächst einmal stand fest, daß wir uns unter diesen Umständen nicht auf Deutsch als Übersetzungssprache beschränken konnten, sondern auch andere Sprachen zu ihrem Recht kommen lassen mußten. Da es uns aber wichtig erschien, auch weiterhin eine gewisse Einheitlichkeit in der Gestaltung unserer Schriftenreihen zu wahren, haben wir uns auf insgesamt fünf Sprachen festgelegt: Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch. Ausschlaggebend waren dafür vor allem zwei Gesichtspunkte. Zum einen sollte, wenn nicht allen, so doch dem überwiegenden Teil der Editoren die Möglichkeit gegeben werden, die von ihnen herausgegebenen griechischen oder lateinischen Texte in ihre Muttersprache zu übersetzen, und zum anderen sollten es möglichst weit verbreitete Sprachen sein, da nur so die Gewähr gegeben ist, daß durch die Übersetzungen ein möglichst großer Kreis von Interessenten Zugang zu den antiken medizinischen Texten findet. Denn das ist es, was wir mit unseren Übersetzungen erreichen wollen, und dazu gehört auch, daß die Übersetzungen von Medizin- und Wissenschaftshistorikern benutzt werden, die des Griechischen und Lateinischen nicht mächtig sind. Das heißt, in diesen Fällen trifft es tatsächlich zu, daß die modernsprachige Übersetzung, wie von Schubring befürchtet, an Stelle des antiken Originals benutzt wird. Im Unterschied zu Schubring sind wir | jedoch der Meinung, daß dies der Bedeutung der Textedition als solcher keinen Abbruch tut, da dieser Leserkreis mit den Ausgaben der Originaltexte ohnehin nichts hätte anfangen können. Was dagegen diejenigen Benutzer unserer Ausgaben betrifft, die über Latein- und Griechischkenntnisse verfügen, so wird es unter ihnen wohl kaum jemanden geben, der nicht dankbar ist, daß er die Übersetzungen – zumal bei schwierigen Textpassagen – als Verständnishilfe zu Rate ziehen kann; ebenso sicher ist es aber auch, daß jeder, der ernsthafte wissenschaftliche Forschungen auf dem Felde der antiken Medizin betreiben will, mit dem Originaltext arbeiten muß, da nur so ein unvoreingenommenes Herangehen an die Aussagen der antiken Autoren möglich ist, stellt doch bekanntlich jede Übersetzung ein Stück Interpretation dar, mag sie auch noch so behutsam und sachlich fundiert sein. Damit die unseren Texteditionen beigegebenen modernsprachigen Übersetzungen den an sie zu stellenden wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, ist unser Bestreben darauf gerichtet, daß diese das antike Original so getreu wie möglich wiedergeben. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die dargelegten medizinischen Sachverhalte, sondern auch im Hinblick auf die sprachliche Ausdrucksform der Autoren. Mit anderen Worten, der Übersetzer sollte zwar immer darum bemüht sein, die Gedanken- und Vorstellungswelt der antiken medizinischen Schriftsteller durch die Übertragung in eine
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moderne Sprache in eine für den heutigen Leser verständliche Form zu transponieren, es kann und darf aber nicht Aufgabe der Übersetzung sein, z.B. terminologische Unsicherheiten zu kaschieren, die aus dem Fehlen einer feststehenden medizinischen Terminologie in der Antike resultieren, oder eine umständliche und unbeholfene Ausdrucksweise zu glätten, die nicht aus sprachlicher Unfähigkeit herrührt, sondern von dem Bemühen der antiken Ärzte zeugt, komplizierte Sachverhalte sprachlich zu bewältigen. Eine Übersetzung, die sich über derartige Dinge hinwegsetzt, ist als historische Quelle, als die sie benutzt werden soll, unbrauchbar. Daß unsere Textausgaben durch die Veränderung und Erweiterung der Editionsrichtlinien einen breiteren Leserkreis gefunden und sich in der internationalen medizinhistorischen Forschung als maßgebliche Editionen durchgesetzt haben, steht außer Frage. Es läßt sich aber auch nicht bestreiten, daß durch die erhöhten Anforderungen, die wir an unsere Editoren stellen, der Arbeitsaufwand für die Herausgeber der Texte, aber auch für die Redaktion des Unternehmens beträchtlich gestiegen ist. Um so erfreulicher ist es, daß die Zahl der Philologen, die die Herausgabe medizini|scher Texte als eine lohnende Aufgabe betrachten und sich bereit finden, Ausgaben für das CMG oder CML vorzubereiten, trotzdem deutlich zugenommen hat. Allerdings wollen wir nicht verschweigen, daß wir in absehbarer Zeit an einen Punkt gelangen werden, wo es nicht mehr möglich sein wird, bei der Vergabe von Textausgaben die speziellen Wünsche der potentiellen Editoren in jeder Hinsicht zu erfüllen, da die Zahl der in der Regel begehrten Texte von mäßigem Umfang, mit einer möglichst schmalen Überlieferungsbasis und nicht ausgesprochen medizinischem Charakter immer geringer wird. Besonders schwierig wird es sein, für die großen Galenschriften wie die Methodus medendi, die Fieberschriften, das pathologische Werk De locis affectis oder die pharmakologischen Schriften Bearbeiter zu gewinnen. Mit diesen Schwierigkeiten werden sich jedoch erst künftige Generationen auseinanderzusetzen haben. Wenn wir heute, 80 Jahre nach der Gründung des antiken Ärztecorpus, Bilanz ziehen, so können wir feststellen, daß bisher 48 Bände der griechischen Reihe einschließlich des Supplementum Orientale und sechs Bände der lateinischen Reihe vorliegen, von denen insgesamt 29 Bände, davon vier als veränderte zweite Auflage, seit der Wiederaufnahme der Arbeiten am Corpus nach dem zweiten Weltkrieg erschienen sind. Was die Verteilung der 48 Bände des griechischen Corpus auf die einzelnen Autoren betrifft, so entfallen davon sieben Bände auf die Hippokratesedition, 23 Bände auf die Galenausgabe und jeweils zwei Bände auf die Editionen der Schriften des Rufus von Ephesos, Aetios von Amida und Stephanos von Athen. Bereits vollständig ediert sind die Texte des Aretaios, des Soran, des Philumenos, des Leo und des Apollonios von Kition in jeweils einem Band, die Schriften des Oreibasios in fünf Bänden und das Handbuch des Paulos von Aigina in zwei Bänden. Drei Bände des CMG und ein Band des CML befinden sich zur Zeit im Druck, einer von ihnen, die Ausgabe der arabischen Übersetzung der im Original verlorenen Galenschrift Über die Prüfung des besten Arztes, wird noch in diesem Jahr erscheinen. Angesichts des Tatbestandes, daß uns weitere vier Bände bereits im Manuskript vorliegen und sich insgesamt elf Editionen in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadium der Bearbeitung befinden, können wir unsere Ausführungen über das Berliner Ärztecorpus mit dem optimistischen Ausblick schließen, daß das kontinuierliche Erscheinen der CMG- und CMLAusgaben über das Jahr 2000 hinaus schon jetzt gesichert ist.
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M. Michler, Die Klumpfußlehre der Hippokratiker. Eine Untersuchung von De articulis cap. 62 mit Übersetzung des Textes und des galenischen Kommentars, Wiesbaden 1963 (Sudhoffs Archiv, Beih. 2)*
Es gibt sicher nur wenige Behandlungsmethoden der alten griechischen Medizin, die sich wie die hippokratische Klumpfußbehandlung rühmen können, in ihrer ursprünglichen Form auch in der heutigen Medizin noch angewandt zu werden. Daß aber die Behandlung der Klumpfußverkrümmung bei Hippokrates dennoch nicht mit der modernen Behandlungsweise identisch ist, daß sich die antiken theoretischen Vorstellungen von diesem Heilverfahren von denen der neuen Medizin unterscheiden, um das zu zeigen, wurde die vorliegende Untersuchung geschrieben. Bei seiner Darstellung der hippokratischen Klumpfußlehre geht M. Michler von dem für dieses Gebiet der Knochenchirurgie grundlegenden Text aus dem 62. Kap. der Schrift De articulis (Über Verrenkungen) aus. Zur Ergänzung wurden ferner De artic. cap. 85, das 32. Kapitel aus dem sog. „Mochlikon“, einer Sammlung von Exzerpten aus der großen knochenchirurgischen Abhandlung De fracturis – De articulis, die ursprünglich als eine zusammenhängende Schrift konzipiert und erst später in zwei selbständige Traktate geteilt wurde, und Galens Kommentar zu De artic. cap. 62 herangezogen. Die Übersetzung von Hipp. De artic. 62 und dem dazugehörigen Galenkommentar, dessen Text M. in einer von F. Kudlien vorbereiteten, noch nicht edierten textkritischen Ausgabe einsehen konnte, bildet den Anfang der Abhandlung. Der Verf. hat, wie er selbst betont, den griechischen Text möglichst wörtlich ins Deutsche übertragen, weil so am ehesten die Gewähr gegeben schien, daß der Sinn der hippokratischen Ausführungen nicht verfälscht wird. Diese Leistung | wird man um so mehr anerkennen, als der Verf. ein Mediziner ist, und man wird aus diesem Grunde auch entschuldigen, wenn M. sich nicht immer an seine eigenen Grundsätze bei der Gestaltung der Übersetzung gehalten hat oder die Übersetzung an manchen Stellen ungeschickt bzw. nicht ganz korrekt ist. Nicht immer wurden die vom Verf. zugefügten Worte, wie versprochen, durch () gekennzeichnet, z.B. 5,2 „nur“1; 7,13 „bloße“; 8,1 „eigenen“ (diese Zufügung wäre auch zu entbehren gewesen); 14,11 „zugleich“; 14,26 „in Korrektur“. Dagegen fragt man sich, warum beispielsweise 10,4 „das Sprungbein“ in Klammern zugefügt wurde, obwohl αὐτὸν (sc. ἀστράγαλον) im griechischen Text steht. Es ist dies doch keine Zufügung des Verfs, wenn im Deutschen ein Personalpronomen durch das entsprechende Substantiv ersetzt werden muß, um Mißverständnisse auszuschließen. 6,4: Da der in dieser Zeile beginnende Satz keine Schlußfolgerung aus dem vorher Gesagten ist, ist die Übersetzung von μὲν οὖν mit „also“ zu hart. Wenn Z. 7 auf die Wiedergabe * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 85, 1964, Sp. 826–829. 1
Ebenso 8,10; vgl. dagegen 6,7: (nur).
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dieser Partikeln im Deutschen verzichtet werden konnte, warum nicht auch hier? 12,3–6 lesen wir in Galens Kommentar „… was wir weiter vorn besprochen haben, als wir dieses Buch (sc. De artic., Rez.) erklärten, und was noch früher als dies zu dieser Frage in dem Kommentar zur Schrift ,Über die Frakturen' steht“. Das Mißverständnis, das durch den Satz „als wir dieses Buch erklärten“ hervorgerufen wird – denn Galen ist auch zu diesem Zeitpunkt noch mit der Erklärung eben dieses Buches beschäftigt –, hätte vermieden werden können, wenn die Worte τοῦτο τὸ βιβλίον korrekterweise auf εἴπομεν bezogen worden wären. Das Bemühen, trotz der wörtlichen Übersetzung des griechischen Textes im deutschen Ausdruck zu variieren (wie hier im letzten Teil des Satzes), verdient Beachtung. Nur wäre gerade an dieser Stelle eine weniger freie Übersetzung vorzuziehen gewesen, da die Formulierung „was noch früher als dies … in dem Kommentar … steht“ nicht nur sehr unbeholfen ist, sondern unnötig vom griechischen Wortlaut abweicht. Bloßes Versehen dürfte es sein, wenn 15,26 die Reihenfolge von ἔσωθεν und ἔξωθεν vertauscht ist, ebenso auch 15,11, wo statt „ihnen“ (griechisch αὐτῶν) versehentlich „ihm“ geschrieben wurde. Ferner findet sich 13,23 Anm. ein unverständlicher Verweis („wegen Z. 11 ἀνάρτησιν“), der sich offensichtlich auf Kudliens Textmanuskript bezieht, und 10,5 Anm. muß es doch wohl statt „Sein frontal gelegener Anteil des Sprungbeines“ richtiger „Sein (sc. des Sprungbeines) frontal gelegener Anteil“ heißen. Die folgende Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptabschnitte: 1. Das praktische Verfahren, 2. Die theoretische Lehre. Die Gliederung des ersten Abschnittes schließt sich dem Aufbau des hippokratischen Textes an. Nach einer kurzen Definition der Klumpfußverkrümmung und der Darstellung ihrer Pathologie folgt die ins einzelne gehende Beschreibung des therapeutischen Verfahrens, das in Redressionsmethode, Fixationsmethode und Nachbehandlung einschließlich der Schuhversorgung unterteilt ist. Sehr zu begrüßen ist, daß M. diese Beschreibung durch Skizzen und Abbildungen veranschaulicht, weil sie dadurch nicht nur auch dem Laien verständlich wird, sondern auch die Übereinstimmung zwischen der alten und der zum Vergleich herangezogenen modernen Behandlungsmethode besonders deutlich wird. Da in den Ausführungen des Hippokrates zum Thema „Klumpfuß“ jede Spur von theoretischen | Überlegungen, die dem praktischen Verfahren zugrunde gelegen haben, fehlt, mußten diese aus dem überlieferten praktischen Verfahren selbst erschlossen werden. Trotzdem konnte der Verf. recht eindrücklich zeigen, daß und wieweit sich die antike Klumpfußlehre gerade in der Theorie von den heutigen Vorstellungen unterscheidet und unterscheiden muß, einmal weil ätiologische und pathogenetische Erklärungen notwendig zeitgebunden sind, zum anderen aber, weil sich die antiken Ärzte auch in der Knochenchirurgie nicht von den ebenfalls nur aus ihrer Zeit heraus zu verstehenden theoretischen Spekulationen, die die gesamte griechische Medizin – bald mehr, bald weniger – beherrschten, frei machen konnten. Wir werden gern zugeben, daß der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sehr speziell ist und in vollem Umfang nur von einigen wenigen Fachleuten beurteilt werden kann. Aber auch für den an der Materie nicht näher interessierten Leser ist die Arbeit äußerst wertvoll, denn sie macht nicht nur mit allen Einzelheiten der antiken Klumpfußlehre bekannt, sondern sie bringt uns darüber hinaus noch folgendes in aller Deutlichkeit zum Bewußtsein:
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1. Nur durch Spezialuntersuchungen, in denen nach dem Vorbild der vorliegenden Untersuchung in mühevoller Kleinarbeit alle Einzelprobleme, die das jeweilige Thema zu lösen aufgibt, behandelt werden, können wir eine richtige Vorstellung von dem antiken medizinischen Wissen gewinnen. 2. Grundlage dieser Spezialuntersuchungen müssen die antiken Originaltexte sein, da bei jeder Übersetzung und Kommentierung die Gefahr besteht, daß die antiken Ausführungen den modernen Vorstellungen und Begriffen bestimmter medizinischer Fragen angeglichen werden, so daß die Gemeinsamkeiten zwischen antiker und moderner Lehre überbetont und die bestehenden, z.T. sehr grundlegenden Unterschiede verschleiert werden und daher eine sinngemäße Deutung des antiken Textes unmöglich wird2. 3. Mehr als bisher sollte man bei Editionen antiker fachwissenschaftlicher Texte die Hilfe einer fachmännisch exakten Interpretation in Anspruch nehmen, da auf diese Weise die Textkonstituierung durch wertvolle Emendationen gefördert werden kann. Der positive Eindruck der Studie kann durch einige – unvermeidliche – Druckfehler3 und die oben erwähnten Mängel in der Übersetzung kaum beein|trächtigt werden, und es wäre im Interesse der antiken Medizingeschichte sehr zu hoffen, daß diese Arbeit nicht die einzige ihrer Art bleibt.
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An den Erklärungen zu dem Klumpfußkapitel aus De artic. aus dem vorigen Jahrh. ließ sich besonders eindrücklich zeigen, in welchem Ausmaß moderne Anschauungen in antike Gedankengänge hineininterpretiert werden können, so daß M. mit Recht schreiben kann (S. 24 Anm. 3, am Ende): „… wir haben hier … ein klassisches Beispiel vor uns, wie aus dem Bemühen um eine Erklärung in eine unklare Textstelle die Anschauungen der eigenen Zeit hineingetragen und von einem Autor zum anderen in liebevoller Pflege auf den neuesten Stand des Fachwissens gebracht werden, bis es kaum noch möglich ist, alte und neue Lehre voneinander zu trennen.“ Das falsche Zitat S. 64 – Galens Schrift De consuetud. ist CMG Suppl. III, nicht CMG III ediert – ist sicher auch unter die Druckfehler zu rechnen.
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E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Mit einem Vorwort und einer Tafel von R. Herrlinger, Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv, Beih. 4)*
In der antiken Medizin war die Humorallehre weit verbreitet. Sie beruhte auf der Vorstellung, im menschlichen Körper seien mehrere Säfte (z.B. Blut, Galle und Schleim) vorhanden, von deren richtiger bzw. falscher Mischung Gesundheit und Krankheit abhingen. Am stärksten konnte sich die Lehre von den vier Säften (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim) durchsetzen, die in ihrer klassischen Form zum erstenmal in der hippokratischen Schrift De natura hominis formuliert und später von Galen zu einem umfassenden System ausgebaut wurde. Mit dem Thema der vorliegenden Arbeit war die Aufgabe gestellt, „das Viererschema (sc. in der antiken Humoralpathologie) an den Quellen neu zu überprüfen“ (S. V II). Wenn dafür auch die Hilfe und Anleitung eines Altphilologen zur Verfügung stand (s. S. VII), so dürfte es doch von einem Kandidaten der Medizin zu viel verlangt sein, das gesamte antike medizinische und naturwissenschaftliche Schrifttum, das zu einem großen Teil nur im Original benutzt werden kann, durchzuarbeiten. Und das war erforderlich, sollte die Arbeit zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis kommen. Daß E. Schöner der Aufgabe nicht ganz gewachsen war, zeigt neben anderem auch die unterschiedliche Qualität der einzelnen Kapitel, in denen in chronologischer Reihenfolge 1. die vorsokratische Philosophie, 2. das Corpus Hippocraticum, 3. die Philosophen und Ärzte im 4. Jahrh., 4. die nacharistotelische Periode (300–50 v.Chr.), 5. die pneumatische Schule, 6. Galen und 7. das ausgehende Altertum mit einem Ausblick ins Mittelalter auf ihre Beiträge zum Viererschema in der antiken Säftelehre hin untersucht werden. Eine Tafel mit einer schematischen Darstellung der historischen Entwicklung des Viererschemas in der antiken und mittelalterlichen Humorallehre von Robert Herrlinger vervollständigt den Band. Es ist dies meines Wissens der erste Versuch, einen zusammenhängenden Überblick über die antike Viersäftelehre und die aus ihr resultierenden Viererschemata zu geben. Daß ein solches Unternehmen – so begrüßenswert die hier vorgelegte Materialsammlung auch ist – m.E. doch noch etwas verfrüht in Angriff genommen wurde, zeigt besonders auffällig der Abschnitt über Galen, der im Unterschied zu dem Kapitel über das Corpus Hippocraticum deutlich den Charakter des Vorläufigen trägt. Für das Corpus Hippocraticum lagen dem Verf. genügend Vorarbeiten vor, um mit ihrer Hilfe die hippokratische Humorallehre in ihren mannigfaltigen Variationen und mit allen ihren Auswir|kungen erschöpfend darzustellen. Für das Corpus Galenicum dagegen fehlt es immer noch nicht nur an Ausgaben, die für solche Zwecke wirklich benutzbar sind, sondern auch weitgehend an entsprechenden Einzeluntersuchungen. * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 88, 1967, Sp. 359–362.
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Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie
Auf S. 87 heißt es zwar: „Man muß das ganze Werk (sc. Galens) in eins nehmen; bei der Betrachtung von Einzelschriften wird man dagegen auf Unvollständigkeiten, Diskussionen, Aspektverschiebungen, Variationen stoßen.“ Trotzdem bleiben die aus Galen angeführten Konkordanzen und Viererschemata mehr oder weniger zufällig. So hätte man z.B. zur Vervollständigung der Zuordnung Fieber/Säfte (S. 89) auch noch eine Stelle aus Galens Schrift „Über den Unterschied der Fieber“1 heranziehen können, wo sich folgendes Schema findet, das zusätzlich die Jahreszeiten und Lebensalter enthält: Tertianfieber gelbe Galle reifes Mannesalter Sommer warm und trocken
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Quotidianfieber Schleim Greisenalter/Kindesalter Winter feucht und kalt
Quartanfieber schwarze Galle reiferes Mannesalter Herbst trocken und kalt
Unter den Galenischen Konkordanzen fehlt auch gänzlich der Hinweis auf die Zuordnung von Tages- und Jahreszeiten in Galens Epidemienkommentar2. Statt dessen lesen wir in dem Abschnitt „Pseudo-Galen“ (S. 94): „Im Kommentar zu Hippokrates ,Über die Säfte‘ wird dem galenischen Schema … die Parallele der Tageszeiten mit den Jahreszeiten … zugefügt.“ Dieses Mißgeschick wäre Sch. nicht passiert, wenn ihm bekannt gewesen wäre, daß der im 16. Band der Kühnschen Galenausgabe abgedruckte De-humoribus-Kommentar erwiesenermaßen eine Renaissancefälschung ist3 und nichts anderes als ein Konglomerat mehr oder weniger geschickt verbundener Galenzitate darstellt, die unter keinen Umständen als pseudogalenisch zu bezeichnen sind. Das gleiche gilt für den ebenfalls S. 94 erwähnten Kommentar zu Hippokrates „Über die Nahrung“4, so daß auch die aus diesem Kommentar angeführten Stellen der Konkordanzen Säfte / Qualitäten / Farben / Jahreszeiten als Belege für Viererschemata in der pseudogalenischen Literatur fortfallen bzw. in den echten Galenschriften zu verifizieren und in das Kapitel „Galen“ aufzunehmen sind. In dem abschließenden Viererschema, das Sch. für Galen als verbindlich rekonstruieren zu können glaubt (S. 92), sähe man gern auch die Sinnesorgane5, die sich beispielsweise nach Galens Schrift „Über das Riechorgan“6 eindeutig den Elementen zuordnen lassen: Gesicht/Feuer (Licht), Gehör/Luft, | Geschmack/Wasser (Feuchtigkeit) und Tastsinn/Erde. Neben diesen Mängeln im Galenkapitel, die aus den angeführten Gründen kaum zu vermeiden waren, finden sich auch sonst geringfügige Widersprüche und Unstimmigkeiten, von denen hier nur zwei Beispiele gebracht seien. 1 2 3
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VII 334–336 K. Corpus Medicorum Graecorum (CMG) V 10,2,2, S. 38,11–14. So zuletzt H. Diller in seinem Aufsatz Zur Hippokratesauffassung des Galen (Hermes 68, 1933, S. 176), den Verf. in anderem Zusammenhang (S. 87 Anm. 3) zitiert. Die betreffende Stelle aus dem De-humoribus-Kommentar (XVI 424,7–10 K.) ist wörtliches Zitat aus Galens Epidemienkommentar (s. vorhergehende Anmerkung). Siehe K. Schubring, Rez. zu F. Steckerl, The Fragments of Praxagoras of Cos and His School, Leiden 1958, in: DLZ 82, 1961, Sp. 258. Vgl. S. 83, wo die Zuordnung Sinnesorgane/Elemente bei den Pneumatikern angeführt wird. CMG Suppl. V, S. 38,24–40,2 und 40,25–27.
Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie
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1. Im Kapitel über die pneumatische Schule (S. 84) wird z.B. darauf hingewiesen, daß bei den Pneumatikern neben anderen Viererschemata auch in der Pulslehre die Vierzahl eine Rolle gespielt hat. Für Herophilos dagegen (s. S. 77), für den ebenfalls eine Unterscheidung von vier Pulsarten bezeugt ist7, vermißt man einen entsprechenden Hinweis. 2. Sch. war dankenswerterweise darum bemüht, die antiken medizinischen Texte nach den neuesten Ausgaben zu zitieren. Bei den Galenzitaten ist es nicht immer geglückt. Zum Beispiel hätte De victus ratione in morbis acutis secundum Hippocratem (S. 94) statt nach der Kühnschen Ausgabe nach der Edition von Westenberger im CMG V 9,1 zitiert werden müssen, das gleiche gilt auch für die Zitate aus Galens Schrift De sanitate tuenda (S. 93 Anm. 1, 8 und 9), die ebenfalls im CMG (Bd. V 4,2) erschienen ist. Ebenso hätte man nach dem Vorbild von De placitis Hippocratis et Platonis, das nach der Ausgabe von Müller zitiert wird, erwartet, daß auch De usu partium nach der zweibändigen Ausgabe von Helmreich (Leipzig 1907/09) zitiert wird (S. 90 Anm. 3, 5, 7 und 8). Trotzdem wissen wir es dem Verf. zu danken, daß er mit seinem umfassenden Überblick über die gesamte antike „Humoralpathologie und das in ihr entwickelte Viererschema in allen seinen Ausprägungen“ (S. 101) falsche Vorstellungen von der Viersäftelehre des Altertums, die in die Medizingeschichtsschreibung Eingang gefunden hatten, korrigiert bzw. bestimmte Probleme in aller Schärfe formuliert hat. Dahin gehört z.B., daß eine vollkommene Zuordnung Säfte/Elemente überhaupt nicht im Corpus Hippocraticum und nur vereinzelt bei Galen zu finden ist oder daß die Lehre von den vier Temperamenten (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker) ein Produkt des Mittelalters ist und noch nicht für die Antike, weder für das Corpus Hippocraticum noch für Galen, in Anspruch genommen werden darf. Ebenso wurde in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich auf die doch wohl allgemein bekannte und anerkannte Tatsache hingewiesen, daß Humoralpathologie und Viersäftelehre zwar „ein wesentliches, aber kein absolut beherrschendes Charakteristikum der antiken Medizin“ (S. 101) waren8. Doch geht Sch. in dieser richtigen Erkenntnis m.E. zu weit, wenn er schreibt, „die Tatsache, daß ganze Epochen (gemeint ist die Zeit vom 3.–1. Jahrh. v.u.Z.) der antiken Medizin für unser Thema (sc. Humorallehre und Viererschemata) einfach ausfallen oder zumindest unergiebig sind, (scheint) keineswegs zufällig bzw. durch die Ungunst der Überlieferung bedingt zu sein“. Denn wie ich eben zeigen konnte, läßt sich zumindest für Herophilos ein Viererschema in der Pulslehre nachweisen. Ob er es sonst noch verwen|det hat, wissen wir nicht, und zwar, wie ich doch glauben möchte, nur deswegen nicht, weil die schriftlichen Zeugnisse aus der Epoche der alexandrinischen Medizin fast völlig fehlen.
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Siehe M. Wellmann, Die pneumatische Schule bis auf Archigenes, Berlin 1895, S. 172 und die dort angegebenen Belege aus Galen. Man denke nur an die medizinischen Theorien eines Erasistratos oder Asklepiades und an die Lehren der empirischen und methodischen Ärzteschulen, mit denen sich die Säftelehre nur schwer vereinbaren ließ.
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F. Kudlien, Untersuchungen zu Aretaios von Kappadokien, Akademie d. Wiss. u. d. Lit., Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Kl. 1963, 11, Wiesbaden 1964*
Max Wellmann, zu seiner Zeit die maßgebende Autorität auf dem Gebiet der antiken Medizin, hatte geglaubt, mit seinem Artikel über Aretaios von Kappadokien1 und mit seiner Monographie „Die pneumatische Schule bis auf Archigenes“2 das abschließende Wort über diesen Arzt gesprochen zu haben. Er datierte den Aretaios in das ausgehende 2. oder in das 3. Jahrh. u.Z., meinte nachweisen zu können, daß die in dem als einzige Schrift des Aretaios auf uns gekommenen Lehrbuch über akute und chronische Krankheiten dargelegten Anschauungen sämtlich dem entsprechenden Werk des weitaus bekannteren Arztes Archigenes aus Apameia (um 100 u.Z.) entlehnt seien, daß also Aretaios wie dieser der eklektischen Richtung in der sog. pneumatischen Ärzteschule angehört habe, und behauptete schließlich, das Hauptverdienst des Aretaios bestünde darin, die Ausführungen des Archigenes in den ionischen Dialekt übertragen zu haben. F. E. Kind wies in den Jahresberichten f. Altertumswissenschaft, Bd 158, 1912, S. 171f. auf gewisse Unstimmigkeiten in der Wellmannschen Beweisführung hin und forderte eine erneute Untersuchung über die Lebenszeit des Aretaios. Doch gelang es Wellmann3, die Bedenken selbst dieses Gelehrten zu zerstreuen, und so konnte es geschehen, daß Wellmanns Urteil über den Kappadokier in der Folgezeit im wesentlichen unwidersprochen blieb. Der Anregung Kinds folgend, hat nun F. Kudlien in der vorliegenden Untersuchung die Aretaios-Frage erneut aufgegriffen und versucht, dem von Wellmann herabgewürdigten Arzt aus Kappadokien den ihm gebührenden Ehrenplatz unter den Großen der antiken Medizin wieder zurückzugeben. Der 1. Teil handelt von der „Lebenszeit des Aretaios und seiner Bedeutung innerhalb der pneumatischen Ärzteschule“. In dem ersten Abschnitt wird über den Stand der Forschung referiert4, die beiden folgenden | Abschnitte sind der Datierung des Aretaios gewidmet, im vierten Abschnitt beschäftigt sich K. mit dem Verhältnis * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 88, 1967, Sp. 1077–1079. 1
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Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. II, hrsg. v. G. Wissowa, Stuttgart 1895, Sp. 669f. Philologische Untersuchungen 14, Berlin 1895, S. 23–64. M. Wellmann, Die Schrift des Dioskurides Περὶ ἁπλῶν φαρμάκων. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin, Berlin 1914, S. 38–40. Zu S. 7 Anm. 1 sei noch ergänzend die französ. Übersetzung des Aretaios von A. Coray: Arétée, Des causes et des signes des maladies aigues, Des causes et des signes des maladies chroniques (Πραγματεῖαι τῆς Ἀκαδημίας Ἀθηνῶν 13,3, 1948, S. 1–107) nachgetragen.
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Kudlien, Untersuchungen zu Aretaios
zwischen Aretaios und Archigenes5 und stellt schließlich im letzten die Bedeutung heraus, die Aretaios als Pneumatiker zukommt. An Hand des Forschungsberichtes zeigt Verf., daß seit der Renaissance besonders unter den Medizinern Einmütigkeit darüber herrscht, daß vor allem die Krankheitsbeschreibungen in dem Lehrbuch des Aretaios diesen als einen der bedeutenden Vertreter der antiken Medizin ausweisen. Zu recht verschiedenen Ergebnissen hatten dagegen die Datierungsversuche geführt, da es hierfür kaum feste chronologische Anhaltspunkte gibt. Der Zeitraum von Hippokrates (5. Jahrh. v.u.Z.) bis in die Zeit nach Galen (2. Jahrh. u.Z.) wurde in Betracht gezogen, die Zeit des Hippokrates, weil der Kappadokier wie dieser ionisch schrieb, und als unterster terminus ante quem non Galen, weil Galen den Aretaios in seinen Werken nirgends namentlich erwähnt und ebensowenig eine sichere Bezugnahme auf Aretaios ohne Namensnennung nachzuweisen ist. Mit Recht macht K. darauf aufmerksam, daß man aus der Tatsache allein, daß Galen den Aretaios nicht zitiert, keine chronologischen Schlüsse ziehen dürfe, da ja keineswegs alle bekannteren medizinischen Autoren, die vor ihm geschrieben haben, in seinen Schriften namentlich genannt werden6, und mit Recht wird betont, daß das Aretaioszitat in der von Dioskurides (um 100 u.Z.) verfaßten Schrift De simplicibus medicamentis (II, 119 = Bd III, 298,19 [ed. Wellmann]), das bereits von dem AretaiosHerausgeber Wigan (1723) herangezogen worden war, als das sicherste Indiz für die Datierung des Aretaios zu gelten hat. Daneben zieht K. zwei weitere chronologische Indizien heran, einmal die Notiz im Text des Aretaios (169,10 H.), daß die Bezeichnung Γάλλοι statt des älteren Κέλται neuerlich eingeführt sei, die nach Ansicht des Verfs (S. 22f.) nur bis etwa in die Mitte des 1. Jahrhs u.Z. sinnvoll sei, und zum anderen die Benutzung des Aretaios durch den in neronischer Zeit lebenden Augenarzt Demosthenes, die K. wahrscheinlich machen zu können glaubt (S. 23f.). Wichtig ist aber vor allem auch der überzeugend geführte Nachweis, daß Aretaios als der in seinen wissenschaftlichen Theorien und in seinem praktischen ärztlichen Verhalten zweifellos höher Stehende unbedingt die Priorität vor Archigenes für sich beanspruchen kann. Und so gelangt Kudlien im Gegensatz zu Wellmann zu dem Schluß, daß die Lebenszeit des Aretaios in die 2. Hälfte des 1. Jahrhs u.Z. fällt, daß die Schrift des Kappadokiers als selbständige Leistung anzusehen ist und daß sich Aretaios in seiner Lehre, wie Verf. an Hand eines Vergleichs mit der des Gründers der pneumatischen Schule Athenaios von Attalia, deutlich zu machen bemüht ist, als Pneumatiker reinster Prägung erweist. Gerade aus diesem Grund kann die Bedeutung des Aretaios für die Rekonstruktion der pneuma5
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Den in diesem Abschnitt gegebenen Literaturhinweis: G. Bergsträßer, Ḥunain ibn Isḥāq über die syrischen und arabischen Galenübersetzungen, Abh. f. d. Kunde d. Morgenlandes XVII, 2, Leipzig 1925, S. 97 Nr. 164 wird man nach dieser Angabe nicht verifizieren können. Lies statt dessen: G. Bergsträßer, Neue Materialien zu Ḥunain ibn Isḥāqs Galenbibliographie, Abh. f. d. Kunde d. Morgenlandes XIX, 2, Leipzig 1932, S. 97 Nr. 164. Der Unzulänglichkeit des Index in der Kühnschen Galenausgabe ist es wohl zuzuschreiben, wenn K. irrtümlich angibt (S. 11 oben), der Hippokratesglossator Erotian sei bei Galen ebenfalls nicht zitiert. Sein Name wird in Galens Hippokratesglossar (XIX 108,2 Kühn) erwähnt; vgl. auch Erotiani Vocum Hippocraticarum collectio, rec. E. Nachmanson, Upsala 1918, S. XXIII, wo die Galenstelle unter den Testimonien angeführt ist.
Kudlien, Untersuchungen zu Aretaios
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tischen Theorien – er ist der einzige pneumatische Arzt, von dem eine nahezu vollständige Schrift erhalten ist – kaum überschätzt werden. Diese volle Würdigung und sicher richtige Einordnung des Aretaios in die für die Medizin der späteren Antike so außerordentlich fruchtbare Zeit des ausgehenden 1. Jahrhs u.Z. war nur dadurch möglich, daß K. das Aretaiosproblem in einen möglichst großen Zusammenhang gestellt und alles verfügbare Material von neuem geprüft hat. Auf die Dürftigkeit des vorhandenen Mate|rials ist es allerdings zurückzuführen, daß die Beweisführung bisweilen eine genügend gesicherte Grundlage vermissen läßt. So war z.B. für das Dioskurideszitat eine – wenn auch voll überzeugende – Konjektur erforderlich, um es als Hauptindiz für die Datierung verwenden zu können. Auch die Aretaiosstelle, auf Grund deren Verf. die Abhängigkeit des Demosthenes von Aretaios zu erweisen versucht, ist korrupt überliefert und bedarf eines konjekturalen Eingriffs. Es überzeugt auch nicht ganz, wenn S. 29 behauptet wird, Galen habe, wenn er davon spricht, daß einige die Gebärmutter als eine Art Lebewesen betrachten, dabei sicher auch an Aretaios gedacht, sich u.U. sogar nur auf ihn beziehen wollen, obwohl der Kappadokier – wie auch K. zugibt – keineswegs der einzige war, der diese Ansicht vertrat. Doch wird sich eine bisweilen etwas überspitzte Argumentation bei einem so schwierigen Problem wie der Aretaiosfrage, vor allem eben wegen des Fehlens eines ausreichenden Beweismaterials, nie ganz vermeiden lassen. Bedauerlich ist dagegen, daß Verf. in seiner Auseinandersetzung mit Wellmann, dem er mit vollem Recht Mangel an Objektivität gegenüber Aretaios vorwirft, nun seinerseits die Objektivität gegenüber Wellmann nicht immer gewahrt hat. Offenbar veranlaßt durch eine Behauptung Kinds, wirft K. S. 13. 14 und 15f. Wellmann vor, er habe bei seiner Datierung des Aretaios in der „Pneumatischen Schule“ das oben genannte Dioskurideszitat mit keinem Wort erwähnt. S. 24 dieser Monographie wird aber auf das Zitat hingewiesen, und wenn Wellmann bei seiner abschließenden Bestimmung der Lebenszeit des Kappadokiers (S. 63f.) nicht nochmals darauf eingegangen ist, so ergibt sich das zwangsläufig aus seiner damaligen Auffassung von der Unechtheit dieser Schrift. Wenn sich Wellmann ferner in der „Pneumatischen Schule“ näher mit dem unter dem Namen des Aristoteleskommentators Alexander von Aphrodisias überlieferten Traktat De febribus (Ideler, Physici et medici Graeci minores I, 81–106) auseinandersetzt und dort darlegt (S. 86f.), daß die Schrift deutlich pneumatisches Gepräge trage, und sie, weil Aretaios in ihr an drei Stellen namentlich genannt wird, in das 3. Jahrh. u.Z. datieren möchte, ist es zumindest nicht korrekt, wenn K. – ebenfalls S. 14 – behauptet, „daß Wellmann hier (sc. bei der Datierung des Aretaios in der ,Pneum. Sch.‘) die Zitate in De febribus entweder vergessen oder wegen der zweifelhaften Echtheit der Schrift mit Stillschweigen übergangen hat“. In dem 2. Teil seiner Untersuchungen legt Verf. sowohl eigene Emendationen als auch solche früherer Herausgeber zum Aretaiostext (zuletzt hrsg. von C. Hude, Corpus Medicorum Graecorum II, 2. Aufl., Berlin 1958) vor. Da die handschriftliche Überlieferung des Aretaios, die durchweg relativ jung ist, einen vielfach entstellten Text bietet, der häufig der heilenden Hand des Editors bedarf, in vielen Fällen aber von dem letzten Hrsg. aus einem kaum zu begreifenden Konservativismus heraus unangetastet abgedruckt wurde, ist das gebotene Material recht umfangreich, und es
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wurde vor allem so geschickt ausgewählt, daß man auch diesen 2. Teil der Arbeit geradezu mit Spannung liest. Die Lektüre der Emendationen wird außerdem durch eine übersichtliche Gliederung der Textverderbnisse nach Fehlergruppen7, für die sich K. auf Vorbilder aus der Schule der schwedischen Textkritiker berufen kann, wesentlich erleichtert, und man darf nur wünschen, daß diese Art der Darstellung bei allen Philologen Schule machen möchte.
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Nicht ganz verständlich ist, warum bei der 11. Fehlergruppe (S. 68–71) die Bezeichnung „Influenzfehler“ nicht statt „Wortverwechslung“ als Hauptüberschrift gewählt wurde. Denn bei 5 von den 6 besprochenen Stellen handelt es sich um echte Influenzfehler, Verschreibungen, die durch ein vorausgehendes bzw. folgendes Wort verursacht wurden, während nur in einem Fall eine wirkliche Wortverwechslung (ἡλικίῃσι für das richtige ἥλιξι) vorliegt.
C. Fabricius, Galens Exzerpte aus älteren Pharmakologen, Ars Medica II 2, Berlin u. New York 1972*
Seit langem ist bekannt, daß die pharmakologischen Werke des Arztes Galen von Pergamon, speziell die Abhandlungen De compositione medicamentorum secundum locos, De compositione medicamentorum per genera und De antidotis, um|fangreiche wörtliche Zitate aus den Schriften früherer Pharmakologen enthalten, die in der Mehrzahl aus dem ausgehenden 1. Jahrh. u.Z. stammen, durch die Ungunst der Überlieferung jedoch alle verlorengegangen sind. Dieser Tatbestand wurde aber bislang weder in der Medizingeschichte noch in den Forschungen zur Sprache und Literatur der frühen Kaiserzeit hinreichend ausgewertet, was seinen eigentlichen Grund darin haben dürfte, daß der beträchtliche Umfang der drei genannten Galenschriften, deren kritische Edition zudem noch immer aussteht, jeden Wissenschaftler vor ihrer Lektüre zurückschrecken ließ. Um so verdienstvoller ist es, wenn C. Fabricius sich jetzt der Mühe unterzogen hat, alle diese wörtlichen Zitate in ihrem Umfang zu bestimmen und in der vorliegenden Arbeit mit möglichst genauen Quellenangaben in übersichtlichen Verzeichnissen künftigen Forschergenerationen zur bequemeren Benutzung bereitzustellen. Der Verf. gibt an, daß er sich bei der Aufbereitung dieser Exzerpte „streng auf die philologische Aufgabe“ beschränken wolle (S. V ). Erklärend muß allerdings hinzugefügt werden, daß es ihm dabei weniger um die sprachliche Erschließung der Exzerpte geht, was bei der derzeitigen Textsituation dieser Galenschriften auch verständlich ist, als vielmehr um ihre literarhistorische Bestimmung, d.h. vor allem um die Charakterisierung der von den Exzerptautoren benutzten Rezepttypen (S. 24–30), um die Kennzeichnung der verschiedenen Arten von Exzerpten bei Galen, ihre Abgrenzung gegenüber den Textpartien, die von Galen selbst stammen, ihre Autoren und schließlich ihre Zusammenstellung in Listenform (Kap. II–IV ). Angesichts der Tatsache, daß wörtliche Zitate aus den Werken älterer Autoren in den Schriften Galens nichts Ungewöhnliches sind, fragt man sich freilich, warum F. dies in einem ersten Kapitel für die von ihm behandelten Texte aus deren Charakter heraus erst umständlich erklären zu müssen glaubte, und das um so mehr, als er sich damit gezwungenermaßen auf das Gebiet der Medizingeschichte begibt, das nach seinen eigenen Worten außerhalb seiner Kompetenz liegt (S. V ). Denn die Darstellung der Konzeption der drei genannten pharmakologischen Schriften Galens (sie macht den Inhalt des I. Kapitels aus) erfordert, sobald sie inhaltliche Fragen berührt, eine eingehende Kenntnis sowohl des theoretischen pharmakologischen Systems Galens als auch der vorangegangenen historischen Entwicklung * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 94, 1973, Sp. 202–206.
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Fabricius, Galens Exzerpte aus älteren Pharmakologen
dieser medizinischen Disziplin. Da F. diese Voraussetzung zugestandenermaßen fehlt, mußte er zwangsläufig zu einer Reihe von Fehlurteilen gelangen, die in dem mit der Materie nicht vertrauten Leser des Bandes völlig falsche Vorstellungen nicht nur von dem eigentlichen Anliegen dieser Schriften, sondern auch von Galens eigenem Beitrag auf dem Gebiet der Pharmakotherapie hervorrufen. So vertritt der Verf. die Ansicht, der Pergamener wolle in den Abhandlungen De compositione medicamentorum secundum locos, De compositione medicamentorum per genera und De antidotis vor allem die in den von ihm exzerpierten Rezepten überlieferte Erfahrung früherer Ärzte zu Worte | kommen lassen, während seine eigene demgegenüber „unbedeutend“ sei und nur „in Ausnahmefällen“ ins Feld geführt werde (vgl. S. 40 und 51). Aber bereits ein flüchtiger Blick in diese Schriften lehrt, daß es Galen hier ebenso wie in seinen anderen vergleichbaren medizinischen Werken nicht so sehr darum ging, in der Tradition für gut befundene Heilmittel an die Nachwelt weiterzugeben, sondern vielmehr darum, das überlieferte Rezeptgut mit Hilfe der von ihm entwickelten Theorien von der Wirkungsweise der Pharmaka kritisch zu analysieren und die von ihm in der ärztlichen Praxis bei der Anwendung eben dieser Mittel gewonnenen positiven wie negativen Erfahrungen mitzuteilen. Daß Galen aus diesem Grunde geradezu gezwungen war, die Rezepte in ihrem vollen Wortlaut zu zitieren, liegt auf der Hand, ebenso aber auch, daß die in den Rezepten überlieferte Erfahrung für ihn viel weniger wichtig war als seine eigene, die sich in seiner kritischen Beurteilung der tradierten Pharmaka allenthalben kundtut. Die Unterschätzung der Rolle, die Galens eigene Erfahrung auf dem Gebiet der Pharmakotherapie bei seiner Behandlung der zusammengesetzten Heilmittel spielt, hat weiterhin dazu geführt, daß in dem „Verzeichnis der Exzerpte“ im IV. Kapitel des Buches die Rezepte, die aus Galens eigener Praxis stammen, von F. bei weitem nicht vollständig angeführt werden, so daß der Leser auch hier wieder ein falsches Bild von den tatsächlichen Gegebenheiten bekommt. Das trifft für alle drei behandelten Schriften zu, wie folgende Auswahl fehlender Stellen zeigt: De comp. med. sec. loc. I 2 (XII 429,11–15 K.); I 3 (XII 440,10–441,13 K.); II 1 (XII 513,4–6 K.); II 2 (XII 590,11–18 K.); De comp. med. per gen. I 5–8 (XIII 396,6–405,14 K.); I 14 (XIII 423,15–425,15 K.); De antid. I 9 (XIV 50,1–51,6 K.). Von der Stelle De comp. med. sec. loc. II 3 (XII 595,1–596,5 K.) gehört nur die Rezeptangabe 595,1–4 dem Lehrer Galens (dessen Herkunftsbezeichnung Περγαμηνεύς ist von F. erschlossen worden, die Angabe τοῦ ἡμετέρου τοῦ Περγαμηνοῦ bezieht sich auf das zuvor als Ingredienz genannte μέλαν γραφικόν [vgl. 596,1], das Galen nach dem Vorbild seines Lehrers verwendet hat), der Rest gibt Galens eigene Erfahrung wieder (das zweimalige λέλεκται bezieht sich auf Galens eigene Ausführungen, z.B. De comp. med. per gen. III 4: XIII 620,7–621,1 K.). Daß F. überdies auch nicht über eine ausreichende Kenntnis der Galenliteratur im weiteren Sinne verfügt, lassen z.B. seine Ausführungen über die lateinischen Übersetzungen der drei behandelten Galenschriften (S. 34f.) erkennen. Die Frage, „wie sich der lateinische Text bei Kühn zu den früheren Übersetzungen … (verhält)“, hätte ohne größere Schwierigkeit auf Grund des vorhandenen Materials eindeutig beantwortet werden können, da Chartier, aus dessen Ausgabe Kühn neben dem griechischen Text auch die lateinische Übersetzung abgedruckt hat, wie ein kurzer Vergleich zeigt, jeweils in den Anmerkungen zu den drei Abhandlungen über die Herkunft der latei-
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nischen Übersetzung Auskunft gibt. Die Vermutungen von F., daß der Übersetzung der Schrift De comp. med. sec. loc. die von Ianus Cornarius und der von De comp. med. per gen. die von Joh. Guinther von Andernach zugrunde liegen, finden dort ihre Bestätigung1. Für De antid. dagegen hat Chartier nach seinen eigenen Ausfüh|rungen2 aus den Übersetzungen dieser Schrift von Jul. Mart. Rota und Joh. Guinther von Andernach unter Hinzuziehung einer Pariser griechischen Handschrift für den Druck selbst eine verbesserte dritte Version hergestellt, so daß die Angabe von F. zu dieser Schrift in diesem Sinne korrigiert werden muß. Wenig befriedigend ist auch die Darstellung von Leben und Werk der bei Galen zitierten Pharmakologen im VI. Kapitel. Wie bei der Besprechung der RealencyclopädieArtikel über die exzerpierten Autoren im V II. Abschnitt (S. 226–228) deutet F. auch hier die Problematik vielfach nur an, die die Identifizierung und Datierung der Autoren, deren Schriften verlorengegangen sind, und die Rekonstruktion ihrer Werke mit sich bringen. Er überläßt es den Medizinhistorikern, unter Berücksichtigung des von ihm erschlossenen Materials die mit den einzelnen Personen verbundenen Fragestellungen neu zu überdenken und zu abschließenden Ergebnissen zu kommen – eine Aufgabe, deren Lösung man noch am ehesten von F. selbst erwartet hätte. Der Grund hierfür dürfte wiederum in der mangelnden Vertrautheit des Verfs mit der Materie zu suchen sein. Nur so ist es zu erklären, wenn F. z.B. S. 181 mit Hinweis auf De comp. med. sec. loc. III 1 (XII 611,17 K.) unter den gesicherten Daten anführt, Galen habe den Herophileer Apollonios, dessen Lebenszeit der Verf. in das 1. Jahrh. v.u.Z. setzt, zu den παλαιότεροι gerechnet. Hier hätte die Stelle De comp. med. sec. loc. II 1 (XII 501,11 K.) zu denken geben müssen, an der Galen davon spricht, daß es ihm auch in diesem Zusammenhang genüge, die Rezepte der „jüngeren Ärzte“ anzuführen, und die Reihe der folgenden Exzerpte mit Apollonios eröffnet (XII 502,4ff. K.), womit eindeutig bewiesen ist, daß dieser Arzt nach Ansicht des Pergameners zu den jüngeren Ärzten gehört. Betrachtet man die von F. beigebrachte Stelle unter dieser Voraussetzung, so zeigt sich, daß παλαιότεροι hier nicht absolut gefaßt werden darf, diese Formulierung bedeutet lediglich, daß Galen seine Darstellung der Mittel gegen Ohrenschmerzen mit den älteren unter den jüngeren Ärzten beginnen will, zu denen Apollonios – verglichen mit Archigenes und dem jüngeren Andromachos – durchaus zu rechnen ist, und diesen Vorsatz auch realisiert, wie die folgende Sammlung von Exzerpten beweist. Abschließend sei noch angemerkt, daß es bei einem so betont philologisch ausgerichteten Buch wie dem vorliegenden wünschenswert gewesen wäre, wenn die den griechischen Zitaten beigegebene deutsche Übersetzung dem griechischen Wortlaut enger gefolgt wäre, da eine allzu freie Wiedergabe leicht falsche oder zumindest ungenaue Vorstellungen hervorrufen kann. Beispielsweise gibt die Übersetzung von ἱστορία mit „Literatur“ (so z.B. mehrmals S. 49) von dem griechischen Begriff, der auch an den hier ausgehobenen Stellen sowohl mündliche wie schriftliche Überlieferung bedeutet, nur einen Aspekt wieder. Noch störender wirkt sich die Ungenauigkeit in der Übersetzung bei den Doppelzitaten aus, wo die deutsche Übertragung nur 1
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Vgl. R. Chartier, Opera Hippocratis Coi et Galeni Pergameni …, griech. und lat. hrsg., Bd 13, Paris 1679, S. 1018 und 1020. Ebd., S. 1021.
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ungenügend über den tatsächlichen Umfang der Abweichungen in diesen Zitaten unterrichtet, so daß es dem des Griechischen unkundigen Leser verwehrt bleibt, sich ein eigenes Urteil in dieser Frage zu bilden: S. 103 oben rechte Sp. lies „1 Pfund Teer“ gegenüber „2 Pfund Teer“ linke Sp. und „6 Unzen Faseralaun“ | gegenüber „6 Unzen Alaun“ linke Sp. Zu der Übersetzung S. 104 oben seien folgende Abweichungen in den beiden Paralleltexten notiert: „er beseitigt“ ~ „du wirst lösen“; „der wilden Gurke“ ~ „der Gurke“. Weiterhin fehlen S. 115 oben zu „Fabulla“ der Zusatz „aus Libyen“ (so der griechische Text rechte Sp.) und S. 116 die Variantenangabe in dem ersten Zitat (linke Sp.: „andere aber 2 Drachmen“) sowie die unterschiedlichen Mengenangaben in dem vierten Zitat („8 Drachmen“ linke Sp. ~ „5 sc. Drachmen“ rechte Sp.). Wenn nun auch vieles an dem Buch von F., das durch sieben Indizes erschlossen wird (das Sachregister ist in Anbetracht der Vielschichtigkeit des Bandes allerdings viel zu kurz geraten, um ein echtes Hilfsmittel darstellen zu können), wenig befriedigend erscheint, so bleibt doch sein Wert in bezug auf die Aussagen über Art und Umfang der Exzerpte unbestritten, und es wird als Nachschlagewerk so lange unentbehrlich sein, bis die kritische Ausgabe der pharmakologischen Schriften Galens vorliegt, in der das Exzerptmaterial auf gesicherter handschriftlicher Grundlage aufbereitet und damit zum erstenmal in verbindlicher Form zugänglich gemacht sein wird.
Galeno, La dieta dimagrante. Edizione critica del testo e della versione latina, traduzione e commento a cura di N. Marinone, Turin u.a. 1973 (Historica – Politica – Philosophica. Il pensiero antico – Studi e testi 5)*
Zu den medizinischen Fachgebieten, denen der Arzt Galen von Pergamon (129 bis um 200 n.Chr.) in seinem umfangreichen Schrifttum breiten Raum gewährt, gehört auch die Diätetik. Sie gilt als der älteste Teil der wissenschaftlichen griechischen Medizin, in dessen Aufgabenbereich nicht nur die Verordnung einer Krankendiät und physiotherapeutischer Maßnahmen fiel, sondern ebenso auch die Regelung der täglichen Lebensweise für die Gesunden, um sie vor Krankheiten zu schützen. Der Diätetik in ihrer Eigenschaft als Gesundheitsprophylaxe hat Galen große Bedeutung beigemessen. Er hat sie neben der Therapie als zweiten konstitutiven Bestandteil der Medizin bezeichnet und ihr sogar eine Vorrangstellung gegenüber der Therapie eingeräumt, da es ihm wichtiger erschien, die Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu heilen. Bei der hohen Wertschätzung der Diätetik ist es verständlich, daß Galen diesem Thema mehrere Schriften gewidmet hat. Zu ihnen gehören die Abhandlungen über die Erhaltung der Gesundheit, das Werk, in dem der Pergamener sein System der Gesundheitsprophylaxe entwickelt hat, die Schriften Über die Kräfte der Nahrungsmittel, Über die guten und schlechten Säfte, Über den Gerstenschleim und schließlich auch die kleine Abhandlung Über die säfteverdünnende Diät, deren Edition den Gegenstand des vorliegenden Bandes bildet. In dieser Schrift werden die wichtigsten pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel einschließlich Honig, Wein und Milch speziell auf ihre Wirkung auf die Körpersäfte hin untersucht. Dabei beschränkt sich Galen jedoch nicht nur auf die Mitteilung der Nahrungsmittel mit säfteverdünnender Wirkung, sondern geht auch auf solche mit verdickender Wirkung ein, da er es für nützlich hält, daß der Benutzer seiner Schrift zugleich auch erfährt, welche Nahrungsmittel er auf jeden Fall zu vermeiden hat, wenn er eine die Körpersäfte verdünnende Diät verabreichen will. M. behandelt in der Einleitung zu seiner Ausgabe zunächst die mit der Schrift verbundenen literarhistorischen Probleme. Hinsichtlich ihrer Datierung schließt er sich der geltenden Meinung an, daß sie um 170 n.Chr. geschrieben sein müsse (2). Die auf Grund der inhaltlichen Analyse der Abhandlung, die deutlich macht, daß der Text mehrfach Wiederholungen und Exkurse enthält, vom Hrsg. in diesem Zusammenhang weiterhin geäußerte Ansicht, es handele sich bei diesem Traktat um eine – möglicherweise stenographisch festgehaltene – Vorlesungsnachschrift (6), ist allerdings kaum überzeugend. Denn Exkurse und Wiederholungen – in der Regel freilich nur scheinbare Wiederholungen, da der gleiche Tatbestand meist unter verschiedenen Aspekten betrachtet wird – gehören zu den alltäglichen Erscheinungen in der Schrift* Erschienen in: Gnomon 47, 1975, S. 206–208.
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stellerei Galens, so daß sie schwerlich dazu geeignet sind, als Beweis für den besonderen Charakter einer bestimmten Schrift zu dienen. | Der zweite Teil der Einleitung ist der Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung zu der Abhandlung Über die säfteverdünnende Diät gewidmet. Die Textgrundlage der vorliegenden Edition ist gegenüber der letzten kritischen Ausgabe dieser Schrift von K. Kalbfleisch1 im wesentlichen unverändert geblieben. Für den griechischen Text steht nach wie vor nur der Codex Paris. suppl. gr. 634 als codex unicus zur Verfügung. Um so wertvoller ist das Zeugnis zweier lateinischer Übersetzungen, die einen heute nicht mehr greifbaren griechischen Überlieferungszweig repräsentieren. Eine von ihnen stammt von dem namhaften Galenübersetzer Nicolaus von Rhegium aus der 1. Hälfte des 14. Jh., und die zweite erschien 1490 in der von Diomedes Bonardus besorgten lateinischen Galenausgabe. Über die von Kalbfleisch benutzten vier Hss. mit dem Text der Nicolausübersetzung2 hinaus hat M. noch einen weiteren, erst nach Erscheinen der Ausgabe von Kalbfleisch als Textzeuge der vorliegenden Schrift bekannt gewordenen Kodex, den Palat. lat. 1211, herangezogen. Dieser ermöglichte es ihm unter anderem, das Urteil von Kalbfleisch/John über das Verhältnis der unter dem Namen des Diomedes gehenden Übersetzung zu der des Nicolaus zu revidieren und nachzuweisen, daß der in der Ausgabe von Diomedes erschienenen lateinischen Version eine Übersetzung zugrunde liegt, die unabhängig von der des Nicolaus entstanden ist, und daß diese beiden selbständigen Übersetzungen nach zwei verschiedenen griechischen Vorlagen, die allerdings auf einen gemeinsamen Archetypus zurückgehen, gefertigt wurden. Für die Textherstellung hat das insofern Konsequenzen, als nunmehr in Zweifelsfällen die Übereinstimmung von Nicolaus und Diomedes gegenüber der erhaltenen griechischen Überlieferung an Wert gewinnt, auch wenn man sich, wie der Hrsg. mit Recht vermerkt (39), bei einer durch Rückübersetzung aus dem Lateinischen gewonnenen griechischen Lesart stets ihres konjekturalen Charakters bewußt sein muß. Die konkreten Auswirkungen, die sich aus dieser neugewonnenen Erkenntnis auf die Textgestaltung ergaben, sind jedoch weniger zahlreich als man zunächst glauben möchte. In den meisten Fällen handelt es sich zudem um solche Stellen, an denen bereits Kalbfleisch im kritischen Apparat seiner Ausgabe entsprechende Verbesserungen des griechischen Textes nach der Nicolausübersetzung vorgeschlagen hatte. Während M. auch sonst in der Regel den Emendationen von Kalbfleisch folgt, ist er mit eigenen Korrekturen sehr zurückhaltend. In diesem Zusammenhang sei noch vermerkt, daß die fünf durchaus erwägenswerten Emendationsvorschläge zum Text von De vict. att. von A. Wifstrand,3 einem hervorragenden Kenner der Galenischen Sprache, in der vorliegenden Edition bedauerlicherweise unberücksichtigt geblieben sind.
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Corpus Medicorum Graecorum V 4,2, Leipzig und Berlin 1923, 433–451. Die Hs. Dresdensis Db 92, die auf den Folia 309–312 die Übersetzung von De vict. att. enthält, wurde im 2. Weltkrieg durch Wasserschaden zerstört, so daß M. im Falle dieses Kodex auf die entsprechenden Angaben bei Kalbfleisch angewiesen war. Siehe A. Wifstrand, Eikota. Emendationen und Interpretationen zu griechischen Prosaikern der Kaiserzeit V III. Galenos zum dritten Mal (Scripta minora Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis, Studier utg. av Kungl. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Lund, 1962–1963,3), Lund (1964), 55f.
Galeno, La dieta dimagrante, ed. Marinone
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Das Verständnis des griechischen Textes wird wesentlich gefördert durch die italienische Übersetzung, die flüssig geschrieben ist, ohne sich jedoch unnötig weit von dem Wortlaut des griechischen Originals zu entfernen, und ebenso durch die erläuternden Anmerkungen, die im allgemeinen die Erklärung und die nicht immer ganz leichte Identifizierung der von Galen angeführten Pflanzen und Tiere oder auch geographischer Begriffe zum Inhalt haben, sich bisweilen aber auch lediglich auf die Anführung von Parallelstellen in anderen Schriften Galens beschränken. Besonders zu begrüßen ist es, daß M. im Anschluß an den griechischen Text auch von der lateinischen Übersetzung des Nicolaus von Rhegium eine kritische Edition vorgelegt hat, in der die abweichenden Lesarten der Übersetzung des Diomedes jeweils unter der Zeile notiert sind. Sie | bietet Außenstehenden die seltene Gelegenheit, die lateinische Übersetzung als Ganzes mit dem griechischen Text zu vergleichen, und ermöglicht es auf diese Weise, tiefer in die Übersetzungstechnik des Nicolaus einzudringen, was umso wichtiger ist, als es sich bei seinen Versionen um möglichst wortgetreue Übersetzungen handelt, die nicht nur von hohem textkritischem Wert sind, sondern bisweilen auch als Ersatz für verlorengegangene griechische Originale dienen müssen. Eine nicht ganz vollständige Zusammenstellung4 der Verweise auf die Schrift Über die säfteverdünnende Diät in anderen Werken Galens, eine Sammlung der mehr oder weniger wörtlichen Zitate aus De vict. att. in den Aphorismen des Moses Maimonides und 6 Register beschließen den vom Inhalt wie von der Ausstattung gleichermaßen gelungenen Band.
4
Nachgetragen seien De san. tuend. V 6,10: CMG V 4,2, S. 147,25 und De simpl. med. temp. et fac. V 23: XI 778,6f. Kühn.
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J. Bertier, Mnésithée et Dieuchès, Leiden 1972 (Philosophia Antiqua 20)*
Das größte Problem, vor das sich die Erforschung und Darstellung der antiken Medizingeschichte gestellt sieht, ergibt sich aus der Tatsache, daß uns von den medizinischen Werken der griechischen Ärzte aus der nachhippokratischen und hellenistischen Zeit mit Ausnahme des von Apollonios von Kition (um 60 v.Chr.) verfaßten Kommentars zu der hippokratischen Schrift Über das Einrenken der Gelenke und der wenigen Texte, die nachträglich in das Corpus Hippocraticum gelangten, nicht eine einzige Schrift vollständig überliefert worden ist. Was uns geblieben ist, sind die Namen von Ärzten, deren Zahl sogar erstaunlich groß ist, bisweilen auch die Titel der mit diesen Namen verbundenen Abhandlungen und bestenfalls mehr oder weniger umfangreiche Zitate aus den verlorengegangenen Werken bei späteren Autoren, die es ermöglichen, die medizinischen Lehren dieser Periode wenigstens andeutungsweise zu rekonstruieren und in das Gesamtgefüge der antiken Medizin einzuordnen. Damit stehen wir jedoch bereits vor einer neuen Schwierigkeit, nämlich der Sammlung dieser Fragmente, die eine unabdingbare Voraussetzung für die Arbeit mit ihnen darstellt. Sie ist deshalb so schwierig, weil die medizinischen Texte, in denen sich naturgemäß die Mehrzahl der Bruchstücke aus den Schriften früherer Ärzte findet, bislang nur zu einem | geringen Teil in textkritischen und mit zuverlässigen Indizes versehenen Editionen vorliegen, welche uns den Bestand und den Wortlaut der in ihnen enthaltenen Zitate in gesicherter Form zugänglich machen. Das heißt, daß alle Fragmentsammlungen griechischer Ärzte, die bisher erschienen sind oder erscheinen werden, vorläufigen Charakter tragen, solange noch nicht alle vollständig erhaltenen medizinischen Texte, die als mögliche Quellen in Frage kommen, kritisch ediert sind.1 Dieser Tatbestand trifft auch für den vorliegenden Band zu, wo z.B. S. 151 unter den für Mnesitheos überlieferten Schriftentiteln die aus den pseudogalenischen Definitiones medicae angeführte Titelangabe ἐν τῷ Παθολογικῷ gestrichen werden muß, da es sich bei der Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung für eine von mir vorbereitete Ausgabe der Def. med. herausgestellt hat, daß die Worte ἐν τῷ παθολογικῷ als Schriftentitel hinter dem Namen des Mnesitheos ein eigenmächtiger Zusatz des Galenherausgebers René Chartier sind (sie müssen deshalb auch im Text von Mnesitheos Fr. 12, Z. 6 getilgt werden).
* Erschienen in: Gnomon 47, 1975, S. 439–442. 1
Das bestätigen z.B. die Nachträge zu den Empirikerfragmenten in der 2. Aufl. von K. Deichgräber, Die griechische Empirikerschule. Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, um Zusätze vermehrter anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1930, Berlin u. Zürich 1965.
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Bertier, Mnésithée et Dieuchès
Das alles ändert freilich nichts an der Tatsache, daß jeder, der sich mit der antiken Medizingeschichte beschäftigt, die wenigen vorhandenen Sammlungen der Fragmente aus dieser Periode2 als unentbehrliches Hilfsmittel bei seiner Arbeit schätzen gelernt hat. Ihnen gesellt sich nunmehr das Buch von B. über die Ärzte Mnesitheos und Dieuches von Athen hinzu, in dem das Hauptgewicht – der Ergiebigkeit der überlieferten Texte entsprechend – auf Mnesitheos ruht. Obwohl die Mnesitheosfragmente bereits in der unten in Anm. 2 genannten Arbeit von H. Hohenstein gesammelt vorliegen, wird man die neuerliche Sammlung der Fragmente und Testimonien dieses Arztes, denen die des Dieuches angefügt sind, aus mehreren Gründen als wertvolle Ergänzung begrüßen. Zunächst sei festgestellt, daß von B. die Zahl der bisher bekannten Fragmente und Testimonien, deren Anordnung aus sachlichen Erwägungen heraus gegenüber der bei Hohenstein leicht verändert wurde, um weitere vier vermehrt werden konnte und daß dem griechischen Text neben kurzen Erläuterungen (abgesehen von wenigen sachlichen Erklärungen handelt es sich dabei nur um eine Zusammenstellung von Similien) eine französische Übersetzung beigegeben wurde, so daß die erhaltenen Textstücke aus den Werken des Mnesitheos ebenso wie aus denen des Dieuches jetzt auch dem Wissenschaftshistoriker zugänglich sind, der des Griechischen nicht mächtig ist. Ein weiterer Vorteil besteht darin, daß auch die umfangreicheren Bruchstücke aus den Schriften Galens und des Oreibasios, die in der Reihe Corpus Medicorum Graecorum in neueren textkritischen Ausgaben vorliegen, im Unterschied zu Hohensteins | Sammlung in der von B. vollständig und mit dem jeweiligen kritischen Apparat abgedruckt wurden, was die Benutzung dieser Texte wesentlich erleichtert. Diese Vorteile werden allerdings dadurch wieder weitgehend in Frage gestellt, daß die griechischen Textpartien – das gilt auch für die griechischen Zitate in den Anmerkungen der Einleitung und in den Erläuterungen zum Text sowie für die griechischen Wortindizes am Schluß des Bandes3 – außergewöhnlich viele Druckfehler enthalten (sie reichen von Akzentfehlern über falsche Wortformen bis hin zu Wortauslassungen), so daß jeder, der diese Texte benutzt, gut beraten ist, wenn er sie zuvor mit den jeweiligen Fundstellen sorgfältig vergleicht.4 Auch die französische Übersetzung ist nicht immer so genau, wie man es sich besonders im Hinblick auf die Leser des Buches gewünscht hätte, die nicht mit dem griechischen Text arbeiten können. So wird z.B. Dieuches Fr. 18, Z. 2 ἐξαιθριάζειν mit „exposer à l'air et au soleil“ übersetzt, während das gleiche Wort Z. 9 und 11 korrekter nur mit „exposer à l'air“ wiedergegeben wird. Zu Z. 15 desselben Fragments fehlt in einer Aufzählung von verschiedenen Ingredien2
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M. Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Ärzte Akron, Philistion und des Diokles von Karystos, Fragmentsammlung der griechischen Ärzte, Bd. 1, Berlin 1901; Deichgräber a. O.; H. Hohenstein, Der Arzt Mnesitheos aus Athen (Mit einer Sammlung der Fragmente), Diss. Berlin, Jena 1935; F. Steckerl, The Fragments of Praxagoras of Cos and his School, Leiden 1958 (Philosophia Antiqua, Bd. 8). Zum Wortindex zu den Mnesitheosfragmenten sei noch vermerkt, daß sämtliche Zeilenzahlen der Fragmente 11 und 17 um eine Zeile nach oben verschoben sind. Wenn man in Betracht zieht, daß K. Schubring in seiner Besprechung der Fragmentsammlung von F. Steckerl (s. oben, Anm. 2), die in der gleichen Schriftenreihe erschienen ist wie der vorliegende Band, ebenfalls auf eine auffällig große Zahl von Druckfehlern hingewiesen hat (s. DLZ 82, 1961, Sp. 257), wird man diesen bedauerlichen Tatbestand vielleicht nicht nur der Verf., sondern ebenso auch den Herausgebern der Reihe und dem Verlag anzulasten haben.
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zien die Übersetzung von καὶ ῥητίνης, ebenso Dieuches Fr. 15, Z. 111 die Wiedergabe von μείζονι τοῦ ὄγκου. Noch störender ist es freilich, wenn in der Übersetzung eines Testimoniums (Mnesitheos Fr. 3, Z. 1), in dem Mnesitheos neben mehreren anderen Ärzten genannt wird, ausgerechnet sein Name, auf den allein es hier ankommt, ausgelassen wird. Den wichtigsten Teil des Buches stellt zweifellos die knapp 150 Seiten umfassende Einleitung dar, in der an Hand einer äußerst subtilen Interpretation aller zur Verfügung stehenden Quellen und Zeugnisse versucht wird, die medizinischen Lehren des Mnesitheos, soweit es die erhaltenen Fragmente, bei denen es sich vorwiegend um diätetische Texte handelt, zulassen, zu rekonstruieren und ihr Verhältnis zu anderen medizinischen Theorien zu bestimmen, um auf diese Weise möglichst genaue Anhaltspunkte für eine adäquate Beurteilung der Leistung dieses Arztes zu gewinnen. Denn diese war in Frage gestellt, seit W. Jaeger in Mnesitheos einen bloßen Nachfolger des Diokles von Karystos gesehen hat und daraufhin dessen Lebenszeit entsprechend seiner Datierung des Karystiers (Ende 4./Anfang 3. Jh. v.Chr.) frühestens um 300 ansetzen konnte.5 Wenn man der zum Teil recht weitschweifigen Beweisführung der Verf. auch nicht in allen Einzelheiten zu folgen vermag, so ist doch die Gesamtdarstellung einerseits so vorsichtig abwägend und andererseits nach allen Seiten hin so weitgehend abgesichert, daß es nunmehr als verbindlich gelten kann, daß Mnesitheos bestimmte Aspekte der hippokratischen Medizin in kritischer Auseinandersetzung weiterentwickelt und als erster den Versuch unternommen hat, medizinische Theorien mit Hilfe der | diairetischen Methode Platons zu systematisieren;6 daß weiterhin die Abweichungen in den konkreten Details seiner Diätetik von vergleichbaren Äußerungen des Aristoteles so groß sind, daß eine direkte Abhängigkeit weder in der einen noch in der anderen Richtung nachgewiesen werden kann; daß aber andererseits die inhaltlichen Beziehungen zwischen den Schriften des Mnesitheos und den Ausführungen Platons in den „Gesetzen“ über Weingenuß und Säuglingspflege augenfällig genug sind, um die Vermutung nahelegen zu können, daß die entsprechenden Texte des Mnesitheos die erste Auseinandersetzung von medizinischer Seite mit den Theorien des Philosophen Platon sind. Diese Ergebnisse entsprechen voll und ganz der hohen Wertschätzung, die Mnesitheos die ganze Antike hindurch bei seinen Fachkollegen genossen hat, und bestätigen die Datierung dieses Arztes etwa um die Mitte des 4. Jh. oder wenig später, die vor Jaegers zeitlichem Neuansatz bereits als gesichert angesehen wurde7 und auch durch antike Zeugnisse gestützt wird. Und zwar sind dies ein Weihrelief des Asklepios aus dem 4. Jh., auf dem sowohl der Name des Mnesitheos wie der des Dieuches erscheinen, und die namentliche Erwähnung des Lykiskos als des Adressaten von Mnesitheos' Schrift über die Säuglingspflege, der für das Jahr 344/43 als Archon in Athen bezeugt ist. 5
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Siehe W. Jaeger, Diokles von Karystos. Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles, Berlin 1938 (Nachdr. Berlin 1963), S. 226. Zu diesem Problem wird uns von der Verf. noch eine spezielle Untersuchung im Rahmen einer Arbeit über die Alte Akademie in Aussicht gestellt (s. S. 145). Siehe K. Deichgräber, Art. „Mnesitheos“ (Nr. 3), in: RE, Bd. XV, hrsg. v. G. Wissowa u. W. Kroll, Stuttgart 1932, Sp. 2281, und Hohenstein a. O., S. 7.
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Die Tatsache, daß aus dem Werk des Dieuches ausschließlich Anweisungen zur Zubereitung der Krankendiät erhalten sind, macht es verständlich, daß die Verf. auf eine ausführliche Behandlung der Leistung dieses Arztes verzichten mußte. Sie hat sich damit begnügt, auf wenigen Seiten nachzuweisen, daß Dieuches, der etwa der gleichen Zeit angehört wie Mnesitheos, ähnlich wie dieser auf dem speziellen Gebiet der Krankendiät die hippokratische Tradition unter Verwendung deutlich erkennbarer systematisierender Tendenzen fortgesetzt hat.
H. Grensemann, Knidische Medizin, Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum, Ars Medica II 4,1, Berlin u. New York 1975*
Bereits seit langem herrscht in der Hippokratesforschung Einmütigkeit darüber, daß in der mit dem Namen des koischen Arztes Hippokrates verbundenen Schriftensammlung auch Lehrgut der Ärzteschule von Knidos enthalten ist, die der von Kos geographisch benachbart war. Umstritten ist jedoch nach wie vor die Frage, ob bestimmte Schriften des Corpus Hippocraticum (CH) der knidischen Schule zugewiesen werden können. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen, daß es zu diesem Problem so viele verschiedene Meinungen gibt, wie Stimmen dazu laut geworden sind (s. S. 72–79). Das hat seinen Grund darin, daß uns von den Schriften der knidischen Ärzte nicht eine einzige als knidisch überliefert ist und sich auch sonst nur spärliche, z.T. sogar widersprüchliche Nachrichten über die Lehren der knidischen Medizin bei den antiken Autoren finden, so daß es, will man der Überlieferung nicht Gewalt antun, kaum konkrete Anhaltspunkte gibt, die es ermöglichen, das Lehrgut der Knidier in seiner Besonderheit zu fassen und in dem im CH erhaltenen Schrifttum zu verifizieren. Es ist das Anliegen der von H. Grensemann vorgelegten Arbeit, durch eine subtile Textanalyse der als knidisch geltenden gynäkologischen und nosologischen Schriften des CH eine solidere Basis für eine „systematische Darstellung“ der medizinischen Lehren der knidischen Ärzte zu schaffen, als sie bisher gegeben war (S. V IIf.). Drei weitere Bände mit kritischen Ausgaben der hier untersuch|ten Texte und mit Kommentaren dazu will der Verf. folgen lassen (S. VIII). Dem jetzt veröffentlichten I. Teil seiner Untersuchungen hat G. in Kap. A (S. 1–45) zum ersten Mal eine vollständige Sammlung der Testimonien und Fragmente zur Ärzteschule von Knidos vorangestellt. Das Material dafür war ihm von Karl Deichgräber, der es ursprünglich selbst hatte publizieren wollen, zur freien Verfügung überlassen worden. Den antiken Textstücken wurden jeweils eine deutsche Übersetzung und erklärende Anmerkungen hinzugefügt. Im zweiten Kapitel (S. 46–79) kommt es dem Verf. vor allem darauf an, über die Testimonien und Fragmente hinaus Kriterien zu gewinnen, die Aussagen über eine möglichst frühe Stufe der knidischen Medizin ermöglichen und den Ausgangspunkt für die Textanalysen darstellen sollen, die als drittes Kapitel den Hauptteil des Buches (S. 80–217) ausmachen. Ausführliche Stellen-, Wort- sowie Sach- und Namenindizes beschließen den Band. Im zweiten Abschnitt der Arbeit, dessen Hauptanliegen es ist, im Hinblick auf die im dritten Kapitel folgende Textanalyse deutlich zu machen, wie wir uns Form und Inhalt der frühen medizinischen Schriftstellerei der Knidier vorzustellen haben, leidet * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 97, 1976, Sp. 408–412.
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Grensemann, Knidische Medizin, Teil I
die Beweisführung besonders darunter, daß sich die zur knidischen Schule überlieferten antiken Nachrichten, die zugestandenermaßen keine befriedigende Auskunft über das Wesen dieser Ärzteschule zu geben vermögen (s. S. 50), bei näherem Betrachten auch als unzureichend erweisen, um als gesicherte Basis für das Vorgehen des Verfs zu dienen, bestimmte Textpartien aus dem CH mit den „Knidischen Sentenzen“, der ältesten uns dem Titel nach bekannten medizinischen Schrift aus der knidischen Schule, zu identifizieren und, von dieser Identifikation ausgehend, Aussagen über den Charakter der frühen knidischen Medizin zu machen. So hat G.s Überlegung, daß die knidische Medizin als ein Teil der ältesten wissenschaftlichen Heilkunde der Griechen – aufgrund der Tatsache, daß die Knidier mit den Ländern des Vorderen Orients ausgedehnte Handelsbeziehungen unterhielten und nach der Eroberung der Stadt Knidos durch die Perser um die Mitte des 6. Jh. v.u.Z. sogar in unmittelbare Berührung mit diesen Völkern kamen – auch in ihrem Zusammenhang mit der altorientalischen und speziell der ägyptischen Medizin gesehen werden muß (S. 46–50), zwar ihre volle Berechtigung. Wenn er jedoch behauptet, daß ihm „der Schritt von der ägyptischen zur knidischen Medizin kleiner zu sein (scheint) als der von der knidischen zur geographisch benachbarten koischen“ (S. 50), oder, anders ausgedrückt, daß im Verhältnis zu der von ihm als archaisch bezeichneten knidischen Medizin in Kos bzw. mit Hippokrates eine „völlig neue Denkart“ in der Medizin einsetzte (S. 53 und 201), so kann man ihm darin nicht mehr zustimmen, da er uns einen stichhaltigen Beweis für diese folgenschwere Behauptung schuldig bleibt und auch schuldig bleiben mußte. Denn von den schon genannten „Knidischen Sentenzen“, die spätestens in der ersten Hälfte des 5. Jh. v.u.Z. verfaßt worden sein dürften und somit eine frühe Stufe der wissenschaftlichen Medizin der Griechen repräsentieren könnten, sind lediglich zwei kurze wörtliche Zitate (Test. 13 und 14) erhalten, so daß nahezu jede Vergleichsmöglichkeit fehlt, die es erlauben würde, von einem scharfen Bruch zwischen der ägyptischen und frühen knidischen Medizin einerseits und der der koischen Ärzte andererseits zu sprechen. Dem steht vielmehr entgegen, wenn G. im Verlauf seiner weiteren Untersuchungen selbst feststellen muß, daß sich bereits in den von ihm als älteste knidische Schicht verifizierten Texten in Ansätzen bestimmte Elemente finden, die zu den wesentlichen Merkmalen der hippokratischen Medizin gehören: die Säftelehre (S. 186f. und 198), die genaue Beobachtung des Krankheitsverlaufs (S. 190), der Physisbegriff als Konstitutionsbegriff (S. 191f.) und die Wahl des richtigen Zeitpunkts in der Therapie (S. 192). Hinzu kommt, daß in eben diesen Texten im Unterschied zur ägyptischen Medizin für die Entstehung der Krankheiten in allen Fällen, in denen Aussagen zur Ätiologie gemacht werden, ausnahmslos natürliche Ursachen angegeben werden und ebenso in der Therapie magische und abergläubische Praktiken | konsequent gemieden sind. Man wird daher doch wohl mit Recht sagen dürfen, daß die neue Denkweise, die die griechische Medizin zur ersten wissenschaftlichen Medizin in der Geschichte der Menschheit machte und die sich u.a. darin äußerte, daß man die krankhaften Vorgänge im menschlichen Körper als natürliches Geschehen betrachtete, nach ihren Ursachen fragte und die Krankheiten mit rationalen Mitteln behandelte, daß diese neue Denkweise bereits in der knidischen Heilkunde, jedenfalls soweit sie für uns heute noch faßbar ist, beobachtet werden kann. Methodisch anfechtbar erscheinen auch die folgenden Ausführungen (S. 53–66), in denen es dem Verf. darum geht zu zeigen, wie wir uns eine einzelne knidische Sen-
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tenz nach Form und Inhalt vorzustellen haben, wovon er sich einen konkreten Anhaltspunkt dafür erhofft, welche Texte bzw. Textstücke im CH mit Sicherheit als knidisch bezeichnet werden können. Wie bereits gesagt wurde, sind von den „Knidischen Sentenzen“ nur zwei kurze Bruchstücke von 1½ und 2½ Zeilen wörtlich überliefert, die keinerlei Aussagen über Aufbau und Gesamtumfang auch nur einer einzelnen Sentenz zulassen, so daß letzten Endes zwei Kapitel aus den im CH enthaltenen Schriften Morb. II (Kap. 68) und Mul. II (Kap. 144 = Nat. Mul. 5) als Modell für die Rekonstruktion der knidischen Sentenzen dienen müssen, Texte, deren Herkunft aus den „Knidischen Sentenzen“ jedoch eigentlich erst zu beweisen war. Es sei in diesem Zusammenhang vor allem auf folgende Punkte hingewiesen: Erstens werden die beiden bei Galen und Soran überlieferten Paralleltexte (Test. 15 und 31), die G. auf die genannten Kapitel aus Morb. II und Mul. II hinführten, von diesen Autoren nicht als Zitate aus den „Knidischen Sentenzen“ gebracht; sie sind vielmehr jeweils mit dem Namen des Euryphon verbunden, von dem Galen zwar angibt, daß ihm die „Knidischen Sentenzen“ zugeschrieben werden (Test. 13), womit aber doch keineswegs gesagt ist, daß allen direkten oder indirekten Bezugnahmen auf Ausführungen von Euryphon eben diese ihm zugesprochenen Sentenzen zugrunde liegen (so G. S. 65). Nach Ansicht der Rezn ist auch dem Test. 12 nicht unbedingt zu entnehmen, daß Galen noch ein Exemplar von den mit Euryphons Namen verbundenen „Knidischen Sentenzen“ in Händen gehabt haben müsse (S. 64f.). Denn trotz der Textverderbnis steht fest, daß Galen CMG V 9,1, S. 121,21f. im Unterschied zu seinen früheren Darlegungen (S. 117,11f.), in denen im Anschluß an den Hippokratestext von den Verfassern der „Knidischen Sentenzen“ die Rede ist, allgemein von den knidischen Ärzten spricht. Es kann daher der aus seinen Angaben wie „wiederum weiter unten“, „und wiederum noch weiter unten“ oder „und danach wiederum“ zu erschließenden Bezugnahme auf einen ihm vorliegenden Text ebensogut auch eine andere knidische Krankheitsschrift zugrunde gelegen haben1. Zweitens stimmen Test. 15 und 31 im Aufbau nicht überein: Das Euryphonzitat bei Galen besteht aus einer Symptombeschreibung, Soran dagegen nimmt auf eine bestimmte Behandlungsmethode des Euryphon Bezug. Es geht daher zumindest aus diesen beiden Testimonien nicht hervor, daß jede einzelne knidische Sentenz einem festgelegten Schema folgte und in jedem Falle die Komplexe Symptombeschreibung und Therapie enthielt. Daß das so gewesen sein muß, läßt sich m.E. auch nicht aus der Kritik herauslesen, die der Autor der Hippokratischen Schrift Acut. an den Verfassern der „Knidischen Sentenzen“ übt. Denn seine Bemerkungen zu Symptombeschreibung, Krankheitsverlauf und Therapie betreffen die Schrift als Ganzes, nicht aber den Aufbau einer einzelnen Sentenz. Drittens bieten Galens Formulierungen, mit denen er im Test. 15 die Symptombeschreibung des Bleichfiebers nach Euryphon und aus der Hippokratischen Schrift Morb. II miteinander verbindet, keinerlei Handhabe, davon zu sprechen, Galen habe die „Übereinstimmung“ zwischen diesen beiden Zitaten im Sinne der sprachlichen 1
Gegen eine direkte Benutzung der „Knidischen Sentenzen“ durch Galen spricht auch die offenkundige Durchbrechung des Anordnungsschemas a capite ad calcem, das z.B. S. 133 und 176 als Kennzeichen der frühen knidischen Schriften hervorgehoben wird, in Galens Vorlage aber nicht eingehalten war, wenn man mit G. annimmt, daß der Pergamener beim Zitieren in seiner Quelle „geblättert“ habe.
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Identität bemerkt (S. 54f.). Im Gegenteil, gerade die Formulierung „aber auch in der dem Hippokrates zugeschriebenen Schrift Über die Krankheiten“ beweist, daß es Galen hier darum ging, zwei in ihrer sachlichen Aussage zwar übereinstimmende, aber in ihrer Herkunft voneinander unabhängige Textzeug|nisse als Belege für die Richtigkeit seiner eigenen Ansichten beizubringen. Andernfalls hätten das Euryphonzitat und ein Hinweis darauf, daß derselbe Text auch bei Hippokrates nachzulesen ist, genügt. Da Galen es aber für notwendig befunden hat, beide Zitate als eigenständige Texte auszuheben, wäre es geradezu falsch, wollte man, wie G. es tut (S. 55), die m.E. nicht nur „geringen“ sprachlichen Abweichungen zwischen beiden als überlieferungsbedingt abtun und so eine Identität zweier Texte herstellen, die in der antiken Überlieferung ausdrücklich als zwei verschiedene Texte gekennzeichnet sind2. Da gezeigt werden konnte, daß die von G. beigebrachten Argumente keine gesicherten äußeren Anhaltspunkte für die Rekonstruktion einer knidischen Sentenz darstellen, wird man auch seine Schlußfolgerung, daß „in Morb. II 68 ein Kapitel enthalten (ist; gemeint ist: „erhalten ist“ – die Rezn), das in engster Beziehung zur ursprünglichen Form der Knidischen Sentenzen steht“ (S. 56) und somit eine eindeutige Bestimmung der Texte, die als knidisch zu gelten haben, erlaube, in Frage stellen müssen. Das bedeutet aber, daß man auch der im dritten Kapitel folgenden Textanalyse, deren Anliegen es ist, in den gynäkologischen und nosologischen Schriften des CH verschiedene Textschichten herauszuschälen und ihr Verhältnis zueinander zu untersuchen, insofern mit Vorsicht zu begegnen hat, als G. hier, wie aufgrund seiner vorausgehenden Argumentation zu erwarten war, von der These ausgeht, daß es in den beiden genannten Schriftenkomplexen Textstücke gibt, die die ursprüngliche Form einer knidischen Sentenz bewahrt haben und daher mit Sicherheit der knidischen Schule zuzuweisen sind. Man wird deshalb als wesentlichstes Ergebnis der vorliegenden Untersuchung festhalten dürfen, daß es dem Verf. gelungen ist, mit dem von ihm gewählten Verfahren der Schichtenscheidung, mit dem er ebenso wie J. Jouanna3 dem Vorbild von J. Jurk4 folgte, innere Widersprüche in den zur Debatte stehenden Texten auf überzeugende Art zu lösen, ihr Verhältnis zueinander genauer zu bestimmen und dadurch die Entwicklung der griechischen Medizin aus der Zeit des 5. und 4. Jh., der diese Schriften angehören, deutlicher werden zu lassen, als das bisher der Fall war. Denn seine eingehenden Textanalysen haben gezeigt, daß die Texte selbst – auch ohne den Umweg über die knidische Sentenz – in ausreichendem Maße sachliche und sprachliche Kriterien bieten, die es erlauben, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Fragmente und Testimonien zur knidischen Schule die knidische Herkunft bestimmter Lehrmeinungen und bestimmter therapeutischer Verordnungen kenntlich zu machen, innerhalb einer Schrift verschiedene Entwicklungsstufen repräsentierende Schichten voneinander abzugrenzen, Parallelentwicklungen in dem gynäkologischen und nosologischen 2
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Das Ergebnis der Bemühungen des Verfs, die Identität von Test. 31 und Mul. II 144 bzw. Nat. Mul. 5 nachzuweisen (S. 56–63), muß erst recht unsicher bleiben, da Soran nur auf die Ausführungen des Euryphon anspielt, ohne den genauen Wortlaut der betreffenden Passage mitzuteilen, sachliche Übereinstimmung allein aber, wie wir im Falle von Test. 15 gesehen haben, nicht ausreicht, um zwei Texte als identisch zu erweisen. Siehe J. Jouanna, Hippocrate. Pour une archéologie de l'école de Cnide, Paris 1974. Siehe J. Jurk, Ramenta Hippocratea, Phil. Diss. Berlin 1900, S. 12–42.
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Schrifttum des CH nachzuweisen und daraus in gewissem Umfang generelle Aussagen über die Entwicklung einzelner Vorstellungen der frühen griechischen Medizin, etwa der Humorallehre, der Ätiologie oder des Physisbegriffs, abzuleiten. Daß andererseits auch die Schichtenscheidung keine absolut sicheren Anhaltspunkte für die Zuordnung Hippokratischer Schriften zur knidischen oder koischen Schule ergibt, beweist zur Genüge die Tatsache, daß G. und J. Jouanna, die unabhängig voneinander diese Me|thode angewandt haben, in der Frage der Zuordnung wiederum zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt sind5.
5
So weisen nach G. (S. 214f.) z.B. die Schriften Morb. I und Aff. eindeutig nach Kos, während sie von Jouanna (a. a. O., bes. S. 261ff.) den knidischen Texten zugerechnet werden.
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W. D. Smith, The Hippocratic Tradition, Ithaca u. London 1979 (Cornell Publications in the History of Science)*
Angesichts der Tatsache, daß die Person und das Werk des Hippokrates für uns weitgehend im dunkeln liegen, sind die Erwähnungen dieses Arztes ebenso wie die nachweisbare Benutzung von Schriften aus dem Corpus Hippocraticum bei antiken Autoren für die Hippokratesforschung von größter Wichtigkeit und bereits wiederholt auf ihren Aussagegehalt hin überprüft worden. Es ist das Verdienst von Wesley D. Smith, diese „Hippokratestradition“, in die er die moderne Hippokratesforschung mit einbezieht, zum erstenmal zusammenhängend behandelt zu haben. S. folgt dabei dem Prinzip der umgekehrten Chronologie. So gibt er in Kapitel 1 einen, allerdings recht kursorischen, Überblick über die Hippokratesrezeption und Hippokratesforschung in der Neuzeit, dem er einen Abschnitt anfügt, in dem er den Versuch unternimmt, Hippokrates als Autor der Schrift De diaeta namhaft zu machen. Kapitel 2, das bei weitem umfänglichste des Buches, ist dem Hippokratismus Galens gewidmet, während im dritten und letzten Kapitel der Frage nachgegangen wird, welche Resonanz Hippokrates in der Zeit vom 5. Jh. bis zu Galen gefunden hat. Die Überlegung von S., daß man einen neuen Zugang zur hippokratischen Schriftensammlung finden kann, wenn man die Gründe und Umstände aufspürt, die zu den bei einzelnen Persönlichkeiten und in den verschiedenen Zeitabschnitten unterschiedlichsten Haltungen zu und Urteilen über Hippokrates geführt haben, die den Ausgangspunkt seiner Untersuchung darstellte, ist an sich völlig berechtigt. Zutreffende Feststellungen wie die, daß der Hippokratismus als Phänomen erst seit dem Auftreten der Empiriker zu beobachten ist (S. 182 u. 204–208) oder daß das Problem der Authentizität der hippokratischen Schriften erst zu Beginn des 2. Jh. im Zusammenhang mit den Hippokratesausgaben des Dioskurides und des Artemidoros Kapiton aufkam (S. 236–240), bestätigen die Fruchtbarkeit des von ihm gewählten methodologischen Ansatzes. Daß es S. mit seinem Buch aber gelungen wäre, das bisherige Hippokratesverständnis grundsätzlich in Frage zu stellen, wird man freilich nicht behaupten können, erscheinen doch seine Argumentation und Sicht der Dinge in vielen Punkten anfechtbar, zumal da man bei der Lektüre des Buches den Eindruck gewinnt, daß er nicht immer ganz unvoreingenommen an seine Quellen herangegangen ist. So war z.B. Galens Verhältnis zu Hippokrates wesentlich distanzierter, als S. es darstellt, der | die in Galens anatomischen, nosologischen, pharmakologischen und
* Erschienen in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 37, 1984, Sp. 12–14.
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therapeutischen Schriften nachweisbare Zurückhaltung gegenüber dem Koer1 völlig ignoriert. Man wird S. weiterhin auch nicht abnehmen wollen, daß Hippokrates der Verfasser von De diaeta sein soll. Seine These beruht auf dem Postulat, daß es eben diese Schrift war, die sowohl Platon den Hinweis auf die hippokratische Methode (Phaidros 270 c) als auch Menon die Krankheitsätiologie des Hippokrates für seine Medizingeschichte geliefert habe. Zum einen hat S.s Ansicht, der Ausdruck γνῶναι καὶ διαγνῶναι zu Beginn des 2. Kap. von De diaeta (VI 468,7 L.) sei terminologisch im Sinne von „know and distinguish“ verwandt, als solcher von Platon verstanden und als Parallele zu seiner eigenen Methode der διαίρεσις und συναγωγή (266 b) aufgefaßt worden (S. 48), wenig Wahrscheinlichkeit für sich und würde auch im positiven Falle keinen zwingenden Beweis für die Authentizität der Schrift darstellen2. Ebensowenig überzeugend ist zum anderen aber auch sein Versuch, für Menon die Benutzung von De diaeta nachzuweisen. Nicht nur, daß es schwerfällt, in den von ihm beigebrachten Stellen aus dieser Schrift Parallelen zu den Ausführungen Menons zu erkennen; was noch weit wichtiger ist, in De diaeta ist die Lehre von den φῦσαι, soweit sie überhaupt berücksichtigt wird, von so untergeordneter Bedeutung, daß man sich schlechterdings nicht vorstellen kann, wie Menon bei der Lektüre dieser Schrift auf den Gedanken kommen konnte, gerade diese Lehre als das charakteristische Merkmal der Krankheitsätiologie des Autors von De diaeta herauszustellen. Wenn wir S. nun auch gern zugeben, daß in De flatibus die φῦσαι, die die Krankheiten hervorbringen, nicht mit den infolge von Verdauungsstörungen entstandenen περισσώματα in Verbindung gebracht werden (S. 54), so sprechen doch nicht nur die Tatsache, daß hier die φῦσαι geradezu programmatisch als Krankheitsursache genannt werden (Kap. 15: CMG I 1, S. 101,16f.), sondern vor allem auch der Umstand, daß sich der Bericht des Menon sowohl sprachlich (vgl. πλῆθος τῶν προσφερομένων, ποικιλίαν, πλείονα ᾖ τὰ προσενεχθέντα, ποικίλα ᾖ τὰ προσενεχθέντα, στασιάζει und στασιασμὸν bei Menon V 39f. 44; V I 4f. 6 mit πλέονας τροφὰς, πλήθει τῶν τροφῶν, ποικίλας … τροφάς und στασιάζει in De flat. 7: CMG I 1, S. 95,2. 4f. 6) als auch in der Reihenfolge der | angeführten pathogenetischen Faktoren (Menge der Nahrung, Vielfalt der Nahrung und Verdauungsschwierigkeiten) eng an die Darstellung in De flat. 7 anlehnt, eindeutig dafür, daß, wie bisher allgemein angenommen, diese Schrift die Quelle für die hippokratische Krankheitsätiologie in der Medizingeschichte des Menon gewesen ist. Berechtigte Zweifel ruft auch der von S. in dem Abschnitt „From Hippocrates to Alexandria“ versuchte Nachweis hervor, daß in der Zeit vom ausgehenden 5. Jh. bis zu Herophilos und Erasistratos außer bei Platon und Menon, wie es am Schluß dieses Abschnittes heißt (S. 199), keinerlei Reaktion auf die hippokratische Lehre festzustellen sei. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat er nicht nur die bei Galen erhaltene 1
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Siehe dazu G. Harig u. J. Kollesch, Galen und Hippokrates, in: La Collection hippocratique et son rôle dans l'histoire de la médecine. Colloque de Strasbourg (23–27 octobre 1972), Leiden 1975, S. 257–274 (Université des Sciences Humaines de Strasbourg, Travaux du Centre de Recherche sur le Proche-Orient et la Grèce antiques 2). Vgl. J. Jouanna, La Collection hippocratique et Platon (Phèdre, 269 c–272 a), Revue des Études Grecques 90, 1977, S. 27, der gleichfalls davor warnt, Schriften des Corpus Hippocraticum auf Grund sachlicher Berührungspunkte mit den Platonischen Äußerungen über die hippokratische Medizin als echt hippokratisch anzusehen.
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Nachricht, Ktesias von Knidos, ein Zeitgenosse des Hippokrates, habe den Koer wegen der von ihm geübten Einrenkung des luxierten Oberschenkels verurteilt, und die sowohl von Galen als auch von Soran/Caelius Aurelianus jeweils in verschiedenem Zusammenhang für Herophilos bezeugte Auseinandersetzung mit dem Prognostikon des Hippokrates als Zeugnisse für die Wirkung und Nachwirkung des Hippokrates eliminiert (S. 179f.; 191–193), sondern auch die mehrfach erwiesene Tatsache unerwähnt gelassen, daß Aristoteles mehrere Schriften des Corpus Hippocraticum benutzt hat3, und er ist uns auch die Erklärung dafür schuldig geblieben, daß ebenderselbe Aristoteles sich Pol. VII 4: 1326 a 15f. des Arztes Hippokrates als Beispiel bedient, um die übertragene Bedeutung von μέγας zu veranschaulichen, was doch wohl die Annahme unumgänglich macht, daß Aristoteles auch bei seinen Lesern den Ruf des Hippokrates als eines „großen“ Arztes als bekannt voraussetzen konnte. Trotz dieser und ähnlicher Bedenken, die gegen die eine oder andere allzu kühne These von S. vorgebracht werden können, wird man ihm für die zahlreichen neuen Impulse, die er der Hippokratesforschung mit seiner bisweilen recht eigenwilligen Sicht der von ihm behandelten Problematik vermittelt hat, sicherlich Dank wissen. Die Arbeit mit diesem Buch wird indessen durch die nicht immer korrekte Zitierweise und vor allem durch die unverhältnismäßig große Zahl fehlerhafter Stellenangaben erschwert, deren Verifizierung, wie die Rez. gestehen muß, dem Leser ein hohes Maß an Findigkeit abverlangt und selbst dann nicht in allen Fällen zu dem gewünschten Ergebnis führt.
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Siehe z.B. neuerdings S. Byl, Les grands traités biologiques d'Aristote et la Collection hippocratique, in: Corpus Hippocraticum. Actes du Colloque hippocratique de Mons (22–26 septembre 1975), hrsg. v. R. Joly, Mons 1977, S. 313–326 (Éditions Universitaires de Mons, Série Sciences Humaines IV ).
The Hippocratic Treatises “On Generation”, “On the Nature of the Child”, “Diseases IV”. A commentary by I. M. Lonie, Ars Medica II 7, Berlin u. New York 1981*
Seit dem Erscheinen der Gesamtausgabe der Werke des Hippokrates von Littré um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts sind wir es gewohnt, die in der handschriftlichen Tradition als eigenständige Werke ausgewiesenen Schriften De genitura, De natura pueri und De morbis IV als eine zusammenhängende Abhandlung zu lesen. Diesen Tatbestand hatte auch Iain M. Lonie akzeptiert, als er 1969 seinen ersten Beitrag zu inhaltlichen Problemen dieser Schriftengruppe veröffentlichte.1 Aber bereits damals wies er darauf hin, daß die Frage der Einheit der drei Texte und der Identität des Autors noch endgültig zu klären sei.2 Das hat er jetzt getan (S. 43–51) und ist dabei zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, daß zwar die literarische Einheit der beiden der Zeugungsphysiologie und Embryologie gewidmeten Schriften sowohl durch den Wortlaut des Schlußsatzes von De genit. als auch durch die Tatsache, daß De nat. pueri in den Handschriften unmittelbar auf De genit. folgt, hinreichend gesichert ist, daß die Argumente, auf die sich die Annahme stützt, die Schrift De morb. IV, die eine allgemeine Krankheitslehre auf humoralbiologischer Grundlage zum Inhalt hat, bilde die Fortsetzung von De genit./De nat. pueri, jedoch keineswegs zwingend seien, De morb. IV vielmehr der Überlieferung entsprechend eine von De genit./De nat. pueri unabhängige Abhandlung darstellt. Die Identität des Autors dieser beiden Schriften ist damit freilich nicht in Frage gestellt, da die beide Werke verbindenden Gemeinsamkeiten, wie L. nachweisen kann, weitaus stärker ins Gewicht fallen als die vor allem durch die unterschiedliche Themenstellung bedingten Divergenzen. Das, was das Besondere dieser beiden Abhandlungen ausmacht und sie zugleich von anderen Schriften des Corpus Hippocraticum abhebt, ist zum einen die Lehre, daß die vier Säfte Blut, Schleim, Galle und Wasser die konstitutiven Körperbestandteile bilden, die gleichermaßen für das Entstehen des menschlichen Körpers wie für die in ihm ablaufenden physiologischen und pathologischen Prozesse verantwortlich sind, und zum anderen das methodische Vorgehen des Autors, das dadurch gekennzeichnet ist, daß er Verfahren und günstige Umstände beschreibt, mit bzw. unter denen eine Beobachtung normalerweise verborgener natürlicher Gegebenheiten und Vorgänge möglich ist, und auffällig häufig „Analogien“ aus dem täg|lichen Leben und dem Pflanzenreich benutzt, die der Veranschaulichung nicht sichtbarer Vorgänge dienen sollen. Dem Kommentar zu De genit./De nat. pueri und De morb. IV hat L. eine englische Übersetzung der drei Texte vorangestellt, ferner eine ausführliche Einleitung, in * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 106, 1985, Sp. 663–666. 1 2
Siehe I. M. Lonie, On the botanical excursus in De natura pueri 22–27, Hermes 97, 1969, S. 391. Siehe ebd., S. 391 Anm. 1.
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der er die literarische Einheit der Schriften und die Identität des Autors, die Zielstellung der Abhandlungen, ihre Adressaten, ihre Beziehung zu anderen hippokratischen Schriften und zu den Lehren der Vorsokratiker, die in den drei Texten vertretene Form der Viersäftelehre in ihrem Verhältnis zu der Viersäftetheorie der hippokratischen Schrift De natura hominis, die Datierung von De genit./De nat. pueri und De morb. IV sowie die wissenschaftliche Methode ihres Verfassers untersucht, und zwei als Anhang gekennzeichnete Kapitel, die den Vorstellungen vom Verlauf der Blutgefäße speziell in De genit./De nat. pueri und De morb. IV und allgemein in der alten griechischen Medizin gewidmet sind. Den Hauptteil des Buches macht der Kommentar aus. Ein Namen- und Sachindex, ein griechischer Wortindex und ein umfangreiches Stellenverzeichnis am Schluß des Bandes erleichtern den Zugang zu Einleitung und Kommentar. Der Kommentar, mit dem L. vorrangig das Ziel verfolgt, die Art und Weise deutlich zu machen, in der die Griechen des ausgehenden 5. und frühen 4. Jh. v.u.Z. das Naturgeschehen zu erfassen versuchten, die Bezüge der Schriftengruppe De genit./De nat. pueri – De morb. IV zu anderen hippokratischen Schriften aufzuzeigen und den intellektuellen Hintergrund eines medizinischen Autors dieser Zeit zu erhellen (S. V II), zeugt von der großen Belesenheit und der profunden Sachkenntnis seines Verf., die keineswegs auf die Antike beschränkt ist, sondern auch spätere Perioden mit einbegreift, wie gelegentliche Ausblicke auf die Weiterentwicklung bestimmter zeugungsphysiologischer und embryologischer Vorstellungen bis hinein in die Neuzeit zeigen. Mit seiner gleichermaßen eingehenden wie umfassenden Interpretation hat L. das Verständnis des schwierigen Textes von De genit./De nat. pueri und De morb. IV erheblich gefördert. Um so mehr ist es zu bedauern, daß er darauf verzichtet hat, zusammen mit der englischen Übersetzung auch eine Ausgabe des griechischen Textes vorzulegen, ein Umstand, der die Benutzung des Bandes nicht eben erleichtert. Als Textgrundlage für seine Übersetzung hat der Verf. die Ausgabe von Littré (Bd. V II, S. 470–614) benutzt, daneben aber auch die von dem Littré-Text abweichenden Lesungen in der neuen Edition von De genit./De nat. pueri/De morb. IV von R. Joly (Paris 1970) berücksichtigt und auch selbst an einer Reihe von Stellen3 Vorschläge zur Textgestaltung gemacht, so daß es nicht immer ganz einfach ist, zu dem der englischen Übersetzung zugrunde liegenden griechischen Wortlaut vorzudringen. Das wird noch dadurch erschwert, daß die Übersetzung, die sich zwar sehr flüssig liest, vielfach unnötig frei ist, so wenn, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, De genit. 4,3 (S. 47,21f. Joly = V II, S. 476,10f. Littré) der griechische Text αἱ μῆτραι ἰκμαλέαι γίνονται ἐν τῇ μίξει καὶ οὐ ξηραί mit „the womb is moistened by intercourse“ wiedergegeben ist oder wenn wir De genit. 5,1 (S. 48,9 Joly = VII, S. 476,23f. Littré) als Äquivalent für ὁκόταν ἡ γονὴ μὴ ἐξέλθη, ἀλλ' ἐμμείνῃ im Englischen lediglich „when the sperm is retained“ lesen. | Noch gravierender wirkt sich das Fehlen des griechischen Textes auf die Benutzung des Kommentars aus, der aufgrund der Fülle des in ihm gebotenen Materials, das weit über das spezielle Anliegen der kommentierten Texte hinausführt, das Interesse eines breiten Leserkreises beanspruchen kann. Es ist sicher angebracht, daß L. bei der Erläuterung sowohl sprachlicher als auch sachlicher Probleme nicht von der englischen 3
Siehe z.B. S. 107, zu 1,2; S. 157, zu 12,1; S. 289, zu 36,4; S. 325, zu 47,1; S. 332, zu 49,2; S. 334, zu 50,1; S. 349, zu 53,2.
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Übersetzung, sondern von dem jeweiligen griechischen Wortlaut des Textes ausgeht, der nach der Ausgabe von Littré, ohne Angabe von Seite und Zeile, zitiert wird. Als Bezugsstelle werden die Kapitel und, zur weiteren Abgrenzung, die aus der Ausgabe von Joly übernommenen Paragraphen angegeben, so daß man mit dem Kommentar von L. eigentlich nur dann arbeiten kann, wenn man beide Ausgaben zur Hand hat. Wesentlich einfacher wäre die Arbeit mit dem Kommentar, wenn man sich dazu entschlossen hätte, den griechischen Aushebungen jeweils die englische Übersetzung beizufügen, wie das sonst bei Zitaten aus griechischen und lateinischen Texten geschehen ist. Das wäre vor allem im Hinblick auf den sicher nicht kleinen Benutzerkreis wünschenswert gewesen, der nicht über ausreichende Griechischkenntnisse verfügt, um den Zugang zu den Schriften über den griechischen Text zu finden. Als Orientierungshilfe speziell für diesen Benutzerkreis sind auch die im Kommentar gegebenen Übersetzungen einzelner Wörter oder auch längerer Passagen aus den kommentierten Texten nur bedingt geeignet; denn diese Übersetzungen, mit denen L. ganz offensichtlich näher am griechischen Text zu bleiben bestrebt ist, weichen in der Mehrzahl der Fälle beträchtlich von der zu Beginn des Bandes gebotenen englischen Version der Schriften ab, so daß das Auffinden der betreffenden Wörter und Passagen ohne Konsultation des Griechischen einige Mühe bereitet und bisweilen sogar unmöglich ist. Divergenzen dieser Art sind z.B. „admitting easy passage“ (S. 113, zu 2,1) = „become wider“ (2,3: S. 2,12); „so far as one can compare the nature of a bird to the nature of a human being“ (S. 137, zu 7,3) = „making allowance of course for the degree to which one can compare the growth of a chicken with that of a human being“ (29,2: S. 18,26–28); „unless some violence befalls it“ (S. 144, zu 10,1) = „excepting cases of actual injury“ (30,7: S. 20,4); „and we ourselves observe these things happening“ (S. 133f., zu 7,1) = „as we can see for ourselves“ (31,2: S. 21,23f.); „but this cannot be observed. The sign is (in) the foreskin“ (S. 133, zu 7,1) = „this of course cannot be observed directly, but it is the prepuce which shows the sign“ (55,6: S. 39,39f.). Wir möchten abschließend jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, daß die wissenschaftliche Leistung, die L. mit seinem Kommentar erbracht hat, von unseren Beanstandungen in keiner Weise betroffen ist. Wenn wir dennoch so ausführlich auf die mit der Benutzung des Bandes verbundenen Schwierigkeiten eingegangen sind, so deswegen, weil wir glauben, daß dies Dinge sind, die sich in einer zweiten Auflage leicht abstellen lassen, so daß dem Buch dann auch die Breitenwirkung zuteil werden kann, die ihm auf Grund seiner Bedeutung nicht nur für die Hippokratesforschung, sondern für die medizinhistorische Forschung überhaupt zukommt.
J.-H. Kühn u. U. Fleischer, Index Hippocraticus. Cui elaborando interfuerunt sodales Thesauri Linguae Graecae Hamburgensis. Curas postremas adhibuerunt K. Alpers, A. Anastassiou, D. Irmer, V. Schmidt, Fasc. I: Α – Δ; Fasc. II: Ε – Κ, Göttingen 1986/1987*
Einem dringenden Desiderat der Wissenschaft entsprach es, als im Jahre 1945 auf Anregung von Bruno Snell der Entschluß gefaßt wurde, in das Publikationsprogramm des an der Universität Hamburg neu gegründeten „Archivs für griechische Lexikographie“ (seit 1950 „Thesaurus Linguae Graecae – Archiv für griechische Lexikographie“) unter anderem auch ein Hippokrates-Lexikon aufzunehmen, das den Wortbe|stand des Corpus Hippocraticum, im wesentlichen bestimmt durch den Textumfang der Gesamtausgabe der unter dem Namen des Hippokrates überlieferten Werke von E. Littré (Paris 1831–1861),1 zum erstenmal vollständig erschließen sollte. Redaktoren dieses Unternehmens waren der inzwischen verstorbene Ulrich Fleischer (1946–1957 u. 1970–1978), Gert Preiser (1957–1962), Josef-Hans Kühn (1962–1970) sowie Klaus Alpers und Volkmar Schmidt (seit 1978). Der Erfassung des Wortmaterials für das geplante Lexikon wurde die jeweils maßgebende kritische Edition der einzelnen Schriften zugrunde gelegt. In der Mehrzahl der Fälle war und ist das noch immer die schon erwähnte Hippokrates-Ausgabe von Littré, die zwar auch eine kritische Edition ist, aus der Sicht der modernen Textkritik aber schwerwiegende Mängel aufweist. Diesen Unzulänglichkeiten suchte man zu begegnen, indem für die Schriften, für die man auf die Littré-Ausgabe zurückgreifen mußte, Kollationen der Codices veteres angefertigt und die so gewonnenen Textvarianten als zusätzliche Belege in den erfaßten Wortbestand aufgenommen wurden. Es sollte sich jedoch herausstellen, daß die Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung in dieser Form für die lexikographische Aufbereitung des Wortmaterials allein nicht ausreichte. Dafür wäre es unumgänglich gewesen, in bestimmten Fällen längere oder kürzere Textstücke auf der Grundlage der Handschriftenkollationen neu zu konstituieren, was einen nicht mehr zu vertretenden Arbeits- und Zeitaufwand erfordert hätte, und so wurde der ursprüngliche Plan, ein Lexikon vorzulegen, aufgegeben und statt dessen auf die Publikation eines „Index“ orientiert (s. S. Vf.).2 * Erschienen in: Deutsche Literaturzeitung 108, 1987, Sp. 774–776. 1
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Ergänzend zu dem Schriftenbestand bei Littré wurden für das Hippokrateslexikon nach den Angaben in den „Prolegomena“ (S. VII) folgende Texte ausgewertet: die Papyrusfassung der Briefe 4 und 6 (hrsg. v. W. Putzger, Wurzen 1914), das sogenannte VIII. Buch der Aphorismen (hrsg. v. W. H. S. Jones, Bd. IV, London 1931), De hebdomadibus (hrsg. v. W. H. Roscher, Paderborn 1913), Iusiurandum II (hrsg. v. J. L. Heiberg, Leipzig u. Berlin 1927, CMG I 1), De remediis (hrsg. v. H. Schöne, Rhein. Mus. 73, 1920–1924) und De septimestri partu (hrsg. v. H. Grensemann, Berlin 1968, CMG I 2,1). Zur „Geschichte“ dieses Unternehmens vgl. auch J.-H. Kühn, Bericht über den Hippokratesindex, Medizinhistorisches Journal 1, 1966, S. 54–58.
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Kühn u. Fleischer, Index Hippocraticus
Von dem „Index Hippocraticus“, für dessen Benutzung in den „Prolegomena“ (S. V II–XXXIV ) sachdienliche Hinweise nebst einem Verzeichnis der hippokratischen Schriften, einem Literatur- und einem Abkürzungsverzeichnis gegeben werden, liegen nunmehr die ersten beiden Faszikel mit den Buchstaben α – κ, in handlicher Form gedruckt, vor. Dieser Index, in dem, wie die Verf. der „Prolegomena“ (S. V II) versichern, mit Ausnahme der Partikeln δέ, ἤ in der Bedeutung „oder“, καί, μέν und τε sowie des Artikels sämtliche Wörter der zur hippokratischen Sammlung gehörenden Schriften mit allen Belegstellen, zitiert (soweit möglich) nach Band, Seite und Zeile der Littré-Ausgabe, verzeichnet sind, ist indessen weit mehr als ein bloßes Stellenverzeichnis. Denn zum einen werden in ihm neben Textvarianten und Konjekturen mit den jeweiligen Quellen bzw. Urhebern zur Ergänzung des Wortmaterials in Auswahl auch hippokratische Wörter aus den beiden erhaltenen antiken Hippokratesglossaren des Erotian und des Galen sowie aus anderen Zeugen der Sekundärüberlieferung aufgeführt; und zum anderen sind die Lemmata – abweichend von dem grundsätzlich gültigen Prinzip eines fortlaufenden Belegstellenverzeichnisses – häufig genug nach grammatischen, semantischen und sachlichen Gesichtspunkten gegliedert. Diese Art der Gestaltung trägt, vor allem bei längeren Artikeln, wesentlich dazu bei, dem Benutzer die Arbeit mit dem dargebotenen Material zu erleichtern, und so gilt denn auch den Redaktoren und Mitarbeitern des Index Hippocraticus hierfür unser ganz besonderer Dank. Die Tatsache, daß der zweite Faszikel des Hippokratesindex schon so bald nach Erscheinen des ersten vorlag, gibt berechtigten Anlaß zu der Hoffnung, daß auch die noch ausstehenden Faszikel dieses seit langem | allgemein mit Ungeduld erwarteten Werkes, dessen Bedeutung für die Hippokratesforschung kaum zu überschätzen ist, in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen werden.
ʿALĪ IBN RIḌWĀN, Über den Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf. Arabischer Text nebst kommentierter deutscher Übersetzung, hrsg. v. A. Dietrich, Göttingen 1982 (Abh. d. Akademie d. Wiss. in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge, 129)*
In seiner kleinen Abhandlung Über den Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf behandelt der Kairiner Arzt ʿAlī ibn Riḍwān (998 bis 1061 bzw. 1068) Fragen der ärztlichen Ausbildung und der medizinischen Deontologie im islamischen Mittelalter. Die Schrift ist in drei Kapitel gegliedert, die folgende Überschriften tragen: Die Schriften des Hippokrates; Nähere Angaben über Hippokrates; Der Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf. Was die Abhandlung interessant macht, ist indessen nicht so sehr ihr eher dürftig anmutender sachlicher Gehalt als vielmehr die Tradierung antiken Quellenmaterials, das ihr Verfasser in arabischer Übersetzung ausgiebig benutzt hat. Diesem Umstand hat A. Dietrich mit seiner Edition dieses Textes, der in nur einer Handschrift, dem Kodex Istanbul, Hekimoğlu Ali Paşa 691, fol. 121b–124b, a. 1409, überliefert ist, dankenswerterweise Rechnung getragen, indem er dem arabischen Text nicht nur eine deutsche Übersetzung beigegeben hat, sondern sich auch in seinem Kommentar, zu dessen unbestrittenen Vorzügen es gehört, daß der Herausgeber die ständigen Bezugnahmen des Ibn Riḍwān auf antike Autoren und deren Schriften, soweit möglich, in den jeweiligen griechischen Originalen verifiziert hat, auf die Übersetzung bezieht, so daß die Ausgabe auch von einem Nichtarabisten mit Gewinn benutzt werden kann, der an dem in der Abhandlung tradierten antiken Quellenmaterial interessiert ist. Auf die deutsche Übersetzung beziehen sich auch die Verzeichnisse der Personennamen und Buchtitel sowie der geographischen Namen am Schluß des Bandes, so daß dem Nichtarabisten auch von daher der Zugang zu dem Text erschlossen wird. Eine Bereicherung des antiken Quellenmaterials stellt vor allem ein Verzeichnis der hippokratischen Schriften dar, das der Autor in das erste Kapitel seiner Abhandlung im Zusammenhang mit seinen Hinweisen auf die von ihm für die Studenten der Medizin als notwendig erachtete Lektüre der Werke des Hippokrates und des Galen aufgenommen hat und das bereits 1973 von F. Rosenthal, der Ibn Riḍwāns Traktat Über den Weg zur Glückseligkeit durch den ärztlichen Beruf in der genannten Stambuler Handschrift entdeckt hatte, in englischer Übersetzung publiziert wurde1. Dieses Schriftenverzeichnis, das Yaḥyā ibn Saʿīd, ein älterer Zeitgenosse und Kollege des Ibn Riḍwān, aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt hatte (s. Übersetzung, Z. 65–69 Dietrich), weicht sowohl in der Reihenfolge als auch im Bestand der angeführten Titel * Erschienen in: Bibliotheca Orientalis 45, 1988, Sp. 731–734. 1
F. Rosenthal, An eleventh-century list of the works of Hippocrates, Journal of the History of Medicine 28, 1973, S. 156–165.
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ʿAlī Ibn Riḍwān, Über den Weg zur Glückseligkeit, ed. Dietrich
von den bisher bekannten griechischen, lateinischen und arabischen Listen ab. Sechs der insgesamt 55 Schriftentitel sind sonst nicht belegt: Die Höhepunkte der Krankheiten (35), Die Neunmonatskinder (41), Die Nabelschnur (43), Das Blutharnen (49), Die übermäßige Schweißabsonderung (53), Die Neuerungen (54). Allerdings hat Dietrich in drei Fällen (Nr. 35, 53 und 54) die Deutung der Titel mit einem Fragezeichen versehen, so daß zumindest die Möglichkeit besteht, daß sich dahinter Schriftentitel verbergen, die auch anderweitig bezeugt sind. Die Angaben zur Person und Familie des Hippokrates, die den ersten Teil des zweiten Kapitels der Schrift ausmachen (Übersetzung, Z. 120–186. 222–230 Dietrich), und das im dritten Kapitel (Übersetzung, Z. 378–414 Dietrich) mitgeteilte Gespräch, das zwischen Hippokrates und Demokrit bei ihrer Begegnung in Abdera stattgefunden haben soll, bewegen sich im Rahmen der bekannten Überlieferung. Im | Umgang mit der antiken Tradition sind Ibn Riḍwān, wie Dietrich mit Recht feststellt, gelegentlich auch offensichtliche Irrtümer unterlaufen. So wenn er ein in der hippokratischen Schriftensammlung nicht nachweisbares längeres Zitat (Übersetzung, Z. 367–377 Dietrich), in dem von der Bezahlung der Ärzte die Rede ist und das mit der Feststellung, „keine noch so große Zuwendung (kann) den Arzt angemessen belohnen, sondern sein Lohn steht bei Gott …“, eher der christlich-islamischen als der antiken Vorstellungswelt verpflichtet ist, dem Hippokrates zuschreibt (s. S. 62, den Komm. zur Stelle) oder wenn er die Regierungszeit des Kaisers Antoninus, von dem ausdrücklich gesagt wird, daß Galen in dessen persönlichem Dienst stand, und der demzufolge mit Mark Aurel, von Galen auch als Antoninus bezeichnet, gleichzusetzen ist, auf den Tod Hadrians folgen läßt (Übersetzung, Z. 254f. Dietrich; s. S. 54, den Komm. zu Z. 253–281). Quelle dieses Irrtums dürfte nach unserem Dafürhalten die von Ibn Riḍwān in diesem Zusammenhang (Übersetzung, Z. 258–281 Dietrich) als Beleg zitierte Passage aus Galens Schrift De antidotis (I 13: XIV 64,6–65,12 Kühn) gewesen sein, wo dieser zunächst für Mark Aurel den Namen Antoninus verwendet (64,6 Kühn = Z. 258 Dietrich) und dann drei Zeilen weiter unten, wo von Antoninus Pius, dem Vorgänger Mark Aurels auf dem römischen Kaiserthron, die Rede ist, diesen zur Unterscheidung von dem zuvor genannten Antoninus als Ἀντωνίνου τοῦ μετὰ τὸν Ἀδριανὸν ἄρξαντος (Antoninus, der nach Hadrian herrschte) bezeichnet (64,9f. Kühn; dieses Textstück fehlt in dem Zitat bei Ibn Riḍwān, er hat es aber mit Sicherheit in seiner Vorlage gelesen). Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang nach Ansicht der Rez. die Nachricht des Ibn Riḍwān dar, Galen habe in einer – von unserem Autor nicht näher bezeichneten – Abhandlung gesagt, „daß er im Alter von neunzehn Jahren ein Buch ‘Über die Elemente' verfaßt habe, und zwar erst nach Abschluß seiner medizinischen Ausbildung“ (Übersetzung, Z. 25–28 Dietrich), da sie in den erhaltenen Galenschriften nicht nachweisbar ist und sich somit zwangsläufig die Frage nach ihrer Authentizität stellt. Dietrich hat sich in seinem Kommentar zu dieser Frage nicht geäußert. Er hat – sicher zu Recht – das von Ibn Riḍwān genannte Buch „Über die Elemente“ mit der im Corpus Galenicum überlieferten Schrift De elementis ex Hippocratis sententia identifiziert (S. 42, Komm. zu Z. 26–27). Nicht gerechtfertigt erscheint uns dagegen die Identifizierung jener „Abhandlung“, deren Titel nicht angegeben ist, mit Galens Kommentar zu der hippokratischen Schrift De natura hominis (ebd., Komm. zu Z. 25), bei der Dietrich sich auf den im Text des Ibn Riḍwān unmit-
ʿAlī Ibn Riḍwān, Über den Weg zur Glückseligkeit, ed. Dietrich
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telbar folgenden Satz stützt: „Er (sc. Galen) teilt nämlich in seiner ‘Erklärung von Hippokrates' Buch über die Natur des Menschen' mit, daß er es (sc. das Buch ‘Über die Elemente') verfaßt habe, nachdem er die Ansichten des Hippokrates kennen gelernt und den Inhalt seiner Bücher durch ihre Lektüre bei sehr gescheiten Lehrern begriffen habe.“ Erstens läßt sich diese Bezugnahme auf Galens Kommentar zu De natura hominis, wie Dietrich richtig vermerkt (S. 42, Komm. zu Z. 28–31; in der Stellenangabe lies „CMG V 9,1“ statt „CMG 9,1“), in dem uns vorliegenden griechischen Text nicht verifizieren, obwohl der Pergamener seine Schrift De elem. ex Hipp. sent. dort mehrfach anführt; und zweitens bietet dieser Satz – und das ist das Entscheidende – keine Anhaltspunkte für die konkrete Altersangabe von 19 Jah|ren, sondern enthält bestenfalls eine Begründung für den Nachsatz „und zwar erst nach Abschluß seiner medizinischen Ausbildung“ (Z. 27f. Dietrich), der sich somit eindeutig als interpretatorische Zutat des Ibn Riḍwān erweist, so daß auch die Galens sonstigen autobiographischen Angaben widersprechende Schlußfolgerung unseres Autors, das Medizinstudium des Pergameners habe drei Jahre gedauert (Übersetzung, Z. 32 Dietrich), einer gesicherten Grundlage entbehrt. Zweifel erscheinen uns indessen auch an der Authentizität der Galen zugeschriebenen Äußerung berechtigt, er habe die Schrift Über die Elemente mit 19 Jahren verfaßt. Wenn man andere Jugendschriften Galens zum Vergleich heranzieht, so fällt auf, daß er sich in seinen späteren Werken auf keine von ihnen so häufig beruft wie auf De elem. ex Hipp. sent. Zu bedenken gibt auch, daß der Pergamener dieser Schrift, die er als eine Art Kommentar zu der in der hippokratischen Abhandlung De natura hominis dargelegten Lehre von den vier „Elementen“ verstanden wissen wollte, auch noch im vorgerückten Alter einen hohen theoretischen Anspruch bescheinigt2, den man von einem Buch, das zu den ersten literarischen Versuchen eines noch in der Ausbildung stehenden jungen Menschen zählt, wohl kaum erwarten darf. Gegen die Frühdatierung sprechen aber vor allem Galens Hinweis am Schluß des ersten Buches von De elem. ex Hipp. sent. (I 9: S. 56,8f. Helmreich = I 489,12 Kühn) auf die im Anschluß an diese Schrift zu schreibende Abhandlung De temperamentis, die zusammen mit anderen physiologischen Schriften Galens in den Jahren 169 bis 180 entstanden ist, sowie die Ankündigung von De temperamentis als Fortsetzung der Schrift De elem. ex Hipp. sent. zu Beginn von De temp. (I 1: S. 1,7 Helmreich = I 509,9 Kühn), welche die Annahme eines zeitlichen Abstandes von mindestens 20 Jahren zwischen der Abfassung von De elem. ex Hipp. sent. und der von De temp. ausschließen3.
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Siehe Gal., De plac. Hipp. et Plat. VIII 2,10f. 13: C(orpus) M(edicorum) G(raecorum) V 4,1,2, hrsg. von Ph. De Lacy, Berlin 1980, S. 492,11–21. 27–30; In Hipp. De nat. hom. comm. I prooem.; 44: CMG V 9,1, hrsg. von J. Mewaldt, Leipzig u. Berlin 1914, S. 3,4–19; 9,13–17; 55,29f. Zur Datierung der beiden Schriften und zu ihrer Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe physiologischer Werke s. J. Ilberg, Über die Schriftstellerei des Klaudios Galenos II, Rheinisches Museum 47, 1892, S. 504–508 (Nachdr. Darmstadt 1974, S. 49–53).
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H. Grensemann, Knidische Medizin, Teil II. Versuch einer weiteren Analyse der Schicht A in den pseudohippokratischen Schriften De natura muliebri und De muliebribus I und II, Stuttgart 1987 (Hermes Einzelschr. 51)*
Vor 13 Jahren hat H. Grensemann (G.) eine umfangreiche Monographie mit dem Titel „Knidische Medizin. Teil I: Die Testimonien zur ältesten knidischen Lehre und Analysen knidischer Schriften im Corpus Hippocraticum“ (Berlin u. New York 1975, Ars Medica II 4,1) publiziert, die eine Sammlung der Zeugnisse zu den Anfängen der Ärzteschule von Knidos und Analysen von mehreren als knidisch geltenden gynäkologischen und nosologischen Schriften des Corpus Hippocraticum enthält. Ein wichtiges Anliegen dieser Analysen war es, an Hand von sprachlichen, strukturellen und inhaltlichen Kriterien in Weiterführung früherer Untersuchungen von J. Jurk (Ramenta Hippocratea, phil. Diss. Berlin 1900, 12–42) in den genannten Schriften verschiedene Entwicklungsstufen der frühen Medizin repräsentierende Textschichten herauszuschälen. In den gynäkologischen Werken hat G. insgesamt vier Schichten unterschieden, die nach seinen Vorstellungen als voneinander unabhängige Texte existiert haben. Der ältesten, mit dem Buchstaben A bezeichneten Schicht hatte er den ganzen Text von De natura muliebri (mit Ausnahme von Kap. 1 und 54), eine Reihe von Kapiteln aus De muliebribus I und die meisten Kapitel von De muliebribus II zugewiesen, der vom Umfang her kleinsten Schicht B einzelne Kapitel aus De muliebr. I und II und aus De sterilibus, der Schicht C den größten Teil von De muliebr. I sowie einzelne Kapitel aus De muliebr. II und De sterilibus und der Schicht D das „Grundbuch“ von De sterilibus. Im Vorwort zu der genannten Monographie (VIII) hatte G. die Fortführung seiner Untersuchungen angekündigt, deren zweiter Teil die kritische Ausgabe der als Schicht A bezeichneten Texte mit deutscher Übersetzung enthalten sollte. In dem nunmehr erschienenen zweiten Teil hat er jedoch, abweichend von seinem Vorhaben, keine Textedition, sondern eine nochmalige Analyse der Schicht A vorgelegt. Als Voraussetzungen für die erneute Analyse nennt er erstens die von ihm bei der ersten Analyse (I 143f.) getroffene Feststellung, daß es sich, da die zahlreichen parallelen Textstücke in De nat. mul. auf der einen und in De muliebr. I und II und De sterilibus auf der anderen Seite der Schicht A zugewiesen werden können, bei De nat. mul. entgegen der bisherigen Meinung nicht um eine Kompilation aus den anderen gynäkologischen Schriften handeln könne, die Parallelen in den genannten Texten vielmehr auf die gemeinsame Benutzung einer oder mehrerer Quellen zurückzuführen seien und De nat. mul. damit als einem Zeugnis alter Überlieferung ebenfalls ein gewisser Wert zukomme. Zweitens führt er den Umstand an, daß De nat. mul. in zwei Teile * Erschienen in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 96, 1989, S. 161–163.
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Grensemann, Knidische Medizin, Teil II
(Kap. 2–34 und Kap. 35–109) auseinanderfällt, die im Umfang etwa gleich sind und auch in der Darbietung des Stoffes eine gewisse Parallelität aufweisen (II 13). Der zuletzt genannte Tatbestand war auch schon früher bekannt (H. Trapp, Die hippokratische Schrift De natura muliebri. Ausgabe und textkritischer Kommentar, phil. Diss. Hamburg 1967, 31), G. ist jedoch der erste, der daraus die Schlußfolgerung zieht, daß in den beiden Teilen von De nat. mul. zwei verschiedene Schriften vorliegen (16), und sich damit die Möglichkeit schafft, die beiden Textteile als gesonderte literarische Zeugnisse zu betrachten. Dabei geht es ihm vor allem darum, den Text des zweiten Teils an Hand von sprachlichen und inhaltlichen Analysen, in die als zusätzliches Material auch einzelne Kapitel aus De muliebr. I und II einbezogen werden, als „medizinische Einheit“ kenntlich zu machen und diese von ihm als A 1 bezeichnete Textserie als die ältere von einer A 2 genannten Schicht abzugrenzen, die er durch den Text des ersten Teils von De nat. mul. und vergleichbare Textstücke in De muliebr. I und II repräsentiert sieht (7. 14). Die sprachlich-formalen und inhaltlichen Besonderheiten, die nach Ansicht von G. den zweiten Teil von De nat. mul. als literarische und medizinische Einheit erweisen und ihn zugleich von dem ersten Teil der Schrift abgrenzen, lassen sich jedoch fast ausnahmslos nur in den Krankheitsbeschreibungen belegen, die das erste Drittel des Textes des | zweiten Teils ausmachen, so daß bestenfalls für diesen Textabschnitt (Kap. 35–52. 54) hinsichtlich der Sprache wie auch der inhaltlichen Aussagen die Handschrift eines bestimmten Autors wahrscheinlich gemacht werden kann. Daß auch die übrigen Kapitel, die kurzgefaßte Therapieanweisungen zu einzelnen Krankheiten und Rezeptzusammenstellungen für verschiedene Mittel zur Behandlung von Frauenkrankheiten enthalten, zum ursprünglichen Bestand der in den Krankheitsbeschreibungen faßbaren Quelle gehörten, wie G. annehmen zu können meint, läßt sich mit Hilfe seiner Kriterien indessen nicht beweisen. Seiner Auffassung, bei der Quelle, die dem zweiten Teil von De nat. mul. zugrunde liegt, handele es sich um einen sprachlich und inhaltlich einheitlich gestalteten Text, widerspricht allein schon der von ihm mit keinem Wort erwähnte Umstand, daß in einer Reihe von Fällen ein und dieselbe Krankheitserscheinung mehrfach und mit jeweils unterschiedlichen Therapieanweisungen im Text vorkommt (z.B. nicht näher spezifizierte Uterusverlagerungen: Kap. 44. 58. 75. 79; Gebärmutterverschluß: Kap. 39. 72; Amenorrhoe: Kap. 59. 71. 74. 77). Und sie verliert noch mehr an Glaubwürdigkeit, wenn sich zeigt, daß G. den sachlichen Widerspruch herunterzuspielen bzw. zu beseitigen versucht, der sich aus seiner generalisierenden Feststellung, die zur Schicht A 1 gehörenden Texte kennen weder die Säfte Galle und Schleim „in einem grundlegenden medizinischen Sinn“ noch die dazugehörigen Konstitutionstypen (69; vgl. auch 43f.), und aus der Tatsache ergibt, daß die Galle in Kap. 89 eindeutig als Krankheitsursache genannt wird und daß in Kap. 106 von Frauen mit galliger und schleimiger Konstitution die Rede ist. So führt er zwar Kap. 89 als Beleg für das Vorkommen des Begriffs Galle im zweiten Teil von De nat. mul. an (43), verschweigt dabei aber, daß sie hier als Krankheitsursache erscheint; und ähnlich verfährt er im Hinblick auf Kap. 106: er umgeht nicht nur bewußt den Konstitutionsbegriff, indem er die Formen χολώδης und φλεγματώδης auf das Wort καταμήνια („Prüfung der Katamenien, ob sie Galle oder Phlegma enthalten“) statt korrekterweise auf γυνή bezieht, sondern erklärt zudem auch noch das ganze Kapitel als einen späteren Zusatz (43).
Grensemann, Knidische Medizin, Teil II
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Die Rez. muß gestehen, daß es ihr angesichts dieser Situation schwerfällt, G.s Optimismus zu teilen, man könne mit dem zweiten Teil von De nat. mul., wie er überliefert ist, einer in ihrer Eigenart erkennbaren sehr frühen Stufe der Gynäkologie habhaft werden.
F. Skoda, Médecine ancienne et métaphore. Le vocabulaire de l'anatomie et de la pathologie en grec ancien, Paris 1988 (Ethnosciences 4)*
Bei der Herausbildung und Entwicklung der medizinischen Sprache im antiken Griechenland hat der metaphorische Wortgebrauch zur Bezeichnung von Krankheitserscheinungen und Körperteilen, für den sich die ersten Belege bereits in den homerischen Epen finden, eine besonders große Rolle gespielt. Einem Hinweis von J. Irigoin, La formation du vocabulaire de l'anatomie en grec: du mycénien aux principaux traités de la Collection hippocratique (in: Hippocratica. Actes du Colloque hippocratique de Paris, 4–9 septembre 1978, hrsg. v. M. D. Grmek, Paris 1980, S. 250 Anm. 6), ist zu entnehmen, daß die Untersuchung dieses Wortschatzes schon zu Beginn der 60er Jahre von dem inzwischen verstorbenen H. Diller als Thema einer Dissertation vergeben worden war, aber nicht zu Ende geführt wurde. Es ist daher von vornherein zu begrüßen, daß Françoise Skoda die Anregung Dillers aufgegriffen und das Ergebnis ihrer Untersuchungen zum metaphorischen Wortgebrauch in der Anatomie und Pathologie, in die neben den griechischen und lateinischen medizinischen Autoren auch Aristoteles, Plinius, die antiken Glossare und Lexika sowie nichtmedizinische Autoren einbezogen wurden, nunmehr in einer umfangreichen Studie vorgelegt hat. Die Präsentation des Wortmaterials wird in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste, weitaus umfangreichere Teil enthält die Analyse der Metaphern im anatomischen Wortschatz, während im zweiten Abschnitt die zur Bezeichnung von Krankheiten gebrauchten Metaphern untersucht werden. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der Wortanalysen sowie ein Verzeichnis der mykenischen, griechischen und lateinischen Termini und der im Text angeführten Entsprechungen aus dem Neugriechischen, Französischen, Italienischen, Spanischen, Englischen und Deutschen schließen den Band ab. Bei näherer Betrachtung erweist sich das Buch von Skoda jedoch in mehrerlei Hinsicht als unbefriedigend. So wäre es zunächst angesichts der Tatsache, daß es in der Antike noch keine feststehende medizinische Terminologie gab – das äußert sich u.a. darin, daß mit einer Reihe von Ausdrücken wie z.B. μύλη, ὄνυξ, σταφυλή, πτερύγιον oder σῦριγξ sowohl verschiedene Körperteile als auch Körperteile und Krankheitserscheinungen bezeichnet wurden – sinnvoller gewesen, das untersuchte Wortmaterial nach den verschiedenen Herkunftsbereichen der metaphorisch gebrauchten Bezeichnungen (z.B. Alltagsleben, Pflanzenreich, Tier|reich) zu gliedern als nach Gesichtspunkten der modernen Medizin. Auf diese Weise wäre einerseits die Mannigfaltigkeit der „métaphorisants“ stärker ins Blickfeld gerückt, und andererseits hätten sich zahlreiche Wiederholungen (162 „métaphorisants“ stehen 229 „métaphorisés“ gegenüber) vermeiden lassen, die die Benutzung des Buches nicht gerade erleichtern. * Erschienen in: Archives internationales d’Histoire des Sciences 39, 1989, S. 402–404.
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Zumindest irritierend ist es auch, wenn am Schluß des Bandes das Vorkommen von metaphorischen Ausdrücken in der Anatomie und Pathologie zahlenmäßig aufgeschlüsselt wird und sich daran Überlegungen über die möglichen Gründe für die unterschiedliche Häufigkeit anschließen, mit der sie angewandt wurden (s. S. 311 und die Tabelle, S. 313), weil das dem Benutzer den Anspruch auf Vollständigkeit des zusammengestellten Wortschatzes suggeriert, der aber keineswegs gerechtfertigt ist. Im anatomischen Teil vermißt man z.B. Ausdrücke wie πρέμνον, στέλεχος und ἀποβλάστημα, die sehr viel häufiger zur Bezeichnung von Gefäßstämmen und deren Verzweigungen benutzt wurden als das S. 119 (5. 64) genannte Stichwort χορηγός, ferner ἀγγεῖον, πλέγμα oder παραστάτης; zum pathologischen Teil sind, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Krankheitsbezeichnungen wie πῶρος, χοιράς, καμάρωσις, μυιοκέφαλον, ὀφίασις, σατυρίασις und πριαπισμός oder die ebenfalls in das Gebiet der Pathologie gehörenden Pulsbezeichnungen wie μυουρός, ἀραχνοειδής, δορκαδίζων und μυρμηκίζων nachzutragen. Angesichts dieser Situation wird deutlich, daß bei einer vollständigen Erfassung des entsprechenden anatomischen und pathologischen Wortschatzes nicht nur die absoluten Zahlen beträchtlich höher liegen, sondern sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch das von der Vfn. angegebene Verhältnis zwischen den metaphorischen Bezeichnungen in der Anatomie (182) und denen in der Pathologie (47) zugunsten der letzteren verschieben würde. Als wenig benutzerfreundlich erweist sich die Studie von Skoda weiterhin im Hinblick auf die Zitierweise der medizinischen Autoren. Das beginnt schon damit, daß im Literaturverzeichnis (S. XII) zwar darauf hingewiesen wird, daß die antiken Autoren nach den jeweils maßgebenden Ausgaben zitiert werden, es aber dem Benutzer überlassen bleibt, diese ausfindig zu machen, was im Falle der medizinischen Texte, zumindest für den Nichtfachmann auf dem Gebiet der antiken Medizin, nur auf dem Umweg über Spezialbibliographien möglich ist (die S. XX angeführte Bibliographie von H. Leitner, die bereits 1973 erschienen ist, entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand der Neuerscheinungen; allerdings hätte die Vfn., um das nur nebenbei zu bemerken, dieser Bibliographie entnehmen können, daß die von ihr häufig als Beleg für den Galenischen Sprachgebrauch zitierten Schriften Introductio sive medicus und Definitiones medicae Pseudogalenica sind und daß es sich bei den Kommentaren zu De humoribus und De alimento, die sich hinter den S. 203 [7. 13] und S. 233 [7. 45] angeführten Galenstellen XV I 461 und XV 331 Kühn verbergen, um Renaissancefälschungen handelt). Abgesehen davon, daß die von ihr benutzten ‚maßgebenden' Ausgaben keineswegs immer dem neuesten Stand entsprechen – das trifft zumindest auf die Hippokratesausgabe von Littré und auf die Galenausgabe von Kühn (s. S. XII) zu –, erfordert es auch einige Mühe, die aus den medizinischen Autoren angeführten Belegstellen zu verifizieren, da sie statt mit Seite und Zeile der benutzten Ausgabe nur nach Kapitel bzw. Buch und Kapitel zitiert werden, so daß der Benutzer häufig genug mehrere Seiten vom Text lesen muß, bis er das gesuchte Wort findet. Eine Ausnahme bilden die Galenschriften, die, wie S. XII vermerkt ist, nach Band (römische Zahl) und Seite (arabische Zahl) der Ausgabe von Kühn zitiert werden. Aber auch dieses Prinzip wurde nicht konsequent eingehalten, denn auf De usu partium wird prinzipiell mit Angabe des Titels (U. P. bzw. UP), des Buches und des Kapitels (beide Male mit arabischen Ziffern) Bezug genommen.
Skoda, Médecine ancienne et métaphore
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Die Verifizierung der Belegstellen aus den medizinischen Autoren wird zusätzlich durch die mangelnde Sorgfalt im Umgang mit griechischen Zitaten und fehlerhafte Stellenangaben erschwert. Einige Beispiele mögen das belegen: S. 20 (4. 21): Die hier aus De usu part. zitierte Textpassage stellt eine Kontamination aus zwei voneinander getrennten Textstücken | dar (ὀνομάζεται – ὠνόμασεν = II, S. 198,14–17 Helmreich und τὸν ὀδόντα – σφονδύλου = II, S. 199,13f. Helmreich). S. 34 (4. 43): Die Quelle für das nicht belegte Zitat τῶν δὲ ὀστῶν – κερκίς ist Rufus, De corp. hum. part. appellat. 80. S. 72 Anm. 273: Lies „Galien, XV II 2, 632“ statt „Galien, XVII, 632“. S. 83 (5. 7): Den angeblich bei Celsus, Med. V III 1 (§ 9), belegten Ausdruck οἱ τομικοί zur Bezeichnung der Schneidezähne sucht man in der maßgebenden Celsusausgabe von F. Marx vergebens; es handelt sich bei ihm um eine auf einer Konjektur beruhende Wortbildung in den älteren Celsusausgaben, die bereits Ch. Daremberg zugunsten der von Cocchi aus dem überlieferten Buchstabenbestand (comisa) richtig erschlossenen Form „tomis (= τομεῖς) a“ aus dem Text seiner Edition verbannt hat. S. 86 (5. 11): Die zu der aus Gal., De usu part. 11,8 zitierten Textpassage gebotene französische Übersetzung gibt nicht den Wortlaut des ausgehobenen griechischen Textes wieder, sondern den der zuvor unter mehreren anderen Belegen genannten Stelle Gal., II, 753 Kühn. S. 103f. (5. 41): Der aus Rufus angeführte Beleg für den übertragenen Gebrauch von κιονίς enthält gleich zwei Fehler: erstens sind in dem Zitat mehrere Wörter, einschließlich des Stichworts κιονίς (!), ausgefallen, und zweitens steht der zitierte Satz nicht, wie angegeben, in Du nom des parties du corps 60, sondern in der pseudorufinischen Schrift De l'anatomie des parties du corps 21. S. 154f. (5. 113 u. 114): Statt der zweimaligen Angabe (Galen,) „IV, 19“ lies „UP 4, 19“ (= III, S. 334 Kühn). S. 211 (7. 22): Statt „Galien, XIX, 437“, „Soranos, 2, 41“ und „Soranos, 2.12“ (Anm. 77) lies „Galien, XIV, 437“, „Soranos, 3, 41“ und „Soranos, 3, 12“. S. 212 (7. 24): Zu dem Zitat „eas – nominant“ ist Celsus, Med. V 26.33D als Quelle zu ergänzen. S. 254 (8. 6): Statt „Galien, XIX, 275“ lies „Galien, XIX, 448“; die Zahl „275“ bezieht sich auf die entsprechende Seite der Galenausgabe von R. Chartier (Paris 1679, Bd. II) und wäre wohl kaum übernommen worden, wenn die Vfn. den offenbar einer älteren Quelle geschuldeten Beleg in der Kühnausgabe überprüft hätte. Von mangelnder Sorgfalt zeugen schließlich auch die vielen Druckfehler (vor allem Akzentfehler im Griechischen), Flüchtigkeitsfehler verschiedenster Art (z.B. S. 116 [5. 57] „Herzbentel“ statt „Herzbeutel“, und ebenso im Index, S. 336, s.v.; S. 9, Anm. 1, die französische Übersetzung des Schriftentitels εἰσαγωγὴ ἡ [lies ἢ] ἰατρός mit „Introduction à la médecine“; S. 315 in der Überschrift „les métaphorisés“ statt richtig „les métaphorisants“) und das mehrmalige Fehlen von Anmerkungen, auf die der Benutzer vom Text her verwiesen wird (S. 39: Anm. 138 u. 139; S. 57: Anm. 210; S. 145: Anm. 281 u. 282; S. 195: Anm. 23 u. 24; S. 284: Anm. 6 u. 7). So muß man zusammenfassend mit Bedauern feststellen, daß die Monographie von Skoda viel zu wünschen übrigläßt und auf keinen Fall eine abschließende Untersuchung zu dem behandelten Thema darstellt.
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Verzeichnis der antiken Personen, Autoren und Werke
A e l i u s N i k o n 140,5 A e t i o s v o n A m i d a 68 247 250 256 263–264 269 273 277 – Lib. med. 68,33 A g a t h i n o s v o n S p a r t a 42 150 A g a t h o k l e s 114 A i p h i k i a n o s 141 A i s c h r i o n 141 A l b i n o s 141 A l e x a n d e r d e r G r o ß e 37 A l e x a n d er vo n Ap h r o d i s i a s – De febr. 291 A l e x a n d e r v o n D a m a s k o s 142 A l e x a n d e r v o n T r a l l e i s 247 256 269 A l k m a i o n v o n K r o t o n 79 96 A m y t i s 71 A n d r o m a c h o s 150 A n d r o m a c h o s d . J . 295 A n n i u s V e r u s 156 158 A n o n y m u s L o n d i n e n s i s 60, 48 66 66, 18 68–69 114 114,37 115 240 312 A n t h i m u s 257 270 A n t i p h o n 86 A n t o n i n u s P i u s 322 A n t o n i u s M u s a 257 270 A p o l l o n i d e s v o n K o s 71–72 A p o l l o n i o s My s 295 A p o l l o n i o s v o n K i t i o n 264 277 – In Hipp. De artic. comm. 246 246,7 273 301 A p o l l o p h a n e s 37 [Apuleius] – Herbar. 270 A r c h i g e n e s v o n A p a m e i a 30 289–290 295 A r e t a i o s 41 44 190 190, 13 191 256 264 269 277 289–291 A r i s t o t e l e s 66 68 89–91 93 103 115 118 123 126–130 132–135 163 165–168 171–173 303 313 329 – De generat. anim. 130 130,3 133,15 166 172,5.6.8 – De incessu anim. 132,14
– De motu anim. 132,14 – De part. anim. 133,15 134 134,19 171,3 – Hist. anim. 118 132,14 133 133,15 134 171,3 – Metaph. 126 126,5 127,6.7 – Pol. 19 92 313 A r t a x e r x e s I . 71 A r t a x e r x e s I I . M n e m o n 69 A r t e m i d o r o s K a p i t o n 311 A s k l e p i a d e s v o n B i t h y n i e n 43 150 287,8 – Definitiones 43 177 A s p a s i o s 140,7 A t h e n a i o s v o n A t t a l e i a 150 290 Au g u s t i n u s 223 – Confessiones 223,1 B e l l i c u s 233–234 B o e t h u s 146 C a e l i u s A u r e l i a n u s 44 67–68 223 229–235 255 257 270 313 – Cel. pass. 38 67,24 177,15 229 229,5 230,6. 7. 8 231 231,13.14 232,15.16 233 233,19 234–235 – Tard. pass. 38 67,24.27 68,33 229 229,5 230,7 231 231,13.14 232,16.17 233 233,19 235 – De salutaribus praeceptis. 229 – De signif. diaet. pass. 229 – Epist. ad Praetextatum 232–233 – Gyn. 229–230 232 235 Cassius Felix – De med. 38 C e l s u s 38 41 44–45 257 269 – Med. 38 41 44–45 162 199,29 225,9 331 Censorin – De die natali 68,29 C h r y s i p p v o n K n i d o s 72 C l a u d i u s S e v e r u s 142 157 C o m m o d u s 145 155–158 D e m e t r i o s 145 D e m e t r i o s v o n A l e x a n d r e i a 142
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Verzeichnis der antiken Personen, Autoren und Werke
D e m o k r i t 165 D e m o s t h e n e s P h i l a l e t h e s 290–291 D e x i p p o s v o n K o s 59,44 D i e u c h e s v o n A t h e n 302–304 D i o g e n e s v o n A p o l l o n i a 134 165 D i o k l e s v o n K a r y s t o s 90 90, 31 91 132 132,9 133 303 D i o s k u r i d e s 311 D i o s k u r i d e s a u s A n a z a r b a 29 37 256 269 291 – De mat. med. 37 – De simpl. med. 290 E m p e d o k l e s 80 89 165 E p i g e n e s 156 161 E r a s i s t r a t o s 35 72 127–128 181 287,8 312 E r o t i a n 290,6 – Voc. Hipp. collect. 194 263 320 E u d e m o s 140,7 145 157 E u r y p h o n v o n K n i d o s 50–53 53, 24 60, 48 64–66 66,17 67–69 307–308 308,2 F l a v i u s B o e t h u s 142 145 157 G a l e n 27–30 33–34 36 42 50–53 65–66 68 70 90 92 115 117 121–124 132 139–158 160–183 187 191 198–199 209 223 226 247 256 261 264 269 277 282 285–287 290–291 293–299 302 307–308 311–313 321–323 330 – Ad Glauc. de med. meth. 179 179,27 – Ars med. 139 139, 3 175–183 175, 1.2 176, 4 177,10.11.21 178,22 181,33.37.40 183,42 – De alim. fac. 27,4 66,17 297 – De anat. administr. 90, 33 132, 11 139 139, 3 141,10.13.14.15 143,24 – De antid. 142,21 146,39.41 293–295 322 – De atra bile 141,10 – De bonis malisque sucis 67, 27 68, 32 141, 11 297 – De calumnia 139 – De causis procat. 66,20 – De comp. med. per gen. 27, 3 28, 8 141, 16 293–295 – De comp. med. sec. loc. 193 293–295 – De consuet. 283,3 – De cris. 194 – De diaeta in morb. acut. sec. Hipp. 66,17 272 – De diebus decr. 196 – De diff. febr. 286 – De difficult. respir. 192 – De elem. ex Hipp. sent. 322–323
– De exper. med. 249 – De instr. odor. 66,19 115,38 275 286 – De libris propr. 28,7 139 139,1.2 141,13 143,25 145,37 146,42 176,5.6 183,41 – De locis affectis 141, 9.16 152, 3 179 179, 25 192 277 – De marcore 67,27 68,32 – De morb. causis 28,10 – De morb. temp. 27,4 28,6 143,27 – De motu musc. 195 – De nominibus medicis 28,6.8 – De opt. med. cogn. 160 161,6 277 – De ord. libror. suor. 27,4 28,7 139 139,2 140, 6.7.8
– De oss. ad tir. 331 – De part. homoeom. diff. 178,23 – De plac. Hipp. et Plat. 29,13 179 181,36.39 192 287 323,2 – De praecogn. 139 139, 2 140, 7. 8 142, 22 144 145,32.33.34.35.37.38 151,1 152,2 155 155,3 156,4 158,9 161 162,8 – De praesag. ex puls. 198–199 – De propr. animi cuiusl. affect. dign. et cur. 140,7 141,12 146,42 – De propr. plac. 179 179,25 – De ptisana 297 – De puls. ad tir. 192 195 197 – De puls. diff. 27 27, 2 28, 10 30 30, 15 140, 6 143, 26. 27 177, 13. 14. 16. 17. 18. 19. 20 194–195 197 197,28 198 246 – De purg. med. fac. 144,30 – De san. tuenda 29, 13 176 176, 5. 7 287 297 299,4 – De sem. 163, 2 164 164, 3. 11 166 167, 15. 16. 18 168,20.21.22 169 169,23.25.28.29 179 179,29 180 180,32 – De simpl. med. temp. et fac. 29 37 67,27 141, 10.16 142,21 176,9 299,4 – De sympt. causis 191 – De temp. 323 – De trem., palp., convuls. et rig. 191 – De usu part. 171 171,4 172,5.6.7.9 173 173,10.11 180 180,30.31 181 181,35.36.38.39 330–331 – De uteri dissect. 68 163,2 164 164,6 – De venae sect. adv. Erasistr. 67,27 – De victu att. 297–299 – In Hipp. Aphor. comm. 192–194 196 263 273 – In Hipp. De artic. comm. 69 70, 40 249 281–282 – In Hipp. De nat. hom. comm. 77,1 117 117,1.3. 4 141,10.16 259 272–273 322–323 323,2
Verzeichnis der antiken Personen, Autoren und Werke – In Hipp. De off. med. comm. 199,29 – In Hipp. De victu acut. comm. 50, 5 63 63, 10 64 66,17 194 273 307 – In Hipp. Epid. comm. 29 51 51,10.14.15 52,19. 22 53–54 63 65, 16 66, 21 141, 10 181, 36 192–193 196 261 263 272–273 286 286,3 – In Hipp. Progn. comm. 193 195 204, 6 260 273 – In Hipp. Prorrh. I comm. 141, 10.13 193 204,6 258 273 – Ling. s. dict. exolet. Hipp. explic. 192–193 290,6 320 – Meth. med. 28,9 33 67,27 68,32 140,8 143,27 151,1 152,3 161 161,7 176,5.7 182 191 226,12 277 – Protr. 29,13 – Thrasyb. 176,8 [Galen] – De diaeta in morb. acut. sec. Hipp. 272 – Def. med. 41–44 187–202 187, 4 188, 9 197, 28 203–208 203, 1. 2. 3. 4 204, 7. 9 205, 14 206, 16 207, 18 208, 20. 22. 24 210 211 211, 5. 6. 8 212–213 215–217 217,17 218–219 249 301 330 – De succed. 67,27 – Hist. philos. 239 255 261 268 – In Hipp. De alim. comm. 261 272 286 330 – In Hipp. De hum. comm. 261 272 286 286,3 330 – In Hipp. Epid. II comm. 272 – Introd. s. med. 43–44 192 196 216 330 G l a u k o n 152–153 G o r g i a s 19 114 – Helena 19 H a d r i a n 322 H a d r i a n v o n Ty r o s 142 H e r o d i k o s v o n K n i d o s 60,48 67–69 H e r o d i k o s v o n S e l y m b r i a 68 76 83 96 112–114 114,35 115 Herodot – Hist. 62 H e r o p h i l o s 35–36 68 127–128 163–164 172–176 287 312–313 – De anatomia 35 H e s i o d 114 H i p p i a s 114 H i p p o k r a t e s 16 29 31 52–53 63–64 69–70 77–79 89 95 117–118 125 147 203–206 208 223 225 227 239 247 255–256 263–264 268–269 277 281–282 287 290 305–306 308 311–315 319
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321–322 – Aphor. 16 54 60, 48 78 204 204, 8 205, 11 206,17 208 208,23 263 319,1 – Coac. praenot. 16 54 205,11 207 207,19 – De aere aquis locis 23 58,43 59,44 81 99–101 203,3 205,11 – De affect. 17 17,9 57 309,5 – De affect. intern. 56,38 57 205,11 – De arte 19–20 20,24 21–23 88,28 114 203,3 – De artic. 18,16 33 70 78 80,7 83,13 85 85,16. 17 98,4 102 131 205,11 225,9 281 283,2 – De carn. 131 131,8 – De diaeta 17 17, 12 18 18, 13. 14. 15 65 66, 17 83 83,12 105 112 112,23 126,4 205,11 311–312 – De diaeta acut. 50 50,4.6 51 51,16 53–54 54, 29 59 63 63, 10 64 64, 12. 13 65, 16 196 205, 11 307 – De flat. 19–20 20,24 21–23 312 – De fract. 33 78 83, 13 88, 28 102 131 225, 9 281 – De genit./De nat. pueri 23–24 24, 14 25 25, 15 26 26,22 165 203,3 315–316 – De hebdom. 319,1 – De hum. 205,11 – De locis in hom. 205,11 – De morbis I 57 309,5 – De morbis II 52–54 54, 28 55 55, 33 56 56, 38 57–58 58,43 65–66 66,22 307–308 – De morbis III 57 – De morbis IV 23–25 25, 16 26, 23 131 131, 7 134 134,19 315–316 – De morbo sacro 17 17, 11 23 59, 44 81 81, 8 131,6 203,3 206,17 – De mul. affect. 25 – De mul. affect. I 23–24 25, 17 26, 23 205, 11 325–326 – De mul. affect. II 52 53,24 58,42 65 307 308, 2 325–326 – De mul. nat. 52 53, 24 58, 42 65 307 308, 2 325–327 – De nat. hom. 16 16,4 23 23,9.10 24 59,44 60, 48 78–79 79, 5 80, 6 91 96 96, 1 98 98, 4 118 120 125 125,2 131 131,6 224 285 316 323 – De oss. nat. 118 118,6.8.10 119 119,14.16 – De prisca med. 16 16, 6 21 23 80, 7 98, 4 102–103 103,10 104 123 125 125,1 126 – De remediis 319,1 – De septim. 66 66,17 319,1 – De steril. 325 – Epid. 16 34 78 80,7 83 83,11 104 109 109,2. 3. 4 110 110, 5. 6. 7 111 111, 12. 13. 14. 16. 17. 18 112 112, 23 113 113, 28. 30 115 131, 6 144 203, 3
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Verzeichnis der antiken Personen, Autoren und Werke
205,11 206,17 208 208,25 227,16 263 – Iusiur. 71–72 72,45 84,14 86–87 87,19 319,1 – Mochl. 281 – Progn. 78 81 82,9 205,11 226,14 313 – Prorrh. I 54 – Prorrh. II 205,11 H o m e r 114 I k k o s v o n T a r e n t 114 J o h a n n e s A l e x a n d r i n u s 264 J u l i u s N i c o d e m u s 140,5 Kt e s i a s v o n K n i d o s 69 69,36 70–71 313 Ky r o s 69 71 L e o 264 277 L e o p h a n e s 130 L u c i u s V e r u s 142 L u c r e t i u s 233–234 Ly k i s k o s 303 M a r c Au r e l 145 155–158 322 M a r c e l l u s 224 257 270 – De medicamentis 224,4 M a r i n o s 143 164 Markellinos – De pulsibus 249 M e g a b y z o s 71 Menon → Anonymus L ondinensis M n e s i t h e o s v o n A t h e n 90 301–304 M u s a i o s 114 N e r o 150 N i k o n 140 140,5 N u m e s i a n o s 141 O r e i b a s i o s 42 183 247 256 263–264 269 273 277 302 – Coll. med. rel. 69 183,43 199,29 O r p h e u s 114 P a r m e n i d e s 165 P a r y s a t i s 69 P a u l o s v o n A i g i n a 247 256 263–264 269 273 277 P e i t h o l a o s 157 P e l o p s 141 P h i l i s t i o n v o n L o k r o i 89 P h i l u m e n o s 264 277 P l a t o n 89–91 93–94 113–114 129 144 179 303 312
– Gorg. 20 22,5 – Leges 92,40 93,42 303 – Phaedr. 113,28 312 – Protag. 114 114,32 – Resp. 92 93,44 106 113,27.30.31 – Tim. 89 P l i n i u s d . Ä . 129 329 – Nat. hist. 129,1 162 [Plinius] – De medicina 225,9 270 [Plutarch] – Plac. 255 P o l y b o s 16 60,48 78–79 117 125 134 P r a x a g o r a s 121–124 133 P r o t a g o r a s 86 103 114 P y t h o k l e i d e s v o n K e o s 114 Q u i n t u s 141 164 Q u i n t u s S e r e n u s 257 270 R u f u s v o n E p h e s o s 121–122 124 256 264 269 277 – De corp. hum. part. appellat. 51,10 65,16 331 – Quaest. med. 18,17 275 [ R u f u s vo n Ep h e s o s ] – De dissect. part. corp. hum. 331 R u f u s a u s S a m a r i a 29 S a b i n o s 141 S a t y r o s 141 S c r i b o n i u s L a r g u s 161 257 270 – Composit. 38 161 161,5 S e p t i m i u s S e v e r u s 146 S e r g i u s P a u l u s 142 S e x t u s 155–158 S e x t u s v o n C h a i r o n e i a 156 S i m o n vo n At h e n – De forma et delectu equor. 130 130,4 S i m o n i d e s 114 S o r a n v o n E p h e s o s 38 44 51–53 150 223 229–234 239 256 264 268–269 277 307 331 – Gyn. 52,20 53,24 67–68 230–231 308,2 – Interrog. ac respons. libr. 229 233–235 [Soran] – Quaest. med. 216–218 S p e u s i p p 129 S t e p h a n o s v o n A t h e n 277 – In Hipp. Aphor. comm. 264 273 – In Hipp. Progn. comm. 264 273 Stobaios – Ecl. 255
Verzeichnis der antiken Personen, Autoren und Werke S t r a t o n i k o s 141 S y e n n e s i s v o n Z y p e r n 118–120 134 T h e m i s o n 150 T h e o d o r u s P r i s c i a n u s 223 225 257 270 – Eupor. 38 223,2 T h u k y d i d e s 144 T i b e r i u s 38 T r a j a n 223 V a l e n t i n i a n 223 V e t t u l e n u s C i v i c a B a r b a r u s 142
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V i n d i c i a n u s A f e r 223–227 – Epist. ad Pentadium 224 227 – Epist. ad Valentinianum 224 225,7 226 226, 10.11.13.15 Xenophon – De equitandi ratione 130 130,4 – Mem. 20,22.25 Z e n o n v o n E l e a 80 Z o p y r o s 37