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German Pages 332 Year 1962
D E U T S C H E A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU S C H R I F T E N
DER
SEKTION
FÜR
21
FELIX JACOBY
KLEINE PHILOLOGISCHE SCHRIFTEN BAND II
HERAUSGEGEBEN VON HANS JOACHIM METTE
AK AD E M I E - Y E R LAG 1961
BERLIN
ALTERTUMSWISSENSCHAFT
•
BERLIN
Zum Druck angenommen auf Beschluß der Leitung des Instituts für griechisch-römische Altertumskunde vom 17. 5. 1956
Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktoren dieses Bandes: Bernhard Döhle und Gudrun Gomolka
Alle Rechte vorbehalten Erschienen im Akademie -Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger .Straße 3 — 4 Copyright 1961 by Akademie-Verlag GmbH, Berlin Lizenz-Nr. 202 • 100/97/61 Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer 2067/21/11 Preis: DM 5 6 , Printed in Germany ES 7 M
INHALTSVERZEICHNIS BAND II Seite
II.
1. Ein Selbstzeugnis des Terenz, Herrn. 44, 1909, 362—369
1
2. Das Prooemium des Lucretius, Herrn. 56, 1921, 1—65
8 . . .
65
4. Tibulls Erste Elegie, RhM 64, 1909, 6 0 1 - 6 2 2 ; 65, 1910, 2 2 - 8 7 . . .
3. Zur Entstehung der römisohen Elegie, RhM 60, 1905, 38—105
122
5. Besprechung von M. Ites, De Propertii elegiis, BPhW 29, 1909, 746 bis 751
206
6. Zur Arbeitsweise des Properz, Herrn. 44, 1909, 304—309
211
7. Drei Gediohte des Properz, RhM 69, 1914, 3 9 3 - 4 1 3 . 4 2 7 - 4 6 3 . . .
216
8. Eine vergessene Horazemendation, Herrn. 49, 1914, 454—463 . . . .
266
9. Besprechung von G. Pasquali, Orazio Lirico, DLZ 42, 1921, 48—53
. 275
10. Besprechung von W. J . Oates, The influence of Simonides... on Horace, Gnomon 10, 1934, 4 8 1 - 4 8 7 279 III.
1. Die griechische Moderne, Rede vom 1. 3. 1924
285
2. Die Universitätsausbildung der klassischen Philologen, Leipzig 1925 . 301
INHALTSÜBERSICHT BAND I Seite
Vorwort
V
Abkürzungen I.
1. Homerisches I, Der Bios und die Person, Herrn. 68, 1933, 1—50 . . .
VII 1
2. Homerisches II, Die Einschaltung des Schiffskatalogs in die Ilias, SB Berlin 1932, 5 7 2 - 6 1 7
54
3. Die geistige Physiognomie der Odyssee, Antike 9, 1933, 159 — 194 . . 107 4. Der homerische ApoUonhymnos, SB Berlin 1933, 682—751
139
5. Hesiodstudien, Zur Theogonie, Herrn. 61, 1926, 157 — 191
219
6. The date of Archilochos, Cl. Quart. 35, 1941, 97 — 109 249 7. Studien zu den älteren griechischen Elegikern, Herrn. 53, 1918, 1—43. 262—307 268 8. Theognis, SB Berlin 1931, 93 S
345
9. Some Athenian epigrams from the Persian wars, Hesperia 14, 1945, 157—211 456 10. Über das Marmor Parium, RhM 59, 1904, 63—107
521
ABKÜRZUNGEN Abh. Berlin
= Abhandlungen der Deutschen (Preußischen) Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Phil.-hist. Klasse
Anth. P.
= Anthologia Palatina
BPhW
= Berliner Philologische Wochenschrift
BuJb
= Jahresberichte über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft (hrsg. von C. Bursian)
Claas. Philol.
= Classical Philology
Class. Rev.
= Classical Review
DLZ
= Deutsche Literaturzeitung
D.-Kr.
= H. Diels — W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker
GGA
= Göttingische Gelehrte Anzeigen
GGN
= Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse
Herrn.
=
Hermes
J b b . f. klass. Philol. = Jahrbücher für klassische Philologie NJbb
= Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung
Philol.
= Philologus
Philü
= Philologische Untersuchungen, hrsg. von A. Kiessling und U. v. Wilamowitz-Moellendorff
BE
RhM Riv. di Filol.
= Real-Enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, hrsg. v. Pauly-Wissowa-Kroll-Mittelhaus Ziegler = Rheinisches Museum für Philologie = Ri vista di Filología e di Istruzione Classica
SB Berlin
= Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Phil.-hist. Klasse
WJbb
= Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft
II. 1. EIN SELBSTZEUGNIS DES TERENZ* Über die Veränderungen, die Terenz an seinen Vorlagen vorgenommen hat, sind wir dank den antiken Kommentatoren im allgemeinen recht gut unterrichtet. Auch die Gründe, die den Dichter zu seinen Eingriffen veranlaßt haben, lassen sich meist mit Sicherheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen. Einzelne Zweifel bleiben freilich. So sehen wir z. B . nicht ein, warum im Eunuchus die Namen des Originals vertauscht sind. 1 ) Zu diesen scheinbar unbegründeten oder jedenfalls noch nicht erklärten Änderungen gehört m. W. auch die Einführung eines anderen iiQoaamov TigoTanxov in der aus Menandros' üeQiv&ia in die 'Avdqta übernommenen Expositionsszene. Nach dem ausdrücklichen Zeugnis Donats zu v. 10 (I 45, 21 Wessner) war die Exposition in der Perinthia durch einen Dialog zwischen dem alten Simon und seiner Frau gegeben, während in der lateinischen Bearbeitung an Stelle der uxor der Freigelassene Sosias getreten ist. Der Ausdruck Donats — quia conscius sibi est primam scaenam de Perinthia esse translatam, ubi senez ita cum uxore loquitur ut apud Terentium cum liberto — ist wohl richtig dahin erklärt, daß Terenz den Wortlaut des Dialogs zwischen den beiden Personen des ersten Aktes trotz der Einführung eines anderen nQÖownov TiQoraTixov im wesentlichen unverändert gelassen h a t . 2 ) Das erklärt sich ja, wenn es so ist, aus der Bedeutungslosigkeit der Zwischenreden ohne weiteres. Nur die Motivierung für das Auftreten des TiQoaconov TtQorarixov mußte allerdings geändert werden. Die Eingangsverse der Andria ( I 1 , 1 — 1 8 = v. 27—45) können so nicht in der Perinthia gestanden | haben, weil sie „demonstrationi inserviunt, cur Sosiam prae 363 ceteris elegerit dominus, cui secreta sua enarraret cuiusque deinde operam ad consilia exequenda usurparet." 3 ) Ob Terenz diese erst durch Einführung des Freigelassenen notwendig gewordenen Verse ganz selbständig * Herrn. 44, 1909, 362-369. Bezeugt Schol. Persius s. V 161. Vgl. DONAT ZU V. 971 (I 472, 1 Wessn.). 362,1 2 ) S. zuletzt SIPKEMA, Quaestionea Terentianae, Diss. Amsterdam 1901, 75f. Doch 362,2 vgl. auch FL. NENCINI, De Terentio eiusque fontibus, Liburni 1891, 25f. 363,1 3
)
1
SIPKEMA a . O.
Jacoby, Kleine Schriften I I
2
364
363.2
Ein Selbstzeugnis des Terenz
gedichtet hat oder mit Anlehnung an eine ähnliche griechische Expositionsszene (vielleicht doch auch an die der Perinthia selbst) oder ob er sie ganz aus einem anderen Original entnommen hat, braucht uns hier so wenig zu kümmern, wie die Streitfrage, ob er noch andere Verse in den Dialog der Perinthia eingefügt hat. Denn mir kommt es hier allein auf die Frage an, warum Terenz überhaupt geändert hat, d. h. einmal, warum er nicht die uxor des Originals beibehalten h a t ; dann aber, warum er gerade einen libertus an ihre Stelle gesetzt hat. Diese Frage nach dem Grunde der Änderung ist selten aufgeworfen 4 ); und die Antworten, die sie bisher gefunden hat 5 ), scheinen mir wenig befriedigend. DUEBNER6), IHNE 7 ) und NENCINI 8 ) haben darin eine Anpassung an römische Familienverhältnisse erkennen wollen, zu denen die von Menander vorausgesetzte Unwissenheit der Mutter über das Leben und Treiben ihres Sohnes nicht recht gestimmt hätte. Auch | RIBBECK9) scheint der gleichen Ansicht zu sein, wenn er die Unterhaltung mit dem 'alterprobten Sklaven Sosias' als 'passendere Motivierung' bezeichnet. Mir will das wenig glaublich erscheinen. Über die aushäusigen Vergnügungen des Herrensöhnchens wird der mit dem Hause eng verbundene libertus immerhin eher Bescheid gewußt haben als die Matrone. Und was die tatsächlichen Bemerkungen des alten Simon über den Charakter und die Lebensweise seines Sohnes anbelangt, so sind sie m. E. genau so de*) Gar nichts darüber sagen die Ausgaben, soweit sie mir hier zugänglich sind: K L O T Z , Leipzig 1865; W . W A G N E R , Cambridge 1869; C. E . F R E E M A N and A . S L O M A N , Oxford 1885; A. S P E N G E L , 2 . Aufl. Berlin 1888. Auch W . S . T E U F F E L , Studien und Charakteristiken zur griechischen und römischen, sowie zur deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl. Leipzig 1889, 353f., und C. BRAUN, Quaestiones Terentianae, Diss. Jena 1877, berühren die Frage nicht. Nicht zugänglich waren mir die Ausgaben von QUICHERAT, Paris 1865, MEISSNER, Bernburg 1876, FAIRCLOUGH u n d
NENCINI.
363.3 5 ) Teilweise aufgezählt von SiPKEMA76f., dem aber das Wichtigste, die Vermutung LEOS (S. S. 4) e n t g a n g e n i s t .
363.4 ') Jahns Jahrb. 1834, 32. 363.5 ') Quaestiones Terentianae, Bonn 1843, 12. 3 6 3 . 6 8 ) a. O . 30f. N E N C I N I ist aber der einzige, der fragt, warum T E R E N Z denn die uxor, wenn er sie nun einmal nicht brauchen konnte, gerade durch den libertus ersetzt hat, statt durch einen alten treuen Sklaven, was doch an sich viel näher lag (s. S. 4 ) . Hier ist der richtige Weg betreten. Leider erklärt dann N E N C I N I die Wahl des Freigelassenen wenig glücklich dadurch, daß die Sklaven der palliata gewöhnlich erilium flliorum adiutores gewesen seien. Noch weniger schön ist der Hinweis auf F 8 , S. 1 3 3 K Ö R T E der Perinthia, wo von ävenatpa oibfiaza die Rede ist, was N E N C I N I auf Freigelassene deutet. Damit wird nichts bewiesen. 364,1 9 ) Geschichte der römischen Dichtung, Stuttgart 1894, 134. Er glaubt auch offenbar, daß Terenz den Wortlaut des Dialogs der neueingeführten Person entsprechend geändert hat.
Ein Selbstzeugnis des Terenz
oo
plaziert, w e n n sie d e m alten Hausinventar wie w e n n sie der Mutter gegenüber g e m a c h t werden. Überhaupt aber ist eine derartige Erklärung nur möglich, w e n n m a n an die Expositionsszene d e n Maßstab der gewöhnlichen Wahrscheinlichkeit legt 1 0 ), statt den hier allein mög| liehen d e s szeni- 365 sehen Zwanges, die Zuschauer innerhalb des u n d durch den Dialog über die Vorbedingungen des folgenden Spieles zu unterrichten. D e n n da Terenz n u n einmal die dialogische Exposition der v o n Menander beliebten Technik 1 1 ) vorgezogen hat, so konnte er das Mittel des Tigoamnov ngcrtarixov nicht entbehren, das nach alter Praxis nur eine äußerliche Motivierung für sein A u f t r e t e n verlangt. Solche Personen, die nur dazu dasind, 'zu erzählen oder sich erzählen zu lassen', h a t Terenz nicht nur in den beiden nach Apollodor gearbeiteten Stücken vorgefunden; er k o n n t e i n der j e t z t mehrfach v o n LEO 1 2 ) nachgewiesenen Art dieses technische Mittel auch selbständig verwenden, indem er ein ngoatonov nQoxaxixov da einführte, w o das Original es vielleicht nicht bot. 1 3 ) Die Erwägungen, v o n denen er 10
) Begibt man sich aber einmal auf diese schiefe Ebene, so ist kein Halten mehr. 364,2 Nach unseren Begriffen wahrscheinlich würde die Szene nur wirken, wenn ein TiQÖaionov TiQozarixöv überhaupt nicht verwendet würde. Es müßte vielmehr, wenn nicht monologische Exposition vorgezogen wird, der Plan des Alten nicht von vornherein feststehen, sondern sich im Verlaufe der Exposition erst formulieren ; also auf das hin, was er von seinem Sohn — nun nicht schon weiß, als er die Bühne betritt, sondern erst erfährt. Das wäre ja leicht zu machen. Entweder müßte Chremes nicht postridie (v. 145), sondern vor unseren Augen ad eum clamitans kommen. Schwerlich würde dann jemand fragen, woher Chremes denn über die Liebschaft seines präsumptiven Schwiegersohnes so gut unterrichtet sei. Oder aber es müßten die beiden Personen der Expositionsszene ihre Bollen tauschen. Nicht Simon dem Sosias, sondern Sosias müßte dem Simon die den Anstoß zur Handlung gebenden Tatsachen über seinen Sohn berichten, die der erstaunte Alte mit Eröffnungen über den Charakter und die bisherigen Betätigungen seines Sohnes, die zu dem jetzt Gehörten so gar nicht passen, aufnehmen würde. Dann hätten wir einen echten Dialog, der doch alle Pflichten der Exposition erfüllt. Wir brauchten nicht die doch im Grunde gar nicht wahrscheinliche, durch v. 115 egomet guoque eins causa in funus prodeo nur ganz äußerlich begründete Tatsache hinzunehmen, daß der alte Simon unter all den jugendlichen Liebhabern an der Beerdigung der Hetäre teilnimmt. In der Perinthia machte der Dichter diese Voraussetzung, weil dem Alten irgendwie die Augen über seinen Sohn geöffnet werden mußten, wozu natürlich die Gattin nicht geeignet war. Die konnte nur hören, was Simon ihr mitteilt. Nach Einführung des Sosias war dieses doch die gewiesene Person zur Berichterstattung. Aber Terenz hat eben die Szene der Perinthia nicht umgedichtet, weil sein Begriff von Wahrscheinlichkeit nicht der gewöhnliche, sondern der szenische ist, bei dem die griechische Technik der rein äußerlichen Motivierung maßgebend bleibt. Diese Technik müssen wir also bei unseren Erklärungen berücksichtigen. 11 ) Soviel bleibt wohl auch jetzt noch bestehen. Im übrigen s. oben. 365,1 12 ) Der Monolog im Drama, Berlin 1908, z. B. S. 78. 365,2 13 ) Vollständig verkehrt ist deshalb die Ansicht von FR. KAMPE, Die Lustspiele des 365,3 Terenz und ihre griechischen Originale, Halberstadt 1884, der glaubt, 'daß der 1»
4
366
Ein Selbstzeugnis des Terenz
sich dabei leiten ließ, waren sicher nicht von den Gesetzen der gewöhnlichen Wahrscheinlichkeit diktiert. Ob freilich Terenz in dieser Weise in der Andria ein von den Griechen übernommenes technisches Mittel verwendet hat, ist sehr zweifelhaft. Nachdem Ü Z I A T Z K O 1 4 ) die Vulgat-Erklärung des libertus durch die Ansicht erweitert hat, daß 'Terenz überhaupt Bedenken tragen mochte, die Mutter der Hauptperson als 7IQO\OO)7IOV jtQoranxöv zu verwenden', hat allerdings LEO15) angenommen, daß die Mutter in der Perinthia eben nicht nur TiQoawjtov TIQOTCLTIXOV war, sondern 'auch sonst eine Rolle spielte'. Damit wäre wirklich der vermißte psychologische Anstoß für die Änderung gegeben: Terenz konnte — das ist glaublich — Bedenken tragen, eine Hauptperson der Vorlage zum bloßen JIQOOCOTIOV TIQOTOXIXOV Z U degradieren. Leider sind die Grundlagen von L E O S Vermutung nicht sicher genug: außer auf die 'Analogie der übrigen Komödienmütter' stützt er sich wesentlich eben auf die Tatsache der Änderung bei Terenz, die doch erst erklärt werden soll, wir würden damit eine Art Zirkelschluß machen. Vor allem aber ist der Erklärung dadurch die Grundlage entzogen, daß die von LEO freilich mit aller nötigen Reserve vorgetragene Annahme, Menander habe von der Technik des ngoaconov TIQOTCLTOCÖV überhaupt keinen Gebrauch gemacht, durch den neu gefundenen "HQWQ allem Anschein nach widerlegt ist. 16 ) Wenn danach die uxor der Perinthia wohl auch nur TiQoacoTiov TiQorarixov gewesen ist — denn dies bleibt doch das Wahrscheinlichste —, so ist wieder kein Grund für Terenzens Änderung vorhanden. Mir scheint also, daß wir uns nach einer anderen Erklärung umsehen müssen; und ich denke, sie wird indiziert durch die Qualität der von Terenz an Stelle der Frau eingeführten Person. Der springende Punkt
römische Dichter sogar den Sosias, also das nQÖacanov JIQOTOZIXÖV, in Beziehung zur Handlung setzen wollte dadurch, daß Terenz ihn als Aufpasser über Daos und Pamphilos von Simon bestellen läßt, ein Auftrag, zu dem eine Frau, besonders eine Mutter, wohl nicht so leicht brauchbar erschienen wäre'. (S. 7.) Schon diese Behauptung ist seltsam; aber Sosias ist ja gerade bei Terenz ein TIQÖOCDTIOV jiQoranxov, wie Donat zu v. 28 (I 49, 16 Wessn.) ganz richtig sagt, keine an der Handlung irgendwie beteiligte Person. Wenn die von Terenz vorgenommene Änderung durch die Frage nach der Zulässigkeit des ngoatonov noorarmov bedingt wäre, so müßten wir gerade das Umgekehrte aus der Änderung schließen, d. h. wir müßten LEOS frühere Erklärung akzeptieren. Es ist mir unverständlich, wie auch NENCINI sich der KAMPEschen Äußerung anschließen kann. 365,4 14 ) Die Andria des Menander, RhM 51, 1876, 249, 1. Seine Erklärung traut freilich dem Terenz ein fast übertriebenes Feingefühl zu. 366.1 15 ) Plautinische Forschungen zur Kritik und Geschichte der Komödie, Berlin 1895, 220. Daß die Mutter in der Perinthia ein ngdaamov jiQoraxtxöv gewesen sei, hat schon NENCINI S. 31 bezweifelt, allerdings von ganz falschen (d. h. von KAMPES) Voraussetzungen ausgehend. 366.2 16 ) Das hat LEO, Der neue Menander, Herrn. 43, 1908, 126, sofort selbst konstatiert.
Ein Selbstzeugnis des Terenz
5
ist nicht die Änderung an sich, sondern der Ersatz der Menandrischen Figur gerade durch den libertus.11) Denn der libertus ist in der Komödie überhaupt eine seltene Figur. 1 8 ) Ihr Auftreten weist eher auf römische als auf attische Verhältnisse, in denen vielmehr der Parasit oder auch ein Sklave Rollen spielen, wie hier Simon dem Sosias eine zugedacht hat. 1 9 ) | Nun liegt es sonst gar nicht in der Art von Terenzens Kunst, die 367 attische Lokalfarbe durch römische Übermalung zu verwischen. Wenn er es hier getan hat, so muß er einen ganz besonderen Grund gehabt haben, der es ihm wünschenswert erscheinen ließ, gerade einen Freigelassenen auf die Bühne zu bringen. Und dieser Grund kann — es bleibt wirklich keine andere Möglichkeit mehr — nur ein äußerlicher gewesen sein. Nun ist mir immer der warme Ton aufgefallen, den die ersten Worte des alten Simon an seinen libertus tragen. Die Verse stellen das zwischen Herren und Sklaven und wieder das zwischen Herren und Freigelassenen bestehende Pietätsverhältnis als ein in diesem speziellen Falle auf beiden Seiten wirklich ideales h i n : 2 0 ) 32
nil istac opus est arte ad hanc rem quam sed eis quae Semper in te intellexi sitas,
paro21),
34
fide et taciturnitate22)
35
ego postquam te emi, a parvolo ut Semper tibi apud me iusta et Clemens fuerit servitus
— — —
) Darauf hat einzig NENCINI geachtet, S. 2, Anm. 8. ) Soweit ich sehe, kommt ein libertus, bei dem diese Stellung betont wird, überhaupt nicht vor. Auch den Sosias hat Terenz ja in erster Linie in seiner Eigenschaft als Koch auf die Bühne gebracht. Als solcher ist er für die Vorbereitung der nuptiae (v. 167) notwendig. 19 ) Dagegen hat es nichts Bedenkliches, daß der ehemalige Sklave gewiß auch in seiner ehemaligen Eigenschaft im Hause des Herren weiterlebt. Nur für Menander ist der Koch als Haussklave nicht denkbar. 20 ) Es macht natürlich nichts aus, ob für einzelne Gedanken in diesen Versen oder selbst für das Ganze griechische Vorbilder von Terenz benutzt sind. Im letzteren Falle, der übrigens nicht wahrscheinlich ist, wäre es wegen v. 37 feci ex servo ut esses libertus mihi schwerlich Menander. Die Ähnlichkeit von 38 propterea quod servibas liberaliter mit Menander F 857 Kock ist nur oberflächlich. Szenen aber, wie Terenz sie dem Dialog der Perinthia hier zugedichtet hat, hat es in Menge gegeben. Man mag die neue Samia vergleichen, wo Koch und Sklave auftreten, ihre komische Unterhaltung auf der Bühne noch fortsetzen, worauf der letztere mit aXXä naQdyer' eiaco v. 80 (Andr. 38 vos istaec intro auferte) abschließt. Dann behält der aufmerksam gewordene Alte den Sklaven zurück, wie hier Simon den Sosias. Doch lassen sich noch gleichartigere Beispiele aufweisen. 21 ) Nur Abschluß der Worte, unter denen Simon und Sosias mit den begleitenden Sklaven die Bühne betreten. 2 a ) Die Zwischenantwort exspecto quid velis ist absichtlich so farblos wie möglich gehalten. 17
1S
366,3 366,4
366,5 367,1
367,2 367,3
6
Ein Selbstzeugnis des Terenz
scis. feci ex servo ut esses libertus mihi, propterea quod servibas liberaliter. quod habui summum pretium persolvi tibi.23) 368
Jedesmal wenn ich die Worte las, mußte ich an die Anfangsworte | der Terenzvita denken, deren Kern, wie sich aus dem Namen des Dichters ergibt, tatsächlicher Natur ist 24 ): P. Terentius Afer Karthagine natus servivit Romae Terentio Lucano senatori, a quo ob ingenium et formarn non institutus modo liberaliter, sed et mature manu missus est. Die eben zitierten Verse sind so ziemlich die ersten, die Terenz auf der Bühne hat sprechen lassen. Denn die Anweisungen und Antworten, die im Auftreten gegeben werden, fallen kaum ins Ohr; und einen Prolog hat die Andria bei ihrer ersten Aufführung kaum gehabt. 25 ) Wenn meine Auffassung dieser Verse richtig ist, so trägt Terenz mit ihnen öffentlich die Dankesschuld ab oder gibt wenigstens dem Dankgefühl Ausdruck, das er gegen seinen früheren Herren, der ihn 'zum Menschen unter Menschen' gemacht hat, empfindet. Ich finde es besonders hübsch, daß er dies bei der allerersten Gelegenheit tut, die ihm überhaupt öffentlich zu sprechen erlaubte. Für die Vita gibt dieses Selbstzeugnis sonst nicht viel aus, es bestätigt etwa das mature manu missus est. Terenz ist bereits Freigelassener, als er sein erstes Stück aufführt. Vielleicht ist auch a parvolo geeignet, die m. E. an sich wahrscheinliche Annahme zu begünstigen, daß Terenz selbst in Rom oder Italien überhaupt, d. h. im Hause des Terentius Lucanus, geboren ist. Sonst ist die Anspielung auf die eigenen Verhältnisse derart, 23
) Die folgenden Verse stellen dann die Gesinnung des Freigelassenen in das rechte Licht: er ist non immemor beneficii. 368.1 ) Daß er nämlich Sklave war, dann freigelassen worden ist; ebenso daß er eine gute Erziehung genossen hat. Natürlich können und werden das Kombinationen sein; aber es sind richtige. Sehr fraglich steht es schon um Karthagine natus, für das wir den Beweis nicht kennen; jedenfalls muß der Afer sehr früh nachRom gekommen sein, wozu mature der Vita stimmt. Sind die Verse oben richtig erklärt, so ist ihr a parvolo geeignet, Zweifel an dem von der Vita gebotenen Ort der Geburt zu erregen. S. oben im Text. 368.2 25) Über den erhaltenen Prolog urteilt in knapper und zutreffender Formulierung LEO, Plautinische Forschungen 89, 3: 'der Prolog ist weder für ein Anfangsstück noch von einem Anfänger (geschrieben).' Die alte Vermutung, daß die Andria zuerst ohne Prolog aufgeführt ist, stützt derselbe Analecta Plaut. 2, Göttingen 1898, 21, 1, durch Hinweis auf Terenzens Stellung zur Prologtechnik. Mir scheint die Annahme eines älteren Prologs schon deshalb unmöglich, weil er nicht gut anders als sehr persönlicher Natur gewesen sein könnte. Ein Prolog, in dem der junge Dichter sich dem Publikum vorstellte, wäre aber schwerlich verloren gegangen, ohne mindestens in der biographischen Tradition deutliche Spuren hinterlassen zu haben. 367,9
24
Ein Selbstzeugnis des Terenz
7
mußte derart | sein, daß sie nur im Kreise der Eingeweihten, der vor- 369 nehmen Gönner und Freunde Terenzens verstanden werden konnte. Der gewöhnliche Zuhörer bemerkte in den Versen nichts Besonderes, da in allem übrigen das jiQooamov JIQOTOUKOV mit dem Dichter natürlich keinerlei Ähnlichkeit aufweist, sondern ganz nach dem Gebote szenischer Wahrscheinlichkeit als Koch und Hausmeister des alten Simon ausgestaltet ist. Darum haben auch die alten Grammatiker, die sonst eine überfeine, sie aber meist irreführende Nase in diesen Dingen besaßen, die Beziehung in diesen Versen nicht bemerkt. Der Fall liegt also gerade umgekehrt, wie mit dem berühmten Stück aus Ennius' Annalen 234
haece locutus vocat, quocum bene saepe libenter mensarn sermonesque suos rerumque suarum comiter impertit eqs,
von dem Aelius Stilo (Gell. X I I 4, 5) zu sagen pflegte Q. Ennium de semet ipso haec scripsisse picturamque istarn morum et ingenii ipsius Q. Ennii factam esse. Man sieht in dieser Behauptung jetzt wohl übereinstimmend einen ganz persönlichen Einfall des alten Philologen, der ja richtig sein kann, für den es aber heute wie damals an jedem Mittel fehlt, ihn zu beweisen oder auch nur wahrscheinlich zu machen. Mit den hier besprochenen Terenzversen steht es hoffentlich anders.
2. DAS PROOEMIUM DES LUCRETIUS* D I E GEDANKEN Zu den Fragen, die jeweils von neuem in unsrer Wissenschaft auftauchen, ohne daß sie eine endgültige allgemein anerkannte Lösung finden zu sollen scheinen, gehört die nach dem Aufbau des großen Lukrezischen Prooimions. Zahlreich sind die Versuche, die Gedankenfolge dieser anderthalb Hundert Verse aufzuweisen oder die vermeintlich gestörte Ordnung der Versgruppen zu berichtigen, die Störungen aus der Entstehungsgeschichte zu erklären und die einzelnen Partien verschiedenen Epochen in der Entwicklung ihres Dichters zuzuweisen. Die Hartnäckigkeit dieses Bemühens ist begreiflich und berechtigt. Denn diese Einführung gehört ja nicht nur zum Schönsten in dem an Schönheiten so reichen Gedicht, sie ist eine der großartigsten Schöpfungen der römischen Literatur überhaupt, die sich gleichberechtigt neben das Höchste stellt, was griechischer Geist geschaffen hat, eines der in allem Schrifttum nicht häufigen Stücke, das Ewigkeitswert hat, weil in ihm eine ganze Persönlichkeit in vollendet eindrucksvoller Form Gedanken und Empfindungen ausspricht, die die Menschheit immer wieder bewegen. J e stärker aber der Zauber ist, der den Leser immer von neuem in den Bann dieser Verse zwingt, je entschiedener in ihm die rein gefühlsmäßige Überzeugung wird, daß eine solche Wirkung undenkbar ist, wenn das, wovon sie ausgeht, doch schließlich nur disiecti membra poetae sein sollen, um so dringender wird der Wunsch, daß es endlich gelingen möge, Klarheit in dieser Frage zu schaffen und ein Einverständnis über die Komposition zu erzielen durch den Nachweis, was der Dichter gewollt und warum er seine Absichten gerade in dieser Form verwirklicht hat. Man wird nicht gerade sagen dürfen, daß die bisherige Arbeit resultatund zwecklos gewesen sei. Wenn ihr Ergebnis in der ersten Generation nach LACHMANN in dem Schlüsse bestand, daß zwar alle einzelnen Teile 2 des Prooimions von Lukrez stammten, | ihre Zusammensetzung in den Handschriften aber gewissermaßen das Werk des Zufalls sei, weil der * Herrn. 56, 1921, 1 - 6 5 .
Die Gedanken
9
Dichter sie unverbunden und in Unordnung hinterlassen habe 1 ); wenn der Gedanke, es ließe sich in diesem Chaos Ordnung schaffen, hoffnungslos erscheinen mußte bei dem Widerstreit der Meinungen, so hat auch diese Bankerotterklärung, die scheinbare Erschöpfung aller Möglichkeiten, das Überlieferte zu verstehen, ihr Gutes gehabt. Sie wurde die Veranlassung für ein vielbewundertes Meisterstück der VAHLENschen Exegese 2 ), für seinen Versuch, "Plan und Gliederung' des Prooimions 'in einer der Abfolge des Textes sich anschmiegenden hermeneutischen Betrachtung darzulegen' — ein Versuch, der mit seiner liebe- und verständnisvollen Versenkung in die Intentionen des Dichters in einer Reihe wesentlicher Punkte das Richtige traf und der damit die feste Grundlage für alle weitere Arbeit geschaffen hat. Auf ihr hat denn auch D I E L S weitergebaut, als er kürzlich in einer ersten prolusio zu der sehnlichst erwarteten Ausgabe 3 ) das VAHLENsche Resultat für den ersten Teil des Prooimions (vv. 1—61) zu ergänzen und zu berichtigen unternahm, indem er Form und Inhalt dieser Verse einer Betrachtung unterwarf, die nicht nur das einleitende Gebet an Venus in Zusammenhang mit der religiösen Poesie der Antike überhaupt setzt und dadurch seinen Aufbau erklärt, sondern auch die Gesamtanlage wenigstens dieses Teiles aus seiner Vereinzelung befreit und unter den Gesichtspunkt der griechischen Kunstlehre stellt. Aber wenn sich DlELS in seinen Ausführungen auf den genannten ersten Teil beschränkt, wenn ihm also der Grundriß des ganzen Baues von VAHLEN so richtig erkannt zu sein scheint, daß er hier eine Nachprüfung nicht für nötig hält, so ist das doch wohl eine zu optimistische Auffassung der Sachlage. Vergegenwärtigen wir uns doch den äußeren Erfolg der VAHLENschen Exegese. Gewiß, sie hat, wie D I E L S es ausdrückt, 'das Umstellungsfieber merklich gedämpft'; aber sie hat es eben nur gedämpft, nicht ganz vertrieben. Durchmustern wir die bedeutenderen Ausgaben, die seit dem J a h r e 1877 erschienen sind 4 ), so finden wir zwar bei dSn Engländern H. A. J . MUNRO | (4. edition, Cambridge 1893) 5 ) und in der Textausgabe 3 von C. B A I L E Y (Oxford 1898), bei dem Holländer J . V A N D E R V A L K (Kampen 1903) und dem Amerikaner W. A. M E R R I L L (New-York 1907) die überlieferte Versfolge gewahrt und nur jene Lücke vor v. 50 bezeichnet, die L A C H M Ä N N statuieren zu müssen glaubte, als er ungern genug den
2
) ) 4 ) 3
5
)
Einen Überblick über die älteren Ansichten gibt F. SUSEMIHL, D e carminis Lucretiani prooemio Universitätsprogramm Greifswald 1884. Über das Prooemium des Lucretius, SB Berlin 1877, 479—499. Lucrezstudien 1. Monatsberichte der Berliner Akademie 1918, 912ff. Nicht zugänglich waren mir Lucretius lib. I ed. C. PASCAL, R o m 1904; Lucretius lib. I 1—550 par E. B E N O I S T et H . L A N T O I N E , Paris 1892; J. V A N D E R V A L K , D e Lucretiano carmine a poeta perfecto, Kampen 1902. Doch hat auch M U N R O einmal vermutet, daß das Urprooimion nur aus v. 62fF. bestanden habe.
2,1 2,2 2,3 2,4
3,1
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Das Prooemium des Lucretius
fehlenden Schluß dieses Verses mit BERNAYS aus den Schol. Veron. Verg. Georg. I I I 3 entnahm. Aber die in Deutschland jetzt herrschende Teubneriana A. BRIEGERS (Leipzig 1894) markiert, wenn sie auch auf Umstellungen verzichtet, nicht weniger als drei Versgruppen (6—9; 50—61; 136—145) als lose Stücke, die den vom Dichter gewollten Platz noch nicht gefunden haben 6 ); und die mit Recht angesehene erklärende Ausgabe von GlUSSANl, Turin 1896/97, der der Prooimienfrage im Gegensatz zu dem etwas zu sehr auf die Einzelerklärung eingestellten Kommentar MuNROs eine ausführliche Vorbesprechung widmet 7 ), bringt in starker Übereinstimmung mit BRlEGERschen Gedanken die Versgruppen in der Folge 1—43; 62 — 79; Lücke, 136—145; 5 0 — 6 1 ; 80—101; 102—135. Davon betrachtet er den mittleren Teil (62—79; 136—145; 50—61) als 'proemio primitivo'; 80—135 als Erweiterung; 1—43 als vermutlich ebenfalls später geschrieben. Nehmen wir dazu, daß unmittelbar nach VAHLEN A. KANNENGIESSER8) in einer Epikrise die vv. 62—148 (einer Andeutung VAHLENs folgend) für später zugefügt erklärte und behauptete, nach ihrer Einfügung würde Lukrez die vv. 54—61 getilgt haben; auch seien die vv. 146—148 entweder hinter 135 zu stellen oder Randnotiz des Interpolators zu vv. 144—145; daß bald darauf H. SAUPPE9) ohne weitere Begründung, weil der von ihm hergestellte T e x t für sich selbst sprechen sollte, die vv. 50—61 hinter 79 stellte und vv. 146—148 strich; daß SuSEMIHL (s. S. 9 Anm. 1) nicht weit von KANNENGIESSER 4 abweichend eine doppelte Rezension des Prooi|mions, Erweiterung des Urprooimions 1—61 durch 62—145 annahm, ohne daß Lukrez zur Vornahme der durch die Erweiterung notwendig gewordenen Änderungen in den vv. 50—61 gekommen sei; daß dann REITZENSTEIN in einer sehr feinen, freilich auch etwas überscharfen Untersuchung 1 0 ) gar die überlegte Tätigkeit des Redaktors zu erkennen glaubte. Auch er nahm Anstoß an den 'beiden den Zusammenhang störenden Abschnitten 50—61 und 136—145' und sah in ihnen, die gut aneinanderzuschließen schienen, 'den Schluß eines ersten, nur an Memmius gerichteten Entwurfes des Prooimions', dessen beide Teile der Redaktor so gut es ging in 'das zweite, später entworfene Prooimion' einfügte, das 'nur zwischen der Anrufung der Venus und der Verherrlichung des Epikur eine Lücke' hat'te, die eben 3.2 o) An dieser Ansicht hat BRIEGER im wesentlichen festgehalten. Philol. 67, 1908, 285 bezeichnet er vv. 50—61 als 'ein später verworfenes älteres Stück'; den Anstoß, den er an vv. 136 — 145 nimmt, findet er durch GIUSSANIS Umstellung hinter 79 gemildert. 3.3 7 ) Osservazioni intorno al proemio, vol. 2, 2—10. 3.4 8) De Lucretii versibus transponendis, Diss. Göttingen 1878, 5ff. 3.5 ») Quaestiones Lucretianae, Universitätsprogramm Göttingen 1880, llff. = Ausgewählte Schriften 717ff. 4,1 10 ) Drei Vermutungen zur Geschichte der römischen Literatur, Marburg 1893, 44ff.
Die Gedanken
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für den Redaktor 'der Anlaß war, auf das erste zurückzugreifen'. Beachten wir schließlich, daß selbst die Verteidiger der überlieferten Folge, von denen als letzter mir bekannter G. GlRl, Intorno al proemio del primo libro di Lucrezio, Riv. di Filol. 40, 1912, 87fF., genannt sei, von der Vollendung und der Einheitlichkeit des Prooimions nicht so ganz überzeugt sind. J . WOLTJER, Studia Lucretiana, Mnemosyne N.S. 25, 1897, 62ff., schließt, nachdem er die Überlieferung gegen ihre Angreifer, unter die er seltsamerweise auch VAHLEN rechnet, energisch verteidigt hat, mit der bedenklichen Bemerkung zu der einen großen Hauptschwierigkeit, zu dem Übergang zwischen v. 61 und 62: concedimus transitione hanc partem carere, id quod statu carminis imperfecto explicatur et excusatur. Und J . MUSSEHL, De Lucretiani libri I condicione ac retractatione, Diss. Greifswald 1912, 52ff., der am engsten an VAHLEN sich anschließt und selbst die Lücke vor v. 50 nicht gelten läßt, glaubt doch Fr. BOCKEMÜLLERs Behauptung zeitlich verschiedener Schichten durch neue Argumente stützen zu können: dirimendum esse primum prooemium duas in partes aliis temporibus scriptas, in v. 1—43 et 50—148. Freilich hält BOCKEMÜLLER die v v . 1—43 f ü r d e n j ü n g e r e n , MUSSEHL f ü r d e n ä l t e r e n
Teil. Man sieht, das Fieber ist noch recht heftig. Wir sind weit entfernt von einer Einigung. VAHLENS Nachweis eines bedachten Aufbaues hat durchaus nicht völlig durchgeschlagen. Es muß seiner Auslegung also doch wohl an einem letzten Entscheidenden fehlen, das die Überzeugung von ihrer Richtigkeit, von der Einheit und Vollendung unseres Prooimions erzwingt. I n der Tat hat VAHLENS Betrachtungsweise nicht nur methodisch eine schwache Seite; sie hat seine Nachfolger, was damit | eng zusammenhängt, 5 weil es aus der Art, wie er seine Aufgabe behandelt, resultiert, in dem eigentlich entscheidenden Punkte auf einen falschen Weg geführt. Der paraphrasierende, Schwierigkeiten gelegentlich doch mehr verdeckende, als anerkennende und sodann auflösende Nachweis des Gedankenzusammenhanges; die mangelnde Rücksicht auf den gewissermaßen negativen Teil der Aufgabe, der in der Erklärung der äußeren Verbindung oder vielmehr Verbindungslosigkeit der als innerlich verbunden erwiesenen Gedankenkomplexe bestehen sollte — diese Art war nicht gerade geeignet, Gegner zu überzeugen, die von dieser äußeren Verbindungslosigkeit ausgehen oder doch Vorteil von ihr ziehen, wenn sie so leicht und bequem die Versgruppen den Platz wechseln lassen. Wir wollen uns diese Frage der dichterischen Technik, die doch nicht nur bei dem viel bestrittenen und daher denn auch von VAHLEN besonders sorgfältig besprochenen Übergang 61/62 brennend wird, auf später versparen, um erst die Grundlinien zu ziehen und das eigentliche Problem, das der Aufbau des Prooimions uns bietet, womöglich schärfer zu formulieren, als es bisher geschehen ist. Es hängt
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Das Prooemium des Lucretius
mit V A H L E N S etwas einseitig ausgleichender Betrachtungsweise zusammen, daß er sich von der im Übergang 61/62 dem oberflächlichen Leser besonders auffälligen anscheinenden Verbindungslosigkeit bestimmen läßt, das ganze Prooimion in zwei Hauptteile zu zerlegen, deren erster die vv. 1—61, deren zweiter, umfangreicherer die vv. 62—135 (so S. 495) oder vielmehr, wie es nach der abschließenden Behandlung des Schlußpassus 136—145 heißt (S. 499), die vv. 62 — 145 umfaßt 1 1 ) — zwei Teile, die, wie VAHLEN sagt, 'in sich ein jeder wohl | angelegt und durchgeführt, auch der beide miteinander verknüpfenden Beziehungen nicht ermangeln'. Dies ist, um es gleich zu sagen, der bedenklichste Punkt der VAHLENschen Interpretation, und gerade diesen Punkt haben seine Nachfolger in einer Weise in den Vordergrund geschoben, vor der VAHLEN selbst sich wohl gehütet hat; sie haben ihm eine besondere Auslegung und Spitze gegeben, die wohl das scheinbare Abreißen des Gedankens bei v. 61, das Neuanheben bei 62 gleichsam natürlich erscheinen lassen und zugleich den Gesamtaufbau des Prooimions, das Verhältnis der beiden VAHLENschen Teile verdeutlichen und begründen soll, die aber tatsächlich die wirkliche Schwierigkeit des Aufbaues ebenso verkennt wie VAHLEN, dafür aber dem klaren Inhalt der beiden VAHLENschen Teile Gewalt antut. Es setzt nämlich VAN DER VALK in seiner Ausgabe zu VAHLENs erstem Teil (vv. 1—61) die Überschrift totius carminis prooemium, zu seinem zweiten (vv. 62—145) die Überschrift prooemium libri primi. Das n
) Abzulehnen ist die Behauptung MUSSEHLS, 52, daß die vv. 146 — 148 hunc igitur terrorem animi tenebrasque eqs. zum Prooimion zu ziehen wären und erst mit 149 abzusetzen sei. Wenn diese Verse sonst stets den Schluß eines Prooimions oder eines seiner Abschnitte bilden, so kommt das doch daher, daß sie überall sonst den Vergleich nam reluti pueri trepidant passend abschließen. In I sind sie von ihm gelöst und syntaktisch eng mit 149FF. verbunden; auch ist der Gedankenschluß v. 145 so ausgesprochen, daß über ihre Beziehung zum Folgenden kein Zweifel bestehen kann. Die Frage, für welche Stelle der Vergleich ursprünglich bestimmt war, brauchen wir hier nicht zu entscheiden. Über die Rolle der drei Schlußverse hier hat aber GIUSSANI im wesentlichen richtig geurteilt. Sie dienen als Bindestück zwischen dem für sich geschriebenen Prooimion und dem Beginn der Behandlung. Letzterer mag bei Vollziehung der Verbindung leicht umgestaltet sein, was für die übrigen, mit Propositio beginnenden Bücher nicht nötig war (über vv. 151 — 158. 155 s. unten S. 29). Nach oben, am Prooimion selbst, war keine Änderung nötig, da der Doppelausdruck terrorem animi tenebrasque sogar ganz geeignet erscheinen konnte, die beiden letzten Abschnitte des Prooimions aneinander zu binden, indem terrorem auf terrificet 133 zurückweist, tenebras discutere dem clara tumina praepandere menti entspricht. Man merkt freilich, daß das künstlich und ein Nachgedanke ist. Das einleitende igitur nimmt wohl nicht quapropter wieder auf ('dient, wie ähnlich 1 1 4 9 , dem Rückweis auf die vorangegangene Erklärung usw.' VAHLEN 498), sondern ist von MUNRO richtig paraphrasiert well then, to come to my subject, difficult as it is in Latin.
Die Gedanken
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hat P. E . SONNENBURG in dem Aufsatz De Lucretii prooemiis, RhM 62, 1907, 33ff., aufgenommen — namque partem illam, qua Venerem invocat et Memmium ut animum advertat hortatur, totius operis esse prooemium poetam voluisse apparet, cetera eum addidisse, ne primo libro suum prooemium desideraretur (S. 40) —, bei dem wir auch den wahren Grund der Annahme recht klar in den Worten quare huius partis noluit cum superioribus artiorem esse iuncturam ausgesprochen finden. Sie ist dem Wunsche entsprungen, einen der Haupteinwände gegen die Vollendung des Prooimions zu entkräften. 1 2 ) Auch DIELS ist diesen Weg gegangen. E r spricht wie | von etwas Selbstverständlichem von dem 'ersten Prooimion 7 1—61, das der Dichter als glänzende Vorhalle dem sechsgliedrigen B a u seines Lehrgedichtes vorgesetzt hat' und von dem 'zweiten, speziell das erste Buch einführenden', das er nicht abgrenzt, aber gewiß auch mit dem zweiten VAHLENschen Teil 62 — 145 gleichsetzt. Wir wollen nun jetzt nicht fragen, worauf denn eigentlich die so sicher auftretende Annahme eines doppelten Prooimions zum ganzen Werke und zum ersten Buche beruht (daß sie unmöglich ist, wird sich schnell genug herausstellen, s. unten S. 24f.), sondern wollen zunächst feststellen, einmal daß die Scheidung zweier Hauptteile in dem einheitlichen Prooimion oder gar seine Zerlegung in zwei Prooimien von vornherein bedenklich ist, weil sie den Anfang zu weiterer Auflösung bedeutet und konsequent weitergedacht zu der destruktiven Kritik der vor-VAHLENschen Zeit zurückführt; sodann aber daß sie ihren Zweck nicht erreicht, weil sie das neue Anheben bei v. 62 in Wahrheit nicht erklärt, sondern nur markiert, und weil sie vergeblich abzulenken sucht von der zweiten großen Hauptschwierigkeit, die fast noch mehr Anstoß gegeben hat als der abrupte Übergang 61/62, von der Stellung der Versgruppe 136—145. E s ist kein Zufall, daß VAHLEN, nachdem er scheinbar abgeschlossen hatte mit dem Aufweis einheitlichen Gedankenganges bis v. 135, ganz neu anhebt, um sich mit dieser letzten Partie auseinanderzusetzen, und daß er schließlich in den allerletzten Sätzen seiner Abhandlung die Möglichkeit zeitlich verschiedener Schichten innerhalb des Prooimions dahin erwägt, daß 'der Verdacht nachträglicher Ausführung nicht ein einzelnes Stück, sondern nur den zweiten Teil in seinem ganzen Umfang und Zusammenhang' treffen müßte, daß 'nach Ausscheidung der vv. 62—148 aneinander
12 )
Er ist freilich nicht konsequent: S. 41 Lucretium rem ita instituisse, ut unum 6,1 prooemium et totius operis et primi libri esset, siquidem quae Epicuri laudandi causa exponit, ita exponit, ut non minus apte in totius operis exordio legantur. Gegen die Zerlegung in zwei Prooimia polemisiert G. GIRI, Riv. diFilol. 40, 1912, 107FF., mit richtigen, aber nicht entscheidenden Gedanken, zumal er die Zweiteilung 1—61, 62 — 145 anerkennt und in dem distacco tra la parte seconda e la prima die Absicht sieht, a mettere in grande rilievo la seconda parte del proemio.
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D a s Prooemium des Lucretius
schlössen die vv. 54—61, 149, und principium cuius (149) seinen grammatischen Anschluß gewönne an reddunda in ratione (59)'. N u n wird es ihm freilich leicht, die Ungeschicklichkeit, sagen wir ruhig die Unmöglichkeit einer solchen Anknüpfung festzustellen. Aber damit ist nicht viel gewonnen. Denn obwohl m a n gleich nach VAHLEN wieder die Existenz eines nur aus v. 1—61 bestehenden Urprooimions angenommen hat, so läßt sich das einfach genug als ein leerer Einfall, | als etwas gerade f ü r Lukrez ganz Undenkbares nachweisen (s. unten S. 27f.). Übrigens besteht darüber wohl jetzt Einstimmigkeit, daß das Prooimion von I wie die übrigen Prooimien alle (s. auch unten S. 36) f ü r sich u n d ohne Zusammenhang mit dem Buche geschrieben ist. Die vv. 146—148 tragen zu deutlich den Charakter eines nachträglich eingeschobenen Verbindungsstückes (s. oben S. 12,11). Aber damit ist doch durchaus nicht, wie VAHLEN glaubt, bewiesen, daß dann 'das ganze Prooimion in allen seinen Teilen aus e i n e m 1 3 ) Gedanken des Dichters geschöpft' sein müsse. Wir können uns wirklich nicht wundern, daß auch nach VAHLEN, ja erst recht wenn m a n in 62—145 das Prooimion des ersten Buches sieht, ganz besonders die Versgruppe 136—145 der Stein des Anstoßes geblieben ist, über den weder REITZENSTEIN noch BRIEGER, G l U S S A N I U. a. fortkamen, a n dem auch jeder unbefangene Leser stockt u n d zweifelnd stehenbleibt. Denn — formulieren wir das Bedenken doch einmal ganz einfach — wie k o m m t Lukrez hier plötzlich auf Memmius und die Widmung des g a n z e n Werkes an ihn zurück? Oder — und je schärfer man jene VAHLENsche Zweiteilung markiert, u m so entschiedener stellt sich diese Frage — warum in aller Welt löst er den Schluß der Widmung des Gesamtwerkes (denn das sind die vv. 136—145 ihrer Formulierung nach ganz deutlich) von ihrem Anfang und Mittelstück, von der auf das Gebet an Venus folgenden Aufforderung an Memmius, der vorgetragenen Lehre seine volle Aufmerksamkeit zu schenken? W a r u m t r e n n t er die Klage über die patrii sermonis egestas, die er mit dem Schluß der Widmung eng verbunden hat, von jener Aufforderung, die doch mit ihren vielfachen Umschreibungen des Begriffes der Urstoffe geraden Weges auf die Frage nach der sprachlichen Wiedergabe des griechischen Systems zu führen scheint? Sobald m a n sich diese selbstverständlichen Fragen einfach u n d klar stellt, sieht man aber auch, ein wie enger Zusammenhang zwischen den beiden Hauptschwierigkeiten, der Stellung von 136—145 und dem Abreißen des Gedankens nach v. 61, besteht und begreift, weshalb gerade auch 50—61 so häufig von den Umstellungen betroffen sind und wie REITZENSTEIN dazu kam, in diesen beiden Gruppen den Rest eines älteren Prooimions zu sehen. Legen wir jetzt noch einmal BRIEGERS Text zugrunde, der ohne Umstellungen
1
ls
) Die Hervorhebung des Wortes von mir.
Die Gedanken
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nur mit dem durch die zugestandene Unfertigkeit des Werkes gegebenen Mittel der losen Stücke auch dem Prooimi|on gegenüber auszukommen 9 suchte. Von den drei Anstößen, die er nahm, war die Ausscheidung der vv. 6—9 schon nach V A H L E N S Erklärung nicht mehr berechtigt; nachdem D I E L S den Aufbau des Gebetes einer weiterblickenden Interpretation unterworfen, seine Form gleichsam im Wachsen vorgeführt hat, würde B R I E G E R selbst wohl seine Ansicht ändern. Auch die Bedenken gegen die Stellung von 50—61 lassen sich, von dem Übergang zu 62ff. abgesehen, verhältnismäßig leicht erledigen. Man kann (und das wird später geschehen) den nie wirklich verstandenen engen gedanklichen Zusammenhang von 1—61 positiv nachweisen und kann negativ zeigen, daß zwischen 43 und 62 nach Entfernung der Gruppe 50—61 überhaupt kein gedanklicher Zusammenhang mehr bestünde.14) Man kann auch fragen, ob die vielfachen Anzweiflungen von 50—61 nicht ihren Hauptgrund in der zufälligen äußeren Verletzung des Eingangsverses 50 haben, ob es sich also hier nicht wesentlich um ein textkritisches Problem handelt. Aber bestehen bleibt und ist bisher in keiner Weise aufgehoben der dritte Anstoß, an den vv. 136—145, der um so wesentlicher ist, wenn man seinen Zusammenhang mit dem Gedankensprung nach v. 61 im Auge behält. Darum geht es auch nicht an, die Lösung dieser letzten Schwierigkeit einfach darin finden zu wollen, daß es sich bei den vv. 136—145 um den Schluß der Widmung handele, der eben nirgends anders stehen könne als am Ende des ganzen Prooimions. Auf diesen Grund läuft schließlich V A H L E N S Argumentation hinaus 15 ), J die nicht durchschlug und an- 10 gesichts der eben formulierten Fragen auch nicht durchschlagen konnte. So konnte wohl der RElTZENSTElNsche Redaktor vorgehen, der 'die vv. 136—145, wenn er sie überhaupt aufnehmen wollte, als letzten Teil der Vorrede wohl oder übel einschieben mußte, da sie sich an anderen ) Das hat R E I T Z E N S T E I N richtiger erkannt, wenn er in seinem 'zweiten Prooimion' 9,1 zwischen 43 und 62 Lücke ansetzt, als G I U S S A N I , dem dieser Übergang von der Dedikation al vero proemio d' argomento (62ff.) nicht nur erträglich, sondern gut erscheint: c' e stacco, ms stacco naturale. Verkannt hat er auch, daß 1' invocazione e la dedica mit 43 nicht zu Ende sind, sondern sich, selbst wenn man von 50—61 absieht, in 136 — 145 fortsetzen. Diese Isolierung des Gebetes ist einer der Hauptgründe, der das Verständnis des Prooimions verhindert hat. " ) Über das Prooemium des Lucretius 497 f. Auch hier wird es V A H L E N leicht, die 9,2 vorgeschlagenen Umstellungen der Versgruppe zu widerlegen. Aber mit der Verwerfung der Heilmittel ist nicht zugleich bewiesen, daß solche überhaupt unnötig sind. Darum wirken auch V A H L E N S positive Lösungen so wenig überzeugend. Was er sagt, ist immer richtig; aber es reicht nie aus. Die Anstöße der Früheren aber hat seine Erklärung nicht beseitigt, schon weil er ihnen zu wenig Beachtung schenkt und sie nirgends auch nur klar formuliert. Er ist eben überzeugt, daß seine 'der Abfolge des Textes sich anschmiegende hermeneutische Betrachtung' genügt, um die Überlieferung als unantastbar zu erweisen.
u
Das Prooemium des Lucretius
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Stellen noch weniger hätten einfügen lassen'. Aber der Dichter, der nicht mit gegebenen Elementen wirtschaftete, sondern frei und mit Überlegung sein Prooimion schuf, muß andere Beweggründe gehabt haben, die stark genug waren, die dieser Lösung entgegenstehenden Bedenken zu überwinden. Wenn die Stellung der Versgruppe sich nicht anders rechtfertigen ließe als damit, daß es eben keinen anderen Platz für sie gab, so dürfte Lukrez sich nicht darüber beklagen, daß seine Leser und Erklärer nicht mit ihm gehen wollen. Wir müssen schon versuchen, diesen Versen von einer anderen Seite her beizukommen und dürfen dabei einen Umweg nicht scheuen. DLELS hat nachdrücklich auf die beiden 'prosaischen' Intermezzi hingewiesen, die den hohen Ton des ganzen Prooimions auffällig unterbrechen, auf die beiden 'Inhaltsangaben' 50(54)—61 und 127 —135. Zweierlei ist an ihnen außer der wohl in der Natur der Sache liegenden Stilisierung auffällig: ihre Stellung und ihr Inhalt. Sie schließen, wenn wir die vv. 136 bis 145 zunächst bei Seite lassen, scharf markierend je einen der beiden Teile, in die VAHLEN und seine Nachfolger (übrigens nicht sie allein) das große Prooimion zerlegen. Die Vertreter dieser Anschauung könnten in diesen 'prosaischen' Partien geradezu die Scheidewände sehen, bestimmt, die beiden Prooimien des Gesamtwerkes und des ersten Buches recht augenfällig voneinander zu trennen und zu umgrenzen, wobei sich dann freilich das Problem der vv. 136—145 doppelt bedrohlich erheben würde. Für andere dagegen war diese doppelte Inhaltsangabe einer der Hauptgründe für die Annahme eines ursprünglichen und eines überarbeiteten Prooimions oder auch gegen die Richtigkeit der überlieferten Versfolge: e impossible, sagt GLUSSANI, che il poeta, nello stesso tempo e d'un solo getto, abbia scritto prima 50—61 e poco sotto 127—135. Was enthalten nun diese beiden Stücke? 'Eine . . . Mitteilung über den wissenschaftlichen Inhalt des ganzen Werkes und zunächst des ersten Buches', eine 'Inhalts11 angabe . . . im äußersten Umriß' sagt DIELS über vv. 54—61, | während in den vv. 127—135 der Dichter 'den ganzen Plan des Werkes ausbreite'. Man kann bei gutem Willen diese Auffassung gelten lassen für den ersten Passus 54
nam tibi de summa caeli ratione deumque disserere incipiam et rerum primordia pandam, unde omnis natura creet res auctet alatque, quove eadem rursum natura perempta resolvat, quae nos materiem et genitalia corpora rebus reddunda in ratione vocare suemus
d. h. man kann in de summa caeli ratione deumque disserere eine ganz allgemeine Charakteristik der Aufgabe des philosophischen Schriftstellers
Die Gedanken
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sehen, in d e m zweiten Teile des Satzes die B e s t i m m u n g des e r s t e n Teiles dieser A u f g a b e , die I n h a l t s a n g a b e allerdings n i c h t des e r s t e n
Buches,
s o n d e r n des e r s t e n Teiles, der B ü c h e r I u n d I I . 1 6 ) N ä h e r liegt es freilich u n d w i r d a u c h d u r c h den A u f b a u der beiden B ü c h e r , die m i t d e n L e h r e n v o n der U n e n d l i c h k e i t
des Alls u n d d e r E x i s t e n z
unzähliger
Welten
schließen, entschieden empfohlen, das et v . 55 e x p l i k a t i v zu fassen u n d die summa
caeli ratio deumque
zu erkennen eben in d e r g r u n d l e g e n d e n L e h r e
v o n den A t o m e n , i h r e m W e s e n , B e w e g u n g , G e s t a l t u n d E i g e n s c h a f t e n , d e r E n t s t e h u n g aller Dinge a u s i h r e m Z u s a m m e n t r e t e n . 1 7 )
Denn daß
der
D i c h t e r n i c h t g a n z allgemein spricht, sondern | s c h o n in diesen V e r s e n 12 n u r a n die L e h r e des M a n n e s d e n k t , den e r erst i m n ä c h s t e n A b s c h n i t t n e n n t , k a n n n a c h der vera ratio v . 51 n i c h t m i t G r u n d bezweifelt werden. A b e r d e m sei, wie i h m wolle. I s t denn diese I n h a l t s a n g a b e p a s s e n d oder ) Daß vv. 54—61 den Inhalt von I . I I geben, betont MUSSEHL, De Lucretiani 11,1 libri I condicione ac retractatione 58, mit Recht. Um BO weniger ist einzusehen warum er dagegen polemisiert, daß 127—130a den Inhalt von V — V I , nicht bloß von V enthalten (s. unten S. 18 Anm. 19). Diese beiden Bücher werden genau so zusammengefaßt wie I . I I und durch cum — tum. cum primis den gleichfalls als Einheit behandelten Büchern I I I . I V gegenübergestellt. Lukrezens Werk ist nicht eigentlich ein sechs-, sondern ein dreigliedriger Bau. Daß aber 54—61 überhaupt auf den Inhalt von I. I I gehen, auch wenn sie daneben noch die Aufgabe im allgemeinen bezeichnen, ist nicht zu bestreiten. Denn nicht nur geben diese Bücher wirklich die summa ratio — die entscheidende Grundlage auch für die Götterfrage, weil sie zeigen, daß die Welt nicht durch göttliche Schöpfung entstanden ist (divinitus v. 150! s. S. 29) und nicht durch göttliche ngóvoia regiert wird, sondern durch zufälligen Zusammentritt der Atome —, auch Epikurs T a t wird 62ff. in einer Weise gepriesen, die deutlich vor allem auf diese grundlegenden Bücher geht. " ) Ausgeschlossen ist es, was M U N R O Z. St., G I R I a. O. 94 u. a. tun, in den vv. 54 1 1 , 2 bis 61, zu denen die Interpreten wenig zu sagen wissen, eine besondere Beziehung auf die Bücher V. V I zu finden. Die summa caeli ratio hat nichts mit den superae res 127, dem technischen Ausdruck für die fiericoga, zu tun. Entschieden etwas Richtiges liegt dagegen in R E I T Z E N S T E I N S Verbot (Drei Vermutungen zur Geschichte der römischen Literatur 48f.), bei den primordia v. 55 schon an die Atome zu denken. Diese primordia, für die in den folgenden Versen eine Reihe Synonyma gegeben werden, die geeignet sind, sie näher zu charakterisieren, sind hier wirklich zunächst nur die 'Urstoffe', aus denen alles besteht und in die alles sich auflöst. Mehr wird der Leser, falls er der Lehre ganz fremd gegenübersteht, von Lukrez nichts weiß und mit v. 1 zu lesen anfängt, in ihnen nicht zu finden brauchen. Aber mit solchen Lesern rechnet doch Lukrez in Wahrheit nicht; er darf voraussetzen, daß sie mindestens mit den Grundlehren der verschiedenen Systeme Bescheid wissen. F ü r den Epikureer sind die 'Urstoffe' eben die Atome. Von der vera ratio, die hier mit reddunda in ratione aufgenommen wird, war schon v. 51 die Rede. E s ist 'die' Lehre. Auf alle diese an sich neutralen Ausdrücke fällt Licht vom Werke selbst und schon vom Weitergang des Prooimions her. Daß es 'unlogisch' wäre, von der Hauptlehre Epikurs vor der Erwähnung des Meisters selbst zu sprechen, sollte man wirklich nicht sagen.
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J a c o b y , Kleine Schriften I I
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Das Prooemium des Lucretius
überhaupt nur möglich für das Prooimion des ganzen Werkes, zumal wenn noch ein weiteres, 'speziell das erste Buch einführendes' Prooimion folgt? Was soll in dieser 'glänzenden Vorhalle' des Gesamtwerkes die ausführliche Propositio für das Einzel- oder auch für das Doppelbuch, die sich in nichts von den gewöhnlichen Propositionen in den Prooimien der Einzelbücher unterscheidet, die auch stets mit der Spezialaufgabe des betreffenden Buches den Hinweis auf den großen Gesamtzweck des ganzen Werkes verbinden? Würde man damit nicht vielmehr auf den Gedanken derer zurückgeführt werden, die in den vv. 1—61 das 'Urprooimion' sehen und glauben, Lukrez habe ursprünglich auch hier auf die Propositio sogleich die Behandlung des Themas folgen lassen wollen? Aber weiter: lassen wir für 54—61 den Doppelzweck der Inhaltsangabe für das Gesamtwerk und für seinen ersten Teil gelten oder fassen wir sie selbst ganz allgemein nur als Charakteristik der Gesamtaufgabe des philosophischen Dichters, wie kommt es dann, daß im zweiten Prooimion, das doch ganz speziell für Buch I bestimmt sein soll, eine Inhaltsangabe steht, die zwar die Aufgaben der Bücher V — V I und I I I — I V 1 8 ) in bezeichnenden Ausdrücken, die zum Teil in den Propositionen | der Einzelbücher wiederkehren 19 ), darlegt, aber gerade die des ersten Buches oder vielmehr des ersten Teiles beiseite läßt? 127 quapropter bene cum superis de rebus habenda nobis est ratio, solis lunaeque meatus qua fiant ratione (V), et qua vi quaeque gerantur 130 in terris (VI), tum cum primis ratione sagaci unde anima atque animi constet natura videndum (III) et quae res nobis vigilantibus obvia mentes terrificet morbo adfectis somnoque sepultis (IV), cernere uti videamur eos audireque coram, 135 morte obita quorum tellus amplectitur ossa — Was hier auseinandergelegt wird, ist der Inhalt von Buch I I I — V I , nicht mehr und nicht weniger. Die Verse sind vollkommen klar; mindestens inhaltlich bilden sie die Fortsetzung von 54—61, mit denen zusammen erst sie den Gesamtplan des Werkes vor dem Leser ausbreiten (s. unten S. 21 f.). Immer rätselhafter scheint der Aufbau des Prooimions zu werden und immer unmöglicher die Anerkennung der überlieferten Versfolge oder des Versbestandes als der vom Dichter endgültig gewollten, nachdem auch
12,1 13,1
18 19
) Über die Folge zuletzt DIELS, Lukrezstudien 1, 916. ) V. 128 H . D I E L S , Philodemos über die Götter, Abh. Berlin 1916—1917 passim. 32) Cic. De nat. d. I 85; Poseidonios, ebd. 1123. 33 ) Cic.a. 0 . 1 4 5 . 5 6 . 86.115f. at etiam de sanctitate, depietate adversus deos libros scripsit Epicurus, at quo modo in Ms loquitur ? ut Ti. Coruncanium aut P. Scaevolam, pontífices máximos, te audire dicas, noneum qui sustulerit omnem funditus religionem. 34 ) Brief an Menoikeus Diog. L. X 133 = Epic. S. 65, 1 Usener. 35 ) Philodem. II. eiaeßetag passim (bes. Epic. S. 96, 9 Usener); De mus. S. 66 Kemke; IIEQI &ewv I I I S. 18 Diels. 36 ) Siehe z. B. VI 68ff.
24.2 24.3 24.4 24.5 24.6
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krez sie als domini acres, sieht in der religio, deren Begriff sich bei ihm dem gewöhnlichen Sprachgebrauch gegenüber etwas ändert, schlechthin etwas Verderbliches, läßt die Götterwelt nur bestehen, weil er an der Lehre nicht ändern kann. E r kann nicht Atheist sein, aber er ist Götterfeind. Mag der von den athenischen Staatskulten stark abweichende Charakter der römischen Religion damit etwas zu tun haben, in der Hauptsache erkennen wir doch in Lukrezens Äußerungen über die Götter eine in seinem inneren Wesen begründete völlig verschiedene geistige Haltung. Was ihn an Epikurs Lehre getroffen hat, das ist ausschließlich die ja allerdings fundamentale Befreiung von der Tyrannis der Götter. Aber dieser Kampf gegen den Aberglauben, der von der Schule in der kühlen Überzeugung von seiner Schädlichkeit und in entsprechendem Tone, oft mehr als Polemik gegen andere Schulauffassungen geführt ist, ist bei Lukrez zum Fanatismus gesteigert, zu einem fast krankhaft anmutenden, in monomanischer Form auftretenden Haß gegen den Glauben überhaupt. Dieser Haß ist für ihn etwas absolut Primäres; sein Wesen und Denken ist ganz durchtränkt davon. Der Kampf gegen die religio ist das treibende Element seiner ganzen Darstellung. Charakteristisch ist dafür schon, wie die Leistung Epikurs im Gesamtprooimion als ein Krieg gegen die religio geschildert und durch einen scharfen Angriff gegen sie und ihre Vertreter ausgestaltet wird. Noch deutlicher zeigt sich diese veränderte geistige Haltung des Dichters in manchen Einzelheiten. Die Herodotepitome S. 5, 12 Usener beginnt den Abriß der Physik mit dem Grundsatze ngünov fisv ort ovöev yivsrai ex rov /xrj dvrog' näv yäq ex navxoq eyivex äv, anegfiaxcov ye ovöev TtQoaÖeofievov.37) Mit demselben Satze beginnt Lukrez sein Werk: I 149 principium cuius hinc nobis exordia sumet nullam rem e nihio gigni divinitus umquam 159 nam si de nihio fierent, ex omnibus rebus omne genus nasci posset, nil semine egeret. Aber er hat ihn erweitert durch den Einschub von divinitus, der sogleich eine weitere Ausführung dieses Gedankens in den vv. 151 — 1158. 155 26 nach sich zieht, eine Ablenkung gleich hier vom geraden Wege der Erörterung, von der sich der Dichter mit den vv. 156—158. 155 wieder auf die zweite Hälfte der Vorlage, die Begründung des Satzes, zurückhelfen muß. Die Einschaltung ist ebenso evident wie ihre Folgen und ihre Bedeutung. Der rein wissenschaftliche, gar nicht einmal spezifisch epikureische Satz ist zum Kampfsatz gegen die religio geworden. Ähnlicher Art ist eine Einschaltung in der Partie über die Entstehung des Götterglaubens: im Himmel, so heißt es, hat man die Sitze der Götter gesucht, " ) In dieser Form Demokrit. Diog. L. I X 44 ( = II S. 84, l l f . D.-Kr., 6. Aufl.). 25,1 Persius III 84. Lukrez selbst I 265 f.
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Das Prooemium des Lucretius
V 1189 per caelum volvi quia nox et luna videtur, luna dies et nox et noctis signa severa noctivagaeque faces caeli flammaeque volantes, nubila sol imbres nix venti fulmina grando et rapidi fremitus et murmüra magna minarum, (io genus infelix humanuni, talia divis 1195 cum tribuit facta atque iras adiunxit acerbas! quantos tum gemitus ipsi sibi quantaque nobis volnera, quas lacrimas peperere minoribus nostris! nec pietas ullast velatum saepe videri vertier ad lapidem atque omnis accedere ad aras, 1200 nec procumbere humi prostratum et pandere palmas ante deum delubra, nec aras sanguine multo spargere quadrupedum, nec votis nectere vota, sed mage pacata posse omnia mente tueri.) nam cum suspicimus magni caelestia mundi 1205 templa eqs. Die Herausgeber beginnen mit 1194 einen neuen Abschnitt. Aber wenn auch der Exkurs nach unten durch tueri — suspicimus in die fortgesetzte Darstellung überleitet, so ist doch deutlich, daß die w . 1204ff. an den letzten Gedanken über die Entstehung und Gestaltung des Götterglaubens (1188—93) anknüpfen und die ganze Partie zum Abschluß bringen. Die vv. 1194—1203 stechen schon im Ton scharf von der ruhigen Erörterung dieser Partie ab. Sie sind ein Ausbruch Lukrezens, der nicht ruhig bleiben kann, sobald er auf den Götterglauben zu sprechen kommt. Der scharfe, recht äußerlich angeknüpfte und dem Hauptgedanken fremde Angriff gegen die Formen der väterlichen Religion (1198ff.), dessen spezifisch 27 römische Züge man immer bemerkt hat, widerspricht dem Ver| halten Epikurs und seinem Zugeständnis, das die Verehrung der Götter auch XOIQ xarä rd ndtQiov naQadedofievoig exdarmi rcöv xarä fteqoQ guthieß. Ganz undenkbar also, daß Lukrez im Gesamtprooimion jemals hätte absehen wollen von diesem treibenden Elemente seines ganzen Werkes. Um so undenkbarer, als ja schon die Topik es erforderte, den Nutzen der Darstellung dem Leser recht eindringlich vor Augen zu stellen. Er hat denn auch nicht davon abgesehen. Sein Prooimion kulminiert vielmehr in diesem großen Mittelstück über die religio, das er nicht kalt die beste Form suchend, sondern aus innerstem Herzensbedürfnis in die Form des Enkomions auf Epikur gegossen hat, in dieselbe Form, die er mit großartiger Einseitigkeit wieder und wieder für fast alle seine Prooimien verwendet hat. Für das Verständnis der Komposition des Lukrezischen Prooimions bleibt also Grundbedingung die Erkenntnis, daß dem Dichter, der sein
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Werk dem Memmius widmen wollte, von vornherein zwei Hauptmotive gegeben waren, von denen er keines zugunsten des anderen zurücktreten lassen oder gar aufgeben zu dürfen glaubte. Ihre Ausführung innerhalb des Prooimions zeigt denn auch, daß sie ihm wenigstens hier im Eingange des Gesamtwerkes und zu der Zeit, als er das Prooimion dazu entwarf, von gleicher Wichtigkeit erschienen. Wenn uns, die wir den Dichter und seine innersten Beweggründe aus seinem Werke genugsam zu kennen glauben, der geschlossene Komplex, der den Preis Epikurs und die Verteidigung seiner Lehre enthält, nicht nur das Mittel-, sondern auch das Kernstück der Einleitung zu sein scheint, so würde Lukrez diesem zunächst mehr gefühlsmäßigen Urteil gewiß nicht widersprochen haben. Denn Epikur ist ihm wirklich mehr als Memmius, der Kampf gegen die religio mehr als die Gewinnung eines Jüngers für die Lehre oder gar als die persönlichen Vorteile, die er von der Widmung erhofft. Aber äußerlich hat er das Gleichgewicht durch reichste Ausgestaltung auch des Memmiusmotivs aufrechterhalten. Der Umfang der beiden aus je drei Versgruppen aufgebauten Teile ist ungefähr gleich. Der die erste Versgruppe einleitende Hymnos auf Venus, die Patronin des Memmius, hält dem Enkomion auf Epikur, mit dem die Ausführung des zweiten Motivs beginnt, die Waage. Für den Leser, der zum ersten Male die Rolle in die Hand nahm, mußte, wie noch heute für den Durchschnittsleser, der Beginn und der Schluß der ganzen Komposition mit Memmius, die Wid|mung an ihn 28 und der Zweck, die sperata volwptas süavis amicitiae, die Person des Mannes so in den Vordergrund treten lassen, daß wohl ein Ausgleich gegenüber dem hohen Liede auf den Graius homo geschaffen schien. Aber gerade weil der Dichter so entschieden bedacht war auf die gleichgewichtige Ausgestaltung seiner beiden Motive, weil er weder Memmius hinter Epikur noch gar Epikur hinter Memmius zurücktreten lassen wollte, wurde doppelt schwer die Hauptaufgabe, die eine solche Komposition stellte, die Einheit des Gesamtaufbaus. Nicht mit zwei Prooimien konnte oder wollte er das Werk beginnen, und das eine Prooimion durfte nicht in zwei aufeinanderfolgende Teile zerfallen, wenn die Grundbedingung alles künstlerischen Schaffens beobachtet werden sollte. So verbot sich auch aus künstlerischen Überlegungen der scheinbar einfachste Weg, als eigentliches Prooimion die v v . 1—61, 136—145 dem Werke voranzusenden und darauf mit einem wie immer gestalteten Übergang den Preis der Lehre folgen zu lassen, ehe man in ihre Darstellung selbst eintrat. Es blieb nur e i n e Möglichkeit, die Motive zu verbinden; eben die, die Lukrez tatsächlich gewählt hat: er m u ß t e s i e i n e i n a n d e r b e t t e n , w o b e i d i e T a t s a c h e d e r W i d m u n g es s e l b s t v e r s t ä n d l i c h m a c h t e , d a ß das M e m m i u s m o t i v den R a h m e n , das E p i k u r m o t i v den K e r n a b g a b . Aber mit der bloßen Einbettung war es natürlich nicht getan: die
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beiden Prooimien — man gestatte der Bequemlichkeit wegen jetzt einmal diesen Ausdruck, der das ausgeführte Motiv bezeichnen soll — mußten auch innerlich in Beziehungen gesetzt, ihr Zusammenhang durch äußere Bindemittel zu fester Einheit gestaltet werden. Gewiß führt nun der Gedanke von der zweiten Versgruppe des Memmiusprooimions (50—61) ebenso natürlich auf dessen dritte (136—145) — 'richte deinen Geist auf die Lehre, die schwer zu verstehen und schwer lateinisch darzustellen ist' — wie auf die erste des Epikurprooimions (62 — 79): 'richte deinen Geist auf die Lehre über die höchsten Dinge, deren Notwendigkeit ein Blick auf das menschliche Leben, wie es vor Epikurs Auftreten war, genugsam beweist.' Und wie der Gedanke der dritten Memmiusgruppe in der zweiten vorbereitet ist durch den Hinweis auf die treue Arbeit des Dichters (52), so ist es auch die erste Epikurgruppe durch den Ausdruck, Lukrez wolle handeln de summa caeli ratione deumque (54). Denn ohne Furcht vor der fama deum (68) und der a caeli regionibus drohenden religio hat Epikur von seinem | Kriegszuge jene summa ratio als Beute mitgebracht, die in der Kenntnis besteht, quid possit oriri, quid nequeat, finita potestas denique cuique quanam sit ratione atque alte terminus haerens (75f.). Aber trotz dieses gedanklichen Zusammenhanges bleibt doch bestehen, daß an der Übergangsstelle das Epikurprooimion als einheitlicher Komplex die Textur des Memmiusprooimions auseinanderreißt. Das war unvermeidlich, und der Dichter selbst war sich als erster darüber klar. Um ein Auseinanderfallen zu vermeiden, hat er nach Bindungen gesucht. Schon VAHLEN verwies auf die Wiederaufnahme im sprachlichen Ausdruck; mit Oraius homo 62 wird der Weg des Memmiusprooimions verlassen, mit Oraiorum obscura reperta 136 auf ihn zurückgelenkt. Als Bindemittel muß man es auch betrachten, daß innerhalb des Epikurprooimions alsbald und besonders in den kräftig ins Ohr fallenden Eingangsversen der Gruppen (81. 102) die direkte Anrede eintritt, die der Leser hier nur auf Memmius beziehen kann und soll. Aber die stärkste und für die Gesamtanlage entscheidende Bindung besteht darin, daß die Inhaltsangabe des Werkes (54—61; 127—135), die als Ganzes die Themastellung im Gebet an Venus (25) aufnimmt und für die einzelnen Teile des Werkes spezialisiert, nicht als Einheit, was sie doch ist (oben S. 17f.), gegeben wird und nicht da, wo wir sie erwarten, d. h. in der Aufforderung an Memmius, dem Geschenke des Dichters seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, sondern daß sie in zwei Teile zerlegt ist, die auf die beiden Prooimien verteilt sind. D i e s e Z e r t e i l u n g f i n d e t j e t z t i h r e E r k l ä r u n g . 3 8 ) Auf die Inhaltsangabe der Bücher I. I I läuft der zweite Teil des Memmius1
3S
) Ihren Grund hat also auch MUSSEHL, De Lucretiani libri I condicione ac retractatione59, verkannt: illam argumentorum enumerationem poeta, etsi licuit, con-
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prooimions aus; auf eine Inhaltsangabe von I I I — V I das Epikurprooimion. Das heißt, das Epikurprooimion zerreißt gar nicht, wie es oberflächlicher Betrachtung erscheint, das Memmiusprooimion an der Schnittstelle seines zweiten und dritten Teiles — wäre das der Fall, so ließe sich schwer von einer Vollziehung der Einheit noch sprechen —, sondern es schiebt sich in den zweiten Abschnitt der zweiten Memmiusgruppe ein. E s | i s t 30 t e c h n i s c h b e t r a c h t e t e i n E x k u r s , der eigentlich nicht 62 — 135, sondern nur 62—126 umfaßt; und v. 127 nimmt mit quapropter bene cum superis de rebus habenda nobis est ratio die unterbrochene Inhaltsangabe 54 nam tibi de summa caeli ratione deumque eqs. wieder auf; freilich nicht schlechthin, sondern in der Gestaltung dem Inhalt und der Abzweckung des Exkurses Rechnung tragend. D i e vv. 127 — 135 h a b e n e i n e D o p p e l r o l l e : s i e b i l d e n n i c h t n u r den S c h l u ß des E p i k u r p r o o i m i o n s , a u s dem sie g a n z n a t ü r l i c h h e r v o r w a c h s e n — ist doch der Inhalt dieser vier Bücher vor allem bestimmt, die Schrecknisse der religio zu erledigen —, s o n d e r n sie s i n d z u g l e i c h S c h l u ß d e r z w e i t e n G r u p p e des M e m m i u s p r o o i m i o n s , da sie die in ihm begonnene Propositio des Gesamtwerkes, die genauere Angabe dessen, wofür Lukrez Memmius'Aufmerksamkeit verlangt, zu Ende führen. Der Kreis ist geschlossen; die exßoXi] rov Xoyov, die gedanklich engstens zum Äoyog gehört, der ohne sie unvollständig wäre (oben S. 124ff.), ist nicht nur zu Ende, sondern auch durch ihre letzte Periode äußerlich fest an den Adyog gebunden. Wir befinden uns v. 127 an derselben Stelle, die wir mit 62 verlassen haben. Der Anschluß der letzten Gruppe des Memmiusprooimions (136—145) hier wird damit ganz selbstverständlich: die Betonung, wie schwer es sei, die Lehre lateinisch wiederzugeben, schließt durchaus natürlich an die ins einzelne gehende Skizzierung dieser Lehre in der zweiten Gruppe, die nicht nur vv. 54—61, sondern tatsächlich 54—61; 127—136 umfaßt. Erst da ist Gedankenschluß. Die zweite Hälfte der Inhaltsangabe, die als Ganzes eine Propositiö ist genau wie die Propositionen der Einzelbücher, nur eben nicht für das Einzelbuch, sondern für das Gesamtwerk — eine Propositio für I gibt es nicht und konnte es innerhalb der vv. 1 — 145 nicht geben, wenn anders dieses Prooimion als Einleitung des Gesamtwerkes wirken sollte —, die zweite Hälfte der Inhaltsangabe ist dadurch, daß sie gleichzeitig dem Memmius- und dem Epikurprooimion angehört, zum Bindestück geworden, das die beiden Gedankenkomplexe des Gesamtprooimions auch äußerlich zur festen Einheit zusammenschließt, aus der kein Stein gelöst, kein Bauglied versetzt werden kann, ohne daß der ganze Bau rettungslos zusammenstürzt. Ein Schema mag tinua oratione non explanavit, sed, ut scriptoris elegantis est, quae parum poetica sunt, duas in partes discerpsit interiectis versibus 62 — 126, ne illis coniunctis sermonis pulchritudo, quam studebat efficere, diminueretur. 3
Jacoby, Kleine Schriften I I
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jetzt den Gesamtbau verdeutlichen und diesen ersten Teil unserer Erörterungen abschließen: 1 —43 Gebet an Venus, die Patronin des Memmius M 50—53 Beginn der Widmung an Memmius M 54—61 Beginn der Propositio des Werkes M 62—79 ¿'7laivog 'Emxovgov 80 — 101 Verteidigung der Lehre gegen den Vorwurf der impietas 102—126 Verteidigung gegen die dicta vatum 127—135 Schluß der Propositio des Werkes M 136 — 145 Schluß der Widmung an Memmius M
32 32,1
I IIa IIb
7
EI — Ell CB EIIIa-1 IIb = E Illb III
Die Ähnlichkeit des Aufbaus in konzentrischen Bogenwölbungen mit dem Aufbau der ersten großen Periode, wie D L E L S sie erläutert hat, springt in die Augen. Den äußeren Bogen (A) bildet die Widmung an Memmius. I n ihn 'spannt sich ein engerer ein', die Propositio des Memmius gewidmeten Werkes, deren inhaltlicher Zusammenhang den gleichen Bauzweck erfüllt, wie die Rekapitulation der vv. 4 — 5 in vv. 21—23. ' I n diesen kühn geschwungenen Doppelbogen aber ist das reiche Mittelportal eingebaut', in dem der Dichter asyndetisch — denn auch das Fehlen einer Verbindungspartikel gerade an der Schnittstelle findet jetzt seine Erklärung; Lukrez sah sehr wohl, daß Verbindungslosigkeit hier stärker wirken, das Verständnis des Lesers entschiedener stützen würde, als irgendein für den Sinn nebensächliches Bindestück — 'wie von göttlichem Enthusiasmus ergriffen' die Erscheinung Epikurs feiert, wie dort in dem asyndetisch gestellten Mittelhymnos 'die Erscheinung der Liebesgöttin in der Frühlingsnatur'. Muß man es noch besonders sagen, daß dieser großartig geplante Gesamtbau den Gedanken, wir hätten es mit Entwürfen verschiedener Zeit zu tun, die womöglich nur von einem Redaktor zusammengeschoben sind, ebenso entschieden ausschließt, wie etwa der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, die Konzeption des reich gegliederten Gebetes im Geiste des Dichters umzuwandeln in eine äußerliche Entstehungsgeschichte des Gebetes in zeitlich verschiedenen Stadien? Eine tragische Ironie ist es freilich, daß wir die Erhaltung dieses glänzenden Wurfes Lukrezischer Dichterkraft vielleicht nur dem Umstände verdanken, daß der Dichter sein Werk nicht mehr hat zum Abschluß bringen können. Wäre ihm selbst die Herausgabe vergönnt gewesen, so hätte er wohl die Folgerung aus dem veränderten Verhältnis zu Memmius 3 9 ) und aus dem Scheitern der Hoffnungen, die er auf sein Interesse an dem ent3
*) Über die Entwicklung des Verhältnisses zu Memmius und seine Polgen für die Anreden innerhalb der Bücher hat jetzt MUSSEHL a. O. 142 ff. das Richtige gesagt.
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stehenden Werke gesetzt hat, gezogen: er hätte wohl diese Schöpfung aus einer Zeit, in der er Memmius' Natur noch nicht erkannt hatte, vernichtet und sie durch ein Prooimion ersetzt, das sich aus dem vorhandenen nicht durch Schneiden und Flicken herstellen ließ, sondern das Umarbeit von Grund aus verlangt hätte. D I E TECHNIK Wir haben innerhalb des Lukrezischen Werkes keine Parallele für den Aufbau des ersten Prooimions, sowenig wie eine wirklich vollständige für das Gebet an Venus. Der Dichter hatte nie wieder Gelegenheit, einen Bau von solchen Dimensionen zu entwerfen. Innerhalb der Darstellung genügte überall die einfache Folge der Gedanken und Teile. 4 0 ) Aber auch der Bau der beiden Prooimien I I I und VI, die GlUSSANl als doppi bezeichnet und der Komposition nach mit I zusammenstellt, ist ein wesentlich einfacherer. Beide beginnen mit einem in sich geschlossenen, kompositionell selbständigen Enkomion Epikurs ( I I I 1—30; V I 1—34). Daß es in V I mit dem Lobe oaio naxqibog (Rhet. Gr. I I I 369, 18ff. Sp.) beginnt, macht kompositioneil keinen Unterschied. Eher ist zu beachten, daß das Enkomion von V I auch inhaltlich ganz frei ist, während es in I I I mit Rücksicht auf den Inhalt gerade dieses Buches gestaltet ist: die Bedeutung der Epikureischen Lehre über die rerurn natura gipfelt in der Tatsache, daß numquam apparent Acherusia templa ( I I I 25), wodurch die Zweckbestimmung des Buches et metus ille foras praeceps Acheruntis agendus ( I I I 37) vorbereitet erscheint. Vielleicht schieben sich deshalb in V I die vv. 35—42 ein, die als Übergangsstück wenigstens eine äußerliche Verbindung zwischen Prooimion und Buch herstellen. In beiden Büchern folgt auf das Enkomion die Propositio in der solennen Form et quoniam docui — hasce secundum res eqs.; quae restant percipe porro ( I I I 31. 35; V I 43. 46). Und nur sie ist nicht 'einfach', wie in den | 'ein- 33 fachen' Prooimien der Bücher I I , IV, V. Mit ihr verbunden ist — in I I I auch äußerlich durch parataktische Zufügung ( I I I 37), während in VI die asyndetische Fügung cetera quae fieri in terris caeloque tuentur 50 im Hinblick auf die unten (S. 61 f.) zu erörternde Vorliebe für diese Fügung im ersten Prooimion Erwähnung verdient — eine längere Begründung, warum die Behandlung des in der Propositio skizzierten Stoffes nötig und nützlich ist. Diese Erweiterung der Propositio erinnert allerdings an die Einführung des Epikurmotivs in I gerade in die Propositio des Gesamtwerkes; sie erfolgt aber formell ganz anders, da sie die Propositio nicht
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) In ihrer Aufstellung erweist sich Lukrez als „veri rerum ordinis maxime stu- 3 2 , 2 diosus" (LACHMANN, Comm. 84).
3*
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exkursmäßig unterbricht, sondern begründend absehließt. Soweit man in diesen Dingen urteilen kann, scheint es sicher, daß auch die erweiterten Propositionen von vornherein mit dem Buche zusammen geschrieben sind, was aus dem von MEWALDT erkannten Zustand der Propositio von IV (26—58) für die Propositionen von II, IV, V mit Sicherheit sich ergibt, während die eigentlichen Prooimien I I I 1—30, VI 1—34 zu anderer Zeit für sich ausgearbeitet und dem mehr oder weniger fertigen Buche vorangeschickt sind, was auch für die 'einfachen' Prooimien II, IV, V gilt. Die Einzigartigkeit des ersten Prooimions erklärt sich ohne weiteres aus seiner einzigartigen Bestimmung, als Einleitung des Gesamtwerkes zu dienen, aus der Notwendigkeit, hier nicht nur die Wahl des Themas zu begründen, sondern auch die Widmung auszusprechen. Überlegt man aber die künstlerischen Mittel, mit denen Lukrez die Einheit in ihm trotz der Einführung und gleichgewichtigen Ausführung dieser beiden Hauptmotive herzustellen versucht hat, so erinnert sowohl die wortmäßige Verknüpfung wie die Exkursform und die Rücklenkung durch Wiederaufnahme an die archaische Dispositionsweise. Die Entwicklung der Disposition — um diesen etwas schulmäßigen Ausdruck beizubehalten —, die Fähigkeit, den zu behandelnden Stoff nach bestimmten Prinzipien aufzubauen und die Gedanken klar zu gruppieren, die Feststellung der äußeren Hilfsmittel, die man dafür allmählich erfunden und entwickelt hat, dies alles im ganzen und einzelnen zu verfolgen ist eine Aufgabe, die endlich einmal aufgenommen werden sollte, die freilich zu umfangreich ist, als daß hier auch nur Grundlinien gezogen werden könnten. So hat auch der Hinweis auf eines der interessantesten Stadien dieser Entwicklung, auf das Thukydideische Werk, wenig Zweck. Seine Einleitung, 34 deren Grundriß trotz Unfertigkeit [ einer größeren Partie klar genug ist, bewältigt das gleiche Problem — eine Mehrheit von Gedanken oder Motiven, die Prooimiencharakter haben, über die engsten Erfordernisse der Topik (ihr ist bei Thukydides im wesentlichen schon durch den ersten Satz genug getan, wie bei Lukrez mit den vv. 24—27) hinausgehen und die alle dem Schriftsteller gleichwichtig sind — mit teilweise gleichen Mitteln, und auch die Unterschiede sind lehrreich. Lukrez ist in seiner Technik noch ganz archaisch. E r ist es freilich auch in seinem Wesen und in seinem Verhältnis zum Stoff, der ihm Herzenssache ist, nicht ein Objekt zur Entwicklung seiner darstellerischen Fähigkeiten. E r betrachtet ihn nicht allein als Künstler und unter technischen Gesichtspunkten, sondern ebenso entschieden als Denker mit sachlichem Interesse. Beides vereint bewirkt, daß er sich nicht leicht entschließen kann, einen Gedanken der Form zu opfern und die Fülle der sich ihm aufdrängenden, sachlich notwendig erscheinenden Motive aus rein künstlerisch-technischen Erwägungen, die ihm natürlich nicht fremd sind und denen er auch innerhalb des ersten
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Prooimions ganz offensichtlich Rechnung trägt (s. unten S. 44f.), zu beschränken. Die Eigenart Lukrezens können wir uns wirklich klarmachen nur durch einen Vergleich. Denn wenn es jetzt auch, falls ich mich nicht täusche, gegen jeden Zweifel gesichert erscheint, daß das erste Prooimion eine einheitliche Konzeption ist, die Lukrez nach einem wohlbedachten Plane zu einer Zeit ausgeführt h a t ; wenn es auch unmöglich ist, die Steine des Baues zu verrücken, weil der Grundplan klar entworfen und energisch durchgeführt ist, so kann man sich doch vorstellen, daß ein anderer Dichter den Plan eben nicht so entworfen und den Bau anders aufgeführt hätte, weil er anderen technischen Grundsätzen folgte. Es ist nicht nur denkbar, daß ein anderer Baumeister die Doppelheit der Motive, denen Lukrez die Topoi des Prooimions untergeordnet und die er meisterlich zu einer Einheit von gewaltigen Abmessungen verschmolzen hat, verworfen und durch Beschränkung auf eines von ihnen einen Einheitsbau in strengerer und einfacherer Ausführung entworfen hätte — ob zum Vorteil des Ganzen, brauchen wir nicht zu fragen; es genügt, daß Lukrez es nicht gekonnt hat und wohl auch nicht gewollt hätte —, es tritt uns wirklich in der nächsten Generation diese andere, man darf wohl sagen moderne Technik entgegen bei einem großen Dichter, den auch sonst mit Lukrez zu vergleichen für beider Verständnis nicht ohne Nutzen ist. Ich meine | natürlich Vergil. Ein Dichter von überragendem Kunstverstand, 35 dem freilich unter dem Einfluß der neuen klassizistischen Theorie, wie sie am reinsten und am wenigsten einseitig Horaz verfochten hat, mehr vielleicht noch unter dem Einfluß der eigenen Veranlagung die formale Gestaltung des Kunstwerks über alles ging und die Forderungen der Technik unverbrüchliches Gesetz waren, hat er für das Lehrgedicht, die schwierige Gattung, in der der rohe Stoff am stärksten der künstlerischen Durchdringung widerstrebt, die Form gefunden, die äußerlich nicht mehr zu übertreffen scheint. Vergleichen wir einmal mit dem Lukrezischen das Prooimion der Georgica, deren Beziehungen zu dem bedeutendsten Lehrgedicht nicht nur der ciceronischen Zeit, sondern der römischen, ja vielleicht der antiken Literatur überhaupt, anerkannt sind. Schon der Umfang ist bei Vergil nicht unwesentlich eingeschränkt; nicht nur absolut, was bei der absichtlich stark verringerten Verszahl seiner Einzelbücher selbstverständlich ist, sondern auch relativ. 41 ) Aber das mag nebensächlich erscheinen. Wichtiger ist jedenfalls der Stil und die Gedankenführung seiner Komposition. Quid faciat laetas segetes, quo sidere terram vettere, Maecenas, ulmisque adiungere vites 41
) Lukrezens Prooimion umfaßt mit 145 auf 1117 Verse 13% des Gesamtumfanges, 35,1 das Vergilische mit 42 von 514 nur 8%.
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Das Prooemium des Lucretius conveniat, quae cura boum, qui cultus sit pecori, apibus quanta experientia hinc canere incipiam —
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habendo parcis
Worauf sich diese Inhaltsangabe bezieht, ist auf den ersten Blick klar. Sie leitet nicht ein Einzelbuch, sondern das Gesamtwerk ein. Gleich die ersten 4 % Verse geben in knappster Form, aber sachlich ganz vollständig und einheitlich zusammengestellt den Inhalt der vier Bücher, aus denen es besteht. Dazu aber noch in denkbar einfachster Art die Widmung. Sie entsprechen inhaltlich und topisch nicht nur den vv. 24—28, die den Schluß der ersten Periode des Lukrezischen Prooimions bilden, sondern, da das Thema gleich nach Büchern spezialisiert gegeben wird, zugleich auch den beiden 'prosaischen' Inhaltsangaben, der Gesamtpropositio der vv. 54—61, 127 — 135. Ihre Stellung gleich am Eingang, ihre syntaktische Selbständigkeit, der nüchterne, fast prosaische Ton der kurzen Glieder verleiht ihnen den Charakter der Überschrift, der ältesten einfachsten | Form des Prooimions — Qovxvdidrjq 'A&rjvaloq t-vveygaipe xov nOXE[IOV TÖJV Ilekcmovvrjoiojv xal 'Afhjvaicov, Mfjnv äeide $eä IJrjXrjidÖEO) 'A/iXrjog, "Avdga fioi svvsTie Movaa,'Agaivorjg , yevofieva
äXr]§Ea doxel elvac ol yaq 'EXXijvcov Xoyoi xrcX., I %Q6Vv Mycov, genügen ja auch zum Beweise, wie den griechischen Epigrammatikern die ßäoiQ aarareovaa, die Ho/irjQ eixala axvljj,axa und die verräterischen Augen genügen. Wie kann nun
404,1
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) Damit wird dann die von SKUTSCH wieder empfohlene Identifikation des Properzischen Gallus mit dem Dichter Cornelius Gallus ganz unmöglich. Properz hätte sich ja lächerlich gemacht, wenn er seinem eigenen literarischen Vorbild Lehren über Dinge gegeben hätte, die dieser längst 'von Lykoris gelernt' hatte. Sie ist es freilich nicht nur aus diesem Grunde. Gallus ist einer von Properzens gleichaltrigen oder etwas jüngeren Freunden; vielleicht auch ein Verwandter.
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Catull den schweigsamen Freund besser zum Geständnis bringen, als dadurch, daß er scherzhaft — denn nur so kann das gemeint sein 18 ) — die Qualität des geheimnisvollen Liebchens in Zweifel zieht, um dadurch Flavius zum Widerspruch und zum Verrat seines Geheimnisses zu reizen. Erst hypothetisch nei sint illepidae atque inelegantes-, dann, als Flavius noch zögert 19 ), stärker beschwörend 'offenbar ist es ein scortum febriculosum; darum magst du es nicht sagen. Du kannst es doch nicht leugnen; also heraus damit; ich will deine Liebe auch im Liede feiern'. Das stärkste Argument, das einzige, das Flavius wirklich zum Reden bewegen könnte, steht | am Schlüsse — gerade wie in Properzens 406 Elegie — und ist mit der wiederholten Aufforderung innig verbunden. Es führt zugleich die scherzhaften Insinuationen auf ihr richtiges Maß zurück: ein scortum febriculosum würde Catull nicht besingen. Die derbe Realistik des 'Epigramms' ist von Properz wieder in eine höhere Sphäre gehoben. Aber der Vergleich der beiden Gedichte ermöglicht uns nun ohne weiteres eine richtige Auffassung der Elegie, vor allem der beiden entscheidenden Disticha 3—4 und 33—34. Auch Ponticus soll zum Geständnis gebracht werden; er soll dem Freunde sagen, quo (amore) pereat, wie Flavius es sagen soll, wie Melissias und Philainis, wie der 'Bruder Megyllas' dem Horaz, quo beatus volnere, qua pereat sagitta. Das Schlußdistichon ist jetzt ganz klar : desine dissimulare, die nobis, dicat frater Megyllae, sitiov ê/uoi, ¡xéxQiç êgel — genau so schließt Properz mit quam primum errata fatere. Wie Catull, an den er so gut wie Horaz direkt anknüpft und den er mit dem schließenden quare geradezu zitiert, verk n ü p f t er mit dieser Aufforderung sein stärkstes Argument, das die Aussprache als in Ponticus' eigenstem Interesse liegend erscheinen lassen soll, eine Variation des oft wiederholten 20 ) Kallimachoswortes (F 67) 18
) Das hat m. W. zuerst FRIEDRICH deutlich gesagt, dem man bei allen Geschmack- 405,1 losigkeiten, die seinen Kommentar fast unlesbar machen, ein Gefühl gerade für die lebendigen Elemente der Catullischen Dichtung nicht absprechen kann. Ob er dann freilich recht tut, die Mahnung des Priap an den sterbenden Daphnis (Thyrs. 8 2 Adtpvi xdkav tí rv rdxmi ; â ôé te xwqol ndaaç âvà xodvaç, návt äXaea nouai tpoQsïTai), die er allein vergleicht, ebenfalls für eine 'List, etwas aus Daphnis herauszulocken', zu halten, mag man bezweifeln. Den scherzhaften Charakter des Properzischen Gedichtes hat TROLL 82 richtig hervorgehoben. 19 ) Das Gedicht ist kein Brief, sondern eine Ansprache oder ein Dialog, in dem die 405,2 Antworten und Einwände des anderen unterdrückt sind. Eine symposiastische Situation ist hier so wenig wie bei Prop. I 9 angedeutet, aber sehr glaublich. Das Gelage ist die passende Gelegenheit zu solchen Schraubereien. Nur darf man sich auf Horaz so wenig wie auf die griechischen Epigramme berufen, um solche Situation zu 'beweisen'.
20
) Aristain. Ep. I 16 néiprxe ôè rotç noêovaiv eti jià).\ov ¿TiavÇeiv ó Àaôpaïoç ä/M 406,1 xa i aiycôfievoç eomç . . . âbiaç yàg . . xo hmovv ÈxXaXôjv ihioxovcpiÇei (levât) trjç
Î5*
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Drei Gedichte des Properz
[F 714 Pfeiffer] xovfporeQcog rore qmra xxX. Davon aber, daß er seine Liebe im Liede besingen soll, steht nichts da und kann auch noch nichts dastehen, weil Ponticus ja selbst die Tatsache seiner Verliebtheit noch nicht ausdrücklich eingestanden hat. 21 ) Man wird auch jetzt nicht mehr geneigt sein, diesen Gedanken mit ROTHSTEIN, HOPPE22) u.a. für 'selbstverständlich' oder 'nach dem Zusammenhange des Gedichtes' für geboten zu halten. Aber ehe wir auf die vv. 9—16, in denen von dem 'Dichter' Ponticus die Rede ist, eingehen, muß das zweite Distichon besprochen werden, das auch von Catull her Licht empfängt: | 407
ecce iaces supplexque venis ad iura puellae et tibi nunc quaevis imperat empta modo. Die Konjektur von V2 quovis, die selbst LEO, Die Elegien des Sextus Propertius, GGA 1898, 730, empfahl, weil 'es ein bestimmtes Mädchen ist und da ist quaevis ein Soloekismus', erledigt sich jetzt von selbst, so gut wie die Auffassung von quaevis als Akkusativ und PoSTGATEs quidvis. Es ist gerade keine bestimmte. Wenn Properz überhaupt weiß und es nicht nur neckend vermutet, daß Ponticus verliebt ist, so kennt er doch den Gegenstand seiner Leidenschaft noch nicht. Die Parallelen bestätigen nur, was das Gedicht selbst deutlich genug sagt. Sein Geheimnis will er ihm entlocken; und er macht es, wie Catull und wie Maecius, der der Philainis Trauer um einen untreuen Geliebten imputiert: er reizt ihn, indem er die Qualität der geliebten Person herabsetzt. Es ist keine Dame; auch keine vornehme Hetäre aus den Kreisen der Lebewelt. Die 'erste beste' beherrscht ihn — schon quaevis ist verächtlich gebraucht, wie I I 16, 15 ergo muneribus quivis mercatur amorem23). Aber er begnügt sich so wenig wie Catull mit diesem unbestimmten Ausdruck. Appositionell zu aötjfioviag To ßdoog. Heliod. Aithiop. IV 5. Mehr bei V.
H Ö L Z E R , De poesi amatoria a comicis Atticis exculta, ab elegiacis imitatione expressa, Diss. Marburg 1899, 54f. — Wohl davon zu scheiden ist die Befreiung durch das Lied: Theokrit. Kykl. 1
Ovöiv Tiox' xov eocora neqwxev rpäQ/xaxov ä).Xo rj rai ütsgideg. Kallimach. epigr. 46 o'jq äyadäv IIokvcpa/xoQ dvevoEro räv enaoidäv rd)Qa/iEvq> . . ai Movaai xov egcara TMTtaxvaivovTi ifa7ine. Horat. Carm. IV 11, 35 minuentur atrae carmine curat,. 406.2 406.3 407,1
21 )
Über die vv. 9 - 1 4 s. unten S. 231. Beiträge zur Kritik und Erklärung des Properz, Breslau 1911, 10. 23 ) Diese verächtliche Bedeutung ergibt sich natürlich immer erst aus dem Zu-
22 )
sammenhange. Vgl. v. 14 et cane quod quaevis nosse puella velit, wo quaevis 'jede' heißt. Denn hier wenigstens kann man kein ironisches Zitat von Worten des Ponticus finden, wie man es für tristes istos libellos wollte. Übrigens gewiß auch
nicht richtig, da tristes libelli nicht das flebile Carmen bedeuten kann. Componere' beiseite stellen' hat ROTHSTEIN belegt, wobei er hätte betonen können, daß überall die Bedeutung des unordentlich oder gleichgültig Weglegens, des Zusammenstopfens, stipare, wie Varro sagt, gelegentlich auch die des Verbergens, kenntlich
19
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quaevis24) tritt, es näher bestimmend und durch Beschränkung des Kreises, aus dem diese 'erste beste' stammen kann, erst das wesentliche gebend, empta modo, das man auch nicht mehr antasten wird. Es ist eine Sklavin, die er eben erst gekauft hat, wie die Nachfolgerin Cynthias I V 7, 39 eine meretrix quae modo per viles mspecta est publica noctes haec nunc aurata cyclade signat humum.25) | modo verschärft in beiden Fällen den Vorwurf, der an sich schon ver- 408 letzend genug ist. Denn die Liebe zu einer Sklavin gilt gemeinhin als verächtlich: genau wie hier heißt es im Comment. petit. 8 quo tarnen in magistratu amicam, quam domi palam haberet, de machinis emit. Es bedarf schon besonderer Argumente, um sie zu verteidigen oder gar zu empfehlen. ne sit ancillae tibi amor pudori — wenn Horaz (Carm. I I 4) das sagt, so führt er erst feine Reihe mythologischer Beispiele an und macht dann doch noch scherzend die 'blonde Phyllis' zu einer geraubten Prinzessin. Vgl. Ov. Am. I I 8. Auch Martial I I I 33 gibt die Stufenfolge ingenua — libertina — ancilla, um dann freilich der Konvention ein Schnippchen zu schlagen: ingenuam malo, sed si tarnen illa negatur libertina mihi proxima condicio est. extremo est ancilla loco: sed vincet utramque si facie nobis haec erit ingenua. Natürlich hat man auch den umgekehrten Standpunkt vertreten. Wenn Rufin. Anth. P. V 17 sagt fiälkov
TOJV
ooßaQwv rag dovXi&ag exkeyöfiEaBa,
so weist die Art der Begründung und die Berührung mit Horat. s. I 2, 116ff. ebenso wie das Exempel des Pyrrhos auf hellenistische Diskussionen. 26 ) Aber das ist ein Paradoxon. In Wahrheit traut Properz dem Ponticus die Leidenschaft für eine Sklavin so wenig zu, wie Catull dem Flavius das scortum febriculosum. Urbaner hat Horaz einen solchen Verdacht von vornherein abgelehnt: ist. Ich verweise noch auf die Martialische Imitation (VII 29, 5) paulisper domini doctos sepone libellos, wo die Nebenbedeutung natürlich fehlt, sepone in den Properztext einzuführen (HEINSIUS), ist eben deshalb falsch. 2 4 ) I I 13, 43 atque utinam primis animam me ponere cunis iussisset quaevis, e tribus 407,2 una soror. Auch I I 6, 26 si cuivis nuptae quidlibet esse licet. Zu empta modo: Ov. Ars I I I 591 dum cadit in laqueos, captus quoque nuper amator. 2 5 ) In derselben verächtlichen Weise spricht Cynthia I I I 6, 22 von ihrer vermeint407,3 liehen Nebenbuhlerin et qualem nolo dicere habere domi. Man denkt auch an die eben gekauften Sklavinnen der Komödie. 2 6 ) Die Zusammenhänge scheint mir F . WILHELM, ZU augusteischen Dichtern, 408,1 RhM 61, 1906, 91 f., nicht ganz richtig zu beurteilen.
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Drei Gedichte des Properz
I 27, 14 quae te cumque domat Venus non erubescendis adurit ignibus ingenuoque Semper amore peccas. Aber es ist eben nur Urbane Form, wie er auch die nochmals aufreizende Schlußwendung Catulls quare quidquid habes boni malique
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409,1
zu quidquis habes verkürzt. Der Zweck ist der gleiche. Mit dem Verständnis der beiden Distichen ist das Gedicht in der Hauptsache erklärt. Denn die immer wiederholten Versuche si pudor est anzutasten, braucht man nicht zu widerlegen. | Diese Redensart hat ROTHSTEIN erklärt und mit Beispielen belegt. 27 ) Sie ist nicht immer 'grob' oder 'drohend', obwohl sie meist recht scharf klingt. Aber sie verrät — wie bei Verg. Buc. V I I 4 4 , aus dem Properz sie wohl genommen hat, ite domum pasti, si quis pudor, ite iuvenci — die Ungeduld des Dichters, der lange auf den Freund eingeredet hat, ohne daß dieser sich zum Sprechen entschloß. Was sie an Schärfe hat, hebt übrigens der Pentameter wieder auf. LACHMANNS etsi wäre zwar möglich, ist aber matt. Das letztere gilt in noch höherem Maße für HEINSIUS' ni, das noch HOSIUS der Erwähnung im Apparat würdigt. Eine so formulierte Aufforderung könnte im Eingange des Gedichtes stehen, wie bei Catull der hypothetische Satz ni sint illepidae; am Schluß vernichtet sie die Pointe. Hier darf kein Zweifel und keine Bedingung mehr sein; hier muß eine kräftige Forderung stehen. Darum wird man auch gern mit HOPPE si nicht kondizional, sondern mehr begründend fassen, wie es im Gebete zu stehen pflegt: poscimus, si quid vacui sub umbra lusimus tecum, age die 'so wahr du' — womit dann wieder der Ausdruck an Schärfe verliert. Nur HOPPES Begründung wird man sich nicht zu eigen machen, pudor als Synonymon zu errata zu fassen, ist weder sprachlich möglich noch dem Sinne nach befriedigend. Was soll das heißen: 'so wahr du eine Liebe hast, gestehe die Liebe'? Am wenigsten geht es natürlich nun noch an, in dem so gefaßten pudor eine Beziehung auf den Stand von Ponticus' Mädchen zu finden; die Wahl des Wortes damit zu erklären, daß er sich ihrer zu schämen habe. In der römischen Liebessprache führt es freilich immer wieder irre, daß bei allem Gegensatz der Dichter gegen die subdueti supercili carptores doch so viele Ausdrücke für die Leidenschaft ( f u r o r , peccare, errata usf.) vom Standpunkt der gewöhnlichen Moral und Vernunft aus geprägt sind. Ob Ponticus im Verlaufe der Unterhaltung wenigstens die Tatsache seiner Verliebtheit zugestanden hat, kann zweifelhaft sein. Das Gedicht an sich 27
)
HOPPE
hat Martial. X 90, 9 hinzugefügt. Vgl. ebd. VIII 3, 3 sit pudor et
finis.
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läßt nicht erkennen, ob Properz von einer unbestrittenen Tatsache ausgeht — die Verliebtheit des Ponticus mag stadtbekannt, er selbst fabula inter convivia gewesen sein — oder ob er auch sie nur scherzhaft fingiert, um den ernsthaften Freund zu schrauben. Manches spricht für diese | An- 410 nähme. Properz redet nicht von Liebeszeichen. Im Gegenteil: die gräuliche Schilderung der v. 17 ff. läßt erkennen, daß sich* äußerlich Ponticus' Liebe noch nicht verrät, daß sie also vermutlich überhaupt nicht vorhanden ist. Jedenfalls läßt sich die Frage aus den Eingangsversen nicht entscheiden. Die ersten vier Distichen gehören ganz eng zusammen. 5—8 begründen das emphatisch an den Anfang gestellte dicebam. 'Ich hab's dir gesagt (nämlich im Carm. I 7); ja ja in Liebesdingen bin ich erfahren.' Daß damit einem Einwand des Ponticus, er sei ja gar nicht verliebt, begegnet werden solle, ist nach der Formulierung nicht gerade wahrscheinlich. Selbstverständlich greift Properz nun weiter auf das erste Gedicht zurück: 'Was helfen dir jetzt deine Talente als Epiker.' Man hat auch diese vv. 9—16 verwendet, um aus dem Schlußdistichon die Aufforderung 'besinge deine Liebe' herauslesen zu können. Nicht mit Recht. Aus dem Verhältnis, in dem die beiden Elegien I 7 und I 9 zueinander stehen, ergibt sich die Aufforderung 'geh, leg die tristes libelli, die Bücher voll Schlachtengetön, beiseite'. Die weitere 'und dichte Liebeslieder' hat kaum eine andere Beedutung, als daß sie das Distichon ausfüllt. Denn Properz geht im folgenden weder auf den in I 7 zur Genüge behandelten Gegensatz von Epiker und Elegiker weiter ein noch überhaupt auf den Dichter Ponticus. Während in der Elegie II 34, 25ff., die sonst manche Ähnlichkeiten mit der unsrigen hat, die Sache darauf zugespitzt ist, daß der verliebte Lynkeus Literat ist; und während ihm deshalb zugerufen wird inque tuos ignes dure poeta veni, bildet in I 9 den Gegenstand nicht der 'Dichter', sondern der 'verliebte' Ponticus. Die Fortführung, die Properz beliebt, ist recht originell; die Zeichen der Liebe, die in den analogen Epigrammen aufgezählt sind und die auch Tibull eingangs wenigstens andeutet, hat er vollkommen gestrichen und sich allein auf die Prophetengabe des Erotikers berufen. Jetzt nun verwendet er sie; er gibt dem verliebten Epiker Ratschläge nicht für seine Dichtung, sondern für seine Liebe selbst; er erzählt ihm, an welchen Zeichen er sie erkennen kann, wie sie sein wird, wie er sich benehmen soll, nicht viel anders wie 1 1 0 dem Gallus gegenüber, der kein Dichter ist. Ganz passend. Die Ratschläge dienen ja gleichzeitig dazu, dem Zögernden Mut zu machen, sich dem so erfahrenen Freunde anzuvertrauen. Sie bilden das Mittelstück der Elegie, wie bei Catull die realistische Beschreibung der Liebeszeichen den Hauptinhalt des Epigramms bildet; nur der Übergang v. 15 | quid si non esset facilis tibi copia
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ist nicht ganz einfach zu verstehen. Klar ist allerdings, daß copia hier nicht heißen kann, was es gewöhnlich bei Properz heißt: I I 20, 24 lecti copia facta tui\ 33, 34 elevat assiduos copia longa viros; I I I 8, 39 furandae copia noctis. Wenn POSTGATE, BUTLER U. a. auch hier 'ready access', 'what if you were debarred from your love' u. ä. übersetzen, so verträgt sich das weder mit dem voraufgehenden noch erst recht mit dem folgenden Gedanken, copia verlangt, da das Epitheton sie nicht liefert, eine die Beziehung andeutende genetivische Ergänzung; und ich sehe nicht, woher man sie nehmen will, wenn nicht aus dem vorhergehenden Verse. Es ist die copia canendi28), deren Vorhandensein Ponticus in einem Einwände bestreitet, während Properz den Zweifel als lächerlich abweist. Das kann 'Fähigkeit' oder 'Begabung' heißen, wie ROTHSTEIN will. Properz I 7 hatte gewarnt et frustra cupies mollem componere versum nec tibi subiciet carmina serus amor. Da die Bedingung nicht erfüllt, die Liebe des Ponticus keine 'späte', sondern sofort gekommen ist, so könnte Properz wohl den Zweifel des Freundes an seiner Fähigkeit, erotisch zu dichten, lächerlich machen. Ob der stolze Epiker freilich einen solchen Zweifel äußern würde? Und ob nicht dann im folgenden die Widerlegung deutlich gemacht werden müßte? Statt dessen sagt Properz: Warte nur ab, bis du wirklich in Amors Gewalt bist; dann wird die copia nicht fehlen, sondern so stark da sein, daß du magis Armenias cupies accedere tigres usf. Danach kann copia nur 'Stoff', scribendi materia sein (PALEY). SO scheint es auch Ovid verstanden zu haben, wenn er in den an Imitationen unseres Gedichtes reichen Eingangsstücken der Amores erst erklärt (11, 19) nec mihi materia est numeris levioribus apta aut puer aut longas compta puella comas;
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411,1
um dann, nachdem Amor seinen Pfeil abgeschossen hat, in I 2 die Qualen der erwachenden Liebe zu beschreiben. So scheint also Ponticus in dem Einwände, den v. 15 voraussetzt, überhaupt abzuleugnen, daß er verliebt ist. Auf die Forderung tristis compone libellos et cane quod quaevis nosse puella \ velit antwortet er ironisch 'gerne, wenn ich einen Stoff für derartige Gedichte habe'. Worauf Properz, ohne sich verblüffen zu lassen — so wenig wie Catull, dem Flavius auch die Deutung seiner realistischen Indizien bestritten hat — bemerkt: 'das Weißt du nur selbst nicht; warte nur ab; du wirst es schon merken, wenn du erst gründlich verliebt bist'. Und nun malt er ihm das Schreckensbild 2S
) Der Sinn ändert sieh auch nicht, wenn man absolutes copia est = potes annimmt. Auch dann kann man nur canere ergänzen.
233 der wirklichen Liebe, um ihm Angst zu machen und ihn dadurch zum Sprechen zu bringen. Wenn es da nun in diesem Zukunftsbild, dieser Ausführung eines erotischen Gemeinplatzes (v. 25), heißt: nec te decipiat, quod sit satis illa parata: acrius illa subit Pontice si qua tua est, so ist es auch hier wieder falsch, in parata eine Bestätigung dafür zu finden, daß Ponticus wirklich in eine Sklavin verliebt ist. Dem widerspricht der Konjunktiv, den man entweder so verstehen kann, daß ein Einwand des Ponticus wiedergegeben wird — 'es ist j a meine Sklavin, wie du selbst sagst' — oder als Bezeichnung der gedachten Möglichkeit: 'daß sie vielleicht zuerst (das ergänzt man sich aus dem Pentameter) entgegenkommend ist'. Glaublicher erscheint auch hier die zweite Auffassung. Von einer Sklavin wäre der Pentameter überhaupt nicht recht zu verstehen. Die ist in jedem Falle 'sein', hat nie einen eigenen Willen, ist ganz in domini potestate, wie der puer emptus libidinis causa (Cic. Philipp. I I 4 5 ) . 2 9 ) Auch ist die Neckerei des zweiten Distichons wohl hier längst vergessen. Und endlich tritt hier wieder die Parallele mit dem Epigramm ein, in der die gleiche Vertauschung der Rollen vorkommt: Agathias a. O. 1 'jurjdev ayav ooqpog ehiev eya> de Tig ojg enegaarog, ä>g xakog, rjegdtjv xaig /xeyaXrxpooavvaig, xal ywxfjv doxeecrxov ohjv em %EQalv ¿fieio xeladai xfjg xovgrjg, rijg Taxa xegdoder/g. Tj d' VTTEQrjEQdr] aoßaQTjV 6' VTCEQEayßOeV 0l
Meisterhaft ist es, wie er eine ausdrückliche Versicherung seiner Treue vermeidet — das würde Cynthia ins Unrecht setzen, sie ärgern. Aber er verschiebt die Anklage: er stellt sich, als ob er erst jetzt überhaupt auf den Gedanken kommt, er könne, | nachdem Cynthia ihn so behandelt hat, etwa Gleiches mit Gleichem vergelten, ihr seinerseits untreu werden. Dabei liegt wirklich eine ganz leise Drohung in diesem doleres si qua foret. Aber sie ist im Irrealis gehalten und umrahmt von den zwei Versicherungen, daß der Fall nicht eintreten kann, weil es keine gibt, die auch nur ebenso schön, geschweige denn schöner sei als sie. Also kein Wort der Verteidigung, das aufreizen und Cynthia den Urgrund des Zankes zu lebhaft vor Augen stellen könnte; und doch die allergeschickteste Verteidigung. Denn wenn Properz jetzt, nachdem er ausgeschlossen ist, noch so denkt, dann zerfällt ja die Verleumdung des Rivalen von selbst in nichts. Aber auch kein Wort des Vorwurfs gegen Cynthia. Im Gegenteil: sie ist iure superba. 'Du hast gestern einen Streit mit mir vom Zaune gebrochen und ihn weit genug getrieben; das ist das Recht der Schönheit; aber — und das ist eben die Überraschung — der Teufel soll den Burschen holen, der dich aufgehetzt hat.' Wie schön schließt daran die Versicherung, daß es eben nur der Ärger, nicht Liebe war, die ihm sein Glück verschafft hat. Das geht im Ernst nicht an den Rivalen, der es ja auch gar nicht liest. Es ist auf Cynthia berechnet. Es soll ihr gewissermaßen suggerieren, daß sie in Wahrheit ja doch Properz liebt. Auch ist es doch immerhin peinlich für sie, daß sie sich so weit hat fortreißen lassen. Darum macht Properz es ihr leicht, darüber hinwegzukommen, nun auch ihrerseits ein gutes Wort zu geben. Er baut ihr goldene Brücken für den Rückzug aus
450.1 •') Über v. 3—4 s. unten. 450.2 68) Ich glaube, bewußt. Daß Properz eine gründliche rednerische Ausbildung genossen hat, ergibt sich aus zahlreichen Indizien.
III 8
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der unangenehmen Situation, indem er ganz selbstverständlich so tut, als ob auch ihr die Situation unangenehm sei. Ja er geht noch weiter. Der vorletzte Vers cui nunc si qua data est furandi copia noctis ist im Ausdruck so gehalten, daß er es zweifelhaft läßt, ob wirklich das äußerste geschehen ist. Properz will glauben, daß er in der Lage ist, in die Ovid (Ars III 599) den Liebhaber zu bringen empfiehlt, daß er j>lura sollicitus, quam seiet, esse timet. Und das entspricht den wirklichen Verhältnissen : das Mädchen wird von Gelage im xä>/ioQ heimbegleitet (z. B. Ov. Am. I 4, 55ff.; Ars I 607ff.). Properz weiß nur, daß er sie nicht hat begleiten dürfen; er kann nicht wissen, ob wirklich der andere nun auch Einlaß gefunden hat. Vielleicht zweifelt er nicht daran, aber er läßt ihr die Möglichkeit zu sagen non feci (Ov. Am. II 5, 10); er wäre zufrieden, wenn sie jetzt leugnet, wie Ovid (Am. I 5, 69f.), der doch nicht zweifeln kann, weil es sich um den legitimen maritus handelt, es wünscht: sed quaecumque tarnen noctern fortuna sequetur cras mihi constanti voce dedisse nega. Die Elegie ist keine akademische Erörterung, aber auch keine Entschuldigung für eine wirklich begangene Treulosigkeit Cynthias; sie ist ein Aoyog OeQoatevrtHÖg. Und das deQcuievsiv gilt nicht nur der Geliebten, sondern auch dem Dichter selbst. Jener Zank und seine Folgen sind für ihn wahrlich keine Annehmlichkeit gewesen; und wenn er — sei es aus Politik, sei es weil er sich wirklich nicht ganz unschuldig an seinem Ausbruche fühlt — es vermeidet, in der Weise, die wir aus so vielen Elegien kennen, Cynthias Leichtfertigkeit herb zu tadeln, so muß er doch nicht nur der Geliebten, sondern auch sich selbst in irgendeiner Weise über das unangenehme Faktum hinweghelfen; ganz abgesehen von dem Gefühl, das ihn eigentlich beherrscht, von der Angst, daß es sich um einen ernsthaften Bruch handelt. Nicht nur Cynthia, sondern fast noch mehr sich selbst will er suggerieren, daß davon gar keine Rede sein kann. Diesem Zweck dient das Hauptstück der Elegie, der bekannte, in sehr verschiedenen Formen auftretende Gemeinplatz vom Zusammenhange zwischen Streit und Liebe, von der Wünschbarkeit einer leidenschaftlichen Natur der Geliebten. Scharf ist dieser Gesichtspunkt dadurch in den Vordergrund gerückt, daß in dem als Prooimion dienenden Distichon 1/2 dulcis an die erste Stelle gerückt ist. Das gibt ein Paradoxon; und das Paradoxon verlangt eine Begründung. Sie steht v. 9—10 nimirum veri dantur mihi signa caloris: nam sine amore gravi femina nulla dolet 'du brauchst dich nicht zu wundern, daß ich so spreche'. Diese Begründung wird weiter ausgeführt und bestätigt durch eine längere Reihe von Äuße-
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Drei Gedichte des Properz
rungen dieses weiblichen dolor, von denen die eigene Erfahrung den Dichter — jene Erfahrung, die eben den Erotiker auszeichnet und ihm das Recht gibt, in Liebesdingen mit der Autorität des Propheten zu sprechen — belehrt hat, daß sie notae certi amoris sind (v. 11 — 18) quae mulier rabida iactat convicia lingua et Veneria magnae volvitur ante pedes, custodum gregibus circa seu69) stipai euntem seu sequitur medias maenas ut icta vias, | seu timidam crebro dementia somnia terrent seu miseram in tabula picta puella movet — his ego tormentis animi sum verus haruspex, has didici certo saepe in amore notas.
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452,1
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) seu f ü r se (LACHMANN) ist die einzige Besserung, die ich in diesen Versen zulasse. Sie ist aber auch unbedingt nötig. Denn die Eifersucht k a n n sich nicht darin zeigen, daß die F r a u sich mit custodes umgibt (das ist selbst f ü r die bessere K u r tisane das Reguläre: I I 23), sondern n u r darin, daß sie den Geliebten bewachen läßt. Alle anderen Änderungen sind teils überflüssig, teils schlecht. Verwunderlich ist mir besonders, d a ß H o s i u s die VAHLENsche Behandlung dieser Partie (Beiträge zur Berichtigung der Elegien des Propertius, Monatsb. Berl. Ak. 1881, 360), von der dieser selbst später zurückgekommen zu sein scheint (ed. V I der Hirzeliana), verewigt h a t . V A H L E N sah (wie vorher schon H E R T Z B E R G ) in den v. 11 — 14 'einen Effekt', in 15—16 'ein Motiv, das solchen Effekt herbeiführen könnte'. E r setzt infolgedessen vv. 25—26 hinter 11 — 12, u m auch f ü r das 'Gebahren' in diesen Versen einen 'Anlaß' zu haben, u n d schreibt in v. 15 circa te. Die ganze Herstellung ist recht unglücklich und ergibt eine ebenso schwerfällige wie schiefe Folge der Gedanken: d a ß auch v. 15—16 Symptome geben müssen u n d daß wirklich, wie es die grammatische F o r m 'zuläßt oder zu verlangen scheint', in 11 — 16 eine 'gleichartige Reihe' solcher Symptome steht, wird durch die U m r a h m u n g dieser Verse mit veri signa caloris — certo in amore notas gefordert. Zum Überfluß mag m a n I I 6, 9 vergleichen, wo wir das gleiche S y m p t o m einer wahnwitzigen Eifersucht h a b e n : me iuvenum pictae facies, me nomina laedunt. Die Beziehung beider Gedichte aufeinander ergibt sich auch aus der gleichartigen Verwendung von timidua u n d miser 1 1 6 , 1 3 — 14; 1118,15—16. D a s VAHLENsche Asyndeton zwischen 11 — 12, 25—26 und 13 — 16 ist weitaus schlimmer, als das leicht erklärliche und sogar sehr wirksame Anakoluth. Der Wechsel der Konstruktion t r i t t v. 15 durch Veränderung des Subjekts ein; und d a m i t ist eigentlich schon gegeben, d a ß die lange Reihe der signa caloris ohne grammatischen Abschluß bleiben m u ß . Das Subjekt der Apodosis k a n n jetzt weder die mulier sein, die solche Symptome entwickelt (11 — 14), noch die Symptome selbst (15—16); Properz kann weder sagen haec amore ardet noch haec signa amoris sunt. E r f a ß t vielmehr mit der wirksamen Anapher his — has die lange Reihe zusammen u n d stellt, indem er sich selbst zum Subjekt macht, den Begriff, auf den es a n k o m m t , in den Vordergrund: haruspex sum — didici; er weiß, daß dies signa amoris sind. Unzweifelhaft verliert damit die Aufzählung alles L e h r h a f t e ; der persönliche Ton des Ganzen gewinnt und die unmittelbare Lebendigkeit des Gedichtes wird gesteigert.
III 8
257
Das schließt gut aneinander. Nur die zwischen Satz (1—2) und Begründung (9—18) stehenden Verse verlangen noch ein Wort: cur furibunda mero mensam propellis et in me proicis insana pocula pleno, manu ? | tu vero nostros audax invade capillos et mea formosis unguibus ora nota. tu minitare oculos subiecta exurere flamma, fac mea rescisso pectora nuda sinu.
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Zwischen 1/2 und 3/4 klafft eine Lücke. Die beiden Distichen können unmöglich in der gleichen Situation gesprochen sein. Das übersieht ROTHSTEIN, der sie in einer durchaus unklaren Paraphrase zusammennimmt. Die Konjekturen cum und dum genügt es zu erwähnen, um ihre Unmöglichkeit zu erkennen. 70 ) Die richtige Erklärung hat schon LACHMANN gegeben: 'felici audacia Propertius verba, quae ipse inter rixam pronuntiaverat, ponit'. Er verwies auf I I 15,11 ff., das seitdem auch wieder mißverstanden ist. 71 ) Vielleicht ist der Übergang dort leichter, weil er aus der Erzählung in die direkte Rede erfolgt. Aber wie hier zitiert die lena IV 5, 55f. in ihrer Rede ohne jeden Übergang das Distichon I 2, 1—2 und wird I I I 13, 43—46 die Umsetzung eines Leonidasepigramms eingeschoben, um — gleichsam exkursweise — die verba benigna der ländlichen Gottheiten zu illustrieren. Wenigstens für die Form gibt das eine Parallele. Und natürlich hat die Kühnheit einen Zweck. Wenn die vv. 5—8 auch unmittelbar an 3—4 anschließen (tu vero h a t ROTHSTEIN | richtig als 'nur zu' erklärt; es ist auffordernd, nicht steigernd), so können 455 sie doch nicht am Abend vorher gesprochen sein. Sie passen nicht für die 70
) In dem seltsamen Buch von P. J. ENK, Ad Propertii carmina commentarius 454,1 criticus, Zutphen 1911, 231 (das ich doch erwähnen will, um zu sagen, daß ich es nicht benutze) wird cum als selbstverständlich behandelt. Man denkt einen Moment daran, die Frage aufzufassen wie Catulls quo signo (92, 3), und in 9—10 die Antwort zu sehen. Aber 5—8 sind dann selbst als Exkurs nicht erklärbar. Eher könnte man in den vv. 3—8 einen Nachgedanken sehen und die Wiederholung von insanus an gleicher Versstelle (2.4), die man durch Konjektur nicht beseitigen wird, anführen. Auch v. 18. 19 wird certus für uns störend wiederholt, wo zwei Teile zusammenstoßen. Aber Properz ist sehr gleichgültig in dieser Beziehung. Man wird daher auch nicht umgekehrt beabsichtigte 'Leitworte' in der Wiederholung finden.
71
) O me felicem! o nox mihi Candida! et o tu lectule . . . quam multa adposita narramus 454,2 verba lucerna quantaque sublato lumine rixa fuit. nam modo nudatis mecum est luctata papillis, interdum tunica duxit operta moram . . . non iuvat in caeco venerem corrumpere motu: si nescis, oculi sunt in amore duces . . . quodsi pertendens animo
vestita cubaris eqs. 'Unmittelbar, ohne Bezeichnung des Überganges, schließt sich an die Schilderung der genossenen Freuden die Äußerung eines noch nicht befriedigten Wunsches', sagt R O T H S T E I N . Andere stellen um, nehmen Lücken an, schneiden fort. 17
Jacoby, Kleine Schriften I I
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Drei Gedichte des Properz
Situation; denn der Streit hätte schwerlich so geendet, wenn Properz gleich am Abend sich so ergeben gezeigt hätte. Er hat vielmehr, sei es sich verteidigt, sei es scharf repliziert und durch beides Cynthias sinnlosen Zorn nur noch gesteigert. Jetzt weiß er, wie er sich hätte benehmen sollen; er verbessert sich und bittet damit gewissermaßen um Entschuldigung. Man stelle nur einmal die Gedanken der beiden ersten Distichen um, übersetze sich diese indirekte Verteidigung in eine prosaische, logisch angeordnete Rede — 'wenn ich gestern deinen Anklagen widersprochen habe, so sage ich jetzt, dein Zorn war mir recht' usf. —, um zu empfinden, was der Dichter mit dieser Anordnung gewonnen hat. In welcher Situation die Worte ursprünglich gefallen waren, das mußte jeder Leser an dem abrupten Einsetzen der Frage und an dem Wechsel des Tempus merken. Nach unten aber geht der Verskomplex unmerklich in die ursprünglich eingeschlagene Bahn über; denn nimirum, v. 9 schließt so gut an v. 3—8 wie an 1—2 an. Man mag ihn jetzt als eine durch rixa ad hesternas lucernas hervorgerufene Digression auffassen. An den Eingangssatz und seine Begründung (1—2. 9—18) schließen gradlinig die vv. 19—34, in denen Properz aus der allgemeinen Beobachtung, daß ira Signum amoris ist, die Folgerung für sein Verhältnis zu Cynthia zieht. Der Gedanke ergibt sich ganz natürlich: wenn die Liebe sich in diesem leidenschaftlichen Benehmen zeigt, so will ich das auch in meiner Liebe nicht missen, will ein Mädchen leidenschaftlichen Charakters haben; hostibus eveniat lenta puella meis. Soviel ist deutlich; die einzelnen Schwierigkeiten werden unter Berücksichtigung dieser sicheren Gedankenfolge gelöst werden müssen. Dabei kommt für die Gesamtauffassung kaum etwas auf das Distichen 25—26 tecta superciliis si quando verba remittis aut tua cum digitis scripta silenda notas an 72 ); um so mehr auf den Eingangsvers dieses Teiles, wo vulgate Lesung LDV [ 455,1
n
HOSIUS
die
) Unzweifelhaft ist in ihm die Rede von der Zeichensprache der Liebenden, deren rechter Platz das Symposion ist und deren Zweck immer in der Täuschung des legitimen vir besteht (Ov. Ars I 569ff.). So verwendet Ovid diese Verse zweimal bei der gleichen Gelegenheit: Am. I 4, 18ff.; Heroid. X V I I 81f. Vgl. noch Am. II 5, Tibull. I 2, 21ff.; 6, 19f. Der legitime vir ist in diesem Falle Properz. Die alte Erklärung, Cynthia drohe Properz heimlich, ne marito praesenti amoris secreta prodat, hat schon LACHMANN als sinnlos zurückgewiesen, was nicht gehindert hat, daß seitdem H E R T Z B E R G und P A L E Y in die alte Kerbe schlugen und noch Unglaublicheres von den Dingen zu berichten wußten, die Cynthia dem Properz durch diese Zeichensprache mitteilt. Die Versuche, das Distichon mit 23—24 enger zu verbinden, scheinen nicht glücklich, weil jedes Distichon in dieser Partie in sich abgeschlossen ist und das ganz antithetisch gebaute 23—24 meines Erachtens an Wirkung einbüßt, wenn eines seiner Glieder einen solchen schlep-
III 8 non est certa fides, quam non iniuria
259 versat
456
hat73).
wieder in den T e x t genommen Aber der so entstehende Gedanke ist hier durchaus unpassend. Properz würde d a m i t zugeben, daß er sich eine iniuria h a t zu Schulden kommen lassen; und das widerspricht der wohlüberlegten A r t , m i t der er jede | Andeutung, d a ß Cynthias Zorn 457 eine gewisse Berechtigung gehabt hat, vermeidet. Außerdem wäre der Satz '(also) nur die fides ist echt, die durch eine iniuria beeinflußt wird', eine durch nichts berechtigte, weder logische noch geschickte U m kehrung, des Argumentes 'heftiger Zank ist ein Zeichen heftiger Liebe'. Ü b e r h a u p t handelt es sich nicht um Verletzung der fides von Seiten Cynthias — wenn Properz d a v o n hier spräche, würde er sich die Absicht seines Gedichtes gründlich verderben; er darf und will Cynthia hier nicht entschuldigen —, sondern zunächst einfach u m die leidenschaftlichen convicia und Mißhandlungen, m i t denen sie den D i c h t e r überhäuft h a t und aus denen er auf ihre heftige Liebe schließt; u m die rixa und u m nichts anderes. D a r u m h a t V A H L E N 7 4 ) m i t R e c h t in iurgia aus N und vertere aus F genommen. Sein vertas erklärt nicht nur die K o r r u p t e l versat ( N L D V ) , die bereits dem Archetypon a n g e h ö r t 7 5 ) , leicht; es gibt auch penden Anhang bekommt. Das macht mir S A N D S T R Ö M S Umsetzung in v. 24 sive tuas lacrimas sive videre meas (die H A R T M A N und B U T L E R billigen) unwahrscheinlich. Sie ist auch sonst unnötig. Kann man überhaupt verbinden, so ist die Beziehung auf das erste Glied der voraufgehenden Alternative (ROTHSTEIN) unbedenklich, weil nach der ganzen Situation in dieser Elegie Properz immer stärker an seine Leiden denkt, wenn er auch zunächst noch beide Möglichkeiten gleichstellt. R O T H S T E I N S Belege passen aber nicht: I I 28, 53f. ist korrupt und I I 20, 25—30 liegt anders. Da geht keine scharf ausgesprochene Alternative voraus, sondern der Dichter — der der Situation entsprechend überhaupt nur von der Untreue des Mannes redet — gleitet allmählich zu der Strafe über, die ihn für eine etwaige Verletzung des foedus treffen soll. Eine Lücke vor 25/26 anzunehmen (Luc. M Ü L L E R ) , kann ich mich auch nicht entschließen. Denn eine längere, ins einzelne gehende Schilderung der Gründe für solche lacrimae ist hier, wo in lauter allgemeinen Sätzen gesprochen wird, nicht am Platze. Auch scheint mir die Andeutung von Rivalen, die in der Verwendung der Geheimsprache liegt, nach der oben zu besprechenden Gedankenentwicklung dieses Teiles hier überhaupt noch nicht am Platze. Da meines Erachtens eine überzeugende Umstellung unmöglich ist, bleibt nur LACHMANNS Annahme übrig (sie stellte schon B U R M A N auf; H A U P T , V A H L E N U. a. folgten L A C H M A N N ) , in dem Distichon die Beischrift eines Lesers zu sehen. Freilich in unserem Properztext findet es sich nicht; und wenn der Leser, wie L A C H M A N N glaubte, die Verse zu v. 13—18 notierte, war er jedenfalls nicht doctus. 73 ) Auch R. REITZENSTEIN, Zur Sprache der lateinischen Erotik, Heidelberg 1912, 456,1 35, zitiert den Vers so mit der Bemerkung, daß er 'ganz dem Empfinden der amicitia entspricht*. 7 i ) De emendando Taciti dialogo disputatio I I , Index lectionum aestiv. Berlin 1881 457,1 = Opuscula Academica 1, Leipzig 1907, 143f. 75 ) Solange wir über die verschiedenen Hände von F nicht genau unterrichtet sind 457,2 17*
260
458
Drei Gedichte des Properz
durch die Anrede an Cynthia eine am Anfang des neuen Abschnittes sehr passende persönliche Note. Denn man darf allerdings nicht, wie es V A H L E N getan zu haben scheint und seine Nachfolger, soweit sie sich über den Vers überhaupt äußern, es wirklich tun, in den so hergestellten Worten einen allgemeinen Satz finden wollen und fides, wenn es überhaupt näher bestimmt wird, auf die fides puellae beziehen. 78 ) Sie enthalten vielmehr eine Aufforderung oder einen an Cynthia gerichteten Wunsch, der mit den Aufforderungen 5 ff. tu vero eqs. und mit den folgenden videant — volo — velim — erunt korrespondiert. Die richtige Schlußfolgerung aus der 9—18 gegebenen Beurteilung der Eifersuchtsszenen ist die: 'es gibt keine certa fides (gemeint ist natürlich seine eigene Treue; aber er hütet sich, das zu deutlich auszusprechen; nur implicite wie in 35—36 steckt auch hierin eine Verteidigung), die du nicht in Zank verkehren magst. Ich mag keine lenta puella, bei der ich nicht sicher wäre, daß sie mich liebte'. | Die Schilderung der Liebe, wie sie sich Properz wünscht, ist ganz allgemein gehalten, die Ausführung eines erotischen Gemeinplatzes — et executus est locum, sagt der alte Seneca, wenn er die Verwendung eines solchen Topos, den jeder kennt, mitteilt, ohne ihn in den Einzelheiten zu wiederholen. Die Elegie wirtschaftet bekanntlich stark mit solchem Material. Trotzdem verfallen die Interpreten immer wieder in den Irrtum, nun jeden einzelnen Zug einer solchen allgemeinen Beschreibung auf die Situation der betreffenden Elegie und der in ihr auftretenden Personen deuten zu wollen. Es mag genügen, weil das Gedicht gerade oben besprochen ist, auf I 9 zu verweisen, wo die Schilderung einer beginnenden Leidenschaft v. 15—32 vielfach ganz verkehrt behandelt ist, weil jeder Zug auf den augenblicklichen Zustand des Ponticus passen sollte. Auch hier schildert Properz ganz einfach die Liebe, wie sie sich gestaltet, wenn die Geliebte eine non lenta puella ist. Auf die momentane Situation, in der er sich gerade befindet, paßt weder die Alternative 23/24 noch gar der Wunsch 21/22. Denn die Bisse und der livor sind nicht 'die blauen Flecke, die als Folgen einer Schlägerei zurückgebliebenen sind' ( R O T H S T E I N ) , womöglich gar der dulcis rixa vom Abend vorher; trotz des Verweises auf I V 8, 65fF., wo Cynthia den Treulosen durch Kratzen und Beißen bis aufs Blut bestraft, sind es Zeichen der Liebesnacht, wie gewöhnlich in der Elegie (Tib. 1 6 , 13f; 1 8 , 37f.; Horat. Carm. I 13, 11; Ov. Am. I 7, 41; 8 , 9 8 ; I I I 13, 34). Jede andere Auffassung wird, wenn nicht schon durch den
(s. ULLMAN, Claas. Philol. 6, 1911, 285FF.), muß man in vertat, das F 2 allein bietet, eine Konjektur sehen. Vielleicht ist sie richtig und man braucht VAHLENS vertas nicht. Das Subjekt läßt sich aus puella des Pentameters entnehmen. Gar nichts gewinnt man mit PHILLIMORES quae non in iurgia vertat. 457,3 76 ) 'there is no trusting a love that you cannot provoke to a quarrel' BUTLER. ROTHSTEIN schweigt, und andere finden den Vers einfach.
III 8
261
Neid der Freunde (videant aequales), so doch sicher durch den Pentameter ausgeschlossen. Um so klarer ist, wie Properz in dieser allgemeinen Schilderung doch die einzelnen Züge so anordnet, daß eine Steigerung erzielt wird, die den überraschenden Schluß vorbereitet, indem sie, soweit das möglich ist, heranführt an die wirkliche Situation. Wenn in 1 —18 von den signa caloris die Rede gewesen ist, durch deren Vorhandensein bei der Frau leidenschaftliche Liebe nachgewiesen wird, so wird jetzt die Leidenschaft als unentbehrlicher Bestandteil der Liebe überhaupt behandelt. War es dort die Frau, die dolor furor timor aufwies und empfand, so ist es in dem Liebesverhältnis mit einer solchen Frau einer der beiden Liebenden, der leiden muß. Immer deutlicher wird es nun, daß es in Properzens Fall der Mann ist. V. 23—24 lassen noch die Alternative; aber schon 27—28 ist es nur noch Properz, der in irata pallidus sein will. Hier tritt auch der Gedanke auf, | den Ovid breit und oft in der Ars ausführt, daß nichts 459 so geeignet ist, die Liebe zu erhalten, die Langeweile gar nicht erst aufkommen zu lassen, wie die Existenz von Rivalen, gegen die man die Geliebte beständig verteidigen muß. Zuerst in 25/26, wenn dieses Distichon wirklich an seinem Platze ist; sicher in dem Paradeigma von Paris, durch das der Dichter von dem Streite der Liebenden untereinander, vom Liebeskrieg, zu dem Kampfe mit den Rivalen überleitet. Das vielfach angefochtene Beispiel 7 7 ) gehört zum folgenden, zu dem Distichon 33—34 aut tecum aut pro te mihi cum rivalibus arma Semper erunt: in te pax mihi nulla placet. Denn dieses Distichon bringt mit pro te cum rivalibus ein vollkommen neues Moment, das nicht gar so notwendig aus der Leidenschaftlichkeit des Mädchens herzuleiten ist, das Properz aber braucht, wenn er den rivalis des Schlusses irgendwie mit dieser Leidenschaftlichkeit Cynthias in Beziehung setzen will. Das Beispiel aber illustriert beide Teile dieses Satzes durch seine beiden Teile chiastisch. 7 8 ) tecum — denn Paris Helenae in gremio maxima bella gerit. pro te — denn Paris hat eben mit Menelaos gekämpft; per Qraia arma hat ihn Aphrodite ins Ehegemach entführt. Wie man per arma zeitlich fassen kann (ROTHSTEIN), verstehe ich nicht; das verbietet j a schon das Epitheton, das trotz PALMER niemand mit " ) Natürlich wäre es sinnlos, wenn es auf den Fall gehen sollte, der die Veranlassung 459,1 unserer Elegie bildet. Aber das soll es auch nicht. Es gehört in den Zusammenhang des Gemeinplatzes als Argument. ?8) Die Auffassung W. S C H O E N E S (De Properti ratione fabulas adhibendi, Leipzig 4 5 9 , 2 1911, 19f.) kann ich nicht gut teilen. Aber sein Verweis auf die Szene der Ilias, die Properzens Leser so gut kennen wie er, ist richtig.
262
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Drei Gedichte des Properz
gaudia verbinden wird.79) Unpassend scheint das Exempel nur in einer Hinsicht: der Kampf Properzens mit der Geliebten ist wenigstens in dieser Elegie ein andersartiger als der des Paris mit Helena. Vielleicht soll man daran denken, daß in der wohlbekannten Iliasszene T 421 ff. Helena auch zuerst irata ist, daß sie Paris convicia entgegenschleudert. Im Gedächtnis hat Properz die Szene. Denn das betonte dulcior ist wohl sicher bestimmt durch Paris' Worte (zu deren Erläuterung die Herren FRIEDRICH und BRANDT | mit Wonne in den Schätzen der Sexualwissenschaft wühlen würden) ov yaq TWÌ note ¡x mòe eqoq (pgévag àfnpexàXmpev ... oso vvv egafiai xai jus ylvxvq
ifiegog aigel. A b e r vielleicht ist das zu künstlich ;
denn der Ausdruck ist so gewählt, daß er zwar den Begriff des Kampfes auch in diese Seite des Paradeigma hineinträgt, aber doch durchaus den des bekannten Liebeskampfes, nicht des Streites zwischen den Liebenden. Es ist eben unbillig, eine Übereinstimmung des Beispiels mit dem Verglichenen in allen Einzelheiten zu verlangen. Das wirkliche tertium comparationis liegt doch darin, daß der Liebesgenuß gesteigert wird durch den Kampf mit dem Rivalen, ja schon durch das Bewußtsein, daß überhaupt Rivalen vorhanden sind. Und diesen Gedanken braucht Properz. Ein prosaisches ut-ita würde alles klar machen : 'Immer soll sie mir zürnen. Denn wie Paris' Liebeslust dulcior wurde durch den Kampf mit Menelaos, so wird es die meinige durch den Kampf mit oder um Cynthia'. Damit ist nun der Dichter so nahe an seine eigene Situation herangekommen, wie es überhaupt möglich ist. 'Cynthia schilt und mißhandelt mich; also liebt sie mich; und ich liebe es, mit ihr und um sie mit den Rivalen zu kämpfen ; denn sie ist schöner als alle anderen und daher iure superba'. Was bleibt — die Begünstigung des Rivalen durch Cynthia —, das kann weder Properz noch sonst ein vernünftiger Mensch als signum caloris ansehen oder es sich sonst wünschen. Das Beispiel des Paris, der ja doch über seinen Rivalen siegt, macht es noch besonders klar, daß es auf diesem Wege nicht weiter geht. Jetzt muß der Bruch kommen, die oben besprochene Verwünschung des Rivalen, die uns mit einem Schlage aufklärt, wie all die schönen Worte über die signa caloris eben nur Worte sind, bestimmt, dem Properz hinwegzuhelfen über den für ihn bitteren und kränkenden Ausgang jener 'dulcis' rixa. Mir scheint, auch dieses Gedicht ist, wenn man nur seine Voraussetzungen ohne vorgefaßte Meinungen zu verstehen sich bemüht, aus sich selbst voll verständlich. Es gibt, wie die meisten anderen Elegien, ein Momentbild aus dem Leben und Lieben des Dichters, dem man nicht gerecht wird, ja das man überhaupt nicht interpretieren kann, wenn man 459,3
E r hält damit grata. Aber die Änderung Graia ist so leicht wie möglich; und die Bestimmung meines Erachtens unentbehrlich. Bei ROTHSTEINS Auffassung ist grata nach dulcior ein unerträglicher Pleonasmus.
III 8
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in ihm nur eine literarische Studie über einen Satz der erotischen Theorie sieht. Gewiß ist die Frage für uns nicht zu beantworten, ob das, was Properz sich hier zum Thema nimmt, ihm wirklich und wahrhaftig und genau so passiert ist. Ich meine, die feine Psychologie und die innere Wahrheit 461 der Stimmung spricht für ein Erlebnis als Anlaß des Gedichtes. Aber es kommt für die Interpretation als solche nicht darauf an, ob die Stimmung wahr oder anempfunden ist. Dagegen scheint es mir wünschenswert, bei dieser Gelegenheit zu warnen vor der Überspannung eines an sich berechtigten Prinzipes, das geeignet ist, die Properzinterpretation in eine Bahn zu lenken, die für Tibull seit etwa 30 Jahren nach LEOS Vorgang gemieden wird oder doch gemieden werden sollte.80) Es ist anerkannt, daß Properz seine Bücher zweckvoll komponiert. Aber man darf darüber nicht vergessen, daß die Elegie ihrem Wesen nach ein Einzelgedicht ist; daß dieses Einzelgedicht früher ist als das Buch, und — von wenigen besonderen Fällen abgesehen — auch ohne Rücksicht auf das Buch abgefaßt. Dies gilt in um so höherem Grade, je näher die Elegie (literarisch gesprochen) noch dem improvisierten naiynov der hellenistischen und neoterischen Poesie steht, je deutlicher die Fäden sind, die die Gedichte mit dem Leben ihres Dichters verknüpfen. Die Erkenntnis einer wohlüberlegten Anordnung einer Reihe von Elegien zum und im Buch gibt uns kein Recht, die Einzelinterpretation nach äußeren Gesichtspunkten zu orientieren. Wie schwer das Verständnis des Einzelgedichtes dadurch geschädigt werden kann, daß man es in zu enge Beziehung zu anderen Stücken setzt und um jeden Preis die tatsächlichen Grundlagen und Voraussetzungen einer Elegie in anderen wiederfinden will, möchte ich eben an der Interpretation unserer Elegie durch ITES zeigen, der jene Erkenntnis auf die Spitze getrieben hat. Ich spreche nicht von den Beziehungen, die er zwischen den ersten Gedichten von Buch I I I und den Büchern I. I I gefunden zu haben glaubt; wohl aber von der engen Verbindung, in die er I I I 8 mit I I I 6 setzt: 'bellum esse inter amantes 6,41 audimus et iracundiam puellae nuntius a ministro allatus ostendit (6, 9sq.); similia El. 8 accipimus. nam illa rixa cohaeret cum discidio amantium et haec elegia supplemento est sextae, ita ut saepe vidimus. poeta nunc cum ipsa puella colloquitur et certis iracundiae puellae exemplis (8,1 — 8) com probat, quod El. 6 confessus est: iram, non fraudes esse in amore suo (vs. 38). attamen hanc veram causam esse | hic non concedit, quia puella ipsa adest.' 462 In diesen Sätzen steckt meines Erachtens ein ganzer Rattenkönig von 80 )
Meine Bedenken habe ich bereits in der Besprechung von I T E S ' Arbeit (oben 461,1 S. 207) angedeutet. Jetzt hat R. B Ü R G E R (Bericht über die in den Jahren 1905 bis 1909 erschienene Literatur zu Tibull und Properz, BuJb 153, 2, 1911, 130) den springenden Punkt scharf betont, der diese Methode gefährlich macht, wenn man sie zu weit treibt.
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Drei Gedichte des Properz
Irrtümern. Richtig ist nur, daß El. 8 insofern mit El. 6 zusammengestellt werden kann, als beide von einem discidium der Liebenden handeln und daß ihre Stellung im Buche dadurch bestimmt ist. Properz liebt es, Gedichte mit ähnlichen Motiven zusammenzustellen, sie aber durch eine andersartige Elegie zu trennen. Man mag dann auch so weit gehen, die Stimmung und die äußeren Tatsachen eines größeren Zeitraumes in dem Liebesverhältnis aus der Zusammenstellung abzulesen: es ist kein ungetrübtes, sicheres Zusammenleben, wie es etwa die ersten Elegien von Buch I voraussetzen, wo alle Anschläge und Ratschläge der Rivalen und Freunde das iugum bene conveniens nicht zu lösen vermögen; jetzt genügt eine Kleinigkeit, ein Mißverständnis, ein Verdacht, um die Liebenden auseinanderzubringen. Damit sind wir aber auch fertig. Die Situationen beider Gedichte sind grundverschieden. In I I I 8 hat sich Properz' zu beklagen, weil Cynthia nach einem Ausbruch wütender Eifersucht bei einem Gelage den Rivalen, der durch seinen Hinweis auf Properz' Verhalten diesen Ausbruch provoziert hat, begünstigt hat. In I I I 6 ist es Cynthia, die unter einem ähnlichen Wutausbruch des Dichters zu leiden gehabt hat. Es ist unverständlich, wie ITES in I I I 6 iracundia
Cynthias v o n der A r t der
in I I I 8 geschilderten finden kann, wo doch jedes Wort die sanfte Trauer oder Verzweiflung der liebenden Frau atmet, die sich verlassen wähnt um einer anderen willen. Hier war Properz der Zornige, der sich hat hinreißen lassen, iram, non fraudes esse in amore meo v. 38 gibt so wenig einen Grund des Zornes an, wie wir in I I I 8 einen solchen finden; aber die Situation des Einganges verrät, daß hier Properz Grund zur Eifersucht zu haben glaubte. I I I 8 ist am Morgen nach dem Zanke geschrieben und der Geliebten übersandt worden. Properz weiß genau, was am Abend vorher gewesen ist; nur über das Allerletzte und Schlimmste, die dem Rivalen gewährte copia noctis, läßt er einen Zweifel bestehen, an dessen Wirklichkeit wir nicht recht glauben können. Aber so schnell wie möglich will er die Geliebte versöhnen. Zwischen dem Streit von I I I 6 und dem Gedichte liegen 14 T a g e : iurabo bis sex integer esse dies (6, 40). So lange hat der er-
zürnte Dichter die Geliebte nicht aufgesucht. Sie muß glauben, daß er mit einer andern lebt:
463
21 ille potest nullo miseram me linquere facto et qualem nolo dicere habere domo. \ gaudet me vacuo solam tabescere lecto: si placet, insultet Lygdame
morte mea
25 non me moribus illa, sed herbis improba
•putris
31 si non vana canunt mea somnia poena erit ante meos sera, sed et in vacuo texetur aranea noctibus illorum dormiet ipsa
vicit
Lygdame testor, ampla, pedes. lecto, Venus.
III 8
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W i r haben eine vollkommene Umkehrung der Situation von I I I 8 . 8 1 ) Der Dichter erfährt mit freudigem Erstaunen, daß sein Verdacht nicht begründet gewesen ist. E r k a n n es k a u m glauben, d a ß er ohne Grund einen Streit vom Zaune gebrochen hat, und ist nur zu bereit, alles zu vergessen und zu vergeben, indem er auch seinerseits der Geliebten die Unrichtigkeit ihres Verdachtes durch einen Eid bekräftigen will. Es ist ein Mißverständnis gewesen, dieser ganze Streit mit der E n t f r e m d u n g , die ihm gefolgt ist. Es gibt keine Möglichkeit, die beiden Gedichte auf die gleiche rixa zu beziehen. Unter dem Eindruck von ITES' Interpretation versucht m a n zwar, die zeitliche Folge I I I 8, I I I 6 anzusetzen und anzunehmen, daß der Bote, der I I I 8 überbrachte, eben das zurückmeldet, was wir I I I 6 lesen; daß also Properzens Verdacht, Cynthia habe jenen Rivalen, qui retia lecto eins nexit, beglückt, falsch gewesen sei. Aber auch das geht nicht: es sind ja 14 Tage zwischen dem Streit und der Meldung des Boten vergangen. Aber um von allem Sachlichen abzusehen, es geht auch sonst nicht. Nirgends f ü h r t uns Properz absichtlich in die I r r e ; es wäre das ja auch lächerlich, wenn wir in dem Buche Zusammenhänge finden sollen. Zwei Gedichte, die so verbunden sind, daß sie zeitlich sich folgende Stadien behandeln, stellt er auch im Buche so. Entweder unmittelbar hintereinander (wo d a n n die Überlieferung sie meist vereinigt) wie I 8 A ~ I 8 B, I I 23 ~ I I 24 A, I I I 20 A ~ 20 B ; oder er t r e n n t sie, wenn er eine größere Zwischenzeit andeuten will, durch ein oder mehrere andere Stücke, wie I 7 ~ I 9, 1 1 0 ~ 1 1 3 . S t a t t zu einem besseren Verständnis von I I I 8 f ü h r t also die enge Verbindung mit I I I 6 nur zur Verwischung der charakteristischen Situationen beider Gedichte und zu einer falschen Auffassung auch jener entzückenden sechsten Elegie. 81
) Die Motive und Situationen der erotischen Poesie lassen sich alle doppelt ver- 463,1 wenden und werden doppelt verwendet. Man vergleiche etwa, wie die in den vv. 5 — 8 genannten Mißhandlungen bald von der Frau, bald vom Manne geübt werden.
8. EINE VERGESSENE HORAZEMENDATION *
454
(Ep. IV 16)
Konjekturen im Horaz zu machen, ist ein undankbares und gefährliches Geschäft. Auch die besten Vorschläge sind wirklich 'meist nur verspätete Anfragen bei dem Dichter, ob er nicht lieber so hätte schreiben mögen'. Aber so gut der Text im allgemeinen überliefert ist, so fehlt es doch natürlich nicht an Stellen, die keine Berufung auf den Consensus von Handschriften und Scholien vor der Annahme sehr alter Korruptel zu schützen imstande ist. Zu diesen Stellen rechne ich die folgende, obwohl sie in den neueren und mit einer Ausnahme überhaupt in allen Ausgaben unbeanstandet und ohne Bemerkung im Apparat gegeben wird: 11 sectus flagellis hic triumviralibus praeconis ad fastidium arat Falerni mille fundi iugera et Appiarn mannis terit 15 sedilibusque magnus in primis eques Othone contempto sedet.
455
454.1
Schon JULIUS SCALIGER1) hat hier angestoßen: 'quomodo contemnebat Othonis legem: quae permittebat habenfi quadringenta millia, sedere in quattuordecim?' Die lex Roscia theatralis vom Jahre 67 2 ) sicherte ja den Rittern ihre Vorzugsplätze von neuem; Ritter aber war der von Horaz Angegriffene nicht nur seinem Vermögen, sondern auch seinem militärischen Range nach, der ihm von den vierzehn Bevorzugten sogar einen Platz in den beiden ersten Reihen zuwies.3) Dem Gesetze Othos gemäß, nicht Othone contempto nahm | er also hier Platz. Allerdings haben die älteren Erklärer eben aus unserer Horazstelle eine Klausel erschließen * Herrn. 49, 1914, 4 5 4 - 4 6 3 . Poetices libri VII p. 889 edit. I I I a. 1586.
J)
454.2
2)
Über sie TH. MOMMSEN, Römisches Staatsrecht 3, Leipzig 1 8 7 1 — 8 8 , 487. 519FF.
454.3
3)
Porph. z. St.: ex quattuordecim autem ordinibus, quos lege Roscia Otho tribunus plebis in theatro equestri ordini dedit, duo primi ordines tribuniciis vacabant. Wir dürfen also auch primis ganz scharf fassen. Warum L u c . MUELLER das bezweifelt, ist nicht einzusehen; doch kommt für uns darauf nichts an. Über das Vorzugsrecht der Militärtribune MOMMSEN a. 0 . 487, 1. 521, 3.
Eine vergessene Horazemendation
267
wollen, die Freigelassene und Söhne von solchen von den Ehrenplätzen ausschloß, und so die Gesetzesverletzung konstruiert, die unser Text zu verlangen scheint. 4 ) Diese Annahme ist von BENTLEY nicht gerade glücklich dadurch bekämpft worden, daß er die bekannten Iuvenalverse s. III 152 ff. zierte: nil habet infelix paupertas durius in se, quam quod ridiculos homines facit.'exeat' inquit 'si pudor est, et de pulvino surgat equestri cuius res legi non sufficit, et sedeant hic lenonum pueri quocumque ex fornice nati, hic plaudat nitidi praeconis filius inter pinnirapi cultos iuvenes iuvenesque lanistae'. sie libitum vano qui nos distinxit Othoni. Selbst wenn Iuvenal nicht übertreibt, darf bei den bekannten und bezeugten Verhältnissen der Kaiserzeit 5 ) dieser tatsächliche Zustand nicht ohne weiteres auf Horazens Zeit übertragen werden. Unsere Kenntnis des Othonischen Gesetzes aber ist eine durchaus unzureichende 8 ); das Bestehen spezieller Bestimmungen über die Qualifikation der Ritter, die der Satiriker seinem Zwecke entsprechend ebenso beiseite läßt wie Horaz selbst (Epist. 11, 57ff.), ist sogar recht wahrscheinlich. 7 ) | Dennoch hatte BENTLEY sachlich recht. Ob eine Klausel bestand oder 456 nicht, kommt für die Erklärung der Horazstelle überhaupt nicht in Betracht. Denn Horaz bestreitet seinem Gegner weder die Ritterqualität noch das Recht auf den Ritterplatz — 'als Ritter' sitzt der frühere Sklave in primis sedilibus, so sagt er deutlich. Er könnte das auch nicht; denn 4
)
So z. B. C R U Q U I U S (a. 1 5 7 8 ) und L A E V I N U S T O R R E N T I U S ( 1 6 0 8 ) , deren Kommen- 4 5 5 , 1 tare mir zufällig zur Hand sind: 'contemta lege theatrali—qua inter alia hoc fuisse cautum, ne quis libertinus in X I V ordinibus spectaret, locus iste Horatii demonstrat'. Das dürfte auf die Ps.-Acronischen Scholien zurückgehen, in denen das gleiche Bedenken ähnlich beantwortet worden zu sein scheint: inter primos sedet, quia Lucius Boscius Otho legem theatralem tulerat, ut in XIV ordinibus sederent equites, de quibus in duobus sederent tribuni, non tarnen servi; quia Menas tribunus factus fuerat ab Augusto. Die Worte non tarnen servi hat Porphyrio nicht. 5 ) Plin. N a t . hist. X X X I I I 33 . . . passimque ad ornamenta ea etiam Servitute liberati 455,2 transiliant eqs. 6 ) 'wenn wir die speziellen Bestimmungen der Theatergesetze kennten —' sagt 455,3 MOMMSEN a. 0 .
')
503.
Die Ps.-Acronischen Scholien (s. oben A. 4) beweisen natürlich nichts. Aber das 455,4 Gesetz v o m Jahre 23 n. Chr. (Plin. a. O. 32) bestimmte, ne cui ius id esset nisi qui ingenuus ipse ingenuo patre, avo paterno HS CCGC census fuisset et lege Iulia theatrali in quattuordeeim ordinibus sedisset. postea gregatim insigne id adpeti coeptum eqs. Über den Ausschluß der Freigelassenen (nicht der Söhne von solchen) auch in der vorhergehenden Zeit vgl. KÜBLER, R E 6, 284.
268
Eine vergessene Horazemendation
der Mann ist ja Müitärtribun, sein Recht also unzweifelhaft. Nur d a ß er da sitzen darf, das empört den Dichter geradeso wie der Riesenbesitz, die stutzerhaft protzige Kleidung und die Offiziersstellung. Also eine Gesetzesverletzung ist vom Dichter nicht behauptet; und Othone contempto muß, wenn es richtig ist, etwas anderes heißen. Hier setzte BENTLEY mit seiner eigenen Erklärung ein: 'vetuerat enim Otho, nequis infra CCCCM. censum in gradibus illis sederet. quisquis igitur . . . supra illum censum longe evectus f u i t , c o n t e m n e r e potuit Othonem et legi eius impune oppedere. quid reditus meos, Otho, rimaris et exploras, si forte t u a damnatus de quattuordecim gradibus deturbandus sim? ego vero census meos bene novi et de tuamque legem oifid>£eiv iubeo.' Es ist mir unbegreiflich, wie diese gekünstelte Erklärung so allgemein hat akzeptiert werden können, daß damit die Stelle als erledigt galt. Daß contemnere bedeuten kann 'sich um etwas nicht kümmern', 'sich nicht fürchten vor' ist richtig und mit luven. X 123 'o fortunatam natam nie consule Romain Antoni gladios potuit contemnere, si sie omnia dixisset auch genügend belegt. Aber niemand, der Horazens Worte unbefangen liest, kann diese Bedeutung in ihnen finden; sie sind in dem Zusammenhange, in dem sie nun einmal stehen, gar nicht anders aufzufassen, als daß der Mann, der 'sich vor Otho nicht fürchtet', 'sich um ihn nicht kümmert' , Grund hätte, sich vor ihm zu fürchten, d. h. daß er zu Unrecht auf dem Ehrenplatze sitzt. 8 ) | ,1
8
)
Ganz wohl ist es denn auch offenbar B E N T L E Y S Nachfolgern nicht gewesen. Soweit sie ihn nicht einfach wiederholen (wie z. B. HOFMAN P E E R L K A M P , E. C. WICKHAM, Quintus Horatius Elaccus 1, Oxford 1904; C. W. N A U C K , P. HOPPE, Oden und Epoden, 17. Aufl. Leipzig/Berlin 1910), werden sie unklar, wie L u c . MUELLER, Quintus Horatius Flaccus, Oden und Epoden, Petersburg/ Leipzig 1900, S.428 'Otho hat durch sein Gesetz verhindern wollen, daß der . . . Pöbel die besten Plätze in Beschlag nähme . . . Daß er auch die unbequemen Elemente unter den Rittern fernhalten wollte, zeigt die Bestimmung, die bankerotte Ritter . . . von den 14 Reihen ausschloß. Also [ ! ] bezieht sich Othone contempto darauf, daß der Ungenannte viel mehr als den gesetzlichen Census besaß'), oder widerspruchsvoll, wie O R E L L I - B A I T E R - H I R S C H F E L D (1 1886 'homo ille . . . adeo iam dives factus est, ut facile possit Othonem contemnere i. e. minime curare nec metuere, ne cognitione de suis fortunis instituta minus quam CCCC milia H. S. possidere reperiatur . . . etsi igitur non erat eques [!], tarnen propter divitias eius ordinis iura arrogavit, neglecta lege Roscia'). Auch aus K I E S S L I N G - H E I N Z E S Anmerkung (5. Aufl. 1908), in der die Bestimmungen zitiert werden, die jenem Manne ein Recht auf seinen Platz gaben, ist mir nicht klar geworden, wieso er nun damit, daß er den Platz, der ihm rechtmäßig zusteht, auch wirklich einnimmt, dem Gesetz 'ein Schnippchen schlägt'.
Eine vergessene Horazemendation
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I n contempto steckt ein Fehler, und das Richtige steht schon [in der 457 Mailänder Ausgabe von 1477 sowie] in der editio Veneta vom Jahre 1478, die nach BENTLEYS Angabe 9 ) contento liest — 'weil, indem Otho zufrieden ist'; quia Otho legem theatralem tulerat eqs., wie Ps.-Acro erklärt; sie libitum vano qui nos distinxit Othoni, wie Iuvenal seine Diatribe abschließt. Das gibt nicht nur einen vorzüglichen Sinn, es ist auch kaum eine Änderung 1 0 ); und ich würde mich begnügen, auf diese alte Emendation wieder hingewiesen zu haben, wenn nicht FRIEDRICH LEO, dem ich die Stelle einmal vorlegte, ein sprachliches Bedenken geäußert hätte. ' E i n nominaler ablativus absolutus' — so schrieb er mir 11 ) — 'mit bloß akzessorischer Bedeutung sei etwas an sich | Spätes'; er könne für Horaz 458 nicht daran glauben. Andrerseits gab er die Unmöglichkeit der bisherigen Erklärungen ohne weiteres zu und schlug eine neue Interpretation vor: 'ein wie ganz anderer Ritter, als Otho sie in seinem Gesetz gedacht hat. Jetzt gibt es solche Lumpenritter. Otho bedeutet die gute alte Zeit'. 12 ) Ich lege LEOS Ansicht vor, weil jede Interpretation, die er gegeben hat, der ernstesten Beachtung wert ist. Mir erschien sie seinerzeit einleuchtend; und vielleicht wird sie auch anderen die Schwierigkeit der Stelle zu heben scheinen. Denn ich selbst kann sie jetzt nicht mehr vertreten. Wie Horaz über die lex Roscia urteilte, wissen wir aus Epist. 1 1 , 57ff.: est animus tibi, sunt mores, est lingua fidesque, sed quadringentis sex Septem milia desunt: plebs eris. at pueri ludentes 'rex eris' aiunt 'si recte fades'. hic murus aeneus esto, nil conscire sibi, nulla pallescere culpa. 9
) Ich selbst habe bisher die Ausgabe nicht bekommen können. Andere Venediger Ausgaben (wie des ANTONIO MANCINELLI vom Jahre 1492, die dem Pomponius Laetus gewidmet ist) haben contempto. [Inzwischen ist MAX POHLENZ liebenswürdig genug gewesen, die ältesten Horazausgaben der Göttinger Bibliothek für mich einzusehen. Danach hat nicht nur die Veneta von 1478, sondern auch die Mailänder Ausgabe von 1477 ohne weitere Bemerkungen contento gedruckt.] 10 ) Bei der Kühnheit, mit der BENTLEY sonst die Überlieferung behandelt, frappiert gerade hier seine Berufung auf den Consensus der Handschriften. Der von allen wissenschaftlichen Grundsätzen, aber freilich auch von allem Autoritätsglauben freie Übermut F. TEICHMÜLLERS (Das Nichthorazische in der Horazüberlieferung, Berlin 1911) hat hier doch einmal etwas Richtiges in die Phantastereien gemischt, wenn er sedilibusque claviger primis eques auetore Othone obambulat umdichtet ; und er bemerkt gut: 'eine Verachtung des Otho würde er dadurch bewiesen haben, daß er von seinem Rechte nicht Gebrauch gemacht hätte'. Daß der Fehler, dessen Entstehung keiner Erklärung bedarf, alt ist, zeigen Schol. AV. ") In einem Briefe vom 8. Juni 1912. 12 ) Ähnlich schon D. LAMBIN (In Q. Horatium Flaccum. 6. Aufl. 1605): 'idcirco hunc Menam dicit lege Roscia contemta in primis sedilibus sedere, qui esset indignus tribunatu.'
457,1
457,2
457,3 458,1
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Roscia die sodes melior lex an puerorurn est nenia, quae regnum rede facientibus offert, et maribus Curiis et decantala Camillis ? isne tibi melius suadet, qui, rem facias, rem, si possis recte, si non, quocumque modo rem, ut propius spectes lacrimosa poemata Pupi eqs.
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Das ist ganz Iuvenals Standpunkt ebenso wie der von Gegnern des Gesetzes in Ciceronischer Zeit; und mir erscheint es unglaublich, daß Horaz früher anderer Ansicht gewesen sein soll, daß er auch nur etwas relativ Gutes an dem Gesetze gefunden haben soll, das ihn in die Plebs verwies und von den Plätzen ausschloß, zu denen jeder Lump, wenn er nur reich war, Zutritt hatte. Und dies zu einer Zeit, als er decisis pennis am Boden lag, als der zum scriba herabgesunkene ehemalige tribunus militum die Anhänger der neuen Machthaber rings um sich herum zu Reichtum und Ehren gelangen sah; als Freigelassene nicht nur Ritter wurden, sondern sogar in den Senat kamen. Die gute alte Zeit, das ist für Horaz nie der vor 25 Jahren amtierende Otho gewesen mit seinem rem facias, sondern die Curier und Camiller, die utiles hello tulit saeva | paupertas. Kein Lob Othos, auch kein noch so abgeschwächtes, kann in den Worten stecken. Was wir erwarten, das ist im Gegenteil auch hier der Ausdruck des Tadels und der Verachtung für einen solchen Gesetzgeber. Das alles aber liegt in Othone contento. J a , ich glaube, wir gewinnen mit dieser Emendation auch etwas für das Verständnis des ganzen Gedichtes und für das Wesen des Dichters. Man rechnet unsere Epode ja wohl im allgemeinen zu den bloßen Studiengedichten, zu den Invektiven ohne Namen; und die literarischen Vorlagen, nach denen Horaz hier gearbeitet hat, sind auch leicht genug aufzuweisen. Dennoch scheint mir dies Urteil falsch, die Namenlosigkeit der Invektive etwas ziemlich Gleichgültiges gegenüber dem sicher sehr persönlichen Empfinden, das den Anstoß zu diesem Gedichte gegeben h a t ; vor allem aber gegenüber der Kunst, mit der Horaz diese scheinbar rein persönliche und auch rein persönlich anhebende Invektive zum Range der axaaimrixa. erhoben hat. Ob hinter dem namenlosen Gegner eine bestimmte Person steckt, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist es nicht; denn solche Leute gab es damals zu Dutzenden. Nur eines wissen wir: wenn eine bestimmte Person gezeichnet ist, so hat Horaz gewiß nicht aus Furcht ihren Namen verschwiegen. 13 ) F ü h r t er doch mit den Schlußworten einen graden Hieb gegen Octavian, den in Wahrheit das ganze Gedicht viel mehr trifft, als den eigentlichen Adressaten, selbst wenn dieser namentlich genannt wäre. Aber Horaz
459,1
13
) Sollte aber doch ein solcher Grund ihm die Anonymität empfohlen haben, nun, dann hat er eben aus der Not eine künstlerische Tugend gemacht.
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wollte überhaupt keinen Namen nennen, weil es ihm, wie immer in den politischen Gedichten, nicht auf die einzelne Person ankommt, sondern auf das große Ganze und die Allgemeinheit. Gerade hier, wo sich ihm der Vergleich zwischen seinem eigenen Geschick und dem der Glücksritter aufdrängen mußte und aufgedrängt hat — denn es ist doch kein Zufall, daß der unbenannte Gegner gerade tribunus militum ist —, hier hätte es wohl nahe gelegen, den Ton anzuschlagen, der in den Catullischen Invektiven gegen Memmius, gegen Mamurra und Caesar herrscht 14 ); von den eigenen Beschwerden zu | reden und sie zu kontrastieren mit dem 460 Glück und dem Reichtum des anderen. Wenn diese Versuchung an Horaz herangetreten ist, so hat er ihr widerstanden. Er ist kein Catull, der im gleichen Tone redet, ob ihm der Gegner ein Taschentuch gestohlen oder ob er den Staat verdorben hat; er ist zu vornehm, von dem zu reden, was er persönlich als materielle Nachteile empfindet. Gerade weil er seinerzeit davon geschwiegen hat und nicht mit Einzelheiten persönlicher Natur gekommen ist, wirkt der bekannte Rückblick im Florusbrief so entschieden auf uns. So hat er auch hier den Weg, der zur Catullischen Invektive führte, nach den Eingangsworten verlassen. Nicht was er bei dem Anblick des Mannes empfindet, sagt er; nein, er leiht mit einem archilochischen Kunstmittel 15 ), das er sicherlich als solches und damit als 'klassisch' empfunden hat, der libérrima indignatio des Publikums Worte. Er objektiviert das persönliche Urteil. Und der Objektivierung dient auch die Namenlosigkeit. Er erstrebt nicht eine momentane, sondern eine dauernde Wirkung, indem er nicht einen gleichgültigen Offizier, der seinen persönlichen Haß, Abscheu oder gar Neid erregt, vor der Mitwelt an den Pranger stellt, sondern indem er einen Typus zeichnet, der jederzeit vorkommt und jederzeit die Verachtung und den Abscheu jedes anständigen Menschen erregt. 16 ) Aber die typische Zeichnung verläßt nicht den Boden der Realität und sie hält sich nicht auf dem Gebiete der ethischen Bewertung und der persönlichen Eigenschaften. Hier liegt der Unterschied zwischen Horazens politischen Gedichten und den Catullischen. Catulls politische Gedichte 14
) Ihre Kenntnis tritt gerade in dieser Epode hervor: so v. 5 licet superbus ambules 459,2 pecunia — Catull. 29, 6 et ille nunc superbus et superfluens perambulabit omnium cubilia. Auch die bittere Schlußfrage ist bestimmt durch den Catullischen Schluß quid hunc malum foretis ? . . . eone nomine . . . perdidistis omnia? 15 ) Aristot. Rhet. III 17 S. 1418b 23ff. 460,1 16 ) Die Wirkung einer solchen Invektive ist ja gewiß nicht die gleiche, wie die der 460,2 Catullischen; aber ob sie geringer ist? Ich meine, die Objektivität des Dichters ist nicht kühl. Wir spüren — auch ohne daß wir gerade den tribunus militum und den persönlichen Impuls noch besonders betonen — seine Empörung und wir fühlen sie mit. Künstlerisch steht allerdings das Gedicht der lästigen Wiederholung wegen (1 — 6 zu 11 — 14) vielleicht nicht so hoch wie das Meisterstück, die Epode 7.
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461
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sind j a gar nicht wirklich politisch; was Caesar mit dem Staate anfängt, ist ihm im Grunde gleich; aber daß Mamurra gut leben und ihn bei den gefälligen Schönen Roms ausstechen kann, weil Caesar ihn bereichert hat, das kränkt ihn, darum greift er ihn an. Gerade umgekehrt Horaz. D a ß jener Lump reich geworden ist, ist gewiß bedauerlich. Aber das wirklich Schlimme ist nicht sein persönliches Glück, sondern | die Tatsache, daß dieser Mann auch im Staate eine Rolle spielt. Das persönliche Geschick des Mannes wird — immer im Munde des Publikums — in Beziehung gesetzt zum Staate und eben dadurch erhebt sich das Gedicht zum Range der Epoden 7 und 16: quid attinet — was soll man noch für einen S t a a t hoffen, der solche Leute zu Offizieren macht; damit schließt das Gedicht. Othone contento — was soll man von einem Staate denken, dessen Gesetze einem solchen Menschen einen Ehrenplatz bei den festlichen Zusammenkünften der Bürger garantieren? Aus der gleichen Stimmung wie der bitterironische Schluß ist bitterironisch auch Othone contento gesprochen. E s ist nichts mehr mit R o m — acerba fata Romanos agunt; nicht nur den ganzen Staat, sondern auch seine einzelnen Lebensäußerungen. Mit unnachahmlicher Knappheit bringt der ablativus absolutus diese Beziehung auch auf das bürgerliche Leben hinein. Damit erledigt sich aber wohl von selbst der sprachliche Anstoß: wir dürfen absehen von der Frage, ob wirklich ein solcher ablat. absolutus spät ist, was ich nicht unbedingt zugeben kann. 1 7 ) Überhaupt vermag
461,1
17 )
Unzweifelhaft haben wir einen solchen rein akzessorischen abl. abs. bei Prop. IV 11, 21
assideant fratres, iuxta (et) Minoida seUa(m) Eumenidum intento turba severa foro wo intento foro 'gespannt stehen die Zuhörer' jedenfalls nicht anzugreifen ist, obwohl intentus selten ohne nähere Bestimmung steht. Tibi ipsi pro te maxima Corona causa dicenda sagt Cic. Tusc. I 10 von der gleichen Situation. Ein zweiter Fall im gleichen Gedichte steht in dem viel behandelten Distichenpaar 37—40, wo der Chiasmus des Sinnes (Scipio und das besiegte Afrika, Perseus und sein Besieger) in der Form nicht schulmäßig durchgeführt, aber gar nicht mißzuverstehen ist: testor maiorum cinerea tibi Roma colendos, sub quorum titulis, Africa, tunsa iaces, et Persen proavi s[t]imulantem pectus Achilli quique tuas proavo fregit Achille domos 'obwohl Achill Ahnherr war' 'trotz des'. Hier kann man freilich nicht mehr (s. die folgende Note) von bloß akzessorischem abl. abs. sprechen, wohl aber von einem rhetorisch bedingten, um der Antithese willen hinzugefügten, wie ihn schon Terent. Hec. prol. 17 verwendet: quia scibam dubiarn fortunam esse scaenicam spe incerta certum mihi laborem sustuli. Nur durch den Gegensatz zu meis excisus Achivis erhält auch bei Horat. Carm. III 3, 65 ter si resurgat murus aeneus auctore Phoebo der zuerst scheinbar zwecklose, ja störende abl. abs. nachträglich seine Daseinsberechtigung.
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ich auf diesen Punkt nicht so gar viel Gewicht zu legen, weil sich die Frage, was im Sinne des Dichters bloß akzessorisch ist, nicht immer mit Sicher- 462 heit beantworten läßt. 18 ) Aber wie dem sei — in unserer Epode ist der am Schlüsse eines Gedankens stehende ablativus abs. v. 16 sowenig bloß akzessorisch wie der das Ganze abschließende ebenfalls nominale hoc hoc tribuno militum. Mag er es im Gegensatz zu diesem formell sein, insofern man äußerlich keine Lücke wahrnehmen würde, wenn er fortfiele; innerlich, dem Sinne nach, ist er es nicht. Denn er gibt nicht einen mehr oder minder gleichgültigen Nebenzug, sondern den letzten und wesentlichsten; den Zug, der die indignatio des Publikums erst so recht begreiflich macht: daß ein solcher Lump nicht etwa zu Unrecht, 'nur infolge seines anmaßlichen Auftretens' einen Ehrenplatz einnimmt, sondern daß er es tut mit dem Einverständnis, unter Zustimmung der Staatsgesetze. Übrigens hat Horaz eine gewisse Vorliebe dafür 19 ), einen solchen für den Sinn wesentlichen BegriiF, der eine Begründung, eine Bedingung oder auch einen begleitenden Umstand angeben kann 20 ), | in die knappe Form des ablativus absolutus zu pressen, wobei er keinerlei Unterschied zwischen nominalem und verbalem abl. abs. macht. So, um aus der Fülle der Beispiele einige nominale Fälle herauszugreifen, die dem unsern darin gleich18
) So steckt ja Horat. s. I I 1, 83 sed bona siquis iudice condiderit laudatus Caesare 462,1 der eigentliche Hauptbegriff wohl sicherlich in dem nominalen abl. abs. (als solchen fassen K I E S S L I N G - H E I N Z E iudice Caesare mit Recht); denn auch hier kann man oft zweifeln. Ich wenigstens sehe z. B. bei Tibull. 1 1 , 3 quem labor assiduus vicino terreat hoste in vicino hoste lieber einen begründenden oder einen temporalen abl. abs., nicht einen von terreat abhängigen instrumentalis; aber etwa Epist. I 3, 12 fidibusne Latinis Thebanos aptare modos studet auspice Musa kann man zweifeln, wieviel Wert der Dichter der Nuance beimißt, die durch 'Hinzutreten' des ablat. abs. entsteht. Wie will man das abmessen? Dasselbe gilt f ü r den temporalen abl. abs. Carm. I I 7, 2 Bruto militiae duce. Jedenfalls haben in diesen Fällen die abl. abs. eine sehr viel geringere Bedeutung f ü r den Sinn des ganzen Gedichtes, als Othone contento, vate me, iudice Caesare, secundo Caesare. Aber man sieht auch, wie fließend die Grenze ist. Doch selbst Horaz h a t Fälle, in denen ein nominaler abl. abs. nicht nur 'bloß akzessorisch', sondern sogar ganz überflüssig, weil rein epexegetisch, ist: Carm. 11124,22 et metuens alterius viri certo foedere castitas (vgl. auch Carm. I I 12, 15 et bene mutuis fidurn pectus amoribus). Um doch wenigstens ein und das andere Beispiel aus nichtaugusteischer Zeit zu geben: bei Catull. 76, 12 et dis invitis desinis esse miser wird wohl niemand gern dis invitis rein akzessorisch auffassen (sowenig wie Ciceros a. O. mazima Corona); wohl aber ist das der Fall bei Stat. Theb. V 538 occidis extremae destrictus verbere caudae ignaro serpente puer; und auch Prop. IV 3, 43 felix Hippolyte, nuda tulit arma papilla ist am ehesten ein solcher abl. abs. akzessorischer Natur anzuerkennen. 19 ) Wenigstens glaube ich bei ihm besonders viele und interessante Fälle gefunden 462,2 zu haben. 20 ) Möglichkeiten, zwischen denen man nicht immer ganz sicher entscheiden kann. 462,3 Doch dürfte f ü r Othone contento die kausale Bedeutung die natürlichste sein. 18
Jacoby, Kleine Schriften I I
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stehen, daß die Streichung äußerlich keine Lücke, wohl aber eine wesentliche Einbuße des Sinnes ergeben würde, also scheinbar akzessorische abl. absoluti — wir haben gleich zwei Fälle in Epod. 16: 23 sie placet? an melius quis habet suadere? secunda ratem occupare quid moramur alite begründend 'sind doch die Vorzeichen günstig' und durch die Stellung vor Auffassung als bloß akzessorisch geschützt. Dann wieder am Schluß 65 dehinc ferro duravit saecula, quorum piis secunda vate me datur fuga, wo ein begleitender Umstand von größter Wichtigkeit so auf knappste Weise 'hinzutritt' zu dem scheinbaren Hauptgedanken. Dann etwa noch aus den Carmina 112, 50 gentis humanae pater atque custos orte Saturno, tibi cura magni Caesaris fatis data: tu secundo Caesare regnes, wo man am liebsten eine Bedingung in dem ablat. abs. 'vorausgesetzt, daß Caesar der zweite ist' finden möchte, wo aber jedenfalls der Gedanke, der dem Dichter die Hauptsache war, überhaupt nur in dieser Form in das Gebet hineingebracht werden konnte. Nicht anders, aber konzessiv, schließt solch ein Ablativus den Gedanken in Carm. I I I 5, 5ff. ab: milesne Crassi coniuge barbara turpis maritus vixit anciliorum et nominis et togae oblitus aeternaeque Vestae incolumi Iove et urbe Roma 'und das, obwohl'. Diese Beispiele genügen wohl, um Othone contento als möglich zu erweisen.
9. BESPRECHUNG VON GIORGIO PASQUALI, ORAZIO LIRICO OPERA PUBBLICATA CON CONTRIBUTO DELLA FACOLTÀ D I L E T T E R E DEL R. ISTITUTO D I STUDI S U P E R I O R I I N F I R E N Z E ; FLORENZ 1920, L. 25. * Man ist versucht, das Land zu beneiden, in dem es noch möglich ist, ein Buch von 50 Bogen mit rein philologischen Untersuchungen zu veröffentlichen und zum „Friedenspreis" von 50 Centesimi für den Bogen zu verkaufen. Für uns bedeuten die 25 Lire allerdings mindestens einen Hundertmarkschein; und da die Fragen quis leget haec und quis emet haec nicht ganz zu trennen sind, so sind der Verbreitung des Werkes in Deutschland enge Grenzen gesetzt. Das ist zu bedauern. Denn PASOUALls Buch lohnt das Studium auch neben der sechsten, ein ganz neues Werk darstellenden Auflage von HEINZES Kommentar (1917), die P. leider noch nicht hat benutzen können. Was P. gibt, ist „Quellenuntersuchung", hält sich aber weder inhaltlich noch formell in dem engen Rahmen, den die Arbeiten | d e f o n t i b u s zu haben pflegen. Der durch scharfsinnige und 49 ergebnisreiche Untersuchungen über Kallimachos günstig bekannte Vf. weiß, wie man einen Dichter anfassen muß; und indem er als sein Ziel aufstellt, „per ricostruire le sue letture e risentirle quale egli le senti, per intendere, cioè, il poeta come l'intendevano i suoi contemporanei", bietet er uns seine Quellenforschung in einer Folge von Interpretationen ganzer Gedichte, die nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet ist, und die man auch da mit Nutzen und Genuß liest, wo man im einzelnen und selbst im ganzen seiner Auffassung sich nicht anschließen kann. Denn die Erklärung ist durchweg kenntnisreich (sie erweitert sich oft zu sehr umfänglichen sachlichen und literarhistorischen Exkursen), geschmackvoll und von großem stilistischen Feingefühl ; dabei getragen von wirklicher Liebe f ü r den Dichter, ohne doch jemals in blinde Bewunderung zu verfallen. Horaz wird nicht „gerettet", was er ja auch wirklich nicht nötig hat. Für die Herleitung der horazischen Lyrik ergeben sich von selbst als Hauptgesichtspunkte ihre Beziehungen zur klassischen und zur hellenistischen Poesie (Kap. I, II). Daß ein besonderes I I I . Kap. (S. 642—710) „die römischen Elemente" behandelt, bedurfte kaum einer Entschuldigung. Eher überrascht hier einerseits die Beschränkung auf die „Römeroden" * DLZ 42, 1921, 4 8 - 5 3 . 18*
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Besprechung von Giorgio Pasquali, Orazio lirico
(man findet die übrigen politischen Gedichte in anderem Zusammenhang S. 174ff., wo aber von ihrem lebendigen römischen Charakter nicht die Rede ist), andererseits die Heranziehung gerade von I I 14 Eheu fugaces, von dem ich nicht zugeben kann, daß es mehr oder in besonderer Weise römisch ist, als eine ganze Reihe anderer Lieder. Das in der Betitelung abweichende letzte Kap. „Odi giovanili e canti della maturità" (S. 711 —783) hat seine Berechtigung darin, daß es die Pindarstudien Horazens zusammenfassend würdigt. Man wünschte, daß gelegentlich der älteren Gedichte auch das Verhältnis zu Anakreon einmal systematisch behandelt wäre. Klar und scharf läßt P. den Unterschied hervortreten, wie der Klassizist Horaz, der seinen Ruhm für die Ewigkeit darin gegründet sieht, daß er die 50 lesbische Lyrik nach Rom verpflanzt hat, doch von | den einzelnen klassischen Vorlagen selten mehr nimmt, als, nach der „eleganten Formel" NORDENS, gewissermaßen das Motto des eigenen Gedichtes, während inhaltlich, in der Stimmung und der ganzen Atmosphäre, in der sich seine Poesie bewegt, das „moderne" hellenistische Element, dessen Dichter er nie mit Namen nennt, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Diese Erscheinung ist übrigens der gesamten klassizistischen Literatur Roms eigen, der poetischen wie der prosaischen. Sie ist die natürliche Folge davon, daß die Kultur Roms die hellenistische ist und daß seine Literatur im Verlaufe von 1 % Jahrhunderten aus einer künstlichen Nachahmung zur selbständigen Fortsetzerin der hellenistischen geworden ist. Mit Recht geht P. von dem lesbischen Element aus, das das neue bei Horaz ist, und bespricht ausführlich die bekannten Stücke, die von alkaischen Motiven ihren Ausgang nehmen. Es sind alles berühmte, vielbesprochene Gedichte, über die sich, soweit es das Verhältnis zu den Vorlagen angeht, sicheres Neues kaum sagen läßt. Trotzdem gelingt es P., das Gesamtverständnis oft nicht unwesentlich zu fördern; so gleich für I 18 und die mit ihm verbundenen weiteren Dionysosgedichte I I 19, I I I 25. Durch sein Bestreben, Horaz „beim Worte zu nehmen", macht er ihn lebendig. An Stelle eines studienhaften Hymnos tritt das Bild eines Bakchoszuges im damaligen Rom und die Empfindung des Dichters, dem alles MythischMysteriöse so fern liegt und alles Orgiastische, Form- und Maßlose so zuwider ist wie Wenigen. Sein Dionysos ist ein anderer als der des Kultes der Masse ; und die drei Lieder werden zu Exponenten einer einheitlichen Auffassung von dem Gotte der dichterischen Ekstase. Auch sonst findet sich neben manchem weniger Geglückten — so scheint mir z. B. die Behandlung des berüchtigten Carm. I 14 trotz ihrer Breite wenig fördernd — viel Feines und Originelles. I n der zusammenfassenden Erörterung von Horazens 'Alxaixog ist die Interpretation des schwierigen Briefes I 19 mindestens interssant; sie trifft den Sinn des Dichters wenigstens darin, daß er sein Verdienst in der Einführung römischen Stoffes in die
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aiolische Form gesehen hat — gelten ihm doch auch Togaten und Praetexten als eine originale Leistung, ein vestigia Graeca deserere — ohne 51 daß aber deshalb die Übernahme der Form selbst als etwas Unwesentliches betrachtet werden darf. Das Kernstück des Buches bildet die zwei Drittel des Gesamtumfanges beanspruchende Aufweisung der hellenistischen Elemente. Hier schickt der Verfasser anders als in Kap. I der Einzelinterpretation auf nicht weniger als drittehalbhundert Seiten die allgemeine Grundlegung voraus. Denn er hat eine These: als eigentliche „Quelle" — so muß man hier geradezu sagen — des Dichters soll die hellenistische Lyrik erwiesen werden, von der bisher, wenigstens in bezug auf Horaz, wenig oder gar nicht die Rede gewesen ist. Vielleicht mit Unrecht. Ich zweifle gar nicht daran, daß Horaz z. B. die ¡xiXr\ des Kallimachos so gut gekannt hat wie die Elegiker die A'iria; und die Bedeutung dieser Poesie für ihn zeigt sich in seiner Behandlung der aiolischen Versmaße, die HEINZE erst vor kurzem in den richtigen Zusammenhang gerückt hat. Aber von da bis zu P.s These ist ein weiter Weg; und ich muß gestehen, daß ich ihn nicht gehen kann. Trotz aller aufgewandten Arbeit und Gelehrsamkeit, trotz vieler guten Gedanken im einzelnen und des Interesses, mit dem man z. B . den Versuch verfolgt, die religiösen und einen Teil der politischen Lieder an die kultische Lyrik, speziell an die ägyptische Liturgie anzuknüpfen, wirkt die Argumentation nirgends überzeugend. Das liegt nicht etwa nur an dem fast völligen Verlust der hellenistischen Lyrik, der jede Bestätigung unmöglich macht. Ich nehme viel weniger Anstoß an der Dürftigkeit der Indizien, aus denen vielfach der Schluß auf eine lyrische Vorlage gezogen wird, als an dem Prinzip und der Methode. P. verschiebt m. E . von vornherein das Problem, wenn er die Frage so stellt, ob Horaz hellenistische Lieder oder Epigramme, die ein Reflex der Lieder seien (denn diesen, an sich vielfach berechtigten Gedanken RElTZENSTElNs von der Rolle der Epigramms macht P. in einem Umfang zur Grundlage seiner Argumentation, den sein Urheber gewiß nicht billigen wird) vor Augen habe. So, als Alternative, darf man die Frage überhaupt nicht formulieren. Das ist zu eng. Die Filiation der Gedanken und Motive ist viel komplizierter, die sich kreuzenden | literarischen Einwirkungen sind viel zu zahlreich, 52 als daß man mit einem Entweder — Oder auskäme. P. weiß auch selbst, daß eine einheitliche Antwort auf seine Frage nicht möglich ist; daß die Untersuchung nicht nur für jede Gruppe, sondern fast für jedes Gedicht gesondert geführt werden muß. Ich will nun nicht einwenden, daß man gerade in Liedern des Horaz, der den Schritt von der hellenistischen zur klassischen Lyrik zurückstellt, ungern gewissermaßen nur Bearbeitungen hellenistischer Vorlagen des gleichen yevog finden möchte — und darauf kommt es bei P. schließlich hinaus —, und daß die Papyrusfunde,
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die wenigstens f ü r Kallimachos einiges gelehrt haben, die Annahme gar nicht begünstigen. Es mag schließlich sein, d a ß auch einmal ein hellenistisches Lied, so gut wie ein alkaisches, den Ausgangspunkt f ü r Horaz gebildet hat. Aber was P . will, ist viel mehr. E r geht den Weg, der dem Verständnis der römischen Elegie so sehr geschadet hat. U n t e r dem Banne seiner vorgefaßten Meinung überträgt er das Verfahren, das er in der Elegie selbst ablehnt, u n d das er auch Alkaios gegenüber nie anwenden würde, auf die Lyrik, wo die Voraussetzungen noch viel weniger gegeben sind: er sucht aus den römischen „ N a c h a h m u n g e n " u n d aus den hellenistischen Epigrammen die lyrischen „Originale" zu rekonstruieren. Man prüfe beispielsweise — ich darf hier auf Einzelheiten nicht eingehen—, wie er gegen NORDEN I I I 21 O nata mecum aus Poseidippos' „lyrischer" Quelle ableitet, ohne Rücksicht darauf, d a ß die direkte Wirkung der Poseidippischen Epigrammatik nicht nur bei Horaz nachzuweisen, d a ß die Umsetzung eines Epigrammes ins Lied in vielen Fällen m i t H ä n d e n zu greifen ist. Der Weg, auf dem m a n hier weiterkommen würde, wäre eine systematische Behandlung der Frage, wie Horaz zu einzelnen Dichtern steht, zu Kallimachos, Poseidippos, Leonidas, Philodem; aber auch zu Catull. Das Verfahren dagegen, f ü r jeden Gedanken, ja f ü r jede Variation eines solchen die Quelle zu finden, versagt Horaz gegenüber ebenso wie die Zurückführung der Varianten auf das lyrische Vorbild. Horaz behält bei P . eigentlich nur noch den R u h m der sprachlichen und stilistischen 53 Gestaltung, der | vermutlich auch noch verschwinden würde, wenn die Originale zutage t r ä t e n . Mir scheint in der ganzen Methode eine starke Unterschätzung der Leistungen der klassischen Poesie R o m s zu liegen, ein Übersehen der Entwicklung: Horaz ist nicht Ennius. Von der Grundthese abgesehen, bringt gerade dieses Kapitel wertvolle Ergänzungen zu HEINZES Kommentar, der den Nachdruck nicht gerade auf die „Quellenfrage" gelegt h a t . Auch bringt die Einzelinterpretation vieles Gute, das als dauernder Besitz in die K o m m e n t a r e übergehen wird. P . gliedert hier nach inhaltlichen Gruppen. Es ist bemerkenswert, wie k n a p p der Anteil der Philosophie an Horazens Lyrik behandelt wird : P . interpretiert nur 2 Gedichte ( I I I 2. 29) neben 15 erotischen, „weil dieser, u n d nur dieser Teil der Horazischen Lyrik f ü r ihn t o t i s t " (S. 623ff.). Man k a n n da anderer Meinung sein. K a u m darüber, daß die politische Poesie, die Krone der horazischen Lyrik, trotz eingehender Behandlung der Römeroden nicht zu ihrem Rechte gekommen ist. Das Buch ist dem Andenken des Historikers GARRONI gewidmet, „che combattè e morì senza odio". Auch P . selbst gehört nicht zu denen, die ihren Patriotismus durch Beschimpfung Deutschlands und der deutschen Wissenschaft bekunden zu müssen glauben. F a s t auf jeder Seite seines Buches finden sich die Namen seiner deutschen Vorgänger u n d Lehrer.
10. BESPRECHUNG VON WHITNEY JENNINGS OATES, THE INFLUENCE OF SIMONIDES OF CEOS UPON HORACE DISS. PRINCETON 1932, 110 S.* Die Untersuchung der großen römischen Schriftsteller auf ihr Verhältnis zu den Griechen hat sich in der letzten Generation mehr und mehr von den Einzelfragen den Grundtatsachen des literarischen und überhaupt kulturellen Zusammenhangs zugewandt, um unter diesem Aspekt einen Standpunkt für die Beurteilung der Gesamtleistung zu gewinnen, von dem aus eine fruchtbare Einzelinterpretation möglich ist. Die Interpretation ist also dem Römer zugewandt, nicht den 'Vorlagen' und ' Quellen' ; man sucht die einzelnen römischen Künstler und die einzelnen römischen Werke zu verstehen, deren Selbständigkeit (ich sage bewußt nicht: Originalität) in immer stärkerem Maße (und im allgemeinen ohne daß bisher die Grenze erreicht oder gar überschritten worden wäre) erkannt wird, nicht vom römischen Werk aus den Zugang zu den griechischen Mustern zu gewinnen. Daher sind nicht nur Arbeiten vom Typus De imitatione Graecorum seltener geworden (man erkennt wohl auch schon, daß dieser Typus in gewissen Grenzen innerhalb der römischen Literatur selbst berechtigt ist), sondern ist auch in der Einzelinterpretation der Auf weis der ja stets | wirksamen imitatio Graeca bei Dichtern von der geistigen 482 und künstlerischen Selbständigkeit Horazens gebührend, ja vielleicht (das gilt z. B. für Sat. 11—3) immer noch nicht genug eingeschränkt worden zugunsten der Erkenntnis, wie der Dichter innerhalb der allgemeinen Bedingungen und aus der eigenen Wesenheit heraus mit gegebenen alten und neuen Elementen gearbeitet hat. Dabei möchte ich gleich vor der Einführung eines neuen Terminus «Synthesis» oder auch «true synthesis» (A. Y . CAMPBELL: Horace, a new Interpretation, 1924, 201) als eines Ersatzes für 'Originalität' oder als Bezeichnung einer Äußerung der schöpferischen Originalität warnen: er führt gar zu leicht zu dem merkwürdigen Gegensatz «Horace has indulged in no slavish imitation of his model, but has made a synthesis of the various elements of Simonidea, such as word, phrase, atmosphere, or development of thought» (OATES 92). Vielleicht beleuchtet schon dieser eine Satz das Wesen der ernsten und fleißigen amerikanischen Doktordissertation, die sehr ausführlich drei * Gnomon 10, 1934, 4 8 1 - 4 8 7 .
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Besprechung von Oates, The influence of Simonides upon Horace
horazische Gedichte (Carm. 3, 2; 1, 28; 4, 7) unter dem im Titel gegebenen Gesichtspunkt behandelt, ohne doch eines von ihnen wirklich zu interpretieren; und vielleicht liegt ihr Hauptwert in dem erneuten Nachweis, daß es auf dem alten Wege nicht weitergeht, auf dem man mit mehr oder weniger Phantasie, aber immer in Zirkelschlüssen interpretatorische Schwierigkeiten des lateinischen Gedichts durch einfaches Zurückgreifen auf das aus irgendwelchen Indizien erschlossene und dann aus der 'Nachahmung' rekonstruierte griechische 'Original' erledigte. Das ging, solange man bereit war, das daraus unfehlbar resultierende Todesurteil über den Künstler Horaz zu unterschreiben; auch solange man die Grundlagen der Methode nicht durch Nachprüfung an den von Horaz selbst genannten Vorbildern (Archilochos, Alkaios und — Pindar) geprüft hatte. Grundsätzliche Erwägungen derart liegen 0 . fern; er hätte wohl sonst statt des Zitates, mit dem er die an sich dankenswerte Zusammenstellung aller, auch der entferntesten Berührungen zwischen Horaz und Simonides (Kap. 4) eröffnet, gleich im Anfang wenigstens die Frage gestellt, worauf es eigentlich beruht, daß wir direkte Kenntnis des Simonides bei Horaz annehmen und wie weit der Einfluß dieses Dichters, etwa verglichen mit dem Pindars, nach Ausweis sicherer Behandlung gleicher Vorwürfe bei allen dreien von vornherein gehen kann. Er würde erkannt haben, daß hier ein ganz faßbarer Unterschied besteht, der sich im Grunde allein schon an Carm. 3, 30 nachweisen läßt (ich bitte zu vergleichen, was O. S. 93f. über dieses Gedicht oder vielmehr über die Metaphern des 'Motto'artigen Eingangs zu sagen hat; das 4. Kapitel ist eine Zusammenstellung, 483 aber eine tendenziöse oder an der Oberfläche bleibende), | und daß die Sache auch ohne Berücksichtigung der Frage nach dem Umfang des Vergleichsmaterials für stärkeren Einfluß des Simonides sehr ungünstig liegt. Die Lektüre des Keers läßt sich eigentlich nicht beweisen — am wenigsten aus den Namennennungen 2, 1, 37/8 und 4, 9, 5/8, die man neben die Pindars stellen muß, um ihre Tragweite abzuschätzen; das ist Literaturgeschichte, allgemeine Bildung, wie sie auch Catull 38 mit den lacrimae Simonideae an den Tag legt —, sondern beruht ganz wesentlich auf allgemeinen, darum aber nicht weniger durchschlagenden Erwägungen: Berühmtheit der 0Q?jvoi einerseits, nachweisbar sehr weitreichende Studien Horazens andererseits, während die einzelnen Übereinstimmungen entweder durch ihre Allgemeinheit zum Beweise nicht brauchbar sind oder sei es nachweisbar, sei es wahrscheinlich nicht unmittelbar aus den Simonideischen Gedichten stammen. Ich bezweifle also nicht etwa, daß Horaz mindestens die 0grjvoi gelesen hat und daß ihm hie und da auch eine spezifische Formung ihres Dichters im Gedächtnis geblieben ist; aber ich behaupte, daß es nicht ein einziges Gedicht gibt, für dessen Konzeption Simonides (wie es für Pindar der Fall ist) entscheidende Anstöße
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gegeben hat; nicht einmal eines, für das er (wenn man das trennen kann) das 'Motto' oder das 'Motiv' geliefert hat. Trotz der vorsichtigen Fassung seines Buchtitels — nicht 'die Nachahmung', sondern «der Einfluß des S.» — bleibt 0 . ganz auf dem alten Wege. J a die 55 S. lange Besprechung der 2. Römerode ist ein geradezu typisches Beispiel für die gekennzeichnete Methode. Es liegt eine gewisse Ungerechtigkeit darin, wenn man eine so lange und mühsame Untersuchung mit einem Satz erledigt; aber ich muß mich im Negativen halten, weil der positive Aufweis selbst nur der Grundlinien einer horazischen Komposition den Rahmen einer Rezension sprengen würde. Die nach dem V o r g a n g v o n S E E L I G E R u n d WIDMANN u n t e r n o m m e n e
Rekonstruktion
«einer parainetischen Ode des Simonides über bürgerliche Tugend» aus Sim. 58, 62/3, 65/8, 225 Bgk. [37. 11. 59. 12. 38. 53. 3 Diehl 3 ] bewegt sich im Kreise, da 0 . den etwa denkbaren Wahrscheinlichkeitsbeweis aus dem Metrum (S. 55. 123) nicht versucht, sondern sich auf das Horazische Gedicht stützt. Dessen daraufhin statuiertes Verhältnis zu der Vorlage widerspricht dem, was wir von Horazens Verfahren wissen (s. NORDEN R L 3 57 und vgl. etwa das Verhältnis der 4. Römerode zu Pindar) und die Lösung entspricht weder dem Aufwand noch ist sie an sich verlockend: alle Schwierigkeiten der horazischen Gedankenführung ( 0 . spricht von den «drei Teilen») sollen verschwinden, wenn wir annehmen, daß Horaz einem Gedicht des Simonides folgte, «in dem die Zusammenstellung von Mut, virtus und Schweigsamkeit leichter ist, weil das wesentliche Eigenschaften des guten Bürgers sind». Was | eigentlich virtus 17/24 in diesem 484 Gedicht bedeutet, wie sie sich zur acris milita 1/16 verhält, wird nicht klar, so wenig wie in dem hesiodisierenden Xöyoq Simonid. 37 D. das Verhältnis von ägerrj und dvögsia, zumal die Verbesserung von ävÖQeiag in avÖQeiai und damit der Sinn des simonideischen Gedankens überhaupt nicht erörtert wird. Die Verbindung des fidele silentium 25/32 (aiyäg äxivdwov yegag) mit der virtus, das alte tyrrj/na dieser Ode, wird einfach damit erledigt, daß 0 . «zwar zeitgenössische Bezüge und selbst Horazens persönliche Erfahrung» gelten läßt, aber für entscheidend hält, daß «Horaz das silentium einfach deshalb in sein Gedicht aufnahm, weil das Modell, das er vor sich hatte, es behandelte» (S. 49; vgl. S. 32). Nun findet freilich 0 . noch einen besonderen Beweis für engen Zusammenhang zwischen Horaz und Simonides darin, daß die beiden Schlußstrophen eine «feine Anspielung für gebildete Leser auf Ereignisse aus Simonides' Leben enthalten, in denen Horaz eine gewisse Parallele zu eigenen Erlebnissen findet, die er in anderen Gedichten erwähnt hat». Da die Heranziehung der Simonideslegende, die Horaz natürlich kennt, Eindruck gemacht hat, ihre Verwertung neben den Fragmenten als besonderes Verdienst der Arbeit bezeichnet ist und für O.s Auffassung der
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als rätselhaft geltenden Archytasode 1, 28 noch entscheidender ist, sei dagegen bemerkt, daß das alles auf einem unglücklichen, aber wenigstens auf 1, 28 beschränkten Einfall WlLAMOWlTZens (De tribus carminibus Latinis, Universitätsprogramm Göttingen 1893) beruht, dessen Beweisführung 0 . zugleich ablehnt (unten S. 283) und über die ursprüngliche Sphäre hinaus bedeutend erweitert. Um es ganz scharf zu sagen: die Simonideslegende verhilft weder 3, 2 noch 1, 28 noch 3, 4 irgendwie zum Verständnis der Gedichte. Von den drei Todesgefahren Horazens (3, 4, 25/8; eigentlich sind es wegen 3, 4, 9/20 sogar vier) sind die beiden ersten — Schlacht bei Philippi und stürzender Baum — nach Ausweis der Gedichte zweifellos historisch; der von O. (S. 18) zwischen ihnen gemachte Unterschied ist willkürlich. Die dritte nec Sicula Palinurus unda erwähnt er sonst nicht und bezeichnet sie auch hier nur sehr allgemein; sie war eben wohl nur als dritte stilistisch notwendig; aber Horaz konnte sie einführen, weil er mindestens zweimal auf See war, jede Seefahrt im Altertum als gefährlich gilt — man sehe etwa die Masse der Epigramme auf Schiffbrüchige; 70 allein in Anth. P. 7; «Horatium maris pericula ultra modum metuisse constat» (WLLAMOWLTZ) ist übertrieben — und die nach Griechenland vielleicht besonders. Begreiflich, daß die geographischen Namen Anstoß erregt haben; man darf darin eben nur den plastischen Ausdruck eines 'auf See' finden. Ebenso begreiflich (das horazische heu nimis longo satiate ludo gilt leider für den Kampf der Philologen nicht), 485 daß zahllose Arbeiten dem allgemeinen Ausdruck abzupressen | suchen, was er nun einmal nicht hergeben kann. So sicher nun die vierte Lebensgefahr an die Pindarlegende erinnert und erinnern soll (gut formuliert HEINZE7 ZU Carm. 3, 4, 10), so wenig haben die drei anderen mit der Simonideslegende zu tun: bei Horaz sind es drei, bei Simonides zwei; in der Schlacht war Simonides überhaupt nicht; der stürzende Baum hat nur allerentfernteste Ähnlichkeit mit dem einstürzenden Hause; die horazische Gefahr auf See ist die jedes Seefahrers (das obruere undis 1,28,22, nec Sicula Palinurus undis sc. me exstinxit 3, 4, 28), den Simonides der Legende warnt der 'dankbare Tote' (bekannter Typus, von dem aber in Carm. 1, 28 nichts zu spüren ist), ein später untergehendes Schiff zu besteigen; der simonideische Tote ist vom Dichter bestattet worden, der horazische bittet einen zufällig vorüberfahrenden Schiffer, ihn zu bestatten; die Leute des Simonidesschiffes sind alle ertrunken, Horaz bekanntlich nicht (denn daß der Tote von Carm. 1, 28 Horaz sein soll, ist ein lächerlicher Einfall); den Horaz retten oder schützen jeweils bestimmte Gottheiten (und wenn es ein Gemeinplatz ist, daß der Dichter unter besonderem göttlichen Schutz steht, so ist er in der griechischen Dichterlegende gerade nicht auf Simonides bezogen, wohl aber auf Archilochos, Arion, Pindar u. a.), für Simonides wird ausdrücklich bezeugt (Quintil.
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Inst. 11, 2, 16), daß er seine Rettung aus dem stürzenden Hause nicht einem Gotte zuschrieb; der 'dankbare Tote' aber gehört in eine ganz andere Sphäre als der Topos vom göttlichen Schutz des Dichters. Schließlich mag es die allgemeine Sphäre des Dichterlebens sein, in dem sich alles bewegt; aber es fehlt jede besondere Beziehung auf Simonides und auch der gebildetste Leser hätte bei der Doppelgefahr (wenn man da von solcher Gefahr reden darf) 3, 2, 25/32 nicht gerade an ihn denken können. Das gilt noch entschiedener für Carm. 1, 28, für das allein WlLAMOWlTZ die Dichterlegende in die Diskussion eingeführt hat: daß Simonides einmal einen Toten bestattet haben soll und daß der horazische Tote einen Schiffer um Bestattung bittet, ist angesichts der ungeheuren Verbreitung des Motivs und der völlig verschiedenen Situation in der Legende einerseits, dem Horazgedicht andererseits wirklich keine genügende Grundlage für den Schluß, daß «wir in dieser Ode die Dramatisierung eines Momentes haben, wie der in Simonides' Leben, als er nach der Tradition den Leichnam fand». 0 . richtet hier einen heftigen Angriff gegen WlLAMOWlTZ und bezeichnet seine Erklärung als höchstes Beispiel für die Unwirksamkeit der 'wissenschaftlichen Methode' gegenüber einem Kunstwerk. Gar nicht falsch; faktisch hätte kein antiker Leser 1, 28 aus der Simonideslegende verstanden, wenn er nicht WlLAMOWlTZens Abhandlung vorher las. Aber O. zieht nun nicht etwa diesen Schluß, sondern beweist WlLAMOWlTZens These seinerseits aus der Übereinstim|mung von v. 15/6 mit Simonid. 486 8/9 D. Das ist der zahllose Male vorkommende Gemeinplatz 'alle Menschen müssen sterben'; und wenn Horaz bei seiner Formierung des zentralen Satzes sich an Simonides erinnerte, so, wie die Umgebung zeigt, keineswegs an ihn allein und nicht in erster Linie. Um dieser Zusammenstellung willen aber verschüttet O. die von ihm nicht verstandene entscheidende Erkenntnis von WlLAMOWlTZ, die die Einführung des Archytas erklärt und von der aus sich weiterkommen läßt. Dazu muß man freilich das Gedicht auch nach seiner formalen Gestaltung, nach Erfindung und Aufbau wirklich interpretieren, statt in eine übrigens unscharfe Diskussion (es ist in Wahrheit nur Aufzählung von Ansichten mit willkürlicher Wahl zwischen ihnen) über Monolog und Dialog einzutreten und von vornherein die «zwei Teile» (wie für Carm. 3, 2 die «drei Teile») als gegeben hinzunehmen. Nimmt man O.s Forderung «für die Interpretation der Ode ist es von höchster Wichtigkeit, nie die poetische Form aus dem Auge zu lassen, in die sie gegossen ist» wirklich ernst, so ist die einheitliche Gestaltung der Rede des Toten aus der für ein horazisches Lied singulären Einkleidung (O.s Zusammenstellung mit 1,27 führt so, grob gemacht, nur ab) gar nicht so schwer zu erweisen: vergleicht man nämlich das in der Elegie ebenso singuläre Properzgedicht 1 , 2 1 Tu qui consortem sowie die verschiedenen Epigrammtypen des um Bestattung bittenden oder sonstwie
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redenden Schiffbrüchigen und des von Räubern erschlagenen, so wird die Sphäre der Erfindung deutlich, und man kann sich dann leicht zunächst einmal den Unterschied zwischen den betreffenden Epigrammen und dem Lied (der Elegie) klarmachen; dann den Weg, auf dem der Dichter unter Anregung durch einen epigrammatischen Typ (der übrigens nicht auf das Epigramm beschränkt ist) das Lied entwickelte; schließlich den Zweck, den er damit verfolgte. Von da kommt man, ohne jede Berührung des Simonides, auf WlLAMOWlTZens nun fruchtbar zu machenden Gedanken zurück; und 1, 28 wird aus einer Singularität zu einem wichtigen Zeugnis für Horazens philosophische Überzeugungen, tritt innerhalb der Carmina vor allem neben 1, 34 Parcus deorum. Für Carm. 4, 7 endlich ist die Zusammenstellung mit Simonid. 85 Bgk. = Semonid. 29 D. Olrj TIEQ cpvllmv yeverj so wenig neu wie die Argumente gegen die Zuweisung des Gedichtes an den Amorginer, die soeben W. JAEGER (Paideia 1, Berlin/Leipzig 1934,176, 4 ; (s. auch E. RÖMISCH, Studien zur älteren griechischen Elegie, Frankfurter Studien 7, 1933, 148ff.) wieder einmal mit vollstem Recht «gesichertes Ergebnis philologischer Forschung» nennt. Neu ist nur der Satz (auf den das ganze Kap. 3 hätte zusammengestrichen werden können): «In Rücksicht auf die anderen Berührungen zwischen beiden Dichtern sind wir in der Lage, die Verbindung 487 von F 85 mit Carm. 4, 7 den Beweisen für die Ansicht | daß Simonides von Keos der Verfasser des Fragments war hinzuzufügen» (89). Auch hier ist alles, was zwischen der klassischen Lyrik und Horaz liegt, faktisch übergangen; wird der reine Gedanke (der von Simonid. 6 D. ist ein anderer; das gehört nicht in eine Anmerkung und F 6 nicht in den Text) mit seiner philosophischen und künstlerischen Gestaltung gleichgesetzt; die Geschichte des Gedankens außer acht gelassen und vor allem Horazens Dichten als mechanische Addition älterer Vorlagen betrachtet. Die Konzeption des Liedes sieht so aus (83): «Zuerst hatte Horaz dieses Fragment im Sinn, als er seine Ode komponierte. Zweitens erinnerte ihn die am Anfang des Fragments zitierte Iliasstelle wahrscheinlich an die Worte der Ilias, die sich hübsch mit seiner eigenen früheren Behandlung eines ähnlichen Themas Carm. 1, 4 verbanden. Daher die Anfangszeilen mit dem Wechsel der Jahreszeiten usf.» Stammt der 'Frühling' von 4, 7 nun eigentlich aus Homers eag oder aus grata vice veris et favoni (1, 4 ) , und woher hatte Horaz, als er 1, 4 noch ohne Hilfe des Simonideischen Fragments schrieb, Kenntnis von der überraschenden Tatsache, daß auf den Winter der Frühling folgt und die Jahreszeiten die seltsame Gewohnheit haben zu wechseln? Um der methodischen Bedeutung der Arbeit willen, deren Resultat auch die Ehre des Dichters Horaz angeht, bin ich nun doch etwas ausführlicher geworden.
III 1. DIE GRIECHISCHE MODERNE* Hochansehnliche Versammlung! I m Jahre 406 v. Chr. starben im Abstand von wenigen Monaten die beiden großen athenischen Tragiker Euripides und Sophokles. Noch im Winter des gleichen Jahres führte Aristophanes seine „Frösche" auf. Der Gott der Tragödie, Dionysos selbst, steigt in die Unterwelt, um der verwaisten Bühne wenigstens einen ihrer Dichter wiederzugewinnen (71): „Ich brauch' einen rechten Dichter; denn die guten sind nicht mehr, und die noch leben, schlecht." Vielleicht sich selbst unbewußt hat der Komiker damit eine tiefe literarhistorische Wahrheit ausgesprochen: Der Tod jener beiden Männer bedeutet das Ende der klassischen Tragödie; ja mehr als das, das Jahr 406 ist das Todesjahr der klassischen Poesie überhaupt, deren letzte und vielleicht höchste Manifestation eben die attische Tragödie war. Jetzt ist die Zeit endgültig vorbei, in der alles, was auf weitere Kreise wirken will, poetisches Gewand anziehen muß, in der die Dichter die wahren Lehrer und die geistigen Führer des Volkes sind. Es beginnt die Zeit der Prosa. Dem Dreigestirn der Tragiker entsprechen im vierten Jahrhundert Thukydides, Piaton, Isokrates, die der attischen Sprache die Vorherrschaft in der ganzen griechischen Welt erkämpfen; und wieder bedeutet der Tod des letzten von ihnen das Ende einer Periode. Isokrates starb wenige Tage nach der Schlacht bei Chaironeia im J a h r e 338, in der Philippos von Makedonien die griechische Koalition zu Boden schmetterte, Die kurze, aber folgenschwere Regierung seines Sohnes Alexander d. Gr. führt das Griechentum in Fernen, in die bisher nur vereinzelte Griechen und griechischer Geist nur in beschränktestem Maße gedrungen war. Athen, das zur makedonischen Unter|tanenstadt wird, verliert seine 4 Stellung als „Erziehungsstätte von Hellas"; der Schwerpunkt griechischen Geisteslebens verschiebt sich wieder nach dem Osten; seine Zentren sind die Hauptstädte der Staaten, in die das Weltreich Alexanders alsbald nach dem Tode seines Gründers zerfiel. Es beginnt die Zeit, die wir den Hellenismus nennen. Die Poesie dieser Epoche, die bis zum Übergange der Weltherrschaft an die Römer dauert, ist in Form und Wesen so völlig verschieden von der der klassischen Zeit, daß man nicht leicht die Fäden findet, die von * Rede bei der Rektoratsfeier Kiel am 1. 3. 1924
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der einen zur anderen laufen. Und doch sind sie vorhanden. Gerade als in Athen die „Frösche" aufgeführt werden, lebt in einer der altberühmten Dichterstädte des griechischen Kleinasiens der Mann, den man als Bahnbrecher und Vorläufer der hellenistischen Poesie bezeichnen darf — Antimachos von Kolophon. Er hat, wie das zu gehen pflegt, wenn einer neue Wege in der Kunst einschlägt, bei seinen Zeitgenossen wenig Erfolg gehabt. Wir hören im 4. Jahrhundert gar nichts von ihm. Nur eine Nachricht ist da: Piaton hat einen seiner Schüler, der Kolophon besuchte, beauftragt, die Werke des Mannes für ihn zu sammeln. Der scharfe Blick des Philosophen erkannte den neuen Geist, dem die Zukunft gehörte. Dann, im Beginne der hellenistischen Epoche, ist Antimachos plötzlich ein großer Name. Es wäre interessant genug, aus den geringen Resten, die wir von seinen Dichtungen besitzen, das Bild des Mannes zu rekonstruieren. Aber das würde vielleicht zu gelehrt werden, und es würde zu weit führen. Begnügen wir uns deshalb hier mit der Frage, worin denn eigentlich der grundlegende Unterschied zwischen der von ihm ausgehenden hellenistischen Kunst und der Kunst der klassischen Zeit besteht. In dem Wettstreit, den Aristophanes im Hades zwischen Aischylos und Euripides entbrennen läßt, um die Frage zu entscheiden, wen Dionysos mit nach oben in die Menschenwelt zurücknehmen soll, wird die Frage gestellt (1008): | 5
„Antworte mir nun: was soll an dem Dichter man schätzen"
und die Antwort lautet (1009f.): „Die Klugheit des Sinns und sein mahnendes Wort, mit denen die Bürger er bessert."
Im Sinne dieser Antwort charakterisiert Aischylos seine Leistung (1021 ff.): „Ein Drama schuf ich, des Ares voll. — Nun welches? — „Die Sieben vor Theben"; und jeder, der im Theater saß, dem füllte das Herz sich mit Kriegsmut. Auftrat ich vor Euch mit den „Persern" sodann und erweckte im Volk das Verlangen, stets freudig zum Kampf zu besiegen den Feind, der Taten erhabenste feiernd";
und als sich Euripides demgegenüber seiner erotischen Problemtragödien rühmt, da muß er die zornige Antwort hören (1053—56): „Doch das Schändliche soll, ja der Dichter er soll ea verhüllen, ausführen es nicht noch der Bühne vertraun; denn so wie die Knaben der Lehrer da ist, zu erziehn sie für Tugend und Recht, so das reifere Alter der Dichter. Drum müssen wir stets nur sagen, was frommt 1 )." 1
) Übersetzt von
J.
G.
DROYSEN.
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Wer denkt bei diesem Streite nicht an die Wirkung, die in schweren Zeiten unserer eigenen Geschichte der „Teil", die „Hermannsschlacht" gehabt haben und noch haben? Wer vergleicht nicht die erste Aufnahme, die beispielsweise Ibsens Dramen fanden, um von neueren und neuesten Theaterskandalen zu schweigen? Wir stehen da vor der Grundfrage der Zweckbestimmung der Kunst. Wenn eine große geistige Bewegung, wie die Sophistik es war, die alte Sittlichkeit erschüttert, in Zweifel zieht, was Jahrhunderten als fester Maßstab für | Leben und Handeln gegolten hat; wenn solche Bewegung 6 sich nicht auf enge Kreise einer philosophischen Fachgenossenschaft beschränkt, sondern die Literatur ergreift, die Historie, vor allem das Drama, das zu weitesten Kreisen des Volkes spricht, dann entbrennt der Kampf um die Frage, welchem Zwecke die Kunst dient, was sie „soll"; und es sind durchaus nicht nur konservative Kreise, die eine Erörterung der neuen Probleme in der literarischen Arena verbieten. Aristophanes sieht die Poesie durchaus vom Standpunkt ihrer ethischen Wirkung an. Dasselbe tut Piaton, der in schwerem inneren Kampfe Epos und Tragödie, die ganze große alte Poesie aus seinem Idealstaat verbannt, weil sie ihm ethisch schädlich erscheint. Das tut auch sein Gegener Antisthenes, tun Kynismus und Stoa, die, um Homer nicht verwerfen zu müssen, ihn ethisierend ausdeuten; die die Ilias behandeln, wie man bei uns lange Zeit die historischen Bücher der Bibel behandelt hat. Wenn aber die führenden Geister des Hellenismus um die Wertung der Klassiker oder des Antimachos streiten, so geht es nicht mehr um ethische, sondern um ästhetische Fragen. Einer ihrer ersten Gelehrten, der rechte Nachfolger des Aristoteles, hat es ausgesprochen, daß das Ziel der Poesie nicht Belehrung, sondern Unterhaltung sei: Die modernen Dichter fühlen sich denn auch nicht mehr als Erzieher des Volkes — diese Aufgabe überlassen sie dem Philosophen —, sondern ausschließlich als Künstler. Wie sollte es auch anders sein in den völlig veränderten äußeren Verhältnissen! Aischylos, Sophokles, Euripides waren Bürger von Athen, unabhängige Männer, die in ihrem Volke standen; attische Bürger waren es, die den Chor ihrer Tragödien stellten; attische Bürger, die über den Erfolg urteilten. Die neue Poesie lebt im fremden Lande an den Höfen des Fürsten. Wie seltene Vögel in der Voliere werden ihre Dichter am Königshofe gehalten — so spottet ein zeitgenössischer Satiriker. Die Poesie des Hellenismus wird getragen von einem Berufsliteratentum, das in dieser Ausgesprochenheit eine neue | Erscheinung ist. Nicht im Theater vor einer 7 gleichgestimmten Masse griechischen Volkes trägt Kallimachos seine Dichtungen vor, sondern in den Salons vornehmer Damen, der königlichen Prinzessinnen und der Königin selbst, die die Protektion der kulturellen Bewegung in den Reichen übernehmen, während die Herrscher
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mit Heer und Verwaltung beschäftigt sind. Wenigstens ein uns in lateinischer Übersetzung erhaltenes Gedicht mag die Atmosphäre illustrieren, in der diese Poesie lebt. Die Gattin des dritten Ptolemaios, eine kyrenäische Prinzessin, die mit großer Energie ihr Thronrecht sich gewahrt hatte, hat für die glückliche Heimkehr des Gatten aus dem syrischen Kriege des Jahres 246 ihrer vergotteten Vorgängerin auf dem Throne Arsinoe eine ihrer Locken gelobt. Der König ist siegreich heimgekehrt; die Locke wird mit aller Feierlichkeit im Tempel deponiert. Am anderen Morgen ist sie verschwunden; gleichzeitig aber meldet der Hofastronom Konon, daß er sie in der vergangenen Nacht am Himmel wiedergefunden habe; d. h. er bezeichnet eine Reihe bisher unbenannter Sterne zwischen Jungfrau und Großem Bären als „Locke des Berenike". Dieser wissenschaftlichen Entdeckung gilt Kallimachos' Gedicht 1 ) [F 110 Pfeiffer].
^ ^ -weise Mann, der alle Himmelslichter und aller Sterne Auf- und Niedergang, wie sich der Sonnenscheibe Glanz verfinstert, in steter Bahn die Sternenbilder kreisen, und wie Selenes wechselnd Licht verschwindet, wenn sie vom Äther in das Grottendüster hinabsteigt zu Endymion — Der weise Mann, der alles dies erforscht hat, Konon, er hat auch mich am Firmamente entdeckt: ein Sternbild jetzt von hellem Glänze, einst eine Locke auf Berenikes Scheitel, die allen Himmelsherrn zum Weihgeschenke die königliche Trägerin gelobte erhoben ihren Lilienarm. |
8 Die Locke selbst erzählt von der königlichen Hochzeit, schildert die Empfindungen, mit denen die junge Frau gleich danach Abschied nehmen mußte vom Gatten, der in den Krieg zieht — sie weiß auch das Intimste; sie war ja dabei —, erzählt von der Erfüllung des Gelübdes und wie sie einsam auf dem Altar lag, bis der heilige Vogel Aphrodites sie entführte zum Ehrenplatz am Himmel. J a ein Ehrenplatz ist es; die Götter besuchen sie nächtens, jede irdische Braut spendet ihr am Hochzeitstage, und doch ist sie nicht glücklich. Der Bitte an die Fürstin, ihrer zu gedenken, „wenn sie zum Himmel . . . aufblickt am Nachtfest der Arsinoe", folgt mit jähem Stimmungsumschwung der höchst galante Schluß: nein, stürzt ihr Himmel; Sterne tauscht die Plätze, zum Drachen steig Orion; laßt mich wieder hinab zu meiner Königin.
Man muß bedenken, daß Konon ein wirklich bedeutender Astronom und der damals etwa 65jährige Kallimachos der anerkannt größte Dichter *) Übersetzung von
U.
v.
WILAMOWITZ-MOELLENDORFF.
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seiner Zeit war, um die Bedeutung des Gedichtes richtig zu würdigen. Dann kann man sich aber auch mit diesem einen Beispiel für den höfischen Charakter der neuen Kunst begnügen. Sie ist wirklich aus einer Sache des ganzen Volkes zu der eines kleinen Kreises höchstgebildeter oder höchststehender Personen geworden. In diesen Kreisen hat der alte Gedanke einer moralischen Wirkung der Kunst keinen Boden mehr; um so größer aber ist das Interesse und bis zu einem gewissen Grade auch das Verständnis an allen ästhetischen Problemen, an technischen Grundsätzen und Feinheiten. Um sie streitet man mit einem Eifer und einer Erbitterung, wie man sie früher doch nicht kannte. Die erste große Frage, in der die Geister sich scheiden — eigentlich die einzige; denn alles andere ist nur die Konsequenz ihrer jeweiligen Beantwortung — ist die Stellung der Moderne zur klassischen Kunst, der Streit um die Möglichkeit und die Berechtigung eines Weiterlebens ihrer alten großen Formen. | [Kall. Ep. 28, 1 f.] Widerlich ist mir die kyklische Art, nicht lieb ich die Straße, drauf sich die Menge bewegt —
und Wie mir der Bauherr verhaßt, der auftürmt bis in die Wolken seinen Palast, als war es ein Berg, die Wohnung des Riesen, so auch der Dichtungsbeflissenen Schar, die den großen Homeros nutzlos umkrächzen, ein Dohlengeschwärm den fürstlichen Adler —
[Theokr. 7, 45—48], so tönt es von der Seite des Fortschritts. In solchen Äußerungen fassen wir den prinzipiellen Unterschied. Es gibt naturgemäß eine starke Partei der Klassizisten, die auf den betretenen Bahnen, in den alten Formen verharren; die attische Tragödien schreiben und homerische Epen. Eine Imitationspoesie, die freilich, wie immer in einer klassizistischen Kunst, sich dem Geiste der neuen Zeit innerlich nicht wirklich entziehen kann, es auch vielfach gar nicht will und so schließlich doch sehr anders aussieht als die klassischen Muster. Aber die führenden Geister der Zeit denken anders: sie sind weit davon entfernt, die alte Weise als solche zu verwerfen. Sie widmen ihr nicht nur intensive, gelehrte Arbeit, sie sind auch in ihrer dichterischen Produktion in steter Fühlung mit der alten Literatur. Aber sie wollen sie weder fortsetzen noch wiederholen, weil sie überzeugt sind, daß die alte Weise für die neue Zeit nicht mehr genügt, oder vorsichtiger ausgedrückt, daß sie für sie nicht mehr paßt. Der Klassizismus — wir besitzen das große Argonautengedicht des Rhodiers Apollonios — greift Homer auf seinem eigensten Gebiet an und ladet — er mag es wollen oder nicht — zum Vergleich ein, der nur zuungunsten des Nachahmers ausfallen kann. Philitas und Hermesianax, Kallimachos und Theokrit und wie sie sonst noch heißen, lassen Homer stehen und stellen ihre eigene Weise neben ihn. „Doch Homeride zu sein, 19
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auch noch als letzter ist schön" — das entsprach gar nicht ihrer Ansicht; im Gegenteil „von dem samischen Manne stamme ich, der einst in seinem Hause den göttlichen Sänger bewirtete; ich besinge, was Eurytos duldete, 10 und die blonde Iole. Man nennt mich ein homerisches Ge|dicht. Lieber Gott, für einen Kreophylos mag das etwas Großes sein" — so sagt Kallimachos einmal [Ep. 6] von einem jener kyklischen Gedichte, die massenhaft unter Homers Namen umliefen. Und als ihm die Gegner vorwarfen, er sei nur nicht imstande, episch zu dichten, da schrieb er die 'Hekale', die uns der ägyptische Boden wenigstens teilweise wiedergeschenkt hat, um zu zeigen, wie ein modernes Epos beschaffen sein müßte. Die 'Hekale' galt von frühester Zeit als Programmgedicht der Schule, weil sich der Dichter im Eingang prinzipiell mit dem Klassizismus auseinandersetzt; und sie sieht wirklich wesentlich anders aus als ein Homerisches Epos. Zwar der Stoff ist der Heldensage entnommen — das ist für die griechische Poesie hohen Stiles zunächst noch selbstverständlich. Ihr Held ist Theseus; aber sie ist deshalb keine Theseis. Was in dem alten Epos stand, wird als bekannt vorausgesetzt, man schreibt ja für gebildete Leute. Es dient nur noch als Hintergrund für die Einzelgeschichte aus dem Theseuskreis, die der Dichter auswählt. Für eine solche braucht man keine 24 Bücher; da kommt man mit einem aus, mit knappen 1000 Versen. Was damit entsteht, ist wirklich eine neue Form; d'as epische Kleingedicht, das wir Epyllion 'Kleinepos', die Alten Eidyllion nannten. „Ein großes Buch, ein großes Unglück" — so hatte Kallimachos einmal [F 465] in zugespitzter Form das Urteil über jene unendlich langen Epen ausgesprochen. Denn nur im Einzelgedicht mäßigen Umfangs ließ sich die Form, ließen sich Vers und Sprache zu jener äußersten Feinheit steigern, die das Ziel und die Sehnsucht des Literatentums aller Zeiten gewesen ist. Was der hellenistische Dichter aus dem alten einfachen Hexameter gemacht hat, ein Instrument von geradezu unglaublicher Geschmeidigkeit, für alle Stimmungen und alle Stoffe gleich geeignet, ist schlechthin bewundernswert. Wir haben hier eine Formkunst allerersten Ranges, die zu ihrer Würdigung allerdings auch allerfeinste Ohren verlangt; wie die Sprache, die 11 mit ihrer gesuchten Wortwahl, | ihren tausend Anspielungen nur dem literarisch Höchstgebildeten überhaupt verständlich ist. Ein solches Gedicht ist für Feinschmecker; für das Volk ist es Kaviar. Aber mit der feinen Ausarbeitung der Form und der Zurückdrängung des stofflichen Elementes der reinen Erzählung, an der der naive Tatsachenhunger des alten Hörers seine Freude hatte, ist es noch nicht getan. Der Stoff des neuen Kleingedichtes ist von vornherein ausgewählt unter bestimmten Gesichtspunkten, die weit abliegen von dem Ziel, das der erzählende Epiker verfolgte.
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Ein Papyros hat uns den Schluß des berühmtesten aller Kallimacheischen Gedichte geschenkt: es ist die romantische Geschichte von dem jungen Akontios, der im Tempel der Artemis auf Delos eine schöne Jungfrau sieht, in die er sich auf den ersten Blick sterblich verliebt. Um sie zu gewinnen, ritzt er in eine Quitte, den Liebesapfel, die Worte „bei der Artemis, ich werde Akontios heiraten" und läßt den Apfel vor die Füße des betenden Mädchens rollen. Sie hebt die glänzende Frucht auf, liest die Worte — laut, wie man damals las — und ist nun durch ihren Eid vor der Göttin gebunden. Der Dichter erzählt von den Hindernissen, die sich der Ehe in den Weg stellen, bis zum endlichen glücklichen Ausgang; bis ins Brautgemach begleitet er die vereinigten Liebenden. Damit sollte es wohl zu Ende sein. Es ist es aber nicht; es folgt noch ein ganzes großes Stück [F 7 5 , 5 0 - 5 5 ] ; Aus der Vermählung des Paares entsprang ein glänzender Name: bis auf den heutigen Tag lebest du blühend und stolz, Haus der Akontiossöhne, die wohnen im schönen Iulis. Uns ward, Keer, dein sehnsüchtiges Lieben bekannt aus Xenomedes des alten Geschichtswerk, worin er die ganze Insel und was sie erlebt spätem Geschlechtern erzählt.1) |
Und dann skizziert der Dichter durch Angabe der Kapitelüberschriften 12 den Inhalt dieses Werkes, das „sich treulich der Wahrheit befliß". Diese Quellenangabe, die in ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit doch etwas anders klingt, als das „uns ist in alten mären wunders vil geseit" der Nibelunge, ist der eigentliche Clou des Gedichtes. Kallimachos hat vier Bücher mit solchen aitiologischen Geschichten gefüllt, die irgendeinen seltsamen Brauch erklären, die Entstehung eines Festes, Opfers, einer Stadt, eines Geschlechtes. Er hat sie als sein Hauptwerk betrachtet; denn er überträgt in ihrem Eingange das alte Motiv der hesiodöischen Theogonie, die Dichterweihe auf dem Götterberge durch die Musen in eigener Person, auf sich selbst. Er rühmt sich einmal [F 612]: „ich singe nichts, was ich nicht durch ein Zeugnis belegen kann". Da muß man wohl anerkennen, daß es nicht nur die neue Form des epischen Kleingedichtes mit ihren Konsequenzen für Vers und Sprachstil ist, die ihm als Cachet seiner Kunst erscheint, sondern auch die Neuheit des Stoffes und sein gelehrter Charakter. Denn auch in dem Mustergedicht der "Hekale' ist das Wesentliche nicht der Kampf mit dem Wilstier, der die Fluren von Marathon verwüstete — dieses Faktum stand in jeder Theseis und wird in wenigen Versen abgemacht. Der Ausgangspunkt für die dichterische Gestaltung ist auch hier ein besonderer Kultbrauch, von dem attische Lokalhistoriker erzählten, von dem aber die Theseis nichts wußte: die Erklärung des *) Übersetzung von H. v. 19*
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merkwürdigen Hekalesienopfers, das die Bewohner eines kleinen, attischen Dorfes dem Zeus Hekalos bringen. Diese gelehrte Herkunft des Stoffes, der Stolz darauf, ist tatsächlich ein Hauptzug im Gesicht der neuen Kunst. Es ist kein zufälliges zeitliches Zusammentreffen, daß im Eingang der hellenistischen Literatur — wie der neue riesige Leuchtturm am Eingang des Hafens von Alexandreia — die große alexandrinische Bibliothek steht — nebst ihren Schwestern in Seleukeia, in Pergamon, in Rhodos —, die ein Schüler des Aristoteles für den ersten Ptolemaier einrichtete und die in hunderttausenden von Bänden den ganzen Bestand der griechischen Literatur 13 vereinigte. Kallimachos | war an dieser Bibliothek angestellt; er hat selbst ihren Katalog verfaßt, einen catalogue raisonné, ein ganz erstaunliches Werk in 80 Bänden, aus dem wieder eine ganze gelehrte Literatur erwachsen ist. Die Dichter des Hellenismus sind ohne ihre Bibliothek gar nicht denkbar. Sie sind — das gilt gerade für die führenden Geister — zugleich Dichter und gelehrte Philologen, ja sie sind vielleicht in erster Linie Philologen und nur im Nebenberufe Dichter. In dieser Zeit ist die Auffassung entstanden, daß „der Geist des Dichters nichts empfangen und nichts gebären kann, wenn er nicht befruchtet ist von dem ungeheuren Strom der alten Literatur". Aber auch dieser gelehrte Charakter der neuen Poesie ist noch nicht das letzte, wichtigste: der Dichter, der seinen Stoff der Heroensage entnimmt, der von Theseus, Herakles, Iason erzählt, nicht anders als Homer und die Tragödie — er steht diesem Stoff doch völlig anders gegenüber. Wenn der Epiker von Göttern und Heroen singt, und der Tragiker sie auftreten läßt, dann ist's eine andere und höhere Welt, in der er sich bewegt. Die Kluft, die sie von der Gegenwart und dem Alltag trennt, tritt uns ja leibhaft vor Augen, wenn wir auf der tragischen Bühne den Schauspieler agieren sehen in dem bunten, prunkvoll verzierten Schleppgewand, mit Kothurn und hohem Haaraufsatz. Man hat es dem Euripides bitter verargt, daß er gegen dies konventionelle Kostüm rebellierte; daß seine Personen zwar noch die Namen der Heroen tragen, in ihrem Wesen aber Menschen des Tages sind; daß er die Distanz nicht wahrt. J e t z t aber wird der heroische Stoff bewußt, mit voller Absicht, unter allgemeinem Beifall ganz in die menschliche Sphäre gezogen. Wenn im Argonautenepos des Apollonios Hera und Athene zu Aphrodite kommen, dann ist's eine Visite, wie vornehme Damen sie einander abstatten; die Unterhaltung bewegt sich in höflichen, etwas spitzen Phrasen mit allerhand sous-entendus. Wenn Kallimachos einen Hymnos auf Artemis schreibt — und ein 14 Hymnos ist für den Gottesdienst bestimmt —, dann be|ginnt er damit, daß die kleine Dame ihrem Vater Zeus auf die Knie klettert und vergeblich mit den kurzen Ärmchen seine Wangen zu streicheln sucht, um sich
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ihre rifiai zu erschmeicheln, ihren Geltungsbezirk im Götterreiche. Die alte Poesie hatte mit schaudernder Ehrfurcht berichtet, wie nach dem Titanenkampf Zeus die Beute verteilte, den Mithelfern im Streite ihre Aufgaben und Ehren zuwies und so die Ordnung der Welt schuf, in der die Menschen leben; jetzt ist eine Kinderstubenszene daraus geworden, und der Dichter sucht eine pikante Wirkung darin, daß er diese Dinge in die alten, feierlichen Formeln kleidet. Schalkhaft, mit leichter Ironie, oft etwas frivol wird die ganze Götterwelt behandelt, an die man längst nicht mehr glaubt; die Heroen aber, die ja Menschen sind, einfach menschlich. Der Theseus des Kallimachos ist nicht der Halbgott des Epos mehr, nicht einmal das Musterbild des konstitutionellen Herrschers, das die attische fable convenue aus ihm gemacht hat, er ist ein junger, frischer Soldat, ein attischer Ephebe, der unbekümmert in den Kampf zieht und vor dem Kampfe das gute Quartier genießt, mit Gusto die einfachen Gerichte verzehrt, die die gute alte Hekale ihm mit Liebe zubereitet. Während das eigentliche Abenteuer mit wenigen Worten kaum angedeutet ist, wird mit breitem Pinsel dieses Quartier ausgemalt — Sie mögen sich der Ovidischen Schilderung von Philemon und Baukis erinnern, die nur ein Abdruck nach dem Kallimacheischen Vorbild ist. Dem hellenistischen Dichter liegt daran, Menschen zu schildern, wie sie wirklich leben und wie sie für den alten Epiker überhaupt nicht oder höchstens als Gegensatz zu den großartigen Gestalten der Heroen existierten; und mit den Menschen die Natur nicht der heroischen, sondern der realen Landschaft. Ihre Stimmungswerte werden jetzt zuerst bewußt verwendet; der Rückweg des Theseus durch den nächtlichen Wald ist ein Kapitalstück, in das das Auftreten der sprechenden Vögel doch wieder einen märchenhaften Zug bringt. In dem Antlitz der ungemein komplizierten Kunst, mit | der diese 15 kleinen Epen entworfen sind — man könnte stundenlang reden, um sie dem späten Hörer in ihrer vielseitigen Bedingtheit nahe zu bringen —, ist schließlich doch der eigentlich charakteristische Zug diese veristische und realistische Behandlung des Stoffes. Sie ist das innerlich Neue gegenüber der klassischen Kunst. In der hat der Realismus keine Stätte; bei vollständigster Naturwahrheit der Konturen ist doch alles idealisiert, stilisiert, aus der Bedingtheit des Tages erhoben zu typischer Bedeutung. Wo früher Ansätze zu einer realistischen Kunst sich finden — und man findet sie in Ionien so gut wie in der Tragödie des Euripides —, da bleiben sie unter der Oberfläche oder, wenn sie sich hervorwagen, werden sie scharf abgewiesen als „Dirnenpoesie". Erst die hellenistische Zeit, die es wagt, den alten hohen Stoff der Heroensage veristisch zu behandeln, die wagt auch noch ein weiteres: sie macht das Leben selbst zum Gegenstand der hohen Poesie, und neben das mythische, das erzählende Epyllion tritt
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— nicht ohne den bestimmenden Einfluß einer ästhetischen Theorie, die das Wesen aller Kunst eben in der //.ifirjaig, in der Nachbildung des Lebens findet — das mimische Kleingedicht. Der Mimos ist an sich nichts Neues. Er ist im Gegenteil eine uralte poetische Gattung, wenn man hier von Poesie und nicht besser von einem primären Sproß des menschlichen Nachahmungstriebes redet. Er mag teilweise religiösen, kultischen Ursprungs gewesen sein — ich bezweifle das freilich selbst für die Tiertänze —; aber in seiner weltlichen Form ist er eine alte, vielleicht die älteste Volksbelustigung. Seine Träger waren die herumziehenden Gaukler, die auf offenem Markte einen Charakteroder Berufstypus darstellen: den Arzt, den Soldaten, den Bauer, eine zänkische oder betrunkene Alte, eine eifersüchtige Ehefrau, ein verliebtes Mädchen. Zur Gestikulation, die die Hauptsache ist, tritt das gesprochene oder gesungene Wort; eine kleine Handlung ohne festen Text, durchaus improvisiert und meist ausgesprochen komisch wirkend. Das war sogar 16 schon einmal | literarisch geworden. Im Westen, wo die Berührung mit dem italischen Volkstum alle Gattungen des derben Humors begünstigte, hatte der Syrakusaner Sophron seine Texte aufgeschrieben; und wieder ist es Piaton, den vielleicht die Charakterkunst interessierte, die in diesen scheinbar zwecklosen und niederen Leistungen steckte, der das Buch aus Sizilien nach Athen mitbringt. Jetzt tritt dieser Mimos, der als etwas durchaus Niederes gegolten hat, plötzlich in den Vordergrund; er wird ernsthaft behandelt und von großen Dichtern gewissermaßen salonfähig gemacht. Das geschieht nicht etwa in Athen und in der Komödie, die wir viel zu leicht geneigt sind, als eine realistische Gattung aufzufassen, was sie nicht ist. Vielmehr zeigt sich gerade hier, wie vollständig der Schwerpunkt der hellenistischen Literatur von Athen fortgerückt ist. Nicht der feine Menander, der letzte für die Weltliteratur bedeutsame athenische Dichter, der den akademischen Beurteilern als der Gipfel der Lebenswahrheit erschien, bringt etwas wirklich Neues. Athen, wo man philosophierte, dinierte, von der Vergangenheit, den Studenten und der Fremdenindustrie lebte, war kein Boden für eine lebendige, rücksichtslos veristische, in die Tiefe des Lebens tauchende Kunst. Das neue Leben brandet in den Weltstädten des Ostens und Westens, in Syrakus, in Seleukeia, in Alexandreia. Da bindet keine große Vergangenheit, da mischen sich die Rassen, da lebt man das Leben des Tages und da streift auch die Kunst alte Fesseln der Tradition ab. Wie es den Menschen dort lockt, aus dem Prunk des Hoflebens, aus dem Zwang der vom Orient übernommenen Etikette, aus der übertriebenen Feinheit der Zivilisation einmal hinabzusteigen in die Niederungen des Lebensi; wie der podagrakranke Ptolemaios Philadelphos aus den Fenstern seines Schlosses den ägyptischen Hafenarbeitern zusieht, wenn sie am
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Flußufer liegen und mit Käse und Zwiebeln frühstücken; wie er da in momentanem Neidgefühl sagt „ein Jammer, daß ich nicht so einer geworden bin" — so lauscht dort die vornehme | Gesellschaft mit Entzücken 17 dichterischen Darstellungen aus diesem Leben; nicht anders als im kaiserlichen Rom, wo der derbrealistische Roman Petrons gerade deshalb Furore machte, weil er in Schichten stieg, die so ungeheuer tief unter dem Niveau lagen, auf dem seine Hörer sich zu bewegen gewohnt waren. Der Mimos der hellenistischen Dichter ist keine dramatische Gattung; er tritt durchaus in der Form des neuen episch-rezitativen Kleingedichts auf, das für den mythologischen Stoff erfunden war. Natürlich stilisiert er sich in der Form; das ist für griechische Kunst ganz unvermeidlich; Kunst ohne Stilisierung ist undenkbar. Der Syrakusaner Theokrit, der Zeitgenosse der Kallimachos, der unmittelbar an seinen Landsmann Sophron anknüpft, schreibt im Hexameter; der etwas jüngere Herondas, den uns die Papyri wiedergeschenkt haben, ebenfalls ein Dorer, greift zu dem vulgäreren Hinkiambus. Aber in der stilisierten Form bleibt das Wesen unverändert: mit allem Raffinement der modernen Technik führen uns diese Dichter Szenen des täglichen Lebens vor, kleine Ausschnitte mit schärfster Beobachtung der Einzelheiten, mit einer bis aufs äußerste gesteigerten Naturwahrheit. Ich greife ganz beliebig aus der ungeheuren Fülle des Stoffes ein paar Beispiele heraus: da haben wir den jungen Hirten irgendeiner griechischen Binnenlandschaft — denn die Bukolik ist nur eine inhaltliche Gruppe dieser mimischen Poesie, die man sehr mit Unrecht allein aus der Natursehnsucht des Städters abgeleitet hat. Auch wenn in den komplizierten Verhältnissen dieser Spätzeit das Gefühl für das Idyllische der Natur, der sentimentale Wunsch nach naturgemäßem Leben und einfachen Verhältnissen mithineinspielt, gibt das noch lange nicht die uns bekannte Gesnersche Hirtenpoesie, die Schäfer und Schäferinnen des Rokoko und der italienischen Pastorale; die griechischen Hirten haben „selbst wenn sie Maske sind, einen sehr natürlichen Bocksgestank" — also den jungen Hirten, dem die Liebste untreu geworden ist [Carm. 14]. Er erzählt einem älteren Kameraden, wie es zum Bruch kam. | Sie hat sich verraten, als einer der Genossen beim Abendessen ein senti- 18 mentales Lied singt. Es geht durchaus aufrichtig zu: der empörte Liebhaber gibt der Treulosen eine tüchtige Backpfeife. Leider hat das Mittel die umgekehrte Wirkung, und nun ist ihm das Leben verleidet; er will Soldat werden — Hellas ist damals voll von den Werbeoffizieren der verschiedenen Potentaten — wie ein Freund von ihm, der sich den Schild zur Braut erkoren hat und gesund zurückgekommen ist. Darauf rät ihm denn der Alte, bei Ptolemaios Dienste zu nehmen. Denn auch diese realistische Poesie trägt den höfischen Charakter, der die ganze Zeit kennzeichnet; und es ist nicht der geringste Teil von Theokrits Kunst, daß er ein solches
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Gedicht ganz ungezwungen mit einem begeisterten Lob des Fürsten schließen kann, bei dem ein Landsknecht am ehesten gute Behandlung, Ruhm und Beute zu erhoffen hat. Neben dem ländlichen ein Stadtbild: die Frauen beim Adonisfest [Carm. 15]. Zwei Kleinbürgerinnen. Die eine holt die andere ab — der Dichter fängt vom Anfang an, wie sie anklopft, hereinkommt, ganz außer Atem in den Lehnstuhl sinkt: „Ich bin tot. Es war gar nicht herzukommen, liebste Praxinoa, vor der Menschenmenge und den vielen Wagen; die ganzen Straßen sind voll von Soldaten; und der Weg hieraus ist unendlich." — „Das ist die Schuld meines Dummkopfes von Mann; am Ende der Welt mietet er ein Loch, keine Wohnung, nur damit wir nicht Nachbarinnen sein sollen, um mich zu ärgern — der Neidhammel. Aber so ist er immer." — „Schimpf nicht so auf deinen Mann, Liebste, in Gegenwart des Kindes. Sieh nur, wie es aufpaßt. Lustig, kleiner Zopyrion, süßer Junge; sie meint nicht Papchen." — „Wahrhaftig, der Junge hört." — „Gutes Papchen." — „Ja, dein Papchen — gestern sage ich ihm 'Pappa, bring mir Schwefel und Schminke vom Krämer mit', kommt er doch und hat Salz gekauft, der dumme Kerl." So geht es noch eine Weile. Dann macht auch die zweite Toilette, wobei das Dienstmädchen hin- und her19 gejagt und gescholten wird. Komplimente über das neue | Kleid; ein paar hastige Abschiedsworte an das Kind, das weint und mit will, ein paar Befehle an die Magd. Dann sind sie auf der Straße: „ 0 Gott, was für ein Gedränge." Mühsam arbeiten sie sich bis zum Königsschloß durch — Schritt für Schritt begleitet sie der Dichter; im knappen Dialog und in Ausrufen malt er ihre Angst, daß sie zu spät kommen könnten; Zusammenstöße mit anderen, die dem gleichen Ziele zustreben oder schon von dort kommen; die staunende Bewunderung, mit der sie sich gegenseitig auf die Pracht des inneren Schloßhofes, auf die dort errichtete Adonislaube aufmerksam machen, bis die unermüdlichen Zungen endlich zur Ruhe kommen, weil die Sängerin das Adonislied anstimmt — „Sei ruhig, Praxinoa, es ist dieselbe, die neulich den Ialemos so gut gesungen hat; sie wird auch jetzt was Schönes singen; sie ziert sich schon" — und nun hören wir das Kultlied, das natürlich in einer ganz anderen Höhenlage gehalten ist als der erste Teil. Es ist wieder eine besondere Technik Theokrits, in die Alltagssphäre hinein solche Lieder erklingen zu lassen, ohne daß die Einheitlichkeit des Ganzen darüber verloren geht — den alten Kuhreigen vom Liebestod des Daphnis, das Schnitterlied des Lityerses. Es sind seine berühmtesten Gedichte, die er so angelegt hat. Das Mädchen, das sich einem Manne hingegeben hat und treulos von ihm verlassen ist, übt in stiller Nacht den volkstümlichen Liebeszauber, der den Ungetreuen in ihre Arme zurückführen soll [Carm. 2]. Schon die groteske Zauberhandlung begleitet der
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Zaubergesang. Dann als die Magd ins Haus gegangen ist, singt sie sich selbst, singt sie Selene, der Herrin alles Zauberwesens, das sehnsüchtige Lied ihrer glücklich-unglücklichen Liebe 1 ): N u n allein ich bin, erklinge, Klage. Wie erzähl ich meiner Liebe Schicksal? Von des Leidens Anfang will ich sagen: Festzug schritt, der Artemis zu Ehren, hin zum H a i n ; als Kanephore sollte gehn Anaxo, des Eubulos Tochter. Tiere zogen mit, auch eine Löwin — Hehre Göttin, schau, so kam die Liebe. Thrassa k a m , des Theumaridas Amme — sie ist tot, sie wohnte in der N ä h e — u n d sie b a t mich, jenen Zug zu schauen. Ich, die Unglücksel'ge, m u ß t e folgen, zog mir an das feine Kleid aus Byssos, Klearista borgte mir den Mantel. Hehre Göttin, schau, so k a m die Liebe. Mitten auf dem Weg, bei Lykons Garten, sah ich Delphis gehn m i t Eudamippos: beider Bartflaum schimmerte wie Goldkraut, ihre Brust erglänzte gleich dem Mondlicht, wie bei Männern, die vom Turnplatz kommen — Hehre Göttin, schau, so k a m die Liebe. I h n erschaut ich: mich ergriff die Liebe, wehe ward's im Herzen, meine F a r b e wurde bleich; nichts sah ich von dem Zuge. Wie ich heim kam, weiß ich n i c h t : ein Fieber warf mit heißer Glut mich völlig nieder: zehn der Tage lag ich, zehn der Nächte. Hehre Göttin, schau, so k a m die Liebe.
Der Refrain dient hier, wie immer, dazu, dem episch-rezitativen Hexameter die lyrische Färbung zu geben. Es ist ein glücklicher Zufall, daß uns ein Papyros auch ein wirkliches Stück Lyrik geschenkt hat, das ich Ihnen zum Schlüsse noch vorführen will, weil sein Fund eine der größten Überraschungen für uns war. Es läßt uns eine sehr reiche und eigenartige, sehr lebendige Entwicklung der Lyrik erraten, die ja ihrem ganzen Wesen nach von vornherein realistisch orientiert war. Das Lied ist nicht vollständig erhalten; aber das Erhaltene genügt. Seine metrische Form ist etwa das, was wir heute freie Rhythmen nennen würden. Der dichterische Vorwurf ein Mädchen, das nächtlich vor das Haus des treulosen Gehebten schleicht und seiner Verzweiflung Aus- 21 druck gibt; also ein Gegenstück zu dem bekannteren alten Motiv des x
) Ü b e r s e t z t v o n R . WÜNSCH.
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des Liedes vor der verschlossenen Tür der Geliebten [Collect. Alex. S. 177 Powell]:
naQaxhivoidvQov,
W i r w ä h l t e n beide, als wir u n s b a n d e n ; die Liebe besiegelte unseren B u n d . Wie q u ä l t der Schmerz i m G e d a n k e n a n ihn, der erst mich g e k ü ß t , der j e t z t m i c h verließ, der E r f i n d e r des Zanks. Mich a b e r hielt fest des E r o s Gewalt, der die Liebe g e b a r : d e n n ich leugne es n i c h t : ihn heget mein H e r z . (Sie m a c h t sich auf d e n Weg, t r i t t a u s i h r e m H a u s e auf die Straße.) F r e u n d l i c h e Sterne, hehre N a c h t , m i t f ü h l e n d m e i n e m Leiden, f ü h r t mich zu i h m , zu d e m mich t r e i b t die Ü b e r m a c h t der L i e b e : wie eine F a c k e l b r e n n t d a s F e u e r meiner Seele. D a s k r ä n k e t , das s c h m e r z t : er, der mich betrog, der stolz sich verschwur, n i c h t Sinnenlust sei's, die i h n zu mir g e f ü h r t — i h m w a r d die kleine K r ä n k u n g G r u n d z u m B r u c h . (Sie ist v o r d a s H a u s des Geliebten g e k o m m e n , h ö r t d e n L ä r m des Gelages.) Der W a h n s i n n p a c k t m i c h ! Die Verlassne b r e n n t der E i f e r s u c h t Qual. I c h b i t t e n u r eins: wirf die K r ä n z e mir zu. Die press' ich ans Herz, d a ich dich n i c h t h a b . (Keine A n t w o r t . ) H e r r — d e n n das bist d u m i r —, l a ß mich n i c h t d r a u ß e n s t e h n : laß mich ins H a u s zu dir, sei es als Sklavin n u r . R a s e n d e Liebe b r i n g t , j a sie b r i n g t arge P e i n ; Sklavin der Liebe m u ß ich schweigend u n d d u l d e n d sein. N ä r r i n , die einem n u r stets sich als t r e u erweist, w e n n sie der eine v e r r ä t , weiß sie, was W a h n s i n n h e i ß t . | N i m m dich in A c h t ! U n b ä n d i g ist mein Sinn, w e n n mich der Zorn ergreift. I c h rase, d e n k ich d r a n , d a ß ich allein auf meinem Lager liege, indessen eine a n d e r e d u u m f ä n g s t . J e t z t sind wir u n s b ö s ; V e r s ö h n u n g m u ß sein; so schnell es n u r g e h t : die F r e u n d e r u f e herbei z u m Gericht, sie m ö g e n entscheiden, wer schuld war a m Streit.
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Meine Damen und Herren! Die Kunst, die sich in diesen Schöpfungen offenbart, steht außerordentlich hoch; der Realismus ist auch da, wo er die niedrige Sphäre bewußt betont, wo die naive oder plumpe Art der Agierenden bei den feingebildeten Hörern ein Lächeln hervorruft und hervorrufen soll, innerlich ernst, weil er menschlichen Gefühlen unmittelbar wirksamen Ausdruck zu geben weiß. Wer sich in diese Poesie hineinliest — was nicht leicht ist, weil es an guten Übersetzungen fehlt; vielleicht weil dieser Formkunst gegenüber jede Übersetzung versagen muß —, den überrascht immer wieder die Ähnlichkeit im Empfinden mit dem des modernen Menschen, wie ihn die Berührungen überraschen zwischen unserem eigenen Leben und den äußeren Zuständen, die sich in dieser Dichtung spiegeln. Wir finden uns selbst wieder in dieser hellenistischen Poesie, mit unserem komplizierten Seelenleben; mit dem unbedingt großstädtischen Charakter unserer Zivilisation, der eine starke Sehnsucht nach der Natur und die damit wohl unzertrennlich verbundene Idealisierung dieser Natur, ihre idyllische Verklärung erzeugt; in der Antinomie zwischen der Lebensmüdigkeit des einzelnen und dem stark bewegten Leben des Staates; in der Überbildung und Überfeinerung der Kunst; in dem Interesse an allen technischen Problemen und an der Wissenschaft, wenn sie in populärer Form elegant geboten wird, neben einem tiefen Mißtrauen gegen den Wert aller Wissenschaft; in dem Widerstreit von Persönlichkeitsbewußtsein und sozialer Einstellung; in der seltsamen Mischung von Glauben und Skepsis, von | philosophischer Aufgeklärtheit 23 und dem immer wachsenden Drang nach religiösem Erleben. Es ist kein Wunder, daß die Philologie der letzten Jahrzehnte sich mit besonderer Liebe bemüht hat, diese Zeit und ihre Poesie zu verstehen, mit der wir uns wesensverwandt fühlen. Um so mehr bedarf es der Warnung vor den Bestrebungen, die aus dieser Wesensverwandtschaft pädagogische Konsequenzen ziehen wollen. Man soll sich hüten, das unzweifelhaft gesunkene und weiter sinkende Interesse am Griechentum dadurch beleben zu wollen, daß man in der Schule oder vor einer weiteren Öffentlichkeit diese Zeit in den Vordergrund schiebt. Denn so interessant der Hellenismus an sich und für den modernen Menschen besonders ist, so bedeutend seine kulturgeschichtliche Wirkung innerhalb der europäischen Geistesgeschichte — seine Rolle ist doch nur die des Vermittlers. Die Menschen dieser Zeit, Denker und Künstler, Techniker und Gelehrte, sind nicht die Griechen, um derentwillen wir Hellas die Erzieherin der Welt nennen; mit denen wir wünschen, daß die moderne Welt den Kontakt aufrecht erhält, weil uns ihre humanisierende, ihre erzieherische Wirkung für das menschliche Geistesleben im allerweitesten Sinne unentbehrlich erscheint; der Hellenismus ist nicht das Griechentum, dessen lebenspendender Hauch schon so oft die schlummernden Fähigkeiten der Völker
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zu eigenem neuen Leben entbunden hat und wieder entbinden wird. Kein besserer Beweis dafür als die erste Renaissance des echten, des klassischen Griechentums in Rom. Rom ist eine hellenistische Stadt; sein Aufstieg zur Herrschaft zunächst über Italien beginnt, als die großen Reiche des Hellenismus sich eben konstituiert hatten; seine Zivilisation ist die der hellenistischen Gesellschaft; und so manche Wunderlichkeit seiner geistigen Entwicklung erklärt sich daraus, daß die Literatur dieses frischen, unverbrauchten, in vielem noch sehr einfachen, ja barbarischen Volkes emporwächst im lebendigen Zusammenhang, unter dem unmittelbaren Einfluß jener höchst komplizierten Schöpfungen des aufs äußerste 24 verfeinerten | hellenistischen Geistes. Es war eine merkwürdige Schule, in die die Römer bis auf die Zeit Caesars gingen: wir sehen mit eigenen Augen, wie sich Sprache und Vers der römischen Dichter und Prosaiker an diesem Muster bildet und wie in dem jungen Volke eine Literatur entsteht, die aufs Haar so aussieht, wie die der hellenistischen Vorbilder; wie man sich ganz unglaublich kultiviert vorkommt, als man es so weit gebracht hat, daß man Kallimachos und Theokrit nicht nur übersetzen, sondern selbst in ihrem Stile dichten kann. Aber als man so weit ist, da kommt auch der Umschwung. Da beginnt man zu erkennen, daß es sich nicht l o h n t , so zu dichten; daß eine Kunst, der die große Linie fehlt und die fremd gegenübersteht den großen Problemen, mit denen die menschliche Seele immer gerungen hat und immer ringen wird, eine Kunst, die nur Technik und Ästhetik kennt, die rein artistisch ist und ohne jede ethische Absicht oder Wirkung; eine Kunst, die keinen Staat kennt und kein Vaterland, in dem ihre Dichter mit allen Fasern ihres Lebens und Schaffens wurzeln — daß eine solche Kunst zwar eine wunderschöne Unterhaltung für müßige Stunden sein kann und ein unübertreffliches Instrument zur technischen Ausbildung der eigenen Fähigkeit, daß sie aber als Ganzes nicht genügt für Männer, die in schwerer Not des Vaterlandes um die Wiederherstellung der inneren Gesundheit des eigenen Volkes ringen. Und da wendet man sich wieder zu den großen Alten, die jene ethischen Wirkungen bewußt oder unbewußt ausübten als Erzieher ihres Volkes; die Augusteische Zeit, die Blüte der römischen Literatur kehrt zurück von Kallimachos zu Homer, von Theokrit zu Sappho und Alkaios, zurück zu Herodot, Thukydides und Piaton.
2. DIE UNIVERSITÄTSAUSBILDUNG DER KLASSISCHEN PHILOLOGEN, LEIPZIG 1925 Meine Herren! Das Thema meines Referates ist nicht von mir, wenn auch schließlich nicht ohne meine Zustimmung formuliert. Es klingt umfassender und daher anspruchsvoller, als mir lieb ist. Denn sprechen möchte ich zu Ihnen nur von einem Teile, eigentlich nur von einem P u n k t e unseres philologischen Studienbetriebs; freilich von einem, den ich f ü r so zentral halte, daß seine Behandlung, wenn sie nur ernsthaft genommen wird, den weit gefaßten Titel doch bis zu einem gewissen Grade rechtfertigt: von der sprachlichen Vor- und Ausbildung der Studierenden der Altertumswissenschaft, die ich immer mehr geneigt bin, in der gegenwärtigen Zeit schlechthin als d a s Problem der Universitätsausbildung zu bezeichnen. Wenn ich also aus diesem Grunde mich berechtigt glaubte, gleich auf der ersten unserer Fachtagungen zu Ihnen von diesem Zentralproblem zu sprechen, so habe ich doch keineswegs die Prätention, Ihnen etwas Neues zu sagen. Was ich vorbringen werde, sind durchweg Tatsachen, die Sie alle selbst beobachtet haben; Gedanken, die Sie sich gewiß alle auch schon gemacht haben; und schließlich Konsequenzen, die Sie vermutlich auch Ihrerseits schon gezogen haben — wenn auch vielleicht nicht gern und | vermutlich wenigstens teilweise nur im stillen 6 Kämmerlein. Ich kann Ihnen nicht einmal versprechen, daß ich diese Tatsachen unter einen neuen Aspekt rücken werde. Vielmehr bitte ich Sie, die Bezeichnung meiner Erörterungen als 'Referat' statt als 'Vortrag' nicht als eine Äußerlichkeit hinzunehmen. Ich wollte damit ganz klar aussprechen, daß ich nichts Fertiges oder gar Autoritatives geben will, sondern daß ich nur die Debatte über jene Frage einzuleiten wünschte, deren Beantwortung von uns akademischen Lehrern meines Erachtens gebieterisch verlangt wird, so fast unmöglich eine alle befriedigende Antwort auch erscheint: Wie steht es um die sprachliche Vorbildung unserer jungen Semester durch die Schule? Was tun wir auf der Universität für ihre weitere Ausbildung? Was haben wir am Ende eines Studiums von meist zehn Semestern erreicht?
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Das heißt: mit welchem Grade von Verständnis und Fähigkeit zur Erklärung antiker Schriftwerke übergeben wir unsere Schüler der Schule und bezeugen ihnen, daß sie geeignet sind, den Unterricht in den Hauptfächern — oder um modern zu reden, in den 'charakteristischen' Fächern — des Gymnasiums zu leiten? 1. Gestatten Sie mir, Ihnen die Sachlage, wie sie mir erscheint, ganz nackt und klar vorzutragen; ohne Rhetorik und ohne Pathos, unter Verzicht 7 auf alle überraschenden Wendungen und Wirkungen. Ich werde dabei im wesentlichen eigene Erfahrungen verwenden, für die ich garantieren kann. Doch glaube ich sagen zu dürfen, daß diese eigenen nicht etwa singuläre Erfahrungen sind. Sieht man sich den bestehenden Zustand einmal ruhig und objektiv an, so muß das Urteil trübe, ja fast verzweifelt ausfallen. Ich befürchte keinen Widerspruch Von Ihnen, wenn ich sage, daß erstens die sprachlichen Vorkenntnisse im Griechischen wie im Lateinischen auf einem kaum noch zu überbietenden Tiefstand angekommen sind; und daß zweitens die verschiedenen Versuche, mit dem akademischen Unterricht selbst in die Bresche zu springen, wenigstens bisher entweder ganz gescheitert sind oder so geringe Resultate ergeben haben, daß sie den Aufwand an Geld, K r a f t und Zeit nicht lohnen. Um dieses trübe Urteil zu rechtfertigen, muß ich mit der Konstatierung beginnen, daß die jungen Semester und leider auch die älteren in ihrer großen Mehrzahl weder lesen noch übersetzen (ich brauche absichtlich den banalen Ausdruck) können. Das mag zuerst übertrieben klingen; wie ein Urteil der morosa senectus, die die Maßstäbe verloren hat und sich an die eigne Unzulänglichkeit nicht mehr zu erinnern vermag. Aber ein solcher Vorwurf wäre ungerecht. Denn meine Behauptung beruht noch weit mehr als auf der eigenen Erfahrung auf den Aussagen und Klagen gerade der 8 eifrigsten und vor allem der intelligentesten Studenten. | I m vorigen Winter ist mir beispielsweise von dreien meiner Hörer, die in sehr verschiedenen Semestern standen, übereinstimmend erklärt worden, daß sie unter dem dauernden Gefühl der Unsicherheit in sprachlichen Dingen leiden. Sie erklärten einerseits, daß sie infolge der ungenügenden Fundamentierung in den Sprachen von der Arbeit im Seminar und vor allem von den Interp'retationskollegs nicht genügend profitierten — der jüngste von ihnen gestand sogar, daß er in einem Kolleg über altrömische Literatur, das gewisse sprachliche Anforderungen stellte, einfach nicht mitgekommen sei. Sie erklärten andererseits, daß die Masse der Kollegs und daß namentlich die sehr früh einsetzenden Übungen — wir erfassen ja
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jetzt womöglich schon die ersten Semester, was vor 15 bis 20 Jahren noch unerhört war — mit ihren großen Ansprüchen auf sachlichem und methodischem Gebiet ihnen nicht die Zeit ließen, sich die Fundamente selbst zu schaffen. Sie urteilten aber auch einstimmig pessimistisch über die Frage, ob sie denn zu dieser Selbstfundamentierung überhaupt imstande seien. Ich konnte feststellen, daß diese Zustände nicht etwa für Kiel besonders charakteristisch sind, wie denn auch die betreffenden Studierenden aus verschiedenen Gegenden Deutschlands stammten und sehr verschiedenartige Schulen besucht hatten. An den meisten deutschen Universitäten brauchen die klassischphilologischen Doktorarbeiten nicht mehr lateinisch geschrieben zu werden. Da Kiel wenigstens in Preußen meines Wissens damit vorangegangen ist, und | zwar auf meinen Antrag, habe ich in dieser oft be- 9 klagten Aufgabe der allgemeinen Gelehrtensprache einmal einen Fortschritt gesehen; und ich bin noch jetzt der Überzeugung, daß es wirklich ein Fortschritt war. Denn daß eine Dissertation über chirurgische Instrumente im Altertum lateinisch geschrieben wird, damit nur ja die Medizinier sie nicht zu lesen bekommen, ist meines Erachtens grotesk; und auch sonst kann ich es nur beklagen, daß zuweilen gerade wertvolle Arbeiten, besonders wenn sie die Nachbargebiete berühren, ihren Wirkungskreis durch lateinische Abfassung künstlich einschränken. Die Frage, ob das Latein dieser Doktoranden und auch das der meisten von uns selbst gut genug ist, um den Druck zu vertragen, will ich dabei nicht einmal aufwerfen, obwohl auch sie für unser Problem nicht ganz ohne Interesse ist. Aber etwas anderes ist es, wenn wir jetzt in einen, wie mir scheint, immer hoffnungsloser werdenden Kampf um die Erhaltung der lateinischen Seminarbewerbungsarbeit hineingeraten. Die Bestimmung, daß eine solche Arbeit lateinisch geschrieben sein muß, steht in den Statuten, hängt in den Räumen der Seminare aus und wird in den allgemeinen Eröffnungssitzungen, an denen die Mitglieder des Proseminars teilnehmen, besonders eingeschärft. Aber es hat eine Art von passivem Widerstand der Studenten dagegen eingesetzt, der nicht etwa auf bösem Willen beruht, sondern auf dem Gefühl, daß sie das Geforderte nicht leisten können. Auch hier erscheint mir eine eigene Erfahrung so charakteristisch, daß ich | darauf verzichtet habe, Kollegen an anderen Universitäten 'mit inquisi- 10 tiven Fragen zu belästigen', zumal auch hier wieder die betreffenden Studenten uns zum Teil von anderen Universitäten zukamen. Es wurden uns in diesem Semester vier Bewerbungsarbeiten eingereicht, von denen drei inhaltlich allen berechtigten Ansprüchen genügten; aber nur eine von diesen vieren war lateinisch geschrieben. Das Latein dieser Arbeit war zum mindesten anständig — der betreffende, ein fünftes Semester, kam, was ich nicht für gleichgültig halte, von einem badischen Gymnasium.
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Zwei Arbeiten (viertes und sechstes Semester) waren deutsch geschrieben; die vierte endlich (siebentes Semester) gab eine lateinische Probe bei. Sie war eigentlich die interessanteste; denn ihr Verfasser hatte seinen deutschen Text einfach ins Lateinische zu übersetzen versucht, und auch von den beiden anderen deutschen Scribenten entschuldigte sich der eine damit, „er sei mit der 'Übersetzung' nicht fertig geworden". Ich brauche kein Wort hinzuzufügen über die Auffassung vom Gebrauch einer Fremdsprache, die sich in einer solchen Entschuldigung unbewußt verrät. Sie alle werden mit mir die Erfahrung gemacht haben, daß man in jedem Semester von neuem versucht, im Proseminar teilweise, im Seminar durchgängig lateinisch zu diskutieren, und bei griechischen Autoren — wenigstens ist das meine Gewohnheit — mindestens gelegentlich griechisch. Sie alle wissen auch, mit welchem Erfolg. Mir klingen beispiels11 weise noch | aus einem Vergilseminar die monotonen Forbigerus dicit, Conington dicit der Interpreten in den Ohren; und das hilflose Stottern, wenn ich bat, nicht Forbiger zu zitieren, sondern die eigne Auffassung oder wenigstens die Forbigers in eigner Formulierung zu entwickeln. Ich sehe ständig die vezweifelten Gesichter vor mir, die einer lateinischen oder griechischen Auseinandersetzung des Dozenten mit krampfhaften Verzerrungen zu folgen versuchen, und träume zuweilen den Alptraum einer lateinischen Diskussion, bei der die Mitunterredner selten oder nie über die ersten, leise und schamhaft hervorgestammelten Worte hinauskommen. Daß gelegentlich der eine oder andere auch mündlich die Sprachen geschickt und flüssig handhabt, ändert an dem allgemeinen Eindruck nichts. Am bedenklichsten aber stimmen meines Erachtens die außerordentlich trüben Erfahrungen, die wir — und auch das ist nicht vereinzelt — mit der Übersetzung in das Deutsche gemacht haben, als wir solche Übertragungen in Klausur für den Eintritt in die Oberstufe des Proseminars schreiben ließen. Ein großer Teil der Bewerber scheiterte jämmerlich an so einfachen Texten wie einer euripideischen Qfjaig, einer ionischen Elegie oder Tacitus' Agrícola. Analoges erleben wir übrigens ja täglich bei gemeinsamer Lektüre oder im Proseminar. Und dann naht die Stunde des Gerichts. Ich pflege als Klausur im Staatsexamen den von mir übersetzten Text eines lateinischen und eines griechischen Autors zu geben. Umfang und Schwierigkeit bemesse ich 12 der|art, daß sie einem lateinischen Extemporale in der Prima eines guten Gymnasiums der 90er Jahre entsprechen. Ein Stück Mommsen oder Lessing, wie ich es früher tat, vorzulegen, habe ich mir längst abgewöhnt. Die modernen „Übungsbücher" mit ihrem undeutschen Deutsch und den kunstvoll angebrachten Fußangeln habe ich nie benutzt. Für ein solches
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normales Extemporale hatte man früher in der Schule 3 / 4 Stunden zur Verfügung; jetzt gebe ich 1 Und wenn ich das Blatt einfordere, dann finde ich den Kandidaten von zehn Fällen neunmal mit heißem Gesicht vor einer bis zur Unkenntlichkeit durchkorrigierten Kladde. Nach 2 y 2 Stunden pflege ich ihm sein Reinmanuskript, das gewöhnlich wieder eine Reihe von Korrekturen zeigt, mit sanfter Gewalt zu entreißen. Das mündliche Examen beginne ich, wie vermutlich viele von Ihnen, damit, daß ich ein längeres Stück eines Autors vorlege und zunächst sinngemäß lesen lasse. Das Resultat ist hier von zehn Fällen in sieben oder acht das gleiche: der Kandidat kann den Text nicht so lesen, daß man ihn ohne Buch versteht. Er liest nicht Sätze, sondern Wörter, ja zuweilen Silben. Ob Prosa oder Hexameter, macht wenig Unterschied. Aber legt man dann Trimeter, Senare oder gar Chorlieder und Cantica vor, dann gibt es eine Katastrophe; und man hat das Vergnügen, sich vor dem Vorsitzenden Gymnasialdirektor zu genieren, der aus Interesse an der Sache natürlich meist bei unsern Prüfungen assistiert. Wir gehen dann zur sachlichen und sprachlichen | Erklärung des Textes 13 über. Von der sachlichen will ich hier nicht reden — es wäre da manches zu sagen; aber ich möchte bei meinem Thema bleiben, das umfangreich genug ist. Es fällt mir natürlich nicht ein, Sie hier mit einigen Witzen zu regalieren, für deren Authentizität ich leider garantieren kann — quid voveat dulci nutricula malus alumno „was wünscht sich eine Amme größeres als seinen süßen Sprößling" u. ä. Dergleichen Schwupper beweisen nichts. Aber es ist eine Tatsache, daß ein großer Teil der Kandidaten vor einem etwas schwierigeren Gedicht, wie Horat. Epp. 119, glatt versagt. Die Konstruktion laudibus arguitur vini vinosus Homerus wird nicht verstanden; selbst bei quae scribuntur aquae potoribus ist mir das gleiche begegnet; ein Ausdruck wie male sanos macht Schwierigkeiten. Die wenigsten lassen schon beim Lesen bemerken, daß sie die Umrahmung eines Verses mit nocturno-diurno verstanden haben, das witzig zusammengerückte dulces oluere, die ganze bissig-ironische Stimmung des Dichters — gar nicht zu reden von dem sachlichen Hintergrund des Ausdrucks edixi, von der Bedeutung des puteal, von den vorkommenden Personen, Cato, Timagenes usf. Immer wieder konstatiert man die Hilflosigkeit allem gegenüber, was nicht oberflächlichste lexikalische Bedeutung trivialer Vokabeln ist. Wer den Casinaprolog liest, weiß zur Not, was seniores und iuniores auf deutsch heißt; aber was der Römer beim Hören dieser Worte ohne weiteres mitempfindet, danach fragt man vergeblich. Ich kann auf griechische | Beispiele verzichten; die Sache liegt da nicht allzu anders — 14 und selten erkennt einer z . B . im Prolog der Bakchen den Unterschied des fjxoy v. 1 u n d naQeifii v. 5; gibt ä&ävaxov "Hgag ¡xrjxeQ slg ifirjv vßgiv oder äßarov dg nedov Tods xidyoi •&vyaxQog afjxov oder d e n ¿/urpavrjg &eog 20
Jacoby, Kleine Schriften I I
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adäquat wieder. Noch seltener versteht er es, aus den Worten des Textes die Gebärden des Schauspielers, seine Kleidung und das szenische Bild anschaulich zu machen. Immerhin ist nicht zu verkennen, daß im allgemeinen ein innigeres Verhältnis zu griechischen Autoren und griechischem Wesen überhaupt besteht. 2.
Ich habe hier naturgemäß die Mängel und Schattenseiten scharf hervorgehoben. Es fällt mir gar nicht ein zu leugnen, daß man, Gott sei Dank, auch andere Erfahrungen macht. Aber da wir keine Philologen, sondern künftige Lehrer prüfen (ich komme darauf zurück), und da es dabei meines Erachtens durchaus auf die Leistungen des Durchschnitts ankommt, glaube ich allerdings nicht, daß ich meine Erfahrungen, die mir zudem von einer ganzen Reihe Kollegen bestätigt sind, übertrieben habe. Das Resultat eines fünfjährigen Studiums ist in leider der Mehrzahl der Fälle so, daß ganz einfach eine ungenügende Kenntnis der beiden Sprachen zu konstatieren ist, und daß der Examinator sich häufig fragen muß, ob er wirklich das Recht hat, einen Mann, von dessen stetigem Fleiß er über15 zeugt ist, | der ein oft umfangreiches sachliches Wissen besitzt, der auch eine anständige Facharbeit vorgelegt hat, die facultas docendi zu geben. Denn wenn er das Unglück einer lebhaften Phantasie hat, so tritt ihm nur zu leicht beim Unterschreiben des Protokolls das Bild einer Schulklasse vor Augen, die aus dem Munde dieses Mannes die Verse einer Tragödie oder die monumentalen Augustusgedichte Horazens hört; und er fragt sich, wie es möglich sein soll, mit diesem Unterricht das Bildungsziel des Gymnasiums zu erreichen, das nach den neuen „Richtlinien" darin bestehen soll, durch die „Erlernung der antiken Sprachen selbst den Geist zu klären und zu festigen, dem Horizont eine ungeahnte Erweiterung zu geben und gleichzeitig das Verständnis für Geschichte und Wesen der Muttersprache zu vertiefen" oder — wie es auch heißt — „den Geist in strenge Zucht zu nehmen und ihn an eine Arbeitsmethode zu gewöhnen, die er auf andere Stoffe in gleicher Weise anwenden kann." Wie sollen diese Menschen, die dem Wesen gerade der Sprachen, ihren Ausdrucksmöglichkeiten, ihren Feinheiten so fern stehen, imstande sein, ihre Schüler „die geprägte Form der antiken Sprachschöpfungen verstehend und fühlend nacherleben" zu lassen. Wer überzeugt ist, daß der Zustand im allgemeinen so ist, wie ich ihn schilderte, aber selbst wer optimistischer denkt und das zahlenmäßige Verhältnis doch für etwas günstiger hält, als ich es halte, der wird zu16 geben müssen, daß die Dinge einer Krisis sich nahen, | und daß eine Änderung eintreten muß, damit uns nicht in naher Zukunft die Schule ihrer-
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seits erklärt, sie könne die ihr gestellten Aufgaben nicht lösen, weil wir ihr nicht die genügend ausgebildeten Lehrkräfte lieferten — ein Vorwurf, den man schon gelegentlich von Direktoren, die es mit ihrer Aufgabe ernst nehmen, zu hören bekommt. Das würde dann durchaus nicht nur das Gymnasium treffen. Auch da, ja vielleicht noch mehr da, wo man dem Schüler die Werte der Antike nur durch Übersetzungen nahe bringt, wird die gleiche Klage oder Frage sich drohend erheben. Eine Änderung erscheint nun zunächst und theoretisch auf doppeltem Wege möglich: durch eine veränderte Vorbildung in der Schule oder durch eine andersartige Ausbildung auf der Universität. Praktisch kommt freilich meines Erachtens nur der zweite, f ü r uns akademische Lehrer viel unbequemere Weg in Betracht. Das bedarf einer Begründung, so ungern ich auf die Schulfrage eingehe, bei der Leidenschaften aufgeregt werden und Gegensätze hervortreten, denen ich lieber aus dem Wege gegangen wäre. Man würde zunächst vielleicht vorschlagen — aus der Erwägung, daß es nicht Aufgabe der Schule ist, gerade Philologen oder künftige Lehrer heranzubilden (ich füge mich hier natürlich den üblichen Einwänden und sehe vollständig davon ab, daß nach meiner persönlichen Überzeugung eine straff durchgeführte humanistische Bildung die beste Vorbereitung nicht nur für den $ecogr¡nxóg, sondern | auch für den noXaixog und TIQCOCTixdg ßiog ist) — man 17 könnte also zunächst vorschlagen, die Schule solle dem Verlangen nach äußerster Bewegungsfreiheit auf der Oberstufe, zu der hoffnungsvolle Anfänge vorlagen und die von vielen Seiten mit sehr wertvollen Argumenten vertreten wird, energisch und entschlossen entgegenkommen. Es h a t aber keinen Zweck, sich damit aufzuhalten, weil wir uns hier von vornherein an der harten Tatsache stoßen, daß die entgegengesetzte Richtung einen vollständigen Sieg davongetragen hat. Ich habe hier natürlich das System der geschlossenen Schultypen in seiner Begründung und Auswirkung nicht zu kritisieren und tue es um so weniger, als ich überzeugt bin, daß bei ehrlicher Durchführung dieses Systems wir ein Gymnasium bekämen, das in vollem Maße auch die von uns gemachten Ansprüche an die Vorbildung des künftigen Philologen erfüllen würde. Ich sage „auch", weil dieses Resultat akzidentiell ist. Denn wir erheben diese Ansprüche ja nicht, weil wir eine besonders für Philologen passende Vorbildung vom Gymnasium verlangen, sondern weil wir sie um ihrer selbst willen, richtiger um ihrer erzieherischen Wirkung auf die Jugend unserer führenden Schichten und damit um unserer Gesamtkultur willen für wünschenswert erachten. Tatsache ist nun aber, daß wir ein solches Gymnasium nicht bekommen; und darin sehe ich das Zwiespältige, Unklare und-vor allem das Ungerechte in der Reform, wie sie jetzt in den „Richtlinien für die Lehrjpläne 18 20*
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der höheren Schulen Preußens 1 )" — Gott sei Dank, wenigstens nur Preußens — kodifiziert vorliegt. Man hätte erwarten dürfen, daß, nachdem das Prinzip der freien Gestaltung in der Oberstufe verworfen und die geschlossenen Typen des Gymnasiums, Realgymnasiums und der Oberrealschule aufgestellt sind, jeder dieser Typen in der gleichen Reinheit, mit der gleichen Rücksicht auf sein inneres Wesen ausgestaltet worden wäre. Das ist nicht geschehen. Und wenn ich hier, um nicht etwa eine Schuldebatte anzufachen, ganz selbstverständlich darauf verzichte, mich mit den „Richtlinien" über ihre Grundlagen auseinanderzusetzen; wenn ich mich der gefallenen Entscheidung füge und den „wichtigsten Gesichtspunkt" anerkenne — „die Einordnung der höheren Schulen in die Einheitsschule und die Wahrung der deutschen Bildungseinheit in der Mannigfaltigkeit des höheren Schulwesens"; wenn ich damit also selbst das Härteste schweigend herunterschlucke, die Zerlegung in „Kernfächer" (man hat wenigstens nicht mehr den Mut, Religion, Deutsch, Geschichte und Geographie als die „kulturkundlichen" zu bezeichnen) und „charakteristische Fächer" — wenn ich das alles zugebe und tue, dann habe ich um so mehr das Recht und die Pflicht, ganz scharf zu konstatieren, daß auf d e m G y m n a s i u m u n d auf d e m G y m n a s i u m a l l e i n diese „charakteristischen Fächer" nicht zu ihrem Recht kommen. 19 Ich will es noch gar nicht | so schwer nehmen, obwohl schon dies im Grunde genommen gerade mit der uns hier beschäftigenden Frage im engsten Zusammenhange steht, daß bereits in Sexta das Übungsbuch „den Zusammenhang zwischen Gegenwart und römischer Kultur zum Bewußtsein bringen muß"; daß in Untersekunda die Auswahl aus Livius „im Dienste der alten Geschichte" getroffen, in Prima eine Auswahl aus der Aeneis „mit Rückblick auf Ekkehard" gelesen werden soll und ähnliches mehr. Ich will es nicht schwer nehmen; denn man würde mir wahrscheinlich sofort das Grundprinzip des Zusammenarbeitens von Kernund charakteristischen Fächern entgegenhalten, das freilich keineswegs zu der falschen Reihenfolge Gegenwart — Rom berechtigt, die für die Einstellung des Ganzen allerdings nur zu bezeichnend ist, und ebensowenig zu der Magdstellung, die man hier ganz naiv dem Betrieb der Sprachen gegenüber der Geschichte und dem Deutschen zuweist, wobei man den Eindruck dieser Magdstellung noch verschärft, wenn es für Obersekunda heißt „im Dienst und nach Möglichkeit im inneren Zusammenhang". Ich will ganz allein darauf insistieren, daß für die Behandlung der „charakteristischen Fächer" des Gymnasiums eigentlich nur eines charakteristisch ist, — wie wenig man ihnen gestattet hat, „ihre Arbeit ... *) Beilage zum „Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen" 1925; Heft 8.
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nach der Eigengesetzlichkeit ihrer wissenschaftlichen Fachaufgabe zu t u n " , in einem wie schreienden Widerspruch die einzelnen Vorschriften zu dem schönen Satze der Einleitung stehen, daß es Aufgabe dieser „charakteristischen" Fächer sei, | „die geprägte Form der großen antiken 20 Sprachschöpfungen verstehend und fühlend nachzuerleben". Was gesagt werden muß, ist dieses: wir vermissen in den „Richtlinien" an der Spitze den einfachen aber ehrlichen Satz, daß der Schüler von Sexta bis Quarta zunächst einmal in der ihm fremden schweren Sprache mit derselben Schärfe und bis zur äußersten Anspannung seiner geistigen Kräfte exerziert werden muß, mit der man in besseren Zeiten den 18- bis 21jährigen auf dem Kasernenhof körperlich drillte. Wieviel Seufzer und Flüche wurden ausgestoßen, wenn man auf gesatteltem Pferde ohne Bügel und Zügel durch die Arena gehetzt wurde; und wie segnete man diese Schärfe, wenn man mit voller Beherrschung des Gaules hinter dem ausbildenden Leutnant her zum erstenmal im Gelände ritt und auf Kommando sein unwilliges Tier aus der Reihe der übrigen zwang, um selbständig irgendeine Aufgabe zu erfüllen, rfjg d' ägerrjg idgcora &eol jtgoTtdgof&ev eßr/xav, sagte der alte Hesiod, der freilich nichts von Kulturkunde wußte; und o firj dagelg äv&gamog ov Tcaideverai stand als eines der ersten Beispiele in unserer Grammatik. Der Lehrer, die uns mit unendlich vielen Vokabeln und mit energischem Studium des alten dicken BUTTMANN und ELLEN DTSEYFFERT das Fell schunden, ohne sich zunächst viel um Sprachwissenschaft und um Kulturzusammenhänge und um die sonstigen Ornamente zu kümmern, hinter denen man heute den Mangel des Unterbaus und die Schwäche der Mauern versteckt — dieser Lehrer gedenke ich und | ge- 21 denken viele noch heute mit unverminderter Dankbarkeit, weil sie uns nichts ersparten, um uns zum „Können" zu bringen, zum „Denkenkönnen" und zum „Arbeiten-können", um uns dann aus dieser harten, scharfen Denk- und Arbeitszucht auf die grüne Weide der Lektüre zu führen. Es war freilich eine alte mitteldeutsche Klosterschule, die von ihren Lehrern etwas verlangte und ihren Schülern etwas zutraute, die Uns in Tertia den großen Pape und den großen Georges vorwarf, und nicht erst in Untersekunda „die ersten Versuche in häuslicher Lektürevorbereitung unter Anleitung des Lehrers (!) und nach Einführung in den Gebrauch des Lexikons" machte. Es ist selbstverständlich, daß bei dem bisherigen und noch mehr bei dem jetzt zu erwartenden Betrieb eine genügende sprachliche Fundamentierung nicht erreicht wird; und es ist nur konsequent, daß beim Mangel dieser Fundamentierung die Lektüre, wenn sie endlich einsetzt, sich keine großen Ziele steckt. Ich verzichte auch hier auf Einzelheiten und halte mich an den für uns vor allem wesentlichen Punkt: die „Richtlinien" machen einen ganz ungeheuerlichen Gebrauch von einem Mittel, das man
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keiner anderen Schulgattung und dem Betrieb keiner modernen Fremdsprache zuzumuten wagt, weil schon seine beschränkte Anwendung in Wahrheit den Wert des ganzen Sprachunterrichts mit einem Schlage aufhebt — von der gedruckten Übersetzung in der Hand des Schülers. Es ist 22 j a gewiß ganz selbstverständlich, daß eine Schule, die die Bekannt|schaft mit der Antike so intensiv in den Dienst der sogenannten Kernfächer Deutsch und Geschichte stellt, die ihre Schüler von Homer, der Tragödie und Piaton, von Cato, Cicero, Vergil und Horaz über Minucius Felix, Ekkehard und Notker, über das mittelalterliche und Renaissancelatein bis zu einer „neulateinischen Abhandlung" führen will, daß eine solche Schule bei weitem nicht alles lesen lassen kann, was für diesen ihren Hauptzweck erforderlich ist. Aber das rechtfertigt in keiner Weise den Ausweg, den sie aus dieser Verlegenheit findet. Was gegen ihn spricht, hat noch vor kurzem REGENBOGEN auf der Berliner Tagung „Das Gymnasium" ausgesprochen; und er hat den richtigen Weg gewiesen: „Handelt es sich um Verbindungsstücke, die beim Vorlegen einer Auswahl gegeben werden sollen, so ziehe ich Improvisation des Lehrers an der Hand des Originals dem Vorlesen einer Übersetzung bei weitem vor; die Stimmung des Augenblicks in Umschreibung, Gebärde usw. geht in solche Improvisationen ein und rückt sie dem Original näher als jede gedruckte Übersetzung ihm ist." Die „Richtlinien" denken anders: sie verlangen, daß in der Untertertia aus Cäsar solche Stücke ausgewählt werden sollen, die „möglichst für diese Altersstufe und das erworbene sprachliche Können geeignet sind." Aber da das Schulmeisterherz offenbar auf die Rheinbrücke nicht verzichten kann, so lassen sie sogleich diesen Passus „nach Vorübersetzung des Lehrers oder mit Hilfe einer deutschen Übersetzung" 23 lesen. Und nachdem sie dem | „erworbenen sprachlichen Können" dieses Armutszeugnis ausgestellt haben, halten sie es gleich darauf für möglich, schon von Obertertia an „die Nachübersetzung in steigendem Maße durch sinnvolles Lesen zu ersetzen". Ein beneidenswerter Glaube, gegen dessen Berechtigung freilich nicht nur unsere Erfahrungen mit gewesenen Oberprimanern skeptisch machen, sondern mehr noch die Voraussetzung der „Richtlinien" selbst, „daß jeder Schüler die Orestie in Übersetzung und König Oidipus und Antigone im Original oder Übersetzung kennenlernen" müsse. Jedes Wort der Kritik würde die niederschmetternde Wirkung dieses Satzes nur abschwächen. Ich habe hier nicht zu fragen, ob ein Gymnasium, das seine „charakteristischen Fächer" so behandelt, überhaupt noch eine humanistische Bildungsanstalt ist und nicht vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes ein monstrum horrendum infandum ingens, cui lumen ademptum; ich habe nur zu fragen, ob wir von ihm in absehbarer Zeit Schüler erwarten können, die Griechisch und Latein verstehen.
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Die Antwort darauf kann nur unbedingt verneinend ausfallen — und eben deshalb, weil ich unserem Bequemlichkeitsbedürfnis diese Hoffnung nehmen mußte, bin ich überhaupt so ausführlich auf die „Richtlinien" eingegangen. Auf dem neuen Gymnasium kommen die Sprachen nicht zu ihrem Recht; es erleichtert uns unsere Aufgabe nicht, sondern erschwert sie maßlos. Denn diese Schule gibt uns junge Menschen, deren Arbeitskraft nicht entwickelt und deren geistige | Selbständigkeit gebrochen ist; 24 die noch viel mehr, als bisher schon, auch auf der Universität bei jeder ihnen gestellten Aufgabe nach der Hilfe und der „Vorübersetzung" des Lehrers und der „Einführung in den Gebrauch des Lexikons" rufen werden; die, weil sie immer „im mündlichen Arbeitsunterricht" festgehalten sind, nicht mehr allein, sondern nur noch in der Truppe reiten können, die den Ankauf eines Textes davon abhängig machen, ob zufällig Kolleg darüber gelesen wird oder sie in das Seminar aufgenommen sind, weil der Unterricht in den „charakteristischen Fächern" immer nur in ödester Weise „nützlich" gemacht ist für außerhalb liegende Zwecke, aus der Todesangst heraus, daß die beiden alten Sprachen durch sich selbst wirken könnten, sei es in den Unterstufen als strenge Exerziermeister des Verstandes, sei es in Sekunda und Prima als Vermittler höchster ethischer und ästhetischer Werte und — sagen wir doch, was wir selbst empfunden haben — zwecklos als reiner Genuß an höchsten Hervorbringungen des menschlichen Geistes. Es ist ein geringer Trost für uns, daß der Schulbetrieb des letzten Jahrzehntes nicht nur das humanistische Gymnasium so ergreift, sondern, wie die Klagen der neuphilologischen Kollegen beweisen, auch in den neuen Sprachen die gleichen Früchte zeitigt — als ein Zeichen, daß nicht einzelnes hier verkehrt ist, sondern das ganze System des aus verschiedenen Behältern sich ergießenden, aber überall gleich ungesunden, der wirklichen geistigen Nährstoffe entbehrenden Kulturmansches. 3.
Es bleibt also die Universität und die Änderung unseres Unterrichtes. Wenn ich behaupte, daß es keinen andern Weg gibt, so sage ich wahrhaftig nichts Neues. J a , ich hätte mir im Grunde die ganze Auseinandersetzung mit den „Richtlinien" sparen können, wenn nicht unsere schnell lebende Zeit so leicht vergäße, wie es vor kaum einem Menschenalter ausgesehen hat. Im Jahre 1892 hielt ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF seine Festrede bei der Göttinger Akademischen Preisverteilung über „Philologie und Schulreform". Der prinzipielle Standpunkt, den er dabei einnahm, kann für uns allerdings nicht mehr bindend sein, um so weniger als er nicht konsequent ist:
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„und wir Philologen? Hängt unser Leben und unsere Existenzberechtigung etwa an der Ausbildung der Lehrer? Uns kann es nur recht sein, wenn es mit dieser Mißdeutung endlich ein Ende hat . . . Uns hat der Staat angestellt, Philologie zu lehren: wie wir das tun, darüber legen wir vor keinem irdischen Tribunal Rechenschaft ab." Das ist juristisch, staatsrechtlich falsch; das darf auch nicht sagen, wer es als ein Unglück für Deutschlands Zukunft ansieht, wenn „die beiden Sprachen, denen Europa seine Kultur verdankt, aus dem obligatorischen Jugendunterricht verschwinden" würden. Wir können gerade heute den Philologen und den Lehrerbildner nicht als zwei verschiedene 26 Dinge be|trachten. Je intensiver wir in dem Jammer unseres Vaterlandes die Geisteskraft spendende Wirkung des Humanismus empfinden — und die Renaissance seiner geistigen Kraft ist da erste, was Deutschland braucht —, um so entschiedener müssen wir es ablehnen, auch nur argumenti causa die Altertumswissenschaft auf ein Niveau mit der semitischen oder indischen Philologie zu stellen. Gewiß stehen wir als Wissenschaftler nebeneinander — das ist ja eine Banalität —, aber die Natur des Stoffes, an dem wir arbeiten, schafft einen Wertunterschied. Wir können nicht, wie es WlLAMOWlTZ tat, die Frage ausscheiden, „ob die Philologie an der Schule hängt"; wir können und dürfen auch nicht sagen, daß wir „keine Schulamtskandidaten unter unseren Hörern kennen". Wir müssen das Gegenteil sagen, wie es jetzt die Denkschrift der philosophischen Fakultät Berlin über „Die Ausbildung der höheren Lehrer an der Universität" vom 5. März 1925 2 ) getan hat, die klar ausspricht, daß „wohl bei fast allen Professoren die Einsicht sich durchgesetzt hat, daß im Lehrbetrieb nicht nur dem reinen Forschungsinteresse, sondern auch den Bedürfnissen der Berufsausbildung Rechnung getragen werden muß". Wir müssen diesen Satz unterschreiben, auch wenn wir uns weiter bewußt sind, daß „der wissenschaftliche Unterricht mit der Abrichtung (!) für irgendeinen Beruf" nicht identisch ist; ja auch wenn wir die Gefahren erkennen, die dem 27 wissenschaftlichen | Unterricht von einer zu weit gehenden Rücksicht auf den künftigen Beruf unserer Hörer drohen, und von einer „Pädagogisierung" des Universitätsunterichtes so wenig wissen wollen wie die Denkschrift. Aber die Rücksicht braucht eben nicht zu weit zu gehen; und die Furcht vor jenen Folgen wird temperiert werden müssen durch den Gedanken, daß wenigstens eine der wirkenden Ursachen für Deutschlands Unglück die zu geringe Rücksichtnahme der Wissenschaft auf die ethische, die erzieherische Seite unseres Wissenschaftsbetriebes gewesen ist. Wir hätten wohl besser getan, wenn wir unsere Aufgabe nicht so aus2
) Jetzt als Broschüre bei Quelle & Meyer, Leipzig 1925, erschienen. Ich lernte sie erst nach Niederschrift meiner Ausführungen kennen.
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schließlich darin gesehen hätten, Philologen zu bilden, sondern mehr daran gedacht hätten, daß diese Philologen ihr Leben lang Bildner der deutschen Jugend sein sollten. Aber nicht dabei will ich verweilen, was den Unterschied der Stimmung in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts und der schnell ansteigenden Überzeugung der beiden letzten Jahrzehnte macht, daß nämlich der humanistische Gedanke viel notwendiger noch als die Schulen, die Universitäten beherrschen muß. Nein, ich will darauf verweisen, daß schon für WlLAMOWlTZ das Problem, mit dem wir uns hier beschäftigen, wenigstens äußerer Ausgangspunkt war, und will einfach wiederholen, wie er einleitend die Frage beantwortet hat, die wir uns heute wieder stellen, und welche Konsequenzen er daraus zog: „Welche Kenntnisse im Griechischen und Lateinischen bringen die Studenten noch von der Schule | mit? Sie bringen das Reife- 28 zeugnis mit; offiziell sind ihnen also die Kenntnisse verbrieft, welche reglementarisch für die Reife gefordert sind. Aber sie besitzen diese Kenntnisse in Wirklichkeit durchaus nicht mehr. Die Fähigkeit des Verständnisses beider Sprachen ist seit Jahren stetig heruntergegangen" — das war vor 35 Jahren — „Der Primaner, der angeblich den Tacitus und Sophokles mit Verständnis gelesen hat" — wir müssen nach den Richtlinien freilich hinzufügen „in der Übersetzung" —, „tritt unmittelbar in unser Proseminar herüber und überzeugt sich bald, daß der ganze Zuschnitt der Übungen von der Voraussetzung ausgeht, daß er jeden noch so leichten Schriftsteller ... zunächst nicht versteht." Hier ist nun WlLAMOWlTZ seiner Zeit gründlich vorausgeeilt. Vielleicht — ich glaube es freilich nicht — gehen wir jetzt bei unseren Proseminarübungen von dieser Voraussetzung aus; 1892 tat man es nicht und 1900 auch noch nicht. Aber bei WlLAMOWlTZ geht eben die Zustandsschilderung bereits in Reformideen über, die er selbst auch wirklich durchgeführt hat: „Eben mit Rücksicht auf die tatsächlich vorhandenen Vorkenntnisse habe ich den Übungen allmählich diesen Zuschnitt gegeben; und erst seit ich dahin gekommen bin, keinem Ankömmling keine Unwissenheit irgend zu verübeln, sondern ruhig die Endungen des Plusquamperfektums, die Bedingungssätze und die Zäsuren des Hexameters zu erklären, machen mir | die Stunden wieder Freude, und die 29 tätige Teilnahme des Studierenden ist seitdem unzweifelhaft gewachsen. Ich zweifle nicht, daß meine Kollegen dasselbe bezeugen können . . . (und) daß (meine Schüler) zunächst den Glauben ver-
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lieren mußten, sie wüßten etwas Ordentliches, war ja nicht ihre Schuld, auch nicht ihrer Lehrer oder Schulen, überhaupt keines einzelnen Menschen Schuld. Die Verhältnisse sind eben stärker als die Menschen." WlLAMOWlTZ war sich vollkommen klar, daß „schwierige organisatorische Umgestaltungen nötig werden" würden. Wie er sie sich denkt, hat er nicht gesagt; denn daß die lateinischen Matrikeln und Diplome wegfallen müssen — von den Dissertationen spricht er nicht —, bezeichnet er selbst als Bagatellen; und nur unter der Voraussetzung, daß Latein und Griechisch überhaupt von den Schulen verschwinden würden, fällt die Bemerkung, daß wir dann eben selbst, so gut wie die Semitisten und Indologen, „die elementare Grammatik lehren müßten". Nun, meine Herren, hier liegt der Unterschied unserer Zeit gegenüber den 90er Jahren. Der starke Ton der Zuversicht, mit dem WlLAMOWlTZ wie spielend diesen Gedanken hinwarf, ist verklungen. Wir glauben nicht mehr, daß die Mehrzahl unserer Studenten „das staatliche Examen bequem und sicher besteht"; wir wissen, daß es anders ist. Auch wenn Sie meine eingangs gegebene Zustandsschilderung für zu trübe halten, 30 werden | Sie sich von den ganz einfachen, unwidersprechlichen Tatsachen überzeugen lassen müssen: WlLAMOWlTZ hat nur vom Proseminar gesprochen, das er elementarer gestaltet hat; jetzt haben wir an den meisten unserer Universitäten bereits die Vorbauten vor dem Proseminar — mag man sie Kurse, Stilübungen oder Unterstufe des Proseminars oder wie sonst immer nennen. Der Student tritt nur noch selten vom Gymnasium „unmittelbar in unser Proseminar"; meist muß er zunächst eine Reihe von Sprachkursen durchmachen, um dann erst — gewöhnlich nach einer eben auf seine Sprachkenntnis sich erstreckenden Prüfung — in die obere Stufe, d. h. in das eigentliche, das frühere Proseminar aufgenommen zu werden. Der Unterschied ist augenfällig: W i r h a b e n b e r e i t s d e n E l e m e n t a r u n t e r r i c h t auf d i e U n i v e r s i t ä t ü b e r n o m m e n . Und wir können jetzt nur noch fragen: in welcher Form ist das geschehen? Was hat es genützt? Haben wir das Ziel erreicht, daß der Proseminarist Griechisch und Latein versteht? Und wenn nicht — und es ist nicht der Fall —, was kann geschehen, um es zu erreichen? Die Antwort auf diese Fragen kann kurz sein, obwohl ich leider überzeugt bin, daß Ihr bisher vielleicht verhaltener Widerspruch dabei scharf ausbrechen wird. Aber nuda Veritas et praevalebit. 31 Obwohl die Verhältnisse sich seit den 90er Jahren | ganz wesentlich verändert haben, obwohl die tatsächlich vorhandenen sprachlichen Vor-
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kenntnisse unserer Studenten seit der ersten Schulreform wirklich in dem Maße zurückgegangen sind, wie es von den damals als „Schwarzsehern" Gescholtenen vorausgesagt wurde, obwohl auch die meisten der damals prophezeiten schädlichen Nebenwirkungen eingetreten sind, ist es zu eigentlichen organisatorischen Änderungen unseres Unterrichtes nicht gekommen. Wir haben uns in der Hauptsache — von einer Ausnahme, die aber auch nicht prinzipiell ist, soll gleich noch die Rede sein — mit dem eben genannten mechanischen Vorbau der Elementarkurse oder Unterstufe begnügt; mechanisch schon deshalb, weil sie meist freiwillig sind und nur an wenigen größeren Universitäten, die sich ihrer Studentenzahl nach das leisten können (vielleicht nur noch in Berlin; in Kiel mußten wir schließlich den Zwang aufheben; und wenigstens von einer anderen Universität weiß ich das gleiche), als Vorbedingung für die Aufnahme ins Proseminar verlangt werden. Und auch hier kann die Vorbedingung von allen denen umgangen werden, die erst in späteren Semestern nach Berlin kommen, wenn sie nur in der Prüfung für die Oberstufe eine anständige Übersetzung aus den Fremdsprachen liefern. Die Sprachkurse, wie sie jetzt eingerichtet sind, bestehen im allgemeinen in kursorischer Lektüre und in grammatischen Übungen, die sich ebenfalls vielfach an einen bestimmten Text anschließen. Aus schüchternen | An- 32 fangen — ich erinnere mich, wie sie etwa im Jahre 1898 als Neuerung im Berliner Institut mit einer Wochenstunde eingeführt und von einer Reihe älterer Studenten ohne Freude begrüßt wurden —, haben sie sich wenigstens da, wo die genügenden Lehr- und Hilfskräfte vorhanden sind, zu einem umfangreichen und sehr ernst genommenen Teile des Stundenplans entwickelt. Es sind jetzt (wieder in Berlin) in der Unterstufe wöchentlich je drei Stunden Griechisch und Latein, wozu noch ein Interpretationskurs und archäologische Übungen kommen, so daß die Anfänger von vornherein mit neun obligatorischen Wochenstunden und den zugehörigen schriftlichen Hausarbeiten belastet sind. Und selbst in der Oberstufe des Proseminars gibt es noch griechische Stilübungen und exercitia Latina von je einer Stunde. An den meisten mittleren und kleineren Universitäten freilich müssen sie sich auch jetzt noch oder wieder (seitdem die etatmäßigen Assistenten der philologischen Seminare gestrichen sind) mit zwei Wochenstunden begnügen.3) | 3)
So hatte Göttingen bisher zwei Stunden 'Stilübungen', abwechselnd je ein Semester Griechisch und Latein. „Grundsätzlich eingeführt, aber im laufenden Sommersemester 1925 noch ausgesetzt (mit Rücksicht auf die starke Belastung des Assistenten, der, obwohl Privatdozent, auch noch die Kurse für Realabiturienten halten muß) sind drei weitere Wochenstunden grammatische Übungen." (Mitteilung von H E R M . F R A N K E L . ) Ebenso werden in Leipzig die „Stilübungen" wöchentlich zweistündig vom Assistenten abgehalten (Mitteilung von M A U E R S -
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Aber trotz der erhöhten Wichtigkeit, die wir wohl alle diesen Kursen im Laufe der Jahre zugebilligt haben, sind ihre Resultate nicht sehr bedeutend. Das Faktum ist meines Erachtens unbestreitbar; über die Gründe der geringen Erfolge kann man verschiedener Meinung sein. Soweit ich sehe — und ich stütze mich dabei neben eigenen Beobachtungen vor allem wieder auf Urteile intelligenter und interessierter Studenten, d. h. solcher, die sich ihrer sprachlichen Unzulänglichkeit bewußt sind und durchaus wünschen, aus diesem unerfreulichen Zustand herauszukommen — herrscht unter den Studenten eine nach wenigen Stunden unverhältnismäßig schnell sich steigernde Abneigung gegen die Kurse, wie das übrigens in gleicher Weise schon in meiner Studienzeit der Fall war. Auch die Gründe, die für diese Abneigung angeführt werden, sind so ziemlich die gleichen. Zuerst beschweren sie sich immer wieder darüber, daß der Unterricht meist in den Händen von Assistenten oder ganz jungen Dozenten liegt. Diese Beschwerde hat ihre Grundlage vielleicht nur in den oft sehr äußerlichen Maßstäben des studentischen Urteils, die im Ordinarius etwas vom 34 Privatdozenten Wesensverschiedenes sehen und aus der Zu| Weisung der Kurse ausschließlich an diese auf eine Minderwertigkeit oder wenigstens auf eine mindere Bedeutung der Kurse für ihr Studium schließen. Bei meinen Gewährsmännern fällt aber dieser subjektive Grund fort. Es wirkt hier mehr das objektiv richtige Empfinden, daß die willigen und gescheuten jungen Dozenten, deren Frische und Unkompliziertheit im Kolleg sie sehr wohl zu schätzen wissen, doch noch nicht so weit über den Dingen stehen, wie es gerade für diese Art von Verkehr mit den Studenten nötig ist. Merkwürdigerweise ist ja auf unsern Universitäten der Aberglaube, unter dem ich selbst gelitten habe, immer noch nicht ausgestorben, daß der Privatdozent nicht ins Seminar, sondern ins Proseminar und in den Unterricht der jüngeren Semester gehöre. Verständige Gymnasialdirektoren sind da anderer Meinung und geben die Sexta gern neben der Prima dem erfahrensten Lateinlehrer. Davon, daß es ein Unrecht gegen die jungen Dozenten ist, die mit ihren Kollegs und wissenschaftlichen Arbeiten, heute leider auch vielfach noch mit geldverdienender Nebenarbeit, meist bis über ihre Kraft beschäftigt sind, sie vier bis sechs Stunden in der Woche mit den Anfängerübungen und den daran hängenden Korrekturen BERGER). An keiner der beiden Universitäten ist der Besuch zur Zeit Vorbedingung für die Aufnahme ins Proseminar. In Göttingen 'soll die zwangsweise Verbindung mit dem Proseminar w i e d e r e i n g e f ü h r t werden'; in Leipzig befreien „regelmäßiger Besuch der griechischen Stilübungen und gute Leistungen bei den beiden Semesterabschlußarbeiten von der griechischen Klausur im Staatsexamen", falls dieses „in absehbarer Zeit" den Übungen folgt. Eine vollständige Sammlung der Bestimmungen an den deutschen Universitäten habe ich, als für meinen Zweck überflüssig, nicht vorgenommen.
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zu belasten, will ich hier gar nicht reden; dagegen müssen sie sich selbst wehren. Wesentlich ist dagegen die ganz verständliche Tatsache, daß der vom Assistenten geleitete Unterricht leicht aus genauem, aber flottem Lesen, das sachlich und sprachlich doch wirklich elementar bleibt, in eine minutiöse | stilistische Zerfaserung des Textes, oder bei jungen Dozenten 35 — was noch schlimmer ist — über den elementaren Charakter hinaus in eine wissenschaftlich-philologische Erörterung gerät, die den Studenten naturgemäß interessanter ist und die ihnen selbst mit vollem Recht näher liegt. In Idealkonkurrenz mit diesem ersten tritt der zweite Einwand, der mir immer wieder begegnet ist. Neben den notwendigerweise schulmäßig anmutenden Kursen (und Sie alle wissen, daß gerade junge Semester dagegen besonders empfindlich sind) stehen die Kollegs mit ihrem interessanteren Inhalt und der neuen Art der Behandlung; stehen ferner, überall da, wo nicht der Zwang die jungen Semester fernhält, die wissenschaftlichen Übungen, die schon methodisch anziehend wirken und die vor allem von den jungen Studenten viel Zeit für die Vorbereitung beanspruchen. Da ist es schwer, wo nicht eine rigorose Kontrolle obwaltet, die Konsequenz zu vermeiden: der Student beginnt, mit gutem oder schlechtem Gewissen, meist mit schlechtem, die elementaren Übungen zu schwänzen. Das Korrelat dazu, das ich wenigstens in Kiel oft beobachtet habe, ist dann, daß man in den zwei Semestern vor dem Staatsexamen, wenn der Gedanke an die Klausurarbeit erwacht, reumütig oder angstvoll sich eifrig an den Anfängerübungen zu beteiligen beginnt und dadurch den Jüngeren Luft und Licht fortnimmt. Diese beiden Einwände lassen sich einigermaßen beseitigen, wenn man, wie wir es in Kiel seit einigen | Semestern tun, an Stelle der Kurse 36 E l e m e n t a r - o d e r A n f ä n g e r k o l l e g s setzt, die von sämtlichen Dozenten in semesterweisem Wechsel gehalten werden. Sie legen einen oder eine Reihe von Texten zugrunde — bisher Thukydides, Sallust, hellenistische Prosa, römische Prosaiker — und verknüpfen grundlegende sachliche Belehrung mit grammatischer und sprachlicher Übung. Es wird neben dem sinnvollen Lesen und der genauen Übersetzung, an die die sachliche Belehrung anknüpft (oft nur durch Verweis, wo die eigne Arbeit anzusetzen hat; immer aber so, daß ein wirkliches Eindringen in die griechische und römische Welt versucht wird), lateinisch gesprochen, der lateinische Text ins Griechische, der griechische ins Lateinische transponiert, Thukydides etwa in isokrateischer Prosa nacherzählt, Sallust in livianischer. Alles soweit die Zeit reicht. Denn obwohl die Studenten gern in diese Kollegs kommen, teilen diese doch mit den Kursen den oder die eigentlichen Grundfehler des ganzen Betriebs: die vier Semesterstunden sind bei dem jetzigen Stand der Kenntnisse zu wenig; und auch hier wird die Hinleitung auf die sprachliche Fundamentierung beeinträchtigt, wenn
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nicht aufgehoben, durch die Konkurrenz der anderen Kollegs, die nun einmal ganz besonders gefährlich ist. Denn wenn die elementaren Übungen von der Voraussetzung ausgehen und in dem Studenten die Überzeugung wecken sollen, daß er nicht einmal die Grundlage seines Studiums kennt, sind selbst sehr anspruchsvolle Kollegs geeignet, das Verantwortungs37 gefühl des | Studenten gegen sich selbst wieder einzuschläfern. Wenn er auch nicht alles versteht, versteht er doch manches, bei sehr geschickten Dozenten vielleicht vieles; und das führt ihn wieder dazu, die elementaren Kollegs für überflüssig und unter seiner Würde anzusehen. 4. Damit sind wir zu dem Resultat gekommen, daß gegenüber der einmal feststehenden, nicht neuen, aber allerdings in den drei letzten Jahrzehnten rapide gestiegenen Unkenntnis der Sprachen auch die bisherigen Hilfsmaßnahmen der Universitäten versagt haben; sei es, daß man sie doch noch nicht ernst genug genommen hat, sei es, daß sie von vornherein und ihrem Wesen nach ungenügend waren. In jedem Fall müssen wir uns jetzt einmal sehr ernsthaft die Frage vorlegen, ob wir nicht fester zupacken müssen, ob nicht wirkliche organisatorische Änderungen, wie sie WlLAMOWlTZ prophezeite, nötig sind, d. h. ob nicht die herrschende Form des Unterrichts überhaupt eine gewisse Umformung verlangt. Das ist nun eine Überzeugung, die ich seit meiner Studentenzeit hege, und die sich mir mit den Jahren immer mehr befestigt hat, der ich aber erst jetzt öffentlichen Ausdruck gebe, weil die Zustände sich meines Erachtens inzwischen so gestaltet haben, daß wir uns einer akuten Krisis nähern oder sie bereits erreicht haben. Die schon erwähnten Beschwerden ernst zu | 38 nehmender Schulmänner über das Material, das wir ihnen liefern, mehren sich und sind ein sehr bedenkliches Warnungszeichen. Ich könnte mir die Umformung des herrschenden Systems nach zwei Richtungen hin denken. Einmal mehr äußerlich: ich gebe zu erwägen, will das aber heute nicht näher ausführen, da es weiter greift als das von mir abgegrenzte Problem, ob angesichts des im heutigen Staatsexamen verlangten Kreises von Fächern und der praktisch zu berücksichtigenden und bis zu einem gewissen Grade auch wünschenswerten Fülle der möglichen Kombinationen die Semesterform des Universitätsunterrichtes nicht vielleicht überaltert ist und einer anderen Gestaltung Platz machen müßte, die dafür sorgt, daß aus der Vielheit nicht Verwirrung wird, und die es vor allem ermöglicht, den stark gewachsenen Ansprüchen von Fächern Rechnung zu tragen, die früher vielfach mit der klassischen Philologie kombiniert wurden, jetzt aus der rein äußerlichen Unmöglich-
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keit, einen vernünftigen Stundenplan aufzustellen, sich leider immer mehr von ihr lösen. Ich meine vor allem Germanistik und Romanistik, in zweiter Linie Geschichte, deren Studenten in unsern Kollegs immer seltener werden4). Oder aber eine mehr innerliche und | auf unser eignes Studium 39 innerhalb der Semesterform beschränkte Reorganisation: Verlangt nicht der allmählich doch sehr stark umgewandelte Betrieb des Unterrichts mit der Trennung in Kollegs und Übungen, die freilich ganz neuerdings sich wieder zu verwischen anfängt, aber nur durch ein entschiedenes Weitergehen in der bisherigen Richtung des Überwiegens des Übungssystems — verlangt dieser Betrieb nicht schon seit langem, verlangt er nicht jetzt bei der veränderten Vorbildung unserer Studierenden zwingend eine gewisse Rationalisierung? Wird es nicht nötig sein, ohne daß, wie bei Medizinern und Juristen, feste Studienpläne vorgeschrieben werden, doch der Freiheit sowohl der Dozenten wie der Studenten gewisse Schranken zu setzen und allgemeine Richtlinien für den Unterrichtsbetrieb aufzustellen? Diese Richtlinien würden ja wohl bei der natürlichen Dreiteilung des Studentenmaterials 5 ), die immer bestand und bei dem jetzigen Stand der Vorbildung nur weitaus schärfer als früher in die Erscheinung tritt und den Unterricht immer stärker und nicht zu seinem Vorteil | beeinflußt, dahin 40 gehen, daß man die drei großen Gruppen der Anfänger, der mittleren Semester und der Fortgeschrittenen in ihren sehr verschiedenen Bedürfnissen durch Abgrenzung der ihnen angemessenen Formen des Unterrichts zweckmäßiger erfaßt, als es unser jetziger Betrieb tut. Sollten wir also nicht Regeln aufstellen, die gewiß so elastisch wie irgendmöglich sein müssen, aber doch insoweit grundfest sind, daß zunächst einmal d i e A n f ä n g e r i n d e n E l e m e n t e n für s i c h ausgebildet werden, damit sie nicht wie jetzt sogleich in die Kollegs stürmen und hier entweder nicht mitkommen oder, je nach dem Temperament des Dozenten, hemmend und lähmend wirken oder (was vielleicht das Schlimmste ist; ob auch das Seltenste?) das Niveau der Kollegs herunterziehen? Ich würde mich, 4
) Ich streife damit nur das m. E. für die Lehrerausbildung der klassischen Philologen gerade jetzt, wo die Zahl der Gymnasien sich vermindert, besonders bedeutsame Problem, von dem die Berliner Denkschrift S. 21 f. als von der „Herstellung einer inneren Verbindung in der gewählten Fächergruppe", den „Querverbindungen der Fächer" spricht. Die Frage erfordert eine eigene Behandlung, die mir sehr dringlich zu sein scheint. 5 ) In einer solchen Stufengliederung sieht jetzt die Berliner Denkschrift (S. 11) unter Verweis auf SPRANGER, Wandlungen im Wesen der Universität seit 100 Jahren, Leipzig 1913, 17, auch Abhilfe gegen den Mißstand, den sie als „Stoffdifferenz zwischen Universität und Schule" bezeichnet. Sie bleibt freilich gerade hier auch im Ausdruck etwas matt (was mir charakteristisch zu sein scheint) und ist nur darin klar, daß sie jeden Zwang und alle 'Absperrungsmaßregeln' ablehnt.
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wenn die Zeit nicht fehlte, über diesen, wie mir scheint, sehr unerfreulichen Punkt gern ausführlicher ausgesprochen haben. So muß ich mich auf das beschränken, was ich für unumgänglich halte: die beiden ersten Semester müssen ausschließlich und in ganz anderem Umfang als bisher in den Sprachen, und n u r in den Sprachen ausgebildet werden. Man muß zwanzig Wochenstunden mit ihnen lesen und Grammatik treiben; man muß, horribile dictu, sie Vokabeln lernen lassen, so unerfreulich es ist, daß das im 19. und 20. statt vom 9. bis 12. Lebensjahr geschieht. Es muß 'gepaukt' werden, das hilft nichts, ist aber auch nicht schlimm. Denn daß Pauken nicht mit Langeweile identisch ist, daß es nicht erbitternd zu wirken 41 braucht, | wird mir jeder geschickte Lehrer bestätigen. Dabei wird sich dann auch feststellen lassen, ob überhaupt die normale Begabung für Sprachen da ist. Wo sie fehlt, sondern wir gleich aus und empfehlen ein anderes Studium, wie wir das jetzt zuweilen viel zu spät tun, wenn wir uns überhaupt dazu aufraffen. Dagegen müßten die mittleren Semester, vom dritten bis fünften (vielleicht noch bis zum sechsten), vor allem durch bestimmte Kollegs einen G e s a m t ü b e r b l i c k über die wichtigsten Teile ihres Arbeitsgebietes erhalten (hier wird die Anforderung an die Dozenten, sich umzustellen, am größten sein). Ferner müssen sie gleichfalls durch Kollegs in die Methodik ihrer Arbeit und in das Gebiet eingeführt werden, das einmal ihren Lebensinhalt bilden wird: d. h. sie müssen Interpretations kollegs erhalten, die uns Dozenten wohl allen besonders sympathisch sind, die sich aber bei dem jetzigen Durchschnittsstudenten einer leicht erklärlichen Unbeliebtheit erfreuen, die wir nicht vornehm ignorieren und auch nicht bloß beklagen oder gar durch Zwangsmaßnahmen zu brechen versuchen dürfen. Welche Anforderungen an diese Interpretationskollegs zu stellen sind, daß sie unter allen Umständen ein Ganzes bieten müssen, darüber bedarf es unter uns wohl keines Wortes. Endlich müssen diese mittleren Semester ihr Proseminar haben, aus dem die Anfänger verschwunden sind, das dadurch wieder auf die alte Höhe gehoben wird. In dieses gehören auch die leider allzu vielen, die heute nur noch Latein 42 studieren und | die eben deshalb einer besonderen Aufmerksamkeit unsererseits bedürfen. Die Behandlung der Seniores aber versteht sich von selbst: sie hören Kollegs nur ausnahmsweise, vom Thema oder vom Lehrer aus (ich habe hier sehr interessante Urteile älterer Studenten gehört); sonst haben sie ihren Zentralpunkt im Seminar und in der eignen Arbeit. Ich weiß natürlich alles, was sich vom Standpunkt der menschlichen Faulheit oder höflicher des quieta non movere, der dem jetzt schon bis zur Unerträglichkeit überlasteten akademischen Lehrer am ehesten verziehen werden muß, gegen jede Organisation und gegen jeden noch so leisen Zwang einwenden läßt. Auch fürchte ich, daß es noch jenen rosenroten Idealismus gibt, der sich entweder katonisch geriert und den kate-
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gorischen Imperativ zitiert oder mit dem viel mißbrauchten Schlagwort von der „akademischen Freiheit" den Zustand verteidigt, wenn nicht gar wunderschön findet, der die frisch — sit venia verbo — vom Gymnasium kommenden ersten Semester, deren sprachliche und sachliche Kenntnisse Null sind, zusammen mit vierten und neunten Semestern der gleichen Interpretation eines Textes, der gleichen Erörterung methodischer Probleme, der gleichen Darstellung einer literarischen und historischen Entwicklung lauschen läßt. Aber trotz allem Optimismus und allem Ruhebedürfnis — wir werden diese Fragen doch einmal erörtern müssen, und wie ich meine, sehr ernsthaft, wenn wir nicht den teilweise sehr radikalen, aber fast immer aus | der Froschperspektive gesehenen Vorschlägen 43 studentischer oder externer Reformer das Feld und damit das Ohr der öffentlichen Meinung und der Ministerien überlassen wollen. Nur einen Einwand Ihrerseits würde ich allerdings sehr ernst nehmen und den muß ich zum Schluß noch kurz berühren. Obwohl ich weiß, daß mein Vorschlag hier Ihren Unwillen oder gar Ihr Entsetzen erregen wird. Soweit Sie die notwendige Organisation des Unterrichts nach den angegebenen Richtlinien vielleicht mit mir fordern oder wenigstens als wünschenswert anerkennen werden — Sie werden mir mit Recht einwenden, daß die Dreiteilung und vor allem die Absonderung der zwei ersten Semester, die E i n r i c h t u n g eines s p r a c h l i c h e n J a h r e s , nur an einer Universität möglich ist, die mit mindestens drei etatmäßigen Lehrern und einem oder mehreren Privatdozenten arbeitet. Damit aber würde der Vorschlag für die mittleren und kleineren Universitäten unmöglich. Ich will Ihnen selbst gleich noch weiter entgegenkommen. Er wird nach dem, was ich vorhin über Privatdozenten als Leiter der elementaren Übungen gesagt habe, auch für die großen unmöglich. Denn welchem akademischen Lehrer können wir zumuten, daß er jedes zweite oder dritte Jahr ganz hingibt, um. den Anfängern, deren Zahl vielleicht nur zwei oder drei beträgt, die elementaren Sprachkenntnisse zu vermitteln? Und wie soll er daneben seinen eigentlichen Verpflichtungen den mittleren und höheren Semestern gegenüber gerecht werden? Hier hilft dann freilich nur ein radikales Mittel: Die sprachliche Aus- 44 bildung der ersten beiden Semester wird von dem übrigen Studium abgetrennt und gewissermaßen zwischen Schule und Universität eingeschoben. Es werden jährlich sämtliche Abiturienten Deutschlands oder zunächst Preußens, die klassische Philologie studieren wollen, an einer oder zwei Universitäten zu einem s p r a c h l i c h e n E i n f ü h r u n g s j a h r zusammengezogen. Die Universitäten wechseln im Turnus ab. 6 ) An der 6
) Auf eine nicht uninteressante Parallele zu diesem Vorschlag (mit dem er sich im übrigen keineswegs identifiziert) macht mich mein Kollege E D U A R D F R A E N K E L
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Jacoby, Kleine Schriften I I
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sprachlichen Ausbildung beteiligen sich sämtliche Dozenten der betreffenden Universität, die dadurch Zeit für ihre sonstigen Aufgaben behalten. Zu erwägen wird sein, ob schon jetzt der Sprachwissenschaftler heranzuziehen ist — Sie wissen ja, wie es mit dem sprachwissenschaftlichen Interesse gerade der klassischen Philologen steht — und ob man sich die Mithilfe eines tüchtigen Gymnasialfachmannes sichern soll. | 45 Aber über die Einzelorganisation will ich nicht mehr sprechen. Es erheben sich da noch verschiedene Fragen und Bedenken — so nach der finanziellen Möglichkeit; ob die großen Universitäten die Sache in sich selbst machen können; wie der Erfolg des Jahres festgestellt werden soll; ob und wie die Möglichkeit einer Befreiung von dem Sprachjahr gewährt werden kann. Es müßten andererseits gewisse Vorzüge der zuerst schreckh a f t anmutenden Einrichtung hervorgehoben werden: die günstigen Wirkungen des Austausches zwischen den deutschen Stämmen und vor allem, daß man dieses J a h r gleichzeitig zur gründlichen körperlichen Ausbildung benutzen könnte — wie völliges Stückwerk alles bisher hier Erreichte ist, ist Ihnen ja auch nicht unbekannt. Meine Herren, ich habe lange geschwankt, ob ich Ihnen nicht einfach das Problem und dazu vielleicht noch die Organisation des Unterrichtes in den drei Gruppen hinstellen und den letzten radikalen Vorschlag entweder unterdrücken oder durch den vorhin nur berührten einer anderweitigen Semesterregulierung ersetzen sollte. Das letzte habe ich nicht getan, weil bei seiner Durchführung, die ich im übrigen für wünschenswert halte, wieder die übermäßige Belastung der Dozenten sich drohend entgegenstellt, so daß mit dieser Lösung allein doch auf keinen Fall auszukommen wäre. Aber wenn ich auf den radikalen Schlußvorschlag nicht verzichtet habe, so bitte ich Sie mir zu glauben, daß das nicht aus Sen46 sationsbedürfnis geschehen ist. | Bombenwerfen ist ja gelegentlich ganz amüsant, aber es führt in ernsthaften Fragen selten zu dem gewünschten Erfolg. Ich habe nicht darauf verzichtet, weil ich unsere Lage für kritisch halte und weil es mir deshalb taktisch richtiger schien, nicht laue Fordeaufmerksam. Im Dominikanerorden, der 'das Studium in den Klöstern selbst hochschulmäßig zu gestalten' suchte, 'gliederte sich der Gesamtkurs in drei Stufen'. Bei der strengen Auslese für die Aufnahme in den Unterkurs und das Aufrücken in die höheren Abteilungen, „war die Zahl der Klöster, welche Oberkurse hatten, verhältnismäßig klein. (Aber) schon der mittlere Kursus der studia naturalium war zeitweise nur in einem von je zehn Klöstern vertreten; und zwar wechselten die Klöster einander jährlich ab. Dieser Wechsel diente einerseits der Verteilung der Lasten, andererseits aber auch der Kräftigung des wissenschaftlichen Lebens, das auf solche Weise überall gleichmäßig angeregt und belebt wurde" (F. PAULSEN, Geschichte des gelehrten Unterrichts. 1, 3. Aufl. Leipzig 1919—21, 32 nach I. G. KAUFMANN, Geschichte der deutschen Universitäten I 288).
Nachwort
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rungen zu stellen, die eventuell auf die entsprechende laue Zustimmung hätten rechnen können, sondern solche, die das Übel an der Wurzel packen und die deshalb die Aussicht haben, auf scharfen Widerspruch zu stoßen und dadurch eine Diskussion hervorzurufen, aus der doch vielleicht etwas Positives herausspringt. NACHWORT
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Das Referat, dessen Veröffentlichung natürlich auf meine eigene Verantwortung erfolgt, würde mir unvollständig erscheinen, wenn ich nicht wenigstens kurz auf seine Aufnahme durch die Fachtagung einginge. Der von mir gemachte radikale Vorschlag hat insofern seinen Zweck voll erfüllt, als er eine sehr lebhafte und eindringliche Diskussion hervorgerufen hat. Als deren wesentlichstes Ergebnis stelle ich fest, daß der geschilderte Notstand im allgemeinen in seiner vollen Schärfe anerkannt wurde. Eine optimistischere Auffassung trat nur vereinzelt hervor und beschränkte sich auf die Verhältnisse in einzelnen Bundesstaaten, nicht ohne auch in dieser Beschränkung Widerspruch zu finden. Es wurde ferner anerkannt, daß von der Schule Hilfe nicht zu erwarten ist und daß es daher Aufgabe des Universitätsunterrichts sein müsse, einen Weg zu finden, der zu einer Besserung der gegenwärtigen Zustände führt, ohne das innerste Wesen der Universität anzutasten, die auf eine wissenschaftliche Zielsetzung auch dann nicht verzichten kann, wenn sie die Ansprüche des Lebens in vollem Umfange als berechtigt anerkannt. Dieser fast allseitigen, jedenfalls weit über|wiegenden Auffassung entsprach der Be- 48 schluß, das Thema des Referats erneut auf die Tagesordnung der Fachtagung des nächsten JahreB zu setzen, bis dahin aber von sämtlichen Universitäten Berichte über die Zustände und die bisherigen Versuche so rechtzeitig einzufordern, daß ihre Verarbeitung einen sicheren Boden liefert, von dem aus die Fachtagung konkrete, fest umrissene und möglichst einfach zu realisierende Vorschläge machen kann. Auch über die Richtung, in der sich diese Vorschläge zu bewegen haben, scheint mir die Diskussion insofern klärend gewirkt zu haben, als auch hier die 'idealistische' Auffassung, die alles Heil von der eignen Initiative der Studenten erwartet, nur noch schwach vertreten wurde. Es herrschte im allgemeinen durchaus die Überzeugung vor, daß ein gewisser Selbständigkeitstrieb der Studenten wohl vorausgesetzt werden müsse, daß er aber, um zu dem gewünschten Ziel zu führen, der Zusammenfassung, Stärkung und Unterstützung durch organisatorische Maßnahmen des Unterrichts nicht entbehren könne. Über Umfang und Art dieser Organisation gingen die Ansichten naturgemäß zunächst noch auseinander. Ich hebe hervor, was mir für die weitere Diskussion gelegentlich der nächsten Tagung be21»
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sonders wesentlich erscheint, wobei ich aber ausdrücklich betone, daß im gegenwärtigen Stadium ein bestimmter Vorschlag schwerlich als Panazee gelten kann, sondern daß man teils die Resultate des an größeren Uni49 versitäten (d. h. vor allem in Berlin) vor|genommenen Ausbaus der sprachlichen Übungen wird abwarten müssen, teils weitere Versuche in derselben und in ähnlicher Richtung, vielleicht vor allem durch den Typus des Elementarkollegs, wird machen müssen. Dies vorausgeschickt, lassen sich die verschiedenen Ausführungen der Diskussionsredner auf folgende zwei Möglichkeiten zurückführen, die sich zwar nicht unbedingt gegenseitig ausschließen, wohl aber prinzipiell vor allem durch das Mehr oder Weniger an Zwang, das mit ihrer Einführung verbunden ist, sich unterscheiden, während sie darin übereinkommen, daß sie ohne Zustimmung oder Hilfe der Unterrichtsverwaltung nicht durchführbar sind: die Einführung eines Zwischenexamens oder die eines — mehr oder minder ausgesprochenen — Tutorensystems. Es ist nicht zu verkennen, daß beide Wege gewisse Vorzüge aufweisen, denen aber eben so deutliche Nachteile oder Schwierigkeiten gegenüberstehen. So hat das Zwischenexamen den unleugbaren Vorzug, daß es nach drei bis vier Semestern die äußere eindrucksvolle Feststellung ermöglicht, ob der Kandidat überhaupt für das Studium der Altertumswissenschaft und den Lehrerberuf geeignet ist, und daß es im Verneinungsfall einen Wechsel des Studiums ohne allzu großen Zeitverlust ermöglicht. Es ändert zudem am wenigsten an der jetzigen Organisation des Unterrichts und kommt mit einem Minimum, wenn nicht gar überhaupt ohne Zwang aus. Die Lernfreiheit wird überhaupt nicht angetastet, da es dem Studenten 50 überlassen bleibt, wie er sich die | im Zwischenexamen vor allem oder auch allein zu fordernden sprachlichen Kenntnisse verschaffen will. Aber es ist meines Erachtens leicht zu sehen, daß damit das Problem im Grunde nicht gelöst, sondern nur verschoben wird. Denn die Forderung eines solchen ganz auf die sprachliche Leistung und das sprachliche Verständnis abgestellten Zwischenexamens setzt doch — nach Analogie des Physikums der Mediziner — voraus, daß die Universität dem Studenten durch die Art und Organisation ihres Unterrichts die Möglichkeit geben muß, sich die im Examen verlangten Kenntnisse oder, für unseren Fall richtiger, die nötige Schulung zu verschaffen. Und daß das auf dem gegenwärtigen Wege und mit den gegenwärtigen Mitteln nicht zu erreichen ist, das bildet ja gerade den Urgrund des zur Zeit so unbefriedigenden Zustandes. Von diesem Gesichtspunkt aus scheint mir der Vorschlag eines 'Tutorensystems' konsequenter, weil er die Notwendigkeit, dem Studenten zu helfen, von vornherein anerkennt. Darin treffen sich die verschiedenen möglichen Formen, die ich unter dem nicht ganz treffenden Namen zusammengefaßt habe. Denn es macht prinzipiell nichts aus, ob man von der
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Notwendigkeit eines eigentlichen Tutorensystems im englischen Sinne überzeugt ist oder ob man, im engeren Anschluß an die Grundsätze unseres Universitätsunterrichtes, eine sehr verstärkte Lektüre und sonstige sprachliche Arbeit verlangt, die teils in Gemeinschaft mit den Dozenten selbst getrieben, teils durch ältere Studenten geleitet oder wenigstens von ihnen kontrolliert wird. Die Vorteile, die eine solche Organisation hat, sind 51 ganz offensichtlich. Sie ist auch, soweit ich sehe, frei von eigentlichen Nachteilen; denn der mit ihr verbundene Zwang ist mehr scheinbar und braucht, wo auf Selbständigkeit der Studenten gerechnet werden kann, überhaupt nicht wirksam zu werden. Die Schwierigkeit liegt aber meines Erachtens darin, daß dieser Weg ohne Vermehrung der vorhandenen Lehrkräfte nicht beschritten werden kann. Denn wenn man die Mitarbeit der Dozenten und der älteren Studenten noch so hoch in Rechnung bringt, sie hat ihre Grenze an der anderweitigen Belastung beider Kategorien mit doch dringlicheren Aufgaben. Die Ansprüche an die Studenten sind, von den verschiedenen Fächern des Staatsexamens aus gesehen, schon jetzt sehr hohe; und auch die an die Zeit der Dozenten gestellten können meines Erachtens nicht erheblich gesteigert werden, ohne daß, namentlich an den mittleren und kleinen Universitäten, eine ernsthafte Gefährdung ihrer Kollegtätigkeit und ihrer unbedingt zu schützenden wissenschaftlichen Arbeit eintritt. Denn ein Ausgleich durch Verminderung der sonstigen Amtsgeschäfte ist, solange nicht eine vollständige Umwandlung der Universitätsselbstverwaltung eintritt, nicht zu erwarten. So kommt man hier fast zwangsweise zum Verlangen nach Anstellung gewissermaßen hauptamtlicher Tutoren; und da erhebt sich sehr drohend die Frage, woher solche zu nehmen sind. Daß für diese Stellung fest angestellte Gymnasiallehrer nicht geeignet sind, scheint mir auch | dann klar, wenn die äußeren Schwierigkeiten längerer Be- 52 urlaubung für Universitätszwecke zu überwinden wären. Der Unterschied, der nun einmal zwischen dem Unterricht der Universität und der Schule in Methode und Zielsetzung besteht, ist nicht aufzuheben und soll auch nicht aufgehoben werden. Das Tutorensystem würde von vornherein jeden Wert verlieren, wenn es nur auf eine äußere sprachliche Dressur abstellte, statt sich organisch der Eigenart unseres Studienbetriebes einzufügen. Es ist aber auch nicht einmal möglich, hier etwa ausschließlich mit Privatdozenten zu arbeiten, selbst wenn diese — was nicht der Fall ist — in genügender Zahl zur Verfügung stünden. Die älteren Dozenten können die geforderte Arbeit nicht allein leisten; aber ihre Mitarbeit ist gerade für die jüngsten Semester, deren richtiges Anfassen nach meiner Überzeugung das Wichtigste und Schwerste ist, nicht zu entbehren. Es bliebe also nur die Wiedereinführung der vor kurzem gestrichenen etatmäßigen Assistenten, deren Aufgabe es wäre, die Ordi-
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narien auf diesem Gebiete ihrer Tätigkeit zu unterstützen. In solche Assistentenstellungen werden vielfach Privatdozenten eintreten; und das wäre, von der nicht gerade wünschenswerten Belastung dieser jungen Lehrkräfte, die mit ihrer eigenen Ausbildung meist genug zu tun haben, einmal abgesehen, prinzipiell wohl das Würichenswerte. Wo kein Privatdozent vorhanden ist, wird die Schwierigkeit oft recht groß sein. Denn die Assistentenstellung darf unter keinen Umständen eine Anwärterschaft auf 53 Habiii |tation geben und gewissermaßen zur Ersitzung der Privatdozentur führen. Vestigia terrent. Es wird zu erwägen sein, wie weit die Schulverwaltung etwa bereit ist, für diese Stellungen Kandidaten auf eine bestimmt abgegrenzte Zeit zur Verfügung zu stellen, die von den Universitätslehrern als für solche Stellung geeignet bezeichnet werden. Ihre Benennung würde am besten gelegentlich des Staatsexamens erfolgen.